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German Pages 543 [548] Year 1987
Gerhard Schulz Deutschland am Vorabend der Großen Krise
Gerhard Schulz
Zwischen Demokratie und Diktatur Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik
Band II
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1987
Gerhard Schulz
Deutschland am Vorabend der Großen Krise
W DE
G
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1987
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
CIP-Kurytitelaufnähme der Deutschen Bibliothek
Schulz, Gerhard: Zwischen Demokratie und Diktatur : Verfassungspolitik u. Reichsreform in d. Weimarer Republik / Gerhard Schulz. — Berlin ; New York : de Gruyter Bd. 2. Deutschland am Vorabend der großen Krise. — 1987. ISBN 3-11-002486-1
© 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikropie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany
VORWORT
Dieser zweite Band des Werkes unter dem Titel „Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik" erscheint nun erst 24 Jahre nach dem ersten, dank der Geduld und des steten Entgegenkommens beim gleichen großen Verlag: Walter de Gruyter & Co. in Berlin. Eine derartige Verzögerung über einen Zeitraum, der viele Tätigkeiten und Erlebnisse umschließt, bedürfte wohl einiger Erklärungen, die hier nicht im einzelnen gegeben werden sollen und auch nicht wichtig genug wären, um sie hier auszubreiten. An erster Stelle muß aber der gewaltige Fortschritt der internationalen Forschungen auf dem betretenen Gebiete genannt werden, der sich so nicht voraussehen ließ. Die Absicht der Fortsetzung der einmal begonnenen Arbeit wurde jedoch nie aufgegeben. Auf sie ist mehrfach Bezug genommen und zurückgekommen worden. Die Vorbereitungen zu diesem zweiten Bande und dem bald folgenden dritten nahmen allerdings viele Mühen und Zeit in Anspruch, während wiederholt, zeitweilig ausgiebig auch andere Gebiete, vor allem der außerdeutschen Geschichte und auch älterer Perioden zu bearbeiten waren. Nicht weniger verdient Erwähnung, daß der Umfang der heute für die Forschung zugänglichen Archivbestände sich rasch außerordentlich erweitert hat, wie es in den mittleren fünfziger Jahren kaum erwartet, nicht einmal erhofft werden konnte. Die damalige Nachfrage beim zuständigen Generaldirektor der Bayerischen Staatsarchive, die sich auf die Benutzung bayerischer Akten bezog, wurde mit der damals geläufigen wie begreiflichen Feststellung beantwortet, daß der weitaus größte Teil der einschlägigen Bestände durch Kriegseinwirkungen vernichtet sei oder stark gelitten habe. Glücklicherweise hat sich diese Einschätzung wenige Jahre später als ebenso irrig erwiesen wie manche andere Vermutung über Umfang und Bedeutung der für die Zeitgeschichte relevanten archivalischen Überlieferungen. Inzwischen haben sich weitere Verschiebungen der Gewichte und Arbeitsleistungen ergeben; denn viele der lange Zeit hindurch noch etwas mühsam entdeckten und verarbeiteten Archivalien liegen inzwischen in Editionen gedruckt vor, so daß schließlich archivalische Belege durch Nachweise in zugänglichen Veröffentlichungen ersetzt werden konnten und mußten; auch hierdurch veränderte sich die äußere Form des vorliegenden Bandes im Laufe der Jahre. Angesichts der solcherart veränderten
VI
Vorwort
Umstände ist es verständlich, daß die Art der Darstellung im ersten Bande von „Verfassungspolitik und Reichsreform", der die wirtschaftsgeschichtlichen Aspekte nur jeweils ausschnittsweise berücksichtigte, in der internationalen Forschung, so günstig er von ihr aufgenommen wurde, neuerdings auch Einwendungen hervorgerufen hat. 1 Ein nicht geringer Teil der Jahre, die seit Erscheinen des ersten Bandes vergangen sind, wurde auf die Durchsicht und Ergründung anderer Quellenbereiche verwendet, was zeitweilig auch unter Beteiligung von Mitarbeitern geschehen konnte. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist es zu danken, daß mehrere Jahre hindurch ein wissenschaftlicher Angestellter besoldet werden konnte, dem ein Teil der Durchsicht und Auswertung vornehmlich der wirtschaftlichen Archive anvertraut wurde. Als Frucht dieser vereinten Bemühungen konnte eine Auswahl wichtiger Archivalien, im Rahmen der Vorbereitung weiterer Veröffentlichungen, bereits vor einigen Jahren in der Quellenreihe der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien herausgebracht und so einer breiteren interessierten Leserschaft zur Kenntnis gegeben werden. 2 Während dies der DFG zu danken ist, muß hier aber auch die Hilfe der Stiftung Volkswagenwerk erwähnt werden. Einem von ihr im Rahmen der sogenannten „Akademiestipendien" ermöglichten Forschungssemester zugunsten eines größeren Rahmenprojektes des Verfassers ist es zu danken, daß neben anderen Arbeiten die an diesem, hier vorgelegten Bande ein gutes Stück vorankamen. Bevor mit der „Ära Brüning", der Regierung des Reichskanzlers Heinrich Brüning, die folgenden Jahre der Weimarer Republik im Rah1 Harold James, The Reichsbank and Public Finance in Germany 1924—1933. A Study of the Politics of Economics during the Great Depression (Schriftenreihe des Instituts für Bankhistorische Forschung, 5), Frankfurt a. M. 1985, S. 15, hat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den ersten Band konstatiert, daß die Verfassungshistoriker "have been concerned only with fiscal disputes and not with debates over general matters of economic policy ..." 2 Aus der im Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen angelegten Quellensammlung konnten veröffentlicht werden: Staat und NSDAP 1930—1932. Quellen zur Ära Brüning, eingeleitet von Gerhard Schulz, bearbeitet von Ilse Maurer und Udo Wengst (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Dritte Reihe: Die Weimarer Republik, Bd. 3), Düsseldorf 1977; Politik und Wirtschaft in der Krise 1930—1932. Quellen zur Ära Brüning, eingeleitet von Gerhard Schulz, bearbeitet von Ilse Maurer und Udo Wengst unter Mitwirkung von Jürgen Heideking (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Dritte Reihe: Die Weimarer Republik, Bd. 4), 2 Teilbände, Düsseldorf 1980. Den Mitarbeitern, nacheinander Dr. Ilse KuglerMaurer und Dr. Udo Wengst, gebührt auch an dieser Stelle Dank.
VII
Vorwort
men der Thematik „Verfassungspolitik und Reichsreform" eingehend behandelt werden, dient dieser Band der Aufgabe, den großen Rahmen darzustellen, in dem die Geschichte der Weimarer Republik bis dahin verlaufen ist. Sicherlich ist es ein Fehler, zu dem die Historiographie lange Zeit beigetragen hat, alle wesentlichen deutschen Fragen allein eben als deutsche Fragen zu betrachten und die Interdependenz internationaler Zusammenhänge zu vernachlässigen oder gänzlich außer acht zu lassen. So durften vielleicht noch die Deutschen des 19. Jahrhunderts vorgehen — vor 1871; doch der Preis der Reichsgründung, der durch die beiden verlorenen Weltkriege nicht ermäßigt, auch durch die Teilung Deutschlands nicht nachgelassen wurde, lautete auf die Dauer doch Verzicht auf nationalstaatliche Eingrenzungen des politischen Denkens, Erkennens und des Vorstellungsvermögens und erst recht eines jeden idyllischen und eigensinnigen Kirchturmdenkens. Internationale Verflechtungen und Verpflichtungen sind auf kürzere oder längere Sicht stets spürbar, längst evident. Die zwanziger und dreißiger Jahre erscheinen angefüllt von raschen Prozessen, die in diese Richtung wiesen, was allerdings meist erst verspätet erkannt wurde. Auch dieser Thematik wendet sich der vorliegende Band zu. Der Leser wird erkennen, daß die seit dem Frühjahr 1930 — zu Beginn des vierten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts — deutlich hervortretenden Tendenzen und Probleme innerhalb Deutschlands bereits vorher entwickelt und zu einer eigenartigen Konstellation gelangt sind, deren Vorgeschichte hier dargelegt wird. Für Mithilfe ist vielen zu danken — vor allem den Damen und Herren in den großen Archiven für Jahre hindurch gewährte zuverlässige Unterstützung. Bei der Fertigstellung des druckreifen Manuskripts haben Annemarie Jakschitsch, Petra Marquardt, Christiane Toyka und Christof Mauch — zeitweilig entsagungsvoll — mitgearbeitet. Ihnen sei an dieser Stelle besonders gedankt. Die engen Beziehungen zum Verlag de Gruyter & Co und die ganz persönlich sich gestaltenden Verbindungen zu Herrn Professor Dr. Heinz Wenzel lassen sich in ihrer Bedeutung hier nur andeutungsweise vermerken. Tübingen, Anfang Oktober 1986
Gerhard Schulz
INHALTSVERZEICHNIS
Verzeichnis der Abkürzungen
XIII
Einleitung: Bemerkungen über den Verfassungsstaat von Weimar und die Geschichtsschreibung
1
Erster Teil: Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Krisenzeichen Erstes Kapitel: Das internationale System der Nachkriegswirtschaft 19 Probleme und Ergebnisse der Wirtschaftsstatistik 19 — Geschichte des Kapitalismus im Lichte statischer und dynamischer Theorie 23 — Wirtschaftswachstum in Europa und in den Vereinigten Staaten 29 — Wiederherstellung des internationalen Goldstandards 32 — Folgen der Kriegsfinanzierung 35 — Interalliierte und internationale Verschuldung 36 — Stabilitäts- und Wachstumsaxiom in der Weltwirtschaft 41 — Krisenzeichen, mißlungene Stabilisierung 46 — Agrarkrise 51 — Niedergang der Wirtschaft, Große Depression 62 Zweites Kapitel: Die kritische Stabilisierung in Deutschland Kriegs- und Inflationsfolgen 68 — Zwangslage und Handlungsspielraum der Reichsfinanzpolitik 73 — Die deutschen Reparationen nach dem Dawes-Plan 76 — Industrieller Aufschwung, ausländische Investitionen und Export 81 — Friedensanleihen 86 — Kommunalpolitische Basis des Wohlfahrtstaates 88 — Wirtschaftskrise 1925/26: Reparationspolitik des Reichsbankpräsidenten 91 — Krisenbekämpfung und Aufschwung 107 — Reichsbank und Rationalisierung 113 — Das Produktivitätspostulat des Reparationsagenten und die deutsche Exportindustrie 116
68
Drittes Kapitel: Die größten wirtschaftlichen Konzentrationen und Organisationen 121 Industrielle Interessen versus Arbeiterorganisationen 121 — Stinnes, Rathenau und die Verbandsorganisation der Nachkriegswirtschaft 124 — Industrielle Spitzenverbände 126 — Informelle Oligarchie der Ruhrindustrie 128 — Formeller Organisationsaufbau 131 — Großbanken und Bankiers 138 — Bankiers und Industrielle 144 — Supranationale Konzerne 145 — Größere „Wirtschaftseinheiten" und „wirtschaftliche Verständigung" 147 Viertes Kapitel: Krise und Protestbewegung in der Landwirtschaft 149 Landbau im Zeitalter der Industrialisierung 149 — Keine Entscheidung für den „Industriestaat" 153 — Agrarpreisstützung 156 — Kontradiktorische Opponenten: „Grüne Front" und Landvolkbewegung 159 — Kapitalmangel und Zinslasten 163 — Notlage der ostdeutschen Landwirtschaft 165 Fünftes Kapitel: Ostsiedlung und Ostpreußenpolitik 167 Wirtschaftlicher und demographischer Ost-West-Gegensatz 167 — Anfange der Siedlungsgesetzgebung für die Ostprovinzen 168 — Reichssiedlungsgesetz 171 —
χ
Inhaltsverzeichnis „Innere Ostpolitik" 174 — Ostsiedlung als Reichsaufgabe 176 — Wachsmanns Stabilisierungsplan: Nucleus der Osthilfe 179 — Ostsiedlung 180 — Einschaltung des Reichspräsidenten, Spannungen zwischen Reich und Preußen 181 — „Ostprogramm" als Ostpreußenhilfe des Reiches 184 — Kredithilfe für die ostpreußische Wirtschaft 186 — Preußische „Osthilfe" 189 — Der Reichspräsident interveniert 189 — Notprogramm für die gesamte Landwirtschaft 196 — Ostpreußenhilfe zur Umschuldung des Grundbesitzes 198 — Erste Durchführung 200 — Erweiterung 202 - Silverbergs Plan 206
Zweiter Teil: Regierungen und Parlamente zwischen Plebiszit und Präsidialgewalt Sechstes Kapitel: Die Krise der liberalen Parteien 211 Parlamentarische Koalitionsregierungen 211 — Parteien und Verbände 212 — Parteien und Wahlrecht im Reich und in Preußen 214 — Kleine Differenzen des Wahlrechts mit politischen Folgen 214 — Verfassungsklage der NSDAP und Juristen-Urteile: Schutz der parlamentarischen Regierungsfahigkeit 218 — abgestuftes Vertrauensvotum des Reichstags 222 — Niedergang der liberalen Parteien 225 — Typus der Integrationspartei 226 — Stresemann 226 — Bürgerliche Sammlung 231 Siebentes Kapitel: Parlamentarische Regierung und Reichspräsident 234 Die beiden Reichspräsidenten in ihrem Amt 234 — Juristenurteile 235 — Vorschläge zur Reform des Parteiensystems 236 — Verfassungsreform und Reichsreform 237 — Initiative des Reichspräsidenten zur Regierungsbildung 239 Achtes Kapitel: Ein Plebiszit zur Fürstenenteignung 243 Hohenzollernabfindung in Preußen 243 — Volksbegehren und Volksentscheid 245 Neuntes Kapitel: Der Reichspräsident in den Krisen der Koalitionsregierungen . . . 251 Hindenburgs Rechtskurs 251 — Differenzen in der DNVP 255 — Zentrumsrichtlinien für das vierte Kabinett Marx 261 — Begrenzte Initiativen des Reichspräsidenten, Richtlinien und Richtlinienkompetenz 262 — Die Initiative des Reichspräsidenten in der Staatslehre 266 — Reichspräsident als „politischer Führer", „Diktatur des Reichspräsidenten" 268 — Plebiszitäre Nachwirkungen der fehlgeschlagenen Volksgesetzgebung: Sammlung der nationalen Opposition und Wahlsieg der Sozialdemokraten 1928 272 — Projekt eines Volksentscheids zur Verfassungsreform 274 — Wechsel der Stoßrichtung: gegen den Young-Plan 275
Dritter Teil: Die „Große Koalition" Zehntes Kapitel: Schwieriger Weg zur Koalition 281 DVP und SPD nach den Doppelwahlen am 20. Mai 1928 281 - Die DDP 285 — Interimistisches „Kabinett der Persönlichkeiten" 288 — Preußenregierung und Reichsregierung 290 — DVP und Zentrum 293 — Der „Einheitsstaat" als Lösung 299 — Die „große Koalition" aus fünf Parteien 302 Elftes Kapitel: Programme der liberalen Sammlung
303
Inhaltsverzeichnis
XI
Kritik der Koalitionsverhandlungen 303 — Auseinandersetzungen in der DDP 304 — Mannheimer Programm 305 — Luthers Sammlung über den Parteien 307 — Wandlung des Parteiensystems durch Verbände 309 Zwölftes Kapitel: Preußische Politik 312 Zentrum und preußisches Konkordat 312 — Zentrumsposition: Länder auf dem Status quo 313 — Kontroverse um Kultusminister Becker 315 — Eigenmächtigkeiten des Ministerpräsidenten, Imitation der präsidentiellen Regierung 316 — Das System Braun und die Reichsverfassung 321 Dreizehntes Kapitel: Staatsschutz und Beamte 325 Republikschutz 325 — Politische Polizei/Beobachtung der Ländergrenzen überschreitenden Geheimorganisationen 328 — Die Nachrichtensammeistelle beim Reichsministerium des Innern 332 — „Linker" und „rechter" Radikalismus unter Beobachtung 333 — Beamtenpolitik in Reich und Ländern 335 — Otto Brauns Auffassung 337 — Politische Beamte in Reich und Preußen, preußische Beamtenpolitik 338 Vierzehntes Kapitel: Preußens Kurs gegen rechts 344 Ansehen Otto Brauns 344 — Braun und Hindenburg 348 — Braun, die SPD und die Reichswehr 350 — Wandlungen in der Reichswehr 352 — Konflikt Preußen—Reichswehr, Konkurrenz von Militär- und Polizeihoheit, „Reichshoheit" und „Landeshoheit" 356 — Richtlinien über den Ostgrenzschutz 361 — Krankheit des Reichskanzlers 364 — Stahlhelmverbot für die Rheinprovinz und Westfalen 366 — Konflikt, Einbeziehung des Reichspräsidenten 367 Fünfzehntes Kapitel: Nationalsozialismus, Neuer Nationalismus und Reichswehr . . 370 Bedrohungen des parlamentarischen Systems 370 — Aufstieg der NSDAP 371 — Militanz und Kriegserlebnis 378 — „Neuer Nationalismus" und konservative Strömungen 382 — Die politische Situation der Reichswehr 385
Vierter Teil: Vom Young-Plan zur Regierung Brüning Sechzehntes Kapitel: Young-Plan-Verhandlungen 395 Revisionspolitik Stresemanns 395 — Kellogg-Pakt und amerikanisch-deutsche Kooperation 397 — Revision des Dawes-Systems 398 — Revisionsdreieck: Frankreich—Deutschland—USA 403 — Schacht und die Pariser Sachverständigenkonferenz 405 - Der Neue Plan 414 - Die Kritiker 417 Siebzehntes Kapitel: Volksbegehren und Volksentscheid gegen den Young-Plan . . . 422 Hugenbergs „Reichsausschuß" 422 — Das Ergebnis der Volksgesetzgebung von rechts 426 — Reichsbankpräsident gegen Young-Plan und Reichsfinanzpolitik 428 — Reichspräsident, Preußen und das Stahlhelm-Verbot 428 — Beamtenpolitische Probleme 430 — Die NSDAP und der nationale „Wille zur Katastrophe" 435 — Die Nationalsozialisten in der Regierung des Landes Thüringen 448 — Primat des inneren Machtkampfes 449 Achtzehntes Kapitel: Das Ende der „Großen Koalition" 451 Vor einer neuen Regierung 451 — Stellung und Kurs des Zentrums 452 — Heinrich Brüning an der Spitze der Fraktion 458 — Hilferdings Finanzprogramm
XII
Inhaltsverzeichnis 460 — Reichsbankpräsident versus Reichsfinanzministerium 461 — Haltung des Reichspräsidenten 467 — RDI 468 — Reaktionen der DVP und das Projekt einer neuen Regierung Luther 473 — Fritz Schäffers Junktim und das Zentrum 477 — Brünings Rolle 478 — Regierungskrise 480 — Schachts Rücktritt als Reichsbankpräsident, Nachfolge Luthers 481 — Die Konzeption einer präsidentiellen Regierungsweise und der Weg zur Reichskanzlerschaft Brünings 482 — Reichskanzler und „Führertum Hindenburgs" 487 — Geringes Echo 489 — Abschließende Bemerkungen 491
Bibliographie
495
Personenregister
525
V E R Z E I C H N I S DER IN DEN A N M E R K U N G E N BENUTZTEN ABKÜRZUNGEN ADAP ADGB BGehStAM BA ChefB DDP DGB DIHT DJZ DNVP DrS DVP GehStAB GFK GG GWU GS HBDStR
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HWB HZ IfZ JböR KPD MA NSDAP RDI RGBl. SA Schul theß SPD StenBer SS UuF
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Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Bayerisches Geheimes Staatsarchiv in München Bundesarchiv zu Koblenz Chefbesprechung Deutsche Demokratische Partei Deutscher Gewerkschaftsbund Deutscher Industrie- und Handelstag Deutsche Juristenzeitung Deutschnationale Volkspartei Drucksachen (des) Deutsche Volkspartei Geheimes Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Preußische Gesetzsammlung Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. von Gerhard Anschiitz und Richard Thoma, 2 Bde., Tübingen 1930/32 Handwörterbuch Historische Zeitschrift Institut für Zeigeschichte, München Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Kommunistische Partei Deutschlands Militärarchiv (Freiburg) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Reichsverband der Deutschen Industrie Reichsgesetzblatt SA (Sturmabteilung) der NSDAP Schultheß' Europäischer Geschichtskalender Sozialdemokratische Partei Deutschlands Stenographische Berichte SS (Schutzstaffel) der NSDAP Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands und der Gegenwart, eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hrsg. und bearb. von Herbert Michaelis und Ernst Schraepler Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände Vierteljahreshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vossische Zeitung Wahlperiode Wolffs Telegraphisches Büro
EINLEITUNG
Bemerkungen über den Verfassungsstaat von Weimar und die Geschichtsschreibung Der erste Weltkrieg war weit mehr als eine tiefe Zäsur in der Geschichte, vielleicht das Ende einer alten tradierten Welt1 in einem weiter gehenden Sinne als die Französische Revolution, sofern man die Betrachtung auf Europa beschränkt. Das letzte Wort steht noch aus; denn Wirkungen, Folgen und weitere Auswirkungen des Zusammenbruchs einer historischen Weltordnung im ersten Weltkrieg bestimmten in ihren Konsequenzen auch noch die Erlebniswelt derer, die nach dem zweiten Weltkrieg handelten, entschieden oder über die Geschichte dieses Jahrhunderts nachdachten. Doch allmählich verschoben sich die Gewichte in der Beobachtung von der Vorweltkriegszeit auf die Nachweltkriegszeit; und die erneut zunehmende Unruhe läßt abschließende Urteile über jüngere Perioden und Epochen kaum zu. Die zwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen sind nicht nur in der Geschichte Deutschlands durch mehrere, deutlich voneinander abgehobene Phasen charakterisiert; sie bezeugen den Wechsel der zur Herrschaft drängenden Kräfte, der Konstellationen im Innern wie im Äußern in einer Periode, die zu anhaltender Stabilität, die immer sowohl eine inner- als auch eine außenpolitische ist, nicht gelangte. Sofern die verschiedenen Bemühungen, eine neue Ordnung aufzurichten und zu sichern, so weit reichten, daß man ihnen das Ziel oder die Absicht wenigstens einer begrenzten oder partiellen Stabilisierung unterstellen darf — was sicherlich einigen der führenden Staatsmänner der Pariser Etwa in diese Richtung weist das letzte Werk des durch seine großen Darstellungen vielfaltig anregenden amerikanischen Historikers Arno J. Mayer, The Persistence of the Old Regime. Europe to the Great War, New York 1981. Man wird ihm wohl nicht in allen Aspekten folgen können, in manchen widersprechen müssen; aber die Auseinandersetzung mit diesem Buche lohnt sich und führt zu neuen Gedanken. Die tradierte Überzeugung von der weltgeschichtlich epochalen Bedeutung der Französischen Revolution stand seit langem außerhalb der französischen Nationalgeschichte auf tönernen Füßen. Die deutsche Geschichtsschreibung hat dies meist übersehen, weil sie zwischen der Revolution und dem Empire Napoleons keine oder allzu wenig Unterschiede machte. 1
2
Einleitung
Friedenskonferenz, des Völkerbundes und der Botschafterkonferenz der alliierten Hauptmächte2 nachgesagt werden kann —, so scheiterten sie spätestens mit dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs, nachdem die große Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre sie aufs schwerste erschüttert oder ihnen die Überzeugungskraft genommen hatte.3 Innerhalb der deutschen Geschichte dieser Periode sind die sechs Jahre der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs — zwölf mit diesem zusammengenommen — seit dem Ende dieses auch in einem Menschenleben nur kurzen Zeitraums aus begreiflichen Gründen über alle Maßen herausgehoben und gar schon wie ein Zeitalter für sich, mit eigenem Geist und eigenen Hervorbringungen, in Kultur, Staatswesen und führendem Personal, mit eindeutig beurteilter Ausprägung, behandelt und betrachtet worden. Die Benennung als „Drittes Reich" ist weithin geläufig. Allerdings fließt von mancher Seite auch Ironie in diese Nomination ein, die die vermeintliche Erneuerung des „zweiten" deutschen Reiches der Bismarckzeit in europäischer, gar weltpolitischer Großmachtstellung für einen wesentlich verkürzten, in Verderben und Vernichtung endenden Zeitraum ausdrückt, auf die tönenden Ankündigungen eines „dritten Reiches", bald nach dem Ende des zweiten4, anspielt und auf das eklatante Mißverhältnis von „Reich" und historischer Realität, von Dauer und Phrase — des „tausendjährigen Reiches" —, von Anspruch und Zusammenbruch, Verheißung und Vernichtung. Die Erforschung der nationalsozialistischen Zeit hat verschiedene Wege eingeschlagen, die Polemik, Verdammungsurteile, aber auch Satire und mancherlei Äußerungsformen in der unmittelbaren Nähe des Erlebnisses nicht ausschließen konnten und aus vielen bedrükkenden Gründen auch gar nicht durften.
2 Hierzu Jürgen Heideking, Areopag der Diplomaten. Die Pariser Botschafterkonferenz der alliierten Hauptmächte und die Probleme der europäischen Politik 1920—1931 (Historische Studien, 436), Husum 1979; ders., Oberster Rat — Botschafterkonferenz — Völkerbund. Drei Formen multilateraler Diplomatie nach dem Ersten Weltkrieg, in: HZ 231 (1980), S. 5 8 9 - 6 3 0 . 3 Zu mehreren Aspekten des Gesamtkomplexes jetzt Beiträge in dem Sammelband von Gerhard Schulz (Hrsg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1985. 4 Hierzu sei auf die ausführliche Behandlung einiger Charakteristika der politischen Geisteswelt der Weimarer Republik verwiesen: Gerhard Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus. Krise und Revolution in Deutschland, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1975, bes. S. 311 ff.; auch Jean Neurohr, Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, Stuttgart 1957.
Einleitung
3
Hingegen ist das voraufgegangene, von der Wiedergewinnung eines bescheidenen, allerdings nach moderneren Maßstäben nicht sonderlich weit reichenden Wohlstandes geprägte zweite Jahrfünft nach der Annahme der Weimarer Verfassung mit den günstigeren und liberalen Seiten des „Staates von Weimar" fast schon vollständig identifiziert worden, so daß in manchem landläufigen Urteil die schwierigen und schwachen Ansätze, die Krisen der frühen Jahre und die wiederholte Einengung oder Außerkraftsetzung der ordentlichen Gesetzgebung in den Hintergrund gedrängt oder allenfalls als frühe Andeutung späterer Bedrohung gedeutet wurden — dies mit einigem Recht: Die ruhigeren fünf Jahre einer relativen Stabilisierung, bis zum Herbst 1929, haben die anfanglich evidenten Bedrohungen schrumpfen, größtenteils verschwinden lassen. Weder drohte ein kommunistischer Aufstand noch ein nationalistischer Putsch; die Nationalsozialisten waren 1928 gar auf dem tiefsten Punkte der Geschichte ihrer Wahlergebnisse angelangt. Die Wehrverbände blieben nicht still und der Stahlhelm verlor nicht an Zulauf; aber eine innere Bedrohung ging von ihnen sichtlich nicht aus, ebensowenig wie von radikalen Reden und Zeitungsartikeln verschiedener Spielart, an denen es in der Geschichte der Republik nie fehlte. Eine häufig scharfe und kaum noch vor dem äußersten einhaltende Opposition der bayerischen Regierung und der hinter ihr stehenden Parteiführer gegen die Politik der Berliner Regierungen, des Reiches und Preußens,5 die bis Ende 1923 für ständige Erregung gesorgt hatte, schien endgültig der Vergangenheit anzugehören, war jedenfalls steten Auseinandersetzungen auf dem Rechtswege gewichen, eine Beteiligung der Bayerischen Volkspartei an den Reichsregierungen zur Regel geworden. Eine innere Ordnung zeichnete sich ab, seitdem die Inflation überwunden, die Währung erneuert und gefestigt, die Kriegsfolgeleistungen
5 Hierzu im ersten Band, Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1 9 1 9 - 1 9 3 0 , Berlin 1963, bes. das 4. und 8. bis 10. Kapitel. In jüngerer Zeit, nach Öffnung der bayerischen Archive, zur bayerischen Seite Wolfgang Benz, Süddeutschland in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1918—1923, Berlin 1970; zu den späteren Jahren Franz Menges, Reichsreform und Finanzpolitik. Die Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit Bayerns auf finanzpolitischem Wege in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1971; Klaus Schönhoven, Die Bayerische Volkspartei 1924—1932 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 46), Düsseldorf 1972; zur wirtschaftlichen Seite der Inflations- und Konfliktszeit die Studie von Gerald D. Feldman, Bayern und Sachsen in der Hyperinflation 1922/23 (Schriften des Historischen Kollegs, Vorträge, 6), München 1984.
2
Schulz II
4
Einleitung
der deutschen Reparationszahlungen nach dem Dawes-Plan reguliert und eine gewisse außenpolitische Stabilität erreicht schienen. Diese vornehmlich mit dem Namen Stresemann als des Reichsaußenministers und Fraktionsvorsitzenden der Deutschen Volkspartei im Reichstag nicht nur in der Außenpolitik verbundene Phase wurde in ihren Anfangen durch eine Regierung getragen, an der sich auch die Deutschnationale Volkspartei beteiligte, die, von kleineren Organisationen abgesehen, damals die äußerste Rechte verkörperte und vorübergehend sogar die stärkste Fraktion im Reichstag stellte. Unter dem Einfluß ihrer dort tonangebenden Männer, des vormaligen Parteivorsitzenden Oskar Hergt, des letzten Preußischen Staats- und Finanzministers der Monarchie, des Rittergutspächters Martin Schiele, der das Amt des Reichsinnenministers übernahm, Kuno Graf Westarps, des führenden Kopfes ihres rechten Flügels, des späteren Fraktions- und Parteivorsitzenden, der noch einigen Vorbereitungen des Kapp-Putsches nahegestanden hatte, und des Fraktionsgeschäftsführers v. Lindeiner-Wildau, schlug sie einen neuen, moderaten Kurs ein, der freilich nicht unumstritten blieb. 6 Die Deutschnationalen schieden zwar wieder aus, beteiligten sich aber ein Jahr später erneut und noch stärker an der Regierung Marx, ehe die Reichstagswahl 1928 veränderte parlamentarische Voraussetzungen schuf und der SPD den Weg in die Regierung wies. Diese „Ära Stresemann", die mit einer „großen Koalition" endete, die den Tod des Reichsaußenministers, am 3. Oktober 1929, nur einige Monate überlebte, war in allen vorherrschenden Erscheinungen von bürgerlicher Prägung. Die für einige Jahre — politisch, geistig, psychisch — zur Ruhe gekommenen bürgerlichen Schichten schienen trotz deprimierender und dezimierender materieller und ideeller Verluste während der Kriegs- und ersten Nachkriegszeit zur Republik ein halbwegs erträgliches und statisches Verhältnis gewonnen zu haben. 7 Wie sich jedoch bald zeigte, war ein eher indifferenter als stabiler Zustand erreicht, der aus kaum schon schicksalhaft zu nennenden Anlässen, wie den Young-Plan-Verhandlungen, von heftigen Kontroversen erschüttert und 6 Vgl. Erasmus Jonas, Die Volkskonservativen 1928 — 1933. Entwicklung, Struktur, Standort und staatspolitische Zielsetzung (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus ..., 30), Düsseldorf 1965, S . 2 6 f f . ; auch Johannes Erger, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/20 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus ..., 35), Düsseldorf 1967, S.73f., 93 f., 126 f.. 7 Ein denkwürdiges Zeugnis legen die im hohen Alter niedergeschriebenen Erinnerungen des Ministerialdirektors — erst im Reichsdienst, dann in preußischen Diensten — Arnold Brecht ab, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen erste Hälfte, 1884—1927, Stuttgart 1966, und ders., Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen, zweite Hälfte, 1 9 2 7 - 1 9 6 7 , Stuttgart 1967, bes. Teil I und II.
Einleitung
5
in Frage gestellt wurde, noch bevor sich die fortschreitende Krise der Weltwirtschaft auszuwirken begann, sogar noch ehe ihr Ausmaß und ihre möglichen Auswirkungen gesehen wurden. Die ganz und gar hypothetische Frage, ob ein länger anhaltender Zustand der inneren wie äußeren Ruhe zu einer dauernden Stabilität der Republik hätte führen können, läßt sich natürlich nicht beantworten, drängt sich dem Historiker jedoch auf; sie bleibt bedenkenswert und regt die Untersuchung der Wirkungsweise der stabilisierenden wie der destabilisierenden Faktoren in der Geschichte der zwanziger Jahre an, die den Forschenden sowohl in das Gebiet der Verfassungsverhältnisse als auch das der inneren Politik und der vorherrschenden Mentalitäten und auch in das weite Feld der mannigfachen internationalen Beziehungen führen. In der rückschauenden Betrachtung und Beurteilung waren dies jedenfalls die besten Jahre der Republik, so etwas wie ein Beweis ihrer Existenzfahigkeit unter günstigen Umständen. Man könnte der Republik von Weimar schwerlich eine günstigere Bewertung angedeihen lassen, wenn man diese Phase ihres zweiten Jahrfünfts nicht hervorhöbe und als Zeugnis erkennbarer Lebensfähigkeit des neuen Staates nach dem Ende der Monarchie bewertete, als Ansatz zu vermuteter Dauerhaftigkeit, das meint Stetigkeit und Beständigkeit. Jeder Staat beruht letztlich auf Dauer und Beständigkeit (in allen Wandlungen); das gilt eo ipso auch für das Maß, das an die Geschichte der Republik von Weimar anzulegen ist. Spätere, auch manche heutige Kritiker der Republik teilen dieses Urteil freilich nicht. Sie legen die Maßstäbe moderner sozialstaatlicher Entwicklungen an, um unbestreitbare Defizite ans Tageslicht zu bringen; sie verfolgen die später hervortretenden Kräfte und geistigen Elemente, die Teilhaber einer verhängnisvollen Entwicklung auch in diese Phase oder noch weiter zurück, was einigen Sinn hat; oder sie entwickeln eine stringente logische Konsequenz aus den Anfängen und Ansätzen der „Novemberrevolution" oder der ersten Regierungen der Republik, die als Abwendung von den Strukturen der vergangenen Monarchie und ihrer Gesellschaft begriffen werden; und sie verzeichnen die mangelhafte oder fehlende Weiterentwicklung in steter Richtung als Fehlschlag oder Versagen der bürgerlichen Republik schon nach der ersten Phase der Schaffung einer „formalen politischen Demokratie" 8 — in der Krise der 8
Der damalige Reichswirtschaftsminister Rudolf Wisseil auf dem ersten Nachkriegspar-
teitag der SPD am 14. Juni 1920, nach Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, 1935, mehrmals neu aufgelegt, hier zit. nach der von Kurt Kersten besorgten Ausgabe in: Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1955, S. 359. 2*
Einleitung
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Verfassungsparteien, vor allem der Arbeiterbewegung schon seit der Jahreswende 1919/20 und nach dem fehlgeschlagenen Kapp-Putsch. Die unter dem Druck der außenpolitischen Situation folgende Bildung wechselnder, von den Zentrumspolitikern Fehrenbach und Wirth geführter Regierungskoalitionen, erst mit der DVP, aber ohne SPD, dann mit der SPD, doch ohne DVP — die „katholische Demokratie" — wird etwa in der Ausdrucksweise Arthur Rosenbergs, der lange und noch anhaltende Anregungen vermittelte, als Übergang zu einer „Regierung des Großkapitals" im November 1922 und schließlich einer in allen für wesentlich gehaltenen Bezügen kritisch beobachteten „Stabilisierung" der Jahre des begrenzten, aber steten Einflusses Stresemanns nach der Ruhrkrise gesehen, der doch nur den „Entscheidungskampf, geführt von den Generälen und Kapitalisten gegen die demokratische Arbeiterschaft, verzögerte." 9 In dieser Sicht endete im Jahre 1930 die Geschichte der bürgerlichen Republik, die in ihrem Anfang „das Werk der Arbeiterklasse" gewesen sei. Diese Philosophie zur Geschichte der Republik kennt keine Höhen, sondern nur Abstieg und Fall nach dem Höhepunkt der Revolution und eine moralisch diskreditierte Phase der „Stabilisierung". Den sukzessiven und periodischen Wandlungen der binnenwirtschaftlichen wie der weltwirtschaftlichen Entwicklungen, der gesellschaftlichen Gruppen und ihrer Interessen, des Verfassungsrechts, der Parlamentarisierung, der Parteistrukturen10, der Verwaltungen, der Gewerkschaften und des Arbeitsrechts, des Tarif- und Schlichtungswesens und manchem anderen galt diese Art der historiographisch-kritischen Kommentierung der Zeitgeschichte ebensowenig wie den vielfaltigen Problemen der Außenpolitik; sie mied notorisch alles, was man Strukturprobleme nennen kann. Einzig die Idee einer in der Revolution sichtbar gewordenen, aber nicht des weiteren ausgeführten Staatserneuerung durch die Arbeiterklasse diente
Rosenberg, a. a. O., S. 456. Dies ist sogar für die Anfangszeit der Republik erst verhältnismäßig spät in dem grundlegenden, kritischen Aufsatz von Gerhard A. Ritter nachgeholt worden, Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems 1918—1920, in: Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ritter, Berlin 1970, S. 342 — 384, erneut abgedruckt in: Ritter, Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus. Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1976, S. 116—157; weiter ausgeführt für die sozialistische Linke: Ritter, Die sozialistischen Parteien in Deutschland zwischen Kaiserreich und Republik, in: Staat und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, hrsg. von Werner Pols, Stuttgart 1979, S. 1 0 0 - 1 5 5 . 9
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als Maßstab, sogar ohne Achtung des unaufhaltsamen Fortgangs des längst eingetretenen, auch statistisch faßbaren Rückgangs und der inneren Differenzierung der Industriearbeiterschaft innerhalb der Gesellschaft,11 die ihre eigenen Probleme zutage förderte. Eine Differenzierungen wie Analysen abweisende Fixierung auf Arbeiterbewegung und Arbeiterklasse, als bleibend gedachte Einheiten im Wandel der historischen Realitäten, dürfte ihre Tage gehabt haben. In der Geschichte ist längst eine weitere Einsicht gereift: „Das Dogma vom Klassenkampf, auf das sich die sozialdemokratische Linke berief und dem die Partei insgesamt nicht abschwören wollte, stand den Erfordernissen der parlamentarischen Demokratie ebenso entgegen wie die antiparlamentarischen Ressentiments, die in der Machtelite und im Bürgertum verbreitet waren." 12 Glücklicherweise hat die historische Forschung nach dem Kriege fortschreitend zur Vertiefung der Kenntnisse und zur Weite des Blickfeldes geführt. Dies ist nicht zuletzt der verhältnismäßig früh schon auf hohem Niveau einsetzenden wegweisenden Forschungsleistung von Karl Dietrich Bracher zu danken, die weithin Anerkennung und Anklang fand13. Eine jüngere Richtung hat sich indessen den verschiedenartigen Räten als institutioneller Hervorbringung der Revolution in der Frühgeschichte der Republik zugewandt und in ihnen ein von Kontinuitäten und Traditionselementen der voraufgegangenen deutschen Geschichte Abstand gewinnendes Medium eines deutschen Weges zur Demokratie zu erblicken gemeint. Als Maßstab, der freilich kontrovers bleibt, dient eine Vorstellung von „Demokratisierung" der Gesellschaft, die Auflösung und Gleichformung der überkommenen Strukturen verlangt und einem zweifellos politisch utopischen Ziele gehorcht, dessen Tage allerdings noch nicht abgelaufen scheinen. Diese Forschung hat mit der Thematik der Räte in auffälliger Beharrlichkeit viel gründliche Arbeit 11 Über Differenzierung und Schrumpfung der „Arbeiterklasse" im Gefolge der modernen wirtschaftlichen Entwicklung noch ausführlicher Gerhard Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 605 ff., auch S. 556 ff. 12 Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, 2. Aufl. Berlin/Bonn 1984, S. 13; sowie ders., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1 9 2 4 - 1 9 3 0 , Berlin 1985. 13 Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955 (mehrmals wiederaufgelegt). Ihr ist die Entwicklung einer weit ausgreifenden Forschungsrichtung — mehr noch als einer Schule — zu danken.
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auf ein Phänomen verwandt, das nur wenige Monate existierte und dessen transitorische Bedeutung historisch ebenso augenfällig ist 14 wie 14 Die konjekturalen Chancen eines „dritten Weges" Deutschlands sind wiederholt nachdrücklich von Erich Matthias in den Mittelpunkt der zeitgeschichtlichen Erforschung der Revolution von 1918/19 gerückt worden; Matthias, Zur Geschichte der Weimarer Republik. Ein Literaturbericht in: Die Neue Gesellschaft, 1 (1956), S. 312 ff.; zuletzt in der Einleitung zu: Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, eingeleitet von Erich Matthias, bearbeitet von Susanne Miller unter Mitwirkung von Heinrich Potthoff (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Erste Reihe, Bd. 6), I. Teil, Düsseldorf 1969, S. XV f., CXXIX f. Die Einleitung wurde auch gesondert veröffendicht: Matthias, Zwischen Räten und Geheimräten. Die deutsche Revolutionsregierung 1918/19, Düsseldorf 1970. Diese wie andere, ebenso gründliche wie kenntnisreiche Erwägungen wollten sich nicht auf die Rätebewegung beschränken, sondern der „Zielvorstellung einer solider fundamentierten demokratischen Republik, als es der Staat von Weimar tatsächlich war", dienen. So Eberhard Kolb in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 49), Köln 1972, S. 25. Die Rätebewegung galt als Ausformung einer „demokratischen Klassenbewegung" und erschien in dieser Perspektive als Grundlage eines institutionellen Ausbaus der Demokratie — mit oder ohne parlamentarische Gremien; ihre „Fehleinschätzung" durch die sozialdemokratischen Parteiführer und Volksbeauftragten bildete die einer Reihe von Arbeiten zugrundeliegende Hauptthese dieser Richtung, die schließlich auch durch die zugespitzt formulierte Ansicht unterstützt wurde, daß „in dem Ringen einer sozialdemokratisch-bürgerlichen ,Ordnungskoalition' mit einer von den Arbeiterund Soldatenräten repräsentierten revolutionären Massenbewegung um Wesen und Verlauf der Revolution" die über die Zukunft der Republik „entscheidende revolutionäre Auseinandersetzung" zu erblicken sei. So Reinhard Rürup, Probleme der Revolution in Deutschland 1918/1919, Wiesbaden 1968, die sich allerdings in einer späteren Veröffentlichung dieses Verfassers verflüchtigt zu haben scheint; Rürup, Entstehung und Grundlagen der Weimarer Reichsverfassung, in dem Band von Kolb (Hrsg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, bes. S. 221 ff. Anders, eher Matthias bestätigend, im gleichen Sammelband Helga Grebing, Konservative Republik oder soziale Demokratie? a.a.O., S.386—403. Debattiert wird letzdich über die Frage, ob der Unzulänglichkeit des Rates der Volksbeauftragten eine Art historischer Primärschuld anzulasten oder ob nicht der Unzulänglichkeit der führenden Rätegremien Ähnliches nachzusagen sei. Im übrigen verdient der Hinweis auf politische Vorgänge in der Bundesrepublik Beachtung: auf die „.Öffnung nach links', die sich in der westdeutschen Politik während der sechziger Jahre vollzog, ... zweifellos ist es in erster Linie auf diese Veränderung des allgemeinen politischen Klimas zurückzuführen, daß das neue Bild der Revolutionsmonate auch von der Publizistik relativ rasch rezipiert und durch sie einem breiteren Publikum bekanntgemacht wurde." Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, S. 25. Zur vorherrschenden oder offiziösen Geschichtsauffassung haben diese Maßstäbe aber doch nicht beigetragen, Entgegnungen grundsätzlicher Art schließlich gravierendes Gewicht erhalten und die Revision dieser „Revision" eingeleitet. Vgl. die Beiträge von Udo Bermbach und Peter Lösche in: Probleme der Demokratie heute (Politische Vierteljahrsschrift, Sonderheft 2), 1970. Modifikationen ergeben sich auch in den Untersuchungen, die in dem Sammelband von Rürup (Hrsg.) zusammengefaßt sind, Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Studien zur Ge-
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die Tatsache, daß diese Erscheinung durch örtliche Sonderentwicklungen weit mehr als durch einheitliche Merkmale charakterisiert War. Was die Realität anlangt, so hilft ihr keine „Theorie", die notorisch das Allgemeine darstellt; der Historiker vermag lediglich die keinesfalls einer Idealisierung fähigen transitorischen Formen des Rätewesens in ihrem kurzem Dasein zu ergründen und vor Augen zu führen. Im übrigen bleibt er schichte der Revolution 1918/19, Wuppertal 1975. „Durchschlagende" Einwände gegen die Ansicht, daß „ein Rätesystem eine institutionelle Dauerregelung hätte darstellen können", auch bei Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871 — 1918 (Deutsche Geschichte, 9), Göttingen 1973 (mehrmals neu aufgelegt), S. 224; vorher schon entschieden Gerhard A. Ritter, ,Direkte Demokratie' und Rätewesen in Geschichte und Theorie, in: Erwin K. Scheuch (Hrsg.), Die Widertäufer der Wohlstandsgesellschaft, Köln 1968, S. 188—216; wieder abgedruckt in: Ritter, Arbeiterbewegung , Parteien und Parlamentarismus, S. 292—316. Resümierend Susanne Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918 — 1920 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus, 63), Düsseldorf 1978, S. 137: „Fest umrissene Aufgaben und Zuständigkeiten der Räte als einer längerfristigen Institution gehörten jedenfalls in diesem Stadium der Revolution (Mitte Dezember 1918) nicht zum allgemeinen Programm der Rätebewegung ... selbst .Revolutionäre' lehnten es ab, die parlamentarische Demokratie durch ein Rätesystem zu ersetzen." Schließlich Heinrich August Winkler, Die Sozialdemokratie und die Revolution von 1918/19, Berlin 1979. Damit wäre die Diskussion wieder zu den nüchternen Feststellungen zurückgekehrt, die vor mehr als zwanzig Jahren vorgebracht und begründet, in der Atmosphäre der Zwischenzeit jedoch übergangen wurden. Vgl. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 65 —100: 2. Kapitel: „Das Zwischenspiel der Rätebewegung", sowie S. 198 ff. — Die erste große und daher wichtige Aktenedition, Der Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik, 19.12.1918—8.4.1919. Vom ersten zum zweiten Rätekongreß, bearb. von Eberhard Kolb unter Mitwirkung von Reinhard Rürup (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19, Bd. I), Leiden 1968, teilt aus der Vorgeschichte (S. 1—24), vom Verlauf des ersten allgemeinen Rätekongresses (16.—20.12. 1918) nur den Wortlaut der angenommenen Anträge sowie das Protokoll der Wahlsitzung mit und vermittelt keinen vollständigen Eindruck von diesem Kongreß und seinen inneren Gegensätzen, die die These von der Übereinstimmung von Räten und parlamentarischem System kaum in vollem Umfang bestätigen. Den Auszug der USPDFraktion am 19. Dezember erfährt man aus einer Anmerkung, S. 5. Bisher liegen außerdem vor: Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19, bearb. von Eberhard Kolb und Klaus Schönhoven (Quellen zur Geschichte der Rätebewegung, Bd. II), Düsseldorf 1976, Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte in Baden 1918/19, bearb. von Peter Brandt und Reinhard Rürup (Quellen, Bd. III), Düsseldorf 1980. Hinweise antiparlamentarischer Verbandseinflüsse im regionalen Rätewesen von rechts her, die lange übersehen wurden, geben Heinrich Muth, Die Entstehung der Bauern- und Landarbeiterräte im November 1918 und die Politik des Bundes der Landwirte, in: VZG, 21 (1973), S. 1 —38; und Gerhard Schulz, Räte, Wirtschaftsstände und die Transformation des Verbandswesens am Anfang der Weimarer Republik, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, Düsseldorf 1974, S. 355-366.
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allenthalben den Nachweis schuldig, daß Geschichte und freie politische Phantasie wenig oder gar nichts miteinander gemein haben und daß es auf die Dauer seine Aufgabe ist, dort zu scheiden, wo sich Klarheit zu verlieren droht. Diese an dieser Stelle notwendig, aber auch berechtigterweise knapp ausfallenden Bemerkungen zur jüngeren Bewertung und Hervorhebung der Anfangsphase der Weimarer Republik in der „Novemberrevolution" (ein Ausdruck, der natürlich nicht nur die Ereignisse im Monat November meint oder jemals meinte, sondern — hierin analog zur „Novemberrevolution" der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert — die gesamte Spanne der von dem auslösenden Ereignis unmittelbar ausgehenden Umwälzung einbezieht) gelten allerdings einem Thema, demgegenüber nun die Regierung nach dem Ende der letzten „großen Koalition", die des Zentrumskanzlers Heinrich Brüning, nicht minder problematisch erscheint: als Kontrapost zu der umstritten gebliebenen revolutionären Anfangsphase in der kurzen Geschichte der Republik von Weimar, von ganz anderem Charakter, aber kaum weniger kontrovers beurteilt. Seit längerem ist die Frage umstritten, ob sie überhaupt der demokratischen Republik zugerechnet werden kann, sobald man die zunehmende verfassungsrechtliche Abstützung der Gesetzgebung auf das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten ins Auge faßt, das sich in dieser ausgedehnten Anwendung mit den Vorstellungen der nicht eben weitblickenden Verfassungsväter kaum in Einklang bringen ließ, 15 wenn dies auch wiederholt versucht wurde. Das Wesen der Diskrepanz war längst offenkundig. Doch der Streit um die Regierung Brüning, die einerseits als Ablösung der parlamentarisch-parteienstaatlichen Demokratie, anderseits als letzter Hort gegen eine nationalsozialistische Diktatur galt, wurde anfangs heftiger geführt als der um die lange Zeit kaum sorgfaltig definierte „Rätebewegung". Wobei nicht die beachtliche Dauer der beiden Kabinette des Reichskanzlers Brüning, die mit 26 Monaten, vom 30. März 1930 bis zum 30. Mai 1932, als längste ununterbrochene Amtszeit eines Reichskanzlers aus der Geschichte der Regierungen der Republik herausragt: Es sind die dichten Ereignisfolgen einer Krisenzeit, Umfang und Tragweite der im einzelnen kaum noch überschaubaren Entscheidungen, die fortschreitenden Wandlungen der Verfassungsverhältnisse wie des politischen Systems im ganzen und die offenkundige Kontrastierung sowohl zu der voraufgegangenen Periode der Republik als auch zu der nachfolgenden Diktatur, die es nahelegen, von einer Ära Brüning zu 15
Hierzu Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 471 ff.
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sprechen, mögen auch die Beurteilungen in allem Wesentlichen herkömmlich kontrovers sein. Von Bethmann Hollweg einmal abgesehen, ist Brüning der am stärksten umstrittene Kanzler des Deutschen Reiches im 20. Jahrhundert gewesen und geblieben, von den einen hochgeschätzt als letztes Haupt der Regierung vor dem Einbruch einer schlimmen Entwicklung, von anderen verurteilt und abgetan. Friedrich Meinecke, der gleich nach dem zweiten Weltkrieg die lange Reihe kritischer Versuche zur historischen Durcharbeitung der deutschen Vergangenheit eröffnete, ließ in seiner ersten Nachkriegsschrift Brüning das sorgsam bedachte Urteil angedeihen, daß die Deutschen unter einer Führung wie der seinen „sehr wohl im Stande gewesen wären, die schwere wirtschaftliche und geistige Krise zu überstehen und dem verderblichen Experiment des Dritten Reiches zu entgehen." 16 Diesem sehr bestimmten, Persönlichkeit und Politik Brünings geradezu heraushebenden Urteil liegt gewiß mehr als der nachträgliche Kommentar eines interessierten Beobachters zugrunde; Meinecke wähnte offenbar durch Erscheinungsbild, Auftreten und Politik des Reichskanzlers Brüning jene „Ideale" bestätigt, die er nach dem Ende der Monarchie in der Republik verwirklicht wünschte: Ideale eines liberalen Bildungsbürgertums, das sich auf eine starke und entschlossen handelnde Regierung verlassen wollte — wie übrigens so ziemlich alle politischen Richtungen seit der Reichsgründung. Meineckes Äußerung gegenüber bleibt allerdings die Kluft zu jenem Urteil unüberbrückbar, das Arthur Rosenberg ein Jahrzehnt früher in seiner rückschauenden Betrachtung traf: Der Übergang zu der Regierung durch Notverordnungen der Ära Brüning sei in Wahrheit die „Todesstunde der Weimarer Republik" gewesen.17 Unter solchen Diskrepanzen in der Bewertung von Epoche und Persönlichkeit leidet bei weitem nicht nur die Klarheit des Bildes von der Politik des Reichskanzlers Brüning, sondern auch die der verbreiteten Vorstellungen über die Republik und ihre Möglichkeiten bis auf unsere Tage, ganz und gar unabhängig davon, daß die postume Veröffentlichung der Memoiren Brünings 18 neue Frage16 Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, S. 105 (5. Aufl. 1956). 17 Rosenberg, Entstehung, S. 350, 479. 18 Heinrich Brüning, Memoiren 1918 — 1934, Stuttgart 1970. Für den Stand der Diskussion auch die in mehreren Hinsichten voneinander abweichenden Betrachtungen und Urteilsmodalitäten einer Doppelrezension: Gerhard Schulz, Erinnerungen an eine mißlungene Restauration, in: Der Staat, 11 (1972), S. 61—81; Werner Conze, Die Reichsverfassungsreform als Ziel der Politik Brünings, in: Der Staat, 11 (1972), S. 2 0 9 - 2 1 7 ; ders.,
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Stellungen angeregt hat und im Gefolge der Verbreiterung und Festigung der Quellengrundlage 19 schließlich die eingehende Ergründung oder kritische Bewertung der Phasen dieser Regierung im Übergang 2ur Diktatur immer deutlicher überwiegen. Die Ära Brüning bezeichnet den Anfang und einen beträchtlichen Teil der großen „Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reiches" 2 0 in den dreißiger Jahren, die, im Unterschied zu anderen Krisen im Nachkriegsjahrzehnt, etwa zur Inflation und zur nachfolgenden Stabilisierungskrise 21 , mit einer weltweiten und in der Wirtschaftsgeschichte der neuesten Zeit tiefsten Depression verknüpft war, die in keinem Lande ohne Folgen für Politik und Regierung blieb. Eine auffallige Unsicherheit besteht jedoch im Hinblick auf die Einschätzung des Beginns der „ G r o ßen Krise". 2 2 E r scheint weiter in der Vergangenheit zu liegen, sobald sich der Blick von der weltweiten Wirtschaftskrise löst und der inneren
Brüning als Reichskanzler, in: HZ, 214 (1972), S. 330. Zum Quellencharakter der Erinnerungen Brünings Rudolf Morsey, Zur Entstehung, Authentizität und Kritik von Brünings „Memoiren 1918 — 1934" (Rheinisch-westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge, G 202), Opladen 1975. 19 Hierzu jetzt die Quelleneditionen: Staat und NSDAP 1930-1932. Quellen zur Ära Brüning, eingeleitet von Gerhard Schulz, bearb. von Ilse Maurer und Udo Wengst (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Dritte Reihe, Bd. 3), Düsseldorf 1977, künftig zitiert: Schulz, Quellen Brüning: Staat und NSDAP; und Politik und Wirtschaft in der Krise 1930—1932. Quellen zur Ära Brüning, eingeleitet von G. Schulz, bearb. von I. Maurer und U. Wengst unter Mitwirkung von Jürgen Heideking (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Dritte Reihe, Bd. 4), zwei Bände, Düsseldorf 1980, künftig zitiert: Schulz, Quellen Brüning: Politik und Wirtschaft. 20 So der Titel des Sammelbandes von Werner Conze und Hans Raupach (Hrsg.), Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reiches 1929/33 (Industrielle Welt, 8), Stuttgart 1967. 21 Vgl. die neueste Untersuchung von Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914—1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin/New York 1980; sowie den Tagungsband: Gerald D. Feldman, unter Mitarbeit von Elisabeth MüllerLuckner, Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924—1933 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 6), München 1985. 22 Den Beginn der politischen Krise im Jahre 1929 behandelt Werner Conze, Die Krise des Parteienstaates in Deutschland 1929/30, in: HZ, 178 (1954), S . 4 7 - 8 3 . Noch weiter greift Josef Becker zurück, Heinrich Brüning in den Krisenjahren der Weimarer Republik. Walter Peter Fuchs zum 60. Geburtstag, in: GWU, 17 (1966), S.206; mit eingehender Begründung Michael Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924—1928 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus, 36), Düsseldorf 1967, bes. S. 248 ff., 280 ff.
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deutschen Entwicklung zuwendet.23 An der Jahreswende 1929/30 fand dann eine nur kurze politisch wie wirtschaftlich liberale Phase ihren Abschluß, die jedoch im Bewußtsein der handelnden Politiker noch eine Zeitlang fortwirkte, ehe sie des ziehenden Stromes der Entwicklung inne wurden. Aus politischen Gründen und Überzeugungen hatte man an Veränderungen oder Fortbildung der Verfassung von Weimar wiederholt gedacht, auch eine Reihe ernsthafter Bemühungen hierzu unternommen. Bis 1930 hatte sich immer deutlicher herausgestellt, daß die Erhaltung einer begrenzten Länderstaatlichkeit nach den überkommenen territorialen Konfigurationen der Monarchie in der neuen Reichsverfassung Auswirkungen zeitigte, die allenthalben — wenn auch aus verschiedenen Gründen, so doch ohne grundsätzliche Ausnahme einer wesentlichen politischen Gruppe oder Richtung — den Ruf nach einer Reform der Reich-LänderBeziehung stimulierte; dies schien in der Sache nicht ohne durchgreifende Verfassungsreform denkbar.24 Doch der am weitesten gediehene theoretische Plan einer „differenzierten Gesamtlösung", den der Verfassungsausschuß der im Januar 1928 vom Reichskanzler Marx einberufenen Länderkonferenz bis zum Frühjahr 1930 unter Beteiligung von Repräsentanten kontroverser Richtungen erarbeitete, büßte bereits in der letzten Phase der Ausarbeitung seine Aktualität ein,25 da die immer entschiedener in den Vordergrund drängenden Probleme der Finanzpolitik und einer Reform des Finanzausgleichs weder gelöst noch überhaupt mit Aussicht auf Erfolg zur Erörterung gestellt wurden. Das Finanzsystem, Steuern und Steuerpolitik und Ausgaben wie Anforderungen der öffentlichen Verwaltungen, denen weithin Einsparungs- und Enthaltungsmaximen
23 Die Abstufungen einer seit Beginn der Republik „anhaltenden Krise", auch in den Jahren nach 1924 „kranken" Wirtschaft und dann im Sommer 1931 voll einsetzenden „prinzipiellen Strukturkrise der nationalen und internationalen Wirtschaftsordnung" deutet in einem wiederholt veröffentlichten Vortrag Knut Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes. Vorgetragen am 2.12. 1978, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1978, München 1979, S. 85 —132; mehrfach wieder abgedruckt und ergänzt. 24 Hierzu vor allem der zweite und dritte Teil des ersten Bandes Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur; knappe Zusammenfassung in dem Vortrag: Schulz, Triebkräfte und Ziele der Reichsreform nach der Weimarer Verfassung, in: Rudolf Morsey (Hrsg.), Verwaltungsgeschichte. Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele (Schriftentreihe der Hochschule Speyer, 66), Berlin 1977, S. 7 1 - 1 0 6 . 25 Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 592—606.
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entgegengehalten wurden, bildete jedoch das kritische Zentrum aller Reformprojekte.26 Doch dies ist historisch nur ein Anzeichen — von meist sogar unterschätztet Bedeutung —, das nicht nur die mangelnde Reformfahigkeit des Verfassungskompromisses von Weimar, sondern auch die innere Festigung des Verfassungsstaates selbst in Frage stellte. Dies hatte mehrere, durchaus historische Gründe, die hier zu untersuchen und darzustellen sind. Die großindustrielle Wirtschaft und ihre Interessenverbände ebenso wie die organisierte Landwirtschaft fanden sich zu keinem Zeitpunkt ohne Vorbehalte mit Erscheinungen und Auswirkungen der parlamentarischen Regierungsweise ab, angesichts der koalitionspolitischen Schwierigkeiten und Kompromisse, die sich in Entscheidungen der Regierungen wie in parlamentarischen Vorgängen deutlich niederschlugen. Dies wird man indessen doch nicht eine „Staatskrise" nennen dürfen, die die Existenz der 1919 geschaffenen Republik schlechthin in Frage stellte, wenn es auch in allen Jahren der Geschichte der Weimarer Republik zu auffalligen Unsicherheiten und kaum zuverlässig abzugrenzenden Gefahrdungen der Grundlagen des Verfassungsstaates sowie zu Irritationen des politischen Denkens und der Haltung ihm gegenüber beigetragen hat. 27 Doch zweifellos war das vorherrschende Interesse der Deutschen gar nicht auf Eigenart und Funktionsweise parlamentarischer Parteien und Regierungen gerichtet, sondern beschäftigte sich mit anderen Problemen und Schlagworten. Etwas unsicher umschrieb der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und ehemalige wie spätere Reichskanzler Hermann Müller-Franken den Kern des Sachverhalts, wenn er, sich einer vorsichtigen und untertreibenden Ausdrucksweise bedienend, schrieb: „Nur bei einem Teil der früher privilegierten Schichten des Besitzes ... ist der Wunsch nach einer Krise des Parlamentarismus der Vater des Gedankens. [Doch] im allmählichen Wiederaufstieg stehen Deutschland noch schwere Jahre bevor." Den Deutschen tue es daher dringend not, „daß endlich die deutschen Stämme zur deutschen Nation werden. Daß die Engländer und die Franzosen zu einer Nation geworden waren, half ihnen, kritische Perioden ihrer Geschichte leichter zu überwinden." 28 a.a.O., bes. S . 5 1 6 - 5 4 3 , 574ff. Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, Erster Hauptteil. 28 Hermann Müller-Franken. Vom deutschen Parlamentarismus, in: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, J g . 3 (1926), l . B d . , S. 305; in der Sache ähnlich, jedoch mit sozialistischer Terminologie Georg Decker [d. i. Georg Denicke], Krise des deutschen Parteiensystems, a. a. O., S. 1 ff. 26 27
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Für den ebenso gemäßigten wie einsichtsvollen Mann bedeutete dies, daß die Krise wie alle Kritik der Periode an der Parole der nationalen Einigung und Einheit nicht vorbeigehen könne. Deutschland war erst kurz vor dem Weltkriege annähernd zu einem Nationalstaat geworden. Die Fortsetzung seines historischen Entwicklungsprozesses wurde durchkreuzt von den Gegenwirkungen der Alliierten des Weltkrieges und ihren Friedensbedingungen, die alsbald sich verstärkende Abwehrmechanismen und gefahrliche, hypertrophische Einseitigkeiten provoziert hatten. Der Nationalismus der Kriegszeit, im tiefsten verletzt, wählte mehr und mehr extreme statt vernünftige, operable Ausdrucksformen und fiel in die vor dem Kriege kaum einflußreichen Allüren der radikalen Alldeutschen zurück. Doch um diese deutsche Krise, besonders die Konflikte der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des aus der Reihe der Großmächte ausgestoßenen Deutschen Reiches im Rahmen der erneuerten weltwirtschaftlichen und internationalen Beziehungen, um die Lage an der Schwelle zur „Großen Depression" zu klären, muß nun historisch weiter ausgeholt und der Versuch unternommen werden, einen Überblick über die Entwicklung des ökonomischen und politischen Systems zu gewinnen.
ERSTER
TEIL
Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Krisenzeichen Pecunia nervus belli Tacitus The same money, however, has an aftermath when the firing dies down Kindleberger 1
1 Charles P. Kindleberger, Keynesianism vs. Monetarism and Other Essays in Financial History, London 1985, S. 172.
ERSTES
KAPITEL
Das internationale System der Nachkriegswirtschaft Hier soll nicht versucht werden, einen Beitrag zur Erörterung der Erklärungen zu geben, die eine internationale Wirtschaftswissenschaft für die Entstehung und den Verlauf der Weltwirtschaftskrise entwickelt hat. la Auch die heutigen Urteile hierzu sind kaum im ganzen als endgültig und sowohl theoretisch schlüssig als auch empirisch evident zu bezeichnen; wir erleben in dieser Hinsicht noch die Entwicklung der theoretischen Erfassung in ihrer möglichst engen Beziehung zur empirischen, wirtschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung der Krise. Wir benötigen hier aber auch gar nicht das endgültige und abschließende Resümee, um Tendenzen und Ergebnisse anzuführen, die über den Horizont der erlebenden Zeitgenossen hinausreichen und damit der „invisible history of economics" näher zu kommen versuchen. Die Zusammenhänge zwischen Weltwirtschaft und deutscher Wirtschaft und Wirtschaftskrise sind in jüngster Zeit stärker herausgearbeitet worden. 2 Auch regionale und sektorale Sonderentwicklungen oder entl a Hier werden einige Bemerkungen ergänzt, die schon einen älteren Beitrag einleiteten, Gerhard Schulz, Inflationstrauma, Finanzpolitik und Krisenbekämpfung in den Jahren der Wirtschaftskrise, 1930—1933, in: Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924—1933, hrsg. von Gerald D. Feldman unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 6), München 1985, S. 261. 2 Ein bedeutsamer Versuch liegt in der Darstellung von Charles P. Kindleberger vor, Die Weltwirtschaftskrise (Übers, aus dem Amerikanischen, Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, 4), München 1973; daneben die ältere bedeutende Darstellung von Ingvar Svennilson, Growth and Stagnation in the European Economy, Genf 1954. Ein neuerdings diskutierter Essay von Knut Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes, in: Jahrbuch d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1979, München 1979, S. 8 5 - 1 3 2 , letzte Fassung in: Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982, S. 165 —182, beschränkt sich auf die Deutung von Zeitreihen deutscher Wirtschaftsdaten des Kaiserreiches, der Republik und der Bundesrepublik in ihren jeweiligen Grenzen (!), eine Betrachtungsweise, die in dem von der jeweiligen politischen „Einheit deutsche Volkswirtschaft" ausgehenden statistischen Werk von W. G. Hoffmann u. a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/New York 1965, begründet wurde. Ansätze zur
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Schulz II
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I. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Krisen^eichen
wicklungsatypische „Unzeitgemäßheiten" wurden näher betrachtet. Es dürfte aber stets problematisch bleiben, ohne zulängliche Vorausbestimmungen der Auslandsverhältnisse — und der Kausalität ihrer Veränderungen — Situationen und Handlungsspielräume der deutschen Wirtschaft zu ermessen, mithin auch ihre endogenen Entwicklungen einzugrenzen und bündig zu erfassen. Schwere Versäumnisse eines spezialisierten Wissenschaftszweiges können an dieser Stelle nicht nachgeholt werden. Aber der Versuch einer kurzen Orientierung ist unvermeidlich. Begreiflicherweise sind wirtschaftsgeschichtliche Forschungen und Betrachtungen immer bemüht, in Zahlen darstellbare Größen miteinander in Beziehung zu setzen bzw. wesentliche Feststellungen und Ergebnisse mit einem festen Datengerüst zu versehen. Es läßt sich leicht einsehen, daß das Verlangen nach der Kenntnis und der Darstellung globaler Erscheinungen die Erreichbarkeit und Zuverlässigkeit umfangreichen Datenmaterials voraussetzt und daß seine Erfüllung mit einer Entfernung von den — gedruckten oder ungedruckten, archivalischen — Quellen des Historikers, die man die herkömmlichen Quellen nennt, erkauft werden muß. Natürlich behalten die herkömmlichen Quellen in politisch entscheidenden Bereichen ihre Bedeutung, bleiben sie die einzigen verläßlichen Quellen. In Wahrheit kann keine Rede davon sein, daß es etwa eine Art Konkurrenz zwischen statistischen Quellen oder dokumentarischen bzw. archivalischen gebe. Es existieren aber verschiedene Bereiche, in denen sinnvolle Fragen nur sinnvoll — wenn überhaupt — mit Hilfe spezifischer Quellen bzw. nach Erschließung und Erarbeitung bestimmter Quellengattungen beantwortet werden können. Die Ermittlung politischer Vorgänge und Entscheidungen wie die Aufhellung der Motive, die ihnen zugrundeliegen, wird nie ohne herkömmliche bzw. dokumentarische, unveröffentlichte archivalische sowie veröffentlichte, dokumentierte Quellen möglich sein, mögen auch bestimmte wirtschaftliche Zusammenhänge und Daten, soweit sie bekannt waren, zum Verständnis
Problematisierung dieser Grundlage bei Wolfram Fischer und Peter Czada, Wandlungen in der deutschen Industriestruktur im 20. Jahrhundert, in: Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gerhard A. Ritter, Berlin 1970, S. 118 ff. Knappe, aber grundsätzliche Korrektur an Borchardt von Wolfram Fischer, Weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen für die ökonomische und politische Entwicklung Europas 1919—1939 (Institut für Europäische Geschichte, Mainz, Vorträge, 73), Wiesbaden 1980. Kritisch auch Carl-Ludwig Holtfrerich, Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise in: HZ, 235 (1982), S. 6 0 5 - 6 3 1 ; Gerhard Schulz, Reparationen und Krisenprobleme nach dem Wahlsieg der NSDAP 1930. Betrachtungen zur Regierung Brüning, in V S W G : 67 (1980), S. 2 0 0 - 222.
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Nacbkriegswirtschaft
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beitragen. Auf einer ganz anderen Ebene geht jedoch die Rekonstruktion der realen, von der Erlebnis- und Erkenntnissphäre der Zeitgenossen und ihrer Äußerungen völlig unabhängigen und daher notwendig auch im Denken des Historikers unabhängig gehaltenen größeren Rahmenbedingungen der Wirtschaft und des Finanzwesens vor sich. Erst wenn dies geschehen ist, kann versucht werden, die von den beteiligten Zeitgenossen wahrgenommenen Zusammenhänge, ihre Reflexion und Bewertung mitsamt den nachweisbaren Folgen in dem zuvor genannten Bereich der sogenannten herkömmlichen Quellen zu ergründen. Leider sind allzuviele Zahlen und Datenkränze unzulänglich oder beruhen auf inkommensurablen Erfassungen. Geschulte Kenner der Materie sehen die Bedeutung des Mangels zuverlässiger Statistiken und sind vorsichtig genug, den hypothetischen Charakter wichtiger Folgerungen deutlich anzugeben und kontroverse Thesen gegeneinander abzuwägen, ohne ihr Gewicht unangemessen zu überschätzen. Vorsicht, die zu größerer Genauigkeit auffordert, ist unbedingt am Platze. Die Zahlen über die Bruttosozialprodukte der Staaten sind unzulänglich und schwer vergleichbar, ebenso die Angaben ihrer Exporterlöse. Auch Daten über internationale Kapitalbewegungen sind nicht immer zuverlässig; kurzfristige Kapitalbewegungen lassen sich schwer ermitteln. Ähnliches gilt für die Erfassung der Arbeits- und Kapitalproduktivität und des Ausmaßes technischer Veränderungen. 3 Außerdem werden gerne aggregierte Zahlen eingesetzt, die große Unterschiede überdecken können und deren Berechnungsgrundlage sich mitunter nur schwer beurteilen läßt. 4 Doch darüber sollte man nicht vergessen, daß auch einfache Zeitreihen im Hinblick auf ihre Bedeutung, ihre Aussagekraft und Zuverlässigkeit der Überprüfung bedürfen. Zahlen für sich sind noch keine Belege, Zahlenfolgen nicht unbedingt schon Beweise. Es ist schlechterdings nicht möglich, eine historisch brauchbare durchgehende Statistik der Arbeitslosigkeit zu erstellen, die sowohl die Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg als auch die dreißiger Jahre einbezieht, auf gleichbleibender Erfassungsgrundlage
3 Vgl. Derek H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre. Von Versailles zur Wall Street, 1 9 1 9 - 1 9 2 9 (Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, 3), München 1978, S. 9 1 - 2 2 5 , 281 f., 344f. 4 Die eindrucksvolle umfassende Datensammlung von B. R. Mitchell, European Historical Statistics 1750—1970, London 1975, beruht auf zahlreichen, aber verschiedenartigen Statistiken und ist in ihrer Zuverlässigkeit von diesen abhängig. Die Erfassungsgrundlage ist für den Benutzer dieses Werkes nur zu einem Teil überprüfbar.
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I. Wirtschaftliche
Rahmenbedingungen und Krisen^eichen
beruht und somit vergleichbare Zahlenwerte liefert. 5 Die unterstellte Über2eugungskraft von Zahlen wie der daraus folgende Mißbrauch 5 Von den Darlegungen hierzu bei Borchardt, Zwangslagen, bleibt allerdings die — freilich nicht ganz neue — Feststellung wichtig, daß es auch nach dem wirtschaftlichen Aufschwung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre Arbeitslosigkeit in größerem Umfange gegeben hat, was freilich noch näherer Erklärung bedürfte; man muß aber hinzufügen, daß sie 1927 und 1928 doch deutlich zurückging. Die Anlaufzeit des Aufschwungs der deutschen Wirtschaft nach Inflation und Stabilisierungskrise, vom Frühjahr 1926 bis zum Sommer 1929, war viel zu kurz, um unter globalen Aspekten allzu weit greifende Folgerungen aus den Schwankungen dieser knapp bemessenen Phase zu entwikkeln. Für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg fehlen zuverlässige Anhalte. Für die Jahre 1919 bis 1932 behelfen sich Dietmar Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977, S. 16 f., wie auch andere Autoren, mit den erfaßten Arbeitslosen unter den Gewerkschaftsmitgliedern. (Im internationalen Vergleich werden aber für andere Länder andere Grundlagen benutzt.) Mitchell, Historical Statistics, S. 167 ff., verfahrt so mit Deutschland für den gesamten Zeitraum von 1887 bis 1928, obgleich die Gewerkschaften vor der Jahrhundertwende in den meisten Wirtschaftszweigen noch in den Anfangen steckten, ihre Mitgliederzahl kaum schon in irgendeiner Hinsicht repräsentativ genannt werden kann; danach wechselt die Erhebungsgrundlage und folgen die Angaben (1929 — 1938) den monatlichen Ausweisen der offiziell registrierten Arbeitslosen durch die Arbeitsämter. Daß die rechtliche Bestimmung der Unterstützungsberechtigten — und nur solche wurden von den Arbeitsämtern bzw. seit 1928 von der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenfürsorge (RfAuA) als Arbeitslose erfaßt — mehrmals verengt wurde, ist in der bisherigen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung und Statistik überhaupt nicht beachtet worden. (Wie eine Jahresarbeitslosenzahl aus monatlichen Angaben ermittelt wird, ist bei Mitchell nicht ersichtlich.) Die Angaben erfolgen durchgehend in Prozentsätzen von der Gesamtzahl verfügbarer Arbeitskräfte. Für den Zeitraum, der durch Verwendung von Gewerkschaftsrechnungen abgedeckt wird, beruhen die Angaben, sofern sie sinnvoll sind, auf der mehrfachen Voraussetzung des für den genannten Zeitraum gleichbleibenden, für die gesamte Wirtschaft repräsentativen Charakters der Verhältnisse sowohl unter den beschäftigten als auch den arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern und der Gleichmäßigkeit und Zuverlässigkeit der Erhebungen der verschiedenen Gewerkschaften, deren Quellen übrigens nicht erkennbar sind. Es ist nicht ausgeschlossen, wird aber nicht gesagt, daß vor allem die Erhebungen der Freien Gewerkschaften gemeint sind, die erstmals im Januar und Februar 1893 vorgenommen wurden. Eine amtliche Statistische Reichserhebung der Arbeitslosen wurde an zwei Tagen des Jahres 1895 durchgeführt. Danach gab es stetige kommunale Erhebungen und Statistiken, die bis 1928 die wichtigsten Quellen blieben. Vgl. K. Kumpmann, Art. „Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung", in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., hrsg. von Ludwig Elster, Adolf Weber, Friedrich Wieser, I.Bd., Jena 1923, S. 798 ff. Über die Schwierigkeiten der Erhebungen zur Arbeitsstatistik 1925—1928 und die methodischen Bemühungen zu ihrer Überwindung unter Zuhilfenahme der Statistiken der Berufsgenossenschaften, um brauchbare Zeitreihen zu gewinnen, Margot Lölhöffel, Zeitreihen für den Arbeitsmarkt. Lohnsatz, Beschäftigungsfalle, Arbeitskosten und Arbeitsstunden (1925 bis 1938 und 1950 bis 1967), in: IFO-Studien, 20. Jg. (1974), S. 3 3 - 1 5 0 . - Wie wenig die Voraussetzungen gleicher Erhebung für die zwanziger Jahre erfüllt sind, geht aus dem
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statistischer Angaben in der Geschichtsschreibung beschränkt sich nicht auf die Wirtschaftsgeschichte. Dies liegt freilich daran, daß der heutige Interessent an wissenschaftlich nutzbaren Daten viel mehr zuverlässiges Material zur Verfügung hat und hierdurch leicht der Verführung erliegt, statistischen Angaben aus der Vergangenheit eine Verläßlichkeit oder eine Erfassungsweise zu unterstellen, die ihnen meist nicht zukommt. 6 Es erscheint aber auch geboten, darauf hinzuweisen, daß das Wachstumsprinzip im wirtschaftlichen Denken erst ein Kind der Nachweltkriegszeit, im Grunde eine Folge der Erfahrungen der Weltwirtschafts-
Vergleich der Angaben über die Arbeitslosigkeit im Jahre 1929 hervor, für die beide Erhebungen — Gewerkschaften und RfAuA — benutzt werden (Mitchell, a. a. O., S. 107). Die Statistik auf Gewerkschaftsbasis ergibt für dieses Jahr eine Arbeitslosigkeit von 4,3%, die amtliche Registrierung jedoch von 13,1%. Eigentlich sollte man erwarten können, daß derartige Differenzen von Wirtschaftshistorikern als alarmierendes Zeichen genommen und nicht mit Gleichgültigkeit übergangen werden. — Das für Beschäftigungs- und Lohnstatistiken gern herangezogene Werk von Gerhard Bry, Wages in Germany 1871 — 1945 (National Bureau of Economic Research, 68), Princeton, N.J. 1960, hier S. 327 f., gibt nur absolute Zahlen der Arbeitslosen an; für 1919 bis 1923 sind dies die Hauptunterstützungsempfanger der „Arbeitslosenversicherung". Eine einheitliche Arbeitslosenunterstützung gab es in Deutschland jedoch erst seit Inkrafttreten des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927 (AVAVG) und der Gründung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, deren Berichte dann das zuverlässigste, wenn auch nicht stets gleichbleibende Material enthalten, das für den Historiker von größerer Bedeutung ist als für die Zeitgenossen, da es erst mit einigem zeitlichen Abstand erschien. Die Zeitgenossen mußten sich zunächst anderer, schneller erstellter Statistiken bedienen, die infolgedessen auch meist in der überkommenen Literatur zitiert werden und über diesen Weg in statistische Sammlungen unserer Zeit Eingang gefunden haben. Tatsächlich hat sich auch Bry für seine Zwecke zweier verschiedener Quellen bedient. Ab 1924 benutzte er das Handbuch des Instituts für Konjunkturforschung aus dem Jahre 1933, für die Jahre von 1919 bis 1923 eine Erhebung von Robert Kuczynski. Die Arten der Erfassung weichen weit voneinander ab. Ohne seine Vergleichsbasis zu erklären, gibt aber Bry korrekt die verschiedenartigen Zahlen für die Jahre 1924 und 1925 an: 1924 einmal 937000, dann 841000, 1925 664000 bzw. 384000 Arbeitslose. Gemeinsam ist diesen Angaben nur ein deutlicher Rückgang. Aber für die Feststellung der Größe und Dauer der Arbeitslosigkeit wäre es von erheblichem Belang, ob deren Zahl 1925 etwa 2,5 oder 1,5 Prozent aller Beschäftigungsfalle ausmachte. Davon hängt zu einem wesentlichen Teil auch die Überzeugungskraft der Thesen über die Dauer der Stabilisierungskrise wie über die Ständigkeit ungesunder Wirtschaftsverhältnisse ab, da die Arbeitslosigkeit als geläufiger Indikator für wirtschaftliche Wechsellagen gilt. 6 Nur um der vollständigen Korrektheit willen und ohne den Rahmen der Thematik zu verlassen, sei angemerkt, daß es ältere vorzügliche Vorbilder für rational durchdachte Erfassungsgrundlagen schon in der Renaissance, etwa in der Bevölkerungsstatistik italienischer Städte, namentlich Venedigs im 16. Jahrhundert, gibt. Aber aus Italien kommt schließlich auch die „doppelte Buchführung", „scrittura doppia" des Fra Luca (1494).
I. Wirtschaftliche
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Rahmenbedingungen und Krisentçeichen
krise und des zweiten Weltkriegs und des während der Krise aufgekommenen, im zweiten Weltkrieg programmatisch entwickelten Prinzips der „Vollbeschäftigung" ist. Die Vorstellung eines stetigen Wirtschaftswachstums, der fortgesetzten Zunahme des realen Sozialprodukts war der Periode, mit der wir uns hier befassen, nahezu völlig fremd, wenn auch gelegentliche Äußerungen und Überlegungen zur Wirtschaftspolitik Ansätze dieser Vorstellung schon bezeugen mögen. Der Faktor eines offenkundig ununterbrochenen, sichtlich rapiden Wachstums der Bevölkerung wurde wirtschaftspolitisch lange Zeit so gut wie gar nicht veranschlagt, nachdem man die alten Fehlschlüsse der Malthusschen Theorie überwunden wähnte und sie auch nicht mehr in ihrer Eigenart wie ihrem Sinn nach zur Kenntnis nahm. Über die Wanderungsbewegungen und dem überall in der Welt zu beobachtenden Zug von Menschen des Landes in große und kleine Städte, zusehends entschiedener in die großen und größeren, waren seit Jahrzehnten Überlegungen angestellt und Thesen vertreten worden, 7 die jedoch lediglich theoretisch erörtert wurden, ohne Das erste berühmte Buch von Thorstein Vehlen, The Theory of the Leisure Class. An Economic Study in the Evolution of Institutions, New York 1899, letzte Ausgabe 1966, deutsch 1959, zuletzt 1981, entwickelte eine Art Theorie der Anpassung an die jeweiligen höheren Schichten in den Städten, die bereits eine unaufhörliche Bewegung in der Gesellschaft zur Folge hat. In Deutschland wurde die ständige und zunehmende Abwanderung vom Lande, namentlich aus den Ostprovinzen, die Auswanderung vor der Industrialisierung und der Zug in die Städte nach Beginn der Industrialisierung als Problem vom nationalen und agrarwirtschaftlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, was schließlich zu Plänen einer Rücksiedlung in die Ostprovinzen führte. Der sozioökonomische Strukturwandel und die Konsequenzen hieraus wurden jedoch nur in verschiedenen Formen einer Agrarreform oder einer Reagrarisierung gesehen, die diese — in allen Staaten mit der Industrialisierung verbundene — „Landflucht" aufhalten oder rückgängig machen sollte. Theodor Frh. v. d. Goltz, Die ländliche Arbeiterfrage und ihre Lösung, 2. Aufl. Danzig 1874; ders., Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat, Jena 1893; Max Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland (Schriften des Vereins für Socialpolitik, 56), Leipzig 1893; ders., Die Verteilung des Grundbesitzes und die Abwanderung vom Lande, Berlin 1910; Franz Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage. Versuch einer neuen Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft, Berlin 1898, 2. Aufl. 1921. Peter Quante gelangte am Ende der Weimarer Republik zu dem Ergebnis, daß infolge der niedrigen Bedarfsgrenze und der geringen — volkswirtschaftlichen — Arbeitskapazität auf dem Lande „selbst bei zunehmendem Gesamtbedarf an Nahrungsmitteln der größte Teil des landwirtschaftlichen Nachwuchses oder sogar der ganze Nachwuchs ... den Beruf — in der Regel auch das platte Land als Standort des Berufs — aufgeben muß." Quante, Die Flucht aus der Landwirtschaft. Umfang und Ursachen der ländlichen Abwanderung, in: Zeitschrift des Preußischen Statistischen Landesamts, 71. Jg. (1933), S. 277—380, im gleichen Jahr auch als Buch veröffentlicht; vorher schon ders., Die Abwanderung vom Lande und das „Goltzsche Gesetz", in: Schmollers Jahrbuch, 55. Jg. (1931), S. 63 — 107. Vgl. auch 7
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wirtschaftliche Folgerungen zu entwickeln (von der Genossenschaftsidee Franz Oppenheimers abgesehen). Wie weit das Denken der Wirtschaftstheoretiker vor Keynes von dem Gedanken des Wachstums im Sinne fortgesetzter Wandlung und Expansion der Kapazitäten entfernt war, bezeugen die Darlegungen Joseph Schumpeters, dessen großer Einfluß auf das wirtschaftliche Denken der Zwischenkriegszeit, zuerst in Europa, in den dreißiger Jahren auch in Amerika, unbestritten ist. Der Zyklentheoretiker Schumpeter erblickte das Problem der „wirtschaftlichen Entwicklung" darin, den historischen Gedanken der fortgesetzten Veränderung mit dem Prinzip des „normalen" Kreislaufes in der Wirtschaft in Einklang zu bringen. Das „bloße Wachstum der Wirtschaft, wie es sich in Bevölkerungs- und Reichtumszunahme darbietet", wird lediglich beiläufig behandelt, gar nicht als Entwicklungsvorgang bezeichnet; diese „Datenänderungen" sind Sache der Statistiker, noch nicht der Theoretiker. Schumpeter wähnte dies auch durch realistische Beobachtungen begründet, „weil diese Veränderungen pro Jahr nur unmerklich auftreten"8, was bei Beobachtungen enger Zeiträume in der letzten Vorkriegszeit wie in den Nachkriegsjahren durchaus zutraf. In diesem Vorstellungsrahmen von „wirtschaftlicher Entwicklung" und „Kreislauf gehören Konjunktur und Depression zum „normalen" Verlauf des „Resorptions- und Liquidationsprozesses" in der Wirtschaft. Nur die ausartende Depression, die Krise außerhalb der theoretisch begründeten „Normalität" — „Panik, Zusammenbruch des Kreditsystems, Bankrottepidemien" — ist „abnormal"; ihr sollen „Prophylaxe und Therapie" dienen,9 was Eingriffe und einwirkende Vernunft von oben einschloß. Für Schumpeter blieb der Staat in solchen Zeiten aus den Fugen geratener Wirtschaft letztzuständiges Ressort und Garant. Dies war in der Tat eine statische Theorie, die Schumpeter auch so nannte, womit er sich einer langen Folge von Wirtschaftstheoretikern anschloß.10 Von diesen Grundgedanken wie der Tatsache ihrer beträchtWilhelm Friedrich Boyens, Geschichte der ländlichen Siedlung, hrsg. von Oswald Lehnich, 2 Bde., Berlin/Bonn 1959/1960. 8 Joseph Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 1. Aufl. 1911., bislang letzte, 6. Aufl. Berlin 1964, S. 96, amerikanische Übers. 1934. Der aus Mähren stammende Schumpeter (1883—1950) war seit 1909 nacheinander Professor an den Universitäten Tschernowitz, Graz, Bonn und (seit 1932) Harvard, kurze Zeit (1919) Österreichischer Minister der Finanzen. 9 a.a.O., S. 367 ff., 348. 10 a.a.O., S . 7 5 - 8 7 .
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I. Wirtschaftliche Rahmenbedmgungen und Krisen^eichen
lichen Verbreitung in Mitteleuropa vor dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise aus wird auch die Wirtschaftspolitik der frühen dreißiger Jahre in großen Teilen begreiflich. Die entscheidende spätere Wende ist mit dem Namen von John Maynard Keynes verbunden, der, im selben Jahr wie Schumpeter geboren, in der Vorweltkriegszeit zu den Dons von Cambridge gehörte.11 Ein indirekter, schwer meßbarer Einfluß ging von der Existenz des sowjetischen Wirtschaftssystems aus, das Keynes übrigens auf zwei Rußlandreisen aus nächster Nähe beobachtete. Aufs knappste gesagt, begann man sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß die Wirtschaftspolitik des Staates wirtschaftliche Entwicklungen fördern oder gar herbeiführen könne, die sich von scheinbar unumstößlichen Gesetzen der Konjunktur und Depression in gewissem Umfange zu lösen vermögen. Aber auch Keynes war kein ausgesprochener Wachstumstheoretiker, eher ein praktischer Beobachter und als Wirtschaftspolitiker ein Schüler sorgsam analysierter Erfahrungen. Allmählich erwuchs aus der Erfahrung rascher wirtschaftlicher Wechselfälle — mit dem Beigeschmack der nachteiligen Störung „normaler Abläufe" 12 — die auch zu begrifflicher Klärung gelangende Einsicht, daß „Wechsellagen", noch „Aufschwung und Stockung" genannt, schlechthin „die Entwicklungsformen der hochkapitalistischen Wirtschaft [sind], unter deren gegensätzlichen Antrieben die Entfaltung des Hochkapitalismus sich vollzieht ... Die kapitalistische Wirtschaft [ist] in steter Bewegung und kann als stillstehende nur gedanklich vorgestellt werden." 13 Das waren 1925 ungewöhnliche, moderne Worte. Sie zogen einerseits das 11 Zuletzt G. Metha, The Structure of the Keynesian Revolution, New York 1978; zur Persönlichkeit Roy Forbes Harrod, The Life of John Maynard Keynes, London 1951, 3. Aufl. 1963; Robert Lekachman, John Maynard Keynes. Revolutionär des Kapitalismus, Übers, aus dem Amerikanischen, München 1970; Milo Keynes (Hrsg.), Essays on John Maynard Keynes, London 1975; Donald E. Moggridge (Hrsg.), Keynes. Aspects of the Man and his Work, London 1974; ders., John Maynard Keynes, Glasgow 1976. Gemeinsam mit Elizabeth Johnson gibt Moggridge im Auftrag der Royal Economic Society seit 1971 die Gesamtausgabe der Schriften Keynes heraus (bisher 29 Bde.). 12 Charakteristisch noch die Worterklärung zu „Konjunktur" in: Brockhaus' Konversations-Lexikon, 13. Aufl., 10. Bd., Leipzig 1894, S. 563f.: „Die Schwankungen der Konjunktur wegen der Unübersehbarkeit des heutigen Weltmarktes sind für die moderne Großindustrie eine der verhängnisvollsten Erscheinungen, welche Krisen, Absatzstörungen, große Verluste, Arbeitslosigkeit, Elend im Gefolge haben, andererseits aber auch glücklichen Spekulanten oft große Spielgewinne in den Schoß werfen (Konjunkturgewinne)." 13 Arthur Spiethoff, Art. „Krisen", in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., VI. Bd., Jena 1925, S. 8.
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Fazit aus den seit mehr als einem halben Jahrhundert diskutierten verschiedenen Theorien über wirtschaftszyklische Bewegungen im Zeitalter der zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtungen. 14 Sie wiesen aber auch über die axiomatischen endogenen Erklärungen der „normalen" Pendelschwingungen im Wirtschaftsverlauf hinaus und lenkten die Aufmerksamkeit auf Entfaltung und Expansion, auf die sukzessive Vergrößerung des Raumes wie des Umfanges der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer Produktion. Von einer solchen Theorie der Dynamik zur „dynamischen Theorie" der Konjunktur als „Teil der kapitalistischen Expansion" war es dann nur noch ein Schritt, der einige Jahre später getan wurde. Das konjunkturtheoretische, mit Hilfe empirisch-statistischer Methoden der ständigen Marktbeobachtung untermauerte Denken der Wirtschaftswissenschaftler, das in den dreißiger Jahren noch längst nicht Allgemeingut der leitenden Köpfe der Wirtschaft wie der Wirtschaftspolitik war, führte schließlich zur Wachstumstheorie mit anhaltender Einwirkung auf die Wirtschaftspolitik und auf die Wirtschaftsgeschichte. 15 14 Natürlich bedeutete dies alles Kritik und Revision des älteren Gleichgewichtsgedankens des ökonomischen Liberalismus, wenn auch viele Praktiker noch an ihm festhielten und sich einiges hiervon noch in den Grenzen der Vorstellung von den „organischen Funktionsstörungen des Wirtschaftskörpers" längere Zeit behauptete. So die Interpretation von Joseph Schumpeter, Über das Wesen der Wirtschaftskrisen, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. 19 (1910), S. 294; vgl. Hans Rosenberg, Die Weltwirtschaftskrisis von 1857—1859 (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 30), Stuttgart/Berlin 1934, zitiert nach der 2. Aufl., Göttingen 1974, Einleitung, S. 2; dort S. 4: „Die Erfahrungswelt kennt keinen feststehenden Typ des Konjunkturzyklus." Klarheit und Entschiedenheit dieser abschließenden Feststellung bedürfen keiner Ergänzung. — Es ist übrigens für die Entwicklung bezeichnend, daß das Thema der Konjunktur erst im späteren Nachtragsband des Handwörterbuches der Staatswissenschaften behandelt wurde, von dem damaligen Privatdozenten Alfred MüllerArmack, Art. „Konjunkturforschung und Konjunkturpolitik", in: Handwörterbuch, Ergänzungsband zur 4. Aufl., Jena 1929, S. 645 — 677, mit der gesamten einschlägigen Literatur. Müller-Armack nennt Spiethoffs Krisen-Artikel die „Standardleistung der deutschen Konjunkturdeskription." 15 Nächst Keynes' Einfluß wurde der der „postkeynesianischen" Keynesianer maßgebend: nach Aufsätzen kurz nach dem zweiten Weltkrieg Sir Roy Forbes Harrod, Towards a Dynamic Economics. Some recent developments of economic theory and their application to policy, zuerst London 1948, mehrmals aufgelegt (deutsche Übers.: Dynamische Wirtschaft, 1949); ders., Policy against Inflation, Oxford 1958; frühe Aufsätze in dem Sammelband von Joan Robinson, The Rate of Interest and Other Essays, London 1951; Evsey David Domar, Essays in the Theory of the Economic Growth, New York 1957; die Wirtschaftsgeschichte einbeziehend Walt W. Rostow, The Process of Economic Growth, Oxford 1953 (2. Aufl. 1960), ders., The Stages of Economic Growth, New York 1960
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I. Wirtschaftliche
Rahmenbedingmgen
und
Krisensgicheti
Hierbei spielten die Anregungen und Fortbildungen der Lehre von John Maynard Keynes die entscheidende Rolle. 16 Diese völlige Veränderung des wirtschaftstheoretischen Denkens und seiner Maßstäbe im Verlaufe der dreißiger Jahre und danach erlaubt uns, die Wirtschaft der zwanziger und dreißiger Jahre mit anderen Augen zu betrachten als die erlebenden und tätigen Zeitgenossen. Es entspricht den rapiden Veränderungen des wirtschaftlichen Wachstums in den größten Industriestaaten, das keine Vergleiche mehr mit den andersartigen Konjunkturen früherer Jahre zuläßt, 17 auf die nun der Blick zurück gerichtet ist. (deutsche Übers.: Stadien des wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1960). Zur weiteren Entwicklung, die hier nicht zu verfolgen ist, kritisch Harald Winkel, Der Glaube an die Beherrschbarkeit von Wirtschaftskrisen (1933-1970), in: Gerhard Schulz (Hrsg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1985, bes. S. 22 ff., 29 ff. 16 Vgl. Rostow, The Process of Economic Growth, S. 87 f., auch S. 90 ff. „The elaboration of the Keynesian system of income analysis has included a considerable effort to restate its implications under the assumption of economic growth, or under the assumption that the level of investment is systematically related to the rate of change or the level of real income", resümierte Rostow. „In one of its aspects this effort can be regarded as an extension of Keynes' observations on the problem of secular stagnation; that is, as a way of formalising the possibility that the marginal efficiency of capital position which, in conjunction with the consumption function, preludes the intervention of the State. Or, more generally, these formulations constitute statements of the condition for longrun equilibrium in terms of full employment, given the rate of growth." Zum Vergleich seien jeweils die Jahre 1910 und 1913 (A), 1925 und 1928 (B), 1952 und 1955 (C), bzw. 1965 und 1968 (D) herangezogen. Die ausgewählten Jahre, jeweils das erste und das letzte einer Vierjahresphase, ermöglichen methodisch vertretbare, annähernde Vergleichungen. Hierbei ergeben sich folgende Veränderungen für die wichtigsten westeuropäischen Industriestaaten (ausgedrückt in Prozentsätzen von der Größe des jeweils vorausgegangenen Stichjahres): 17
A Β C D
1910/1913 1925/1928 1952/1955 1965/1968
Frankreich
Großbritannien
Italien
Schweden
Deutschland
13,9 6,8 13,8 15,9
8,0 4,2 11,9 7,3
12,8 9,3 19,8 22,8
16,5 9,4 12,9 9,5
10,5 15,0 28,8 10,1
Natürlich sind diese Prozentsätze für dieselbe Zeitstufe, also untereinander, nur in engen Grenzen vergleichbar. Sie stellen die Summe der Differenzen jeweils gleichlanger Rumpfzeitreihen in aufsteigender Tendenz dar, wobei jeweils der erste Zahlenwert (für 1910) mit hundert indiziert wird. Das Bild rundet sich, wenn man ergänzend hinzufügt, daß die Zahlen für 1913, aus denen sich die erste Wachstumsrate ergibt, für alle aufgeführten Länder
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Der von Grund auf anders geartete Charakter der Wirtschaftsentwicklung seit den frühen fünfziger Jahren, der keinen Vergleich mit der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg zuläßt, ist offenkundig. 18 Deutschland bildete hier keine Ausnahme; die besonders hohe Zuwachsrate seines Volkseinkommens in der Konjunkturphase der späten zwanziger Jahre fallt besonders auf. Fassen wir diese Bemerkungen zusammen und betrachten wir die Gesamtentwicklung der Weltwirtschaft nach dem ersten Weltkrieg, das beste Ergebnis des voraufgegangenen Jahrhunderts anzeigen. Der erste Weltkrieg ist ebenso wie die frühen dreißiger Jahre durch starke Einbrüche vor und nach der zweiten Aufstiegsphase (B) markiert, während das Wachstum der fünfziger und sechziger Jahre (C und D) anhält und sich über die Stichjahre hinaus fortsetzt. Errechnet auf Grundlage der Zahlen von B. R. Mitchell, European Historical Statistics, S. 785 ff.; für Schweden (C) abweichend 1953 und 1956; Deutschland ab 1950 nur Bundesrepublik. Für Deutschland liegen für A und Β die Zahlen für das Nettosozialprodukt (Net Product) nach Preisen in der Landeswährung von 1913 zugrunde, für C und D die für das Bruttosozialprodukt (Gross National Product) nach Preisen von 1954 (C) bzw. 1962 (D). Für Frankreich sind die Preise auf der Basis des Jahres 1938 (A und Β NP) bzw. 1959 (C) und 1963 (D), jeweils GNP, berechnet. Für Schweden ist das Bruttoinlandsprodukt (Gross Domestic Product) auf der Preisbasis von 1913 (Α, Β und C) bzw. 1963 (D), für Großbritannien das GNP nach den Preisen von 1900 (A und B) bzw. 1963 (C und D) und für Italien das GNP nach den Preisen von 1938 (A und B) bzw. von 1963 (C und D) angegeben. 18 Die absoluten Zahlen der Rumpfzeitreihen (in der Landeswährung, wie in Anm. 17 erläutert, unbereinigt): Frankreich Milliarden Francs
Großbritannien Milliarden
£
Italien Milliarden Lire
A 1910 1911 1912 1913
288 300 328 328
2,3 2,4 2,4 2,5
90,4 97,5 99,7 101,9
Β
384 401 387 410
4,6 4,4 4,7 4,8
125,8 126,8 125,5 137,5
1925 1926 1927 1928
Schweden (1953-65) Milliarden Skr.
Deutschland Milliarden RM/DM
3,5 3,7 3,6 4,1 5,0 5,2 5,4 5,5
47,5 49,6 51,9 52,4 46,9 46,6 53,1 54,0
C 1952 1953 1954 1955
202,1 207,5 216,8 227,9
22,2 23,2 24,1 24,8
17.314 18.711 19.434 20.745
57,5 61,0 63,0 64,9
135,4 145,6 157,4 174,4
D 1965 1966 1967 1968
459,8 485,6 508,4 532,9
33,2 33,9 34,5 35,6
38.594 41.286 44.475 47.393
97,2 100,5 103,0 106,4
419,5 431,7 430,5 461,7
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so ließe sich mit ein wenig Mut zur Vereinfachung sagen: Europa lieferte die Theorie nach; Amerika gab als Vorbild den Ton an — zunächst gewissermaßen einen falschen, auch im Lichte späterer historischer Theorien. Das Wachstum keines einzigen der europäischen Länder reichte an das Wachstum des Bruttosozialprodukts (GNP) der Vereinigten Staaten heran, das in der Beobachtung der Statistiker von 1918 bis 1929 schon jährlich Werte erreichte, die zwischen 2,6 und 4 Prozent lagen. 19 Auch im Vergleich der Produktivität, pro Kopf der arbeitenden Bevölkerung oder der Arbeitnehmer berechnet, schnitten die Vereinigten Staaten am günstigsten ab. Sie befanden sich mithin seit dem ersten Weltkrieg an der Spitze der wirtschaftlichen Entwicklung. Das Problem, das hieraus erwuchs und sich gegen Ende der zwanziger Jahre, als sich auch andere Probleme aktualisierten, überraschend zuspitzte, lag jedoch in der unzulänglich entwickelten Funktionspotenz der amerikanischen Wirtschaft innerhalb der nach dem Kriege von ihr ausschließlich wirtschaftlich verfolgten Weltverknüpfungen, was nicht ohne schwerwiegende Folgen für die sich restaurierende Weltwirtschaft bleiben konnte. Bald nach Ende des Weltkriegs, zwischen dem Sommer 1919 und dem Sommer 1920, hatte ein Sturz der Agrarpreise eingesetzt, als die infolge des Krieges gestiegene Nachfrage sowie die durch Kriegshandlungen bedingten Transportverzögerungen in schneller Folge fortfielen und die an einen Ausnahmezustand des Weltbedarfs orientierte Agrarwirtschaft sich wieder auf Normalbedingungen einstellen mußte. Die Folgen, zu denen auch eine schwere Krise des Agrarkredits und der mit ihm befaßten Kreditinstitute gehörte, breiteten sich innerhalb weniger Jahre über alle Agrarländer der Welt aus, mit geringer Verzögerung auch im agrarischen Teil Deutschlands. In den Vereinigten Staaten fallierten allein 500 Banken, die mit der Landwirtschaft verbunden waren und dem 1913/14 errichteten Federal Reserve System nicht angehörten; die Zahl der darauf und daraus folgenden Geschäftszusammenbrüche belief sich 1922 auf fast 24000. 20 19 Simon Kuznets, Notes on the Patterns of U.S. Economic Growth, in: Robert W. Fogel, Stanley L. Engerman (Hrsg.), The Reinterpretation of American Economic History, New York 1971, S. 18 f.; ausführlicher in: Edgar O. Edwards (Hrsg.), The Nation's Economic Objectives, Chicago 1964, S. 15—35; vgl. auch John W. Kendrick, Productivity Trends in the United States,^ Princeton, N.J. 1961; Edward Denison, The Sources of Economic Growth in the United States and the Alternatives Before Us (Committee for Economic Development, Supplementary Paper, 13), New York 1962. 20 Margaret G. Myers, A Financial History of the United States, New York/London 1970, S. 287 f.
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Diese Depression konnte nach verhältnismäßig kurzer Zeit in den Vereinigten Staaten überwunden werden, wobei dem nach der Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft erneut einsetzenden Aufschwung der Industrie der entscheidende Anteil zukam. Sie eroberte und erschloß neue große Märkte, schuf oder vergrößerte die Zonen des Bedarfs für ihre Produktionen21 und trat mit großen und stetig sich vergrößernden Kapazitäten in das Zeitalter des Massenkonsums ein. Die Senkung des verhältnismäßig hohen Diskontsatzes von 7 auf 4,5 Prozent im Laufe des Jahres 1921 durch die meist tonangebende Federal Reserve Bank von New York kam indessen zu spät, um die Welle der Zusammenbrüche im agrarischen und agrarnahen Geschäftsbereich aufzuhalten, was kritische Urteile herausforderte,22 die wahrscheinlich wesentlich zu dem stetigen Druck der interessierten Öffentlichkeit auf Zinspolitik und Zinssätze in dem noch jungen Federal Reserve System beitrugen. Insgesamt aber brachten die zwanziger Jahre für Industrie, Banken und Handel der Vereinigten Staaten große unternehmerische Fortschritte. Der Verkauf von Autos, Radioapparaten und anderen elektrischen Geräten, Zigaretten und Kosmetika erreichte eine noch nie dagewesene Höhe. Konsum und Bedarf schienen sich unbegrenzt von Amerika über große Teile der Welt auszubreiten. Die Produktion wuchs ununterbrochen, was mit einer nicht mehr abreißenden Erfolgsserie der Unternehmungen und neuen Unternehmensgründungen verbunden war. Auch Einkünfte und Reichtümer wuchsen; 1929 wurden in den Vereinigten Staaten von der Steuerstatistik 513 Einkommensmillionäre erfaßt, die ein Jahreseinkommen von mehr als einer Million Dollar versteuerten, eine Zahl, die danach über mehrere Jahrzehnte nicht wieder erreicht wurde. 23 Die größten Blüten trieb die Spekulation in Aktien, die bis zum New Yorker Börsensturz Ende Oktober 1929 einer „Utopie ewig wachsender Profite" folgte. In dem Lande, in dem die wirtschaftliche Entwicklung die größten Fortschritte erreicht hatte, glaubte ein offenkundig wachsender Teil der Bevölkerung, glaubten viele Millionen Menschen, daß sie für einen wachsenden Wohlstand prädestiniert seien, der 21 Die Zahl der im Gebrauch befindlichen Kraftfahrzeuge konnte in den Vereinigten Staaten von 1918 bis 1922 annähernd verdoppelt werden; sie verdoppelte sich erneut bis 1928. 1918: 5,56 Millionen, 1922: 10,7, 1928: 21,3 Millionen Fahrzeuge. Tabelle bei Walt Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums, S. 202. Vgl. Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 226 f. 22 Vgl. die knappe, klare Darstellung von M. G. Myers, Financial History, S. 288, 301, und die dort genannte Literatur. 23 Robert T. Patterson, The Great Boom and Panic, 1 9 2 1 - 1 9 2 9 , Chicago 1965, S. XII.
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durch die Spekulation in Börsenwerten vermittelt werde. Man brauche nur genügend Geld zu leihen, um Papiere zu erwerben. „Paper profits were pyramided with money borrowed on margin from the brokers who in turn borrowed from the banks and other big lenders."24 Die Wiederherstellung der „Normalität"25 — nach dem republikanischen Slogan „Back to Normalcy" im amerikanischen Wahlkampf des Jahres 1920 — hatte sich für einige, wahrscheinlich sogar viele Amerikaner geradezu wundersam ausgewirkt, wofür die Theorien von Thorstein Veblen einige Erklärungen anzubieten schienen. Der ,Behemoth' des sich rasch entfaltenden preußisch-deutschen Militär-Industriestaates schien durch den modernisierten Weltkapitalismus eines Hobbesschen ,Leviathan' besiegt und endgültig überwunden. Tatsächlich beschränkte sich dies aber doch nur auf einzelne Komplexe innerhalb des weltwirtschaftlichen Systems. Eine vollständige Wiederherstellung des Goldstandards der Währungen der Vorkriegszeit wurde nach einer internationalen Sachverständigenkonferenz des Völkerbundes in Genf von 1920 ebenso einheitlich angestrebt wie die Einrichtung von Zentralnotenbanken in jenen Staaten, die sie noch nicht besaßen. In erster Linie betraf dies die neuen oder erneuerten Staaten der zwischeneuropäischen Zone zwischen Ostsee und Ägäis. Unter manchen Opfern, die mit den Abwertungen oder Aufwertungen verbunden waren, um die Parität der Währungen herzustellen, kehrte die große Mehrheit aller Staaten bis 1928 zum Goldstandard zurück. Nur einige wenige außereuropäische Länder entschieden sich für den Silberstandard. In Europa gingen die damit verbundenen Stabilisierungsbemühungen zunächst nur in Spanien erfolglos aus; im großen und ganzen wurde das alte System der Vorkriegszeit wiederhergestellt, allerdings mit am Ende doch gravierenden Einschränkungen. Da es wahrscheinlich gar nicht genug Gold gab, um allen Währungen Deckungsreserven zu verschaffen, und die Versuche hierzu den Goldpreis in für Notenbanken unerreichbare Höhen hinaufgetrieben hätten, begnügte man sich mit einer Mischungsdeckung der Währungen aus Gold und Devisen, die möglich schien, da im Prinzip alle Währungen goldgeEbda. Zum Folgenden die immer noch unentbehrliche Darstellung von William Adams Brown, Jr., The International Gold Standard Reinterpreted, 1914—1934 (Publications of the National Bureau of Economic Research, 37), New York 1940, Bd. I, S. 3 9 5 - 4 0 6 ; Myers, Financial History, S. 293ff.; Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 1 4 7 f f . 24
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bunden waren. Dies führte schließlich zu „pyramidenartigen Forderungen" gegenüber Goldzentren, „da mehr als eine Währung sich auf das gemeinsame Fundament einer konvertierbaren Währung stützte, so daß eine Krise in einem Land eine ganze Reihe von Währungen betreffen konnte, was ernste Folgen für die Reservewährung nach sich zog." 26 Ein ganz auf den Zusammenhang und Zusammenhalt der Währungen sich stützendes System mußte wohl zwangsläufig in einer Krise auf irgendeine Weise das gesamte Währungs- und Wirtschaftssystem in Mitleidenschaft ziehen. Der Umlauf an Goldmünzen, den es in der Vorkriegszeit gab, wurde nicht wieder erreicht; die partielle Deckung der Währungen durch eine bestimmte Goldmenge verlor ihre nach außen sichtbare und populärste Schauseite. Die unbeschränkte Art und Menge der Devisendeckungsbestände bei den Zentralbanken bedeutete eine ungewisse und unberechenbare Reserveinanspruchnahme verschiedener Zentralbanken, während sich die Goldbestände an wenigen Orten konzentrierten. Die Vereinigten Staaten verfügten bald über die größten Goldbestände als Währungsreserve, schließlich über die Hälfte der Goldbestände der Welt. Die Währungen und die Wirtschaft der meisten der in schwierigen Prozessen um Stabilität bemühten Staaten waren von Anbeginn auf Kredite und mancherlei Finanzhilfen angewiesen. Sie verfügten gar nicht über genügend Mittel, um ihre Währungen durch ausreichende Goldoder Devisenbestände zu decken. Dies gilt also nicht nur für das mit Reparatiqnsverpflichtungen belastete Deutschland. Da der Völkerbund wohl empfehlen, aber nicht helfen konnte, was seiner Konstruktion von Anfang an entsprach, mußten sich starke Kreditmächte einschalten, um das System zu erhalten. Die im Verlaufe der zwanziger Jahre wiederhergestellte Beweglichkeit der Kapitalien führte aber auch zu raschen Veränderungen auf den Hauptgeldmärkten, New York und Paris neben London. Die stärksten Hilfen gingen meist von amerikanischen Banken, häufig innerhalb übernationaler Konsortien, aus. Entgegen den Warnungen einiger amerikanischer Bankiers, wie Thomas Lamont, drangen sie sogar zielbewußt auf andere Geldmärkte vor — in übermäßiger Bereitwilligkeit zur Kreditgewährung —, auch unter Gewährung beträchtlicher Provisionen für Vermittlungsgeschäfte, die viele Banken und Bankleute27 in den Bann der Geschäfte der New Yorker Bankiers von der Wallstreet zog.
26 27
Aldcroft, Zwanziger Jahre, S. 196. Myers, Financial History, S. 295 f.
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Für 1929 wird die Summe der Auslandsinvestitionen der Amerikaner auf 17 Milliarden Dollar geschätzt; ein Zehntel hiervon war in Form von kurzfristigen Krediten gegeben worden, die teilweise — etwa über Frankreich — in Drittländer weitergeleitet oder gar mehrfach bewegt wurden. 28 Diese „floatenden", treibenden Mengen „heißen Geldes", das verhältnismäßig schnell gegeben wurde und auch wieder abgezogen werden konnte, hielten das Kredit- und Geldsystem instabil, was in einer Kreditkrise sofort zu Schwierigkeiten führte, die sich geradzu epidemisch über viele Länder ausbreiten konnten. Das faktische Ergebnis war in gewisser Hinsicht paradox. Die auf weltweite Stabilisierung gerichteten Bemühungen konzentrierten oder beschränkten sich auf monetäre Theorie und Politik. Sie erblickten die wirtschaftspolitischen Ziele in der Schaffung fester Währungen mit dauerhaften Wechselkursen und in der Stabilisierung der Preise mit Hilfe der Steuerung durch Zentralnotenbanken, die den Diskontsatz möglichst niedrig halten sollten. Das Vorbild waren Funktionsweise und offenkundige Vorzüge der stabilen Währungsverhältnisse und internationalen Kreditbeziehungen der Vorweltkriegszeit, die auf der Golddeckung beruhten und die in der Londoner City über einen zentralen Markt verfügten, der zuverlässig über Kreditreserven gebot, die im Bedarfsfall überall in der Welt eingesetzt werden konnten.29 Die Länder, deren Wirtschaft sich bereits in voller Entwicklung befand, waren Nutznießer dieses Systems gewesen, das dann der Krieg zerstört hatte; nur wenige Staaten vermochten ihr Goldwährungssystem zu behaupten; aber mit Ausnahme des Dollars hatten alle Währungen ihre Stabilität eingebüßt und gingen kleineren oder größeren Inflationen entgegen, am auffalligsten und schließlich auf extremste Weise allerdings Deutschland, dem zu den Kriegsfolgen und Kriegslasten noch die Last der zunächst unbegrenzten Reparationsleistungen aufgebürdet war, auf die die Reichsbank mit Hilfe der Notenpresse in einer Notwehrinflation reagierte, 30 die zu einer Hyperinflation ausartete. Ebda. Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 191 f.. Wohl im Kern treffend auch die Bemerkung, „daß der Goldstandard [vor 1914] zumindest für die Hauptindustriestaaten größtenteils deswegen funktionierte, weil er nie einer ernsthaften Beanspruchung ausgesetzt war." a.a.O., S. 189. 30 So jetzt Wolfram Fischer, Weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen, S. 7 f., im Anschluß an Heinz Haller, Die Rolle der Staatsfinanzen für den Inflationsprozeß, in: Deutsche Bundesbank. Währung und Wirtschaft in Deutschland 1 8 7 6 - 1 9 7 5 , Frankfurt a. M. 1976, S. 115 —156; und Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914—1923. Ursachen 28 29
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Wenn man das Einsetzen der Großen Krise erörtern will, so ist es unerläßlich, auch den ersten Weltkrieg und seine Folgen einzubeziehen. Um die Größe der Veränderungen und die Folgen hinreichend erklären zu können, ist es nötig, sowohl die binnen kurzem geschaffenen immensen Kapazitäten der Kriegsproduktion in den wirtschaftlich stärksten und fortgeschrittensten Staaten der Erde als auch die Technik und den Umfang ihrer Finanzierung hervorzuheben, in deren Gefolge dann die Vereinigten Staaten, genauer ausgedrückt: die Bankfirmen des amerikanischen Bankenzentrums New York, in die Position eines Gläubigers der ganzen Welt gelangten. Die großen New Yorker Banken präsentierten einerseits langfristige Forderungen an die Staaten ihrer einstigen Kriegspartnerschaft der „alliierten und assoziierten Mächte" und schienen anderseits gerüstet, auf längere Sicht auch zu den potentesten Finanziers der Nachkriegsumwandlungen und der Errichtung der neuen Friedenswirtschaft zu werden. Im Hinblick auf diese Voraussetzung unterscheidet sich die Situation nach dem ersten Weltkrieg nicht sonderlich von der nach dem zweiten. Allerdings war sie nach dem ersten für die Welt — und für New York — völlig neu. Was die Erfahrungen und Techniken des Wirtschaftsverkehrs wie der wirtschaftlichen Entwicklungen anlangt, die bis 1914 entstanden waren und sich kumuliert hatten, war ein von London und Großbritannien wirtschaftlich beeinflußtes Zeitalter zu Ende gegangen und begann ein neues unter noch nicht geklärten Voraussetzungen. Die Nachkriegszeit bis zum Tiefpunkt der Entwicklung in der Wirtschaftskrise, etwa Ende 1932, läßt sich im historischen Verständnis als eine Phase auffassen, in der der „Wiederaufbau" der Wirtschaft, wie man schon nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland gerne sagte, unter vorwiegendem Einsatz amerikanischen Kapitals auf verschiedenen Wegen erreicht wurde. Nach einem Übergang, der sich aus der unzureichend geklärten, teilweise blockierten Stellung der Wirtschaft der einstigen Mittelmächte, namentlich Deutschlands im Vollzug der Friedensverträge ergab, erstand verhältnismäßig rasch ein neues Wirtschaftssystem. Von anhaltender Wirkung erwiesen sich bereits die Probleme der am Weltkrieg beteiligten Staaten, die sich aus eigenartigen Unterschieden der Kriegsfinanzierung ergaben. Unter den Bedingungen seiner historisch vorgegebenen Finanzverfassung und infolge seiner wirtschaftlichen Situaund Folgen in internationaler Perspektive, Berlin/New York 1980. Einen Versuch zur Zusammenfassung der Faktoren in der Erörterung von Charles P. Kindleberger, A Financial History of Western Europe, London 1984, S. 310-328. 4
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tion während des Krieges wählte Deutschland — ähnlich der Donaumonarchie — den Weg der außerordentlichen Haushaltsdeckung hauptsächlich durch Bewilligung von Anleihen, um die Kriegskosten zu finanzieren 31 . Die innere Verschuldung des Reiches bildete mithin den Ausgangspunkt, zu der nach dem Friedensschluß dann die äußere Schuldenlast durch die Reparationsverpflichtungen hinzutrat. Bei den europäischen alliierten Mächten befanden sich innere und äußere Verschuldung bei Kriegsende entweder in einem annähernd ausgeglichenen Verhältnis oder überwogen die äußeren Schulden die inneren. Hauptgläubiger waren jedoch in jedem Falle stets die Vereinigten Staaten, in zweiter Linie — in größerem Abstand — Großbritannien. Die gesamte Verschuldung der alliierten Mächte untereinander und in den Vereinigten Staaten erreichte einen Umfang, der die Größenordnungen der Vorkriegszeit in jeder Hinsicht um vieles übertraf. Ein von deutscher Seite unternommener Versuch, den Barwert aller gegenseitigen Verschuldungen zu ermitteln, ergab zum 31. Dezember 1929 eine Gesamtsumme von über 100,7 Milliarden Dollar, 32 die durch Zahlungspläne, die weit in die achtziger Jahre des Jahrhunderts reichten, verzinst und getilgt werden sollten. Die langfristige Staffelung der Zahlungen, die dann sowohl der Dawes- als auch der Young-Plan für die deutschen Reparationen vorsah, galt als das Muster für die ähnlich berechnete Liquidierung Nach der älteren Arbeit von Wilhelm Gerloff, Matrikularbeiträge und direkte Steuern (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, 234/235), Berlin 1908; ders., Der Staatshaushalt und das Finanzsystem Deutschlands, in: Wilhelm Gerloff u. Franz Meisel (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, III. Bd., Tübingen 1929, bes. S. 1 3 - 3 5 , 5 3 - 6 9 (Teil Β u. D); Walther Lötz, Die deutsche Staatsfinanzwirtschaft im Kriege (Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges, hrsg. von James T. Skotwell, Deutsche Serie, Bd. 3), Stuttgart/Berlin/Leipzig 1927; Konrad Roesler, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, Berlin 1967; vergleichender Überblick bei Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg (Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, 2), München 1973, S. 162-182, dort weitere Literatur. Zur Generalproblematik der Kriegs- und Inflationsbedingungen auch G. D. Feldman, C.-L. Holtfrerich, G. A. Ritter, P.-C. Witt, Inflation und Wiederaufbau in Europa, in: Beiträge zu Inflation und Wiederaufbau in Deutschland und Europa 1914—1924, hrsg. von denselben, Bd. I (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 54), Berlin/New York 1982, S.3; nach wie vor wichtig John G. Williamson, Karl Helfferich 1872-1924. Economist, Financier, Politician, Princeton, N . J . 1971, S. 122ff. 31
32 Die interalliierten Schulden. Ihre Entstehung und ihre Behandlung im Young-Plan, bearbeitet vom Statistischen Reichsamt (Einzelschriften zur Statistik des Deutschen Reiches, 11), Berlin 1930, S. 107. Charles P. Kindleberger, Financial History, S. 307, bezieht sich auf Schätzungen von Keynes, der 1919 die interalliierte Kriegsverschuldung auf ca. 18 Milliarden Dollar bezifferte. Hierzu und zum Folgenden auch Denise Artaud, Les questions des dettes interalliées et la réconstruction de l'Europe (1927—1929), Lille 1978.
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der Kriegsschulden unter den alliierten und assoziierten Mächten, zu denen Nachkriegsschulden und Wiederaufbauschulden hinzutraten. Diese Art der langfristigen Regelung internationaler Schuldverpflichtungen durch Verträge und Abkommen füllte die Jahre der sogenannten Stabilisierung von 1924 bis 1929. Das gleichbleibende Charakteristikum sind allmählich steigende, teilweise später etwas zurückgehende Annuitäten (Jahreszahlungen in wertbeständiger, in Goldwerten ausgedrückter Währung). Dies gilt auch für die deutschen Zahlungsverpflichtungen nach den beiden genannten Reparationszahlungsplänen, die Deutschland gewissermaßen als Eckpfeiler dieses ganzen Systems einsetzten und ihm insgesamt rund ein Drittel, in Barwerte umgerechnet, der gesamten internationalen Zahlungsverpflichtungen auferlegten. Fast alle Staaten, die am Weltkrieg beteiligt waren, jedenfalls alle europäischen, hatten im Kriege erfahren, daß es nicht sofort die schlimmsten Folgen zu haben braucht, wenn ein Haushaltsausgleich mit wachsender Verschuldung zurechtgezimmert wird, solange noch eine Liquidation, Verzinsung und Amortisation — mitunter theoretisch, um nicht zu sagen fiktiv, — ausweisbar erschien. Hohe Auslandsverschuldungen banden eine ganze Reihe europäischer Staaten, von Deutschland abgesehen, England, Frankreich, Italien, Belgien, Jugoslawien, Rumänien, Griechenland und Portugal. Diese Staaten hatten — neben anderen — das Kreuz auf sich genommen, langfristig verschuldet zu sein und Jahrzehnte hindurch ihre Zinsen- und Amortisationsleistungen in wertbeständigen Leistungen zu erbringen. Die deutsche Historiographie zur Geschichte der Reparationen nach dem ersten Weltkrieg, die fast bis in die jüngste Zeit hinein an einer Art ,volkstümlicher' Darstellungsweise festhielt, hat nahezu regelmäßig die interalliierte Vorgeschichte des Young-Planes unterbelichtet, ihre politische Bedeutung jedenfalls außer Acht gelassen. Das Problem der interalliierten Schulden und ihrer Liquidierung, von Vorwaffenstillstandsschulden und Nachwaffenstillstandsschulden, wie man unterschied, ist von der Vorbereitung auf die Weltwirtschaftskonferenz in Genua 1922 bis zur Vorbereitung der Dawes-Plan-Revision 1928/29 jahrelang auch auf alliierter Seite in der Sache äußerst kontrovers geblieben, innerhalb dieser Zeitspanne aber doch durch eine Reihe von Abkommen geregelt worden, die im einzelnen die Liquidation in Form von Annuitäten an die Vereinigten Staaten und auch an Großbritannien, dem zweitgrößten Kriegskreditgläubiger, aber zugleich größten Kriegskreditschuldner, regelten. Dieses Verhältnis ist durch eine gewisse „Schlüsselstellung" Englands den Vereinigten Staaten gegenüber charakterisiert, allerdings zunächst einer 4»
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Schlüsselstellung passiver Art, aus der die Bank von England unter dem Governor Montagu Norman hinausstrebte. England gehörte sowohl der Gruppe der zum dauernden Zahlen verpflichteten als auch der zum Fordern entschlossenen Staaten an, versuchte aber, seine alte Vorkriegsstellung und auch mit ihr das Empire zu konsolidieren bzw. zu vollenden. Die britische Gesamtschuld gegenüber den Vereinigten Staaten wurde durch ein Abkommen vom 18. Juni 192333 in einer Höhe von 4,6 Milliarden Dollar anerkannt, hierfür dann ein Zahlungsplan für die Zeit vom 15. Dezember 1923 bis 1984 angenommen, der die Zahlung von insgesamt 11,1 Milliarden Dollar mit Jahresleistungen zwischen 159 und 188 Millionen vorsah. England vereinbarte am 12. Juli 1926 mit Frankreich — Churchill mit Caillaux — für die Jahre bis 1988 jährliche Zahlungen zwischen 4 und, fortlaufend steigend, 14 Millionen Pfund Sterling (ca. 80 bis 280 Millionen Goldmark), die sich mithin im Anfang auf ungefähr 8,5 Prozent der englischen Leistungen an die Vereinigten Staaten beliefen. Zudem behielt England für eine Schuld Frankreichs von weiteren 53,3 Millionen Pfund Sterling, die als zinslos anerkannt wurde, die während des Krieges überführten Goldbestände der Banque de France in Verwahrung. Italien hatte sich Churchill gegenüber, der als Schatzkanzler zum Schuldeneintreiber Großbritanniens wurde, im Januar 1926 zu Jahresleistungen bis 1988 in einer Höhe zwischen 2 und 4,5 Millionen Pfund bereitgefunden; dagegen sollte das italienische Gold in einem Werte von mehr als 22 Millionen Pfund, das 1925 als Pfandleistung für italienische Kriegsschulden nach England verbracht worden war, in Raten bis 1987 zurückgegeben werden. Portugal erkannte am 31. Dezember 1926 gegenüber England eine Kriegsschuldverpflichtung von 23,5 Millionen Pfund an und verpflichtete sich bis 1987 zu jährlichen Zahlungsleistungen in Höhe zwischen 125000 und 400000 Pfund, Jugoslawien zu solchen von 150000 bis 600000, Rumänien zu 50000 bis 750000, doch erst von 1967 bis 1987, und Griechenland von 50000 bis 400000 Pfund.
Dies und das Folgende nach dem a. a. O. veröffentlichten Material sowie der nicht veröffentlichten Ergänzung des Statistischen Reichsamtes, Verschuldung und Reparationen (nur numeriertes Dienstexemplar BA, RD 75/13); außerdem aus der unveröffentlichten Folge der vom Reichsamt bearbeiteten Materialien zum internationalen Finanz- und Wirtschaftsvergleich, Teil III: Die Staatsschulden, 1928, „vertraulich", Exemplar Nr. 77; Teil IV: Dokumente über interalliierte Schulden, 1929, „vertraulich", Ex. Nr. 77; BA, Nachl. Popitz. Vgl. auch S. E. Harris, Monetary Problems of the British Empire, New York 1931, S. 2 5 5 - 2 6 3 . 33
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Den Vereinigten Staaten gegenüber hatte sich Frankreich von 1926 bis 1987 zu Annuitäten verpflichtet, die die Gesamtschuld der an die Vereinigten Staaten gegebenen französischen Staatsanleihen durch Goldmünzen der USA im Werte zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ratenweise ablösten und, von geringeren Zahlungen in den Jahren 1931 bis 1933 abgesehen, von 30 bis 117 Millionen Dollar anstiegen. Italien hatte Annuitäten zwischen 5 und 79,4 Millionen Dollar übernommen, Belgien jährlich 2,9 Millionen Dollar für seine Vorwaffenstillstandsschuld, außerdem eine Rückzahlung seiner Nachwaffenstillstandsschuld in Jahresraten in Höhe von 1,1 bis 9,6 Millionen Golddollar und halbjährliche Zinszahlungen in einer Höhe zwischen 870 000 und 2,625 Millionen Dollar, insgesamt Jahresleistungen zwischen fast 3 und mehr als 16 Millionen Dollar, 62 Jahre hindurch. Jugoslawien hatte vergleichsweise mäßigere Verpflichtungen zu erfüllen, ähnlich, jedoch rascher ansteigend, auch Rumänien. Mit Griechenland, das erst gegen Ende und hauptsächlich nach dem Kriege amerikanische Kredite in Anspruch genommen hatte, wurde im Januar 1928 ein Abkommen geschlossen, das ermäßigte Rückzahlungen, Zinsendienst und eine Anleihe zur Ansiedlung von Flüchtlingen aus türkischen Gebieten miteinander verknüpfte. Italien erhielt unmittelbar nach Abschluß des Kriegsschuldenabkommens mit den Vereinigten Staaten 1925 eine neue 100 Millionen-Dollar-Anleihe des Bankhauses Morgan; auch die anderen Staaten nahmen bald nach Kriegsende neue amerikanische Anleihen auf. Diese Handhabung und finanzpolitische Aufrechnung der Kriegsschulden stieß in den Vereinigten Staaten auf einige Kritik. 34 Viel Beachtung fand bereits eine Erklärung zum Kriegsschuldenproblem, in der sich die Mitglieder der Faculty of Political Science der Columbia University, New York, im Dezember 1926 an die Öffentlichkeit wandten und der sich im März 1927 die Mitglieder der gleichen Fakultät und der Präsident der Universität Princeton, New Jersey, anschlossen. Ihre schwersten Vorwürfe lauteten, daß die finanzielle Hilfe, die Amerika den Alliierten gewährt habe, damit der Krieg gewonnen werden könne, nicht als Geschäft betrachtet werden dürfe, aber nunmehr hierzu gemacht worden sei, und daß die Vereinigten Staaten durch die Kriegsschuldenregelungen Mißtrauen und Mißverständnisse hervorriefen, eine Kritik, von der der Dawes-Plan, der Deutschland betraf, ausdrücklich ausgenommen wurde. Sie war moralisch gewiß nicht unbegründet, aber rechtlich doch insofern nicht ganz treffend, als die amerikanischen Anleihen an die Alliierten 34
Zum Folgenden: Dokumente über interalliierte Schulden, S. 6—12.
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von Anfang an in der Tat als Finanzgeschäfte betrachtet, bewertet und abgewickelt wurden, die allerdings politische Konsequenzen nach sich • zogen. Die Professoren der beiden Fakultäten schlugen eine internationale Kriegsschuldenkonferenz vor. Dies begründeten sie vor allem mit Vergleichen zwischen den unterschiedlichen Lasten, die den Schuldnerländern im Verhältnis zu den empfangenen Finanzhilfen aufgebürdet wurden, von denen England am meisten, Italien am wenigsten erhalten hatte und Belgien mehr als Frankreich. Präsident John Hibben von der Princeton University nannte es eine „unrealistische Abstraktion", wenn man die finanzielle Seite der Anleihegewährung von der moralischen Situation trenne, in der sie zustandegekommen sei. In der amerikanischen Öffentlichkeit fanden allerdings zwei offizielle Entgegnungen im Senat, die Senator Reed Smoot, der einflußreiche Vorsitzende des Finanzausschusses des Senats, und Schatzsekretär Andrew Mellon abgaben, noch größere Beachtung. Smoot, Mormonenapostel, erledigte die Vorwürfe mit knappen Sarkasmen: Die Professoren gäben „nicht kund, auf wessen Kosten Großmut geübt werden soll, natürlich nicht auf Kosten der Columbia-Universität, die Steuerfreiheit genießt und daher eine Annullierung von Schulden nicht fühlen würde." Was aber solle eine internationale Konferenz — „eine Konferenz zwischen uns, einer Minorität von einem, und unseren Schuldnern, dem ganzen Rest ...?" Auch Mellon, zuvor Inhaber einer der größten Familienbanken der Vereinigten Staaten, übernahm Redewendungen von Smoot, bediente sich aber subtilerer Argumente, mit dem Fazit, es liege „auf der Hand, daß es bei der Regelung dieser ungeheuren Schulden, deren Last entweder von den ausländischen oder von unseren eigenen Steuerzahlern getragen werden muß, wesentlich war, daß die Verhandlungen auf ein leitendes Prinzip gegründet werden mußten, ... das der Zahlungsfähigkeit, wenn sie großzügig gehandhabt wird. Von einer Schuldnernation verlangen, daß sie wesentlich weniger zahlt, als sie ohne übermäßige Belastung der Bevölkerung tragen kann, heißt, unseren eigenen Steuerzahlern Unrecht tun ..." Mellon begründete Forderungen und Leistungen auf Grund der Abkommen mit den Kriegsalliierten, aber auch mit den deutschen Zahlungsverpflichtungen diesen gegenüber, gemäß seiner Zahlungsfähigkeit aufgrund des Vertrags von Versailles. Deutschlands „capacity to pay" unterlag indessen stets unterschiedlicher bis kontroverser Beurteilung. Wer gegen dieses System aufbegehrte, befand sich eigentlich von vornherein in guter Gesellschaft, die gewissermaßen John Maynard Keynes begründet hatte. Allerdings wechselten die Gesichtspunkte, Motive
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und Tonarten mit der Verbreitung dieser Richtung in Deutschland, bis zu der wütenden Agitation, die schließlich die „nationale Opposition" in Deutschland gegen den Young-Plan betrieb. Trotz mancher Verschiedenartigkeiten fallt indessen bei allen diesen Schuldenabkommen die äußerst langfristige Festlegung und der stetig ansteigende Betrag der Annuitäten auf, die zwar von Anbeginn beträchtlich unterhalb der höher angesetzten deutschen Leistungen nach der komplizierten Regelung des Dawes-Planes und auch der einfacheren des Young-Planes lagen, aber doch allesamt demselben Schema gehorchten. Die jüngere deutsche Literatur erwähnt die Verknüpfung deutscher Reppationsverpflichtungen und alliierter Kriegsschulden regelmäßig, hat aber die Einzelheiten bislang kaum beachtet oder gar untersucht, auch wenn sie vom deutsch-amerikanischen Verhältnis ausgeht 35 und eine amerikanisch-deutsche Interessenkoalition in das Zentrum der DawesKonzeption rückt. Für die deutsche Seite wirkte wohl die Einschaltung Amerikas stabilisierend; dies diente einem amerikanisch-alliierten Gesamtinteresse an der Festlegung langfristiger deutscher Verpflichtungen, um nach Erfüllung dieser Voraussetzung die amerikanischen Forderungen zu befriedigen, denen vor allen Vorrang zukam. Da die Reparationsregelung allen Kriegsschuldenabkommen vorangehen sollte, fiel sie komplizierter, universaler aus als die nachfolgenden Abkommen und konnte sie nach Abschluß dieser anderen Schulden-Abkommen alsdann vereinfacht und angepaßt werden, was schließlich im Young-Plan geschehen sollte, mit dem sich dank der außenpolitisch gegebenen Situation in Europa neben dem amerikanischen vor allem das französische Interesse erfolgreich durchsetzen konnte. Die Errechnung der Annuitäten glich zunächst einer einfachen Zinsenrechnung; in Frage stand die Vereinbarung des Zinssatzes, nachdem die Schuldsumme festgestellt war. Die deutschen Verpflichtungen bildeten gewissermaßen Grundlage und Markierung für das langfristige Zahlungskonzept, das so angelegt war, daß die wichtigsten kriegführenden Mächte auf lange Sicht Schuldner der Vereinigten Staaten blieben, aber stetig steigende Zahlungsleistungen erbrachten; dies setzte primär ein stetiges Wirtschaftswachtum voraus, das durch den Goldstandard 36 vermeintlich 35 Die wichtige Arbeit von Werner Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1 9 2 1 - 1 9 3 2 , Düsseldorf 1970. 36 Es darf nicht übersehen werden, daß sich in erster Linie England — unter den Schatzkanzlern Austen und Neville Chamberlain, Baldwin und vor allem Churchill — entschieden für die Wiederherstellung des Goldstandards einsetzte und diese 1920 — 1925 unter Einschaltung der Finanzabteilung des Völkerbundes in einer weltweiten Kampagne
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vor inflationistischen Entwertungsproblemen geschützt war, sekundär aber eine intakte deutsche Wirtschaft, die den Eckstein des ganzen Systems bildete und insofern natürlich stabil gehalten werden und am Wachstum teilnehmen mußte. Diesem post festum geklärten, aber nie definierten Wachstumsaxiom lagen pragmatische Entscheidungen einiger erfahrener Bankleute zugrunde, die sich eine Wiederherstellung der Weltwirtschaft im Ausmaße von 1913 anders nicht vorzustellen vermochten und sich durchzusetzen wußten. Sie erkannten nicht, daß die Hierarchie der Finanzzentren der Vorkriegszeit und der Umfang des von England, namentlich London als dem World-Clearing-House, kontrollierten Welthandels schon vor 1914 in Frage gestellt waren. 37 Eine theoretische Begründung gab es wohl in Gestalt der Theorie der stabilisierenden Wirkung der Kaufkraftparität im Außenhandel, die der schwedische Nationalökonom Gustav Cassel vertrat 38 und die vor allem in England günstige Aufnahme fand, wo man sich auf die Fiktion stützte, daß der Goldstandard der Vorkriegszeit de jure immer noch existiere und nurmehr auch de facto wiederherzustellen sei.39 Doch eine Wachstumstheorie, die man so hätte bezeichnen können, gab es eben noch nicht. Dennoch beruhte das gesamte System auf einem, wenn auch unformulierten Wachstumsprinzip. Nicht nur Deutschland, sondern auch die anderen Staaten hielten ihre Wirtschaft und den Transfermechanismus für ihre wertbeständigen Annuitäten durch eine mehr oder minder umfangreiche Neuverschuldung in Gang. Am 31. März 1928 belief sich die Auslandsverschuldung Großbritanniens auf 1,1 Milliarden Pfund, davon etwa zu 90 Prozent gegenüber den Vereinigten Staaten. Das Vereinigte Königreich war allerdings mit einem gewissen Erfolg dazu übergegangen, die kommerziellen Auslandsschulden möglichst rasch zu liquidieren und die politische Schuld, auch durch Erhöhung der inneren Staatsschuld, zu fundieren, mittels Auflage langfristiger Kriegs- und Nachkriegsanleihen, zuletzt der Consolidated Loan von 215 Millionen Pfund im Januar 1927, und schließlich durch Ausgabe mittelfristiger Schatzanweisungen mit 5- bis 15-jähriger Laufzeit. durchsetzte, um den Pfund—Dollar-Wechselkurs zu sichern. William A. Brown, The International Gold Standard Reinterpreted, I, S. 224 ff. 37 a.a.O., S. 136, 142. 38 Neben anderen Schriften Gustav Cassel, The World's Monetary Problems, London 1921. Cassels Doktrin wurde anfänglich auch von Keynes verteidigt. Vgl. Harris, Monetary Problems, S . 2 7 8 f . 39 Brown, Golod Standard, S. 166 ff., 220 ff.
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Die französische Auslandsschuld belief sich am Jahresende 1927 auf — umgerechnet — 29,5 Milliarden Reichsmark; davon entfielen 26,5 Milliarden auf die politische Schuld, die stetig anstieg, hiervon etwas mehr als die Hälfte gegenüber England, etwas weniger gegenüber den Vereinigten Staaten. Seine kommerziellen Schulden hatte Frankreich seit 1919 fortgesetzt stark reduziert. Auch die Auslandsschulden Belgiens hatten bis 1926 ständig zugenommen; mehr als 80 Prozent entfielen auf amerikanische Schulden. Italien verdoppelte von 1919 bis 1928 seine äußere Schuld, während die innere zwar etwas reduziert wurde, aber doch stets erheblich über der vor 1918 lag 39a . Die Entlastung im Innern gelang nur mit Hilfe einer stärkeren Auslandsneuverschuldung, die zu mehr als der Hälfte die Vereinigten Staaten übernahmen. Was von den politischen Schulden zu sagen ist, gilt mutatis mutandis auch für kommerzielle Schulden, wenn auch die Staatsfinanzpolitik einiger Staaten auf die Entwicklung der Auslandsverschuldung der Wirtschaft einzuwirken, sie vor allem einzudämmen versuchte. In Deutschland versuchte die Reichsbank, innerhalb des Kreises der größeren Kreditnehmer, Staat — Reich und Länder —, Industrie, landwirtschaftliche Banken und Kommunen, die letzten in zunehmendem Maße, unter Kontrolle zu nehmen. Auch die Reichsfinanzpolitik unterlag in Spannungszeiten der Kritik und dem Einfluß der Reichsbank, wie die Geschichte der Kreditaufnahme bei dem New Yorker Bankhaus Dillon & Read Ende 1929 bezeugt, die dazu dienen sollte, einen Kassenausgleich des Reiches zu sichern, um zum Jahresultimo die fälligen Zahlungen der Reichskasse, in erster Linie Gehälter, Pensionen und Renten, leisten zu können. Doch die deutsche Auslandsverschuldung war schon in den günstigen Wirtschaftsjahren exorbitant, was sowohl unter Zeitgenossen als auch in jüngeren wirtschaftsgeschichtlichen Darstellungen zu starker Kritik Anlaß gegeben hat. 40 Hierauf wird im Folgenden noch einzugehen sein. Die europäischen Staaten — in der Sache ähnlich wie die süd- und mittelamerikanischen — verschuldeten sich in den Vereinigten Staaten entweder politisch oder kommerziell oder taten beides zugleich. Das konnte dank der Kapitalkraft der Wirtschaft der Vereinigten Staaten geschehen, die schon während des ersten Weltkrieges und erst recht danach eine unvergleichbare Größe erreichte. Dies vermittelte den poliNachweise wie oben, Anm. 32 u. 33. Patterson, Great Boom and Panic, S. 220 ff., kritisiert heftig den Umfang der „Kreditexzesse" auf europäischer Seite, um „politically inspired extravagances" zu finanzieren. 39a
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tisch denkenden Staatsschuldenmachern Europas wie den auf weitere Horizonte nicht verpflichteten kommerziellen Schuldenmachern eine starke Zuversicht, die durch theoretische Einschränkungen oder Reflexionen kaum beeinträchtigt wurde. Die nordamerikanischen Finanzkräfte standen als überlegene Kreditgeber außer Zweifel. Auch der von der Geschäftswelt verbreitete Euphemismus gewichtig erscheinender Stellungnahmen angesehener Wirtschaftswissenschaftler, gelegentlich auch des sonst gerne schweigsamen amerikanischen Präsidenten Calvin Coolidge festigte innerhalb wie außerhalb der Vereinigten Staaten die Überzeugung, daß ein System entstanden sei, das fortdauernden Wirtschaftsaufschwung garantiere. 41 Die Frage, ob es wirklich nur amerikanisches Kapital war, das über den Weg lang- , mittel- und kurzfristiger Kredite in das politische und kommerzielle Europa gelangte, erscheint wohl angebracht, läßt sich aber nur schwer oder nicht schlüssig beantworten; denn es ist kaum möglich, die Kapitalbewegungen im einzelnen zu verfolgen. Ein sukzessiver Vergleich der Notenbankausweise, der bislang gar nicht vorgenommen wurde, könnte erst Voraussetzungen und erste Anhalte schaffen. Läßt man diese offen bleibende Frage beiseite, so ergibt sich jedoch, daß dieses System nur unter zwei Voraussetzungen funktionsfähig war: der eines sich fortschreitend entwickelnden internationalen Handels, in dem die deutsche Ausfuhr einen angemessenen Platz einnahm und Überschüsse erwirtschaften konnte, die sich transferieren ließen; zum anderen unter der Voraussetzung einer stetig wachsenden, von Störungen freibleibenden Prosperität im Weltausmaß. Die Überzeugung von der Sicherheit dieser Voraussetzungen war zumindest in der amerikanischen Geschäftswelt weit verbreitet, seitdem die beteiligten Staaten und ihre Zentralbanken zu Währungsangleichungen auf der Grundlage des Gold-Devisen-Standards gelangt waren und eine Beendigung der von den Kriegsauswirkungen ausgehenden Unruhe in den internationalen Devisenbewegungen und in den Währungen auf lange Sicht in Aussicht schien. Diese Annahme bestätigte sich indessen nicht. Die Krise begann im Grunde mit dem Ausbleiben der Stabilisierung in dem erwarteten und angestrebten Ausmaß. Die internationale Mobilität großer Geldmengen nahm gerade im Zusammenhang mit der Einführung der Goldwährungen und den dann regelmäßig einsetzenden Währungsspekulationen ständig zu. 42 Anfang Aus der umfangreichen Literatur Brown, Gold Standard, passim. Melchior Palyi, The Twilight of Gold 1 9 1 4 - 1 9 3 6 . Myths and Realities, Chicago 1972, S. 170 (unter Berufung auf E. E. Juckes-Fleetwood, 1930). 41
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1930 wurde geschätzt, daß allein die rein spekulativen Geldbewegungen eine Größenordnung von etwa 2 Milliarden Pfund Sterling erreichten. 43 Sobald Differenzierungen des Zinsniveaus einen Anreiz boten, entstand ein starkes Gefalle des Kapitalflusses, der einerseits meist von den westlichen Geldmärkten nach Berlin und anderen mitteleuropäischen Geldmärkten — mit vergleichsweise hohem Zinsniveau — und anderseits meist aus allen Richtungen, auch aus Europa, nach New York drängte. Die Funktion Londons als Langzeitkreditgeber, die sich im Welthandelssystem der Vorweltkriegszeit herausgebildet hatte, war gestört, die Beziehung zum englischen Export und seiner Finanzierung gebrochen, die Stellung Englands innerhalb der weltwirtschaftlichen Beziehungen von dem Finanzsystem des Zentrums New York überlagert. 44 Die Bank von England konnte zwar auf jene einwirken, die in englischen Pfunden operierten, aber nicht auf jene, die Pfunde in eine andere Währung transferierten, derer sie sich zu ihren Spekulationen bedienten. Bereits der Eindruck, daß das Pfund Sterling zur alten Parität zurückkehren würde, hatte Mitte der zwanziger Jahre einen starken Fluß des Kapitals nach London verursacht. Als sich dann Ende 1926 die Stabilisierung des Franc abzeichnete und sein Wert ständig stieg — um etwa 50 Prozent innerhalb eines halben Jahres —, änderte der Fluß der spekulativen Kapitalien seine Richtung zugunsten von Paris und entzog auch der Bank von England größere Reserven. 45 Die Folge war eine leicht inflationäre Tendenz in Frankreich, die die Banque de France mit Beschränkungen der Einfuhr von Gold und Devisen und durch niedrige Zinssätze ohne sonderlichen Erfolg zu reduzieren versuchte. Innerhalb dieses Rahmens 43 a. a. O., S. 172, Palyi hat wertvolle Beiträge geleistet, die jedoch wenig überzeugten, da er häufig plausible und vertretbare Erklärungen ohne ausreichende Belege ließ und zudem aus seiner Zeit als wissenschaftlicher Berater der Deutschen Reichsbank bis 1933 in den Ruf einer gewissen Einseitigkeit und doktrinären Überempfindlichkeit gegenüber anderen Theoretikern geriet. Die Erfahrungen der nachfolgenden Jahre haben nicht alles, aber doch manches verändert, was einigen Vorwürfen den Boden entzog, aber doch nicht alle Urteile zu beeinflussen vermochte. Sein letztes, gewiß ungleichmäßiges, aber überaus interessantes Werk wird von Aldcroft mehrfach erwähnt, aber als kontrovers bezeichnet. Palyis Ansichten fußten teilweise auf internen Informationen aus der Bankwelt, die nicht unbegreiflich, aber doch nicht quellenmäßig nachweisbar sind. 44 Brown, Gold Standard, I, S. 385 ff. Zur historischen Folge im ersten Rang — Paris, London, New York — Kindleberger, Financial History, S. 265 ff., 339 ff. 45 Ausführlich hierzu Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 72—96; für England ders., The Inter-War-Economy: Britain, 1919—1939, London 1970; auch Alfred Sauvy, Histoire économique de la France entre les deux guerres, Bd. I, Paris 1965, S. 64 ff.; für den ersten Nachkriegsboom auch Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, S. 31 f.
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war Deutschland als der Hauptschuldner unfreiwillig in eine neuartige Position verwiesen worden, in der es sich stetig — kommerziell wie politisch — weiter verschuldete. Offensichtlich wirkten mehrere Momente oder Tendenzen, die man als Charakteristika des herrschenden Ungleichgewichts in der rasch wiederaufgebauten Weltwirtschaft der Nachkriegszeit bezeichnen kann, in kumulierendem Zusammenwirken progressiv krisenerzeugend, krisenverbreitend und -verschärfend. Die Stabilisierung nach den Meßpunkten einer Vorkriegsnormalität erwies sich alsbald als verfehlt, das Ergebnis als Mißerfolg. Dieses Urteil trifft für die gesamte weltwirtschaftliche Restauration der Zwischenkriegszeit zu mitsamt dem ihr zugrundeliegenden Konstruktionsprinzip und den aus ihm entwickelten Methoden der Wirtschaftstätigkeit und Wirtschaftspolik. In diesem Zusammenhang kam der deutschen Seite letztlich doch häufiger eine passive oder reaktive als eine aktive Rolle zu. In diesem Sinne darf man wohl den Ausdruck „wirtschaftliche Zwangslagen" einsetzen. Der Konflikt zwischen binnenwirtschaftlichen und weltwirtschaftlichen Gesichtspunkten und die Schwierigkeiten eines Ausgleichs spiegeln sich bereits in der nach unten nachgebenden Diskontpolitik des Federal Reserve Board in den Vereinigten Staaten. Seit der verzögerten Senkung des Diskontsatzes 1921, während der Agrardepression, blieb eine Erhöhung unpopulär, bewegte er sich dicht oberhalb oder unterhalb der 4 Prozent-Linie. Auf englische und französische Vorstellungen hin stellte der Governor der New Yorker Reserve Bank, der einflußreiche Benjamin Strong, den Leitern der Zentralbanken im Juli 1927 sogar eine noch stärkere Absenkung in Aussicht. Diese Konzession stand in Beziehung zu dem Kreditbedarf von Ländern mit schwach entwickelter Wirtschaft, deren Bindung an den Goldstandard durch die Erleichterung von Kreditimporten aus den Vereinigten Staaten gefördert werden sollte.46 Der New Yorker Linie folgten zur Zeit Strongs, der im Oktober 1928 starb, alle Federal Reserve Banks. Insofern spielten außeramerikanische Währungs- und Kreditmomente auch im amerikanischen Bankensystem eine Rolle; im übrigen aber überwog die inneramerikanische Tradition und das Prinzip, vom Diskontsatz als eines quantitativ wirkenden Kontrollinstrumentes nur wenig Gebrauch zu machen.47 Trotz des 46 Myers, Finanziai History, S. 302 f; Stephen V. O. Clarke, Central-Bank Cooperation, 1 9 2 4 - 1 9 3 1 , New York 1967, S. 72ff., I l l ff. 47 Hierzu Milton Friedman, Anna Jacobson Schwartz, A Monetary History of the United States, 1 8 6 7 - 1 9 6 0 , Princeton, N.J. 1963, S.268f., über Strong bes. S. 411 ff.; auch Kindleberger Financial History, S. 344 ff. Die Durchsetzung seiner Konzeption gegen
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Ansteigens der Preise, des Ausmaßes der inneramerikanischen Geschäftstätigkeit, der Vermittlungen der Broker-Firmen in alarmierendem Umfange, entschlossen sich die Reserve-Banken — diesmal erst im Laufe des Jahres 1928, unter Führung der von Chicago — nach und nach, wieder auf einen Diskontsatz von 4 Prozent zurückzukehren, den sie auf 4^2 und 5, im August 1929 auf 5ι/2 Prozent erhöhten. Die Größe der inzwischen in Umlauf gelangten Kreditmengen und der Umfang der untergebrachten Anleihen machte es jedoch vielen Banken möglich, die Kredite der Reservebanken einzuschränken, ihre Geschäfte aus ihren verfügbaren Geldmengen mit wesentlich höheren Zinssätzen zu finanzieren und den Diskontsatz zu unterlaufen, dessen Anhebung innerhalb des sich verselbständigenden Geldmarktes zu spät kam und in der Wirkung völlig versagte. Weder der Preissteigerung noch dem Kreditgeschäft — mit deutlicher Zunahme der kurzfristigen Kredite — wurde wirksam Einhalt geboten. Doch kurz nach der letzten Heraufsetzung des Diskontsatzes im August 1929, der ähnliche Entscheidungen der europäischen Zentralbanken, auch der Bank von England, voraufgegangen waren oder nachfolgten, die amerikanische Gelder nach Europa ziehen wollten, gaben die Warenpreise nach, begannen Spekulanten, ihre Gewinne zu realisieren und aus Geschäften auszusteigen, was die extrem hohen Broker-Kredite gefährdete. Schnelle Liquidationen führten alsdann zu panikartigen Reaktionen, dem berühmten New Yorker Börsenkrach im Oktober 1929. Die Konzentration der Ursachenforschung zur Entstehung der Weltwirtschaftskrise auf innere Vorgänge in den Vereinigten Staaten hat sich als einseitig und anfechtbar erwiesen, so dramatisch diese auch erscheinen mögen. Aber auch Präsident Hoovers Erinnerungen bleiben einseitig in der Ansicht, daß „das große Sturmzentrum Europa" gewesen sei; „bis zum Frühjahr 1931 bewegte sich dieser Sturm nur langsam, entwickelte sich jedoch dann zu einem finanziellen Orkan. Dann aber war es unausbleiblich, daß wir von diesen Kräften des Niedergangs in der übrigen Welt berührt wurden." 48 Immerhin kritisierte Hoover die amerikanische „Hauptschwäche", die „Orgie an Börsenspekulationen", die verfehlte Diskontpolitik und die Kreditinflation der Federal Reserve Banks. MelHoover behandelt jetzt William C. McNeil, American Money and the Weimar Republic. Economics and Politics on the Eve of the Great Depression, New York 1986, S. 38 ff. 48 Herbert Hoover, Memoiren, III. Die große Wirtschaftskrise 1929—1941 (Übers, der amerikanischen Ausgabe von 1952), Mainz o. J., S. 9 ff.; kritisch Elliot Α. Rosen, Hoover, Roosevelt, and the Brains Trust. From Depression to New Deal, New York 1977, S. 67 ff.
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düngen aus „Bolivien, Australien, Deutschland, Brasilien, Indien und Bulgarien" hätten schon vor dem New Yorker Börsenkrach von 1929 Krisen angezeigt; in Großbritannien, Kanada, Holland, Schweden und Japan sei bereits 1928 ein Konjunkturrückgang eingetreten, sogar in Frankreich der Aktienindex gefallen. Man kann alle diese Vorgänge jedoch nicht von der Tatsache isolieren, daß der beträchtliche amerikanische Kapitalexport, der zum Aufschwung in den meisten der genannten Länder erheblich beigetragen hatte, seit Mitte 1928 zurückging und die Investoren — amerikanische wie auch ausländische — sich mehr für den Kauf amerikanischer Aktien interessierten, die daraufhin eine Hausse ohnegleichen erlebten. 49 Heute besteht weithin Einigkeit darin, daß die amerikanische Wirtschaft schon auf Grund ihrer Größenordnung und ihrer aktiven und tonangebenden Stellung iñ der Weltwirtschaft der Nachkriegszeit einen entscheidenden Einfluß auf alle an der Weltwirtschaft beteiligten Länder ausübte, so daß eine Veränderung ihrer Position, ihrer Kapitalmarkt- oder Handelspolitik eine Stagnation oder eine Baisse, deutliche Folgen für die übrige Welt haben mußte, die unmittelbarer wirkten als einige Flauten in anderen Ländern auf die amerikanische Wirtschaft. Dies war natürlich auch Ausdruck einer Schwäche und auch Abhängigkeit der Wirtschaft dieser Staaten von der amerikanischen Wirtschaft und Kreditpolitik. Einige begründete Feststellungen betreffen indessen die Vereinigten Staaten ebenso wie das gesamte System: Offenbar war das Wachstum der realen weltmarktfähigen Produktion während der letzten zwanziger Jahre zu schwach, um einem stärkeren Rückschlag gewachsen zu sein und sich nach einer Unterbrechung wieder fortzusetzen, obgleich es etwa von Jahresende 1929 bis April 1930 sogar in der Entwicklung der Aktienkurse einige Anzeichen zu geben schien, 50 die für derartige 49 Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, S. 74 ff., 114 ff., unter Heranziehung einer Untersuchung von Heywood W. Fleissig; auch Aldcroft, Zwanziger Jahre, S. 298f., 309. 50 An der Aktienbörse von New York zogen die Kurse von Dezember 1929 bis April 1930 wieder an. Tabelle bei Kindleberger, a.a.O., S. 115. Auch in Deutschland waren manche Erscheinungen widersprüchlich. Der Monatsdurchschnitt der Arbeitslosenzahl erreichte bereits im Februar 1929 (mit 3,05 Millionen) einen ersten Höchststand und nahm nach der üblichen Sommerentlastung seit November 1929 wieder stark zu, mit neuen Höchstständen im Januar und Februar 1930 (3,22 bzs. 3,37 Millionen). Der gleitende Zwölfmonatsdurchschnitt stieg fortgesetzt seit 1929. Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, S. 15; Fünfter Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, für die Zeit vom 1. April 1932 bis zum 31. März 1933, Berlin 1934, S. 9 (Entwicklung der Beschäftigung von 1929/30 bis 1932/33). Die Gütererzeugung insgesamt erreichte jedoch im Jahresdurchschnitt 1929 den Höchststand und ging erst seit April 1930 gegenüber
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optimistische Einschätzungen gewisse Anhalte boten. Doch der Unterschied zwischen der Entwicklung im Sommer und Herbst 1928 und der im Frühjahr 1930 lag im wesentlichen darin, daß der Rückgang der Geschäftstätigkeit, der 1929 auf einzelnen Gebieten und vor allem in den stets überempfindlich reagierenden Börsen dramatisch einsetzte, nach einigen Monaten doch zu einer unaufhaltsamen Allgemeinerscheinung wurde. Es gilt heute als ziemlich sicher, daß sich in all dem der kritische Effekt des eingetretenen Mißverhältnisses zwischen gesteigerter Produktion auf bestimmten Sektoren und der Nachfrage auswirkte. Die Konjunktur beruhte allgemein — nicht nur in Deutschland — zu einem großen Teil auf einer wachsenden Erzeugung von Produktionsgütern, langlebigen Konsumgütern, dem Wohnungsbau wie der Stadtentwicklung, mitsamt umfangreichen Verkehrsbauten und einer entsprechenden Erzeugung von Verkehrsmitteln. In allen Industriestaaten hatte sich langfristig ein Trend durchgesetzt, der die Kapitalgüterindustrien gegenüber den Konsumgüterindustrien bevorzugte. Der Strom von Investitionen, der hierdurch angezogen wurde, stieß aber nun aus einer Reihe von Gründen auf abnehmende Möglichkeiten. 51 Der dringendste Bedarf war gedeckt; Verkehrsmittel standen in ausreichendem Maße zur Verfügung, was in zunehmendem Konkurrenzdruck fühlbar wurde. 52 Die Kapazitäten waren groß den Vorjahren sukzessiv zurück. Ähnliches gilt für den Umsatz im Einzelhandel, der sich ab Mai 1930 rückläufig entwickelte. Der Umfang der Güterbeförderung ging im Monatsdurchschnitt seit März 1930, der Umfang der Investitionen für wirtschaftliche Neuanlagen auf fast allen Gebieten schon 1929, gegenüber den beiden voraufgegangenen Jahren, zurück. Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, hrsg. vom Institut für Konjunkturforschung, Berlin 1933, S.41, 48 f., 64. 51 Wolfram Fischer und Peter Czada, Wandlungen der deutschen Industriestruktur im 20. Jahrhundert, in: Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg, Berlin 1970, S. 129 ff.; Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S.223, 310 f. Auf die Erschöpfung der Investitionsmöglichkeiten hat als einer der ersten Thomas Wilson hingewiesen, Fluctuations in Income and Employment, with Special References to Recent American Experiences and Post-War Prospects, 3. Aufl. New York 1949, S. 155 f.; vgl. auch Alvin H. Hansen, Business Cycles and National Income, New York 1951, mit der Betonung mangelnder Ressourcen und Innovationen. 52 Der Güterverkehr in deutschen Häfen (Ankunft und Abgang) hatte im August 1929 mit 4,4 Millionen t den höchsten Monatsdurchschnitt erreicht und ging seitdem stetig zurück (3,1 Millionen t im August 1930, 2,8 Millionen im August 1931), ähnlich der deutsche Seeverkehr über holländische Häfen, auch der Index der Seefrachttarife (1913 = 100, August 1931: 83,8). Unverhältnismäßig stark und früh rückläufig war der Tarifindex des Seegüterverkehrs von außereuropäischen Häfen nach Deutschland. Der Jahresdurchschnitt 1928 lag bereits erheblich unter den Jahresdurchschnitten 1924—1927;
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geworden; aber auch die Verschuldung der kommunalen Haushalte, die an den Infrastrukturinvestitionen großen Anteil hatten, stieß an Grenzen. Noch weniger war die Stabilisierung in einigen anderen Teilen der Welt gelungen. Hieraus folgte letztlich die verheerende Gesamtwirkung der Krise. Große Teile Europas waren nach dem Kriege verarmt, anfänglich sogar von umfänglichen Lebensmittellieferungen Amerikas abhängig, während auf der anderen Seite große Kriegsgewinne spekulative Unternehmungen größten Stils begünstigten und einen Boom erzeugten, der zur überstürzten Zusammenlegung großer Firmen, zur Massierung großer Kapitalien und zu übermäßigen Investitionen in fast allen Bereichen der Industrie ohne Beachtung der künftigen Aussichten führte. Während dieses Booms wurden zum ersten Male die Reparationsleistungen Deutschlands — zunächst durch die Pariser Beschlüsse Ende Januar 1921, dann durch das Londoner Ultimatum vom Mai — festgesetzt, viel zu hoch, wie sich noch vor Ablauf des Jahres herausstellte und indirekt auch von den Alliierten anerkannt werden mußte. Es blieben Zonen dauernder politischer und wirtschaftlicher Instabilität, an denen alle Bemühungen zur Gewinnung einer weltweiten Währungsstabilität vollkommen scheiterten. Starke außenwirtschaftliche Interessen trugen zur raschen wirtschaftlichen Entwicklung einiger lateinamerikanischer Staaten, vor allem der ABC-Staaten bei, die jedoch ihre eigenen, lange, teilweise bis heute ungelösten Probleme hervorbrachten. 53 China blieb, außerhalb der Einflußnahmen von westlicher Seite, ein Land ständiger Unruhe und Bürgerkriege und befand sich seit 1931 im auch die Monatsdurchschnitte zeigen nach kurzer Entlastung (Dezember 1928 bis Februar 1929) die durchgehend rückläufige Tendenz an. Konjunkturstatistisches Jahrbuch 1933, S. 54, 60 f. Die deutsche Gesamteinfuhr ging 1928, im Vergleich zu 1927, leicht, seit Februar 1929 stetig zurück. Der Wert der Ausfuhr nahm 1929 anfangs erheblich zu, ging aber seit dem Frühjahr nahezu stetig zurück; a. a. O., S. 76, 78. Die monatlichen Indexzahlen der Großhandelspreise insgesamt weisen den Höchststand im Juli 1928 aus; sie gingen 1929 stetig, seit Anfang 1930 stark zurück; a.a.O., S. 116. 53 Zu Mittelamerika für diese Zeit vor allem Dana G. Munro, The United States and the Caribbean Republics, 1921 - 1 9 3 3 , Princeton, N.J. 1974, S. 10. Die sich einer bestimmten Tendenz der amerikanischen Historiographie der Art William Appleman Williams' annähernde Interpretation von Hans-Jürgen Schröder verwechselt die vielen südamerikanischen Pronunciamientos der zwanziger Jahre mit einem numinosen Begriff von Revolution, trotz ihrer vernünftig erscheinenden Titelei: Amerika als Modell? Das Dilemma der Washingtoner Außenpolitik gegenüber revolutionären Bewegungen im 20. Jahrhundert, in: HZ, Beiheft 5, N. F.: Revolution und Bewahrung. Untersuchungen zum Spannungsfgefüge von revolutionärem Selbstverständnis und politischer Praxis in den Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Erich Angermann, München 1979, S. 217 f.
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Kriegszustand mit Japan, das schubweise größere Teile des großen Landes besetzte und seiner Regie unterwarf. Dem unter einer schweren Nachkriegskrise leidenden Spanien gelang es nicht, seine Währung zu stabilisieren, Portugal erst 1931, als bereits die Krise den Zerfall des Systems einleitete. Aber auch einige Länder, die nach Inflation und großen Anstrengungen neue, stabilere Währungen einführten, litten dauernd unter schwierigen oder gespannten Beziehungen zu ihren Nachbarstaaten, die sowohl den Wert der Währung als auch den benötigten Kreditfluß aus dem Ausland beeinträchtigten. Dies gilt für Polen, Ungarn, Bulgarien und auch Österreich, Länder mit schwacher oder einseitiger Wirtschaftsstruktur, die wenig Anreize für die Investition ausländischer Kapitalien boten, so daß Österreich, Ungarn und Polen54 überhaupt nur durch Vermittlung und unter der Aufsicht des Völkerbundes, auf recht unsicherer Basis, zu einigermaßen stabilen Währungen gelangten. Während Bulgarien und auch Polen unter den europäischen Ländern als Rohstoffproduzenten mit wenigen Exportpartnern schon seit 1920 unter dem Niedergang der Weltmarktpreise für Agrarprodukte litten, gerieten nach und nach auch größere, in erster Linie überseeische Staaten unter den Druck dieser Entwicklung, in Südamerika zuerst und am stärksten Brasilien, danach Argentinien. In Europa wie in Amerika fanden sich große Teile der Landwirtschaft gerade dort, wo sie vor und im Kriege stark wurde, rasch auf der Schattenseite der industriellen Konjunktur. Ein Gleichgewicht, das Stabilität auf die Dauer garantieren konnte, ist nicht entstanden. Seit langem wird kaum noch bestritten, daß die weltweite Absatzkrise der Agrarerzeugnisse Teilursache der Weltwirtschaftskrise bildete. Weniger Übereinstimmung besteht allerdings hinsichtlich der Erklärung der Ursachen für den Niedergang der Agrarpreise und allgemein der Rohstoffpreise. Frage bleibt, ob die Ursache in einer „Überproduktion" von Agrarerzeugnissen zu erblicken sei im Sinne divergierender Kurven der Zahlenreihen für Erzeugung und Verbrauch, die sich allerdings beide nicht mit gleicher Verläßlichkeit ermitteln lassen. Die statistische Argu54 Polen besaß im oberschlesischen Betgbaugebiet eine wertvolle Quelle zur Verbesserung seiner Handels- und Zahlungsbilanz. Doch der wichtigste Außenhandelspartner blieb stets Deutschland. Erst mit der Milderung der deutsch-polnischen Spannungen seit 1926 wurde eine Besserung der polnischen Außenhandelsbeziehungen möglich. Vgl. Curt Poralla, Die Wirtschaft zwischen beiden Kriegen, in: Osteuropa-Handbuch: Polen, hrsg. von Werner Markert, Köln/Graz 1959, S. 69—97; auch Helmut Lippelt, „Politische Sanierung". Zur deutschen Politik gegenüber Polen 1925/26, in: V Z G , 19 (1971), bes. S. 330 ff.
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mentation bedient sich vermittelnder Werte und leitet die „Überproduktion" aus einer seit 1923 fortgesetzten Zunahme der Lagerbestände wichtiger Agrarprodukte — Weizen, Zucker, Baumwolle, Kautschuk, Seide, Kaffee, Tee — ab, während gleichzeitig die Preise sanken.55 Setzt man die Indexwerte für die erfaßbaren Lagerbestände und die Preise dieser Produkte für die Jahre 1923/25 jeweils gleich 100, so ergeben sich Ende Oktober 1929 für die Lagerbestände 175, für die Preise etwa 70 und im Dezember 1932 260 bzw. 24,4.56 Die Divergenz erscheint drastisch. Schwieriger ist es jedoch, die Ursachen dieser Tendenz zu ermitteln. Daß die Wachstumsrate der Bevölkerung in den größten Industrieund Yerbraucherstaaten hinter denen der Vorweltkriegszeit zurückblieb, ergibt keine ausreichende Erklärung. Ein geringeres Bevölkerungswachstum bedingt noch nicht geringeren und schon gar nicht einen so rasch und stark absinkenden Verbrauch; einen Bevölkerungsrückgang gab es nicht. Die durch den Weltkrieg bedingten Verlagerungen in der Bevölkerungspyramide und die Verschiebungen der Altersstruktur 57 zeitigten zwar deutliche Folgen für die Veränderung der Beschäftigungsverhältnisse, erklären aber kaum die Veränderung der Gesamtnachfrage nach Produkten des Primärbereichs. Die Verwendung ζ. B. von Kautschuk oder Baumwolle, auch Seide ist nicht von der unmittelbaren Nachfrage des letzten Verbrauchers, des Individuums innerhalb der summierenden Bevölkerungsstatistik abhängig, sondern vor allem von den Arten des Bedarfs in der Verwertung durch einschlägige Industrien. Aber auch die Preise für alle anderen Rohstoffe sind spätestens seit 1929 stetig zurückgegangen. Der Weg bis zum Endverbraucher führte und führt
55 Es gab offenbar stets Produkte und Großmärkte, bei denen, von jahreszeitlichen Schwankungen abgesehen, ein stetiges Steigen oder lediglich vorübergehende Stagnationen der Preise auffallen. Das gilt ζ. B. in Deutschland für Zuckerrüben, deren Erzeugerpreis seit dem ersten Weltkrieg ununterbrochen anzog; der Erzeugerpreis von Rohtabak schwankte von Jahr zu Jahr, ist aber ebenfalls über längere Perioden ständig angestiegen. W. G. Hoffmann, Wachstum, S. 555. Natürlich spielen hierbei die begrenzten Anbaumöglichkeiten — bei steigendem Bedarf — mit. Die Schwierigkeit, einwandfreie Schlüsselstatistiken zu gewinnen, hat D. H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre; S. 255 f., hervorgehoben. Er erweitert die Betrachtung der Preise und Vorräte von Agrarprodukten unter dem Eindruck anderer Autoren auf eine Behandlung der Rohstoffproduktion insgesamt (Seide, Blei, Zink, Erdöl), S. 258 f., deren Bedeutung noch monographischer Behandlung bedarf. 56 W.Fischer, Rahmenbedingungen, S. 17f., nach Erhebung von Vladimir P. Timoshenko, World Agriculture and the Depression (Michigan Business Studies), Ann Arbor, Mich. 1933; Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, S. 87 —98, mit erläuterten Berechnungen und weiteren Beispielen. 57
Fischer, a.a.O., S. 16f.
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über mehrfache Vermittlungen. Die genannten Produkte sind mithin, von ihrer Herkunft aus dem primären Wirtschaftsbereich abgesehen, im Hinblick auf die Arten ihrer Verwertung gar nicht kommensurabel. Die Länder mit extensiver Agrarwirtschaft und hohen Produktionsraten hatten sich schon vor dem Weltkrieg an den Welthandel und mithin an die Bedürfnisse der Industriestaaten anzupassen begonnen. Die episodisch übermäßig großen Steigerungen der Produktion während des Weltkriegs hätten dann jedoch konsequenterweise im erneuerten weltwirtschaftlichen Zusammenhang, im Zuge der Annäherung an ein stabiles System internationaler Arbeitsteilung, allmählich wieder abgebaut werden müssen. Dieser Prozeß ist nur langsam in Gang gekommen, dennoch teilweise überaus schmerzlich verlaufen, unter dem Druck der zunehmenden Beteiligung noch billiger produzierender Agrarländer der südlichen Welthalbkugel, Argentinien, Südafrika, Australien, Neuseeland, außerdem Kanadas am Welthandel, während die weniger rentabel wirtschaftenden Agrarzonen Europas und der Vereinigten Staaten unter verstärktem Konkurrenzdruck litten, 58 Investitionen einbüßten, zur Einschränkung von Anbauflächen schritten und schließlich durch Reglementierungen oder subventionierte Vernichtungsmaßnahmen eine gewaltsame Valorisation der Ernteerträge anstrebten, um die Agrarpreise nicht ins Bodenlose stürzen zu lassen. Die Landwirtschaft ist stets, ob intensiv oder extensiv betrieben, ihrer Natur nach am wenigsten anpassungsfähig und befähigt, von sich aus der Großmarktlage nachzugeben. Sie ist Schwankungen von Jahr zu Jahr gewöhnt und auf Ausgleich durch den Handel und die Subsidiarität von landwirtschaftlichen Kreditinstituten oder Genossenschaften angewiesen. Doch die Produktionsgrundlage selbst, der Boden, seine Qualität, Bearbeitungsformen und Arbeitsverfassung, das Klima lassen nur langsame Veränderungen, aber auch nur wenige Ausweichmöglichkeiten zu. Länder mit ausgeprägter regionaler Monokultur, deren Wirtschaft von den Exporterlösen weniger spezieller Agrarprodukte abhängt, bleiben den Weltmarktvorgängen gegenüber hilflos, solange sie ihre Wirtschaftsstruktur nicht zu ändern vermögen. Das ist ein viel erörtertes, man darf sagen, allgemein vertrautes Problem schon seit den zwanziger Jahren. Doch bei einschneidenden Strukturveränderungen kam und kommt es 58 So schon Max Sering, Internationale Preisbewegungen und Lage der Landwirtschaft in den außertropischen Ländern (Untersuchungen des Deutschen Forschungsinstituts für Agrar- und Siedlungswesen, Abt. Berlin, Berichte über Landwirtschaft, Studienheft), Berlin 1929; vgl. auch Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, S. 92.
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I. Wirtschaftliche Rahmenbedingmgen und Krìsemytchen
letztlich auf Interventionen des Staates an. Länder mit agrarisch geprägter oder beeinflußter Wirtschaftsstruktur verlangen zumindest in Zeiten der Rezession nach einem graduellen oder partiellen Staatsinterventionimus. Die Beteiligung an der Weltwirtschaft und am Weltmarkt hat diese Bedingung nach sich gezogen, nachgerade zwangsläufig auch zu entschiedenen agrarischen Reaktionen gegen Freihandel und offenen Liberalismus des Marktes geführt. Von Preisstützungsaktionen der Regierungen oder einer Valorisation durch Vernichtung großer Mengen (Brasilien) bis zum Hochschutzzoll auf Agrarerzeugnisse wurde in der Krise eine ganze Palette interventionistischer Maßnahmen zugunsten des Landbaus entwickelt. Entschiedene Interessenpolitik, im Regelfall auch innerstaatliche Konflikte, die Ausbildung starker Interessenorganisationen, die dem Staat fordernd gegenübertreten, runden das Bild, zu dem schließlich der im Ansatz gelungene Versuch eines Zusammenschlusses der bäuerlichen Landwirtschaftsorganisationen aller Welt in einer sogenannten „Grünen Internationale" gehörte, in der sie ihre Forderungen gemeinsam vertreten wollten.59 Die europäische und die nordamerikanische Landwirtschaft wurden vom ständigen Rückgang der Preise gerade ihrer wichtigsten Agrarprodukte am stärksten betroffen. Im Gefolge aller saisonbedingten als auch jährlichen Schwankungen sanken die Großhandelspreise während der Nachkriegsperiode bis in die dreißiger Jahre stetig ab. Der Preis für Weizen pro Tonne ging nach dem Höchststand im Februar 1925 mit 313,4 RM im Oktober 1926 auf 250,6 RM und im Jahresmittel des Wirtschaftsjahres 1926/27 auf 239,8 RM zurück. Im Jahresmittel 1927/28 betrug er 230,9 RM, 1928/29 195,8 RM, 1930/31 110,5, 1931/32 nur noch 86,9 und Februar 1933 gar nur 69 RM, 60 wenig mehr als ein Fünftel des 59 Zum Überblick der Sammelband von Heinz Gollwitzer (Hrsg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 29), Stuttgart/ New York 1977, Vorwort des Herausgebers unter dem Titel: Europäische Bauerndemokratie im 20. Jahrhundert, dort S. 1 —82. 60 Der Großhandelspreis für eine Tonne Roggen belief sich im Jahresmittel 1924/25 auf 239,3 RM, 1927/28 auf 220,8 RM, nachdem er 1928 und 1926 schon weiter abgesunken war, 1928/29 auf 199 RM, 1929/30 auf 139,6 RM, 1930/31 auf 78,7 RM, im Februar 1933 auf 62,4 RM (21,4 Prozent des Preises von acht Jahren zuvor). Bei Futtergerste und Hafer waren die Schwankungen stärker. Bei Schlachtvieh, Butter und Eiern erscheint die Entwicklung ähnlich, allerdings nicht so kraß. Die Preisvergleiche über acht Jahre (Februar 1925 = 100) ergaben 33,3 (Schweine in Chicago) bzw. 33,1 Prozent (Schweine in Kopenhagen), für Rinder (beste Stiere in Chicago) 63,6 Prozent. Bei Molkereibutter setzte die extreme Preisentwicklung erst Anfang 1930 ein, bei Eiern noch etwas später. Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, S. 206 ff. Die Großhandelspreise sind ermittelt in Hamburg
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Nachkriegswirtschaft
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Preisstandes acht Jahre zuvor. Dieses Beispiel mag hier genügen, um zu zeigen, daß der Preisverfall auf dem Agrarmarkt, der in der Viehhaltung und Veredelungswirtschaft erst etwas später, nach Einbruch der großen Wirtschaftskrise, zu Anfang der dreißiger Jahre begann, im Bereich der Zerealien schon früh einsetzte und der allgemeinen Wirtschaftkrise lange vorauslief. Beim Weizen führte mithin nicht erst die spekulative Lagerhaltung kanadischen Hartweizens durch das Weizensyndikat (Wheat Pool) und ihre Auflösung unter dem Druck der Entwicklung Ende 1929 zum Preisverfall, auch nicht erst die forcierte Steigerung des Weizenexports der Sowjetunion in den ersten Jahren der Kollektivierung, 1930 um das Dreiundzwanzigfache (auf 2,29 Millionen t) ihres zweiten Exportjahres 1929 und seine nochmalige Verdoppelung 1931 (5,22 Millionen t); 61 die bereits vorhandene Tendenz dürfte allerdings durch diese Interventionen verstärkt worden sein. Die innerwirtschaftlichen und -politischen Folgen dieser Versuche sind, wie Kindleberger zeigt, nicht weniger interessant: Die künstliche Verknappung des Angebots Kanadas durch Lagerungspolitik und Exportrestriktion war kostspielig, zeitigte ungünstige Wirkungen auf die Zahlungsbilanz und führte schließlich zur Geldverknappung, am Ende zu großen Verlusten und zur äußeren Schwächung des kanadischen Dollars. Die Sowjetunion trug durch ihr forciertes Angebot selbst zum Preisdruck bei, so daß die Erlöse weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Infolgedessen wurde der Export erneut erhöht und dies durch weitere Zwangseintreibungen nach den Zwangskollektivierungen und scharfen Rationierungen im Innern erzwungen, was ebenso ohne Erfolg blieb, da die Preise weiter nachgaben. Eine unbekannte Millionenzahl von Bauern wurde vertrieben oder starb den Hungertod, während Exporte trotz der Überschüsse der Welterzeugung dem Weltmarkt durch Dumping aufgezwungen wurden. 62 In manchen Ländern folgten antiunverzollter argentinischer Weizen und Mais cif, ausländische Futtergerste), Rotterdam (ausländischer Roggen), London (argentinischer Hafer), Kopenhagen (Schweine, Färsen und Ochsen, Molkereibutter, Eier) und Chicago (leichte Schweine, beste Stiere), alle Tiere je 100 kg Lebendgewicht. Die Übersichten beginnen im August bzw. Januar (Tiere und tierische Produkte) 1924 und enden mit Februar 1933. 61 Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, S . 9 3 f f . 62 a. a. O., S. 95. Die Welternte an Weizen entsprach noch 1924 mit 84,3 Millionen t der Größenordnung der letzten Vorkriegsjahre (1910 nur 76,3 Millionen t). Die folgenden Zahlen (jeweils ohne Sowjetunion, die erst 1928 auf dem Weltmarkt in Erscheinung trat, China, Persien, Türkei und Irak) zeigen die stetige Zunahme an: 1925: 90,5, 1926: 92, 1927: 98,1, 1928: 106,8, 1929 (eine Mißernte): 93,3, 1930: 100,3 (Weltangebot unter Einschluß des sowjetischen Exports 102,6), 1931: 100 (105,2) Millionen t. Dagegen weisen die Zahlen
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I. Wirtschaftliche
Rahmenbedingungen und Krisentçeichen
sowjetische Kampagnen diesem extremen Versuch, den Weltmarkt gleichsam im Handstreich aufzubrechen. Beide Beispiele, die so extrem ausgefallen sind, illustrieren im Grunde die geringe Variationsbreite der Möglichkeiten agrarischer Exportländer, die auf ein Abfallen der Weltmarktpreise nur mit spekulativer Hortung und Exportrestriktion — oder mit erheblicher Exportsteigerung und Minderung des eigenen Verbrauchs — reagieren können, falls sie sich nicht für eine Angebotsminderung mit strukturellen Eingriffen in die eigene Landwirtschaft und eine forcierte Industrialisierung entscheiden. Auf dem Weltmarkt erschien auch die Sowjetunion trotz fortschreitender Industrialisierung — nach Jahren der Abschließung — wieder nur als Weizenexporteur wie vor dem Kriege das alte Rußland, jedoch unter unvergleichbaren Opfern. Die Wirtschaft und namentlich der Außenhandel der Staaten wurde von der hier skizzierten Entwicklung unterschiedlich betroffen, die der wenig oder gar nicht vom Agrarexport abhängigen Staaten, etwa England, 63 Belgien, Luxemburg, die Tschechoslowakei, Norwegen und für die Welternte an Roggen, Gerste und Hafer (mit kleineren Volumina), bei stärkeren Schwankungen, Zunahmen dieser Art nicht aus, für Mais sogar bis 1931 einen sukzessiven Rückgang. Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, S. 205. 63 Großbritannien darf als Beispiel dafür gelten, daß veränderte Ernährungsgewohnheiten in und nach dem Kriege die Abnahme agrarischer Produkte bestimmt haben, die von der Preisentwicklung auf dem Weltagrarmarkt indessen kaum beeinflußt worden sein dürfte. Die jährliche Wachstumsrate der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs (hier England, Wales und Schottland) ging nach dem Kriege stetig zurück; immerhin zeigt ein Vergleich der Ergebnisse der Volkszählungen von 1911, 1921 und 1931 eine Bevölkerungszunahme von zwei Millionen jeweils im Zehnjahresabstand an (40,8; 42,8; 44,8 Millionen). Mitchell, Historical Statistics, S. 24, 120. Die Weizenimporte änderten sich indessen nur geringfügig. Weit stärker vergrößerte sich der Import von Rind- und Schaffleisch, Butter und Käse. Im Vergleich zu 1913 ( = 100) ergeben sich folgende Indexzahlen:
Rind- und Schaffleisch Butter Käse
1924
1929
1932
122 120,8 125,6
126,8 155 129,9
133,2 204,3 129,9
Errechnet nach dem Konjunkturstatistischen Handbuch 1933, S. 205. Hierbei könnte freilich die leichte Zunahme der städtischen Bevölkerung zu Lasten der ländlichen ins Gewicht gefallen sein. Für England und Wales wird für 1911 das Verhältnis zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung mit 78,1:21,9, für 1931 mit 80,0:20,2, bei zunehmender Gesamtzahl, angegeben. Für Schottland ist generell seit Beginn des Jahrhunderts eine Abwanderung der Bevölkerung festzustellen, trotz stärkerer Einwanderung von Iren in das Industriegebiet am Clyde. Die Wanderungsverluste beziffern sich während der ersten Dekade (1901-1911) auf 254000, in der zweiten auf 239000 Personen. Zahlen nach Hans Dörries, Die bevölkerungsgeographische Struktur der britischen Inseln, in: Karl H. Dietzel,
Das internationale System der
Nachkriegswirtscbaft
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Schweden sogar begünstigt. Sie waren zwar nicht Nutznießer der Krise — spurlos ging sie auch an ihnen nicht vorüber; aber sie kamen glimpflicher davon. Auch jene Länder, deren Gesamtwirtschaft zu großen Teilen auf der Veredelungswirtschaft beruhte (auf Betrieben, die agrarische Urprodukte zu Produkten eines höheren Niveaus umformen), etwa Dänemark und die Niederlande, waren weniger und zudem später erst betroffen als jene, deren Wirtschaftslage von dem Export der Erzeugnisse agrarischer Monokulturen abhing. Das zeitgenössische Schlagwort von der „Rohstoff-Revolution", das eine dramatische Zurückdrängung der Rohstoffproduktion durch technische Synthesen meint,64 bezeichnete ein anderes Gebiet, das die Geschichte des Landbaus nur teilweise berührte. Die Agrarkrise war hingegen eine vorausgehende, eine Vorkrise der Weltwirtschaftskrise, im Grunde nur ein besonders auffalliges und dramatisches Zeugnis des mangelnden Gleichgewichts und der schon in verhältnismäßig geringem zeitlichen Abstand von den Anfangen der Stabilisierung und einer Erneuerung der „Normalität" zusehends wieder unsicher werdenden Gesamtlage der Weltwirtschaft. Sehr hart waren Länder betroffen, deren Handelsbeziehungen vom Export ihrer Agrarprodukte weitgehend oder überwiegend abhingen, deren Produktion zurückging und deren wirtschaftliche Krise eine inneroder außenpolitisch begründete Instabilität begleitete. Dies galt in Europa für Polen sowie für die südosteuropäischen Staaten, Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und Bulgarien. Während Rumänien im Durchschnitt des Jahrfünfts 1909/13 jährlich 3 Millionen t Getreide und Ungarn 2,12 Millionen t exportierten, brachte das nach dem Kriege erheblich vergrößerte Rumänien 1925 nur noch die Hälfte und das verkleinerte Ungarn weniger als eine halbe Million t auf den Weltmarkt, obgleich beide Länder nach wie vor 83 Prozent ihrer gesamten Ackerfläche dem Getreidebau (vornehmlich Weizen, Mais und Gerste) widmeten. 65 Die Oskar Schmieder, Heinrich Schmitthenner (Hrsg.), Lebensraumfragen europäischer Völker, Bd. I, Leipzig [1941], S. 232, 238—246. (Der Sammelband ist in manchen seiner Beiträge wie im Vorwort der Herausgeber von der herrschenden politischen Einstellung zur Zeit des Erscheinungsjahres bestimmt; einige der Beiträge behalten jedoch ihren Wert.) Vgl. W. Hoffmann, Wachstum und Wachstumsformen der englischen Industriewirtschaft von 1700 bis zur Gegenwart (Probleme der Weltwirtschaft, 63), Jena 1940. 64 Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 258, geht allzu vorbehaltslos hierauf ein, im Anschluß an M. T. Copeland, A Raw Commodity Revolution (Business Reserval Studies, 19), Harvard 1938. 65 Eingehende Darstellung mit Statistiken schon von Karl Haager, Die Landwirtschaft der Donauländer, in: Berichte über Landwirtschaft, N. E VI (1927), S. 2 3 3 - 3 1 5 .
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I. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Krisenqeichen
jugoslawische Getreideausfuhr blieb trotz der Übernahme ungarischer Getreideanbaugebiete gering. Die Ursache lag hier — wie übrigens auch in Polen — in den Agrarreformen, die der Stärkung der kleinbäuerlichen Schichten dienen sollten und dort, w o sie radikal durchgeführt wurden, einen starken Rückgang der Hektarerträge, der gesamten Produktion und der Wirtschaftskraft bewirkten. 66 Für Jugoslawien und Bulgarien boten lediglich kleinbäuerliche Spezialkulturen (Eier, Pflaumen, Tabak, Rosenöl oder Flachs), für Ungarn wie für Jugoslawien der Export von Vieh, Fleisch und Veredelungsprodukten Aussichten auf einen begrenzten Ausgleich der Handelsbilanz, bei knapp bemessenen Importen westeuropäischer Industriewaren. 67 Rumänien verfügte über Ölquellen, Polen über das ostoberschlesische Bergbau- und Industriegebiet; doch hiervon abgesehen, blieben die Ansätze zum Aufbau von Industrien schmal und fehlte es außerhalb Rumäniens weitgehend an wirtschaftlichen Anreizen zur Investition ausländischen Kapitals, das in den Staaten der Kleinen Entente — in Rumänien und Jugoslawien, neben der industriell gut entwickelten Tschechoslowakei, — in erster Linie politisch motivierte Aufgaben erfüllen sollte. Die weltweit nachgebenden Preise der zerealischen Agrarprodukte bewirkten indessen weithin einen wachsenden Druck auf agrarische Renten und natürlich auch Löhne, 68 was auch dort Arbeitskräfte vom Lande 66 Dies schon das Ergebnis der Untersuchung von Haager, a.a.O., S.312, noch mit der vorsichtigen Beschränkung auf den Berichtszeitraum und der offen gelassenen Frage, ob dies nur den Übergang charakterisiere oder dauernd zu erwarten sei. Eindeutige Ergebnisse bei Doreen Warriner, Economics of Peasant Farming, New York/Oxford 1939; Nicolas Spulber, The State and Economic Development in Eastern Europe, New York 1966, S. 69 ff., 84 ff. 67 Die Zahlungsbilanz Bulgariens, Ungarns und Polens blieb negativ; für die anderen Länder fehlen vergleichbare Unterlagen. Mitchell, Historical Statistics, S. 820 ff. 68 Zuverlässige Ermittlungen und Vergleichungen des Zusammenhangs von Bodennutzen und Löhnen in den Agrarzonen der Erde fehlen bislang. Die deutschen Löhne sind am besten in Amerika statistisch dargestellt worden. Gerhard Bry, Wages in Germany. Der Autor hat jedoch nur eine Auswahl möglicher Statistiken zu den Löhnen in der Industrie vorgenommen. Hinsichtlich der Geldlöhne ist die Tendenz in europäischen Ländern, soweit Unterlagen vorhanden sind, mit Ausnahme Deutschlands, für die Zwischenkriegszeit unverkennbar. Vgl. Mitchell, Historical Statistics, S. 193. Die Linie der Entwicklung in der Landwirtschaft der Vereinigten Staaten wird durch folgende Monatslöhne (wages with board and room) charakterisiert: 1910: 21 Dollar, 1920: 51, 1922: 33, 1924: 38, 1926: 39,5, 1928: 39, 1930: 37,5, 1931: 28,5 Dollar. Der Index der Verbraucherpreise stieg gegenüber 1914 ( = 100) erheblich an; 1910: 94,7, 1920: 199,7, 1924: 170,3, 1928: 170,9, 1930: 166,4. Die ländliche Bevölkerung, die auf Farmen wohnte, machte 1910 34,9 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, 1920 30,1, 1930 nur noch 24,9 Prozent (in absoluten Zahlen ausgedrückt,
Das internationale System der Nachkriegswirtschaft
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in die Stadt trieb, w o mangels Investitionen der Einsatz von billig produzierenden Maschinen ausgeschlossen blieb. 69 Dies läßt sich in den agrarischen Erzeugerstaaten der ganzen Welt beobachten, die sich in der Nachkriegsphase einer Erneuerung des Weltmarkts und einer internationalen Arbeitsteilung in Zonen einer expansiven oder progressiven und einer regressiven Agrarwirtschaft gliederten. Zu den letzten zählte nun Deutschland ebenso wie auch Teile der Vereinigten Staaten, w o schon bald nach dem Kriege eine Verschiebung von Anbaugebieten, eine „Westwanderung des Weizens" über den Mississippi hinweg begonnen hatte, weil dort der Boden billiger und die extensive Bewirtschaftung in großen Betrieben rentabler war als in älteren Kulturgebieten. 70 Stetig drängten Teile der gering entlohnten ländlichen Bevölkerung in die Städte, wo sie das Angebot an Arbeitskräften erhöhten. 71 Eine permanente Arbeitslosigkeit begleitete daher alle diese Umstellungsvorgänge der Nachkriegszeit. 72 Schon leichte Konjunkturabschwächungen führten zu einer ra1910: 32,1 Millionen, 1920: 32 Millionen, 1930: 30,5 Millionen). Die Binnenwanderungsbewegung zu den Farmen und von den Farmen ergab von April 1919 bis zum April 1920 ein Defizit von 336000, 1921 von 564000 und in den folgenden Jahren bis 1930 jährlich zwischen 400000 und 1,137 Millionen (1923). US. Department of Commerce, Bureau of the Census, Historical Statistics of the United States. Colonial Times to 1970, Washington, D.C. 1975, Teil I, S.468, 164, 457, 96. Es darf wohl angenommen werden, daß es sich in den überseeischen Ländern im allgemeinen ähnlich verhielt, von besonderen Verhältnissen in Kanada (Pool der Hartweizenproduzenten) abgesehen; vgl. Anm. 61. Was den Anteil des Landbaus am Volkseinkommen (GNP) anlangt, so stehen statistisch eindeutige Beweise für diese Tendenz im Hinblick auf die zwanziger Jahre für Dänemark, Ungarn, Italien und ab 1930 für Norwegen zur Verfügung, die auch weitere Rückschlüsse auf andere Länder erlauben und die Ergebnisse der überwiegend Zerealien produzierenden Länder eher noch ungünstiger erscheinen lassen. Mitchell, a.a.O., S. 807 ff. 69 Auf dieses Motiv der Wanderungsbewegung ist wiederholt verwiesen worden. Vgl. Norbert Krebs, Wanderbewegungen als Ursachen von Bevölkerungsverlagerungen in Europa, in: Lebensraumfragen I, S. 59 f., 85 f.; für England oben Anm. 63; im übrigen oben Anm. 7. 70 Kindleberger, Weltwirtschaftskrise, S. 92; Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Göttingen 1961, Bd. 2, S. 760. 71 Zum Wachstum der städtischen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten und England vgl. Anm. 68, 63 u. 7. In den USA ging bei einer stetigen Zunahme der Gesamtzahl der Beschäftigten in dem Jahrzehnt von 1919 bis 1929 von 39,8 auf 44,9 Millionen der Anteil in der Landwirtschaft von 21,3 auf 18,3 Prozent zurück. Vgl. auch die Daten bei Simon Kuznets, National Income and Its Composition, 1919—1938 (Publications of the National Bureau of Economic Research, 40), New York 1941, Bd. II, S. 543 ff. 72 In den Vereinigten Staaten hatte die Arbeitslosigkeit 1920—1929 einen Dekadendurchschnitt von 5 Prozent der insgesamt verfügbaren Arbeitskräfte. 1924 lag der Jahresdurchschnitt über 6, 1921 sogar über 12 Prozent. In den Jahren vom Jahrhundertbeginn
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sehen Vemehrung der Beschäftigungslosen. Während der Großen Depression kumulierte diese Entwicklung in einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit. bis zum Weltkrieg lagen die Verhältnisse kaum anders. Extremwerte weisen die Jahre 1921 und 1898 auf. Stanley Lebergott, Manpower in Economic Growth. The American Record Since 1800, New York 1964, S. 188 f. Etwas abweichende Angaben: Historical Statistics of the United States, I, S. 135. (1924: 5 Prozent, 1921: 11,7 Prozent). Die Angaben über den Anteil der Arbeitslosen an den verfügbaren Arbeitskräften von Mitchell, European Historical Statistics, S. 167, sind für Deutschland unbrauchbar, da sie tatsächlich nur das Verhältnis zwischen den unbeschäftigten Gewerkschaftsmitgliedern und der Gesamtzahl der Beschäftigten wiedergeben, falls nicht noch Berechnungsfehler unterlaufen sind, was sich auf Grund der Angaben des Autors nicht überprüfen läßt. Die sich hierauf stützende und interpretierte Graphik von Knut Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume, S. 18 — „Die Arbeitslosigkeit war schon ab 1925 und nicht erst nach 1929 so hoch wie nie zuvor in Deutschland" —, verliert ihre Grundlage. Man vergleiche den Prozentsatz der Arbeitslosen von den insgesamt verfügbaren Arbeitsfähigen („percentage of appropriate Workforce"). nach Mitchell Prozentsätze
1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930
3,8 2,8 1,5 9,6 13,5 6,7 18,0 8,8 8,4 13,1 15,3
Konjunkturstat. Handbuch 1933 und Bry (Abweichungen in Klammern) absolut, in Tausenden
646 2011 1353 1353 1892 3076
(366) (310) (177) (829) (937) (664) (2068) (1391) (1391) (1899)
Anteil auf Grundlage der Gesamtzahl der Beschäftigten nach Hoffmann, Wachstum, S. 205 f. (unter Hinzurechnung der Arbeitslosen) in Prozentsätzen
2,0 6,3 4,1 4,0 5,5 9,2
Sofern man sich nicht auf die offenkundig unbrauchbaren Angaben von Mitchell bezieht, läßt sich für Deutschland feststellen, daß die Arbeitslosigkeit im Nachkriegsjahrzehnt im allgemeinen etwas niedriger war als in den Vereinigten Staaten, was übrigens auch für die Vorkriegszeit zu gelten scheint. Auch Mitchells Angaben über die Prozentsätze der Arbeitslosigkeit in Dänemark, Belgien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, der Schweiz und Großbritannien (die einzigen Angaben dieser Art für diesen Zeitraum), müssen wohl mit großer Vorsicht und einiger Skepsis betrachtet werden. Nach Mitchell, a.a.O., S. 166ff. bewegte sich der Anteil der Arbeitslosen in Dänemark 1921 — 1929 zwischen 10,7 (1924) und 22,5 Prozent (1927), in Belgien zwischen 1,3 (1923) und 11,7 (1921), in den Niederlanden zwischen 5,6 (1928) und 11,2 (1923), in Norwegen zwischen 8,5 (1924) und 25,4 (1927), in Schweden (Angaben nur seit 1925) zwischen 10,6 (1928)
Das internationale System der
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Nachkriegswirtschaft
Das alles spricht noch nicht für eine Überproduktion; das russische Opferbeispiel illustriert eher das Gegenteil. Steigende Lagervorräte und fallende Preise lassen auf erschwerten Absatz schließen; und dieser läßt sich, was die seit dem Kriege gesteigerte Agrarproduktion anlangt, auch aus der harten Konkurrenz auf dem Weltmarkt unter intakten, gegenüber der Vorkriegszeit verbesserten Verkehrsverhältnissen erklären. Unterschiedliche Hektarerträge und Kostenbelastungen der Erzeugerländer im Weltvergleich führten vielfach zur Abwehr der Billigprodukte durch nationale Marktstützungen, vornehmlich durch Agrarzölle, deren importrestriktive Wirkungen nur durch fortgesetzt erniedrigte Weltmarktpreise unterlaufen werden konnten, was dann erneut zu Erhöhungen der Zollschranken führte. Ein ständiges Ringen um die Einführung und Erhöhung von Zöllen auf Getreidearten in getreideproduzierenden Ländern, etwa in den Vereinigten Staaten oder in Deutschland73, charakterisiert sowohl Weltmarktbedingungen als auch innerwirtschaftliche und innerpolitische Auswirkungen. Die Schwächen der Agrarwirtschaft, ihrer
und 12,2 (1926), in der Schweiz (Angaben nur seit 1926) zwischen 1,8 (1929) und 3,4 (1926) und in Großbritannien zwischen 10,6 (1927) und 15,2 Prozent (1922). Von Belgien und der Schweiz abgesehen, wäre hiernach in allen Ländern, über die es entsprechende Angaben gibt, in der ganzen Dekade die Beschäftigungslage eher schlechter denn günstiger gewesen als in Deutschland. Vielleicht trifft dies im Endergebnis zu, aber wohl kaum mit den genannten Zahlen; doch wir wissen es nicht genau. Mitchell merkt an: „The variety of different indicators of unemployment used is clear from the footnotes. This should serve as warning against incautious comparisons." (S. 172). Der zweite Satz kann kaum nachdrücklich genug unterstrichen werden; dem ersten entsprechen leider nur knappe, für eine Beurteilung unzureichende Hinweise. 73 Die amerikanischen Agrarzölle setzte der in der Absatzkrise der ersten Nachkriegszeit angenommene Emergency Tariff Act 1921, der ursprünglich im Interesse der Industrie eingebracht wurde, auf neuer Höhe fest. Der als Revision gedachte Tariff Act vom September 1922 brachte schließlich weitere Erhöhungen der Zollsätze und festigte den Agrarprotektionismus. Myers, Financial History, S. 309 f. Die deutschen Getreideeinfuhrzölle zogen nach der Währungsstabilisierung allmählich scharf an (RM pro t):
Futtergerste Gerste Hafer Roggen Weizen
1925
im August 1926
im August 1929
im April 1930
im Mai 1931
10 30 30 30 35
20 70 50 50 50
50 70 70 70 75
100 150 120 150 150
180 200 160 200 250
Nach Ulrich Teichmann, Die Politik der Agrarpreisstützung. Marktbeeinflussung als Teil des Agrarinterventionismus in Deutschland, Köln-Deutz 1955, S. 267.
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Umstellungen und Strukturveränderungen wirkten sich begreiflicherweise auch auf die industrielle Erzeugung, vor allem auf die Konsumgüterindustrie aus. Schon vor 1929 ließ sich dies an verschiedenen Anzeichen erkennen, in Deutschland etwa am Rückgang der Kohlenförderung 74 und im Kohlenhandel und dann in der Textilindustrie, deren Absatz stark von Kaufkraftschwankungen abhängt und in besonderem Maße krisenanfällig ist. Zusammenfassend läßt sich mithin sagen, daß sich die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge in dem Jahrzehnt nach dem ersten Weltkrieg bei weitem nicht organisch entwickelt hatten, anders ausgedrückt: Sie blieben von beständigen Notlagengebieten aus unterhöhlt, bis der psychologische und materielle Effekt der hochgetriebenen und zusammengebrochenen Börsenspekulationen in Nordamerika eine weltweite Depression einleitete, was jedoch nicht sogleich erkannt wurde und deren Wirkungen gewiß nicht so verheerend gewesen wären, wenn es nicht schon große, sich ständig weitende Niedergangszonen in der Weltwirtschaft gegeben hätte. Die verstärkte Depression drang dann sehr rasch in benachbarte Bereiche vor und ergriff die gesamte Wirtschaft im Weltausmaß wie eine unaufhaltsam steigende Flut, gegen die keine Dämme errichtet sind. Die Frage nach den Ursachen der Großen Depression, die gemeinhin als Weltwirtschaftskrise bezeichnet wird — mit verschiedenartiger Betonung der Bestandteile des zusammengesetzten Begriffs — darf man nach dem Stand unserer Kenntnisse mit der Addition mehrerer Komplexe beantworten. Wie an der Reihe unserer Beispiele gezeigt worden ist, muß davon ausgegangen werden, daß die mit Entschiedenheit und großer Übereinstimmung in Amerika wie in Europa verfolgte Politik einer Stabilisierung der Weltwirtschaft nach der Vorstellung einer Rückkehr zur „Normalität" der Vorkriegszeit mißlang, offenbar zu keinem Zeitpunkt auch nur in die Nähe einer aussichtsreichen Verwirklichung gelangte und von Grund auf falsch angelegt und entwickelt war. Es gab allerdings Phasen des Aufschwungs und Bereiche progressiver Wirtschaftsentwicklungen, die über eine latente Instabilität hinwegtäuschten, doch nie wirklich Dauer versprechende Stabilität hervorbrachten. Von wirtschaftlicher Stabilisierung spricht man heute, etwa ein halbes Jahrhundert später, nach den hier geschilderten Zusammenhängen und 74 Auch der Index der Kohlenförderung in den Vereinigten Staaten zeigt seit 1927 einen stetigen Rückgang an, mit leichtem Aufschwung 1929. Historical Statistics of the U. S., I, S. 586.
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Ereignissen, seltener als vom wirtschaftlichen Wachstum; meistens ist auch Wachstum gemeint, wenn von „Stabilität" gesprochen wird. Dies mag neue Einseitigkeiten der wirtschaftlichen Denkweise enthüllen, die hier nicht erörtert werden sollen. Als Ideal und global gesehen, ließe sich wirtschaftliche Stabilisierung nur als stete und gemeinsame Annäherung von nach außen und innen ausgeglichenen Wirtschaftssystemen bezeichnen. Allerdings ist diese Vorstellung nicht zuletzt auch den Revisionen zu danken, die die Weltwirtschaftskrise und das, was nach ihr kam, bewirkten. Den Zeitgenossen war sie fremd. Schon vor längerem ist — unter dem Gesichtspunkt neuerer Erfahrungen — vermutet worden, daß eine sukzessive Änderung der Produktionsstruktur und eine Verlagerung der Investitionen nützlich gewesen wäre, wobei das zweite Moment das erste wohl hätte fördern können; von einer Sättigung allen Bedarfes in einem globalen Sinne konnte ernsthaft keine Rede sein. Das hätte in erster Linie wohl zunächst eine vermehrte Produktion von Konsumgütern und eine Stärkung der Konsumkraft, sekundär auch eine Stärkung der Binnenmärkte vorausgesetzt.75 Indessen fehlten hierzu alle Anzeichen und Bedingungen des Instrumentariums, der vorherrschenden Einsichten wie der Gesinnungen und gewiß auch der Kenntnisse, so daß diese kritische Hypothese ganz im Bereiche einer historia conditionalis bleibt; erkenntnisfördernd ist sie allerdings dennoch. Jederzeit fehlte es an irgendeiner Art eines Koordinationsrahmens der weltweiten Wirtschaftspolitik, dessen Notwendigkeit sich allerdings aus der Vorweltkriegszeit, deren Restauration betrieben wurde, auch nicht ergab. Die Wirtschaftskonferenz von Genua im April 1922 erbrachte keine wesentlichen Ergebnisse, die spätere Weltwirtschaftskonferenz in Genf (1927) nur wenig verbindliche; die letzte, die in London (1933) zustandekam, endete als völliger Fehlschlag. Weder die frühen Versuche der alliierten Mächte durch einen „Obersten Wirtschaftsrat" Kontrollen und Rohstoffversorgung der Kriegszeit fortzuführen, noch die umfangreichen wirtschaftlichen Bestimmungen der Friedensverträge ließen wirksame, entwicklungsfähige Ansätze zu einer Erneuerung der europäischen oder gar der weltweiten Wirtschaft entstehen, was Keynes 1919 als die wahre, aber in Wirklichkeit verfehlte Aufgabe der Pariser Friedenskonferenz bezeichnet hatte. Ebensowenig waren die vielfältigen Probleme der ausgedehnten Reparationsverpflichtung Deutschlands ge75 Dies ist eines der zentralen Argumente in der Kritik von John Kenneth Galbraith, The Great Crash, 1929, Boston/London 1955; hierzu Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 223 f.
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eignet, Kooperationen in einem systemhaft aufbauenden Sinne zustande zu bringen. Aufs Ganze gesehen, verweist die vorgebrachte Kritik letztlich auf zwei verschiedene, aber zusammenwirkende Sachverhalte: einmal auf die Bewertung der Arbeitsproduktivität — entweder ausschließlich oder vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Exportsteigerung, bei nachgebenden Weltmarktpreisen, unter den Bedingungen der beibehaltenen Produktionsstruktur — und zum anderen auf eine vereinseitigte Richtung der Investitionen, der eine mangelhaft leitende und organisierte Kreditpolitik zugrundelag. Die ebenso verbreitete wie begründete Kritik an dem Kreditkurs — sowohl der Diskontpolitik als auch den Offenmarktoperationen — der Federal Reserve Banks in den Vereinigten Staaten läßt sich schließlich im Hinblick auf die europäischen Zentralbanken wiederholen und in gewissem Umfang verallgemeinern. Die Hoffnungen, die in die Wiederherstellung des Goldstandards — in der Form des Golddevisenstandards — gesetzt wurden, hatten sich nicht erfüllt, obgleich die Zentralbanken zum ersten Male in der Geschichte eine Stellung innehatten, in der ihnen, eben nach Wiederherstellung des Goldstandards, faktisch die größten Aufgaben zuwuchsen. Allerdings existierten kaum eindeutige Kriterien und Prinzipien für die Entwicklung einer aufeinander abgestimmten monetären Politik. Zweifellos gelangten die großen Banken mit internationalen Geschäftsverbindungen zu hohem Ansehen und Einfluß. Doch die den Zentralbanken zugefallenen Leistungsaufgaben beanspruchten im Grunde einen höheren Rang. Sicherlich zeitigten ihre Bemühungen eine ganze Reihe von Erfolgen. Die Aktenüberlieferungen, die die Tätigkeiten der beiden bedeutendsten Präsidenten der Deutschen Reichsbank, Hjalmar Schacht und Hans Luther, bezeugen, enthalten umfängliches Material über arbeitsreiche Verbindungen und stetige Verhandlungen mit den Zentralbankleitungen und Großbankiers anderer Staaten; und dies dürfte ein beliebiges Beispiel sein. Doch offenbar war das Instrumentarium bei weitem noch zu schwach und unzureichend, um eine fortgesetzte Annäherung zu verbesserten Lösungen der Währungs- und Kreditprobleme der Zeit zu erreichen. Wahrscheinlich genügten auch die Persönlichkeiten nicht, sofern man es vertretbar fände, aus dem historischen Rückblick post festum der Art und dem Umfang ihrer Tätigkeiten personale Normen gegenüberzustellen oder entgegenzuhalten. Von einflußreichen Bankiers, die wiederholt als angesehene Sachverständige bei der Regelung zwischenstaatlicher Finanzprobleme, auf Ver-
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anlassung oder Empfehlung der größeren Zentralbanken tätig wurden, sind schließlich vor dem unerbittlich forschenden amerikanischen Senatskomitee für Banken und Währungen später Tatsachen bekannt geworden, die geeignet sind, nachträglich auch das Vertrauen, das führende Kräfte des internationalen Bank- und Währungssystems genossen, infrage zu stellen. Von Albert Henry Wiggin, dem Präsidenten der Chase National Bank, der 1931/32 das internationale Wiggin-Komitee zur Endregelung der deutschen Reparationszahlungen leitete, konnte behauptet werden, daß er während des Börsenkrachs in New York Aktien der eigenen Bank verkaufte, nachdem er anderen Bankiers den Kauf eben dieser Aktien angeraten hatte; und Charles E. Mitchell, der Präsident der National City Bank in New York, wurde sogar vor Gericht der Steuerhinterziehung für schuldig befunden.76 Die genannten Banken waren die beiden größten und angesehensten Banken New Yorks. Die Liste ließe sich verlängern. Auf die Anzeichen der Wirtschaftsschwäche in einer Reihe von Ländern, die Hoover später hervorhob, aber auch in den Vereinigten Staaten, reagierten die Zentralbanken jedenfalls nicht in erkennbarer Weise, die Großbanken Amerikas nur insoweit, als sie die Auslandskredite stark reduzierten, was die verhängnisvollsten Auswirkungen auf die Wirtschaft der betroffenen Länder zeitigte. Die Konzentration von annähernd der Hälfte des Weltbestandes an Gold in den Vereinigten Staaten und das Schwinden der Goldbestände anderer Länder zwang schließlich die Notenbanken außerhalb Amerikas bis zum Abwertungssignal der Bank von England und der Aufgabe des Goldstandards 1931, entweder wachsende Devisenbestände zur Währungsdeckung heranzuziehen, was die ständige Hereinnahme zunehmender Devisenbeträge verlangte, oder die umlaufende Geldmenge zu reduzieren, also eine Restriktionspolitik zu verfolgen, die die Rezession nur verstärkte. Wenn während der Konjunktur der zwanziger Jahre die große Kreditexpansion und auch jene Verschuldung, die einer höheren wirtschaftlichen Vernunft deutlich widersprach,77 76 Myers, Financial History, S. 313. Sorgfältig abwägende Urteile über die Persönlichkeiten an der Spitze der Federal Reserve Systems bei Milton Friedman, Anna J. Schwartz, Monetary History, S. 414—418; W. C. McNeil, American Money, S. 39 ff. Zu Wiggin im nächsten Bande. 77 Über die amerikanischen Auslandskredite, die den Schlüssel der Entwicklung bildeten, schreibt M. Myers, a. a. O., S. 295: „Federal Reserve officials had little knowledge of the foreign field. In the United States there were few well-developed channels, for the handling of foreign securities, and few experts to evaluate such offering". Häufig wurden hohe Provisionen für die Kreditvermittlung zu günstigen Bedingungen auch an ausländische Politiker und hohe Beamte gezahlt. Vor allem „blühte" das hier nicht des näheren zu behandelnde Geschäft mit Staaten Lateinamerikas in diesem Sinn. a. a. O., S. 296; auch
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von den Zentralbanken bereitwillig hingenommen wurden, so sahen sie sich schließlich angesichts des Goldabflusses und des Devisenbedarfs, die eine Verengung des Geldmarktes bewirkten, nur noch als Gefangene eines Systems, dem die wirtschaftliche Strangulierung drohte. Gewiß lag ein entscheidendes Problem darin, daß sich nicht mit annähernder Sicherheit sagen ließ, wo der Zeitpunkt lag, an dem diese Interdependenz der Währungsbeziehungen von einer generellen Hausse zu einer allgemeinen Baisse führen würde. Die Optimisten blieben, post festum gesehen, viel zu lange unbekümmert. Wenn auch die Kontroverse über die Frage noch anhält und ungeklärt scheint, welche Hauptursache der Krise zur Großen Depression der Weltwirtschaft führte, 78 so bleibt doch die Feststellung, die wir für wichtiger halten, daß auch im fortgeschrittenen Stadium der Krise, als ihre Wirkungen nicht mehr verborgen waren, sogar bis zuletzt weder zielbewußte noch gemeinsame Bemühungen von selten der Banken wie Staatsmänner unternommen oder auch nur angebahnt wurden, um dem Übel mit vereinten Anstrengungen zu begegnen.79 Viel näher lag manchen handelnden Politikern der Gedanke, Erscheinungen wie Folgen der Krise zu instrumentalisieren und zugunsten eigener politischer Ziele zu nutzen.
Melchior Palyi, Twilight, S. 205 ff.; Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 296 f.; vgl. Friedman, Schwartz, Monetary History, S. 269. „Despite good intentions and nagging worries, the American government was not able to formulate a coherent system for supervising the foreign loans," urteilt jetzt McNeil, a. a. O., S. 35. 78 Vgl. David S. Landes, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart (Übers, aus dem Engl.), München 1983, S. 361-369, 565; Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 311 ff.; für das amerikanische Zentrum die Kontroverse zwischen M. Friedman, A. J. Schwartz, Monetary History, und M. Palyi, Twilight, S. 310 f., 337 f. 79 Dieses hier allgemein formulierte Urteil drängt sich nach dem Studium deutscher Akten und nach den bedeutenden Darstellungen der amerikanischen Verhältnisse auf. Die französische Seite läßt sich in dieser Hinsicht noch nicht abschließend beurteilen; der zweite Band des Werks von A. Sauvy, Histoire économique de la France entre les deux guerres, Paris 1967, das die Jahre 1931 — 1939 behandelt, ist zwar ausführlicher als der erste, aber schon seiner Anlage nach zu wenig aufschlußreich. Für England sind jetzt bemerkenswerte, verhältnismäßig klar vorausschauende Gutachten zu verzeichnen, die dieses Land von unserem allgemeinen Urteil doch in einigen Hinsichten ausnehmen. Eine deutliche Beurteilung des „long time-lag" der Wirkung der klar erkannten weltweiten „Handelsdepression" enthalten schon die ersten Berichte des Committee on Economic Outlook (Vorsitzender J. M. Keynes) vom April bzw. Mai 1930, abgedruckt im Anhang zu Susan Howson, Donald Winch, The Economic Advice during Depression and Recovery, Cambridge 1977, S. 165-180.
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Allen Urteilen muß mithin hinzugefügt werden, daß auch die geistigen und politischen Kräfte der Bewältigung der Probleme einer erneuerten und fortgebildeten Weltwirtschaft nicht gewachsen, daß sie hinter dem Standard eines verselbständigten internationalen Wirtschaftssystems zurückgeblieben waren und mit der von ihnen in Gang gesetzten Nachkriegsentwicklung selbst nicht Schritt zu halten vermochten. Wenn schon die Große Krise damals gelegentlich als eine „Reinigungskrise" betrachtet und bezeichnet wurde, 80 so trifft dies doch eigentlich nur in diesem Betracht wirklich zu. Von der „Weltwirtschaftskrise" ging in den nächsten zehn Jahren die größte und nachteiligste Wirkung auf den Geist und auf die Politik der Zeit aus. Sie stimulierte die seit dem Weltkrieg zu beobachtende Suche nach neuen Wegen auch in der Wirtschaft, unter Managern und Wirtschaftswissenschaftlern; dies gab schließlich aber auch jenen Prognostikern und politischen Kräften neuen Auftrieb, die stets das Ende des Kapitalismus vor Augen wähnten und den seit achtzig Jahren vorausgesagten Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft nun endlich unwiderruflich gekommen sahen. Nicht nur das sowjetische Beispiel schien jetzt zugunsten stärkerer Abschrankungen der Nationalwirtschaft, entschiedener Kontrollen des Staates und bilateral begründeter Außenhandelskanäle zu sprechen: für ein neues Wirtschaftssystem unter staatlicher Beaufsichtigung oder gar für die Utopie einer weitgehend abgeschlossenen nationalen Wirtschaftsordnung, die natürlich einen starken Staat voraussetzte.
So wiederholt von Reichsbankpräsident Luther und anderen. Für Amerika vgl. die allgemeinen Bemerkungen von Friedman, Schwartz, Monetary History, S. 409. 80
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ZWEITES
KAPITEL
Die kritische Stabilisierung in Deutschland Innerhalb des Rahmens der weltwirtschaftlichen, die deutsche Entwicklung nicht nur nachhaltig beeinflussenden, sondern zeitweilig determinierenden Beziehungen der Nachkriegszeit treten zwei Komplexe besonders hervor: einmal die starke und zunächst unbegrenzte deutsche Schuldverpflichtung — des Deutschen Reiches als Generalschuldners — durch die Reparationsbestimmungen des Friedensvertrages von Versailles, die durch den Pariser Zahlungsplan 1921 genauer definiert und erst nach der Ruhrkrise durch das Dawes-Abkommen 1924 fürs nächste wirtschaftlich tragbar gemacht wurde; alsdann die Stellung und Struktur einer trotz der verhältnismäßig raschen Industrialisierung seit dem späten 19. Jahrhundert doch noch von der Kriegs- und der Vorkriegszeit her bedeutend und politisch einflußreich gebliebenen Landwirtschaft, die sich alsbald mit aller Kraft den Weltmarktbedingungen zu entziehen suchte. Innerhalb des Zusammenhanges der weltweiten Schuldverpflichtungen und ihrer Organisation sah sich Deutschland als Hauptschuldner unfreiwillig in eine neuartige Position gewiesen, in der es sich ständig weiter verschuldete, kommerziell wie politisch, und zur Abtragung der inneren Schuld kaum eine andere Lösung als die einer Inflation 81 mit anschließender Währungsreform blieb. Zumindest in der Form der Entwicklung bis Anfang 1923 schien die deutsche Inflation ein verhältnismäßig naheliegender, wenn nicht gar unvermeidlicher Weg einer eng mit der Reichspo-
81 Karl Helfferich, der bedeutendste Währungs- und Finanzpolitiker der nationalen Rechten, hat dies später als Prinzip der Politik Erzbergers dargestellt und als „ärgste Form der Proletarisierung" verurteilt. Vgl. Williamson, Karl Helfferich, S. 382. Zur Inflation nunmehr die grundlegende Arbeit von Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914—1923, sowie die Sammelbände von Otto Büsch und Gerald D. Feldman (Hrsg.), Historische Prozesse der deutschen Inflation 1914—1924. Ein Tagungsbericht (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 21), Berlin 1978; Gerald D. Feldman, Carl-Ludwig Holtfrerich, Gerhard A. Ritter, Peter-Christian Witt (Hrsg.), Die deutsche Inflation, Berlin/New York 1982; auch Feldman, Iron and Steel in the German Inflation, 1916—1923, Princeton, N.J. 1977; und jetzt ders. (Hrsg.), Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte.
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litik verknüpften Geldpolitik der alten Reichsbank, der zur Schuldentlastung mit Hilfe der Notenpresse führen sollte; doch dadurch, daß die Reichsbank in wachsender Zahl Handelswechsel diskontierte, löste sie in der außenpolitischen Krise 1922/23 die Hyperinflation aus. Die Reichsfinanzen befanden sich bei Kriegsende in schier auswegloser Situation. 82 Forderungen für die Kriegs- und Rüstungslieferungen der hiermit beauftragten Industrien wurden in aller Regel nicht im voraus oder laufend mit der Lieferung beglichen, sondern erst später, nach Rechnungsprüfung durch die hiermit betrauten Instanzen, bezahlt. Hieraus ergab sich ein beträchtlicher Überhang an Schuldverpflichtungen, neben denen das Reich seine langfristigen Kriegsschulden und inneren Kriegsfolgelasten abtragen und sofort mit Reparationsleistungen beginnen mußte, ohne daß die junge Republik imstande gewesen wäre, durch das neu geschaffene, teilweise stark einschneidend wirkende Steuersystem, das mit dem Namen Erzbergers verbunden ist, auch nur annähernd die erforderlichen Mittel zu beschaffen. Der grundlegende Gedanke, daß innere Schulden (ζ. B. Kriegsanleihen) eine Volkswirtschaft — durch Verminderung des Sozialprodukts, der Zinsleistungen, des Unternehmergewinns wie der Löhne, die sonst bei produktiver Verwendung des Kapitals entstünden, — stärker belasten als eine nach einfachen Zins- und Amortisationsberechnungen langfristig bediente Auslandsverschuldung, lag dann einem Sachverständigengutachten von 1924 zugrunde. Dieser Gedanke wurde im Reichswirtschaftsministerium ebenso beachtet wie die vorher maßgebende These, daß die 82 Die Auseinandersetzung mit dem Versuch, eine — von heute aus gedachte — moderne wirtschaftspolitische, auf Wirtschaftswachstum und gerechte Verteilung angelegte Konzeption der ersten Regierungen der Weimarer Republik zu rekonstruieren, muß bis zur Aufweisung der Quellen zurückgestellt werden. So der interessante und in einigen Teilen anregende Beitrag von Peter-Christian Witt, Staatliche Wirtschaftspolitik in Deutschland 1918—1923. Entwicklung und Zerstörung einer modernen wirtschaftspolitischen Strategie, in: Die deutsche Inflation, S. 151 — 178, der gerade die thematisierte Problematik kaum mit greifbaren Nachweisen belegt. Im übrigen sollte die Bedeutung der europäischen Wende nach der gescheiterten Weltwirtschaftskonferenz von Genua nicht unterschätzt werden. Neuerdings ist nachgewiesen worden, daß schon dem ersten kurzen Nachkriegsaufschwung der deutschen Wirtschaft in den Jahren 1920 und 1921 ein beträchtlicher privater, ausländischer, namentlich amerikanischer Kapitalexport, vornehmlich von Krediten auf Mark-Basis zugrunde lag, für die Jahre 1919 — 1923 etwa 4,5 Milliarden Goldmark aus den Vereinigten Staaten. C.-L. Holtfrerich, Amerikanischer Kapitalexport und Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft 1 9 1 9 - 1 9 2 3 im Vergleich zu 1 9 2 4 - 1 9 2 9 , in: Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, hrsg. von Michael Stürmer, Königstein/Ts. 1980, S. 131 — 157; zu den Fehl- und Rückschlägen, die zur Wende 1922 führten, genügen schon die Hinweise von Kindleberger, Keynesianism, S. 178.
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Tilgung der inneren Schuld durch Inflation leichter tragbar sei als äußere Schulden.83 Nach dem gescheiterten Anlauf der Weltwirtschaftskonferenz von Genua84 kam es erst mit dem Ende der Inflationsperiode zu einer Kooperation zwischen Deutschland und den Gläubigerstaaten. Die Währungs- und Ruhrkrise und der Zusammenbruch des deutschen Finanzsystems in der Hyperinflation führten 1924 zu einer Wende in der Reparationspolitik, zu einer Revision der Zahlungsmodalitäten durch den als Experiment durchgesetzten Dawes-Plan und — was zunächst das Wichtigste war — zur Auflegung einer internationalen Anleihe von 800 Millionen Goldmark, die dem Deutschen Reich gewährt wurden. Von nun an flössen zahlreiche Anleihen nach Deutschland und wurden die Reparationsverpflichtungen pünktlich erfüllt. Mit diesem Stabilisierungsexperiment, das auch in den Beratungen der Präsidenten der Zentralnotenbanken unter dem Vorsitz von Benjamin Strong eine Art inoffizielles oberstes Koordinationsinstrument entwickelte, wurde .das Tor zu neuem Kapital- und Wirtschaftsverkehr wie auch zur politischen Annäherung zwischen Kriegsgegnern, Siegern und Besiegten, und Neutralen geöffnet. Diese Stabilisierungsbemühungen zeitigten einige in Europa für die nächsten Jahre durchaus greifbare Erfolge. Kriegs- und Inflationsfolgen insgesamt führten zu einer beträchtlichen Vermögensvernichtung und -Umschichtung, die zwar in den anderen am Kriege beteiligten europäischen Staaten andeutungsweise in ähnliche Richtung voranschritt, aber in Deutschland rascher und ungleich radikaler in Erscheinung trat. 85 Der Anteil des Arbeitseinkommens am Volkseinkommen betrug 1913 noch nicht ganz 50 Prozent, 1925 aber fast 65 Prozent. Entsprechend ging der Anteil des Besitzeinkommens von mehr als 50 auf wenig mehr als 35 Prozent zurück. Gleichzeitig verdünnte sich die Schicht der Höchsteinkommensbezieher; gemeint sind Jahresein83 Vgl. den nicht veröffentlichten Teil aus der Reihe des Statistischen Reichsamtes: Materialien zum internationalen Finanz- und Wirtschaftsvergleich, Teil X, BA, RD 75/ 12-10. 84 Über Bedeutung und Folgen des Fehlschlags der Konferenz von Genua im Rahmen der internationalen Beziehungen Carole Fink, The Genoa Conference. European Diplomacy, 1921 — 1922, Chapel Hill, N.C./London 1984; nach der älteren Tübinger Diss, von Gisela Libai, Aspekte der britischen Deutschlandpolitik 1919—1922, Göppingen 1972; für die deutsche Seite Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, S. 1 6 8 - 1 7 3 , 177 ff. 85 Vgl. Material zum internationalen Finanz- und Wirtschaftsvergleich; Teil VI: Volkseinkommen und Volksvermögen, bearb. vom Statistischen Reichsamt, als Manuskript gedruckt 1929, S.lOff.
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kiinfte in Höhe von 50000 Mark und mehr. Sie behaupteten 1913 einen Anteil von 8,4 Prozent aller Einkommensbezieher, 1925 dagegen nur noch von 2,8 Prozent. Die Kaufkraft der Reichsmark war zudem geringer als die der Vorkriegsmark; die Realwerte verhielten sich etwa 140 zu 100. Gleichzeitig vergrößerte sich aber die Schicht mit den geringsten Einkünften beträchtlich und nahm ihr Anteil am Gesamteinkommen erheblich zu. Jahreseinkünfte unter 3000 Mark bezogen 1913 knapp z ¡¡, 66,2 Prozent aller Einkommensbezieher; 1925 verfügten 78,6 Prozent über Einkünfte unter 5000 RM, was bei Zugrundelegung des Lebenshaltungskostenindex etwa der Vorkriegsstufe bis 3000 Mark entsprach. Arbeiter, Bauern, kleine und mittlere Angestellte, kleine Gewerbetreibende, untere und mittlere Beamte, auch kleine und mittlere Funktionäre von Interessengruppen und Gewerkschaften gehörten hierzu.86 Die untere Schicht innerhalb der Einkommenspyramide hatte sich mithin in kurzer Zeit erheblich verbreitert und erfaßte fast 4 / 5 aller Einkommensbezieher. Das erklärt, daß in politischer Hinsicht der Druck, der von hier ausging, wuchs und sich in Phasen der wirtschaftlichen Gefahrdung noch steigern konnte. Die psychologischen Auswirkungen der hieraus folgenden Prozesse sind bekannt.87 Sie wurden allerdings auf alliierter Seite, auf der
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Die Tendenz zur „Proletarisierung des .neuen Mittelstandes'", wie er sie summarisch nennt, schon während des Krieges ist für Beamte und Angestellte durch Belege und Beispiele von Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg 1914—1918 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 8), Göttingen 1973, S. 71 —85, nachgewiesen worden. Die oben genannten Zahlen beziehen einen Teil der fortschreitenden Aufwertungsfolgen ein. Einen unentbehrlichen Einblick in die komplizierten rechtlichen Regelungen gibt Richard Michaelis, Das Aufwertungsrecht nach den Aufwertungsgesetzen und nach allgemeinem bürgerlichen Rechte, Berlin/Leipzig 1926, bes. S. 497-506. 87 Dies, allerdings in anderem politischen Kontext, deutlich charakterisiert von P.-C. Witt, Staatliche Wirtschaftspolitik, S. 158: „... auch die Bevölkerung konnte nicht darüber hinweggetäuscht werden, daß die materiellen Ressourcen nicht größer, sondern kleiner geworden waren. Das änderte aber nichts daran, daß weite Teile der Bevölkerung einen Erwartungshorizont entwickelten, der, soweit er sich nur an der Zielsetzung einer höheren Verteilungsgerechtigkeit orientierte, völlig legitim war, zugleich aber von unrealistischen Vorstellungen über die realen güterwirtschaftlichen Verhältnisse ausging." Der hier ausgesprochene, nicht weiter reflektierte und auch nicht lösbare Widerspruch zwischen „legitimen" Erwartungen und realen Bedingungen unterstreicht das ganze Problem, das sich bis in die Gegenwart als konstitutiv für Parteiengegensätze und -konfrontationen erweist. Es besteht in der eklatanten Diskrepanz zwischen dem Faktum, daß Deutschland als Nationalstaat die Folgen eines verlorenen Krieges zu tragen hatte, während die sozialdemokratische Führung in den breiten Schichten den Glauben zu erhalten versuchte, der bis heute auch in der Historiographie vorherrscht, daß die Revolution die unteren Schichten von der Vergangenheit befreit, die Demokratie geschaffen habe und dadurch den Anspruch auf
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man die Inflation ebenfalls als ein probates Mittel zur Beseitigung der inneren Schulden zu betrachten geneigt war, völlig ignoriert. Im Grunde ist auch dort der lange Schatten der Kriegs- und Inflationsauswirkungen als Gesamtkomplex in Deutschland erst während der Großen Depression stärker beachtet und nach dem bekannten Buch von Bresciani-Turroni88 weithin anerkannt worden. Aber nicht nur durch diese Umschichtungen von geschichtlicher wie politischer Tragweite ist das innere Sozialgefüge von Grund auf verändert und sind die großen Massen einkommensschwacher Schichten, die Teile eines zuvor gesichert erscheinenden besitzenden Mittelstandes in sich aufgenommen hatten, gewissermaßen — in den Vorstellungen einer sozialen Stratigraphie — von oben her verstärkt worden. Auch die Entwicklung während des Krieges und dann des Zusammenbruchs, die arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Meliorationen89, vor allem die erhebliche Verbesserung der Stellung der Gewerkschaften, die sich schon in der Kriegswirtschaft ergeben hatte,90 die Steigerung des Reallohnniveaus und zuletzt, seit Ende 1918, die prinzipielle, wenn auch nicht einheitliche Einführung des Acht-Stunden-Tages, führten im Ergebnis insgesamt zur Verteuerung des Faktors Arbeit im wirtschaftlichen Prozeß, der
einen stetig 2unehmenden Anteil der breitesten Schichten an der Verteilung des Volkseinkommens legitimiere. 88 Die größere Wirkung ging allerdings von der späteren englischen Übersetzung aus: Costantino Bresciani-Turroni, The Economics of Inflation. A Study of Currency Depreciation in Post-War Germany, London 1937, 2. Aufl. 1953; die italienische Ausgabe erschien 1931. Entgegnungen der modernden theoretisch-analytischen Wirtschaftswissenschaft von Jorgen Pedersen und Karsten Laursen, The German Inflation 1918 — 1923, Amsterdam 1964, S. 88, 97 ff.; vgl. auch Werner Abelshauser, Inflation und Stabilisierung. Zum Problem der makroökonomischen Auswirkungen auf die Rekonstruktion der deutschen Wirtschaft, in: Büsch/Feldman (Hrsg.), Historische Prozesse, S. 161 —174. Zu den psychologischen Depressionen der Nachkriegszeit auf das Sekuritätsbedürfnis Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, The War and German Society. The Testament of a Liberal (Economic and Social History of the World War, German Series), New Haven 1937, S. 249 ff., 285 ff. 89
Zur rechtlichen Seite Hans-Hermann Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918 — 1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 23), Berlin 1967. 90 Friedrich Zunkel, Industrie und Staatssozialismus. Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland (Tübinger Schriften zur Sozial- und Zeitgeschichte, 3), Düsseldorf 1974; Gerald D. Feldman, Army, Industry, and Labor in Germany 1914—1918, Princeton, N.J. 1966; ders., German Business Between War and Revolution. The Origins of the Stinnes-Legien-Agreement, in: Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschr. für Hans Rosenberg, S. 312—341.
Die kritische Stabilisierung in Deutschland
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zwangsläufig Bedeutung und Gewicht des Faktors Kapital beeinträchtigte. Dies bedeutete, daß das Verhältnis zwischen diesen beiden Faktoren noch kritischer wurde, als es vor dem Kriege war und daß es sich zwangsläufig noch mehr anspannte und das System belastete, sobald das Kapital sich verteuerte bzw. knapper wurde. Die infolge des Krieges veränderten, zugunsten der Arbeitnehmerseite und der Gewerkschaften verbesserten rechtlichen und politischen Voraussetzungen sprachen nicht dafür, daß sich ein soziales „Equilibrium" durch eine internationale partielle Wiederherstellung der „Normalität" nach Vorkriegsmuster, überhaupt durch irgendeine Rückkehr oder Wiederherstellung auf längere Sicht erreichen oder erhalten ließ. 91 In Aussicht standen allenfalls Atempausen oder maßvolle Übergänge, ohne daß Ziele und Richtungen geklärt waren. Alles in allem läßt sich sagen: Die Höchsteinkommen waren auf eine verschwindend geringe Gruppe beschränkt, die Prozesse der inneren Kapitalbildung infolgedessen beengt. Dies führte, neben der Reparationsverpflichtung, zu einer neuen auswärtigen Verschuldung durch die Aufnahme ausländischer Kapitalien, an der nun zunehmend auch die öffentliche Hand partizipierte, neben den Ländern und dem Reich auch die Kommunen. Diese neue Auslandsverschuldung nahm bis 1930 von Jahr zu Jahr zu und erhöhte sogar den Netto-Kapitalstrom aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland.92 Die Reichsfinanzpolitik versuchte sich durchzulavieren, ohne die Steuerlast noch mehr zu vergrößern; denn die Belastung der Kapitalseite, der Unternehmungen durch Steuern, war in jeder der rechtlichen Unternehmensformen beträchtlich höher als in den Vereinigten Staaten, England, Frankreich und auch Italien, wie ein 91 Einen interessanten Versuch, den sozialgeschichtlichen Rahmen eines internationalen Vergleichs für das Nachkriegsjahrzehnt darzustellen, der allerdings noch etlicher Untersuchungen im Detail bedarf, stellt das Werk von Charles S. Maier dar, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton, N.J. 1975. 92 Dies ist im einzelnen für die amerikanische Seite nachgewiesen worden, was nun in der Tat eine Besonderheit der amerikanisch-deutschen Beziehungen — auch mit politischen Wirkungen — darstellt, von Stephen A. Schuker, American .Reparations' to Germany, 1 9 1 9 - 1 9 3 3 , in: Feldman (Hrsg.), Nachwirkungen der Inflation, S. 3 3 5 - 3 8 4 . Die Zahlen ähnlich bei Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 106 — 116. Beide Autoren ziehen hierzu Charles S. R. Harris, Germany's Foreign Indebtedness, Oxford 1935, heran. Die amerikanischen Exportkredite der Jahre 1919 — 1923 (ca. 4,5 Milliarden Goldmark) sind allerdings als „Subvention" und nicht als Kapitalexport im eigentlichen Sinne zu beurteilen, wie CarlLudwig Holtfrerich dargelegt hat, Amerikanischer Kapitalexport und Wiederaufbau, in: Stürmer (Hrsg.), Die Weimarer Republik, S. 1 3 1 - 1 5 7 .
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internationaler Steuerbelastungsvergleich ergab, den das Statistische Reichsamt in Verbindung mit dem Reichswirtschaftsministerum anstellte, in seinen wesentlichen Teilen aber nicht veröffentlichte. 93 Hierzu kamen die Verteuerungen der Arbeit sowie Zins- und Tilgungslasten nach Aufnahme von Auslandskapital. Dies alles wirkte kostentreibend, so daß der Reichsfinanzpolitik der Ausweg der wirtschaftlich wirksamen Steuererhöhungen im allgemeinen versagt war und nur der Ausweg des kurzfristigen Kassenausgleichs offen stand, sobald die Reichseinnahmen hinter den Erwartungen und Bewilligungen des Reichstags zurückblieben. Diese Finanzpolitik konnte allerdings nur gegen den mehr oder minder entschiedenen Widerstand der Sozialdemokraten durchgesetzt werden. Nach dem Scheitern des Sozialisierungsgedankens — sogar in seinen bescheidenen Ansätzen —, teils an inneren Widersprüchen, aber auch am Widerstand der unentbehrlichen parlamentarischen Koalitionspartner, des Zentrums und der Deutschen Demokratischen Partei,94 und nach der Erzbergerschen Finanzreform bestand die SPD auf einer fortschreitenden Belastung der besitzenden Schichten durch die Steuerpolitik. Sie versuchte also, die im Gefolge des Krieges und der Inflation zutage getretenen Tendenzen durch weitere Einschnitte in die Vermögensverhältnisse zu erweitern und zu verschärfen. Einerseits wurde der Gesichtspunkt der für die Wirtschaftsentwicklung erforderlichen Kapitalbildung als Interessenstandpunkt des Kapitals, was er freilich auch war, abgetan. Andererseits sollte der stetige Ausbau der Sozialpolitik und die Stärkung der Konsumkraft durch Erhöhung der Löhne und Minderung der Lohn-, Einkommens- sowie der Verbrauchsbesteuerung der Arbeitnehmer, bei ständigem Haushaltsausgleich unter Verzicht auf Anleihen, als ausschließliches Erfordernis einer Finanzpolitik zur „Wirtschaftsgesundung" gel93 Material zum internationalen Finanz- und Wirtschaftsvergleich, Teil VIII: Finanzund Steuerbelastungsvergleich, 2. Berichtigungsabzug vom 31.12. 1928 (153 + 93 S.), BA, Nachl. Popitz; veröffentlicht wurde unter diesem Titel lediglich die einleitende „Grundlegung", bearbeitet im Reichswirtschaftsministerium, 1929 (7S.), BA, RD 75/12—8. 94 Vgl. Susanne Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918 — 1920 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 63), Düsseldorf 1978, S. 156 ff., 362 f. Zu den Gegensätzen innerhalb der SPD-Führung jetzt David E. Barclay, The Insider as Outsider: Rudolf Wissel's Critique of Social Democratic Economic Policies 1919 to 1920, und William Carl Mathews, The Continuity of Social Democratic Economic Policy 1919 to 1920: The Bauer-Schmidt Policy, in: Gerald D. Feldman, CarlLudwig Holtferich, Gerhard A. Ritter, Peter-Christian Witt (Hrsg.), Die Anpassung an die Inflation (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 67), Berlin/New York 1986, S. 4 5 1 - 4 7 1 , 4 8 5 - 5 1 2 .
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ten 95 . Natürlich war dies ebenfalls Interessenpolitik einseitiger Art, die bereits die SPD immer wieder zwangsläufig in die Isolierung führen mußte. Diese Interessenpolitik zugunsten der größten Zahl und ihre Absicherung wurde von ihr schlechthin mit der .Demokratie' identifiziert; sie folgte einem pragmatischen Ziel, das man, in Abwandlung des berühmten Topos von Jeremy Bentham, als größten Einfluß oder größte Macht der größten Zahl im Zeitalter des allgemeinen gleichen Wahlrechts bezeichnen könnte. Soweit die Reichsfinanzpolitik Kompromisse — notgedrungen mit beiden Seiten 96 — schloß, blieb der Haushaltsausgleich auf Anleihen angewiesen, die überwiegend aus dem Ausland, vornehmlich aus den Vereinigten Staaten kamen. Doch das Reparationsleistungs-Anleihenaufnahme-System, das definitiv 1924, nach der Stabilisierung der Reichsmark aufgebaut wurde, forderte die dauernden Angriffe der nationalistischen Rechten heraus, die hierin eine charakteristische Seite des aus der Staatsumwälzung hervorgegangenen „Systems" des Verfassungsstaates von Weimar erblickte und mit überspitzten Vokabeln verketzerte. Sie übersah Vgl. Rosemarie Leuschen-Seppel, Zwischen Staatsverantwortung und Klasseninteresse. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der SPD zur Zeit der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung der Mittelphase 1924—1928/29 (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe: Politik und Gesellschaftsgeschichte, 9), Bonn 1981, bes. S. 103 f., 127 ff., 211 ff. Wie wenig die sozialdemokratischen Prinzipien der außen- und reparationspolitischen Situation Rechnung trugen, mag man daraus ersehen, daß man bis heute auf Urteile stößt, die den ersten alliierten Zahlungsplan vom Mai 1921 maßvoll oder realistisch finden (trotz mancher zeitgenössischer Kritik auch auf alliierter Seite): „Für eine Nation, die entschlossen war, den Inlandsverbrauch genügend zu beschränken, um die Abgaben [zunächst ohne zeitliche Begrenzung] aufzubringen, stellte dieser Betrag keine unerträgliche Belastung dar." Schuker, Frankreich und die Weimarer Republik, in: Stürmer (Hrsg.), Weimarer Republik, S. 99. Es waren nicht nur „die Magnaten im Ruhrgebiet", die eine solche Entschlossenheit „der Nation" verhinderten und die schlichte Konsequenz aus dem „brutalsten aller Kriege" (19801) ablehnten, „irgend jemand würde zahlen müssen". Dieser Aufsatz des originellen und geistreichen Autors enthält eine Sammlung geschliffener Formulierungen, die seine Urteile auf das Schlagwort bringen. Die völlige Ausschaltung von Innen- und Sozialpolitik bei der Erforschung der Reparationspolitik erscheint indessen überholt, auch bei der Darstellung der französischen Pläne und Entscheidungen, wie sie zuletzt in einem umfangreichen Werk von Marc Trachtenberg, Reparation in World Politics. France and European Economic Diplomacy 1916 — 1923, New York 1980, versucht und gar zum Grundsatz erklärt worden ist; anders schon Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. 96 Dieses wirtschaftliche wie politische Erfordernis des ständigen Kompromisses wird in der Interpretation von Claus-Dieter Krohn, Stabilisierung und ökonomische Interessen. Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1923 — 1927 (Studien zur modernen Geschichte, 13), Düsseldorf 1974, verkannt. 95
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geflissentlich — und wußte es wohl auch nicht besser —, daß diese Kompromißpolitik den einzigen Weg darstellte, um die inner- wie außenpolitische Stabilisierung der nächsten Jahre der „Ära Stresemann" zu erreichen. Das Dawes-Komitee hatte 1924 die Reparationsfrage innerhalb eines Programms zur Stabilisierung der deutschen Währung und zum Ausgleich des Reichshaushalts geregelt, wie es seinem Auftrag entsprach. Mit dem Schlußprotokoll der Londoner Konferenz vom 16. August 1924 fiel die Entscheidung, deren Ausführung Sache der deutschen Politik, zunächst des deutschen Gesetzgebers war. 97 Dies bedeutete im Grunde bereits einen Fortschritt in dem zähen Nachkriegs ringen um die Reparationen, deren „machtpolitisch-offensive Komponente" 98 in wirtschaftshistorischen Betrachtungen leicht übersehen wird, in jüngerer Zeit aber doch als Schlüssel zum Verständnis der französischen Politik erkannt und ergründet worden ist, 99 die, wechselhaft und sprunghaft anfanglich, die Reparationspolitik als Fortsetzung eines gegen Kriegsende von manchen Gesetz über die Londoner Konferenz vom 30. April 1924 (RGBl. II 1924, S. 289). Clemens A. Wurm, Frankreich, die Reparationen und die interalliierten Schulden in den 20er Jahren, in: Feldman (Hrsg.), Nachwirkungen der Inflation, S. 317, im Anschluß an eine treffende Formulierung von Charles S. Maier, The Truth about the Treaties, in: Journal of Modern History, 51 (1979), S.58. 99 Verschieden weit greifende Thesen hierzu sind in der Forschung kontrovers, wobei man gerechterweise jene Zweige übergehen sollte, die auf moralische Verurteilungen der französischen Politik hinauslaufen, weil sie die Überlegenheit der Position des siegreichen Kriegsgegners nutzte, um sich gegen eine künftige und voraussehbare Überlegenheit Deutschlands zur Wehr zu setzen. Was bleibt, trägt in jüngerer Zeit zu einer differenzierten Beleuchtung der offenkundig anhaltenden — im wirtschaftlichen Bereich gegenüber der Vorkriegszeit sogar verstärkten — Rivalität beider Staaten bei. Hier sind zu nennen: der einleitende erste Teil von Jon Jacobson, Locarno Diplomacy. Germany and the West 1925-1929, Princeton, N.J. 1972, bes. S. 2 6 - 3 5 („The Security of France and Her Allies"); neuerdings die zusammenfassenden kritischen Literaturberichte von dems., Strategies of French Foreign Policy after World War I, in: Journal of Modern History, 55 (1983), S. 78—95; ders., Is There a New International History of the 1920s? in: American Historical Review, 88 (1983), S. 617 —645; am weitesten gehend Jacques Bariéty, Das Zustandekommen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft als Alternative zum mißlungenen .Schwerindustriellen Projekt' des Versailler Vertrages, in: Hans Mommsen, Dieter Petzina, Bernd Weisbrod (Hrsg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 543 —552; Bariéty, Les relations franco-allemandes après la première guerre mondiale, Paris 1977; danach Georges Soutou, La France et les marches de l'Est, 1914-1919, in: Revue Historique, 260 (1978), S. 3 4 1 - 3 8 8 ; Walter A. McDougall, France's Rhineland Diplomacy, 1914—1924. The Last Bid for a Balance of Power in Europe, Princeton, N.J. 1978, bes. S. 11, 24, 72—81; auch Gitta Steinmeyer, Die Grundlagen der französischen Deutschlandpolitik 1917-19, Stuttgart 1979, S. 129ff. 97
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Politikern erträumten „dismembering the Reich" 100 verfolgte. Erst allmählich reifte die Einsicht, daß „Frankreichs Sicherheit ... letztlich nicht von Frankreichs Macht und Stärke, sondern von der innenpolitischen Entwicklung in Deutschland" abhing. 101 Hierzu bedurfte es aber der Erfahrungen des Fehlschlags der Ruhrbesetzung sowie der Abhängigkeit vom internationalen Finanzsystem in der Spekulationswelle und Währungskrise Frankreichs von 1924. 1 0 2 Die deutsche Außenpolitik 103 fand sich jedoch — ebenso wie die Innenpolitik — nach wie vor zwischen Parteien und Interessengruppen eingezwängt, von SPD und äußerster Rechter (zunächst der großen Mehrheit der DNVP) in die Zange genommen, die beide mit den außenpolitischen wie außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht übereinstimmten. Vereinfachend und vergröbernd wurde der Grundsachverhalt nach dem Londoner Schlußprotokoll von der rechten Opposition gegen die Reichsregierung Marx, die das Protokoll angenommen hatte und im Reichstag eine bürgerliche Koalition aus Zentrum, Demokraten und Volksparteilern hinter sich wußte, auf den Generalnenner der polemisch bewerteten „Erfüllungspolitik" gebracht und die Reparationsver100 Jacobson, Locarno Diplomacy, S. 27; ergänzend und differenzierend jetzt Jacques Bariéty, Die französische Politik in der Ruhrkrise, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, 2. Aufl. Paderborn 1986, S. 14 ff. 101 Wurm, Frankreich, S. 319. 102 Hierzu Stephen A. Schuker, The End of French Predominance in Europe. The Financial Crisis of 1924 and the Adoption of the Dawes-Plan, Chapel Hill, N.C. 1979; sowie Beiträge zu einem Colloquium, abgedruckt in dem Heft „La politique économique extérieure de la France dans l'entre-deux guerres", Relations Internationales, 13 (1978): Jean-Noël Jeanneney, De la spéculation financière comme arme diplomatique. A propos de la première bataille du franc (novembre 1923 — mars 1924), dort S. 5—27; Jean-Claude Debeir, La crise du franc de 1924: Un exemple de spéculation .internationale', S. 29—49; Clemens A. Wurm, Die französische Sicherheitspolitik in der Phase der Umorientierung 1924—1926, Frankfurt a. M. 1979; schließlich Jacobson, Locarno Diplomacy, Teil I. 103 Neuere kritische Darstellungen Ernst Laubach, Die Politik der Kabinette Wirth 1921/22, Lübeck/Hamburg 1968; Hermann-Josef Rupieper, The Cuno Government and Reparations 1922—1923. Politics and Economics, Den Haag/Boston/London 1979; jetzt der große Überblick von Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, hier S. 229—247; im Hauptteil allerdings 1930 endend; auch ders., Die Auswirkungen der Inflation auf die deutsche Außenpolitik, in: Feldman (Hrsg.), Nachwirkungen der Inflation, S. 296 —314; und auf der multilateralen Ebene Jacobson, Locarno Diplomacy. Ansätze zu einer Untersuchung der Meinungsbildung in der deutschen Presse enthält die — allerdings methodisch wie sachlich unzulängliche — Kölner Dissertation von Kurt A. Holz, Die Diskussion um den Dawes- und [den] Young-Plan in der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 1977, S. 8 6 - 1 1 3 .
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pflichtung kurzhin als „Tributzahlung" diskreditiert. In der heftigen wie alltäglichen Polemik, die sich dieser Ausdrücke bediente, gingen teilweise begründete Urteile, nationalistische Empfindungen gegenüber den Kriegsgegnern, die Opposition gegen die Republik und ihre jeweiligen, parlamentarisch fundierten Regierungen eine unterschiedslose Verbindung ein; die Tatsachen fanden keine sorgsame Beachtung. Ähnliches geschah freilich im Erregungszustand innerhalb demokratischer Staaten immer wieder und bei weitem nicht nur in Deutschland. Die historische Fatalität lag darin, daß die entfesselte Polemik, die bald die Masse der Wähler in ihren Bann schlug, die Existenz der eben gegründeten, noch kurzlebigen Republik in Frage stellte. Die Probleme — und auch wirkliche Schwächen — der Regierungen und der von ihnen verfolgten Politik wurden nicht innerhalb eines Konsensus verfolgt, in dem das Wesen des Staates und die Grundsätze seiner Verfassung feststanden, sondern in Gegensätzen und Gegnerschaften gegen die Republik und ihre Verfassung akzentuiert — gegen das „System", wie man schließlich auf Seiten der Nationalsozialisten sagte. Doch der Vorteil gegenüber dem letzten völkerrechtlich geregelten Stand von 1922 1 0 4 war beträchtlich. 104 Der erste Plan der Reparationskommission, der dem Londoner Ultimatum vom 5. Mai 1921 zugrundelag, das der Reichstag binnen sechs Tagen annehmen mußte, bezifferte die deutsche Reparationsschuld noch auf 132 Milliarden Goldmark, die jährlich zu 6 Prozent verzinst und getilgt werden sollten. Für jedes Jahr waren zwei Milliarden Goldmark und außerdem der Erlös einer Abgabe in Höhe von 26 Prozent aller deutschen Ausfuhren festgesetzt. Um pünktliche Zahlungen — nach Vorauszahlung von einer Milliarde Goldmark — zu sichern, wurde eine Reihe von Regelungen getroffen, über die ein Garantieausschuß in Berlin wachte, während England das Recht eingeräumt wurde, auf seinen Anteil an der Ausfuhrabgabe selbst die Hand zu legen. Der Stundungsantrag des Reichskanzlers vom 14. Dezember 1921 und die sich daran anschließenden Auseinandersetzungen mit der Reparationskommission führten im März bzw. Mai 1922 zu einem Kompromiß, der die geforderten Leistungen nach dem Zahlungsplan zwar nicht herabsetzte, aber einen Aufschub der 1922 vorgesehenen Raten, bei zusätzlicher Verzinsung der Differenz zuließ. Unter den deutschen Gegenvorschlägen verdient die Gewährung einer Auslandsanleihe, mithin der Gedanke einer Vorfinanzierung Beachtung. Notenwechsel zwischen dem Reichskanzler und der Reparationskommission, Archiv der Friedensverträge, Bd. I, Mannheim/ Berlin/Leipzig 1923, S. 103—152; dort auch weitere Aktenstücke zur Reparationspolitik der Alliierten 1922; Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik: Die Kabinette Wirth I und II, bearb. von Ingrid Schulze-Bidlingmeier, Boppard 1973, Bd. 1, S. 463—469, 623 ff., Bd. 2, S. 782—788, 791—811. Zum neueren Forschungsstand Peter Krüger, Deutschland, die Reparationen und das internationale System in den 20er Jahren, in: GWU 33 (1982), S. 405 —419; neuerdings ders., Außenpolitik, S. 122—133. Nur knappe Darstellung der französischen Berechnungsmodalitäten ohne weitere Einzelheiten bei A. Sauvy, Histoire économique I, S. 141 ff. Zur Entstehungsgeschichte der Reparationen Fritz Dickmann, Die Kriegsschuldfrage auf der Friedenskonferenz von Paris 1919 (Beiträge zur europäischen
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Der Dawes-Plan und die auf ihn folgenden Regelungen trugen die Prägung amerikanischer Interessen durch Wirtschaftssachverständige, vor allem Owen D. Young und Charles G. Dawes, vielseitige Juristen, Wirtschaftsmanager, Bankiers und Politiker, die sich eine fundierte Meinung über die deutsche Wirtschaft gebildet hatten, einen offeneren, für die Vereinigten Staaten zweifellos günstigeren Weltmarkt herzustellen beabsichtigten und in engen Kontakten mit deutschen Regierungsvertretern einen Kompromiß schufen, der die deutsche Wirtschaft reparationsleistungsfahig erhalten, aber auch am Weltmarkt beteiligen sollte. Das eine war ohne das andere allerdings kaum möglich. 105 Damit erhielt die Stärkung der deutschen Wirtschaftskraft Vorrang, was französische Politiker und Wirtschaftsleute befürchtet und zu verhindern versucht hatten. Wenn man länger befristete Reparationsverpflichtungen Deutschlands — in Anbetracht seiner Niederlage — für ein zwangsläufiges und unvermeidliches Durchgangsstadium innerhalb der Entwicklung der internationalen Politik und der Weltwirtschaft nach dem ersten Weltkrieg hält, wofür doch manches und wogegen nur wenig spricht, dann erscheinen wohl die Vorschläge von Young, die die Grundlage des nach dem Älteren, Dawes, benannten Planes bildeten, als hart, aber die wesentlichen Teile der Gesamtkonstruktion doch als einfallsreich und realistisch. Er erkannte, daß nicht die Höhe der Annuität, die Summe der jährlichen Zahlungen Deutschlands, sondern der an einen stabilen Wechselkurs — und an eine stabile deutsche Währung — gebundene Transfer in die Währungen der Reparationsgläubiger das Hauptproblem bildete und daß die Überführung aus deutscher Valuta in Devisen der Gläubigerstaaten bzw. in Gold kaum kontinuierlich oder beliebig möglich sein, sondern aller Voraussicht nach Zahlungsstaus verursachen werde. Sie sollten durch Einleitung in die deutsche Wirtschaft aufgelöst und in Gestalt verzögerter Ratenleistungen in die Gläubigerstaaten kanalisiert wer-
Geschichte, 3), München 1964; Gerhard Schulz, Revolutionen und Friedensschlüsse 1 9 1 7 - 1 9 2 0 (Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 2), 6. Aufl. München 1985, S. 2 0 9 - 2 1 6 ; Peter Krüger, Die Reparationen und das Scheitern einer deutschen Verständigungspolitik auf der Pariser Friedenskonferenz im Jahr 1919, in: HZ, 221 (1975), S. 3 2 6 - 3 7 2 ; französisches Standardwerk Etienne Weill-Raynal, Les réparations allemandes et la France, bes. Bd. I, Paris [1938] ios w e r n e r Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921—32, Düsseldorf 1970, S. 249 ff.; knapper Gerd Hardach, Weltmarktorientierung und relative Stagnation. Währungspolitik in Deutschland 1924—1931 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 27), Berlin 1976, S . 4 4 f .
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den. 106 Dieser originelle Gedanke löste die größeren Probleme gewiß nicht grundsätzlich und theoretisch. Entscheidend blieb jedoch, daß die amerikanische Seite nicht mehr an einer Niederhaltung, sondern am Wachsenlassen, sogar an einer Förderung der deutschen wirtschaftlichen Entwicklung interessiert war, aber auch, daß sie weniger als die deutsche von einer langfristigen Sicht dieser Lösungen ausging, sondern lediglich an Lösungen für die Frist weniger Jahre dachte oder gar mit einem noch früheren Erweis der Undurchführbarkeit des Zahlungsplanes rechnete. 107 Auch in den Bestimmungen über die Befugnisse des Transferkomitees und die starke Stellung seines Vorsitzenden, des Generalagenten für Reparationszahlungen, und schließlich in der in einem englisch-französischen Abkommen vereinbarten Ernennung eines Amerikaners gelangte der entscheidende Einfluß der amerikanischen Seite zum Durchbruch. Dem kam die deutsche Außenpolitik angesichts der Stärke der Vereinigten Staaten in der Reparationspolitik bereitwillig entgegen. Von ihnen konnte im Konfliktsfalle eine zurückhaltende oder vermittelnde Haltung erwartet werden. Die deutsche Befürchtung „gefahrlicher Experimente der Franzosen an Rhein und Ruhr" 108 hatte auf amerikanischer Seite durchgeschlagen. Das gesamte Reparationssystem — die normativen Regelungen einschließlich ihrer Handhabungen — war in seiner Kompliziertheit eher zur Diskussion unter erfahrenen Bankiers und Wirtschaftswissenschaftlern geeignet, fand jedoch in der politischen Polemik stets größte Beachtung, wenn auch in einer meist sehr grob vereinfachten Weise. Die ausländischen Kontrollen über Reichsbank und Reichsbahn durch ein Übergewicht der Vertreter der Gläubigermächte im Generalrat der Reichsbank bzw. im Aufsichtsrat der Reichsbahn, die man in eine Aktiengesellschaft umgewandelt hatte, wurden ebenso kritisch und polemisch aufgenommen wie die Berichte und Stellungnahmen des amerikanischen Reparationsagenten, so daß diese Institutionen zu heftig umstrittenen Politika herabsanken. Hinzu traten die unmittelbare Belastung der Reichsbahn bis zur Hälfte ihres Wertes und schließlich der gesamten deutschen Industrie Link, a.a.O., S.253. Bei einer Ansammlung von mehr als 5 Milliarden RM nicht transferierbarer Reparationsguthaben sollte die Reparationszahlung vorübergehend eingestellt werden. 107 Dies die wichtige und belegte These von Link, a. a. O., S. 250, 254 f. 108 Staatssekretär v. Schubert, 23. Oktober 1923, zit. von Krüger, Außenpolitik, S. 328; britisch-französisches Abkommen über die Anwendung des Dawes-Planes vom 9. Juli 1924 in vollem Wortlaut abgedruckt in: Archiv der Friedensverträge, Bd. II, Mannheim/Berlin/ Leipzig 1926, S. 539 ff. 106
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durch Obligationen, für die die Zinsleistungen wie Tilgungsraten auf dem Reparationskonto einzuzahlen waren. Die Reichsbahn erfüllte ihre Verpflichtung durch Zinszahlungen und eine zweckgebundene Verkehrssteuer, die Industrie durch eine nach dem Umsatz aufgeschlüsselte Umlage. Der größte Anteil an den wachsenden Annuitäten entfiel jedoch auf das Reich, das entsprechende Zahlungen in den Haushalt einstellen und für deren Aufbringung Einnahmen aus Zöllen und einigen Verbrauchssteuern im voraus verpfänden mußte. Am Anfang stand jedoch die Auslandsanleihe an die deutsche Regierung in Höhe von 800 Millionen RM, die es ihr erlauben sollte, die Währung zu stabilisieren und die ersten Reparationszahlungen zu leisten, von denen der größte Teil auf Sachleistungen entfiel, die die Industrie ausführte und die Reichsregierung bezahlte. Der Generalagent konnte auf Rechnung des Reparationskontos Sachleistungen der deutschen Industrie veranlassen; zudem hatte sich die englische Regierung schon vorher, danach auch die französische das Recht der unmittelbaren Verfügung über eine besondere Abgabe gesichert, die auf deutschen Exporten und Dienstleistungen für England bzw. Frankreich lag. 109 Fraglos mußte sich dies insgesamt als Belastung des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems auswirken; aber die Regelungen waren doch derart, daß sie zunächst einen Aufschwung der industriellen Wirtschaft in Gang brachten und alsdann gewisse Vorsorgen trafen, daß dieser Aufschwung nicht durch eine Überlast an Reparationszahlungen wieder abgebrochen wurde. Freilich blieb die Aufbringung selbst letztlich von der Konjunktur, von der Produktivität der deutschen Wirtschaft abhängig oder, in den Worten des Sachverständigengutachtens: Um die Stabilität aufrechtzuerhalten, mußte nicht nur der Haushalt ausgeglichen sein; die „Gewinne im Ausland müssen die Zahlungen ausgleichen", auch die Reparationszahlungen.110 Bevor die weitere Entwicklung der Reparationsproblematik zu verfolgen ist, erscheint es geboten, die deutsche industrielle Wirtschaft in der Stabilisierungsphase während der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre näherer Betrachtung zu unterziehen. Die führenden Kräfte ihrer größten 105 Kurze klare Übersicht mit Zahlenaufstellung Hardach, Weltmarktorientierung, ebda.; vgl. Link, Stabilisierungspolitik, S. 255 f. 110 Zit. von Rudolf Stucken, Schaffung der Reichsmark, Reparationsregelungen und Auslandsanleihen, Konjunkturen (1924—1930), in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Währung und Wirtschaft in Deutschland 1 8 7 6 - 1 9 7 5 , Frankfurt a. M. 1976, S. 258. Zu weiteren Einzelheiten der Reparationsproblematik Eckhard Wandel, Die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Amerika für das deutsche Reparationsproblem, 1924—1929, Tübingen 1971.
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Unternehmen wie ihrer Verbände sahen ihre hervorragendste Aufgabe in der Rückeroberung respektabler Anteile am Weltmarkt, die sie unter den neuen Konkurrenzverhältnissen aber nur auf geschmälerter Basis erfüllen konnten. Günstigere Möglichkeiten der Produktion und Kalkulation ließen sich allein durch scharfe Rationalisierung, Kostensenkung und zielbewußte Standardisierung schaffen; dies erforderte Reorganisationen und Investitionen, Umstellungen und Aufwendungen, also Kapital. Die meisten Zweige der Industrie zeigten sich am Exportgeschäft interessiert; ihre Exportabhängigkeit, die Exportbedingtheit ihrer Kapazitäten und Produktionen war schon in der Vorkriegszeit, etwa seit 1890, feststehende Tatsache geworden. 111 Der Krieg, der zwar Umstellungen verlangte, aber doch nur wenig Einbußen, mehr Erweiterungen gebracht hatte, galt nur als Unterbrechung, konnte in dieser Hinsicht ebensowenig zu einer Revision führen wie die nachfolgenden Wechselbäder der Inflations- und Spekulationsphase. 112 Die sozialen Kosten des hintergründig Hierfür Walther G. Hoffmann u.a., Wachstum der deutschen Wirtschaft, S. 158f. Differenzen in der Bewertung ergeben sich zwischen den Darlegungen von Wolfram Fischer und Peter Czada, Wandlungen in der deutschen Industriestruktur im 20. Jahrhundert, in: Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft, S. 116—165, und Knut Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume, der seine These von der „kranken" Wirtschaft der Jahre 1925 — 1929 auf die — im Vergleich mit 1913 — stagnierende Produktivität und das geringe Wachstum der Gesamtwirtschaft, bei harten „Verteilungskämpfen", stützt, deren Ergebnisse in der Anhebung des Reallohnniveaus, in der Zunahme des privaten Pro-Kopf-Verbrauchs um 16 Prozent (in 15 Jahren), und des „staatlichen Verbrauchs pro Kopf gar um 34 Prozent" ablesbar seien. Dagegen hatten Fischer und Czada in Deutschland eine gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten zwar zurückbleibende, aber den Index von 1913 seit 1927 beträchtlich übertreffende Industrieproduktion und eine — nach Industriezweigen unterschiedene, aber überall erhebliche — Zunahme der Arbeitsproduktivität (je Arbeitsstunde) von 1926 auf 1930 festgestellt (a. a. O., S. 130, 134, 136). Beide Autoren ziehen in größerem Umfang die statistischen Werke von W. G. Hoffmann und seiner Schule heran und beziehen die Bundesrepublik in die Datenreihe ein. — Beim Vergleich globaler Zahlen ist freilich stets Vorsicht geboten. Die Gründe für die hier bezeichneten Differenzen liegen einmal in der Beschränkung der in Vergleich gezogenen Zahlenwerte auf das Gebiet der heutigen Bundesrepublik bei Fischer und Czada, während Borchardt die Ergebnisse seiner Zahlenreihen auf das jeweilige Staatsgebiet bezieht und sie vom deutschen Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik durchzieht. Da auf diese Weise die in das alte Gebiet des Deutschen Reiches gehörenden strukturellen Sonderprobleme Mittel-und Ostdeutschlands, einschließlich der agrarischen Ostprovinzen, einbezogen sind, ergibt sich zwangsläufig eine gegenüber dem FischerCzada-Verfahren pejorative statistische Reihe. Anders ausgedrückt: Die Bundesrepublik innerhalb ihrer Grenzen stellt bereits einen um wirtschaftsgeschichtliche Problembereiche bereinigten Teil des Deutschen Reiches dar, so daß stetige Vergleichungen in durchlaufenden Zeitreihen ebensowenig stichhaltig sind wie Bezugnahmen auf das Jahr 1913 als Indexbasis und Normjahr. Ein weiteres Problem stellt die Veranschlagung des „Staatsver111 1,2
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immer noch umstrittenen Achtstundentages und des seit der Vorkriegszeit allmählich ansteigenden Lohnniveaus mußten ebenso getragen und rentabel gehalten werden wie die Aufbringung des Staates für die inneren und äußeren Kriegsfolgelasten und für eine allgemeine Arbeitslosenfürsorge. Schon vor der Einführung der einheitlichen Arbeitslosenversorgung nach dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927 ergaben sich im internationalen Vergleich der Steuerbelastungen erhebliche Nachteile für die deutsche Bevölkerung und für
brauchs" dar, worunter der Verbrauch der öffentlichen Hand, unter Einschluß der Kommunen, umgesetzt in Pro-Kopf-Zahlen, zu verstehen ist. Wenn auch dies unter „Verteilungskämpfen" figuriert, so sind dann auch solche einbezogen, die zwischen öffentlichen Verwaltungen ausgekämpft werden — in einem Nebeneinander und Gegeneinander einer „fast unübersehbaren Vielheit untereinander nicht hinreichend verbundener Willensträger mannigfachster Art und verschiedenster rechtlicher Qualifikation": neben den Reichsinstanzen 17 Länder, 65000 Gemeinden und Gemeindeverbände, 7427 Krankenkassen, 116 Berufsgenossenschaften, 13 Invalidenversicherungsanstalten, die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenfürsorge und andere Anstalten mit eigenem Haushalt und eigener Hausmacht. Johannes Popitz hat dies als „Polykratie" der Willensträger der öffentlichen Finanzwirtschaft bezeichnet. Erstmals Popitz, Der Finanzausgleich und seine Bedeutung für die Finanzlage des Reichs, der Länder und Gemeinden (Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie), Berlin 1930, S. 6. Dies ist die unvorhergesehene Realität eines „Verteilungskampfes", in dem auch Konsumbelastungen den Absatzerwartungen der Unternehmer und den durch steigende Löhne ausgelösten Kaufkrafterwartungen der Arbeitnehmer entgegenstanden. Schließlich müssen die schon im Kriege herbeigeführten Anhebungen des Reallohnes und die Einführung der 48-Stundenwoche als irreversible Revisionen des Wirtschaftssystems, d. h. als ebenfalls zwangsläufig in der kontinuierlichen Progression der statistischen Reihen intermittierende Momente in Betracht gezogen werden, die sich dann auf die Dauer gar nicht erheblich von ähnlichen sprunghaften Veränderungen in anderen großen Industrieländern unterschieden. Infrage steht mithin der Maßstab brauchbarer und überzeugender Vergleichungen. Die Verhältnisse und Bedingungen des Referenzjahres 1913 ergeben ihn unter diesen Umständen jedenfalls nicht. Hiergegen hat Borchardt übrigens auch an anderer Stelle entschiedene Einwände vorgebracht, die allerdings noch der methodischen Klärung auf der Suche nach angemessenen Modellen bedürfen: Borchardt, Trend, Zyklus, Strukturbrüche, Zufalle: Was bestimmt die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts?, in: VSWG, 64 (1977), S. 145-178. Über Konjunktur und Stagnation der deutschen Wirtschaft in den zwanziger Jahren schon früher Borchardt, Wachstum und Wechsellagen 1914—1970, in: Hermann Aubin, Wolfgang Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 704 f. (Von Spätsommer 1926 bis Spätsommer 1927 „eine beispiellose Explosion der Aktivitäten"); Dietmar Petzina, Werner Abelshauser, Zum Problem der relativen Stagnation der deutschen Wirtschaft der zwanziger Jahre, in: Hans Mommsen, Dietmar Petzina, Bernd Weisbrod (Hrsg.), Industrielles System, S. 57—76; auch Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977, S. 8 4 - 9 6 . 7
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deutsche Unternehmen. 113 Allerdings ermöglichte die Konstruktion der Umsatzsteuer eine Steuerausweichung auf dem Wege über vertikale Betriebskonzentrationen — durch Zusammenfassung mehrer Produktionsstufen und Ausschaltung von Groß- und Zwischenhandelsstufen —, die für größere wirtschaftliche Organisationen in Gestalt von Konzernen, Syndikaten oder auch Genossenschaften zu Buche schlugen und daher ausländischen Konkurrenten gegenüber Vorteile bringen konnten. 114 113 Der vom Statistischen Reichsamt in Verbindung mit dem Reichswirtschafts- und dem Reichsfinanzministerium angefertigte Steuerbelastungsvergleich gelangte Ende 1928 zu folgenden Ergebnissen: Aus 37 verschiedenen Steuern, Zöllen und Gebühren in einer Gesamthöhe von 13,031 Milliarden RM im Haushaltsjahr 1927/28 flössen dem Reich insgesamt 9,332 Milliarden RM und den Ländern und Gemeinden 3,699 Milliarden RM zu. Das entsprach einem Verhältnis von 71,6:28,4 Prozent. Im Vergleich zu den vorausgegangenen Haushaltsjahren war der Anteil des Reiches stetig leicht angestiegen; der der Länder und Gemeinden hatte — bei absoluter Zunahme des Gesamtertrags — entsprechend nachgegeben. Dies lag in erster Linie an den zunehmenden Aufkommen der ertragsstärksten, aber konjunkturabhängigen Steuer, der Einkommensteuer, die 1927/28 nahezu 30 Prozent des gesamten Steueraufkommens in die Kassen des Reiches lenkte. Auch der Ertrag der Zölle war sukzessiv angestiegen. Material zum internationalen Finanz- und Wirtschaftsvergleich, Teil VIII: Finanz- und Steuerbelastungsvergleich, bearbeitet vom Statistischen Reichsamt 1928, als Manuskript gedruckt, 2. Berichtigungsabzug 31.12.1928, nicht veröffentlicht, BA, Nachl. Popitz. — Im Vergleich mit anderen Ländern ergab sich, daß in Deutschland alle Einkommensarten stärker progressiv besteuert und viel eher durch höhere Steuersätze belastet wurden. Beispiele: Das jährliche Arbeitseinkommen eines unverheirateten Einzelverdieners in Höhe von 3000 RM wurde damals mit 7,53 Prozent Einkommensteuer belastet, ein Arbeitseinkommen in Höhe von einer Million RM mit 39,3 Prozent. Verhältnismäßig günstig wurden auch noch Einkommen aus Dividenden besteuert; bei 3000 RM betrug der Steuersatz 27,6, bei einer Million RM 43,97 Prozent. Bei allen übrigen Steuerarten setzte jedoch die 50-prozentige Besteuerung verhältnismäßig niedrig an und erreichte die Progression ganz andere Größenordnungen: bei Einkünften aus der Landwirtschaft des selbstwirtschaftenden Eigentümers (unter Einschluß der Umsatzsteuer) schon mit 47 000 RM (61,89 Prozent bei 1 Million RM), beim Pächter 45 Prozent bei 1 Million, beim Verpächter 50 Prozent schon bei 24 500 RM, 66,43 Prozent bei 1 Million RM. Die Einzelfirmen erreichten (mit der Umsatzsteuer) bei einem Einkommen von 12 000 RM eine Steuerbelastung von 50 und bei 1 Million RM von 67,19 Prozent. Die Einkünfte der Aktiengesellschaft wurden stets mit mehr als 50 Prozent besteuert und erreichten bei 1 Million eine Steuerbelastung von 63,85 Prozent. Vom Einkommen aus Wohnhäusern blieben nur hauszinssteuerfreie Objekte, also Neubauten, im Bereich von Steuersätzen, die unter der 50 Prozent-Marke ansetzten. Die auf Vermögen — Besitz — liegenden Steuern wurden also ungleich höher veranlagt als die Einkommen und Löhne der abhängigen und unabhängigen Beschäftigten (also Arbeitnehmer verschiedenen Grades und freie Berufe). 1,4 Johannes Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz in der Fassung vom 8. Mai 1926, 3. Aufl., neu bearb. unter Mitwirkung von Richard Kloß und Rolf Grabower (Die Deutschen Finanz- und Steuergesetze in Einzelkommentaren, 11), Berlin 1928, S. 22, 27 f., 39 f.
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Auch von dieser Seite her wurde die Rationalisierung durch Unternehmenskonzentrationen unterstützt, die in höheren Größenordnungen steuerlich diskutable Vorzüge versprachen. Doch dies konnten nur Mosaiksteine innerhalb eines Neuaufbaus sein. Um im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben, 115 bedurfte die Industrie erheblicher Investitionen, die nicht ohne bedeutende Kapitalzufuhren aus dem Ausland aufgebracht werden konnten. 116 Dies bildete die Voraussetzung dafür, daß die deutsche Wirtschaft einer — wenn auch im Weltmaßstabe bescheidenen — Konjunktur teilhaftig wurde. 117 Das Kapitalwachstum wurde durch die Belastungen mit den Reparationsleistungen nach dem Dawes-Plan zu einem Teil absorbiert. Die Transferierung der Annuitäten in Devisen, die an die Reparationsgläubiger Deutschlands abgeführt wurden, ermöglichten die Exporterlöse, deren fortlaufende Steigerung angenommen und veranschlagt wurde, so daß man auch die Annuitäten in progressiver Zunahme festgelegt hatte. Dieses Prinzip verlangte nach einem steten Wirtschaftswachstum, ohne daß die erwartete Zuwachsrate in Gänze dem deutschen Wirtschaftsorganismus zugute kam. Da der Anteil der vorgesehenen Annuitäten am Volkseinkommen von Anbeginn recht hoch angesetzt war, 118 blieb der 115 1930 erreichten die Exportquoten der chemischen Industrie Deutschlands 50 Prozent, des Schiffsbaus 49, des Maschinenbaus 42, des Bergbaus 28, der eisenschaffenden Industrie 25 und der Elektroindustrie 22 Prozent der Gesamtproduktion. Fischer, Czada, Wandlungen, S. 130. 116 Der Anteil der Auslandskredite an den Neuinvestitionen belief sich insgesamt auf ca. ein Drittel. So Gerhard Kroll, Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, Berlin 1958, S. 43ff., auf Grund der Untersuchung von Günther Keiser und Bernhard Benning, Kapitalbildung und Investitionen in der deutschen Volkswirtschaft (Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderh. 22), Berlin 1931. 117 Für diesen Exportaufschwung einige charakteristische Zahlen: Der durchschnittliche Reichsbankdiskontsatz ging von 1924 bis 1927 von 10 auf 5,8 Prozent zurück (Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1930, S. 160); der Aktienindex des Statistischen Reichsamtes stieg von 1925 bis 1927 von 93,3 auf 158 Prozent (a.a.O., S.378), die Summe der Spareinlagen bei öffentlichen und privaten Sparkassen von 595, am Jahresende 1924, auf 9.016 Millionen RM im Jahre 1929 (S.275, 373). Der Anteil Deutschlands am gesamten Welthandel stieg von 1926 bis 1928 von 7,9 auf 9,4 Prozent (S. 89); die Steuer- und Zolleinnahmen stiegen von 742 Millionen im Haushaltsjahr 1924/25 auf 1005 Millionen 1929/30 (S. 470). Das Volkseinkommen belief sich 1925 auf 54,3 Milliarden (gegenüber 62,2 im Jahre 1913), 1929 auf 62,7 bis 65,4 Milliarden RM, ausgedrückt in Werten der Kaufkraft von 1925; das waren pro Kopf der Bevölkerung 100 bzw. 113 — 118RM (a. a. O., S. 532). 118 Die transferierten deutschen Reparationsleistungen auf Grund des Dawes-Planes beliefen sich 1929 auf 1978 Millionen RM (Stat. Jahrb. 1930, S. 476). Dies entsprach einem Anteil am Volkseinkommen von etwa 3,2 Prozent. Zum Vergleich: Das Aufkommen aus
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permanente Abzug nicht ohne Wirkungen auf den deutschen Geldmarkt, da „ein riesiger, bisher ungedeckter Bedarf an langfristigen Anlageinvestitionen vorhanden war" 119 . Der Wachstumsorganismus bedurfte notwendig der Zufuhren von außen, die auch von der deutschen Wirtschaftspolitik von Anbeginn angestrebt wurden und schließlich zu einem starken Engagement nordamerikanischer Finanzkreise in der Ära der Reparationszahlungen führten. 120 „Ordnungspolitische" Entscheidungen — wie man heute sagen würde — fanden nicht statt und kamen, angesichts der historischen Voraussetzungen wie des Standes von Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaften, gar nicht in Betracht. Doch es entwickelte sich eine Art wohlfahrtsstaatlicher Strukturpolitik, deren stärkste Komponente in der Kommunalpolitik der großen, aber auch mancher kleinerer Städte lag. Wie die Wirtschaft verlangten der Staat, Reich wie Länder, und die kommunalen Selbstverwaltungen in beträchtlichem Umfang nach Krediten, um die seit dem Weltkrieg gewachsenen Aufgaben und Pflichten auf dem Gebiete der Fürsorge, des darniederliegenden Wohnungsbaus, des Versorgungswesens und auch der Kulturpflege auf ansehnlicher Höhe erfüllen zu können. Mit Rücksicht auf die energisch verteidigte Begrenzung der Belastungen der Wirtschaft schien das Steueraufkommen der wichtigsten Produktionssteuern (Umsatzsteuer und Körperschaftssteuer) nach der Finanzreform Erzbergers kaum noch in nennenswertem Umfang steigerungsfähig. Der Ausweg aus dieser Zwangslage, die sich aus der harten Gegenwehr von links wie rechts ergab, wurde seit der Stabilisie-
den Steuern vom Einkommen (Einkommen-, Kapitalertrags- und Körperschaftssteuer) betrug im Haushaltsjahr 1928/29 insgesamt 3718 Millionen RM (S. 469). 119 R. Stucken, Schaffung der Reichsmark, S. 267. Die Summe der „Anstaltskredite" in Deutschland veränderte sich in folgender Weise (in Millionen RM): 31.12.1924
1927
1928
1929
Langfristige Kredite
5156
14000
17942
21174
Kurzfristige Kredite (nur Wechsel)
4561
7016
20410
22505
571
3373
5825
6258
Wertpapiere und Börsenkredite (ohne Effektendebitoren) Stat. Jahrb. 1930, S . 3 7 4 f .
120 Unter diesen Umständen wurde der Dawes-Plan wie seine Annahme von sachkundiger Seite in Deutschland zunächst entschieden begrüßt. Vgl. Carl Bergmann, Der Weg der Reparationen. Von Versailles über den Dawes-Plan zum Ziel, Frankfurt a. M. 1926, S. 310 ff.
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rung entschlossen beschritten; ihn bot der Anleihemarkt, 121 in wachsendem Umfang der ausländische Markt, mit Vorrang der amerikanische, 121 Aldcroft nimmt für Ende der zwanziger Jahre eine Steuerbelastung von 25 Prozent des Volkseinkommens an, von der die Reparationslasten nach dem Dawes-Plan etwa ein Zehntel, also 2,5 Prozent des Volkseinkommens, ausmachten. Derek H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 106. Dietmar Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977, S. 186, gibt für 1928 eine Steuerlastquote (Steuern und Zölle) von 18,2 Prozent des Volkseinkommens an, nach: Bevölkerung und Wirtschaft 1872—1972, S. 260. Im Jahresdurchschnitt 1925—29 beziffert Petzina den Anteil der öffentlichen Ausgaben am Nettosozialprodukt (mit Faktorkosten) mit 25,8 Prozent (a.a.O., S.81). Wollte man der Datensammlung von B. R. Mitchel folgen, European Historical Statistics 1750-1970, S. 719, 785 (nach verschiedenartigen Statistiken, NNP nach Walter G. Hoffmann, Wachstum der deutschen Wirtschaft), so ergäbe sich für 1928 — bei einem Nettonationalprodukt von fast 84 Milliarden RM — nur eine Steuerlastquote von 7,7 Prozent (absolut 6,5 Milliarden RM). Die sorgfaltige Aufstellung von Friedrich Raab, Die Entwicklung der Reichsfinanzen seit 1924, Berlin 1929, S. 115, gibt die Einnahmen des Reiches aus Steuern und Zöllen für das Haushaltsjahr 1928/29 mit rund 8,9 Milliarden RM an. In Anbetracht dieser Differenzen muß man die Frage nach der Höhe der realen Steuerlastquote vorerst auf sich beruhen lassen und auf künftige Untersuchungen mit Hilfe verbesserten methodischen Rüstzeugs hoffen. Aldcroft, der unter den genannten Autoren die höchste Steuerlastquote annimmt, vertritt die Auffassung, daß es möglich und, wirtschaftlich gesehen, besser gewesen wäre, wenn die Defizite der öffentlichen Haushalte durch Steuern statt durch Anleihen gedeckt worden wären, (a. a. O., S. 107). Das gleicht mutatis mutandis dem Argument, das häufig gegen die deutsche Finanzierung der Kriegführung vorwiegend durch (notgedrungen inländische) Anleihen vorgebracht wird und ist insofern — theoretisch-finanzwissenschaftlich — ernst zu nehmen. Geht man von dem „klassischen" Grundsatz der Finanzwissenschaft aus, daß (nur im engen Sinne) außerordentliche Ausgaben durch außerordentliche Einnahmen gedeckt werden dürfen, so ergäbe seine Anwendung, daß die mit ungünstigen Folgen verbundene Aufnahme von Kriegskrediten durch Anleihen verfehlt war, wie nun ebenso die Aufnahme von strukturfördernden Anleihen (vornehmlich ausländischen) in Friedenszeiten. Eine Reparationssteuer, etwa in Gestalt eines Zuschlags auf die ertragreichsten Steuern (der Einkommens- und — an die Preise weitergegebenen — Umsatzsteuer) hätte aber den Konsum und die Entgelte der Arbeitnehmer am meisten belasten müssen. Das wäre in der Weimarer Republik politisch nicht zu verwirklichen gewesen, da von den linken Parteien die Belastung der Verbraucher wie der Arbeitnehmer ebenso abgelehnt wurde wie von der Rechten generell die Belastung mit Reparations-, Kriegsfolge- und Soziallasten. Vgl. die gründliche Arbeit von R. Leuschen-Seppel, Zwischen Staatsverantwortung und Klasseninteresse. Es ist bekannt, daß jede weitere Belastung verpönt, auch später nur schwer und mit Hilfe der Präsidialgewalt durchführbar war (ζ. B. Kürzungen der Beamtengehälter — nach der Besoldungsreform von 1927 — durch die Regierung Brüning nach einer allgemeinen Lohn- und Preissenkung) und daß in der „großen Koalition", in Erwartung einer Herabsetzung der Reparationslasten, um die Minderung der Belastungen gerungen wurde. Vgl. Ilse Maurer, Reichsfinanzen und große Koalition. Zur Geschichte des Reichskabinetts Müller, 1928—1930 (Moderne Geschichte und Politik, 1), Bern/Frankfurt a.M. 1973, S. 61 ff., 66 f. Nach Aldcroft belief sich die gesamte öffentliche Schuld in Deutschland auf 24,2 Milliarden RM; davon seien etwas
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der sich seit 1924 zunehmend dem Kreditverlangen aus dem Deutschen Reich, den Ländern, Kommunen und öffentlichen Körperschaften öffnete. Mit Hilfe zahlreicher amerikanischer Anleihen von unterschiedlicher Laufzeit wurde mithin sowohl ein dringender Kapitalbedarf der deutschen Industrie gedeckt, der dazu diente, den Wirtschaftskreislauf anzuregen und Leistungsqualität wie -kapazität und Exportanteile der Produktion zu heben, als auch ein beachtlicher Teil des Geldbedarfs der öffentlichen Hand befriedigt. Unter diesen Voraussetzungen konnten sich ein bescheidener Wohlstand und ein überwiegend von Städten und Ländern gefördertes Kulturleben Deutschlands während der letzten zwanziger Jahre entfalten. Städte wie Berlin, Hamburg, Köln, München, Leipzig, Dresden, Frankfurt am Main, Stuttgart, Königsberg, Mannheim, Düsseldorf, Duisburg, Halle, Essen, Altona und Dessau förderten auf dem Gebiet des Städtebaus wie der modernen Architektur große und weithin beeindruckende Leistungen zutage, die schließlich auch in anderen Staaten respektiert und aufgenommen wurden — und ebenso wie auf anderen Gebieten der Kunst und Geisteskultur deutsche Konten eröffneten, die keine Geschichte der Reparationsleistungen, keine Wirtschaftsgeschichte und keine politische Geschichte jemals angemessen vermerkt hat. Die Bekämpfung der nach dem Kriege besonders spürbaren Wohnungsnot war eine der Hauptaufgaben städtischer Verwaltungen; die größeren Kommunen legten neue Wohnsiedlungen an, denen die Stadtplanung wie die Architektur neue Formen gaben. 122 Sie schufen Grünanweniger als 6 Milliarden RM 1925 — 1931 vom Ausland aufgebracht worden. Vgl. auch Gerd Hardach, Weltmarktorientierung und relative Stagnation. Währungspolitik in Deutschland 1 9 2 4 - 1 9 3 1 , Berlin 1976. Nach Wolfram Fischer, Deutsche Wirtschaftspolitik 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Opladen 1968 (mehrmals neu aufgelegt), S. 101, lag die Auslandsverschuldung des Reiches 1 9 2 6 - 1 9 2 9 bei rund 900 Millionen RM; sie stieg bis zum 31. März 1930 auf 1,1 und bis 1931 auf 3,3 Milliarden RM, während sich die Gesamtverschuldung des Reiches von 8,4 Milliarden (31. März 1926) 1931 auf 11 Milliarden RM vergrößerte. Der Anteil der Auslandsschulden stieg mithin von 10,7 auf 30 Prozent (Nach dem Reichsschuldennachweis in: Wirtschaft und Statistik, 1926 ff.). Hinzu kamen die Kreditbedürfnisse von Ländern und Gemeinden. 122 Hierzu und zum Folgenden die Beiträge in dem Sammelband von Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter. Beiträge zur modernen deutschen Stadtgeschichte, Wuppertal 1978, auch die dort enthaltene Bibliographie; zu den führenden Städtebauern und Architekten Fritz Schumacher, Bruno Taut und Ernst May findet man vieles in den einschlägigen Architekturgeschichten, so bei Norbert Huse, „Neues Bauen" 1918 bis 1933. Moderne Architektur in der Weimarer Republik, München 1975, sowie dem Beitrag von Carl-Wolfgang Schumann, in: Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer, Oberbürgermeister von Köln. Festgabe der Stadt Köln zum 100. Geburtstag ihres Ehren-
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lagen. Einige seit Jahrzehnten überfüllte Großstädte wie Hamburg und Berlin begannen mit der großzügigen Sanierung überalterter und unhygienischer Wohnquartiere — im Hamburger Fleetenviertel etwa —, mit der in der Bismarckzeit Frankfurt am Main angefangen hatte (Miquel und Adickes). Auch Bereiche, auf die sich vor dem Kriege in aller Regel die kommunale Investitionstätigkeit nicht erstreckte, bezog man ein: Die innerstädtischen Verkehrssysteme wurden großzügiger fortgeführt und auf die Stadtrandgebiete ausgedehnt, neue Verkehrs- und Nachrichtenkommunikationsmittel eingesetzt, Untergrundbahnen und Flugplätze von Großstädten in eigener Regie gebaut, Rundfunksender geschaffen, bedeutende Museen gegründet oder gefördert, große Ausstellungen und Messen ins Leben gerufen; einige der größten Städte, Berlin, Leipzig, Hamburg, Köln, Frankfurt, aber auch Königsberg und Bochum unterhielten oder protegierten bedeutende Theater, die mit den besten Staatstheatern und Privattheatern konkurrieren konnten. Frankfurt, Hamburg und Köln besaßen eigene Universitäten; andere Großstädte verfügten über eigene Hochschulen. Auch kleine und kleinste Städte schlossen sich der schon in den letzten Vorkriegsjahren stärker einsetzenden Entwicklung öffentlicher, kommunaler Geldinstitute an, gründeten Banken und Sparkassen, die die lokale Kreditvermittlung erleichterten, das Sparwesen intensivierten und die stetig weiter auf dem Geldmarkt vordrangen. Die Kommunalpolitik der zwanziger Jahre war fraglos kostspielig und setzte eine effiziente Verwaltung unter sachkundiger Leitung voraus, die in den größten Städten auch gut dotiert war. 123 Dies erforderte beträchtlibiirgers am 5. Januar 1976, Köln 1976, bes. S. 157—164; neuerdings Hans-Christoph Rublack, Städtebau und Sozialreform. Fritz Schumacher, in: Die Alte Stadt, 6 (1979), S. 136 — 155; ferner ders., Von der Stadtbaukunst zur Stadt der neuen Gesellschaft. Städtebau in Deutschland in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in: Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. Festschrift für Eberhard Naujoks zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1980, bes. S. 184 ff.; einschlägig auch Dieter Rebentisch, Ludwig Landmann. Frankfurter Oberbürgermeister der Weimarer Republik (Frankfurter Historische Abhandlungen, 10), Wiebaden 1975. 123 Vgl. Wolfgang Hofmann, Zwischen Rathaus und Reichskanzlei. Die Oberbürgermeister in der Kommunal- und Staatspolitik des Deutschen Reiches von 1890—1933 (Schriften des deutschen Instituts für Urbanistik, 46), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974; ferner die älteren kürzeren Darstellungen zur Sache, Hans Herzfeld, Demokratie und Selbstverwaltung in der Weimarer Epoche (Schriftenreihe des Vereins zur Pflege Kommunalwissenschaftlicher Aufgaben e.V. Berlin, 2), Stuttgart 1967; Gerhard Schulz, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland vor 1933. Ideen, Institutionen, Interessen, in: Franz Lieber Hefte, 3 (1959), S. 14—31; für Köln und für die rheinischen Großstädte jetzt vor allem die Beiträge von Friedrich-Wilhelm Henning, Kurt Düwell, Klaus Pabst, Horst Romeyk, Wolfgang Hofmann und Walter Forst, in: Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad
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che Finanzmittel. Doch das Landessteuergesetz von 1920 hatte den Gemeinden nur wenige eigene Steuerquellen, Realsteuern und kleine Aufwandsteuern, belassen,124 obgleich ihnen seit 1918 die Erwerbslosenfürsorge auftragsweise durch Reichsgesetz zugewiesen worden war, deren Kosten teils von den Ländern, teils durch Reichsüberweisung dotiert wurden. Da die Kommunen jedoch in viel weiter greifendem Sinne — gemäß ihrer traditionellen lokalen Allzuständigkeiten — Aufgaben einer Politik übernahmen, die, im größeren historischen Zusammenhang betrachtet, sozialstaatliche Entwicklungsdefizite auszugleichen versuchte, benötigten sie Mittel in beträchtlicher Größenordnung und beanspruchten sie schließlich einen wachsenden Anteil der öffentlichen Investitionen. Von der Währungsstabilisierung Anfang 1924 bis zum Ende des ersten Halbjahrs 1928 lenkten öffentlich-rechtliche Körperschaften und öffentliche Unternehmungen über 55 Prozent der Summe allein der langfristigen Auslandsanleihen in ihre Kassen. 125 Tatsächlich entstand angesichts der aus der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben folgenden Bedürfnisse und unter dem Druck der nach der Stabilisierung spürbaren Enge der Finanzierungsmöglichkeiten eine stete Konkurrenz zwischen der auf den inneren wie den äußeren Geldmarkt angewiesenen Wirtschaft und dem Reich, den Ländern und Gemeinden. Das Problem des Finanzausgleichs zwischen den Trägern der öffentlichen Finanzwirtschaft war nur provisorisch geregelt worden und blieb dauernd problematisch und umstritten.126 Das Adenauer. Über die Höhe der Bezüge der Leitenden Kommunalbeamten wurde manches Gerücht verbreitet. Die Errechnung der wirklichen Bezüge Adenauers, dessen Amt als besonders gut dotiert galt, bei Rudolf Morsey, Adenauer und der Nationalsozialismus, In: Adenauer, S. 479 f. 124 Eingehende Analysen enthalten die Beiträge von Josef Wysocki in dem Sammelband von Karl-Heinrich Hansmeyer (Hrsg.), Kommunale Finanzpolitik in der Weimarer Republik (Schriftenreihe des Vereins für Kommunalwissenschaften, 36), Stuttgart 1973, S. 28—59; auch Hansmeyer, Der kommunale Kredit als „ordentliches Deckungsmittel", a.a.O., S . 7 6 - 8 9 . 125 Nach Wilhelm Prion, Der deutsche Geld- und Kapitalmarkt seit der Stabilisierung, in: Bernhard Harms (Hrsg.), Strukturwandlungen der deutschen Volkswirtschaft, 2. Aufl. Berlin 1929, II. Bd., S. 334. Es sollte nicht übersehen werden, daß große Städte mit der Aufnahme von Auslandskrediten durch Schuldverschreibungen schon bald nach Kriegsende begannen; allerdings fehlen vergleichsfähige Statistiken hierzu und bleiben die Nachweise lückenhaft. Angaben für Berlin, Magdeburg, Stettin und einige Großstädte der Rhein-Ruhr-Zone, nach Akten des Deutschen Städtetages, bei Hansmeyer, Der kommunale Kredit, S. 78. 126 Vgl. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur I, S. 519 ff.; das 4. und 5. Kapitel von Hansmeyer (Hrsg.), Kommunale Finanzpolitik; Rüdiger Vogt, Die Auswirkungen des Finanzausgleichs zwischen Staat und Gemeinden auf die kommunale Selbstverwaltung von 1919 bis zur Gegenwart (Schriften zum öffentlichen Recht, 259), Berlin 1975, bes. S.31 ff.
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hat allerdings auch zu mancher Fehldeutung geführt. Die Kontroverse zwischen freier Wirtschaft und öffentlicher Finanzwirtschaft war unvermeidlich. Dabei befand sich die aktive Seite der produktiven Wirtschaft in Gestalt des Unternehmertums und seiner organisierten Repräsentation in ständiger, wenn auch in der Entschiedenheit wechselnder Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften, der von ihnen gestützten, verteidigten und ausgebauten Sozialpolitik und der arbeitsrechtlich wie lohnpolitisch dargestellten Arbeitnehmerinteressen. Angesichts dieser Situation eröffnete Reichsbankpräsident Schacht einen hartnäckigen Kampf gegen die Aufnahme von Auslandskrediten durch die öffentliche Hand, im besonderen durch die Gemeinden. Schon seit 1925 bestand eine Beratungsstelle beim Reichsfinanzministerium für Auslandskredite und war die Aufnahme von Auslandsanleihen durch die Kommunen an die Zustimmung der obersten Landesbehörden gebunden. 127 Ende 1925 und Anfang 1926 erlebte die deutsche Wirtschaft nach der Stabilisierungskonjunktur eine erste schwere Krise, die sogleich heftige Reaktionen und sogar staatliche Interventionspläne auslöste und seither die Wirtschaftshistoriker wie die Theoretiker beschäftigt, da sie, offenkundig ohne Beziehung zu vergleichbaren Erscheinungen der Weltwirtschaft, eine isolierte Erscheinung der deutschen Wirtschaft blieb. 128 Sie wurde daher auch von der weltwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsgeschichte leicht unterbewertet oder übergangen, 129 obgleich ihre Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft kaum in Frage steht und auch den Beobachtern im amerikanischen Bankwesen nicht entgangen sein dürfte. Wie in jeder größeren Krise trafen mehrere Ursachenreihen zusammen, deren Wirkungen kumulierten. Als herausragendes Merkmal gilt das rasche Anwachsen der Arbeitslosenzahl von 127 Grundsätze und Tätigkeit der Beratungsstelle sind am gründlichsten behandelt von Hermann Dietrich-Troeltsch, in: Hansmeyer (Hrsg.), Kommunale Finanzpolitik, bes. S. 204 ff., 2 1 1 - 2 1 9 ; wichtig jetzt McNeil, American Money, S. 54 f., 91 ff., der Schachts Entscheidungen aus der Verlegenheit der amerikanischen Instanzen herleitet. 128 Monographischer Versuch mit umfangreicher Bibliographie von Fritz Blaich, Die Wirtschaftskrise 1925—26 und die Reichsregierung. Von der Erwerbslosenfürsorge zur Konjunkturpolitik, Kallmünz 1977; unter bestimmten Aspekten jetzt Dieter Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung. Konjunkturpolitik 1925/26 und die Grundlagen der Krisenpolitik Brünings, Frankfurt a. M. 1982, Erster Teil. 129 Aldcroft, Die zwanziger Jahre, S. 123, erwähnt nur die „Stabilisierungskrise" von 1924, die „Deutschland und Polen hatten"(!), an anderer Stelle den großen und lang anhaltenden Streik im englischen Kohlenbergbau im Sommer 1926, der wohl als vergleichbare Folge der deutschen Krise betrachtet werden darf.
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636000 noch im Oktober 1925 auf 2,27 Millionen im Februar 1926 1 3 0 nach Berechnungen auf Grund der damals verfügbaren Unterlagen, die mit Vorsicht aufgenommen, aber im Hinblick auf die rapide entstandene Differenz wohl beachtet werden müssen. Auch die leichter und problemloser zu ermittelnde Zahl der Konkurse erscheint beträchtlich und bedenkenswert; 1925 waren es 14805, 1926 sogar 15 829 Unternehmen, die fallierten. 131 Solche Zahlen waren noch nie zuvor erreicht worden; sie zeigen einen tiefen Einbruch in die eben erst aufwärts tendierende deutsche Wirtschaftsentwicklung an. Immerhin hatte die Gesamtwirtschaft bis dahin ein später unterbelichtetes Problem einigermaßen erfolgreich gelöst. Die gegenüber der letzten Vorkriegszeit sogar leicht erhöhte Zahl der Arbeitsfähigen und Arbeitsuchenden war auf einem engeren Raum, innerhalb des Reichsgebietes in seinen neuen Grenzen, bei beträchtlichen Verschiebungen in der Beschäftigungsstruktur nach der dauerkrisenähnlichen Umstellungsphase der Jahre zwischen 1918 und 1924 in Lohn und Brot gekommen. 132 Bis 1925 war die Zahl der in der Wirtschaft Beschäftigten, im Vergleich zu 1913, ein wenig, auf 31,03 Millionen gegenüber 30,97 Millionen, angestiegen.133 Viel gewichtiger erscheinen die starken Verschiebungen, Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, S. 15. Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches, 46 (1927), S. 410. 132 Blaich, Wirtschaftskrise, S. 17 ff., argumentiert wenig gründlich gegen die von ihm, nach Beispielen, wieder so genannte und abwertend beurteilte „populationistische Theorie". Die Größenordnungen sind unzulänglich bis unzutreffend. Deshalb muß hier der Zusammenhang gründlicher behandelt werden. 133 Diese und die folgenden Zahlen nach Hoffmann, Wachstum, S. 205. Noch etwas höher liegt die interpolierte Zahl der Beschäftigungsfalle bei Margot v. Lölhöffel, Zeitreihen für den Arbeitsmarkt. Lohnsatz, Beschäftigungsfalle, Arbeitskosten und Arbeitsstunden, in: IFO-Studien, 20 (1974), S. 150 (im Jahresdurchschnitt 1925 immer noch 32,07 Millionen, trotz der im Spätjahr einsetzenden Krisenwirkungen). Beide Autoren weichen ganz erheblich von den Angaben anderer ab. Vgl. oben Anm. 5. Ein Grund für die falschen Angaben über Beschäftigtenzahlen und Arbeitslosigkeit liegt in der Nichtbeachtung der rechtlichen Bestimmung der Terminologie und damit der Erfassungsgrundlage der hierauf beruhenden Statistiken. Dies ist auch bei der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zu beachten, deren Zahlenmaterial offenbar auch von dem Institut für Konjunkturforschung (I. f. K.) in seinen Veröffentlichungen verwertet worden sein dürfte, obgleich die Quelle nicht genannt wird, die sich aber wohl hinter dem häufig angeführten Topos „nach den Berechnungen des I. f. K." verbergen dürfte. Das I. f. K. verfügte nicht über eigene Erhebungsmöglichkeiten. Mit der „Gesamtzahl der Arbeitnehmer" sind nur die nach dem Gesetz für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 bestimmten Versicherungspflichtigen gemeint: im wesentlichen die nach der Reichsversicherungsordnung Krankenversicherungspflichtigen (alle Arbeiter mit einem Jahresverdienst bis zu RM 3600). Ausgenommen waren von vornherein alle Beamten, Angehörigen der Reichs130
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die eingetreten waren: einerseits der starke Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der Landwirtschaft, im Verteidigungswesen, im Bergbau und auch in den häuslichen Diensten, anderseits die beträchtliche Zunahme der Beschäftigten in Industrie und Handwerk, im Verkehrswesen, im Handel, in Banken und Versicherungen und im Bereich der Dienstleistungen und der Verwaltungen, d.h. in der erheblichen Vergrößerung der Zahl der Angestellten verschiedener Sparten. Genauere Untersuchungen zeigen, daß die Beschäftigungsfälle im Bereich der Dienstleistungen, der Kreditinstitute und des Versicherungsgewerbes sogar von 1925 auf 1926 zunahmen 134 und im Verkehrs- und Nachrichtenwesen nur unbedeutend zurückgingen. Hingegen waren von der Krise mehr oder minder stark alle Sparten der unmittelbaren Produktion und des Handels betroffen. Die Verschiebungen in der Beschäftigungsstruktur setzten sich jedenfalls in den Bereichen der Verwaltung im weitesten Sinne, der Sozialversicherung, der Versicherungen und des Kreditwesens und im Verkehrswesen auch während der Krise fort. Darin äußert sich offenkundig auch eine Steuerung finanzieller Mittel, zu einem großen Teil der öffentlichen Mittel. Der erste Aufschwung hatte sich in allen Sparten im Reallohnniveau ausgewirkt, das nach der Stabilisierung anstieg und sich über dem der Vorkriegslöhne einpendelte, allerdings mit den Ausnahmeverhältnissen wehr (alle der Angestelltenversicherungspflicht unterliegenden Arbeitnehmer, soweit sie nach dem 1. September 1928 über 8400 RM verdienten, konnten freiwillig zur Arbeitslosenversicherung veranlagt werden, was bis Ende 1930 im gesamten Reichsgebiet nur in 790 Fällen geschah), alle „geringfügig Beschäftigten" (ein inhaltlich stetig erweiterter Begriff), bestimmte Sparten in der Land- und Forstwirtschaft und Fischerei sowie Lehrlinge und besondere Antragsfalle (allein dies 1929 eine Gruppe von 2,4 und 1930 von 2,3 Millionen Personen). Die Berichte der Reichsanstalt enthalten juristisch sorgfaltig formulierte Erklärungen der Arbeitslosenversicherung wie der -Versicherungspflicht. Sie sind im übrigen zunächst sichtlich in erster Linie als Arbeits- und Erfolgsbericht der Anstalt angelegt; dieser Eindruck tritt allerdings im Laufe der Jahre und der Anforderungen zurück. Vgl. Erster Bericht der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung, für die Zeit vom 1. Oktober 1927 bis zum 31. Dezember 1928 (Sonderdruck aus dem Reichsarbeitsblatt 1929, Nr. 6) sowie die Angaben in den nachfolgenden Berichten, bis zum Siebenten Bericht (1935); auch die interessanten Statistiken von Rainer Skiba, unter Mitarbeit von Hermann Adam, Das westdeutsche Lohnniveau zwischen beiden Weltkriegen und nach der Währungsreform, Köln 1974, unterscheiden wohl für die zwanziger Jahre zwischen Erwerbspersonen und Arbeitnehmern im engeren Sinne, (nur Arbeiter und Angestellte, S. 36, 62), setzen die Zahlen für die Arbeitslosen jedoch nur zu der letzten Größe in Beziehung. 134 Jahresdurchschnittliche Beschäftigungsfalle. „Dienstleistungen" meint hier Dienstleistungen von Unternehmen und Freien Berufen, Organisationen ohne Erwerbscharakter, Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen. Lölhöffel, Zeitreihen, S. 147 ff.
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der Kriegszeit nicht verglichen werden kann. Doch die weitere Entwicklung der Löhne brachte nur noch verhältnismäßig geringe Schwankungen 135 und wurde zunehmend von harten Arbeits kämpfen begleitet. Die Verhältnisse in der eisenerzeugenden Industrie dürfen als charakteristisch gelten. Im gesamten Reichsgebiet stiegen die nominalen Tariflöhne in dieser Sparte für gelernte Arbeiter bis 1929 im Vergleich zu 1913, um rund 50, für ungelernte Arbeiter um annähernd 77 Prozent. 136 Aber der — relativ wie absolut — größte Teil der Nominallohnsteigerung entfiel für die erste Gruppe auf die Phase der Stabilisierung und des ersten Aufschwungs in der Industrie vom April 1924 bis Oktober 1925. 1 3 7 Die Lebenshaltungskosten stiegen unterdessen, gegenüber 1913, um 45 Prozent 138 , so daß im Ergebnis die Reallohnsteigerung tatsächlich doch nur bescheiden ausfiel. Monatsübersichten ergeben ein genaueres Bild: auf das gesamte Reichsgebiet bezogen und im Durchschnitt berechnet, Der jahresdurchschnittliche Lohnsatz je Arbeitsstunde ( = jährliche Arbeitskosten je Beschäftigungsfall: Arbeitsstunden je Beschäftigungsfall) stieg im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt 1925 bis 1926 von 0,68 auf 0,72 RM und erreichte 1930 mit 0,89 RM den Höchststand der Zwischenkriegszeit. Die Steigerung setzte sich in allen Sparten auch während dieser ersten Krise durch. Weit über dem Durchschnitt stieg der Lohnsatz in den verarbeitenden Gewerben, der Konsumgütererzeugung und im Handel, in der Energiewirtschaft und in der chemischen Industrie; weit unter dem Durchschnitt blieb seine Veränderung in der Land- und Forstwirtschaft. Lölhöffel, a.a.O., S. 131 —150. Die durchschnittliche Steigerungsrate findet sich auch in den Lohnsätzen des Bergbaus, die bereits 1925 auf verhältnismäßig hohem Niveau lagen. Die nominale Steigerung des Wochenverdienstes betrug im Ruhrgebiet schon während des Krieges, 1914—1918, 100 Prozent; nach Bry, Wages, S. 330. 135
136 Angaben für das gesamte Reichsgebiet im Bericht des Ausschusses über die deutsche eisenerzeugende Industrie (3. Arbeitsgruppe des III. Unterausschusses des Enquete-Ausschusses, Mitglieder: August Müller, Wilhelm Eggert, Bernhard Harms, Georg MüllerOerlinghausen); Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Die deutsche eisenerzeugende Industrie, Berlin 1930, S. 50. 137 Für den Bergbau fehlen vergleichbare Reihen unter Einschluß des Jahres 1924, dürften aber, in den einzelnen Bergbaubezirken unterschiedlich, die Lohnzuwachsraten nach 1925 stärker gewachsen sein. Arbeitsverdienste nach Tatigkeitsarten in den Bergbaubezirken im Bericht des Ausschusses über die deutsche Kohlenwirtschaft (1. Arbeitsgruppe des III. Unterausschusses, Mitglieder Eduard Hamm, Wilhelm Eggert, Hans Rauch); Enquete-Ausschuß, Die deutsche Kohlenwirtschaft, Berlin 1929, S. 75. Zu einem etwas abweichenden Ergebnis gelangt die nur sehr kurz erläuterte Gesamtindex-Berechnung von Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Teill, Bd. 5: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1917/18 bis 1932/33, Berlin (Ost) 1966, S. 214. Der Index aller „tatsächlich ausgezahlten Löhne" (Nettoindex, 1913/ 14 = 100) ging nach Kuczynski 1924 auf 94 zurück und stieg 1925 auf 127 ( = 35%), 1926: 125, Höhepunkt 1928: 152. 138
Bry, Wages, S. 422; Indexzahl für Oktober 1925: 145,4, für April 1924: 128,9.
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für das ganze Jahr 1925 eine Nominallohnsteigerung von 19 Prozent. Die Lebenshaltungskosten stiegen von Januar bis August 1925 um etwa 6,5 Prozent, gingen danach allerdings bis Jahresende um fast die Hälfte dieses Zuwachses wieder zurück. 139 Der Lohnanstieg des Jahres 1925 spielt in der Literatur zur Wirtschaftskrise eine bedeutsame Rolle. 140 Er wurde schließlich durch die erneut zunehmende Zahl der Arbeitslosen, einen zunehmenden Umfang der Kurzarbeit und der „geringen Streikbereitschaft während der Krise" beendet. 141 Bis dahin hatte das staatliche Schlichtungswesen, das im Prinzip seit 1916 bestand, entscheidend zum Lohnauftrieb beigetragen. 142 Die „Zwangsschlichtung", in höchster Instanz durch den Reichsarbeitsminister, beruhte auf einer Verordnung nach dem Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 und galt bis zur Einsetzung von Treuhändern der Arbeiter im Mai 1933. 1 4 3 Sie konnte durch den Antrag einer Tarifpar-
Beides nach Blaich, Die Wirtschaftskrise 1925/26, S.43, 72. So schon Rudolf Stucken, Die Konjunkturen im Wirtschaftsleben, Jena 1932, S. 127; auch Jorgen Pedersen, in: Gottfried Bombach (Hrsg.), Stabile Preise in wachsender Wirtschaft. Das Inflationsproblem, Festschr. f. Erich Schneider, Tübingen I960, S. 30; anderer Meinung, allerdings ohne substantielle Widerlegung, Blaich, a.a.O., S.43 f., der sich um eine Orientierung mit Hilfe von komplexeren Begriffen wie „Marktmacht" von Unternehmen, „Marktlage" oder „Machtstellung" der Gewerkschaften bemüht, was wohl sinnvoll sein kann, aber doch von der analytischen Vertiefung und Fundierung dieser Begriffe abhängt. Dies ist ein besonderes Problem. 141 Blaich, a. a. O., S. 44. Vorher hatten die Gewerkschaften — „aufgrund ihrer Machtstellung" — die Löhne nach oben getrieben. Aber sie unterließen derartige Versuche, sobald sie ihre „Verhandlungsbasis geschwächt sahen", wie Blaich treffend feststellt. Ihre .Machtstellung' erscheint letztlich — historisch betrachtet — doch konjunkturbedingt, d. h. durch eine Konjunktur begründet. Frage bleibt freilich, ob Gewerkschaften ihre Macht aufgrund der Mitgliederzahlen nicht auch gegen konjunkturelle Entwicklungen einsetzen und Konjunkturen zerstören können. In der Weimarer Republik ist das nicht geschehen. Daß auch das Ergebnis für 1926 im ganzen günstig ausfiel, ergibt sich aus den Berechnungen von Skiba/Adam, Lohnniveau, S. 117. Danach stieg 1926 gegenüber dem Vorjahr das Volkseinkommen je Beschäftigten um 8,9 Prozent und allein das Nettoeinkommen aus unselbständiger Arbeit je Arbeitnehmer um 8,2 Prozent, blieb also nur ein geringer Zuwachs des Unternehmensgewinns. 142 So durch Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruches für die Ruhrindustrie vom 7.Juli 1925 durch Reichsarbeitsminister Brauns; Blaich, a.a.O., S.78. Über Grundlagen des Schlichtungswesens, der Interventionen und der Verbindlichkeitserklärungen des Reichsarbeitsministers Hans-Hermann Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918 — 1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 23), Berlin 1967, S. 23 - 42. 143 Hartwich, Arbeitsmarkt, S. 31 f. 139
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tei, die einen Schiedsspruch angenommen hatte, herbeigeführt werden; dem Prinzip nach wurden hierdurch Tarifstreitigkeiten und Streiks abgekürzt oder beendet, doch die in Wahrheit tiefer gründenden Konflikte kaum schon beseitigt. Viel hing von den Schlichtern ab, die bereits als Beauftragte des Reiches tätig waren. Dem Prinzip wie der Auswirkung nach kam dies einer Stärkung der in der politischen und wirtschaftlichen Krise von 1923 geschwächten Gewerkschaften gleich. Die Initiative der Reichsregierung sollte zur „einheitlichen Lohnbildung" führen. 144 Doch Schlichtung und staatliche Politik wurden miteinander verquickt, 145 tarifpolitische Streitfalle zur Sache der letztlich entscheidenden staatlichen Initiative, was Lohnstreitigkeiten nicht verminderte, sondern eher stimulierte. Gegensätze und Konflikte wurden verschärft und vertieft, allerdings auch die zunächst sehr saumselig in Gang gebrachten Erleichterungen des Loses der Arbeiter in der Schwerindustrie vorangetrieben. In der äußersten Anspannung der Fabrikationsstätten wie der Arbeitskräfte während des Krieges und der damit verbundenen Aufwertung und Einstufung auch der letzten ungeschulten Kraft in Arbeitsprozesse, die sich an Quantitätssteigerungen, unter Vernachlässigung der Qualitäten, orientierten, 146 hatten sich Lohn und Leistung divergierend entwikkelt. Unter dieser Voraussetzung machte sich vor allem im Bergbau gegen die Einführung des von Gewerkschaften und SPD geforderten Achtstundentages — als Verwirklichung einer dreißigjährigen Forderung der sozialistischen Internationale — der stärkste Widerstand bemerkbar. Die Berichte sowohl der Unternehmervertreter als auch der Gewerkschaften vor dem Fachunterausschuß des Enquete-Ausschusses vermitteln deutliche Auskünfte. 147 Im Kohlenbergbau war die Schichtleistung 1922 Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart o. J., S. 260. Hartwich, Arbeitsmarkt, S. 37. 146 Charakteristisch sind die Steigerungen der Nominallöhne im Kriege. Sie waren insgesamt bei Frauen höher als bei Männern, am höchsten in der metallverarbeitenden Industrie; natürlich gab die Verknappung der Arbeitskräfte den Ausschlag. In 370 ausgewählten Unternehmen betrug die Nominallohnsteigerung (1914—1918) bei den männlichen Arbeitern insgesamt 114,1 Prozent, bei den weiblichen 140 Prozent. Nach Untersuchungen des Statistischen Reichsamts zu anderen Zwecken erstellte Übersichten bei Jürgen Kocka, Klassengesellschaft, S. 14 f. 144
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147 Die Veröffentlichungen der Einzelberichte des Enquete-Ausschusses sind unterschiedlich organisiert und infolgedessen auch von unterschiedlichem Nutzwert. Doch in der Mehrzahl stellen sie eine wertvolle und unersetzliche Quelle für die Verhältnisse der deutschen Wirtschaft in der Nachkriegszeit dar. Einer der am besten aufgebauten und aussagekräftigsten ist der Bericht über die Kohlenwirtschaft, nicht nur den Kohlebergbau. In diesem Zusammenhang: Enquete-Ausschuß, Die deutsche Kohlenwirtschaft. Verhand-
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insgesamt auf zwei Drittel der Friedensleistung zurückgegangen; erst 1926 übertraf sie diese dann wieder um 18 Prozent. Das wurde auf verschiedenen Wegen erreicht, teilweise durch Rationalisierung und Mechanisierung, teilweise aber durch genaue, alle Möglichkeiten ausschöpfende Regelung des Arbeitsverlaufs; vor allem fielen vorher großzügiger zugelassene Pausen während der Schicht weg. Dennoch führte die Einführung der achtstündigen Arbeitszeit zu beträchtlichen Schwierigkeiten — vor allem in Oberschlesien, wo vor dem Kriege elfstündige oder höhere Arbeitszeiten die Regel waren, im Aachener Revier mit vorher neunstündiger Arbeitszeit, die erst ab 1. Januar 1930 auf acht Stunden herabgesetzt wurde, und im ostelbischen Revier, d. h. in der Niederlausitz, wo auch nach dem Kriege die Schichtzeit bei zwölf bzw. elf Stunden, die reine Arbeitszeit allerdings weit darunter lag, ein Achtstundentag indessen nie verwirklicht wurde. In Mitteldeutschland war die Arbeitszeit in den Vorkriegsjahren kürzer als nach dem Kriege; in Niederschlesien, in Sachsen und im rheinisch-westfälischen Bergbaugebiet lag sie schon früher unter acht Stunden; man unterschied aber die Arbeitszeit von der Schichtzeit, die Einfahrt und Arbeitsvorbereitung einschloß, was für die Bergarbeiter unter Tage allein bis zu einem Viertel ihrer gesamten Arbeitszeit im Grubenbereich ausmachte. Natürlich warfen die Umstellungen betriebsorganisatorische Probleme auf, die nicht überall erkannt wurden und mitunter ungelöst blieben. Die Summen der Lohn- und Gehaltskosten, unter Einschluß der Sozialversicherungsleistungen, nahmen auf der Seite der Unternehmungen beträchtlich zu. 148 Hinzu kam, daß die Inflation „auch zu einer Aufblähung des Personalbestandes in der Organisation und im Absatz der Betriebe geführt" hatte 149 ; schon die komplizierten Abrechnungen während der Inflation führten zur Vergrößerung der Verwaltungen, die dann nach und nach wieder abgebaut wurden. lungen und Berichte des Unterausschusses für Gewerbe, Industrie, Handel und Handwerk (III. Unterausschuß), Berlin 1929, S. 304—319 (Belegschaft: Arbeitszeit, Arbeitsleistung, Löhne), auch S. 76. 148 Die durchschnittliche Lohnsumme (einschließlich der Sozialleistungen) je versicherungspflichtigen Beschäftigten belief sich in den Hütten- und Walzwerken des gesamten Reichsgebietes 1913 auf 1700 Mark, 1924 auf 1920 RM, 1925 auf 2400, 1926 auf 2500 RM. Die Durchschnittssteigerung wurde in den Hochofenwerken und Stahlwerken überschritten, am deutlichsten im Rheinland und in Westfalen (die entsprechenden Zahlen für den im Hochofenwerk Beschäftigten: 1860 Mark, 2190, 2700, 2850 RM). Die Steigerung von 1924 auf 1925 ist auffällig. Enquete-Ausschuß, Die deutsche eisenerzeugende Industrie, Berlin 1930, S.51. 149 Blaich, Wirtschaftskrise, S. 26.
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Die „Flucht in die Sachwerte" hatte während der Inflation zur übermäßigen Vergrößerung von Warenbeständen geführt, aber auch zu raschen und übertriebenen Neuanlagen, zum Kauf von Maschinen und zu Neubauten, so daß sich die Kapazitäten rasch vergrößerten, obgleich sie nicht voll ausgelastet waren. Andererseits hatten die höheren Steuereinnahmen im Haushaltsjahr 1924 zu einem Einnahmenüberschuß im Reichshaushalt von 496 Millionen RM geführt, so daß Reichsfinanzminister v. Schlieben den Steuerüberschuß aus diesem Jahr auf den nächsten Haushalt übernahm, der dann, fortschreitend vermindert, bis in den außerordentlichen Reichshaushalt 1928/29 zum Ausgleich herangezogen wurde. 150 Während diese „Thesaurierungspolitik" umstritten blieb, führte der gleichzeitige Umbau des Steuersystems, nach den Erfahrungen der letzten Jahre, zu einer Minderung der Steuerbelastungen der Wirtschaft insgesamt, aber auch der Lohnempfänger. Die Verkehrsteuern wurden erheblich — die Umsatzsteuer von zweieinhalb auf ein Prozent — gesenkt. Die Steuermilderung unter Reichsfinanzminister Reinhold knüpfte hieran an, blieb indessen ebenfalls umstritten. Der Anteil der Länder an den gestiegenen Steuereinnahmen führte alsbald zu größeren Ausgaben, die den ersten Ansatzpunkt zu Beschwerden der Wirtschaft über die ihnen durch die Finanzpolitik entzogenen Mittel 151 bildeten. Unstreitig aber fand allerdings der seit der Währungsreform 1924 durchdringende hohe Finanzbedarf der deutschen Wirtschaft wie der Kommunen noch keine volle Entsprechung in der erst langsam voranschreitenden Neubildung von Geldkapital. Auch Kredite aus dem Ausland blieben vorerst noch rar, von den 800 Millionen RM der Dawes-Anleihe im Herbst 1924 abgesehen. Einige andere Ursachen traten hinzu, die diese Kreditkrise verschärften, 152 die schließlich zu Zusammenbrüchen, auch zur Auflösung des während und nach dem Kriege zur größten deutschen Unternehmenskonzentration herangewachsenen Stinnes-Konzerns führte. Diese Gesamtlage veranlaßte eine drastische Politik der Reichsbank sowohl gegen die „inflationistische Industrie" 153 als auch gegen die Ausgaben der Kommunen, die Reichsbankpräsident Schacht mit Härte, einigem Geschick und starker Energie auch der Reichsregierung gegenüber verfolgte, und, 150 Ilse Maurer, Reichsfinanzen und Große Koalition, S. 14; vgl. Johannes Popitz, Die Finanzpolitik seit 1918, in: Zehn Jahre Deutsche Geschichte 1 9 1 8 - 1 9 2 8 , Berlin 1928, S. 198 f. 151 Blaich, Wirtschaftskrise, S.29f.; ergänzend und korrigierend McNeil, American Money, S. 124 ff. 152 Blaich, a.a.O., S . 3 2 - 4 2 . 153 a.a.O., S.67, A n m . 1 1 2
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von einem Vorstoß des Reichsverbandes der Deutschen Industrie beim Reichspräsidenten unbeeinflußt, 154 auch nach dem Rücktritt des ersten Kabinettes Luther unbeirrt beibehielt. Hier ist ein Blick auf die starke Position der Deutschen Zentralnotenbank — infolge der „Kreditnot und der Kapitalvernichtung" zunächst „so ziemlich die einzige Kreditquelle von Bedeutung" 155 — am Platze. Die Leitung der Deutschen Reichsbank stand de jure außerhalb der Reichsregierung und der politischen Richtlinienkompetenz des Reichskanzlers. 156 Ihre Einwirkungen auf die wirtschaftspolitischen Entscheidungen können dennoch kaum überschätzt werden. Gewichtige Gründe enthielten bereits die gesetzlichen Bestimmungen über Stellung und Aufgaben der Reichsbank gemäß dem Dawes-Plan mitsamt ihren reparations-, kredit- und währungspolitischen internationalen Bindungen, die die Reichsregierung als Politikum höchsten Ranges respektierte. 157 An a.a.O., S.97ff. Der Bayerische Stellvertretende Bevollmächtigte zum Reichsrat Staatsrat Ritter v. Wolf an den Präsidenten des Reichsbankdirektoriums, 29. Juni 1924, Abschr. f. d. Reichskanzlei, BA, R 431/633. 156 Art. 56 der Reichsverfassung. Hierzu und zum Folgenden jetzt Harold James, The Reichsbank and Public Finance in Germany 1924—1933. A Study of the Politics of Economics during the Great Depression (Schriftenreihe des Instituts für Bankhistorische Forschung, 5), Frankfurt a.M. 1985. 157 Das Bankgesetz vom 30. August 1924 (RGBl. II 1924, S.235) war in seiner Entstehungsgeschichte heftig umstritten. Der als Unterhändler eingesetzte englische Sachverständige im Dawes-Komitee, Sir Robert Kindersley, hatte auf einen besonderen „Kommissar für die Notenausgabe", der ein Ausländer sein sollte, mit umfangreichen Eingriffsrechten — neben dem Generalagenten für Reparationsfragen — bestanden. Danach wurde von den Ländern, namentlich von Bayern, beanstandet, daß über den Generalrat ausländische Einflüsse künftig beträchtlich seien, aber ein „wirksames Aufsichtsrecht des Reiches" nicht bestünde; es fehle auch „eine allgemeine Verpflichtung des Reichsbankdirektoriums, als obersten Grundsatz bei seiner Verwaltung das Wohl des Reiches und die Förderung der deutschen Wirtschaft zu beobachten." Bayern schlug daher vor, für die ständige Unterrichtung eines Reichsratsausschusses zu sorgen. Hierzu ist es nicht gekommen. BA, R43I/ 633. Die Unabhängigkeit der Reichsbankleitung von der Reichsregierung war in gewissem Umfang schon durch das Autonomiegesetz vom 26. Mai 1922 (RGBl. II 1922, S. 136) herbeigeführt worden. Das Bankgesetz von 1924 bewirkte „eine vollständige Absonderung des Zentralnoteninstituts von der Finanzgebarung des Reiches und der Länder und von politischen Einflüssen". So die Begründung zu dem vom Reichskabinett beschlossenen Gesetzentwurf; Reichswirtschaftsminister Hamm an Staatssekretär in der Reichskanzlei, 17. August 1924, BA, R 431/633. Der bis zum Haager Abkommen (1930) paritätisch, aus sieben deutschen und sieben ausländischen Mitgliedern, zusammengesetzte Generalrat wählte den Reichsbankpräsidenten. Mit Zustimmung des Generalrates ernannte der Reichsbankpräsident die Mitglieder des Reichsbankdirektoriums, des Leitungsgremiums unter seiner Führung. Der Reichspräsident besaß ein offenkundig nur formelles Recht der 154 155
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die Spitze dieser wichtigen deutschen Institution gehörten daher ebenso sachkundige wie erfahrene Männer mit beträchtlichem Ansehen. 158 Eine Mitwirkung ausländischer Bankiers im Generalrat der Reichsbank war gesetzlich bestimmt, doch „die Währungs-, Diskont- und Kreditpolitik bestimmte das Reichsbankdirektorium, in dessen Hand nach wie vor die Verwaltung der Bank" 159 lag. Der Reichsbankpräsident führte sowohl im Direktorium als auch im Generalrat den Vorsitz. Schon bald erwies sich die Notwendigkeit, ihn enger an die Reichsregierung heranzuziehen und an Kabinettssitzungen oder Chefbesprechungen unter dem Vorsitz des Reichskanzlers zu beteiligen, die im Jargon der hohen Ministerialbeamten als „Quasi-Kuratorium" bezeichnet wurden. 160 Der kräftige Preisauftrieb, der Anfang 1924 eingesetzt hatte, die verstärkte abwartende Vorratshaltung, der Rückgang der Ausfuhr und der Bestätigung, das er jedoch niemals ausüben mußte, da in den fünfeinhalb Jahren der Geltung dieser Konstruktion kein neuer Reichsbankpräsident sein Amt antrat. Dem Generalrat gehörten als deutsche Mitglieder an: Reichsbankpräsident Schacht (Vorsitzender), Franz v. Mendelssohn, Hans Remshard (Bayer. Hypotheken- und Wechselbank), Franz Urbig (Disconto-Gesellschaft), Max Warburg, Oskar Wassermann (Deutsche Bank), und Louis Hagen, als ausländische Mitglieder: Sir Charles Addis (Hongkong & Shanghai Banking Corp.), Charles Sergeant (Banque de l'Union Parisienne), Carlo Feltrinelli (Credito Italiano), Emile Francqui (Soc. Générale de Belgique), Gates N. McGarrah (Mechanic & Metal National Bank, New York), G. W. J. Bruins (Handelshochschule Amsterdam) und G. Bachmann (Schweizer Nationalbank). 158 Zur gesetzlichen Konstruktion von 1924 gehörte auch die Beibehaltung des Zentralausschusses der Reichsbank, der dem Direktorium gegenüber gutachterlich tätig sein sollte. Seine Mitglieder wurden von der Generalversammlung der Aktieneigner der Reichsbank gewählt. Hjalmar Schacht wurde noch vor diesem Gesetz, am 22. Dezember 1923, auf Vorschlag des Reichsrates, gegen die Entscheidung des Zentralausschusses und die „einstimmige und entschiedene" Ablehnung des Reichsbankdirektoriums, nach Beschluß der Reichsregierung vom Reichspräsidenten zum „Präsidenten des Reichsbankdirektoriums" ernannt. Der Zentralausschuß hatte sich für Helfferich (DNVP) entschieden, dessen Vorschläge zur Festigung der Währung beigetragen hatten. Dies löste jedoch Entgegnungen in der linken Presse aus, die den Reichswährungskommissar Schacht (ursprünglich DDP) gegen Helfferich herausstrichen (ausführlich ,Welt am Montag', Nr. 50 vom 10. Dezember 1923, Beilage). Daraufhin stürzte sich die gesamte Rechtspresse in die Personaldebatte, in der sowohl die angemessenen fachlichen als auch charakterlichen Qualifikationen in den Voten des Zentralausschusses untergingen. Die Angelegenheit wurde dann als Parteifrage entschieden. Unterlagen GehStAB, Rep. 90/867. Vgl. Otto Pfleiderer, Die Reichsbank in der Zeit der großen Inflation, der Stabilisierung der Mark und die Aufwertung von Kapitalforderungen, in: Währung und Wirtschaft, S. 194.
Reichswirtschaftsminister Hamm, 17. August 1924, BA, R 431/633. lío D ¡ e s e wichtigen Sitzungen wurden stenographisch protokolliert, was bei Kabinettssitzungen bzw. Reichsministerbesprechungen nicht geschah. Sitzungen vom Februar 1925 bis Februar 1929 BA, R 431/633/634/635. 159
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große Kreditbedarf der gesamten Wirtschaft wie der öffentlichen Hand beschworen die Gefahr einer neuen inflationären Entwicklung herauf. Dem begegnete nun die Reichsbank im April 1924 unter ihrem erst seit einigen Monaten amtierenden Präsidenten 2unächst mit einer drastischen Kreditrestriktion, einer Erhöhung des Diskontsatzes auf 10 Prozent bei gleichzeitig scharfer Kontingentierung der zum Rediskont angenommenen Wechsel. 161 Die Preise gingen daraufhin zurück und die Außenwirtschaftslage besserte sich: die Reichsbank vermochte sowohl ihren Goldund Devisenbestand erheblich aufzustocken als auch in größerem Umfange im Ausland fallige Guthaben in Wechseln und Schecks hereinzunehmen und dadurch Auslandsreserven der Wirtschaft an sich zu ziehen, was einer Stabilisierung der Reichsmark zugute kam und den konsolidierten währungspolitischen Standard von 1923 nicht nur wieder erreichte sondern schließlich sogar überbot. 162 Diese Massierung von Gold und Auslandswerten im Reichsbankdepot 163 begründete eine geradezu glänzende
161 Stucken, Schaffung der Reichsmark, 264 f.; hierzu auch die Ausführungen von Reichsbankpräsident Schacht während seiner Befragung durch den Unterausschuß für Geld-, Kredit- und Finanzwesen (V. Unterausschuß) des Enquete-Ausschusses, in der Anlage zum Bericht; Enquete-Ausschuß, Die Reichsbank, Berlin 1929, S. 149. 162 Der durchschnittliche Goldbestand der Reichsbank während des Jahres 1913 wurde zum Jahresende 1925 bereits übertroffen (1208 Millionen RM zu 1068 Millionen M). Der jahresdurchschnittliche Goldbestand 1928 war gegenüber dem von 1913 mehr als verdoppelt (2189 Millionen RM). Außerdem befanden sich seit 1927 zusätzlich zwischen 400 und 1000 Millionen RM Devisen (1913 nur 188 Millionen M), am 31. Dezember 1924 für mehr als 1300 Millionen RM im Portefeuille der Reichsbank. Der Bestand an Auslandsguthaben erfüllte eine erste Zwischenfunktion, das Ansammeln von Devisen eine zweite während der fortschreitend konsolidierten Stabilisierung der Reichsbank als Hort der beständigen Währung; danach folgte die stetige Umwandlung in Gold. Dieser zielbewußt verfolgte Vorgang ließ die Vergleichszahlen von 1913 bereits bis Ende des Jahres 1925 hinter sich. Enquete-Ausschuß, Die Reichsbank, S. 80, auf Grundlage der Verwaltungsberichte und besonderer Nachweisungen der Reichsbank. James, Reichsbank, S. 357, gibt geringere Zahlen für die Devisendeckung an — nach Unterlagen im Nachlaß Luther. Dies erklärt sich aus der Anwendung eines engeren Devisenbegriffs, der nicht alle ausländischen Zahlungsmittel im Portefeuille der Reichsbank berücksichtigt, offenbar nur „foreign currency", nicht „foreign exchange". 163 Im Hinblick auf die Auslandswerte wie des Goldbestandes zu Beginn der Stabilisierungsphase 1923 gibt es offenbar Bewertungsunterschiede in den Darstellungen der hiermit befaßten Autoren in dem Sammelband der Deutschen Bundesbank, Währung und Wirtschaft, R. Stucken, Schaffung der Reichsmark, S. 264f., und Otto Pfleiderer, Die Reichsbank, S. 193. Das Wachstum hatte wohl zunächst im Gefolge der Kreditanforderungen an die Reichsbank begonnen, die dann die Kreditbedürfnisse generell restriktiv behandelte, um die Auslandswerte rasch an sich zu ziehen und zu vermehren.
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Währungsposition, 164 trug aber auch zu einer politischen Stellung der Reichsbank bei, die sich aus dem Reichsbankgesetz keineswegs unmittelbar ergab und sich natürlich auch nicht aus der Reichsverfassung ableiten ließ, aber von Reichsbankpräsident Schacht zielbewußt angestrebt 165 und 164 Die Reichsbank war durch das Bankgesetz verpflichtet, in Höhe von 40% für eine Deckung der im Umlauf befindlichen Zahlungsmittel durch Gold und Devisen Sorge zu tragen; in besonders schwierigen Ausnahmefällen durfte diese Deckungsgrenze unterschritten werden (§ 29). §22 verpflichtete sie aber auch zur Aufnahme von Gold. Diese Bestimmung gab ihr die Handhabe, die sie unter Schacht mit dem Erfolg einer zunehmenden Konzentration nutzte, während es bis 1930 noch keine formelle Goldeinlösungsverpflichtung für die umlaufende Währung gab. Tatsächlich waren die umlaufenden Reichsbanknoten (im Jahresdurchschnitt) stets zu mehr als 50 Prozent, 1925 bis 1927 sogar über 60 Prozent gedeckt; allein die Golddeckung belief sich seit dem letzten Quartal 1924 auf mehr als 40 Prozent. Sie stieg stetig an und lag 1926 sogar über 52, schließlich über 53 Prozent. Schacht begründete dies später, am 15. August 1925, damit, daß auch die noch — in abnehmender Menge — umlaufenden Rentenmarkscheine eine Golddeckung benötigten. BA, R43 1/634. Die bei der Reichsbank deponierten, auf das Ausland gezogenen Wechsel und Schecks erreichten stets eine Höhe von mehr als 30 Prozent, häufig von mehr als 40 Prozent der umlaufenden Noten, obgleich deren Menge ständig wuchs, was der Reichsregierung Sorgen bereitete, im Durchschnitt von 2,1 Milliarden RM im ersten Halbjahr 1925 auf 4,39 Milliarden RM im zweiten Halbjahr 1928. Enquete-Ausschuß, Die Reichsbank, S. 78. Eine von Hand gefertigte Darstellung in der Reichskanzlei, die offenbar den Aussprachen mit Schacht zugrundegelegt wurde, weicht hiervon erheblich ab und verzeichnet eine rasche und stetige Vermehrung des Zahlungsmittelumlaufs innerhalb eines kritischen Jahres, ultimo April 1924 bis ultimo März 1925, von 2,5 auf 4,5 Milliarden RM. BA, R 43 1/634. Die Summe der insgesamt der Wirtschaft von deutschen Banken gewährten Kredite stieg im gleichen Zeitraum von 2,1 auf 2,45 Milliarden RM; davon entfiel auf die Reichsbank lediglich eine Zunahme um 80 auf 700 Millionen RM. 165 Es sollte aber nicht übersehen werden, daß Schacht im Reichsbankdirektorium auch deshalb eine führende und bald tonangebende Rolle spielte, weil er mit ihm völlig übereinstimmte. Einheit und Stärke des Direktoriums, unter der Luther später gelitten hat, konnte der Reichsbankpräsident ebensowenig übergehen wie die gewichtigsten Stimmen im Zentralausschuß — Schacht, nach seiner problematischen Wahl im Konflikt mit dem Reichsbankdirektorium, schon gar nicht. S. oben Anm. 158. Tatsächlich ist von einem Konflikt im Reichsbankdirektorium nach dem Amtsantritt Schachts nichts bekannt geworden. Offenkundig schätzte man ihn dort alsbald als vorzüglichen Sprecher der eigenen Auffassungen und Absichten. Der akzentuierten Personalisierung wie der Unterschätzung der Institution gegenüber sind aber gravierende Vorbehalte am Platze; etwa — schon im Titel unsicher — die Schrift von Helmut Müller, Die Zentralbank — eine Nebenregierung. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht als Politiker der Weimarer Republik, Opladen 1973; anders jetzt die gründliche Arbeit von H. James, Reichsbank and Public Finance in Germany. Die erste entscheidende Auseinandersetzung zwischen Reichsbankdirektorium und Reichsregierung über den Diskontsatz am 4. und 17. April 1924 wurde auch nicht von Schacht, sondern ohne ihn, von den Vertretern der Reichsbank geführt. Stenogr. Niederschriften über die Aussprache in der Reichskanzlei am 4. und 17. April 1924 („streng vertraulich"), BA, R43 1/634. Das Bestehen der Reichsbank auf einem Diskontsatz von 9
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verteidigt wurde. „Ich darf sagen, daß wohl kaum eine Notenbank jemals ihren Goldbestand so vorteilhaft aufgefüllt hat, wie es die Reichsbank getan hat", erklärte Schacht im Dezember 1926; „einmal durch die Kreditrestriktion ab April 1924, die uns ungefähr 800 Millionen Devisen hereingebracht hat, dann durch die Dawes-Anleihe im Oktober 1924, deren Erlös uns glatt zu pari getauscht worden ist, und jetzt wiederum durch die Entwicklung, die augenblicklich zugunsten der Mark und zuungunsten des Pfundes vor sich geht." 166 Seine Politik in Währungs-, Prozent mit der Begründung, daß der englische 5 Prozent betrage, enthüllt die Situation wie die Politik, wenig Kredite zu gewähren, aber möglichst viel Gelder aus dem Ausland anzuziehen. Auch im Hinblick auf eine Diskussion im Zentralausschuß der Reichsbank stellt Blaich, Wirtschaftskrise, S. 65, fest, daß Salomonsohn (Disconto-Gesellschaft), Nathan (Dresdner Bank) und v. Schwabach (Bankhaus S. Bleichröder) „mit Schacht in der Diskontfrage völlig übereinstimmten. Mithin steckte diese Sitzung des Zentralausschusses die Fronten zwischen der Reichsbank und der Reichsregierung im Hinblick auf die Diskontpolitik klar ab." 166 Die Reichsbank, S. 157. Natürlich waren es nicht diese Gesichtspunkte, die Schacht und seiner Restriktionspolitik das Lob von Montagu Norman, dem Governor der Bank of England eintrugen; zitiert von Harold James, Did the Reichsbank draw the Right Conclusions? in: Feldman (Hrsg.), Nachwirkungen der Inflation, S. 217. — Schacht hat während seiner Vernehmung durch den V. Unterausschuß des Enquete-Ausschusses (Vorsitzender Rudolf Hilferding, ab August 1928 Georg Bernhard, Stellvertreter Bernhard Dernburg) zur Goldpolitik der Reichsbank recht aufschlußreich seinen Standpunkt vertreten: „... daß man Gold nicht kaufen muß, wenn man unter dem gesetzlichen Zwang steht, sondern dann, wenn es einem billig ins Haus gebracht wird bzw. wenn man es billig kaufen kann ... Daß wir überhaupt auf Gold anstelle von Devisen Wert legen und wir über das gesetzliche Minimum hinaus Gold ankaufen, das beruht schließlich auch auf der Überzeugung, daß Gold im Keller der Reichsbank nun doch etwas besser ist als ein Dollarguthaben bei einer amerikanischen Bank. Wir sind zwar heute alle der Ansicht, daß es uns gelingen wird, eine friedliche internationale Entwicklung ohne große Störungen zu erreichen. Aber das kann unter keinen Umständen die Verpflichtung beseitigen, daß wir uns nach Kräften auf eigene Füße zu stellen versuchen." Dies stimmt — teilweise wörtlich — mit den Darlegungen Schachts vom 14. August 1925 im Reichskabinett überein, Stenogr. Bericht BA, R 4 3 1/634. Die weiteren Gesichtspunkte, die Schacht dann anführte, decken sich zum Teil mit der jüngeren Kritik am System der Gold-Devisen-Deckung: „daß die bloße Devisenwährung in gewissem Sinne eine doppelte Kreditausnutzung bedeutet," da die Devisen im Inland als Notendeckung dienen und in ihrem Herkunftsland ebenfalls in einem Kreditvorgang verwendet werden, und „daß die Wiederverteilung der ... insbesondere in den Vereinigten Staaten angehäuften Goldbestände über die übrigen Wirtschaftsgebiete der Welt ein dringendes Erfordernis ist, um eine Ausgleichung in den Weltpreisen wieder herbeizuführen." Vgl. hierzu auch James, Reichsbank and Public Finance, S. 27 ff. Schwer wiegt der Einwand Dernburgs, daß für die Goldkäufe Devisen eingesetzt werden mußten, die gar nicht aus regulären Exportgeschäften herrührten, sondern aus dem „internationalen Leihgeschäft, das in Höhe von beinahe 5 Milliarden Mark in den letzten Jahren die deutsche Wirtschaft mit Devisen befruchtet hat." Enquete-Ausschuß, Die Reichsbank, S. 158 f.
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Kredit- und Reparationsfragen blieb stets Gegenpol zu den Entscheidungen der Reichsregierung. Des Reichskanzlers Luther bedenkliche Bemerkung: „Die Banken sind die glücklichen Besitzer des verhältnismäßig geringen Geldes" 167 , traf stets für die Reichsbank in erster Linie zu. Dieser Kurs der Reichsbank förderte das Auslandsgeschäft, erleichterte auch den Transfer der Reparationszahlungen, begründete, kurzum, ein „Primat der Außenpolitik" in der Währungs- und Wirtschaftspolitik. Die einschneidende Kreditrestriktion und der hohe, auch gegen die Klagen der Reichsregierung 168 beibehaltene Diskontsatz von 10 Prozent, dann noch bis Januar 1926 von 9 Prozent, wurde erst verspätet, unter dem Druck wieder stärker aus dem Auslande hereinkommender Gelder bei ständiger Unterbietung des Reichsbankdiskontsatzes, nach und nach weiter, im Juli 1926 auf 6 Prozent abgesenkt. 169 In den für die deutsche Wirtschaft so kritischen Monaten, ab September 1925, erreichte die Reichsbank bei steigendem Notenumlauf eine „fortlaufende Steigerung des Gold- und Devisenbestandes" auf Kosten des Bestandes an Inlandsanlagen. 170 Schachts später nachgeschobene Erklärung für diese Politik der verknappten Kredite und seines dann schließlich doch wenig erfolgreichen Widerstandes gegen die rasche Hereinnahme ausländischer Anleihen — durch die Schaffung einer Beratungsstelle für Auslandskredite — und kurzfristiger Kredite — durch die Einführung wechselnder Dollar-Notierungen — erscheint ebenso einfach wie deutlich. Die Kreditverteuerung bewirkte die Abstoßung von Warenvorräten, eine Erhöhung des Angebots und hierdurch Preissenkungen. Unter dem reparationspolitischen „Zwang zum Exportdumping" wurde erreicht, „daß der deutsche Wettbewerb sich auf der Welt in einem Umfang breit macht und sich durchzudrücken sucht ..., der am allerunangenehmsten von unseren ausländischen Konkurrenzländern empfunden wird." 171 Das später noch deutli17. April 1925, BA, R 43 1/634. Entgegen der unsicheren Haltung des Reichsfinanzministeriums (Staatssekretär Fischer), das von ausländischen Krediten lediglich inflationäre Entwicklungen befürchtete, bestand in der Reichskanzlei schon früh völlige Klarheit, daß der hohe Diskontsatz „für die Aufrechterhaltung der Währung gleichgültig" sei, aber einer für den Wirtschaftsaufschwung erforderlichen „allgemeinen Geldverbilligung" im Wege stünde. Referentenvortrag vom 17. Februar 1925, mit zustimmendem Randvermerk des Staatssekretärs Pünder, BA, R 431/633. 167 168
169 170 171
Reichsbank, S. 75. a.a.O., S. 108. Schacht, in: Reichsbank, S.168.
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eher hervortretende Prinzip, das System der „Tributleistungen" durch Strapazierung seiner eigenen Bedingungen aus den Angeln zu heben, erscheint hier schon ganz unmißverständlich.172 Jedenfalls hat Reichskanzler Brüning später, in den letzten Monaten seiner Amtsführung, nichts anderes getan, als — nach der Annahme des Young-Plans — die frühen Ideen Schachts zu befolgen. Den „außerordentlichen Reibungen" innerhalb der deutschen Wirtschaft, die „einer auf diesem Wege erzwungenen Korrektur der Handelsbilanz vorhergehen," 173 widmete der Reichsbankpräsident geringere Aufmerksamkeit. Die „geldregulierende Aufgabe der Reichsbank" besaß Vorrang und mußte seiner Auffassung nach mit aller Entschiedenheit gegen eine „Regulierung unserer Wirtschaft [durch die] ganz anders eingestellten Bank- und Geldinteressen des Auslands" 174 verteidigt werden, die er in erster Linie in der Kreditaufnahme der Kommunen verurteilte,175 offenbar dem außenwirtschaftlich wie außenpolitisch schwächsten Glied in der Reihe der deutschen Kreditnehmer. Aus seiner rasch gefestigten Meinung, daß die „politische und währungspolitische Situation in Europa" so beschaffen sei, „daß augenblicklich eigentlich nur in deutschen Anleihen für den New Yorker Markt ein Geschäft für die Bankiers zu machen ist," zog der Reichsbankpräsident entschlossen die Folgerung, „daß ... die Kredite für die private Wirtschaft unter allen Umständen den Krediten für die Kommunen vorzugehen haben ,.." 176 In dem ersten Punkte äußerte sich eine offenkundige Konvergenz der beteiligten in- und ausländischen Interessenten; mit dem strikten Hinweis 172 Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang schon mehrere Andeutungen Schachts, schließlich seine Bemerkungen nach einer Amerika-Reise: „Ich habe in ganz Amerika ... nicht einen einzigen Menschen gefunden, der an die Durchführbarkeit des Dawes-Planes glaubt", was womöglich nicht sehr übertrieben war. „Die Frage ist: Wer ist der Schuldige, den man nachher an den Pranger stellen kann, wenn sich nun wirklich erweist, daß die Ausführung nicht glückt? Ich glaube, die deutsche Politik muß alles vermeiden, was auch nur den Anschein erwecken könnte, ... als ob Deutschland der schuldige Teil wäre." Stenogr. Niedersehr. BA, R 431/634. 173 Reichsbank, S . 1 0 9 f . 174 Schacht, a. a. O., S. 167, 174. 175 Schacht am 15. August 1925: „Es besteht aller Anlaß, in der Bereitstellung der öffentlichen Gelder eine Änderung eintreten zu lassen. Es ist zu fordern, daß Reich, Länder und Gemeinden die Steuerkraft der Wirtschaft möglichst schonen und sich in den Ausgaben größere Beschränkungen auferlegen." BA, R 431/634. Vgl. auch James, Reichsbank and Public Finance, S. 45 ff.; S. 46 f., einzelne Zahlen, die die Drosselung des Zugangs kommunaler Auslandsanleihen belegen. 176 Schacht in der Aussprache in der Reichskanzlei am 5. Dezember 1925, BA, R43I/ 634.
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auf den zweiten versuchte Schacht, den Bedenken der Reichsregierung gegen allzu große ausländische Kapitalimporte entgegenzukommen. Mit dem Grundsatz, „daß die steuerzahlende Wirtschaft lebt, bevor die Kommune an Ausgaben herangeht", bezeichnete der Reichsbankpräsident eine strategische Linie, die er stets beibehielt und die der Einfuhr ausländischer Gelder, an der auch die Reichsbank selbst aus Gründen ihrer Goldhortungspolitik interessiert war, kein ernsthaftes Hindernis in den Weg legte, aber Minderberechtigte schon deutlich ins Auge faßte. Die rasch voranschreitende, fortgesetzt wachsende Aufnahme von Auslandskrediten belastete die deutsche Zahlungsbilanz künftiger Jahre mit steigenden Zins- und Amortisationsleistungen, die zu den Reparationszahlungen hinzutraten. Die Kredit- oder Anleihenehmer, zu denen auch die öffentliche Hand gehörte, handelten in der Erwartung, daß die deutsche Gesamtwirtschaft zum entscheidenden Termin für die Bereitstellung der erforderlichen Valuten sorgen werde. Alle verließen sich darauf, daß entweder die wachsenden Einnahmen Deutschlands aus Exporten den steigenden Auslandsforderungen entsprächen oder die Kreditgewährung aus dem Auslande auch fürderhin jederzeit für den erforderlichen Ausgleich der Zahlungsbilanz sorgen werde. 177 Indessen teilte die Reichsbank diese Ansicht mitnichten. „Die privaten Banken und Bankiers des Auslandes überschütten uns mit Gold", erklärte Schacht, während ihre Regierungen „über den Reparationsagenten dieses Gold wieder in ihre Länder zurückführen". Dem wolle die Reichsbank zwar nicht in der Absicht entgegenwirken, dem Strom ausländischer Kredite zur Belebung der deutschen Wirtschaft Einhalt zu gebieten, jedoch um ihre Verwendung zu dirigieren. Sie verfolgte aber auch die Absicht, die ausländischen Regierungen zu veranlassen, „diese Dinge in Gemeinschaft mit uns zu überprüfen", damit eine internationale „Erörterung dieser Probleme" zustandekomme: um „dem Kapitalinvestor denjenigen Schutz angedeihen zu lassen, auf den er unter allen Umständen Anspruch hat ... Große Summen von diesem Ausmaß lassen sich nicht im Wege des Tributs nutzbar machen." 178 Die „Dawes-Gesetzgebung" enthalte einen währungspolitischen Schutz; aber die „übertriebene Auslandsverschuldung" untergrabe die Transfersicherung, die diesen Schutz garantiere. Im internationalen Rahmen müßten daher die politischen Schulden auf das „wirtschaftlich-transferpolitisch tragbare Maß" herabgesetzt werden.
177 178
Enquete-Ausschuß: Die Reichsbank, S. 109. a.a.O., S. 168f.
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Was mit diesem Ausdruck gemeint war, trat später wesentlich klarer hervor: daß let2tlich das Schicksal der politischen, d. h. der Reparationsschulden von dem der neuen Auslandsschulden abhing. Schacht wünschte 1926 eine Klärung; aber er hatte trotz seiner drastischen Maßnahmen wenig Aussichten, seine Vorstellungen zu verwirklichen. Prohibitive Maßnahmen gegen den steigenden Bedarf an Auslandsanleihen führten nur zu zunehmender kurzfristiger Verschuldung mit den ihr eigenen Gefahren. Dies erklärte, abweichend von der Reichsbank, auch der Enquete-Unterausschuß für Geld-, Kredit- und Finanzwesen noch Anfang 1929: Er halte es „nicht für wirksam und nützlich, ... die langfristigen Auslandsanleihen besonderen Hemmungen zu unterwerfen, gleichviel ob sie zur Befriedigung des Kapitalbedarfs der privaten oder der öffentlichen Wirtschaft aufgenommen werden." 179 Diese Stellungnahme hatte das durch die Erfahrungen erhärtete Argument für sich, daß „eine solche Sonderbehandlung ... in der Regel nur zu Verschiebungen innerhalb der Kreditmärkte" führe. Eine Behinderung der Kreditaufnahme im Ausland bewirke eine Verteuerung der Kredite im Inland und führe schließlich zur Aufnahme kurzfristiger Kredite im Ausland, die sich kaum noch kontrollieren ließe. Entlastende Wirkungen auf die Wirtschaft gingen von dem erstmals unter dem Gesichtspunkt der Förderung des Wirtschaftsaufschwungs durch Peter Reinhold, den jugendlich-dynamischen und begabten, freilich auch umstrittenen Reichsfinanzminister, 180 nach den Forderungen des Hansabundes mit der SPD ausgehandelten Steuerkompromiß aus, der am 31. März 1926 Gesetz wurde und in den wesentlichen Teilen zum
a.a.O., S. 113. Peter Reinhold ( 1 8 8 7 - 1 9 5 5 , DDP), 1910 promoviert, Verleger des Leipziger Tageblatts, war 1920, erneut Jan. 1924—Jan. 1926 sächsischer Finanzminister und Jan. 1926—Jan. 1927 Reichsfinanzminister, MdL in Sachsen 1 9 1 9 - 1 9 2 4 , MdR 1 9 2 8 - 1 9 3 2 , 1930—1933 in leitender Stellung bei der .Vossischen Zeitung' und im Ullstein-Verlag. Zur Bedeutung Reinholds und seiner Beziehung zu den Staatssekretären in erster Linie das fundierte Urteil bei Hildemarie Dieckmann, Johannes Popitz. Entwicklung und Wirksamkeit in der Zeit der Weimarer Republik (Studien zur europäischen Geschichte aus dem Friedrich-Meinecke Institut der Freien Universität Berlin, IV), Berlin 1960, S. 59 ff., 68; Lutz Graf Schwerin v. Krosigk, Persönliche Erinnerungen, II. Teil, (Manuskript o. J.), S. 23ff., dort die großzügig distanzierte Umgangsweise Reinholds mit politischen Allüren der Weimarer Zeit; auch mit parlamentarischen Grundsätzen: Harry Graf Kessler, Tagebücher 1 9 1 8 - 1 9 3 7 , hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1979, S. 501 f. 179
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1. April in Kraft trat. 181 Haushaltstechnisch belastete er allerdings das Extraordinarium, das auch mit Hilfe einer größeren Anleiheermächtigung und durch Auflegung einer Reichsanleihe von 500 Millionen RM nicht ausgeglichen werden konnte. Mit dieser konjunkturell stimulierenden Haushaltsdisposition „hart am Rande des Defizits" (des ordentlichen Haushalts) leitete Reinhold eine Finanzpolitik ein, mit der dann für seinen Nachfolger Heinrich Köhler (Zentrum) die Deckung des Kassendefizits zum „Dauerproblem" wurde. 182 Es ist jedoch kaum wahrscheinlich, daß der allmählich einsetzende Aufschwung in erster Linie auf dieses Steuermilderungsprogramm zurückging, falls man nicht gar einen gravierenden psychologischen Einfluß der Reichstagsreden Reinholds auf die Wirtschaft veranschlagen möchte. 183 Die staatliche Exportförderung, Aufträge von Reichsbahn 181 Leuschen-Seppel, Staatsverantwortung, S. 177ff.; Blaich, Wirtschaftskrise, S. 138ff., mit breiter Darstellung der Reichstagsdebatten, deren Hintergründe der Aufklärung bedürfen. Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung, S.99ff., 107 ff. 182 Leuschen-Seppel, Staatsverantwortung, S. 123 f.; Ilse Maurer, Reichsfinanzen und große Koalition. Zur Geschichte des Reichskabinetts Müller (1928—1930) (Moderne Geschichte und Politik, 1), Bern/Frankfurt a. M. 1973, S. 14f.; auch schon Dietrich Baumgarten, Deutsche Finanzpolitik 1924—1928, rechts- und staatswiss. Diss. Freiburg i. Br. 1965, S. 137 — 141. Mit einigem Recht hebt William C. McNeil, American Money and the Weimar Republic. Economics and Politics on the Eve of the Great Depression, New York 1986, S. 11, die .„correct' policy of preserving a balanced budget" des Finanzministeriums hervor. Man muß jedoch hinzufügen, daß infolge der angespannten Lage des stark belasteten Haushalts ständig Kassendefizite und Zahlungsunfähigkeit des Reiches drohten. Der Haushaltsausgleich mußte daher als ein gewisser Schutz gegen diese immer bestehende Gefahr betrachtet werden.
Blaich scheint hierauf hinauszuwollen. Er erkennt, Wirtschaftskrise, S. 153, daß die Steuersenkung die deutsche Wirtschaft nicht unvorbereitet traf. Doch seine Vermutung, „dank der Nachrichtentätigkeit staatlicher und privater Organisationen konnten sich die Unternehmer in allen Wirtschaftszweigen schon während des Tiefpunktes der Depression darauf einstellen, daß durch eine Minderung der Steuerbelastung die Preise ihrer Konsumgüter verringert würden", erscheint zu vage, um zu überzeugen. Die zweifellos beeindrukkende Rhetorik Reinholds und die Heftigkeit wie Dauer der Reichstagsdebatten können freilich von der Kernfrage der Quantitäten ablenken, die den „Steuerkompromiß" eher zu einer sekundären Erscheinung des Aufschwungs als schon zu einer Wende stempeln. Von den beiden wichtigsten Komplexen kam die Aufhebung der Luxusumsatzsteuer vorwiegend kleineren Unternehmen arbeitsintensiver Industrien zugute. Der zweite, die Herabsetzung der Umsatzsteuer von 1 auf 0,75 Prozent je Umsatzphase (und Preiskalkulation!) fiel schon mit dem Aufschwung der Großhandelspreise während der Sommermonate 1926 (immerhin über 6 Prozent) zusammen. Nach einer Aufstellung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie beliefen sich 1927 die Steuerleistungen aller Kapitalgesellschaften insgesamt auf 3,31 Prozent des arbeitenden Kapitals bzw. 3,10 Prozent des Umsatzes (ohne die Umsatzsteuer, mit dieser 3,94 bzw. 3,96 Prozent), bei allen Unternehmungen überhaupt auf 3,4 183
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und Reichspost, die staatliche Förderung des Wohnungsbaus und schließlich ein Arbeitsbeschaffungsprogramm erzielten weit größere Effekte. Auch der im Januar 1926 beginnenden Senkung des ReichsbankdiskontProzent des Kapitals bzw. 3,09 Prozent des Umsatzes ohne, 4,06 bzw. 3,68 Prozent unter Einschluß der Umsatzsteuer; Export und Import waren umsatzsteuerfrei. Wenn auch damals diese Sätze, die allerdings in einzelnen Wirtschaftszweigen variierten, als Hemmnis für die Eigenkapitalbildung bezeichnet wurden, so doch mit der Stoßrichtung gegen das Steuersystem insgesamt mit verschiedenen Steuern und Steuerarten und deren summierende Wirkung, nicht gegen die Umsatzsteuer im besonderen. B. Skrodzki, Κ. E. Moessner, Besteuerung, Ertrag und Arbeitslohn industrieller Unternehmungen im Jahre 1927 (Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, 47), September 1929, bes. S. 23, 44. Drei Jahre später entstand eine Kontroverse im Anschluß an den — auf Schumpeters Anregungen zurückgehenden — Vorschlag, die Umsatzsteuer wieder zu erhöhen. Die Gegner dieses Vorschlags und die Verteidiger der 1925 und von Reinhold 1926 durchgeführten Umsatzsteuersenkung stützten sich auf die Behauptung der preisauftriebmildernden Wirkung, die sich allerdings nicht beweisen ließ. Von einer konjunkturstimulierenden Wirkung der Reinholdschen Senkung war auch bei ihren Verteidigern keine Rede. Insofern ist der Kontext der Zitate von Blaich, a. a. O., S. 155, zu rektifizieren. Vgl. Kapitalbildung und Steuersystem. Verhandlungen und Gutachten der Konferenz von Eilsen, 26. bis 28. Oktober 1929 (Veröffentlichungen der Friedrich List-Gesellschaft e.V., 4), hrsg. von Gerhard Colm und Hans Neisser, Berlin 1930,1, S. 406,471, 479, II, S. 1 7 - 2 5 , 122, 144 f., 316 ff., 349 f. Auf die Dauer haben sich hier wie auch später zwei Auffassungen zugunsten der Umsatzsteuer durchgesetzt: die wiederholt zitierte Schumpetersche, daß sich die Last der Umsatzsteuer „wie weicher Mörtel in alle Fugen und Risse, an alle Ein- und Ausbuchtungen des Wirtschaftskörpers schmiegt und sich so in der wenigst produktionshindernden Weise zu verteilen strebt" (zweimal zit. a.a.O., II, S.275, 316f.); und die andere, nüchtern folgernde, daß ein niedrig veranschlagter Steuersatz wie der der Umsatzsteuer allein weder Produktionseinschränkungen noch Produktionssteigerungen verursachen könne. (Gutachten von Sven Heiander, a. a. O., S. 349). Reinhold selbst bestand in Eilsen auf der Ansicht, daß es besser gewesen sei, durch Senkung der Umsatzsteuer 1926 „400 Millionen in der Wirtschaft zu lassen, statt sie Staatskassen und Gemeindekassen zuzuführen, um dort eine Ausgabenerhöhungsfreudigkeit sowohl für die Behörden als auch für die Parlamente großzuziehen" (a.a.O., S. 111). Diese Betrachtungsweise konnte allerdings gar nicht überzeugen, denn die „Ausgabenfreudigkeit" alimentierte sich nunmehr mit Hilfe des Anleihemarktes; Reinhold hatte selbst ein Zeichen gesetzt, indem er den Ausgleich des Haushalts durch eine Anleihe herbeizuführen versuchte und damit eher neue Ausgaben stimulierte. (Aber der Streit um die Umsatzsteuer ist längst obsolet. Die Umsatzsteuer in der Konstruktion einer prinzipiellen Allphasenbesteuerung, die die Produktion in jedem juristisch selbständigen Betrieb veranlagte, ließ nicht nur die Ausnahme zu, sondern verfolgte mit dem sogenannten Organschafts-Privileg den Zweck, die Konzentration der Unternehmen zu einheitlicher Organisation zu begünstigen.) Kritischer als Blaich Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung, S. 111 ff. Einen Dissens zwischen Reinhold und Reichskanzler Luther, der den wirtschaftlich stimulierenden Effekt der Reinholdschen Maßnahmen bezweifelte, vermerkt Harold James, The German Slump. Politics and Economics 1924—1936, Oxford 1986, S. 44, die Nähe der Praktiken wie der Rhetorik dagegen McNeill, American Money, S. 124 f.
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satzes dürfen kaum noch größere Wirkungen unterstellt werden, zumal die Reichsbank gar nicht mehr unbestritten die Richtung der Kreditentwicklung bestimmte, sondern dem Trend der ohne ihr Zutun absinkenden Zinssätze nachgab. 184 Die an der Jahreswende fühlbar werdende Liquidität war auch nicht das Werk der Reichsbank. Werfen wir wieder einen Blick auf zuverlässige Statistiken, die zur Verfügung stehen. Unter den statistisch erfaßten Mitgliedern des Deutschen Metallarbeiterverbandes ging im April 1926 die Zahl der Arbeitslosen fühlbar, die der Kurzarbeiter erheblich zurück. Es gab aber einen neuen Anstieg im Juli 185 ; auf eine Wende nach dem „Steuerkompromiß" deutet auch dies nicht hin. Die Anzahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter unter allen Mitgliedern der Freien Gewerkschaften ging nach dem hohen Stand im Januar 1926 186 sukzessiv zurück. Allerdings veränderte sich die Gesamtzahl der unterstützten Arbeitslosen wie der gemeldeten Kurzarbeiter anfangs nur zögernd, von Januar bis Oktober 1926 nicht ganz um die Hälfte. Der Index der gesamten industriellen Erzeugung erreichte im April 1926 den Tiefststand, knapp unter dem Januar-Index, der Index der Produktionsgüter ebenfalls im April, der der Verbrauchsgüter „des elastischen Bedarfs" im Juli. Auch andere Zahlen bezeugen den allmählich in Gang kommenden, natürlich nicht einheitlichen, aber teilweise schon früh einsetzenden und dann beträchtlichen Aufschwung im Jahre 1926. Ausgangsbasis und Schwerpunkte der Krise lagen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Infolgedessen läßt sich auch die weitere Entwicklung dort am besten beobachten. Der Verkehr in den Häfen von Duisburg-Ruhrort, dem 184 Der Privatdiskontsatz betrug am Jahresende 1925 6,75 Prozent; der durchschnittliche Tagesgeldzinssatz lag 1925 in Berlin mit 9,18 Prozent, in der Höhe des Reichsbankdiskontsatzes, auf dem niedrigsten Niveau während der zwanziger Jahre. Vgl. die Tabellenreihe der Deutschen Bundesbank (Hrsg.), Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876 — 1975, Frankfurt a. M. 1976, S. 278 f. Das von Blaich, Wirtschaftspolitik, S. 141, wiedergegebene Zitat, daß „die Zinsen aller nicht ganz kurzfristigen Anlagen sehr weit über dem Reichsbankdiskont" gelegen hätten, entspricht nicht der Gesamtlage. 185 Nach d e n Berechnungen von Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918 — 1933, S.415. Die Tabellen haben den Nachteil, daß sie nur jeweils den ersten Quartalsmonat aufführen und daher den Verlauf während des Jahres nicht ausreichend sichtbar werden lassen. Die Anhalte, die sie geben, können mithin nur cum grano salis genommen werden, ergeben jedoch einige bemerkenswerte Aufschlüsse. 186 Zusammen 45,2 Prozent der Mitglieder. Ebda. Dem entspricht auch die Bewegung der Gesamtzahl der Beschäftigten; Wirtschaftsjahr 1926. Jahresbericht der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern des Ruhrbezirks zu Bochum, Dortmund, Duisburg-Ruhrort, Essen, Krefeld und Münster, Essen [1927], S. 341, 365.
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größten Binnenhafenbezirk Deutschlands, erreichte schon im Februar und erneut im Mai 1926 Spitzenumsätze, so daß erstmals wieder der Jahresumsatz von 1913 erreicht wurde. 187 Die Zahl der Kraftfahrzeuge in ganz Deutschland nahm von 1925 auf 1926 um mehr als 25 Prozent zu; darunter allerdings zu einem großen Teil die — noch hierzu gerechneten — Großkrafträder.188 Die Streckenlängen des nach dem Kriege eingerichteten Kraftfahrlinien Verkehrs, der zu drei Vierteln von der Post, im übrigen von Kommunen oder privaten Unternehmen betrieben wurde, beliefen sich in den Provinzen Rheinland und Westfalen im November 1925 auf insgesamt 5700 km, im Juni 1926 auf 8600 km, ein enormer Zuwachs in verhältnismäßig kurzer Zeit, der auf ältere Planungen, allerdings auch forcierte Aufträge verweist und mit beträchtlichen Investitionen verbunden war — in einer Zeit, in der im innerstädtischen Verkehr Kraftomnibusse als Konkurrenten der Straßenbahn noch kaum ernsthaft in Betracht kamen. Hier gaben offenkundig konjunkturfördernde Investitionen der Reichspost den Ausschlag. Die Einnahmen der Reichsbahn aus dem Güterverkehr — etwas zögernder aus dem Personenverkehr — nahmen seit Februar 1926 wieder von Monat zu Monat zu und erreichten im September einen neuen Höchststand. Die gesamte Steinkohlenförderung in Deutschland nahm seit Mai 1926, sicherlich auch infolge des langen Bergarbeiterstreiks in England, stetig zu und erreichte im Juli den höchsten Monatsdurchschnitt seit dem Kriege, der im Oktober erneut übertroffen wurde. Die Zahl der wegen Absatzmangels steigenden Feierschichten ging im Ruhrkohlenbezirk seit April 1926 rasch zurück; sie war im Mai nur noch gering und entfiel alsdann in den Erhebungen gänzlich. Seit Juni nahmen die Neueinstellungen stetig zu, wuchsen die Belegschaften bis Oktober um mehr als ein Drittel. Die Braunkohlenförderung ging zwar noch im Mai 1926 stärker zurück, wuchs danach aber stetig. Die Roheisenerzeugung Deutschlands nahm seit März 1926 leicht, seit Mai stetig zu. Ähnliches gilt für die Stahlerzeugung; die mittlere Monatsproduktion des Jahres 1925 wurde seit Juli 1926 in fortgesetzter Steigerung ständig überboten. Aber auch die negativen Wirtschaftsfakten belegen diese Aufschwungschronik. Die Zahl der Konkurse erreichte im Januar, die der zwangsweise verfügten Geschäftsaufsichten im Februar 1926 den höchsten Punkt, der dann mehr oder minder schnell verlassen wurde; bereits zwischen Juni a.a.O., S. 108. a. a. O., S. 114. Das Erhebungsdatum ist nicht genannt. Auch die folgenden Angaben nach dieser Quelle. 187
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und August ist der niedrigste Stand der Vorjahre unterschritten.189 Der Aktienindex der Berliner Börse, der vom Januar bis zum Dezember 1925 um die Hälfte — von 117,3 auf 66,8 — zurückging, erreichte im August 1926 den höchsten Stand des Vorjahres und im Oktober den ersten Nachkriegshöchststand von 132,7. Dennoch trat im Rückgang der reagiblen Preise, der das ganze Jahr 1925 hindurch anhielt, noch keine Wende ein; die Lebenshaltungskosten zogen aus diesem Grunde nur geringfügig, die Großhandelspreise allerdings seit März 1926 schon stärker an190; der unverhältnismäßig hohe Preisstand vom Januar 1925 wurde allerdings nicht wieder erreicht. Diese Postindikatoren zeigen mithin insgesamt einen gesunden Aufschwung nach einer raschen Wende an. Der Wert der deutschen Einfuhren war von November 1925 bis Mai 1926 stark zurückgegangen. Die Ausfuhr blieb indessen von dem Kriseneinbruch unberührt und gehorchte einer seit der Währungsstabilisierung steigenden Tendenz,191 was der Reichsbankpräsident unter den Bedingungen der Reparationsverpflichtung — sogar in der Form eines „Exportdumpings" — für geboten hielt. Eine zunehmende Ausfuhr auf einen aufnahmefähigen Weltmarkt schien möglich und konnte auf längere Sicht krisendämpfend wirken. Auch in anderer Hinsicht konnten die weltwirtschaftlichen Beziehungen einem neuen Aufschwung Impulse vermitteln, die die drastische Wirkung der Kreditrestriktion der Reichsbank allmählich milderten und schließlich abfingen. Während die Reichsbank 1926 insgesamt weniger Kredite vergab als 1925, 2004 nach 2156 Millionen,192 nahm die Summe der laufenden Kredite, von einem mäßigen Rückgang zum Jahresende 1925 und zu Beginn 1926 abgesehen, trotz einschränkender Akte der Reichsbank, ständig zu; allein die Wechselbestände der sechs Berliner Großbanken, deren Geschäftsanteile kontinuierlich wuchsen, reichten seit dem zweiten Quartal 1926 dicht an die Größenordnung der Wechselbestände der Reichsbank heran, wovon vorher nie die Rede sein konnte.193 Der Umfang des Emissionsgeschäfts a.a.O., S.331. Indexveränderung um 8,7 Punkte von Dezember 1925 (121,5) bis Oktober 1926 (130,2). 191 a.a.O., S.364. 192 Bundesbank, Deutsches Geld- und Bankwesen, S. 43. 193 Wirtschaftsjahr 1926, S. 347 ff. Der Anlaß zur späteren größeren Krise ist mit guten Gründen in der nicht schritthaltenden Eigenkapitalbildung gesehen worden; aber auch dies ging letztlich auf die Reichsbankpolitik zurück. Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning, Die Liquidität der Banken in der Weimarer Republik, in: Harald Winkel (Hrsg.), Finanz- und wirtschaftspolitische Fragen der Zwischenkriegszeit (Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 13), Berlin 1973, S . 6 9 f f . , 85. 189
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übertraf bereits in den ersten neun Monaten des Jahres 1926 den der beiden Vorjahre beträchtlich; auch öffentliche Anleihen wurden in größerem Umfang nun im Inland untergebracht. Das ermöglichte den wachsenden Aufbau kreditabhängiger Neuanlagen durch die öffentliche Hand, namentlich in der Verkehrswirtschaft, in der Energiewirtschaft und im Wohnungsbau,194 deren weitere konjunkturfördernde Wirkungen offenkundig sind. Von dem Gesamtbetrag der Emissionen der ersten neun Monate 1926, der nahe an 4 Milliarden RM (gegenüber fast 3 Milliarden im ganzen Jahre 1925) heranreichte, entfielen 29 Prozent auf Auslandsanleihen, was in der absoluten Zahl etwa der gesamten Anleiheaufnahme der Jahre 1924 und 1925 entsprach.195 Der Strom ausländischer Kredite hielt also an und steigerte sich eben gerade in der Phase einer restriktiven Kreditpolitik der Reichsbank. Hinzu trat die starke Belebung des inländischen Kreditgeschäfts, wobei sich allerdings die Herkunft der Gelder nicht einfach erklären läßt. Seit Dezember 1924 lag der Privatdiskontsatz in Berlin unter dem Reichsbankdiskontsatz, seit Januar 1925 meist auch der Tagesgeldzins und seit Februar 1926 — bis zum August — der Monatsgeldzinssatz.196 Doch die deutschen Zinssätze lagen noch erheblich, 1925 um das Doppelte über denen des Auslands, was die ansaugende Wirkung auf das Auslandskapital erklärt. In der Tat: der hohe Reichsbanksatz „entbehrte damit jeder normativen Bedeutung". 197 Die letzten Rechtfertigungsversuche durch Schacht klangen kaum noch glaubwürdig. 198 Die Privatbanken wurden fast schon mit Nachdruck auf Auslandsgelder verwiesen. Zunächst aber ging von der scharfen Kreditrestriktion eine schockartige Wirkung aus, die einige Monate anhielt und einen bereits in Gang gekommenen Umstellungsprozeß in der Wirtschaft verhältnismäßig rasch und drastisch vorantrieb. Da ein weltwirtschaftlicher Ausgleich möglich war, mag man von einer Reinigungskrise oder mit Vgl. Blaich, Wirtschaftskrise, S. 166. Wirtschaftsjahr 1926, S. 327. 196 a.a.O., S. 358; vgl. auch oben, Anm.184. 197 a. a. O., S. 329. 198 Niederschrift der Chefbesprechung am 15. Februar 1926, BA, R 431/635. Schacht: „An sich gebe er zu, daß mit Rücksicht auf die gegenwärtigen Geldverhältnisse der Diskontsatz überhöht sei. Er könnte an sich herabgesetzt werden. Er sei aber sicher, daß er ihn in 6 Wochen, wenn sich die Konjunktur wieder belebt habe, wieder heraufsetzen müsse. Diese dauernden Änderungen des Diskonts trügen nur eine Beunruhigung in die Wirtschaft, und diese möchte er vermeiden." Es gelang ihm indessen, den Druck auf die Banken als notwendig hinzustellen, um sie zu weiterer Senkung ihrer Zinsen und Provisionen zu veranlassen. 194
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Schacht auch von „Modernisierung" 199 sprechen; doch die rasche „allgemeine Verschlechterung der Wirtschaftslage" erkannte der Reichsbankpräsident wohl zu spät oder gestand sie zu spät ein. 200 Die Opfer stellten sich in einer hohen Zahl von Geschäftszusammenbrüchen, Konzernkrisen — auch dem Ende des Stinnes-Konzerns in seiner alten Form —, einer für mehrere Monate verhältnismäßig hohen Zahl von Arbeitslosen und kaum weniger Kurzarbeitenden dar. Das Einströmen von Auslandsanleihen wurde nicht verhindert, faktisch gefördert. Andererseits hatten Schacht und das Reichsbankdirektorium der Regierung Luther gegenüber hinhaltenden Widerstand geleistet, ehe eine Senkung des Diskontsatzes beschlossen und dann, in mehreren Stufen bis zum 7. Juli 1926 auf 6 Prozent, verwirklicht wurde. 201 Die mit eigener Hand verschärfte „Selbstreinigungskrise" der deutschen Wirtschaft, die, nach Schachts Erklärung, „Inflationsblüten" beseitigen und die Unternehmer durch „harte Kontraktionspolitik zu nüchterner Kalkulationsweise" zwingen sollte, 202 hatte er trotz Schrumpfungsprozeß und Arbeitslosigkeit durchgehalten; am neuen Aufschwung war die Reichsbank weniger beteiligt. Kontraktion und „Rationalisierung" führten jedoch bei weitem nicht zu einheitlichen Folgen und Formen. Die forcierte allgemeine industrielle Rationalisierung ergab auch Fehlinvestitionen, wenn etwa die betriebsorganisatorischen oder technischen Voraussetzungen noch unausgereift waren. 203 Am Beispiel der deutschen Kohlenwirtschaft und der ihr angeschlossenen chemischen Fabrikation läßt sich erkennen, wie stark die Ergebnisse auch in regionaler Beziehung voneinander abwichen. 204 Die „negative" Rationalisierung bestand vor allem in der Stillegung von wenig rentablen oder verkehrsmäßig ungünstig gelegenen Zechen oder im Verzicht auf Abbau damals als schwach geltender Flöze. Mit Ausnahme Oberschlesiens, wo politische Gründe entgegenstanden, geschah dies in allen Bergbaubezirken. Insgesamt wurden 91 Zechen mit einer Belegschaft von 58 000 Arbeitern sillgelegt. Schon aus psychologischen Rücksichten wurde dies als „leistungssteigernd" in den nicht Besprechung mit den Reichsministern am H.August 1925, BA, R431/634. In der Besprechung am 5. Dezember 1925, BA, R 4 3 1/634. 201 Unter stetem Drängen der Reichsregierung, Luthers, Curtius' und Reinholds; so auch Blaich, Wirtschaftskrise, S. 144 f. 202 a.a.O., S. 105. 203 Bester, Literatur und Forschungen zusammenfassender Überblick mit charakteristischen Beispielen von Harold James, The German Slump, S. 146 — 154. 204 Ausführliche Angaben der Sachverständigen für die einzelnen Bergbau- und Industriegebiete: Die deutsche Kohlenwirtschaft, S. 297—305. 159
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betroffenen Belegschaften ausgegeben. Weithin kam es zur Zusammenlegung von Betrieben und Konzentration von Unternehmungen, meist unter dem Druck der Trusts, teils mit Hilfe von Abfindungen. Die Betriebsverminderung oder Unternehmenskonzentration innerhalb der Konzerne gedieh am weitesten in den Bergbaugebieten Niederschlesiens, Mitteldeutschlands und in Sachsen, wo von 21 Unternehmungen, die 1919 das Sächsische Kohlensyndikat gründeten, nur neun — mit dem Schwerpunkt beim erzgebirgischen Steinkohlen-Aktienverein und anderen Unternehmen des Zwickauer Gebietes, unter entscheidender Beteiligung der Städte Zwickau und Leipzig sowie des sächsischen Staates, — übrig blieben. Die technisch modernisierende, die „positive Rationalisierung" gedieh noch weniger einheitlich. Im niederschlesischen Bergbau wurden 1925 die ersten Schrämmaschinen eingeführt und schritt die Umstellung auf den mechanischen Betrieb rasch voran, so daß schon nach wenigen Jahren der Handbetrieb aus dem Kohlenabbau völlig verschwand. Im mitteldeutschen und im ostelbischen Braunkohlenrevier, wo Kohle nur im Tagebau gewonnen wurde und schon vorher die Mechanisierung eine größere Rolle spielte, wurde sie vervollkommnet. Brikettfabriken, Kraftwerke und Kohlenverwertungsfabrikationen spielten eine stetig an Bedeutung gewinnende Rolle. Aber der Mangel an Kapitalien und Investitionshilfen zog fast überall deutliche Grenzen, Schloß in Oberschlesien eine systematische Technisierung völlig aus und führte in Sachsen noch nicht zu tragfahigen Lösungen. In den günstigsten Gebieten, im Aachener und im rheinisch-westfälischen Bezirk, schritt sie verhältnismäßig schnell voran, ohne daß die Kapazitäten voll ausgeschöpft werden konnten; so im starken Aachener Revier, weil hier nach der Veränderung der Betriebsstrukturen, unter Einwirkung des benachbarten holländischen Grubenreviers, Arbeitermangel herrschte und die tarifliche Lohnbindung unerwartete Nachteile zeitigte. Die deutsche Monatsförderung von Steinkohle, die im Juni 1925 mit 9,9 Millionen t auf dem niedrigsten Stand anlangte, belief sich im Juli 1926 auf 13,1 Millionen t. Die gesamte Jahresförderung betrug 1925 132,7, 1926 145,3 und 1927 153,6 Millionen t. Die Braunkohlenförderung, deren Tiefpunkt etwas später lag, erreichte 1926 139,2 und 1927 150,9 Millionen t.205
205 Konjunkturstatistisches Handbuch 1936, S. 200, 202. Der Ruhranteil an der gesamten Steinkohlenförderung in Deutschland betrug 1925 104,3, 1926 112,2 und 1927 118 Mill.t. Vgl. James, German Slump, S. 155.
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Schulz II
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Der „negativen Rationalisierung" rechnete man aber auch die Unternehmenskonzentration in Großkonzernen und die Produktionsquotenfestlegung in internationalen Kartellen zu, die wohl folgenreichste Erscheinung der deutschen Wirtschaftskrise in der Mitte des zweiten Jahrzehnts. In der eisenerzeugenden wie in der chemischen Industrie setzte sich diese Tendenz mit epochaler Dominanz durch und bestimmte auch eine weitreichende „Erneuerung der Verbände" 206 . Wir können es hier auf sich beruhen lassen, inwieweit diese kontrahierende Tendenz der Rationalisierung von den einflußreichsten Wirtschaftsführern überhaupt mit der Reparationspolitik in Beziehung gesetzt wurde. Einige kritische und kompetente zeitgenössische Beobachter sowohl der Reparationsgeschichte als auch der deutschen Wirtschaftsstruktur hielten indessen die durchgreifende Umstellung für eine unausweichliche Folge der „experimentellen Lösung" der Reparationsfrage nach dem Dawes-Abkommen. „Es kommt nicht nur darauf an, ob die bestehenden Produktionsanlagen Deutschlands in technischer Hinsicht zum größeren oder geringeren Teil gut oder glänzend ausgerüstet sind," schrieb ein Reparationssachverständiger des Reichswirtschaftsministeriums schon Anfang 1924 in einer gutachtlichen Stellungnahme, „sondern ob das gesamte System unserer Industrie ökonomisch rationell ist; ob also die einzelnen Produktionsarten nach dem Verhältnis der Absatzfahigkeit ihrer Produkte vorhanden sind. Es könnte hier eine starke Disproportionalität vorliegen, die erst durch Krisen unter entsprechenden Umstellungsverlusten beseitigt werden würde. Daß die jahrelange Inzucht der deutschen Industrie während des Abschlusses Deutschlands von der Weltwirtschaft im Kriege und der Inflationismus nach dem Kriege, insbesondere in den letzten Jahren starke ökonomische Anormalitäten zeitigen mußten, versteht sich eigentlich von selbst. Am deutlichsten findet dies seinen Ausdruck in der außerordentlichen Betriebskapitalknappheit der deutschen Wirtschaft, die ein krasses Mißverhältnis zwischen festen Anlagen und Betriebsmitteln zeigt, aus dem schwere Verluste von investiertem Kapital noch entspringen müssen, wenn nicht ein starker Zustrom von Auslandskapitalien
206 Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, III. Unterausschuß, Die deutsche eisenerzeugende Industrie, Berlin 1930, S . 2 2 f . Zur Konsolidierung des historischen Vorrangs von Bergbau und Eisen- und Stahlindustrie des rheinisch-westfälischen Industriegebietes: Bernd Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise, Wuppertal 1978, S. 1 4 5 - 1 8 6 .
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die nötigen Betriebsmittel zur Verfügung stellt."207 Das real gedachte, vielleicht utopisch anmutende Ziel einer „Selbstreinigung" der Wirtschaft bedeutete innerhalb einer derartigen Betrachtung letztlich optimale Selbstorganisation. Die Zukunftsaussichten blieben allerdings unsicher, erlaubten j edenfall kaum optimistische Beurteilungen. Die letzte Konsequenz in den Überlegungen desselben Autors führte zu der Einsicht, „daß die Umstellungsschwierigkeiten und Umstellungsverluste mit der Größe der Umstellung in mehr als arithmetischer, beinahe geometrischer Progression wachsen." Was diese Feststellung auch immer beinhalten mag, es bestand in einsichtigen Köpfen offenbar kein Zweifel, daß alle diese weitreichenden Bewegungen der Wirtschaft Staat und Verfassung, das gesamte politische System auf irgendeine Weise betreffen beziehungsweise einbeziehen würden. Dies konnte früh schon deutlich in dem Streit zwischen dem Agenten des Reparationskomitees und den Repräsentanten der deutschen öffentlichen Verwaltung beobachtet werden, von dem sich allerdings die Reichsregierung, vor allem der Reichsaußenminister auf vornehme Weise zu distanzieren versuchten. Der vom Dawes-Komitee eingesetzte Reparationsagent Parker Gilbert erklärte sich an einer unmittelbaren Steigerung der Produktivität der Exportwirtschaft interessiert, die die Devisenansammlung und die Transferierung der Reparationszahlungen erleichterte. Er folgte immer entschiedener der vom Reichsbankpräsidenten Schacht in der Entscheidungsklemme des Jahres 1925 angedeuteten Intention, die Konkurrenz der öffentlichen Hand auf dem Anleihemarkt zurückzudrängen, ihren Geldbedarf nach Möglichkeit zu reduzieren, auf Vereinfachungen und Einsparungen der öffentlichen Verwaltungen und auf Abbau derjenigen Steuern wie der Soziallasten zu drängen, die die Kalkulationen der wirtschaftlichen Unternehmen beeinflußten. Gilbert hat mit drastischen Einwänden 1927 auf die Beamtenbesoldungsreform des Reichsfinanzministers Köhler geantwortet 208 und dem umstrittenen Maß207 Wilhelm Lautenbach in seinem Gutachten „Die Tributleistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft" vom 14. Januar 1924, abgedruckt in: Lautenbach, Zins, Kredit und Produktion, hrsg. von Wolfgang Stiitzel, Tübingen 1952, S. 118 — 125. Diese konzisen Gedanken erscheinen auch durch die kenntnisreiche Kritik des Rationalisierungskomplexes von James, German Slump, S. 163 ff., keineswegs entwertet oder überholt. 208 Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 570 ff. Das Memorandum des Reparationsagenten und die Antwort der Reichsregierung in der amtlichen Fassung, Berlin o. J. [Oktober 1927]; vorher der im Juni 1927 veröffentlichte Bericht, Parker Gilbert, Deutschland unter dem Dawes-Plan (Berichte des Generalagenten nebst Sonderberichten der Kommissare und Treuhänder, 3), Berlin 1927. Das wenig geklärte Produktivitätsprinzip lag auch auf deutscher Seite der Begutachtung der Anleiheanträge durch die Beratungsstelle 9»
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stab der „productiveness" Respekt zu verschaffen versucht. Während die Reparationsgläubiger die deutschen Leistungen als unentbehrliche Bestandteile auf der Einnahmenseite ihrer Staatshaushalte einsetzten, ging die Reichsfinanzpolitik der Stabilisierungsphase seit Reinhold dazu über, wie oben gezeigt, in größerem Umfang auch eine neue Auslandsverschuldung des Staates hinzunehmen, um sie zur Entlastung von Wirtschaft und Haushalt einzusetzen. Sie trug zur wirtschaftlichen Erholung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre bei, fand sich jedoch auch in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs nie mehr in der Lage, den Reichshaushalt ohne Defizite abzuschließen.209 Sprecher großindustrieller Interessengruppen gingen indessen nicht nur in der Tonart, sondern mitunter auch in der Sache selbst noch weiter als der Reparationsagent. Ihr Interesse richtete sich auf einen zunehmenden Anteil an dem aus dem Ausland zufließenden Kapitalstrom. Das Erfordernis der Rationalisierung wurde in manchen Zweigen schon zu einer Art legitimierender Generalformel für den hochentwickelten Kapitalismus produktions- und exportstarker Großunternehmen. Natürlich können Übersteigerungen oder Übertreibungen des Interesses in einem auf Interessen beruhenden System nie ausbleiben. Dieses Faktum bildete alsbald das gravierende Problem. Schon 1927 lief das Wort von einer „Selbstkostenkrise" der deutschen Wirtschaft um und wurde eine Beschränkung der Ausgaben der öffentlichen Hand und der „Bewilligungsfreudigkeit der Parlamente" gefordert. 210 In der Verbreitung der mit dem Topos „Krise" verknüpften Wortverbindungen scheint bereits während der letzten zwanziger Jahre die Furcht vor einem Abbruch der zugrunde. Hermann Dietrich-Troeltsch, Die Errichtung der Beratungsstelle für Auslandskredite und ihre Funktionsweise, in: Karl-Heinrich Hansmeyer (Hrsg.), Kommunale Finanzpolitik in der Weimarer Republik, S. 174—186. Zur Person Gilberts und den Verständnisschwierigkeiten des Reichsfinanzministers Köhler McNeil, American Money, S. 29 f., 183 ff.; vgl. Heinrich Köhler, Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1 8 7 8 - 1 9 4 9 , hrsg. von Josef Becker, Stuttgart 1964, S. 242ff. 209 Die Rechnung des Reichshaushaltsjahrs 1924/25 Schloß mit einem Überschuß von 537 Millionen RM ab. Die folgenden Haushaltsjahre ergaben jedoch stark ansteigende Fehlbeträge, 1925/26: 110 Millionen, 1926/27: 853, 1927/28: 355 und 1928/29: 1237 Millionen RM; Die Reparationsleistungen im 5. Planungsjahr. Der Bericht des Generalagenten vom 21. Mai 1930, S. 109 f. — Geringfügige Abweichungen ergeben sich aus verschiedenen Rundungen von Teilbeträgen zu Millionen-Summen. Vgl. Raab, Die Entwicklung der Reichsfinanzen seit 1924, S. 65. — Für den Ausgleich wurden regelmäßig Anleihen eingestellt. Auch an dem Überschuß von 1924/25 war bereits eine Anleihe in Höhe von 355 Millionen RM beteiligt, was in der Literatur meist übergangen wird. 210
Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 659 ff.
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Konjunktur deutlich greifbar. Diese Drohung schwebte seit Beginn des Aufschwungs ständig über dem sich regenerierenden politischen und wirtschaftlichen System. Sie wurde von Sprechern der industriellen Interessen schon frühzeitig prononciert ausgedrückt, meist mit einseitigen Argumenten verknüpft, wie es Art der Interessenpolemik ist. In Anbetracht des zunehmenden Depositen- wie des Kreditgeschäfts der Sparkassen und ihrer überwiegend kommunalen oder gar kommunalpolitischen Bindungen nahm schließlich der Reichsverband der Deutschen Industrie Ende 1929 in äußerst zugespitzter Form sogar gegen das Sparen Stellung und äußerte Zweifel an einem gesamtwirtschaftlichen Nutzen des Sparkapitals: Die „Pflege der Kapitalquellen ..., die am sichersten und schnellsten Neukapitalbildung verbürgen, ... setzt erst ein, wenn tatsächlich eine produktive Verwendung gewährleistet ist, ... wenn das gebildete Kapital nicht von der Absatz-, sondern von der Produktionsseite in den Güterkreislauf fließt." An derartige Thesen schlossen sich Behauptungen und Polemiken von fataler Einseitigkeit an: „Die Rücksicht auf die Macht der Parteien hat nicht die Kraft aufkommen lassen, Arbeit, Zins und staatliche Lasten in ein richtiges Verhältnis kommen zu lassen."211 Von hier aus war und blieb die Stoßrichtung gegen die Mehrheitsparteien offenkundig. Das entsprach der nach innen wie nach außen aufrechterhaltenen Version, die die Förderung und Steigerung der Produktion mit allen Mitteln verlangte — auf einem Angebotsmarkt gewiß bei sinkenden Preisen — unter Niederhaltung der Lohn- und Sozialpolitik und Abwehr der sie stützenden Argumente einer stimulierenden Konsumförderung und Sparkapitalbildung. Dies letzte konnte man vielleicht als Frage von sekundärem Rang betrachten; doch die entschiedene Maxime der globalen Priorität des Produktionskapitals ließ kaum Kompromisse zu, obgleich man stets eine „Krise" fürchtete, die durch globale Einseitigkeiten eher gefördert als ausgeschlossen wurde. Die Forderung des Reparationsagenten nach „productiveness" bezeugt, daß diese Einstellung auch außerhalb Deutschlands weithin geteilt wurde. Die verbreiteten theoretischen Darstellungen der Wirkungen des
Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929 (Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, 49), Berlin 1929, S. 6. Zur Vorgeschichte und Entstehung der Dezember-Denkschrift 1929 des Präsidiums des RDI ausfuhrlich Michael Grübler, Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning. Vom Ende der Großen Koalition 1929/30 bis zum Vorabend der Bankenkrise 1931 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 70), Düsseldorf 1982, S. 5 5 - 7 2 . 211
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Krisen^eichin
Güterkreislaufs waren alles andere als voraussetzungslos. 212 Dies gilt auch für viele ihrer nachträglichen Bewertungen und galt auf der anderen Seite natürlich auch für den nach dem Kriege gewaltig verstärkten Einfluß der großen Gewerkschaften, die in ihrer mitgestaltenden Einwirkung auf Wirtschaft und Staat immer eine Doppelrolle, eine sozialpolitische und eine allgemeine politische, spielten. 213
212 Es trifft wohl zu, daß „die Betrachtung des Wirtschaftskreislaufes ... von den Tarifparteien und damit zugleich politisch okkupiert war", wie Grübler in der — längeren ursprünglichen Fassung seiner Dissertation — schrieb, Die Spitzenverbände der Wirtschaft und das erste Kabinett Brüning, phil. Diss. Hamburg 1978 (Maschschr.), S. 79. 213 Vgl. die umfassende Darstellung für die Zeit bis 1924 von Heinrich Potthoff, Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 66), Düsseldorf 1979, S. 445, das Fazit aus den Jahren des Anfangs der Republik mit pessimistischer Beurteilung der Inflationsfolgen.
DRITTES
KAPITEL
Die größten industriellen Konzentrationen und Spitzenverbände Die Vorstellung eines Pluralismus von Verbänden, die dem Staat oder auch einzelnen Parteien als den Adressaten ihrer Forderungen oder Programme gegenübertreten, ist weithin bekannt und eingewurzelt, so daß dies hier keiner Erläuterung oder Stellungnahme bedarf. 214 Beschränkt man sich, was zunächst an dieser Stelle geschehen soll, auf den großbetrieblichen, industriellen Bereich, so erscheint die Frage von Bedeutung, ob oder inwieweit Großverbände, einzelne organisierte Gruppen, Großunternehmungen, Konzerne, inwieweit Unternehmer oder Ma-
Zuletzt hierzu Grübler, Spitzenverbände; Fritz Blaich, Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945, Wiesbaden 1979; zuvor im Hinblick auf die jüngere Vergangenheit, aber von weithin anregender Wirkung Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände? Stuttgart 1955, 2. Aufl. 1963; Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956; Goetz Briefs, Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände, in: Briefs (Hrsg.), Laissez faire-Pluralismus. Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin 1966, S. 1—36; historische Darstellungen: Gerhard Schulz, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung (1961), wieder abgedruckt in: Schulz, Das Zeitalter der Gesellschaft. Aufsätze zur politischen Sozialgeschichte der Neuzeit, München 1969, S. 222—251; Thomas Nipperdey, Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg (1961), wieder abgedruckt in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln/Berlin 1966, S. 369—388; Wolfram Fischer, Staatsverwaltung und Interessenverbände im Deutschen Reich (1967), wieder abgedruckt in: Heinz Josef Varain (Hrsg.), Interessenverbände in Deutschland, Köln 1973, S. 139 — 157; dort auch Schulz, Entstehung und Formen, S. 124—154; für die Vorkriegszeit Hartmut Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft. Centraiverband Deutscher Industrieller 1895 — 1914 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 27), Berlin 1967; Dirk Stegman, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschland, Sammlungspolitik 1897 — 1918, Köln/Berlin 1970; für die Nachkriegszeit Bernd Weisbrod, Zur Form schwerindustrieller Interessenvertretung in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik, in: Industrielles System, S. 674—692; ders., Schwerindustrie; Friedrich Zunkel, Die Gewichtung der Industriegruppen bei der Etablierung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, in: Industrielles System, S. 637—647; Heinrich A. Winkler (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfange, Göttingen 1974. 214
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nager zeitweilig als Hauptträger dieses Teiles des wirtschaftlichen Systems hervortraten, das wir aus geläufigen Gründen das kapitalistische nennen. Allerdings ist gleich einzufügen, daß sich irgendwie geartete Verbindungen zwischen den verschiedenen Gruppen der deutschen Wirtschaft zur SPD kaum ermitteln lassen, wenn man einmal von persönlichen Kontakten oder eher gelegentlichen Berührungen einiger bekannter Wirtschafts- oder Finanzsachverständiger der Sozialdemokratie, Hilferdings, der zweimal Reichsfinanzminister war, Baades, Hertz', Woytinskis und einiger weniger anderer, absehen will. Der Schluß erscheint angebracht, daß es — oberhalb der kommunalen Ebene — auch nach der Stabilisierung keinen Ansatz zu positiven Beziehungen zwischen den stärksten Potenzen der deutschen Industrie, ja der Wirtschaft und der bis 1932 größten deutschen politischen Partei gab. Diese offenbar ebenso strikte wie schwerwiegende Disparation der beiden Seiten veranschaulicht den fundamentalen politischen wie ideologischen Gegensatz in der Geschichte dieser Jahre, der zwar die Tätigkeit der Sachverständigen in den Unterausschüssen des Enquete-Ausschusses215 kaum nachhaltig beeinträchtigte, aber von ihnen auch nicht erkennbar beeinflußt oder gar überwunden wurde. Hieraus folgte eine instabile Basis des demokratisch-parlamentarischen Systems, was jederzeit verständlich wird, sobald man sich die Eigenarten der Stärke beider Seiten vor Augen hält: die Millionenzahl der Mitglieder wie den starken Bevölkerungsanteil bei der Stimmenabgabe in den Wahlen auf der einen Seite216 und eine weitgehende Kontraktion wirtschaftlicher Organisationen auf der anderen, so daß manche Beschreibung des „organisierten Kapitalismus"217 als akzeptable Annäherung an einen 215 Von den 34 Mitgliedern des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Enquete-Ausschuß), waren fünf bekannte SPD-Angehörige, Fritz Baade, Wilhelm Eggert, August Müller, Robert Schmidt, Fritz Tarnow, Vorkriegsrevisionisten, Wissenschaftler und Gewerkschaftler; ein Mitglied gehörte dem Zentralkomitee der K P D an (Wilhelm Koenen, bis 1920 USPD).
Die 1914 erreichte Millionenzahl der Mitglieder der SPD wurde 1929 wieder erreicht und übertroffen. In der Reichstagswahl 1928 erreichte die SPD 9,15, im September 1930 8,57 Millionen Stimmen. Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1930, S. 191, 184; vgl. Alfred Milatz, Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 66), Bonn 1965, S. 151. 216
217 Als kennzeichnendes Schlagwort läßt sich dieser von Rudolf Hilferding geschaffene Ausdruck hier wohl einsetzen; eine besondere Kultivierung oder theoretische Erörterung des zum Begriff erhobenen Ausdrucks bleibt einer hieran besonders interessierten Historiographie überlassen. Vgl. H. A. Winkler (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfange (Kritische Studien ..., 9), Göttingen 1974. Zur Geschichte der Arbeiterbe-
Die größten industriellen Konzentrationen und Spittgnverbände
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durch fundamentale Gegensätze charakterisierten Zustand erscheinen könnte. Doch hier ist nicht über Begriffe zu diskutieren. Daß die politisch-sozialgeschichtliche Konfrontation durch Erhaltung ideeller Traditionen und neuer Zurüstungen einseitige politische Ziele und Programme hervorbrachte, wird man für beide Seiten feststellen dürfen. Auseinandersetzung oder Ausgleich blieb vorrangig Sache der Gewerkschaften. Sie beschränkten ihre Beziehungen nicht auf die historischen Parteien mit größtem Arbeiteranteil, Sozialdemokraten und Zentrum, sondern verträten eigene Positionen, etwa im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat und noch folgenreicher im Reichsarbeitsministerium, wo unter dem Zentrumsminister Heinrich Brauns auch personell eine starke Position von Gewerkschaftlern entstand. Sie standen auch in Fühlung mit den Spitzenverbänden der Industrie. Zwischen fünf und zehn Millionen Angestellte und Arbeiter — der insgesamt über zwanzig Millionen — waren gewerkschaftlich organisiert.218 Ihren Einfluß auf die Parteien wußten die beiden stärksten gewerkschaftlichen Dachverbände, der straff organisierte Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) und der lockerer gefügte Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), unter Führung des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, stets zu behaupten und zeitweilig auszubauen. Dem ADGB gelang dies auch gegen Ende der zwanziger und in den nachfolgenden Krisen jähren, während eine der großen Angestelltengewerkschaften, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (DHV), die DNVP seit ihrer Gründung unterstützte, eine einflußreiche Stellung aber auch außerhalb dieser Partei und anderen Parteien gegenüber einnahm. Auf der anderen, gewissermaßen der Gegenseite muß man die Verschachtelung der Konzerne betrachten und ihren Umfang abmessen, soweit dies möglich ist und aus zuverlässigen statistischen Erhebungen geschlossen werden kann, um ihre Bedeutung innerhalb der Wirtschaft, die Größe und Stärke ihrer Produktion und Organisationen, Erzeugungen, Beschäftigung und Kapitalien und um das Gewicht ihrer führenden Persönlichkeiten innerhalb wie außerhalb des Konzernbereiches ermessen zu können. wegung jetzt die bisher in zwei Bänden vorliegende Darstellung von Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924, 2. Aufl. Berlin 1985, und -ders., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924-1930, Berlin 1985. 2 , 8 Statistik hierzu bei Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Teill: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1789 bis zur Gegenwart, Bd. 5, Berlin (Ost) 1966, S.243.
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Hugo Stinnes, den man den „größten Schatzsammler der deutschen Schwerindustrie" genannt hat, 219 war wohl, in Quantitäten gesehen, der erfolgreichste, aber auch für einige Jahre vor seinem frühen Tode (1924) der politisch einflußreichste Gründer und Regent eines europäischen, ja weltweiten Konzerns. 220 An einem in der dritten Generation florierenden Familienbetrieb des Kohlenbergbaus und -handels beteiligt, begann er in jungen Jahren mit dem Aufkaufen und Umorganisieren notleidender Bergwerksunternehmen, die er aneinanderfügte, um in kurzer Zeit aus Hüttenwerken und Stahlwerksunternehmungen, Handelsfirmen und Reedereien ein ganzes Imperium zusammenhängender Unternehmen zu errichten, das sich schon vor dem Kriege über die Reichsgrenzen in Westeuropa ausdehnte, während des Krieges den militärischen Okkupationen der deutschen Armee wirtschaftlich nachdrängte und auch während der nächsten Jahre fortgesetzt weiter wuchs. Der Aufbau der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke an der Jahrhundertwende, des mit großem Abstand führenden deutschen Energieproduzenten mit starker kommunaler Kapital- und Konsumbeteiligung, blieb das dauerhafteste und auch modernste seiner Werke, das Stinnes gemeinsam mit August Thyssen auf der Rohstoffbasis der rheinischen Kohle ins Leben rief. Im und nach dem Weltkrieg kamen in rascher Folge weitere Unternehmungen hinzu, so daß man den Stinnes-Konzern schließlich den „Konzern der 3000 Unternehmen" nennen konnte. Er umfaßte 2888 Firmen, davon 572 außerhalb Deutschlands, war in viele Wirtschaftssparten vorgedrungen, die sich dem Bergbau wie dem Kohlenhandel widmeten, sich aber auch in der See- wie der Binnenschiffahrt, in der chemischen Industrie, in der Papier- und Zellstoffherstellung, der Stahlproduktion, der Elektrizitätserzeugung, im Bank-, Versicherungs-, Verlags-, Druckerei- und Filmwesen betätigten und den für Bergbau und Papiererzeugung nötigen Holzeinschlag auf eigenen Waldgütern besorgten. Es wäre schwierig und hier nicht am rechten Ort, Genesis und Rangfolgen dieses am Ende doch nur kurzlebigen Konzerns aufzuzeichnen, der auf vielen Gebieten als Vertikalkonzern angelegt war, aber die gesamte Volkswirt219 Kurt Pritzkoleit, Männer, Mächte, Monopole. Hinter Türen der westdeutschen Wirtschaft, Düsseldorf 1953, S. 205. Pritzkoleit war nicht Historiker, aber einer der erfahrensten und kenntnisreichsten deutschen Wirtschaftsjournalisten während der dreißiger, vierziger und frühen fünfziger Jahre. 220 Zum Konzernaufbau die ältere Biographie von Gaston Raphaël, Hugo Stinnes. Der Mensch, sein Werk, sein Wirken, Übers, aus dem Französischen, Berlin 1925, S. 79 ff.; jetzt die gründliche Arbeit von Peter Wulf, Hugo Stinnes. Wirtschaft und Politik 1918—1924 (Kieler Historische Studien, 28), Stuttgart 1979, S. 2 3 - 2 8 (Vorkriegszeit).
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schaft zu durchdringen schien. 221 Das Konzernimperium von Stinnes erstreckte sich bis zur Südsee, über mehrere Inseln des Indischen Ozeans, über China und bis nach Nord-, Mittel- und Südamerika. Doch als der Gründer 1924 starb, befand sich sein Konzern bereits in einer schweren Liquiditätskrise, ermangelte er für seine über viele Länder mit verschiedenen Währungsverhältnissen verstreuten Unternehmungen der verfügbaren Finanzmittel, so daß er in knapp zwei Jahren zusammenschrumpfte und zum Teil in andere Hände überging. Dies war der dramatischste, aber auch gewissermaßen sprichwörtlich gewordene Fall der „Konzernkrise", für Wirkungen der Krise auf Unternehmenskonzentrationen, die im Weltkrieg in das Stadium eines neuen, hyperplastischen Wachstums eingetreten waren, sich aber in ihrer diversen Zusammensetzung („Mischkonzern" wäre ein angemessener Ausdruck) unter den stark wechselnden Kredit- und Währungsverhältnissen unüberwindbaren Schwierigkeiten ausgesetzt sahen. Persönlichkeit, politische Wirkungen und wirtschaftliche Unternehmungen von Stinnes, der auch auf die Gestaltung der deutschen Reparationsleistungen Einfluß nahm, blieben indessen von ähnlicher historischer Bedeutung wie sein Gegensatz zu Walther Rathenau, 222 dessen geistiger Rang vor allem in der literarischen Überlieferung bis in die Gegenwart erhalten geblieben ist. Sowohl Rathenau als auch Stinnes verkörperten Gegenpole und waren Gegenspieler unter den herausragenden Großunternehmern, haben sich indessen teilweise hintergründig mit bleibendem Erfolg um den Ausbau und Zusammenschluß der während des Weltkriegs zu höchster Bedeutung gelangten wirtschaftlichen Interes sen Vereinigungen zu starken monopolartigen Spitzenverbänden bemüht. Es ist ein denkwürdiges Faktum, daß diese beiden bedeutenden, auch in ihren führenden Großunternehmen häufig umstrittenen, auf Vorrang der Wirtschaft — nach Rathenau „das Schicksal" — vor der Politik und auf persönliche Führung in der Wirtschaft bedachten Männer auf verschiedenen Wegen eine dauerhafte Größtorganisation kapitalistischer Wirtschaft in Deutschland anstrebten. 221 Eine fundierte historische Beurteilung bei Wulf, besonders in dem abschließenden Teil seiner Arbeit, Stinnes, S. 519—536. 222 Vgl. Harry Graf Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Wiesbaden o. J.; Peter Berglar, Walther Rathenau. Seine Zeit, sein Werk, seine Persönlichkeit, Bremen 1970; vor allem von dem Herausgeber des Gesamtwerkes, Ernst Schulin, Die Rathenaus. Zwei Generationen jüdischen Anteils an der industriellen Entwicklung Deutschlands, in: Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890—1914, hrsg. von Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker (Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 33), Tübingen 1976, bes. S. 1 2 8 - 1 4 2 .
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Der hervorragende Außenseiter Rathenau trat schon im Kriege, angesichts der Zerstörungen und der Wiederaufbauprobleme,223 für eine systematisch rationalisierte, staatlich gebundene „Gemeinwirtschaft" ein. Er gilt als einer der ersten Planer internationaler Syndikate und europäischer Zusammenschlüsse auch in politischen Formen schon in der frühen Nachkriegszeit. Stinnes hingegen verfolgte seit 1916 mit der ihm eigenen Beharrlichkeit den Plan einer ständigen Zusammenarbeit von Industrieund Gewerkschaftsführern. Nach Rückschlägen und gegen beträchtliche Widerstände auf beiden Seiten kam sie im November 1918 in Gestalt der Zentralen Arbeitsgemeinschaft der .Nordwestlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller' mit dem Deutschen Metallarbeiterverband — als Vertretung einer Gruppe industrieller Gewerkschaften — zustande. Sie erreichte zwar nur in einer kurzen, allerdings ereignisreichen Phase greifbare größere Bedeutung,224 hinterließ jedoch einen langen, historisch nicht minder bedeutsamen Schatten. Nicht weniger einflußreich erscheint die Position des Industriemagnaten, als den man Hugo Stinnes nun in der Tat auch ohne die Spur einer unangemessenen Titulierung bezeichnen darf, in den Verhandlungen, die den Zusammenschluß der industriellen Großverbände herbeiführten; sie blieb es auch in den Anfängen des .Reichsverbandes der Deutschen Industrie' (RDI), dessen Spitzengremien sich im Oktober 1919 konstituierten.225 In dieser gewaltigen Großorganisation der deutschen Industrie fehlte es nie an inneren Spannungen und — auch gelegentlich offen zutage tretenden — Gegensätzen, die im Vorstand, im Präsidium und mitunter auch in Mitgliederversammlungen ausgetragen wurden. 226 Dies hat indes223 Friedrich Zunkel, Industrie und Staatssozialismus. Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland 1914—1918 (Tübinger Schriften zur Sozial- und Zeitgeschichte, 3), Düsseldorf 1973, S . 6 2 f f . ; auch Wulf, Stinnes, S.70. 224 Hierzu Gerald D.Feldman, German Business between War and Revolution. The Origins of the Stinnes-Legien-Agreement, in: Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft, S. 3 1 2 - 3 4 1 ; Zunkel, Industrie, S. 1 7 7 - 1 9 8 ; Wulf, Stinnes, S. 9 0 - 1 0 7 ; Susanne Miller, Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918—1920 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 63), Düsseldorf 1978, S. 162: „Das Vertrauen führender Gewerkschaftler zu Hugo Stinnes war so groß, daß Legien größten Wert darauf legte, ihn als ständigen Vertreter der Regierung zu den Waffenstillstandsverhandlungen in Spa entsenden zu lassen ...". Dies scheiterte am Widerstand Erzbergers und Eberts.
Wulf, Stinnes, S. 129 f. Hierzu die Arbeiten von Wulf, Stinnes; Grübler, Spitzenverbände; Weisbrod, Schwerindustrie; und die informativen Abrisse von Gerald D. Feldman, Heidrun Homburg, Industrie und Inflation. Studien und Dokumente zur Politik der deutschen Unternehmer 1 9 1 6 - 1 9 2 3 , Hamburg 1977, S. 2 7 - 4 7 u. 9 4 - 1 1 2 . 225 226
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sen das häufig entschlossene Auftreten des bedeutendsten Spitzenverbandes in der Geschichte der Weimarer Republik kaum wesentlich beeinträchtigt oder ihm gar seine Wirkung genommen. Denn im Konfliktsfall mußten zugespitzte Argumente und Polemiken nach außen die Integration nach innen sichern, während eine geschickte elastische innere Verbandsdiplomatie den starken regionalen Organisationen Eigenständigkeit und Gewicht beließ. An erster Stelle wird meist der ,Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen im Rheinland und Westfalen' angeführt, der sich, bezeichnend selbstbewußt, nach Bismarcks Wortprägung, selbst auch offiziell der ,Langnamverein' nannte. An Bedeutung standen ihm kaum die großen Fach verbände mit starker Eigenständigkeit und eigener Interessenpolitik nach, wie der ,Verein für die bergbaulichen Interessen' (Bergbauverein) in Essen, mit starker regionaler Verankerung im Ruhrgebiet, der schon seit 1858 bestand, eine der ältesten Interessenorganisationen in Deutschland also, und der .Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller' (VDESI), der 1876 in Berlin gegründet worden war, in dem jedoch die ,Nordwestliche Gruppe', die besondere Regionalorganisation des Ruhrgebietes, entscheidendes Gewicht besaß, deren einflußreiche Mitglieder und Konzernführer sich seit 1928 in dem kleinen Kreis der von Paul Reusch gegründeten ,Ruhrlade' trafen.227 Aber auch der .Verein Deutscher Maschinenbauanstalten' (VDMA) und der, Zentral verband der deutschen elektrotechnischen Industrie' besaßen eigenes, beträchtliches Gewicht; nichts anderes gilt von dem immer stärker hervortretenden, 227 Durch zehn ihrer zwölf Mitglieder waren die Leitungen der größten westdeutschen Eisen- und Stahlkonzerne in der „Ruhrlade" vertreten: die Gutehoffnungshütte (Karl Haniel, Paul Reusch), die Vereinigten Stahlwerke (Fritz Thyssen, Albert Vogler, Ernst Poensgen), der Krupp-Konzern (Gustav Krupp v. Bohlen und Halbach, Arthur Klotzbach), die Eisen- und Stahlwerke Hoesch (Fritz Springorum, Fritz Winkhaus) und die KlöcknerWerke (Peter Klöckner). Außerdem gehörten ihr mit Paul Silverberg und dem mit ihm in Spitzenpositionen der Harpener-Bergbau A. G. wie des Rheinisch-westfälischen Kohlesyndikats eng verbundenen Erich Fickler zwei Persönlichkeiten an, die zwar von Haus aus auf der „Bergbauseite" standen, ihr aber doch nicht allein zugehörten. Der weite Bereich der Tätigkeit Silverbergs, so in der Bank für deutsche Industrieobligationen oder in dem Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk Essen, ließen Brücken auch zu anderen Kreisen entstehen. Der Zuschnitt der Persönlichkeit, wie seine politischen Ideen und Fähigkeiten trugen dazu bei, daß Silverbergs Einfluß seit 1922 stetig wuchs und zeitweilig von größtem Gewicht war. Für die späteren Jahre Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930—1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 45), Göttingen 1981.
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die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung einer jungen, aufstrebenden Industrie zur Geltung bringenden ,Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie'. Eigenart und Bedeutung der .Ruhrlade', die in jüngerer Zeit stärkere Aufmerksamkeit gefunden hat, 228 scheinen sich innerhalb dieses Organisationsgeflechts kaum definitiv bestimmen zu lassen. Wie Quellen und Untersuchungen bezeugen, kam ihr in den permanenten Prozessen einer gegenseitigen Abstimmung zwischen den Größten unter den Ruhrindustriellen im Hinblick auf Fragen von politischer Relevanz unübersehbare Bedeutung zu. Inwieweit diese ständigen Treffen der Honoratioren der Ruhrindustrie dann auch zu einem Einverständnis führten und wie stark sich dies auswirkte, läßt sich angesichts ihres persönlichen, informellen Charakters weniger aus einer inneren Geschichte dieses Großindustriellenclubs folgern als aus nachweisbaren Tätigkeiten der ihm Zugehörenden in den Verbänden. Sie ergibt sich nicht zuletzt aus ihrer Haltung zur Reichsregierung und zu einzelnen Parteien. Die Ruhrlade erscheint als eine inoffizielle höchste Spitze der Eisen- und Stahlindustrie doch wohl eher in Verbands- und konzernpolitischen, innerindustriellen Aspekten, stellte aber nicht die „führende Interessenvertretung" 229 nach außen dar, bildete wohl Ausgleichs- und Moderationsinstrument der Interessenpolitik — mit wechselnder und offenbar nachlassender Effizienz —, aber doch keinen „Generalstab", der die große Strategie und taktische Maßnahmen festlegte, noch weniger ein „Kabinett" der Schwerindustrie, auch kein geheimes. 230 Auffallend ist allerdings das konzentrierte Gewicht der dort versammelten zwölf Männer und ihrer vielseitigen persönlichen Verbindungen und Einflüsse; dies begründet auch das historische Interesse. Neben den größten Eisen- und Stahlkonzernen repräsentierten sie auch einige Verbandsspitzen, verkörperten sie mithin eine Oligarchie innerhalb eines großen Teiles der westdeutschen Industrie — mit Ausnahme der chemischen und der größten Elektroindustrie —, die schon 228 Die erste eingehende Untersuchung von Henry Ashby Turner, jr., bildet den wichtigsten Teil seiner Aufsatzreihe zu Beziehungen zwischen deutscher Schwerindustrie und NSDAP: The Ruhrlade. Secret Cabinet of Heavy Industry in the Weimar Republic, in: Central European History, 3 (1970), S. 195—228; in deutscher Übers.: Turner, Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, Göttingen 1972, S. 114—156.
Grübler, Spitzenverbände, S. 38. Turners scheinbar sensationelle Charakterisierung der Ruhrlade ist aus verschiedenen Gründen in Frage gestellt worden. Vgl. Weisbrod, Schwerindustrie, S. 180 (in Verbindung mit dem Ruhreisenstreit 1928); auch Einleitung zu: Schulz, Quellen Brüning: Politik und Wirtschaft, I, S. XL, Anm. 74. 229
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während einer Reihe von Jahren den Aufbau der industriellen Spitzenverbände beeinflußte oder vorantrieb. Dies gilt vor allem anderen von dem unermüdlichen Paul Reusch, 231 dem nächst Stinnes einflußreichsten Großkonzerngründer und -architekten, der, im Unterschied zu Stinnes, Krupp, Thyssen, Haniel oder Klöckner, nicht einer der großen Ruhrindustriellenfamilien entstammte, sondern als schwäbischer Bergbauingenieur nach längerer Auslandserfahrung als Fremdling ins Ruhrrevier gelangte, wo er zum erfolgreichsten Manager unter den Konzernherren aufstieg. Doch im Unterschied zu dem übermäßig gewachsenen „Warenhaus von Unternehmungen", 232 das Stinnes zusammenbrachte, baute Reusch die Gutehoffnungshütte aus, die sich mehrheitlich im Besitz der Familie Haniel befand, schuf er ein tragfahiges Gebilde, das sich von den Eisenhüttenwerken des Mutterkonzerns über den Kohlenbergbau, Handels- und Transportunternehmen und über bedeutende Eisen und Stahl verarbeitende Großfirmen in Westund Süddeutschland wie im Ausland erstreckte. Mit einer ermäßigten Abfindung für die Forderungen aus Rüstungslieferungen des Krieges vom preußischen Kriegsministerium frühzeitig zufriedengestellt, verfügte Reusch bereits 1919 über große Mittel, um neu zu investieren, Firmen zu übernehmen und den Konzern rasch zu erweitern. Schließlich konstruierte er 1923 die Gutehoffnungshütte Oberhausen A. G. als Dachgesellschaft, die die zahlreichen Beteiligungen wie ein „ineinander verzahntes Räderwerk, Urproduktion — Verarbeitung — Verfeinerung — Handel", verwaltete. 233 Ein so erfolgreicher Unternehmensorganisator wollte und konnte ebensowenig wie Stinnes das seit dem Kriege zunehmend dichter werdende Organisationsnetz des wirtschaftlichen Verbändewesens ungenutzt lassen. Von 1924 bis 1930 amtierte Reusch als Vorsitzender sowohl des ,Langnamvereins' als auch des .Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller' und seiner maßgebenden .Nordwestlichen Gruppe', zugleich als Vorsitzender der Fachgruppe Eisenschaffende Industrie beim RDI. Fritz Springorum, Generaldirektor der Hoesch A. G., Reuschs Stellvertreter, wurde sein Nachfolger in den Ämtern des Vorsitzenden des Langnamvereins wie der Nordwestlichen Gruppe. Diese Beispiele zeigen, daß die erfolgreiche Tätigkeit der Großunternehmer in
231 Uber Pläne und Tätigkeiten Reuschs zur Neuordnung nach der Ruhrkrise 1923 Weisbrod, Schwerindustrie, bes. S. 159 —170. 232 Edgar Salin, Lynkeus. Gestalten und Probleme aus Wirtschaft und Politik, Tübingen 1963, S. 52, in stark persönlich gefärbten Erinnerungen an Paul Reusch. 233 Kurt Pritzkoleit, Männer, S.154, 148 ff.
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die Spitzen der maßgebenden Verbände vorstieß, hierdurch gleichsam gekrönt, auch in weiterem Sinne „politisch" wurde. Auf diese Weise formierte sich die Interessenspolitik, deren Repräsentation allerdings Sache derer blieb, die an der Spitze großer und größter Konzerne standen. Paul Silverberg hatte neben anderen wichtigen Ämtern, wie dem Vorsitz im Rheinischen Braunkohlenkartell, den stellvertretenden Vorsitz und die Aufgaben des Schatzmeisters des Langnamvereins übernommen. Gustav Krupp v. Bohlen und Halbach, der sich durch seine Direktoren vertreten ließ, trat erst im Oktober 1931 aus seiner Reserve heraus und übernahm als Nachfolger Carl Dulsbergs von der IG-Farbenindustrie, gewissermaßen als Repräsentant eines anderen Flügels dieser „Industriepartei", die Führung des RDI. Seitdem galt er nach außen als Wortführer der deutschen industriellen Wirtschaft. Ernst Poensgen, der Stellvertreter Fritz Thyssens im Aufsichtsratsvorsitz des größten deutschen Stahlkonzerns, der Vereinigten Stahlwerke, war Vorsitzender des , Arbeitgeberverbandes für den Bezirk der Nordwestlichen Gruppe' und wurde Stellvertreter Springorums im Langnamverein. Albert Vogler vereinigte den Vorsitz im Vorstand der Vereinigten Stahlwerke mit Ämtern in den meisten der hier bereits genannten Vorstände. Als einstmals wichtigster Manager und Mitarbeiter von Hugo Stinnes, neben dem er auch als Vertreter der DVP im Reichstag saß und wiederholt als Sachverständiger in reparationspolitischen Verhandlungen die Reichsregierung vertrat, zählte er zu den politisch erfahrensten Männern der deutschen Großindustrie; man darf ihn den politischen Kopf in diesem Kreise nennen. Köpfe einer Art Industriellenpartei waren sie alle. Trotz mancher alter und auch bleibender Differenzen fanden sie sich, angesichts der Reorganisationsprobleme während des Neuaufbaus des industriellen Verbandswesens, als Begründer der Stabilisierung zu gemeinsamen Zielen zusammen. Kaum anders als in den Problemkreisen der Reichsreform, die seit den Anfängen der Republik unentwegt erörtert wurden, schien auch im Aufbau wirtschaftlicher Großverbände die Entscheidung fallig zwischen zentralistischer oder dezentralisierter Organisation oder gar föderativen Prinzipien, die allerdings nach den Erfahrungen mit den weit entwickelten Organisationen der großbetrieblichen Wirtschaft in der Kriegszeit kaum noch entschiedene Anhänger fanden. Dort wie hier hingen von den Prinzipien Wege und Grenzen künftiger Entwicklung ab; nur erschien dies für die Großorganisationen im Verbandswesen einfacher, klarer, übersichtlicher und gleichsam weltanschaulich unbeeinflußt vor Augen zu liegen. Unproblematisch oder reibungslos arbeitete der Schlüssel zur Reorganisation des gesamten Verbandswesens im rheini-
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sch-westfálischen Industriegebiet aber nicht. „Eine Zentralisierung mußte das Gewicht der Schwerindustrie verstärken und damit auch ihre Stellung gegenüber dem RDI; sie bedeutete aber gleichzeitig eine Gefährdung der notwendigen Integrationsfahigkeit." 234 Die Lösung aus diesem Dilemma wurde schließlich darin gefunden, das Gewicht des Langnamvereins in der Nordwestlichen Gruppe und im VDESI, dessen Gewicht wiederum in der Führung des RDI, und mittels des .Arbeitgeberverbandes für den Bezirk der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller' — mit einem noch längeren Namen — auch in der .Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände' (VDA) zu sichern und dieses System dann so weit auszubauen, d. h. zu kontrahieren, wie es nur irgend möglich schien, ohne Erfassungskraft und äußere Geschlossenheit des RDI ernsthaft zu beeinträchtigen. Im Grunde war dies die Stinnessche Lösung, die darauf hinauslief, den Reichsverband für die ganze deutsche Industrie sprechen zu lassen und doch vom eigenen Konzern aus die Zügel über das ganze lange Gefährt in den Händen zu behalten. Hierzu bedurfte es freilich auch einer Annäherung der größten Konzerne und eines fortschreitenden Abbaus oder doch einer Minderung politischer Reibungen. Wenn in diesem Aspekt die Bezeichnung Industriepartei — oder auch Industriellenpartei — sowohl innerhalb des RDI als auch des weiteren Rahmens des wirtschaftlichen Verbandswesens am Platze ist, so fehlen freilich noch schlüssige Begründungen, um andere, zum Teil konkurrierende und gelegentlich opponierende Gruppen, auch solche, die sich nicht fügten oder ausschlossen, kommensurabel zu charakterisieren oder zu benennen. Doch bis 1929 hatten sich 28 Fachgruppen mit etwa eineinhalbtausend Verbänden im RDI zusammen- bzw. sich ihm angeschlossen.235 Da er nicht nur nach dem Fachprinzip, sondern auch nach dem Regionalprinzip den Anspruch auf Erfassung und Vertretung der gesamten deutschen Industrie erhob, satzungsgemäß als Aufgabe festlegte und zu verwirklichen suchte,236 gehörten ihm schließlich eine Anzahl landschaftlich organisierter industrieller Spitzenverbände sowie die Mehrzahl der Industrie- und Handelskammern, die ihrerseits im Deutschen Industrie- und Handelstag über einen eigenen selbständigen Spitzenverband verfügten, als korporative Mitglieder an. Daneben waren auch einzelne Firmen und Persönlichkeiten als Mitglieder zugelassen. Die 234 235 236
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Weisbrod, Schwerindustrie, S. 167. Grübler, Spitzenverbände, S. 21 ff.; auch zum Folgenden. Zu den Grundsätzen des Aufbaus Wulf, Stinnes, S. 124 f.
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Mitgliederversammlungen, an denen sich Tausende beteiligten, ähnelten großen Aktionärsversammlungen, fanden jedoch insgesamt nur elfmal statt, die letzte im Dezember 1929. Entscheidungen fielen nur in kleineren Gremien und wurden von Geschäftsstellen vorbereitet. Das hierarchische Organisations schema des RDI — wie der VDA — führte über einen Hauptausschuß — mit etwa 200 Angehörigen —, der etwas häufiger zusammentrat und im wesentlichen als Mittler zwischen Spitze und Mitgliedsverbänden operierte, zu einem Vorstand mit etwa halbsoviel, seit 1930 120 Mitgliedern, von denen die Repräsentanten der Textilindustrie, des Bergbaus, der Eisenindustrie und der Chemie schon fast die Hälfte stellten. Aus dem Vorstand gingen die 34 Mitglieder des Präsidiums hervor, die schon weit nachhaltigeren Einfluß im Reichsverband auszuüben vermochten, soweit sie sich seiner Geschäfte ständig annahmen. Seit Mai 1930 stand ihnen für bestimmte Aufgaben ein Senat zur Seite. Den Vorsitzenden, seine beiden Stellvertreter und den Schatzmeister — seit Mai 1930 insgesamt fünf Stellvertreter — wählte das Präsidium aus seiner Mitte; außerdem bestellte es die Geschäftsführung, deren Leiter als zusätzliches Geschäftsführendes Mitglied vom Präsidium kooptiert werden konnte. Diese fünf Persönlichkeiten an der Spitze des RDI leiteten, einer Exekutive gleich, mit entsprechendem Apparat, die Verbandspolitik, sorgten für Aktionen und Stellungnahmen des RDI; sie dirigierten die Ausschüsse 237 und die Arbeit der Beiräte, darunter als den wichtigsten den Präsidial- und Vorstandsbeirat für allgemeine Wirtschaftspolitik, dem 15 Mitglieder, also nicht ganz die Hälfte des Präsidiums, und fünf weitere aus dem Vorstand angehörten. Dieser Kreis erörterte die großen Probleme und kontroversen Themen mit der Verbandsspitze, der Carl Dulsberg von 1925 bis 1931 als Vorsitzender, Abraham Frowein aus der Elberfelder Textilindustrie als Stellvertreter und als Schatzmeister Ewald Hilgen, der zugleich Vorsitzender der Fachgruppe Bergbau war, angehörten. Als Geschäftsführendes Präsidialmitglied trat 1925 der ehemalige Ministerialrat und Reparationsreferent im Reichsfinanzministerium Ludwig Kastl hinzu. Im Mai 1930 wurden dann in Verbindung mit Erörterungen des von Silverberg entwickelten Planes, die reparationspolitisch bedingte, künftig, nach dem Haager Abkommen entfallende Industrieum-
237 Weisbrod, Schwerindustrie, S. 223 ff., und Grübler, Spitzenverbände, haben die Tätigkeit der Ausschüsse des RDI wie die Eigenart einiger Regionalorganisationen untersucht.
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läge der Landwirtschaft zuzuführen, 238 drei neue Stellvertreter gewählt, Silverberg, Hans Kraemer, ein Vertreter der Papierindustrie, und MüllerOerlinghausen, Textilindustrieller wie Frowein. Ein Ubergewicht der Schwerindustrie von Rhein und Ruhr gab es mithin in der Führungsspitze des RDI nicht. Doch die Wahl Silverbergs bedeutete eine Anerkennung des von ihm vertretenen und von Kastl unterstützten Plans, der im RDI umstritten war, aber von Reusch und wohl auch anderen Ruhrindustriellen gedeckt wurde. Innerhalb des Präsidiums übernahm Silverberg die Behandlung der Finanz-, Agrar- und Verkehrspolitik neben der Sozialpolitik und den Rechtsfragen und damit das umfangreichste und fürs nächste auch wirtschaftspolitisch gravierende Arbeitsgebiet. 239 Die Opposition, die vor allem vom Bergbauverein ausging, aber auch von Thyssen unterstützt wurde, sah sich zurückgedrängt. Doch sie verschärfte ihre Kritik an der Verbandsführung im Laufe des Jahres 1930 bis zum völligen Bruch. Sie besaß insofern einiges Gewicht, als sie mit der VDA durch deren Vorsitzenden Ernst v. Borsig, den leitenden Mitinhaber der Berliner Familienfirma für Lokomotiv- und Maschinenbau, unmittelbar verbunden war. Er gehörte der DNVP und ihrem ,Reichsausschuß Deutschnationaler Industrieller' an. Von den übrigen Mitgliedern des Präsidiums des RDI gehörten Rudolf Blohm, der an der Spitze der Hamburger Werft Blohm & Voß stand und Erster stellvertretender Vorsitzender des VDESI war, und Eugen Wiskott, Erster stellvertretender Vorsitzender sowohl des ,Bergbauvereins' als auch des mit ihm personell verbundenen Arbeitgeberverbandes, des ,Zechenverbandes', ebenfalls zu den Parteigängern Alfred Hugenbergs. Der ,Verein für die bergbaulichen Interessen', kurz ,Bergbauverein' genannt, in Essen, war nicht nur einer der ältesten, sondern auch der traditionsstrengsten Verbände in Deutschland, dessen Vorstand weit stärker eigene Politik betrieb, als seinem Einfluß im RDI entsprach, der aber
238 Paul Silverberg, Reden und Schriften, hrsg. von Franz Mariaux, Köln 1951, S. 107 ff. Schulz, Quellen Brüning: Politik und Wirtschaft, I, S. 19 ff. Silverberg hat im Zusammenhang mit der Revision der bisherigen Reparationsregelungen durch den Neuen Plan von Owen D. Young, der weiter unten zu behandeln ist, für die Öffentlichkeit zuerst in einer Rede in der außerordentlichen Mitgliederversammlung des RDI am 12. Dezember 1929 seine Konzeption umrissen. Danach sollte die Industrieumlage, die unter dem Dawes-Plan aufzubringen war, aber nach dem Young-Plan entfallen konnte, für weitere fünf Jahre erhoben, aber zur Umschuldung der ostdeutschen Landwirtschaft verwendet werden. Dieser Konzeption lag der Gedanke zugrunde, eine Besserung der Lage der ostdeutschen Landwirtschaft durch privatwirtschaftlich gesteuerte Konstruktionen ins Werk zu setzen. 235 Zur weiteren Tätigkeit Silverbergs Neebe, Großindustrie.
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auch politisch und parteipolitisch entschiedener festgelegt blieb.240 An der Spitze standen Ernst Brandi, der auch dem Vorstand der Vereinigten Stahlwerke angehörte, seit 1927 als Vorsitzender, Eugen Wiskott, Alfred Hugenberg, seit 1925 — auch nach der Übernahme des Parteivorsitzes in der DNVP 1928 —, der dann aber, gestützt auf seinen Medienkonzern „eigene Wege" einschlug,241 und Albert Vogler von den Vereinigten Stahlwerken als stellvertretende Vorsitzende. Gemeinsam mit Fritz Thyssen, Erich Fickler, Ernst Tengelmann, dem Vorsitzenden des Vorstandes des Gelsenkirchener Bergwerksvereins, Fritz Winkhaus und dem Ehrenmitglied Emil Kirdorf bildeten sie den Geschäftsführenden Ausschuß. Die Vereinigten Stahlwerke waren mithin im Bergbauverein wie in der „Ruhrlade" stark vertreten. Doch Winkhaus, der zur Führung des Hoesch-Konzerns gehörte, unterstützte ebenso wie Springorum, Haniel und Fickler von der Harpener Bergbau A. G., dem größten Bergbauunternehmen an der Ruhr, Stresemann und seine Politik. Das läßt sich von Silverberg ähnlich sagen, der Mitglied der DVP war und seit Sommer 1926 als Hauptverfechter eines neuen Kurses der Aussöhnung mit der Republik, den Gewerkschaften und der SPD hervortrat. 242 An der Spitze der VDESI stand Ernst Poensgen, der Erste stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes der Vereinigten Stahlwerke und Vorsitzende des Dachverbandes aller Eisenkartelle der Stahlwerksverbände. Zu den starken Verbänden, die das Interessengefüge im RDI kraft eigenen Gewichtes mitbestimmten, zählten aber auch der ,Verein Deutscher Maschinenbauanstalten' (VDMA), der am besten organisierte Fachverband
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August Heiniichsbauer, Schwerindustrie und Politik, Essen 1948, S. 16 ff.; Grübler, Spitzenverbände, S. 33 f., der eine — doch wohl nicht ausreichende — Erklärung in dem starken Anteil der Absolventen der Bergakademien, Bergassessoren und Bergräten, an der Gruppe der „leitenden Angestellten" und Bergwerksdirektoren sieht, die entschieden nationalistisch eingestellt waren und zur Radikalisierung neigten. 241 Weisbrod, Schwerindustrie, S. 190, mit weiteren Hinweisen auf zum Teil unveröffentlichte Literatur. Man muß aber berücksichtigen, daß Hugenberg — sowohl in der Reichstagsfraktion der DNVP als auch unter den oben Genannten — stets über einige großindustrielle Anhänger verfügte. Seine innerhalb der Wirtschaft deutlich hervortretende Sonderstellung war doch niemals gänzlich isoliert. 242 Rede Silverbergs auf der Tagung des RDI am 4. September 1926, abgedruckt in: Silverberg, Reden S.49ff. Für die Anfange und die ersten Auseinandersetzungen über Silverbergs Programm im RDI Dirk Stegmann, Die Silverberg-Kontroverse 1926. Unternehmerpolitik zwischen Reform und Restauration, in: Sozialgeschichte Heute. Festschr. f. Hans Rosenberg, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 11), Göttingen 1974, S. 94—110; ausführlicher und kritisch Neebe, Großindustrie, S. 3 7 - 4 9 .
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mit 88 Mitgliedsorganisationen, der entsprechend stark in der ,Arbeitsgemeinschaft der Eisen verarbeitenden Industrie' (Avi), dem Spitzenverband der gesamten Eisenindustrie, vertreten war, und der .Zentralverband der elektrotechnischen Industrie', der in seinem Vorsitzenden Carl Friedrich v. Siemens wie in dem geschäftsführenden Vorstandsmitglied Hans v. Raumer über zwei überragende Verbandsvertreter und Politiker der Weimarer Republik verfügte. Beide waren im Verbandswesen der Kriegswirtschaft hervorgetreten, hatten am Zustandekommen der Zentralarbeitsgemeinschaft mitgewirkt und an der Schaffung des RDI, bei dessen Gründung Siemens — neben Frowein — einer der stellvertretenden Vorsitzenden wurde. Seit 1924 stand Siemens als Präsident des Verwaltungsrates an der Spitze der in eine neue Rechtsform gebrachten Reichsbahn-Gesellschaft; als Abgeordneter der DDP gehörte er 1920-1924 dem Reichstag an, während Raumer 1920-1930 die DVP im Reichstag vertrat, 1920/21 der Regierung Fehrenbach, an deren Zustandekommen er großen Anteil hatte, als Reichsschatzminister und 1923 dem ersten Kabinett einer Großen Koalition unter Stresemann als Reichswirtschaftsminister angehörte. Neben der Bergbau- und Metallindustrie besaß der .Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands' oder .Chemieverein' besondere Bedeutung. Er führte die Geschäfte der .Fachgruppe chemische Industrie' im RDI, war aber älter, bestand seit Ende 1877.243 In seiner Führung war mit Dulsberg, dem Präsidenten des RDI, Carl Bosch, Julius Bueb, Julius Flechtheim, Georg v. Schnitzler und Eduard Weber-Andreae die Konzernleitung der IG-Farbenindustrie auffällig stark vertreten, deren überragende und aussichtsreiche wirtschaftliche Position nicht nur in der chemischen Industrie — als größter deutscher Aktiengesellschaft — außer Frage stand. Aber auch einige regionale Verbände besaßen eigenes Gewicht innerhalb des RDI, allen voran der starke Langnamverein und die seit Beginn mit ihm durch Personalunion im Vorsitz wie in der Geschäftsführung aufs engste verbundene Nordwestliche Gruppe des VDESI, mit Reusch — bis März 1930 — als Vorsitzendem, dann Ehrenvorsitzendem, nach ihm Fritz Springorum, mit Abraham Frowein, Ernst Poensgen und Oskar Funcke — einem Eisenfabrikanten aus Hagen, Vorsitzendem der ,Fach243 Umfangreiche Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen: Verein zur Wahrung der Interessen der Chemischen Industrie Deutschlands e. V., Ausgewählte Kapitel aus der chemisch-industriellen Wirtschaftspolitik 1877—1927, überreicht der 50jährigen Hauptversammlung vom Geschäftsführer C. Ungewitter, Berlin 1927.
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gruppe Eisen- und Stahlindustrie' im RDI — als stellvertretendem Vorsitzenden, mit Paul Silverberg als Schatzmeister, Arthur Klotzbach und Fritz Winkhaus als Beisitzern. Sechs der acht Vorstandsmitglieder gehörten zur Ruhrlade; sie stellten eine Hälfte, zu denen die Konzerneigner Krupp, Thyssen, Haniel und Klöckner, außerdem Vogler und Fickler hinzutraten. Diese Konstruktion könnte für die Deutung sprechen, die in der Ruhrlade die „Clearing-Stelle für eine gemeinsame schwerindustrielle Politik in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen" erblicken will,244 über deren Erfolg damit allerdings noch nicht viel und über deren Motive zu wenig gesagt ist. Kaum zweifelhaft erscheint, daß Initiative und Anspruch von der Spitze des Langnamvereins ausgingen, der den inneren Kern dieser schon oben so genannten Industriepartei bildete. Sein Geschäftsführer war seit 1925 Max Schlenker, ein erfahrener Verbandsgeschäftsführer, der politisch der DVP angehörte und der die gemeinschaftliche Geschäftsstelle zu einem Hauptquartier mit quasiministerieller Ressortteilung ausbaute und durchorganisierte.245 Einen gewissen Gegenpol mit regional bedeutendem Gewicht bildete der ,Verband Sächsischer Industrieller', der erst 1902, unter Beteiligung Gustav Stresemanns, als Landesverband des ,Bundes der Industriellen' gegründet worden war 246 und die späte Reaktion auf die verbandsgeschichtliche Entwicklung bezeichnet, die im industriellen Bereich von Westdeutschland — wie im agrarischen von Ostdeutschland — ihren Ausgang genommen und dort schon einige Jahrzehnte früher eingesetzt hatte. Der Bund der Industriellen (BDI)247 vertrat einst die Interessen der verarbeitenden Industrie gegenüber der schon früher gelungenen Interessentenformation der gesamten Grundstoff- oder Schwerindustrie im ,Centraiverband deutscher Industrieller', dessen Gründung der Langnamverein zuwege gebracht hatte. 248 Im sächsischen Verband dominierten aber immer noch eisenverarbeitende Industrie und Textilindustrie, die ihre historische Opposition, im Gewände der sächsischen Verbandsorganisation, in der Weimarer Republik parteipolitisch auf der Seite der 244
Weisbrod, Schwerindustrie, S. 180.
245
a.a.O., S. 181 ff. Der Weg zum industriellen Spitzenverband, hrsg. v o m Bundesverband der Deutschen Industrie, Darmstadt 1956, S. 181 ff. 246
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Hans-Peter Ullmann, Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluß und Politik ... 1895 — 1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 21), Göttingen 1976. 248 Zur Entstehung und Vorgeschichte des Centraiverbandes vor allem der erste Band der ausgedehnten, interessant und reich dokumentierten Darstellung von Henry Axel Bueck, Der Centraiverband deutscher Industrieller 1 8 7 6 - 1 9 0 1 , 3Bde., Berlin 1902/9.
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„nationalen Opposition" verorteten, aber auch gegen die RDI-Leitung verteidigten. Im Hinblick auf den Umfang der Erfassung industrieller Interessen, die aber dann auch noch das Bankwesen, den Handel, Groß- wie Einzelhandel einbezog, konnte nur der ,Deutsche Industrie- und Handelstag' (DIHT) mit dem RDI verglichen werden. 249 Dieser Dach verband der seit alters zwangsweise organisierten Industrie- und Handelskammern, Körperschaften des öffentlichen Rechts, stellte die umfassendste Organisation dar; doch wirtschaftspolitische Initiativen gingen häufiger vom RDI als vom DIHT aus und innerhalb des RDI am häufigsten vom Langnamverein. Dennoch waren Stellungnahmen und Stimme des DIHT von unbestrittenem Gewicht. An seiner Spitze stand zehn Jahre lang, 1921 — 1931, in Franz v. Mendelssohn, dem Chef der größten deutschen Privatbank und Präsidenten der Industrie- und Handelkammer Berlin, dann seit 1931 der Internationalen Handelskammer in Paris, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des international eingeführten deutschen Bankwesens. Die wichtige Funktion des Geschäftsführenden Präsidialmitglieds erfüllte seit 1924 Eduard Hamm, eine in Regierungstätigkeiten erfahrene und politisch prominente Persönlichkeit, die unter dem leitenden Personal der großen Spitzenverbände über hohes Ansehen verfügte. Hamm gehörte für die DDP 1920—1924 dem Reichstag und vorher schon dem bayerischen Landtag an; 1919 — 1922 war er bayerischer Handelsminister, im Kabinatt Cuno, 1922—1923, Staatssekretär in der Reichskanzlei, in den ersten beiden Kabinetten Marx, 1923 — 1924, Reichswirtschaftsminister. Stellung und Ansehen der beiden bedeutenden Liberalen an der Spitze des DIHT, Franz v. Mendelssohn und Eduard Hamm, wird man nicht unterschätzen dürfen; aber auch der zwanzigköpfige Vorstand stellte eine exquisite Auslese herausragender Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens und Verbändewesens der Republik dar, zu der Paul Reusch, als einer der drei Stellvertreter des Präsidenten, Carl Dulsberg, Conrad v. Borsig, Julius Flechtheim, Richard Lenel und seit Herbst 1930 auch Paul Silverberg gehörten. Doch die Wahl dieser Persönlichkeiten begrenzte den Grad der Verschränkung zwischen den Spitzen des industriellen und gewerblichen Verbandswesens, wobei der starke Anteil der Banken in der Führung des DIHT ins Auge fallt.
249 Dieter Schäfer, Der Deutsche Industrie- und Handelstag als politisches Forum der Weimarer Republik. Eine historische Studie zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft, Hamburg 1966.
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I. Wirtschaftliche
Rahmenbedingungen und Krisen^eichen
Will man in der Beschreibung der hinter und in den politischen Parteien, aber auch hinter den obersten Verwaltungen des Reiches wie der Länder postierten Interessengruppen fortfahren, so bleibt zu erwähnen, daß auch Banken und Bankiers über eine Interessenorganisation in Gestalt eines selbständigen Spitzenverbandes verfügten, den ,Centraiverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes'. Jakob Riesser hatte ihn 1901 gegründet und stand ihm bis Ende 1930 vor. In der Führung traten Männer dreier Großbanken auffallig hervor: Riesser selbst, der sich auch wissenschaftlich mit der Geschichte der Bankenkonzentration befaßte und ein wichtiges Werk hierzu veröffentlicht hatte,250 war bis 1928 Vorstandsmitglied der Bank für Handel und Industrie in Darmstadt, die vor dem Kriege zu den acht deutschen Großbanken rechnete und durch Fusion 1922 zur Darmstädter und Nationalbank erweitert wurde. Riesser hatte aber auch 1909 den ,Hansabund für Handel, Gewerbe und Industrie' gegründet und ihm bis 1920 präsidiert, der weit entschiedener als die industriellen Spitzenverbände dem vor allem in Preußen sehr starken Einfluß des ,Bundes der Landwirte' auf Verwaltung, Gesetzgebung und Politik entgegenzutreten versuchte.251 Bei der Reichstagswahl 1912 hatte der Nationalliberale Riesser mit Hilfe des Hansabundes Wahlbündnisse mit der Fortschrittspartei gefördert, aber nur begrenzte Erfolge verzeichnen können.252 1920 zog er als Abgeordneter der DVP in den Reichstag ein, dem er acht Jahre lang angehörte. 1930 löste den gemäßigten Nationalliberalen Riesser an der Spitze des Centraiverbandes des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes der entschieden der nationalen Rechten zuneigende Georg Solmssen ab, der ein Jahr zuvor von der bedeutenden Disconto-Gesellschaft aus unter ihrem Geschäftsinhaber Arthur Salomonsohn, Solmssens Onkel, die Fusion mit der größten der Großbanken, der Deutschen Bank, in die Wege geleitet und im Oktober 1929 zum Abschluß gebracht hatte. In der Reihe 250 Jakob Riesser, Die deutschen Großbanken und ihre Konzentration, 4. Aufl. Jena 1912, l.Aufl. 1905 unter dem Titel: Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Großbanken mit besonderer Rücksicht auf die Konzentrationsbestrebungen. 251 Siegfried Mielke, Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie 1909 — 1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 17), Göttingen 1976 252 Vgl. Werner E. Mosse, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Juden im Wilhelminischen Deutschland, S. 93 f.; auch Peter Pulzer, Die jüdische Beteiligung an der Politik, a.a.O., S. 229ff.; ferner Jürgen Bertram, Die Wahlen zum Deutschen Reichstag vom Jahre 1912. Parteien und Verbände in der Innenpolitik des Wilhelminischen Reiches (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 28), Düsseldorf 1964, bes. S. 102-107, 155.
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der nach dem Weltkrieg verbliebenen Großbanken wurde dies die mit großem Abstand den anderen überlegene Großbank, in der Oskar Wassermann an der Spitze des Vorstandes stand.253 Stellvertretende Vorsitzende des Centraiverbandes waren Max M. Warburg, der Chef der 1798 gegründeten privaten Hamburger Bank M. M. Warburg & Co., die sich auch in Nordamerika zu einem führenden und politisch einflußreichen Bankhaus entwickelt hatte, Walther Frisch vom Vorstand der Dresdner Bank und Friedrich Reinhart vom Vorstand der Commerz- und Privatbank. Unter den übrigen Vorstandsmitgliedern finden sich Vertreter von Privatbanken und mittleren Geschäftsbanken. Ganz oder weitgehend unabhängig von diesem Verband hielten sich unter den Großbanken — nach Riessere Ausscheiden — die Darmstädter und Nationalbank in Berlin, die zum ersten großen Opfer der Bankenkrise 1931 wurde, und die ganz anders operierende, ohne Filialen tätige Berliner Handelsgesellschaft, eine Kommanditgesellschaft auf Aktien, die sich gerne als „Bank der Bankiers" verstand.254 Unter der fünfzigjährigen Leitung Carl Fürstenbergs, dem persönlich haftenden Gesellschafter, der seit dem ersten Weltkrieg vor allem von dem im englischen Bankwesen erfahrenen Otto Jeidels unterstützt wurde, hatte sie sich aus einem notleidenden Institut zur blühenden deutschen Großbank entwickelt, die schließlich auch die Bankenkrise überstand. Ihre Entwicklung dankte sie Fürstenbergs frühzeitig entschlossener Hinwendung zum Industriekredit und der planmäßigen Kapitalisierung der Konzentration bedeutender Zweige der Großindustrie.255 Nachdem 253 Hierzu Manfred Pohl, Der Zusammenschluß der Deutschen Bank und der DiscontoGesellschaft im Oktober 1929, in: Deutsche Bank, Beiträge zu Wirtschafts- und Währungsfragen und zur Bankgeschichte, 18 (1980), S. 31 — 56. Zur vorteilhaften Position der Deutschen Bank Karl Erich Born, Die Deutsche Bank in der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, in: Deutsche Bank, Beiträge, 17 (1979), S. 1 1 - 3 0 . Eine aufschlußreiche Quelle zu Persönlichkeit und wirtschaftspolitischen Anschauungen Solmssens stellt die Sammlung seiner Reden und Aufsätze dar: Beiträge zur deutschen Politik und Wirtschaft 1900—1933. Gesammelte Aufsätze und Vorträge von Georg Solmssen, 2 Bde., München 1934. 254 Als Quelle von Bedeutung kann immer noch die gewiß nicht absichtslos geschriebene und als Memoirenwerk ausgegebene Biographie des im Februar 1933 im 83. Lebensjahr verstorbenen Bankiers aus der Feder des Sohnes, Hans Fürstenberg, gelten: Carl Fürstenberg, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers, Berlin 1931, ND 1961, hierzu S. 486. Vgl. die Memoiren von Hans Fürstenberg, Erinnerungen. Mein Weg als Bankier und Carl Fürstenbergs Altersjahre, Wiesbaden o. J. [1965], S. 81 ff. 255 Auf diesen, bald auch von anderen Großbanken Deutschlands wie anderer Industriestaaten beschrittenen, immer mehr ins Ausland führenden und dem Kapitalexport dienenden Weg sind Jakob Riesser in seinem genannten Buch, Die deutschen Großbanken, wie auch Otto Jeidels, Das Verhältnis der deutschen Großbanken zur Industrie, Leipzig 1905,
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sie sich wiederholt überaus erfolgreich mit Eisenbahnfinanzierungen — zuerst in Rußland, dann auch in Österreich, Serbien, Deutschland und über das mit ihr verbundene Bankhaus Hallgarten in New York auch in den Vereinigten Staaten — befaßt und große Emissionen untergebracht hatte, trug die Berliner Handelsgesellschaft bis zum ersten Weltkrieg, zu einem Teil in wechselnder Partnerschaft mit der Deutschen Bank oder anderen Bankinstituten, wesentlich zur Entstehung wie zur Entfaltung großer Unternehmungen bei, deren Kapitalbedarf eine beträchtliche Geschäftsmöglichkeit bot, die andere deutsche Großbanken erst später oder nicht deutlich genug wahrnahmen. Die Entwicklung und Konsolidierung der AEG, des zweitgrößten Konzerns der deutschen Elektroindustrie, der bedeutenden Zellstoffabrik Waldhof, der oberschlesischen Eisenindustrie, der Riebeckschen Montan-Werke, der Mannesmann-Hüttenwerke, der Metallgesellschaft wie die Expansion der Harpener Bergbau AG. gingen zum größten Teil auf ihr Konto. Erwähnung verdient aber auch, daß die Handelsgesellschaft schon vor dem Kriege, 1911 die ersten amerikanischen Kredite nach Deutschland holte, wiederum über das mit ihr eng verbundene amerikanisch-deutsche Bankhaus Hallgarten.256 Später, erneut nach Kriegsende traten weitere Großunternehmungen in ihren Interessenkreis, Verkehrs-, Bau-, Chemiewerke und Versicherungen, unter ihnen die Allianz. In Carl Fürstenbergs Händen sammelten sich industrielle Aufsichtsratsmandate, vor der Jahrhundertwende über 30, ausführlich eingegangen. Allerdings blieben diese Beziehungen problematisch, sind auch allgemeine Rückschlüsse auf Entscheidungen über die Geschäftspolitik der Konzerne nicht möglich. Dies ist der Sinn von Beispielen, die in einem kurzen Aufsatz von Helmut Böhme angeführt werden, Bankenkonzentration und Schwerindustrie 1873 — 1896, in: Sozialgeschichte Heute, S. 432—451. (Für die Berliner Handelsgesellschaft ergibt sich hierbei nichts.) Aus allgemeinen, vornehmlich statistischen Beobachtungen entwickelt Richard H. Tilly die Vermutung, daß der Kapitalmarkt in Deutschland nach 1890 fortgesetzt stärker unter den Einfluß der Industrie gekommen sei; Tilly, Zur Entwicklung des Kapitalmarktes und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands, in: Hermann Kellenbenz, Jürgen Schneider, Rainer Gömmel (Hrsg.), Wirtschaftliches Wachstum im Spiegel der Wirtschaftsgeschichte (Wege der Forschung, CCCLXXVI), Darmstadt 1978, S. 336—360. „Im Gegensatz zur Industrie gingen die Banken und Kreditinstitute eher geschwächt aus der Inflation hervor, verloren an Einfluß. und gerieten zum Teil in verstärkte Abhängigkeit von der Industrie ..." Peter Czada, Ursachen und Folgen der großen Inflation, in: Winkel (Hrsg.), Fragen der Zwischenkriegszeit, S. 36; vgl. dort auch Henning, Liquidität der Banken, S. 70ff., 76 ff., 84ff. Zur Entwicklung der Eigenkapitalaustattung Carl-Ludwig Holtfrerich, Auswirkungen der Inflation auf die Struktur des deutschen Kreditgewerbes, in: Feldman (Hrsg.), Nachwirkungen der Inflation, S. 198 ff. 256
Hans Fürstenberg, Erinnerungen, S. 529.
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nach dem Kriege 60 und mehr,257 durch die er die Interessen seiner Bank unmittelbar mit denen der Großindustriellen verknüpfte, die wiederum als Geschäftsinhaber, persönlich haftende Gesellschafter und Aufsichtsratsmitglieder in die Handelsgesellschaft eintraten — schon seit der Jahrhundertwende Walther Rathenau und etwas später Walter Merton von der Metallgesellschaft in Frankfurt. Zu dem legendären Ruf, den Fürstenberg als intimer Kenner des Geschäftslebens genoß, trug die lebhafte publizistische Unterstützung durch den ihm eng verbundenen Maximilian Harden und „Die Zukunft" bei. Alles in allem blieb Carl Fürstenberg der letzte bedeutende Mann seiner Art, der nichts mehr mit den „Hofjuden" des 18. und 19. Jahrhunderts gemein hatte und doch fast universelle Eigenschaften eines Bankiers der Jahrhundertwende verkörperte. Konzerne unter der Führung einer einzigen Großbank oder eines Bankenkonsortiums sind hieraus nicht hervorgegangen. Indessen erscheint es im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbereichen und ihren Interessenorganisationen ungleich schwieriger, Positionen oder gar politisch relevante Tätigkeiten innerhalb des deutschen Bankwesens zu bestimmen. Wiederauflebende Auslandsgeschäfte in der Ära nach der Inflation, Aufnahme und Vermittlung ausländischer Kapitalzufuhr in der Phase der wirtschaftlichen Stabilisierung sowie Anlagen und Auslandsgeschäfte auf deutsche Rechnung und vielfaltige Anregungen vermittelnde Tätigkeiten haben auf längere Sicht die wirtschaftliche Stellung und den Einfluß der deutschen Banken, die nach dem verlorenen Krieg stärker als je zuvor auf Auslandsbeziehungen angewiesen waren, keineswegs stabilisiert, sondern verschiedenartigen Influxionen ausgesetzt. Anders als der Stinnes-Konzern oder die Gutehoffnungshütte wurden die großen Bankhäuser nicht zu Gewinnern der Entwicklung in Kriegs- und Nachkriegszeit. Dennoch schienen ihre Geschäfte in der Stabilisierungsphase zu blühen, in der auch neue industrielle Großkonzerne mit internationalen Verbindungen entstanden. An den wiederbelebten Geschäften partizipierten aber nicht alle Großbanken; sie teilten sie sich mit Kommunalbanken und aufstrebenden öffentlichen Banken. Immer noch behaupteten sich Privatbankiers und Privatbanken in einer bedeutenden Rolle; von ihnen gab es 1913 1200 und sogar 1938 immer noch 535.258 a.a.O., S . 8 9 f f . Lutz Graf Schwerin v. Krosigk, Die große Zeit des Feuers. Der Weg der deutschen Industrie, Bd. II, Tübingen 1958, S. 613—16. Vgl. auch Willi Strauß, Die Konzentrationsbewegung im deutschen Bankgewerbe. Ein Beitrag zur Organisationsentwicklung der Wirtschaft unter dem Einfluß der Konzentration des Kapitals mit besonderer Berücksichtigung 257 258
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Bei weitem nicht nur das bekannte Hamburger Bankhaus Warburg repräsentierte diese starken Residuen aus der Bankentätigkeit des 19. Jahrhunderts in Deutschland, wenn es auch durch seine familiären Verbindungen nach Amerika — über den einflußreichen Bruder Max Warburgs im New Yorker Bankhaus Kuhn, Loeb & Co. — das bedeutendste deutsche Haus von übernationalem Rang und Namen blieb. Max Warburgs Partner Carl Melchior spielte seit den deutsch-sowjetischen Verhandlungen nach Brest-Litowsk und von den Waffenstillstandsfolgeverhandlungen bis zu den Reparationsverhandlungen in Basel 1932 eine bedeutende Rolle als Berater der Reichsregierung in internationalen Finanz- und Wirtschaftsfragen.259 Auch das Kölner Bankhaus J. H. Stein verfügte über vielfaltige Verbindungen. J. Heinrich v. Stein, der Gründer der Firma, war Schwiegersohn von Gustav Mevissen und durch diesen mit den Firmen Darmstädter Bank und Delbrück, Leo & Co. verbunden gewesen; außerdem trat Stein in den Aufsichtsrat der Commerz- und Privatbank ein. Enge familiäre wie geschäftliche Beziehungen bestanden zwischen der Firma Stein und dem Kölner Bankhaus Deichmann & Co., das durch verwandtschaftliche Beziehungen mit den Banken Schröder Gebr. & Co. in Bremen und J. Henry Schroeder & Co. in London verbunden war, die gemeinsam mit Deichmann an dem Wiener Haus Joh. Liebig & Co., mit Arnold Rechberg an dem Kalikonzern Wintershall und mit der Commerz- und Privatbank an dem zweiten großen Kalikonzern, Burbach, partizipierten. Schließlich bestanden verwandtschaftliche Verbindungen sowohl mit dem Kölner Bankier Louis Hagen und dem von ihm und der Darmstädter und Nationalbank kommanditierten Bankhaus Hagen & Co. in Breslau. 1913 trat ein Angehöriger der Familie Schröder, Kurt Frhr. v. Schröder, als Teilhaber in das Haus J. H. Stein ein. 1923 entstand in der J. H. Schroeder Banking Corporation auch eine New Yorker Niederlassung dieses Bankenclans. Enge Familienbeziehungen bildeten seit alters die sicherste und, so sie fortgesetzt gefestigt wurden, auch eine dauerhafte Grundlage der der Nachkriegszeit (Sozialwissenschaftliche Forschungen, Abt. IV—4,6), Berlin/Leipzig 1928, S. 127 ff. 259 Vgl. Wilhelm Treue, Zur Frage der wirtschaftlichen Motive im deutschen Antisemitismus, in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916—1925, hrsg. von Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker (Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 25), Tübingen 1971, S. 390f.; vgl. auch Peter Krüger, Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 72, 477; Heinrich Brüning, Memoiren 1918 — 1934, Stuttgart 1970, S. 347, 364 f.
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Ausbreitung des privaten Bankgeschäfts.260 Am stärksten und wirtschaftsgeschichtlich bedeutsamsten läßt sich dies in der frühen Periode der Industrialisierung im geschäftlichen Aufstieg und soliden Zusammenhalt jüdischer Clans beobachten. Wenn Anteil und Leistungskraft jüdischer Unternehmer und Firmen in der Industrialisierung Deutschlands in fast allen wirtschaftlichen Bereichen deutlich hervortreten, so drangen sie im Bankwesen am stärksten voran, so daß sich im Wilhelminischen Vorkriegsdeutschland die Spitzengruppe jüdischer Kapitalisten unter den Bankiers fand. 261 Nächst dem agrarischen Latifundienbesitz deutscher Familien des Hochadels — an erster Stelle agrarisch-industrieller schlesischer Magnaten, wie der Fürsten Henckel v. Donnersmarck, HohenloheOehringen und Pless oder Graf Schaffgotsch — bildeten sie ein etwa gleichartiges Gewicht neben den großen Ruhrindustriellen. Doch nach dem ersten Weltkrieg ging der Anteil großer jüdischer Kapitalisten am Geschäftsleben zurück; in der Republik spielten sie — entgegen verbreiteter Meinungen in der nationalen Rechten — im Vergleich zum Wilhelminischen Deutschland eine sichtlich begrenzte Rolle. In den Konzentrationen der Wirtschaft, vor allem in der Industrie, aber auch im Bankenwesen, traten sie wohl noch bedeutsam, aber nicht mehr bestimmend hervor. Auch in dieser Hinsicht führten Krieg und Revolution zur Auflösung alter Bindungen und zur Zerstörung des „prekären Gleichgewichts der deutschen Verhältnisse" zumindest für das Judentum in Deutschland.262 Vielleicht erleichterte dies den Angriff der robusten „völkischen" nationalistischen Richtung und die Beeinflussung der wirtschaftlich unkundigen Massen. Unter den weit über die Durchschnittsebene der deutschen Bevölkerung hinausgehobenen finanziell führenden 260 Auch in ihren genealogischen Informationen erweist sich die Memoiren-Biographie Carl Fürstenbergs als eine Fundgrube. 261 Hierzu die Untersuchung von Werner E. Mosse, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Juden im Wilhelminischen Deutschland, S. 77 ff., der Übertritte von der jüdischen Religionsgemeinschaft zu einer christlichen Kirche unberücksichtigt läßt. Neuerdings Arthur Prinz, Juden im Deutschen Wirtschaftsleben. Soziale und wirtschaftliche Struktur im Wandel 1850—1914, bearb. u. hrsg. von Avraham Barkai, Tübingen 1984. Sicherlich war der Anteil an Aufgaben, die jüdische Unternehmer in der Zeit der Industrialisierung übernahmen, in Deutschland größer als in westeuropäischen Ländern. Im weiteren Osten und in der Donaumonarchie dürfte er indessen noch größer gewesen sein. 262 Mosse, Die Krise der europäischen Bourgeoisie und das deutsche Judentum, in: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution, S. 25; zur Zuwanderung und geschäftlichen Tätigkeit von Juden während der Kriegsjahre immer noch bemerkenswert MendelssohnBartholdy, The War and German Society, S. 140 ff.
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Kreisen bildete die „ganz eigenartige Gruppe" der deutschen Juden 263 , trotz eines zunehmenden Anteils an der Intelligenz und an akademischen Berufen, im ganzen eher einen im Rückgang und Rückzug begriffenen Teil. Deutlich verlagerte sich eine führende Beteiligung anderer jüdischer Gruppen auf die Politik und die Presse. 264 Mit dem wachsenden Gewicht und Übergewicht der großen industriellen Konzerne und Verbände setzte sich auch ein härterer Typus des erfolgreichen Großunternehmers durch. Stinnes, die Thyssens, Reusch, Vogler, August v. Borsig, Dulsberg, aber auch Silverberg und Felix Deutsch, der immer stärker neben Walther Rathenau in den Vordergrund drängte, oder Flick waren unermüdliche, kenntnisreiche Arbeiter, versierte Techniker, begabte und robuste Organisatoren mit vielseitigen Fähigkeiten, deren große Stunde im Weltkrieg oder unmittelbar danach anbrach. Sie unterschieden sich deutlich vom Typus der jüdischen Bankiers der Finanzwelt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren Eigenart noch einige überragende Männer repräsentierten, die im Greisenalter standen, wie Carl Fürstenberg oder Louis Hagen, 265 Männer, die in einer Zeit emporgekommen waren, in der „die finanzielle Beschäftigung mit Eisen, Stahl und Kohle ... noch als Unternehmergeschäft im wilden Sinne des Wortes
263 Saul Friedländer, Die politischen Veränderungen der Kriegszeit, in: Deutsches Judentum, S. 38 264 Werner Becker, Die Rolle der liberalen Presse; sowie die wichtige Untersuchung von Werner T. Angress, Juden im politischen Leben der Revolutionszeit, in: Deutsches Judentum, S. 67 — 135 bzw. 137—315. Über den Anteil der Juden an den statistisch erfaßten Berufsgruppen in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren grundlegend Esra Bennathan, Die Demographie und wirtschaftliche Struktur der Juden, in: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, hrsg. von Werner Mosse (Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 13), 2., rev. u. erw. Aufl. Tübingen 1966, S. 87—131; vgl. auch E. G. Lowenthal, Die Juden im öffentlichen Leben, in: Deutsches Judentum, S. 51 —85. 265 Im ganzen sind übrigens auch die „Großbanken in ihrer Entwicklung weit weniger von jüdischer Initiative geprägt worden als die Privatbanken", wie Ernst Schulin schreibt, Die Rathenaus, in: Juden im Wilhelminischen Deutschland, S. 119. Auch Hans Fürstenberg sieht in der Biographie seines Vaters deutlich die Gruppierung der Generationen unter den jüdischen Bankiers: Oskar Wassermann, Henry Nathan, Oscar Schütter, Georg Solmssen, Kurt Sobernheim „sind durch die schweren Zeiten des Krieges und der Inflation hindurch den von ihnen übernommenen Aufgaben treu geblieben"; sie verkörperten eine Gruppe des Übergangs. Dagegen zählte Jakob Goldschmidt (Danat-Bank) bereits zu einer späteren Generation. „Niemand hätte wohl auch vor 1914 den Werdegang Dr. Schachts vom Archivar der Dresdner Bank zum ersten Präsidenten der umgestalteten Deutschen Reichsbank vorausgesehen." Carl Fürstenberg, S. 546.
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galt, kaum ganz würdig eines soliden Bankiers", wie Fürstenberg schrieb. „Die richtige finanzielle Behandlung großer wirtschaftlicher Probleme ... setzt vor allem auch eine lebenslängliche Übung voraus, die eine intuitiv richtige Einstellung zu den wichtigen Symptomen einer finanziellen Entwicklung im Gefolge hat. Das Gefühl der Industriellen wandelt ganz andere Wege als das Gefühl des Bankiers."266 Während zumindest in der älteren Vorkriegszeit die Banken Bahnbrecher, Antreiber und Gehilfen internationaler Geschäfte der Großindustrie waren, hatten die Großkonzerne der Kriegs- und Nachkriegsperiode übernationale Positionen aus endogenen Antrieben und Verdrängungskräften der Industrie gewonnen. In der sichtbar werdenden Distanz zwischen dem größten der deutschen Nachkriegskonzerne, der I. G. Farbenindustrie, und dem um Reusch, Silverberg und Krupp sich gruppierenden Kreis der westdeutschen Schwerindustrie wirkten sich verschiedenartige Neigungen zu internationalen Beteiligungen und Verpflichtungen aus,267 die schließlich auch eine starke, aber — weit mehr als die Fritz Thyssens — im Hintergrund des Verbandswesens bleibende Position des unabhängigen Friedrich Flick innerhalb der deutschen Stahlindustrie zuließ. 268 Fürstenberg, S. 175, 196. Diese Zusammenhänge hat eines der amerikanischen Nachfolgeverfahren zu den Prozessen des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg nach dem zweiten Weltkrieg an das Licht gezogen und auch für die historische Forschung dokumentiert, was — ganz und gar undramatisch und unsensationell — nicht weniger wichtig ist als die anderen Ergebnisse der Prozesse. Die I.G. Farbenindustrie AG war schon 1926, im Jahre nach ihrer Gründung, vertragliche Verbindungen mit bedeutenden ausländischen Konzernen eingegangen: mit dem größten amerikanischen Chemieunternehmen, Du Pont de Nemours, das auch den Autokonzern General Motors beherrscht, mit dem größten englischen, Imperial Chemical Industries Ltd. in London, 1929; dem folgte ein ähnlicher Vertrag mit der Standard Oil Company of New Jersey (Dok. Ni-10550, 10430, 10432, USMilitärgerichtshof Nürnberg, Fall 6/Ankl.-Dok.-B. 42), im Oktober 1931 mit der Alcoa, der Aluminium Corporation of America (Dok. Ni-10968, Ankl.-Dok.-B. 43). Dies waren die Anfänge eines internationalen Chemiekartells, das sich in den folgenden Jahren noch weiter ausbreitete. 268 Fritz Thyssen und der Luxemburger Großindustrielle Emil Mayrisch gründeten am 30. September 1926 in Brüssel das Internationale Stahlkartell („Internationale Rohstahlgemeinschaft"), das bis zur Weltwirtschaftskrise bestand und über ein Drittel der Weltproduktion bzw. zwei Drittel der Weltexportmenge an Stahlerzeugnissen verfügte, die von einer eigenen Kartellbehörde in Kontingente für Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg, das Saargebiet, die Tschechoslowakei, Österreich und Ungarn aufgeteilt wurden. Innerhalb dieses privatwirtschaftlich organisierten Vorläufers der westeuropäischen Montanunion besaßen die von Thyssen und Flick geschaffenen Vereinigten Stahlwerke den maßgebenden Anteil. Flick selbst hielt über eine komplizierte Konzernkonstruktion mit Rückhalt an der 266 267
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I. Wirtschaftliche Rahmtnbtiingungen und Krisen^eichen
Politische Konsequenzen einer supranationalen industriellen Gemeinschaft und ihrer Organisation w u r d e n auf der „Eisenseite" sogar noch deutlicher erkannt als v o n der „Chemie". Schon unter dem Einfluß v o n Stinnes, während der Ruhrkrise 1 9 2 3 , entschieden seit Beginn der wirtschaftlichen Depression 1925, gehörte es zur Eigenart der Außenpolitik Deutschlands w i e auch einiger anderer Länder, über die wirtschaftlichen Probleme Repräsentanten der Wirtschaft Deutschlands und Frankreichs selbst verhandeln zu lassen. 2 6 9 Allerdings besaßen auf beiden Seiten wirtschaftliche Gesichtspunkte eine derartige Tragweite, daß die Außenpolitik doch w o h l am besten tat, ihren W o r t f ü h r e r n auch die Führung der Verhandlungen zu übertragen. Mit fortschreitender InduDanat-Bank und an der Dresdner Bank 72,8 Prozent des Aktienkapitals der Vereinigten Stahlwerke, wesentlich mehr als Thyssen. Hierzu J. J. Lederer, La sidérurgie européenne et les cartels avant le plan Schuman, in: Politique étrangère, 16 (1951), bes. S. 397—405; Günther Kiersch, Internationale Eisen- und Stahlkartelle, Essen 1954; Jacques Bariéty, Internationale Rohstahlgemeinschaft, in: Industrielles System, bes. S. 566 ff.; ders. Le rôle de la minette dans la sidérurgie allemande après le traité de Versailles, in: Centre de Recherches Internationales de l'Université de Metz, Travaux et Recherches, 3 (1972), S. 233-277. 269 Die am 11. März 1925 in einer Besprechung der Reichsregierung mit Vertretern des RDI geäußerte „Bitte an die Eisenindustriellen, sofort die Privatverhandlungen mit der französischen Industrie zwecks Anbahnung einer Verständigung wieder aufzunehmen", ist in einem Protokoll des RDI im Archiv der Gutehoffnungshütte entdeckt worden, dessen Inhalt im wesentlichen durch einen Vermerk im Reichswirtschaftsministerium bestätigt wird; BA, R131/363. Vgl. Karl Heinrich Pohl, Die „Stresemannsche Außenpolitik" und das westeuropäische Eisenkartell 1926. „Europäische Politik" oder nationales Interesse?, in: VSWG, 65 (1978), S. 522, mit stark kritischem Akzent kommentiert: daß es die „Bandbreite des außenpolitischen Spielraums des Auswärtigen Amtes, ja der gesamten Reichsregierung" beschränkte, wenn „diese Schwerindustriellen-Verhandlungen mit ihrer ungeheuren nationalen [dieses Wort durch Kursivdruck hervorgehoben] politischen Bedeutung souverän und allein von der deutschen Schwerindustrie geführt wurden." Persönlichkeit und Politik Stresemanns lassen sich natürlich nur aus den Verhältnissen seiner Zeit sinnvoll beurteilen. Die wirtschaftliche Lage findet in diesem wegen seiner Quellen interessanten Aufsatz nur geringe Beachtung. Das Wort von der „Demission der politischen Macht" bestimmt die Leitlinie. Jacques Bariéty hat es geprägt, in: Industrielles System, S. 566. Man könnte sagen, daß die politische Kompetenz und die Wirtschaft eine schwierige und problematische Verbindung eingingen. Immerhin könnte der kritische Historiker auch einiger Einsichten aus der Erforschung der Vorgeschichte des ersten Weltkrieges gedenken: „Dem Historiker wird ausweislich der verfügbaren Dokumentation die zwar nicht durchgängige, aber doch überwiegende inhärente Friedfertigkeit des Finanzkapitals glaubhaft, weniger dagegen die Friedfertigkeit der Diplomatie ..." Alfred Vagts, Die Juden im englisch-deutschen imperialistischen Konflikt vor 1914, in: Imperialismus im 20. Jahrhundert. Gedenkschrift für George W. F. Hallgarten, hrsg. von Joachim Radkau und Immanuel Geiss, München 1976, S. 128.
Die größten
industriellen
Konzentrationen
und
Spit^enverbände
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strialisierung lassen sich offenkundig derartige Fälle und Probleme außerhalb der zwangsstaatlichen Ordnung, in der Staats-, Partei- und Staatswirtschaftsinteressen vollkommen gleichgeschaltet sind, nicht vermeiden. Dies barg — und birgt — gewiß weitere, perennierende neue Probleme in sich; doch eine Alternative hierzu scheint nicht gegeben. Auch auf französischer Seite wurden die wirtschaftlichen Nachteile der unvollkommenen Friedensvertragsregelungen erkannt. In den deutschfranzösischen Wirtschaftsübereinkünften konnten daher während der zwanziger Jahre wiederholt Annäherungen erreicht werden, die aus einer unmittelbaren Beteiligung von Diplomaten und Politikern, angesichts der schroffen Gegensätze beider Seiten, kaum hervorgegangen wären und hinter denen auch die Ergebnisse der Genfer Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbundes 1927 weit zurückblieben, was schon aus dem geringen Verbindlichkeitsgrad der Vorschläge und den mangelnden Ermächtigungen der Delegationen folgte. 270 Daß die unter der Ägide der nationalen Erneuerung formierte Vermehrung von Staaten, aber auch die Vermehrung von Zollgrenzen wie noch andere Ergebnisse der Friedensverträge und nicht zuletzt die Handels- und Zollpolitik der Vereinigten Staaten neue, schwer lastende Probleme heraufbeschworen, die der Lösung harrten, wurde von dem englischen Delegierten Lord Layton ebenso deutlich ausgesprochen, wie das Verlangen nach „Schaffung immer größerer Wirtschaftseinheiten". Auf französischer Seite wurde schließlich der Grundsatz vorgebracht, daß sich die Industrien untereinander verständigen müssen. Am Ende gingen aus den Empfehlungen dieser interessanten Konferenz, gegen französischen Widerstand, das Genfer Zollfriedensabkommen der Staaten des Völkerbundes hervor, das jedoch nur von wenigen Staaten ratifiziert wurde, das Genfer Abkommen über Wirtschaftsstatistik von 1928 und indirekt auch die Gründung einer Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Bank of International Settlement), die nach dem Haager Abkommen 1930 in Basel ihre Tätigkeit aufnahm. Die Crux lag darin, daß das wirtschaftliche Interesse der deutschen Schwerindustrie, die in diesen Fragen den Ton angab, auf bestimmte Komplexe fixiert und in der Sache begrenzt war und keinerlei Kompensationen aus politischen Gründen bieten konnte. Stresemann sprach in seiner Rede im Völkerbund aus Anlaß der Aufnahme Deutschlands am 10. September 1926 von einer „die Landesgrenzen überschreitenden 270 Vgl. die Schilderung von Paul Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne 1923—45. Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Bonn 1949, S. 1 2 7 - 1 3 6 .
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Schulz II
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I. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Krisen^eichen
wirtschaftlichen Verständigung". 271 Das war in der Tat ein Grundgedanke der späteren Europa-Politik. Wie sollte man Freihandel anders gewährleisten? Aber weitere politisch konstruktive Ideen konnten daran doch nur anschließen, wenn auch die Industriellen dies wollten. Anderseits war Stresemann unstreitig der deutsche Außenpolitiker mit der ausgeprägtesten und offenbar auch aussichtsreichsten Zukunftsvision, der nationale Gewohnheiten und Ansprüche mit europäischen Möglichkeiten in Einklang zu bringen schien und in nüchterner, dann aber auch wieder den Mentalitäten der Zeit in höchst pathetischen Wendungen entgegenkommender — manchen Historiker etwas verwirrender — Weise seine Ideen bekanntzumachen versuchte.272 Unbestritten bleibt es Tatsache, daß Stresemann in der wirtschaftlichen Depression der Stabilisierungsphase 1925/ 26 zur Revision der deutsch-französischen Beziehungen eine wirtschaftlich akzeptable und durch ihren dem Ausgleich entgegenkommenden Charakter auch außenpolitisch chancenreiche Konzeption beizutragen vermochte. Unabhängig davon, ob die Schwerindustrie beider Seiten eine zur deutsch-französischen Annäherung treibende geeignete Potenz war oder nicht,273 bleibt die Frage, welches die Gründe des politischen Scheiterns waren. Albert Vogler hatte klar ausgesprochen: Die Internationale Rohstahlgemeinschaft könne nur Bestand haben, wenn Stresemann „einen politischen Pakt zustandebringt",274 was sicherlich zutraf. Der eben so gesehene Erfolg der Stresemannschen Außenpolitik bildete mithin auch in den Überlegungen maßgebender Wirtschaftler die Voraussetzung künftiger Existenz — zumindest bis zur Wende von 1929/30.
271 Gustav Stresemann, Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, hrsg. von Henry Bernhard u. a., Bd. II, Berlin 1932, S. 591 ff. 272 Eine sorgfaltig abwägende, entschieden, aber doch sorgsam kritisch operierende Studie ohne übertriebene Wertungen ist die von Michael-Olaf Maxeion, Stresemann und Frankreich 1 9 1 4 - 1 9 2 9 . Deutsche Politik der Ost-West-Balance, Düsseldorf 1972. Das letzte Wort steht noch aus. Zuletzt Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Die Hauptthemen der thematisch auf die frühen zwanziger Jahre beschränkten Arbeit von Werner Weidenfeld, Die Englandpolitik Gustav Stresemanns. Theoretische und praktische Aspekte der Außenpolitik, Mainz, 1972, sind auf verschiedenen Gebieten überholt. 273 Bariéty, in: Industrielles System, S. 561. 274 Zit. nach Pohl, Stresemannsche Außenpolitik, S. 528.
VIERTES
KAPITEL
Krise und Protestbewegung in der Landwirtschaft Den historischen, mittlerweile faktisch gemäßigten antikapitalistischen Positionen in der Mehrheitspartei der Arbeiterbewegung stand auf der entgegengesetzten Seite der politischen Skala fast von Anbeginn der Republik eine entschieden antikapitalistische, antiliberale und auch deutlich antiparlamentarische Opposition mit dem Hauptgewicht in den agrarischen Ostgebieten gegenüber. Während die sozialdemokratisch organisierte Arbeiterschaft mit zunächst geringen Einschränkungen vor und im Kriege für den parlamentarischen Verfassungsstaat gewonnen wurde, entstand im agrarischen Verbändewesen des Ostens und zunehmend auch in anderen deutschen Agrargebieten eine Opposition gegen das liberaldemokratische Regierungssystem wie gegen den Friedensvertrag von Versailles 1919, die Anlehnung an einen Staat wünschte, der sie gegen Weltwirtschafts- und Weltmarktwirkungen schützte, die unter der Dominanz jener Kräfte stand, die eine fortschreitende Industrialisierung auch in Deutschland begünstigten. Ein solcher Staat war die Republik nicht, die sich daher von Anfang an zwischen der antikapitalistischen und antiparlamentarisch gebliebenen äußersten Linken und dem agrarischen Kristallisationskern einer sich stetig verbreiternden Rechten gegenübersah. Alle Agrarländer wurden in der Zwischenkriegsperiode zu Diktaturstaaten, die meisten der „halben" Agrarstaaten Europas, wie Deutschland, Italien, Spanien, Österreich, auch Rumänien, zu Schauplätzen schärfsten Kampfes gegen und für die Diktatur, in dem früher oder später die Diktatur obsiegte; im Grund gilt dies letztlich auch für Rußland, das allerdings seit der Oktoberrevolution 1917 unter der Ägide einer viel weiter und tiefer greifenden, langfristigen politischen wie gesellschaftlichen Umwälzung stand. Die Industrialisierung hatte in Deutschland, ganz anders als etwa in England, nicht die Folge, daß die als Acker- und Gartenland ausgewiesene Fläche vermindert wurde. Diese besaß 1913 fast genau denselben Gesamtumfang wie 35 Jahre zuvor: 26,06 Millionen ha; die Forst- und Waldflächen hatten sich geringfügig vergrößert, nur die Gesamtfläche 11»
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I. Wirtschaftliche
Rahmenbedingungen und Krisen^eichen
der Weiden und Hutungen war zurückgegangen. Wiesen und Weiden zusammengenommen bedeckten 1913 eine Fläche von 8,58 Millionen ha; 1878 waren es 10,53 Millionen ha. Dafür hatte das unbewirtschaftete Odund Unland um fast 1,5 Millionen ha zugenommen. 275 Die Hutungen waren also in größerem Umfang aufgegeben worden; sie lohnten die Mühe nicht mehr. Aber im ganzen erscheint der konstant bleibende Umfang der landwirtschaftlich und forstwirtschaftlich genutzten Flächen in Deutschland nach der Reichsgründung nach mehr als einem Menschenalter mit einer stürmischen industriellen Entwicklung höchst bemerkenswert. In ihrem Verlauf hatte sich die Bevölkerung von 44 auf 67 Millionen vergrößert, der Anteil der Bewohner der Großstädte aber um mehr als das Zweieinhalbfache, der Einwohner von Klein- und Mittelstädten um die Hälfte zugenommen. 276 Beide Kategorien von Städten beherbergten 275 Zahlen nach den Erhebungen von Robert Kuczynski und Peter Quante, Statistische Grundlagen zu Deutschlands Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln (Die Volksernährung, 7. H.: Deutschlands Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln, I. Teil), Berlin 1926, S. 19. 276 Karl Erich Born, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867/71 — 1914), Stuttgart 1985, S. 15ff., verweist auf den Richtungswechsel innerhalb der Bevölkerungsbewegung. Von 1866 bis 1895 wanderten 2,9 Millionen Deutsche aus (2,6 in die Vereinigten Staaten), 1896 bis 1900 nur noch 127000, während der Umfang der Binnenwanderung allein aus den preußischen Ostprovinzen in die großen Industriestädte vor allem der Mitte und des Westens des Reichsgebietes von 1871 bis 1907 mit 2 Millionen Menschen beziffert wird; der größte Teil entfallt auf die Jahre nach 1890. Vgl. auch Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800—1970, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts und Sozialgeschichte, hrsg. von Hermann Aubin und Wolfgang Zorn, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 9—50. Neuerdings haben von Köllmann geleitete Forschungen nachgewiesen, daß eine fortgesetzt zunehmende Bevölkerungsabgabe (ein „Wanderungsverlust") bei stetigem Geburtenüberschuß in den meisten deutschen Staaten und — preußischen — Provinzen schon vor der Reichsgründung einsetzte, in Württemberg und den beiden Mecklenburg etwa 1829, in Baden 1830, in den übrigen süddeutschen und norddeutschen Staaten einige Jahre später, während die Bevölkerungsabgabe der preußischen Ostprovinzen noch später einsetzte, dann allerdings viel rascher größere Dimensionen erreichte: seit 1847 in Posen, seit 1862 in Pommern und seit 1865 in Ostpreußen, Westpreußen, Schlesien und in der Provinz Sachsen. Zonen mit starkem Bevölkerungszuwachs aus „Wanderungsgewinnen" sind das Königreich Sachsen schon seit 1831 — mit geringen Unterbrechungen —, die Rheinprovinz seit 1856, vorwiegend das Gebiet um Berlin, besonders seit 1872, aber auch während der frühen und mittleren fünfziger Jahre, ähnlich Westfalen und fast während des ganzen Jahrhunderts stets das Gebiet der großen Hansestädte Hamburg und Bremen. W. Köllmann (Hrsg.), Quellen zur Bevölkerungs-, Sozial und Wirtschaftsstatistik Deutschlands 1815 — 1875, Bd. I: Quellen zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands 1815-1875, bearb. von Antje Kraus, Boppard 1980. Vgl. auch Wolfgang Köllmann, Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, Göttingen 1974, S.55ff.
Krise und Protestbewegung in der Landwirtschaft
151
1910 bereits 41,2 Prozent der gesamten deutschen Bevölkerung, gegenüber 22,3 Prozent dreißig Jahre zuvor. Das Ausmaß der Bevölkerungsbewegung, der Wanderung nach der Reichsgründung ist erst nach 1945/ 46 — freilich in kürzerer Zeit — übertroffen worden. In Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern, auf dem „platten Lande" preußischen Begriffs — die meisten mit der Landwirtschaft verbunden —, verblieben 40 Prozent der Gesamtbevölkerung; 1880 waren es 59,2 Prozent.277 1878 fanden 9,5 Millionen Menschen in der Landwirtschaft, im Forstwesen und in der Fischerei Lohn und Brot, 1913 sogar noch mehr, 10,7 Millionen; aber die Gesamtzahl der in allen Wirtschaftsbereichen Beschäftigten war in diesem Zeitraum von 19,3 auf 31 Millionen gewachsen.278 Die grundstürzende Veränderung ging vom Wachstum der Industrie und in zweiter Linie des Handels aus, die ihre Schwerpunkte überwiegend in Großstädten entwickelten. Aber auch innerhalb des Landbaus, auf dem ihm unverändert verbliebenen Bodenanteil waren Verschiebungen eingetreten, die ein stetes Wachstum bezeugen. In den 35 Jahren von 1878 bis 1913 wurde die Hauptnutzungsfläche des Getreideanbaus etwa um ein Zehntel auf Kosten anderer Kulturen ausgedehnt. Hafer und Winterroggen, vor allem also widerstandsfähigere und anspruchslosere Getreidearten, hatten hieran den größten Anteil, in geringerem Maße Gerste und Weizen, während der Anbau alter, aber wirtschaftlich weniger ergiebiger Getreidearten, wie Spelz und Einkorn, auch von Buchweizen und Hirse zurückging. 279 Die durchschnittlichen Hektarerträge stiegen in diesem Zeitraum beträchtlich an, so daß die jährliche Erntemenge der Hauptgetreidearten Deutschlands fortgesetzt größer ausfiel. 280 Der Weltkrieg brachte dann infolge der nachlassenden Bodenpflege und des Arbeitskräftemangels einen von Jahr zu Jahr stärkeren Rückgang der Hektarerträge, der sich auch nach dem Kriege zunächst noch fortsetzte und erst allmählich durch eine leichte Zunahme abgelöst wurde. Zwar wurde die Getreideanbaufläche von 1920 bis 1925 um ein weiteres
W . G . Hoffmann, Wachstum, S. 173 f., 178. a.a.O., S.205. 279 Robert Kuczynski, Pflanzliche Nahrungs- und Futtermittel (Deutschlands Versorgung, II. Teil), Berlin 1926, S. 4, 6. 280 N a c h Kuczynski, a.a.O., S. 17f., 27, vergrößerte sich der Körnerertrag (in dz/ha) von 1893 bis 1913 (im Vergleich der Durchschnittserträge beider Jahre): bei Winterweizen 17—23,5, bei Sommerweizen 13,3—23,9, Winterroggen 15—19,2, Sommerroggen 1 0 , 8 - 1 3 , 4 , Gerste 1 4 , 8 - 2 2 , 2 , Hafer 1 0 , 7 - 2 1 , 9 . 277 278
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I. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Krisens^eichen
Zehntel vergrößert. 281 Doch die Gesamternte an Getreide lag in dem um die Ackerbaugebiete der Provinzen Posen und Westpreußen verminderten Nachkriegsdeutschland beträchtlich unter den Ergebnissen der letzten Vorkriegsjahre.282 Die Hektarerträge reichten noch jahrelang an die der letzten Vorkriegsjahre nicht heran; erst 1928 bzw. 1929 wurden sie erreicht oder übertroffen. Das galt übrigens im wesentlichen für alle Früchte des Ackerbaus, deren Ernten in den letzten der zwanziger Jahre die besten Ergebnisse erreichten.283 Die Anbauflächen für Hülsenfrüchte — mit häufig wechselnden Ernteerträgen — waren ebenso wie der Ölfruchtanbau seit 1878 stetig zurückgegangen, während die Fläche des Hackfrucht- und Gemüsebaus vergrößert, die Zuckerrübenkultur und vor allem der Anbau der Kartoffel, des vielfach verwertbaren und billigsten Lebensmittels des Industriezeitalters, vor dem Krieg erheblich vermehrt wurde. 284 Deutschland war schon seit längerem ein Land, das für seinen Bedarf Agrarprodukte einführte; in der Vorkriegszeit erzielte es lediglich einen Ausfuhrüberschuß von Roggen. Nach den Veränderungen, die der Weltkrieg herbeiführte,285 ging trotz der reduzierten Produk281 282
a.a.O., S . l l . Gesamtergebnisse (in Millionen t)
1913 1925
Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
4,740 3,217
12,428 8,063
3,804 2,599
9,741 5,585
a. a. O., S. 28, 43. Die errechneten Ergebnisse bei Hoffmann, Wachstum, S. 286 f., weichen hiervon ab. Etwa in der Mitte — mit einigen Übereinstimmungen — liegen die Zahlen im Konjunkturstatistischen Handbuch 1933, S. 189. Über Quellen- und Berechnungsgrundlagen dieser Erntestatistik und notwendige (von Hoffmann nicht vorgenommene) Korrekturen Kuczynski, Quante, Grundlagen, S. 40—59; Kuczynski, Nahrungs- und Futtermittel, S. 28 f. 283 Konjunkturstat. Handb. 1933, ebda. Dies kann auch aus der Übersicht von Hoffmann, a.a.O., S . 2 8 0 f . entnommen werden. Bei Kartoffeln wurde die größte Ernte 1930 erzielt. 284 Die Kartoffelernte entwickelte sich (in den jeweiligen Reichsgrenzen) folgendermaßen (Anbaufläche in Klammern) in Mill. t. (ha):
1879
1913
1925
23,639 (2758)
44,651 (3475)
41,718 (2809)
Kuczynski, Nahrungs- und Futtermittel, S. 164, 169, 178, 187. 285 Die Bevölkerungszahl lag 1929 (64,7 Millionen) dicht über der von 1910 (64,6 Millionen); 1913 betrug sie 67 Millionen.
Krise und Protestbewegung
in der
Landwirtschaft
153
tion im eigenen Lande die Einfuhr doch beträchtlich zurück; beim Roggen konnte in den Jahren 1926 und 1928 bis 1931 wieder mehr ausals eingeführt werden.286 Die Einfuhr von Ölfrüchten, von Fleisch und Fleischwaren, Eiern, Molkereiprodukten und von Südfrüchten erreichte weitaus größere Volumina als in den Vorkriegsjahren. Man könnte hieraus auf eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten nach dem Kriege schließen, die den Verbrauch, die Verwertung, die Nachfrage nach zerealischen Produkten, aber auch nach Gemüsen und Hülsenfrüchten reduzierte und die nach tierischen, nach Obst und nach Fetten vergrößerte. 287 Auf den ersten Blick scheint dies die oben behandelte Überproduktionstheorie zu stützen. Aber diese ist, wie gezeigt, als globale These keineswegs beweisfähig; anderseits befaßte sie sich nicht mit Unterschieden zwischen Produktionen von Lebensmitteln verschiedener Art, nicht einmal zwischen Lebensmitteln und anderen Rohstoffen. Sie gehört nicht hierher. Die Veränderung der Nachfrage wie die der Produktion geht auf verschiedenartige äußere Verursachungen zurück. Große Teile der landwirtschaftlich genutzten, gelegentlich leicht erweiterten Flächen lassen auch bei ständiger und starker, zunehmend künstlicher Düngung auf den postdiluvialen Böden Ost- und Nordostdeutschlands, des größten Teiles Ostelbiens, unter den dortigen klimatischen Bedingungen nur eine begrenzte Kulturwahl zu. Roggen oder Hafer, auf etwas günstigeren Böden Gerste und Weizen — Winter oder Sommerweizen — und, im erforderlichen Fruchtwechsel, Kartoffeln und Futterrüben oder die allein der Bodenverbesserung dienende Lupine füllten den weitaus größten Teil der östlichen Landbaugebiete. Ausnahmen von dieser Eigenart waren in der gesamten Region des Kontinents selten; sie umfaßte im außerdeutschen Osten Litauen, Lettland, Estland, Weißrußland und Polen und im Norden im Anschluß an Schleswig große Teile Jütlands. „Ostmitteleuropa" könnte man diese Agrarzone nennen. Inseln mit Weidewirtschaft in Flußauen oder humusreichen Niederungen bildeten viehwirtschaftlich ertragreiche Einsprengsel, vor allem im Norden Ausgleichszonen, die wirtschaftlich besonders für mittelbäuerliche und größere Betriebe zu Buche schlugen.
286 Vergleiche der ersten zwanziger Jahre und der Vorkriegszeit ausführlich bei Kuczynski, a.a.O.; Außenhandelsvolumina indiziert bei Hoffmann, Wachstum, S. 542. 287 Veränderungen der Verbrauchsmengen bei Hoffmann, a.a.O., S.624f.
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I. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Krisen^eichen
In dieser Zone dominierte seit alters der Großbesitz — neben kleinen und kleinsten Bauern.288 Die seit der Gründung des Bundes der Landwirte (1893) auch organisatorisch stark entwickelte Wahrnehmung der agrarischen Interessen dieses Gebietes wurde von der Besitzstruktur wie von der Agrarkultur bestimmt. Dem weniger organisationswilligen Bauern gegenüber übernahm der organisationserfahrene Gutsbesitzer und der Großbesitz die Führung in den Interessengruppen. 289 Die Entschiedenheit ihres Auftretens entsprach der Begrenzung der wirtschaftlichen Interessen, tatsächlich auch der politischen; dies letzte hat eigene Gründe, die indessen nicht weniger auf Geschichte, Herkommen und Bewahrung des Überlieferten zurückgehen wie die materielle Lage. Die in der Ära Bülow hitzig geführten Zolltarifdebatten der Parteien in- und außerhalb des Reichstages schoben auf agrarischem Gebiet vor allem die Getreidezölle und die Prohibition wachsender Einfuhren in den Vordergrund. Nach dem Kriege wiederholte sich dies; doch zu den alten waren neue Probleme hinzugekommen, die die Auseinandersetzungen erschwerten. Deutschland war längst ein Industrie-Agrarstaat geworden oder AgrarIndustriestaat — nicht die Reihenfolge in der Zusammensetzung des Begriffs ist gravierend, sondern die Betonung. Das wirtschaftliche Schicksal Deutschlands stand auf des Messers Schneide: Benötigte es nach dem endlich errungenen Anschluß an den wiederhergestellten Weltmarkt die eigene Landwirtschaft für die Existenz seiner Bevölkerung — für ihre Ernährung, Kleidung, Behausung und ihre gehobenen Bedürfnisse? Die vollständige Einfügung in die Weltwirtschaft und das Welthandelssystem hätte billigeres Getreide und Brot erbracht, als die deutsche Bevölkerung 288
Zur Grundbesitzverteilung in Ostdeutschland Gerhard Schulz, Deutschland und der preußische Osten. Heterologie und Hegemonie, in: Sozialgeschichte Heute, bes. S. 93 ff.; auch Schulz, Staatliche Stützungsmaßnahmen in den deutschen Ostgebieten. Zur Vorgeschichte der Osthilfe der Regierung Brüning, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, hrsg. von Ferdinand A. Hermens und Theodor Schieder, Berlin 1967 bes. S. 145 ff. 289 Die von Haus aus stärkere Organisations- und Agitationswilligkeit der Großlandwirte stellt Ulrich Teichmann fest, Die Politik der Agrarpreisstützung. Marktbeeinflussung als Teil des Agrarinterventionismus in Deutschland, Köln-Deutz 1955, S. 141 f. Die Geschichte des Bundes der Landwirte wie des Reichslandbundes bietet eine anschauliche Illustration dieses Sachverhalts. Vgl. Sarah Rebecca Tirrell, German Agrarian Politics after Bismarck's Fall. The Formation of the Farmer's League, New York 1951; Jens Fleming, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890—1925 (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe: Politik und Gesellschaftsgeschichte), Bonn 1978, S. 3 2 - 5 3 , 169 ff.
Krise und Protestbewegung in der Landwirtschaft
155
in Wirklichkeit erhielt, was innerhalb des Horizonts historischer Forderungen sowohl der Sozialisten als auch der Liberalen die Erfüllung eines der wichtigsten Programmpunkte bedeutet hätte. Aber es gab auch gute Gründe, die Landwirtschaft nicht dahingehen zu lassen und sich allein der Industrie und dem Welthandel anzuvertrauen, eine Entscheidung, die England mit dem Abbau der Kornzölle unter der Regierung Sir Robert Peels fast siebzig Jahre vorher unter heftigen Auseinandersetzungen, aber irreversibel getroffen hatte. Deutschland stand vor einer ähnlichen, aber im Grunde doch viel schwereren Entscheidung, was allerdings kaum so deutlich gesehen wurde. Die Abhängigkeit vom Markt zwang und zwingt den Landwirt, auf seinem Boden einen größeren Ertrag zu erwirtschaften, als die Summe aus seinen Leistungen, den Investitionen, Abgaben, wie Steuern, Sozialbeiträge, usw., sowie den Bodenlasten, Betriebs- oder Personalschulden, ausmacht. Dieser Ertrag muß auf längere Sicht zumindest die Lebensfristung des Landwirts sicherstellen. Schwankungen von einem Jahr zum anderen, bedingt durch wechselnde Ernten, gar Mißernten, spätere Folgen von Schwankungen in der Natur, im besonderen der Witterung, sind ihm vertraut. Doch anhaltende Verschlechterungen der Ertragsergebnisse, die nicht durch die natürlichen Wechselerscheinungen verursacht sind, erfüllen ihn mit Sorge und — wenn er Menschen und Politik als Urheber des Mißgeschicks, das ihn betroffen hat, erkennt oder zu erkennen glaubt — empören ihn; denn die Natur hätte es nicht so schlimm mit ihm gemeint, wie er nun tatsächlich erfahren muß. Seine Opposition zur Politik und den über sie Entscheidenden ist gewissermaßen ganz und gar „natürlich". Wenn sich aber die Bauern zusammenfinden in Opposition und Protest, gestützt von Organisationen, werden sie zur Macht, in der sich Entschiedenheit mit Überzeugung in der Gemeinschaft der miteinander Solidarischen — nach dem Bilde und Vorbilde der dörflichen Gemeinschaft und Gemeinde — verbindet. Dies verdichtet die Organisation bäuerlicher oder agrarischer Interessen, was sich bei weitem nicht allein aus einem nationalen Affekt begründen läßt.290 290 Einen wichtigen, allerdings noch nicht erschöpfenden Beitrag zu dieser Thematik liefert der Sammelband von Heinz Gollwitzer (Hrsg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 29), Stuttgart/New York 1977. Gewiß ist es kein Zufall, daß einer der bahnbrechenden Väter der Soziologie in Deutschland aus dem ländlichen Norden stammte, dort lehrte und den Gegensatz zwischen „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" zum Generalthema erhob: Ferdinand Tönnies (1855 — 1936), Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 1. Aufl. 1887. letzter N D der 8. Aufl. Darmstadt 1979. Man könnte seine Betrachtungen wohl als
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I. Wirtschaftliche Rahmenbedingmgen und Krisen^eichen
Während des Weltkrieges hatte sich infolge der Außenhandelsblockade die neue Erfahrung einer unzulänglichen Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln verbreitet, aus der einmal der Gedanke einer den Weltmarktabhängigkeiten enthobenen nationalen Ernährungspolitik erwuchs und damit der Subventionierung des auf dem ungeschützten Markt als unprofitabel geltenden Anbaus, und zum anderen die Forderung nach einer Regulierung des Getreidehandels, um künftig die Bevorratung sicherzustellen. Die seit den neunziger Jahren sehr regen Bemühungen um die Errichtung eines Getreidemonopols, das das Angebot regulieren, d. h. verknappen sollte, wurden unter den veränderten Voraussetzungen des Krieges verwirklicht. Noch 1914 entstand die Kriegsgetreidegesellschaft als private, von der Reichsleitung ins Leben gerufene und in ihrem Auftrag, auf ihre Rechnung tätige Handelsmonopolgesellschaft, aus der im nächsten Jahr die Reichsgetreidestelle hervorging, eine Behörde des Reiches, die die Erfassung und Verteilung der ablieferungspflichtigen Erntemengen vornahm.291 Sowenig die Zwangsbewirtschaftung des Getreides, der schließlich die umfassende Ernährungszwangswirtschaft nachfolgte, auf der Ertrags- wie auf der Preisseite als wirklich erfolgreich bezeichnet werden kann, sowenig beeinträchtigte dies die gegen Kriegsende einsetzenden Bestrebungen, das eingeführte Getreidemonopol auch künftig beizubehalten. Die fortschreitende Lockerung von Löhnen und Preisen, die Geldentwertung, und der Mangel an Reichsmitteln zum Aufkaufen des Getreides minderten allerdings die Funktionsfahigkeit der Reichsgetreidestelle, die schließlich von der Monopolisierung der Getreideversorgung zur gelegentlichen Marktintervention überging, um das Absinken der Preise vor allem auf dem Roggenmarkt zu dämpfen oder zu unterbinden, nachdem der Reichsernährungsminister Luther mit Unterstützung des Reichsfinanzministers Hermes 1923 den Übergang zur freien Getreidewirtschaft durch die Anlegung einer einmaligen, mit deutsches Pendant zu den zivilisationskritischen frühen Werken des ersten amerikanischen Soziologen skandinavischer Abkunft Thorstein Vehlen (1857 — 1929) sehen, der oben schon zitiert wurde. Rudolf Heberle, Schüler und Schwiegersohn von Tönnies, schrieb nach Studium u. a. in Amerika und Habilitation in Kiel die erste wissenschaftliche Darstellung der in der Republik opponierenden Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein: Heberle, From Democracy To Nazism. A Regional Case Study on Political Parties in Germany, Baton Rouge, La. 1945, deutsche Bearbeitung unter dem Titel: Landbevölkerung und Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1 9 1 8 - 1 9 3 2 (Schriftenreihe d. V Z G , 6), Stuttgart 1963. Hierzu im nächsten Kapitel. 291
Teichmann, Agrarpreisstützung, S. 252 ff.
Krise und Protestbewegung in der Landwirtschaft
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Mitteln aus einer Zwangsumlage der Land- und Forstwirtschaft finanzierten Getreidereserve eingeleitet hatte, aus der besonders Bedürftige — Kriegsverletzte, Hinterbliebene und Sozialrentner — zu Vorzugspreisen versorgt werden sollten. 292 Die Getreide anbauende deutsche Landwirtschaft litt alsdann unter der ungewöhnlich günstig ausgefallenen Ernte des Jahres 1925, in deren Folge die deutschen Agrarpreise sogar unter das Weltmarktniveau absanken. 293 Dadurch gerieten von Jahr zu Jahr mehr landwirtschaftliche Betriebe in Schwierigkeiten, stieg schließlich die Zahl der Güter, die zwangsversteigert werden mußten, ständig an. 294 An die Stelle der Reichsgetreidestelle trat 1926 die Deutsche Getreidehandelsgesellschaft (GHG), zu der sich als Gesellschafter an der Landwirtschaft interessierte großindustrielle Syndikate (Stickstoff- und Kalisyndikat) wie Großeinkaufsgenossenschaften der Konsumvereine (GEG), Landwirte und Müllerinnungen zusammenfanden und die einen Kredit des Reiches erhielt, der erst nach der günstigen Ernte des Jahres 1928 durch Roggeneinkauf und -einlagerung im großen Umfang in Anspruch genommen wurde, freilich ohne dann noch das durch das Ernteergebnis des nächsten Jahres erneut vergrößerte Angebot für längere Zeit preiswirksam mindern zu können. 295 Der Roggenpreis sank entsprechend der vergrößerten Ernte. Man muß bei der Beurteilung der Zahlen allerdings schon den allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang berücksichtigen. 296 292 Martin Schumacher, Land und Politik. Eine Untersuchung über politische Parteien und agrarische Interessen 1914—1923 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 65), Düsseldorf 1978, S. 179 ff. 293 Hierzu Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise, S.32ff. 294 Nach Feststellung des Enquete-Unterausschusses für die Landwirtschaft, der hierbei Baden, Württemberg und Thüringen vernachlässigte, wo die geschilderten Auswirkungen noch gering waren, mußten schon 1925 insgesamt 1275 und 1926 2489 Betriebe mit 34944 ha zwangsversteigert werden; der größte Teil der Fläche, 25100 ha, lag in Ostdeutschland. Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, II. Unterausschuß, Bd. 12, Die Verschuldungs- und Kreditlage der deutschen Landwirtschaft in ihrer Entwicklung von der Währungsbefestigung bis Ende 1928, Berlin 1930, S.96. Zur Verschuldung Friedrich E. v. Zitzewitz-Kottow, Kapitalbeschaffung, Zinsverbilligung, Entschuldung, in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik (Veröffentlichungen der Friedrich-List-Gesellschaft e.V., 5.), Berlin 1932, TeilI: Die Lage der deutschen Landwirtschaft und die Gestaltung der agrarpolitischen Einflußnahmen, S. 544 ff. 295 Teichmann, Agrarpreisstützung, S. 262 ff., beziffert die von der GHG bis Februar 1930 eingelagerte Roggenmenge mit 400000 t, den Überschuß der Erntejahre 1928-1930 über den Roggenverbrauch mit jährlich annähernd 1,5 Millionen t. 296 Der Verbrauch an Roggenmehl und -brot stieg 1930 im Vergleich zu den Vorjahren — offenkundig zu Lasten von Weizenmehl und -brot — beträchtlich an (3,7
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/. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Krisençeichen
Im März 1930 wurde schließlich mit Hilfe weiterer Kredite der Preußenkasse und der Rentenbankkreditanstalt mit der Aufnahme beträchtlicher Roggenmengen — später auch aus Importen — und ihrer verbilligten Abgabe zu Fütterungszwecken begonnen,297 während gleichzeitig die Getreidezölle erneut heraufgesetzt wurden. Dies bewirkte ein Anziehen der Getreidepreise. Fast gleichzeitig wurde ein gesetzliches Maismonopol errichtet, das einer Steuerung des Maisimportes diente. Noch im Jahre 1929 wurde gesetzlich eine Mindestquote für Inlandsweizen bei der Vermahlung von Weizen festgesetzt, die eine beträchtliche Minderung des Weizenimports nach sich zog. 298 Durch die Beschränkung der Gefrierfleischimporte schon 1925, Standardisierungsvorschriften für Eier, Milchprodukte und Wein sowie der Kontingentierung von Hopfen und Tabak entstand noch vor dem Einbruch der Großen Krise ein nationales Agrarregulierungssystem, dem zweifellos auch Momente zu eigen waren, die sowohl den Konsumenten als auch den Produzenten zugute kamen. Hauptzweck blieb jedoch die Stabilisierung der vom Weltmarkt gelösten Preise, während die Großhandelspreise für Getreide im Ausland stark absanken.299 Prüft man die volkswirtschaftliche Gesamtberechnung der gegenüber 3,39 Millionen t 1929). Hoffmann, Wachstum, S. 624. Die Veränderung der Lebenshaltungskosten (1933 = 100) in den Jahren 1927, 1928, 1929, 1930 wird mit den Indexwerten 148, 152, 154 bzw. 148 bezeichnet. Bry, Wages, S. 327. 297 Der Futterroggen wurde durch den Farbstoff Eosin gekennzeichnet (Eosinroggen). Teichmann, Agrarpreisstützung, S. 264 ff. 298 a.a.O., S . 2 7 6 f f . 299 Die von Hoffmann, Wachstum, S. 554 f., für 1930 errechneten Erzeugerpreise weichen teilweise von Angaben Teichmanns ab. Sprechende Beispiele liefern die Angaben über Großhandelspreise innerhalb und außerhalb Deutschlands im Konjunkturstatist. Handb. 1930, S. 191, 199, 206: Preis in RM je t im Durchschnitt des Wirtschaftsjahres:
1927/28 1928/29 1929/30 1930/31
Weizen, märkischer
Roggen, märkischer
Weizen, argentinischer
Roggen (Rotterdam)
250,0 218,9 253,5 259,8
250,3 205,3 170,4 172,5
230,9 195,8 186,4 110,5
220,8 199,0 139,6 78,7
Die Einfuhr von Weizen und Roggen nach Deutschland ging im gleichen Zeitraum zurück: (Gesamtmenge je Wirtschaftsjahr in tausend t)
1927/28 1928/29 1929/30 1930/31
Weizen
Roggen
2618 2594 1478 869
574 178 97 32
Krise und Protestbewegung
in der
Landwirtschaft
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Verkaufserlöse für die landwirtschaftliche Erzeugung, so ergibt sich schließlich eine stetige Zunahme bis zum Wirtschaftsjahr 1928/29, danach allerdings ein Abschwung, der 1931/32 das Niveau von 1925 unterbot.300 Die Erfolge dieser Art der Agrarpreisstützung und die rückläufige Entwicklung der Getreideeinfuhr konnten indessen an der latenten, fast stetigen, späterhin offenen und immer stärker hervortretenden Opposition der agrarischen Organisationen kaum Wesentliches ändern; sie haben wahrscheinlich „das bäuerliche Bewußtsein kaum erreicht."301 Die Anfange einer früh schon zum Radikalismus neigenden Opposition, die — örtlich erfolgreich — das ganze „Landvolk" zu erfassen suchte und auf ländliche Kleinstädte übergriff, entwickelten sich in Schleswig-Holstein.302 Der durch Organisation verstärkte enge Zusammenhalt der agrarischen Verbände trat aber auch in anderen Landschaften, etwa in Pommern und Ostpreußen, auffällig in Erscheinung. Die Bemühungen um Schaffung agrarischer Interessenparteien 1928, der Deutschen Bauernpartei, die aus der Wirtschaftlichen Vereinigung ausgeschieden war, und der Christlich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei, die sich auf dem rechten Flügel in Opposition zur DNVP-Führung unter Hugenberg bildete und von einigen bekannten, ehemals deutschnationalen Politikern geführt wurde, haben hieraus jedoch keinen dauerhaften Nutzen zu ziehen vermocht. Oberhalb der verdichteten Landvolk- und der Interessenebene regionaler oder landschaftlicher Prägung blieben politische Programmatik und Parteiorganisation unsicher und unbeständig. Am 20. Februar 1929 fanden sich aber unter ihren tonangebenden Männern, den „Großen Vier", die größten landwirtschaftlichen Spitzen-
a.a.O., S. 187f. Hans Beyer, Die Agrarkrise und das Ende der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 13 (1965), S. 85. 302 Eigenart und Eigenständigkeit der schleswig-holsteinischen Landvolkbewegung, die 1927 — 1932 ihren Höhepunkt erreichte, sind, neben anderen, vor allem von Heberle und Stoltenberg in bekannten Pionierstudien untersucht worden: Heberle, Landbevölkerung und Nationalsozialismus; Gerhard Stoltenberg, Politische Strömungen im schleswig-holsteinischen Landvolk 1918—1933 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus u. d. politischen Parteien, 24), Düsseldorf 1962. Die Ausbreitung der Landvolkbewegung nach Süden — unter dem Eindruck wirtschaftlicher Zwangssituationen, auch unter anderen politischen und sozialen Voraussetzungen — 1929/30 beschreibt am Beispiel Oldenburgs Klaus Schaap, Die Endphase der Weimarer Republik im Freistaat Oldenburg 1928—1932 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus, 61), Düsseldorf 1978, S. 89 ff. 300 301
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verbände zusammen.303 Die von Martin Schiele (DNVP) 304 , Andreas Hermes (Zentrum) 305 , Anton Fehr (Deutsche Bauernpartei)306 und Brandes-Zaupern 307 vertretenen Hauptsäulen der agrarischen Organisationen einigten sich unter Leitung von Hermes, Reichsernährungsminister der Jahre 1920 — 22, auf ein gemeinsames handelspolitisches Programm, das auf durchgreifende Revision der Zoll- und Handelspolitik hinauslief, um eine längerfristige Stützung der landwirtschaftlichen Preise auf dem Binnenmarkt zu bewirken. Die etwas voreilig auch in der Öffentlichkeit als große agrarische Einheitsfront — neben und hinter den Parteien — bezeichnete „Grüne Front" bemühte sich um eine gleichwertige Partnerstellung in der Zusammenarbeit mit dem größten Spitzenverband der Industrie, dem RDI, um mit ihm die grundsätzliche Neuorientierung der deutschen Zollpolitik im Zusammenhang mit der falligen Erneuerung 303 Beyer, Agrarkrise, S. 72; vgl. Heide Barmeyer, Andreas Hermes und die Organisationen der deutschen Landwirtschaft. Christliche Bauernvereine, Reichslandbund, Grüne Front, Reichsnährstand 1928—1933 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, XXIV), Stuttgart 1971; ferner Fritz Reichardt, Andreas Hermes, Neuwied a.Rh. 1953. Den Verbänden der Grünen Front gehörten 1928 insgesamt 40396 ländliche Einzelgenossenschaften an, davon 26 085 dem Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften, 8252 dem Generalverband der deutschen Raiffeisen-Genossenschaften, 903 dem Genossenschaftsverband des Reichslandbundes; und 1549 standen der Vereinigung der deutschen Bauernvereine nahe. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48. Jg. (1929), S. 347. 304 Seit 1928 Präsident des Reichslandbundes (gegründet 1921, hervorgegangen aus dem Deutschen Landbund und dem Bund der Landwirte). 305 Seit 1928 Präsident der Vereinigung der deutschen Bauernvereine e.V. (1921 aus dem Zusammenschluß von 26 regionalen, überwiegend in katholischen Teilen Deutschlands verbreiteten Bauernvereinen hervorgegangen; der älteste und größte war der 1882 von Frhr. von Schorlemer-Alst gegründete Westfälische Bauernverein). 306 Bayerischer Landwirtschaftsminister, Vorsitzender des Bayerischen Bauernbundes für die Deutsche Bauernschaft, zu dem sich der Bayerische Bauernbund (BBB, seit 1893) mit dem Deutschen Bauernbund (DBB, seit 1909) und dem Reichs verband landwirtschaftlicher Klein- und Mittelbetriebe (seit 1926) zusammengeschlossen hatte. 307 Präsident der Landwirtschaftskammer Ostpreußen, des Deutschen Landwirtschaftsrates (gegründet 1872 als Gesamtorganisation der landwirtschaftlichen Zentralvereine) sowie der Preußischen Landwirtschaftskammer (geschaffen durch preußisches Gesetz von 1894). Über Kammern und Interessenorganisationen Gerhard Schulz, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung (zuerst 1961), abgedruckt in: Schulz, Das Zeitalter der Gesellschaft. Aufsätze zur politischen Sozialgeschichte der Neuzeit, München 1969, bes. S. 234 ff.; auch in: Heinz-Josef Varain (Hrsg.), Interessenverbände in Deutschland (Neue Wissenschaftliche Bibliothek), Köln 1973, S. 34 ff.; dort auch Wolfram Fischer, Staatsverwaltung und Interessenverbände im Deutschen Reich 1871 — 1914, a.a.O., S. 139 —161; jetzt erweiterte Darstellung für die Umstellungszeit nach 1918 J. Flemming, Landwirtschaftliche Interessen, S. 171 —191.
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der Handelsverträge mit Finnland und Schweden gemeinsam durchzusetzen.308 Die deutsche Exportwirtschaft benötigte Subventionen,309 die Landwirtschaft nicht weniger. Allerdings wurden alle Bemühungen der Agrarinteressenten, die in die Nähe einer autarken Wirtschaftsregelung strebten, von den Exporteuren aufs entschiedenste bekämpft, denen eine Abschließung vom Außenmarkt alles andere als erwünscht war. Auf diesem schmalen Grat zwischen Subventionierung und weltwirtschaftlicher Verbundenheit bewegte sich mithin der Gedanke eines aus der Geschichte des Deutschen Reiches seit Bismarck durchaus begreiflichen Bündnisses zwischen Großindustrie und Landwirtschaft in der zeitgemäßeren Form einer Verbindung zwischen den mächtigsten Spitzenverbänden. Innerhalb der rasch konstruierten „Grünen Front" konnte man sich allerdings nur dahingehend einigen, daß man eine generelle wirtschaftspolitische Ermächtigung von der Reichsregierung anstrebe. Offenbar erinnerte man sich der Wege, die die Reichsregierung in der Notlage des Winters 1923/24 auf Anraten ihres damaligen Finanzministers Luther eingeschlagen hatte: im situationsgemäßen Wechsel zwischen ordentlicher Gesetzgebung — auf'Grund eines Ermächtigungsgesetzes — und Ausnahmegesetzgebung — auf Grund des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten — 310 jeweils die vorgesehen Maßnahmen schnell und verhältnismäßig reibungslos durchzuführen. Doch eine einheitliche handels- und zollpolitische Konzeption konnte nicht entstehen und war auch schwerlich innerhalb der deutschen Landwirtschaft zu erreichen. In einigen Regionen sprachen auch Gruppen mit, in denen die Interessen der Mastviehzüchter den Ausschlag geben, denen an einer Getreidepreissenkung der zu Futterzwecken verwendeten, auch importierten Getreidearten gelegen war und die für einen freien Handel ohne Zollbelastung eintraten. Die „händlerisch interessierten 308 Schulz, Quellen Brüning: Politik und Wirtschaft, I, S. 67—72. Hinweise auf die voraufgegangenen Bemühungen bei Dieter Gessner, Industrie und Landwirtschaft 1928— 1930, in: Industrielles System, S. 7 7 3 - 7 7 8 .
Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise, S. 114 ff. Anläßlich des Erlasses der ersten Steuernotverordnung nach Rücktritt des zweiten Kabinetts Stresemann. Hierüber hat sich Luther als Reichsbankpräsident später, auf der 60. Mitgliederversammlung des Langnamvereins am 23. November 1932 rückblickend geäußert, indem er sich gegen die Auffassung wandte, daß „erst jetzt die Idee einer ... Präsidialregierung entstanden" sei, wenn auch „damals gegen diese Übertragung des ursprünglich für polizeiliche Maßnahmen gedachten Artikels 48 auf wirtschaftliche Dinge nicht unerhebliche Bedenken erhoben wurden ..." Er bekannte übrigens auch eigene „innere Hemmungen" gegen diese Anwendung des Artikels 48. Vortragsmanuskript BA, Nachl. Luther, 302. 305
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Schweinemäster" der Wesermarsch und gewisser Bezirke Holsteins widersetzten sich nicht nur der politischen Leitlinie der „Grünen Front"311. Sie radikalisierten ihren Widerspruch, weil sie eben von den geforderten zoll- und handelspolitischen Konzessionen der Reichsregierung dem Landbau gegenüber nichts erwarten konnten, da sie in erster Linie unter der weltweiten Krise des Absatzes agrarischer Produkte litten. Es ist sicherlich zu Recht festgestellt worden, daß der Kern und die Art dieses Widerstandes nicht in der tradierten Opposition gegen die Republik von Weimar und die Revolution von 1918 lag, wenn auch agrarischkonservative Elemente nicht zu übersehen sind. Zu den wirtschaftlichen Interessen traten allerdings Temperament und Haltung hinzu, die anfänglich auch durch den von alters her gewichtigen kirchlichen Einfluß gestärkt und, im Bunde mit den im Bauerntum lebendigen historischen Überlieferungen, vorangetrieben wurden. 312 Die Geschichte der radikalen Landvolkbewegung, die sich unter der Führung großer Bauern wie Wilhelm Hamkens und Claus Heim, der nach Gefängnismonaten sogar für eine Kandidatur in der Reichspräsidentenwahl 1932 vorgeschlagen wurde, 313 über Schleswig-Holstein hinaus in Norddeutschland auszubreiten versuchte, hatte mehrere Wurzeln, aber auch einen wesentlichen wirtschaftlichen Antrieb, dessen Formulierung und Begründung bis zur Abschaffung des Goldstandards der Währung, zur „Herausnahme der Landwirtschaft aus der kapitalistischen Wirtschaftsordnung" und zum Widerstand gegen die Einforderung von Steuerschulden durch die Behörden des preußischen Staates reichten. Schließlich gab es noch andere Differenzen zwischen Viehhaltern, Roggen und Kartoffeln bauenden und am Weizenverkauf interessierten Landwirten aller Besitz- und Betriebsgrößenklassen. Gravierend trat der Gegensatz zwischen der überwiegend auf die Getreideproduktion konzentrierten Landwirtschaft Ostdeutschlands und der vorwiegend viehhaltenden, veredelnden, Rüben oder Gemüse bauenden Landwirtschaft in Nord-, Mittel-, West- und Süddeutschland in Erscheinung. Die größte gemeinsame Sorge galt der schweren Belastung durch vorgegebene und Beyer, Agrarkrise, S. 85, 76; bestätigend für Oldenburg Schaap, Die Endphase im Freistaat Oldenburg, S.29f., 34 ff. 312 Beyer, a. a. O., S. 83 f., im Hinblick auf die Anfange, die er nachdrücklich hervorhebt, im Unterschied zu den auf die Hinführung zum Nationalsozialismus konzentrierten Arbeiten von Heberle, Landbevölkerung, S. 69 — 74 und Stoltenberg, Politische Strömungen. 313 Vgl. Arnim Möhler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918—1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1972, S. 164 f.; dort auch weitere Literaturnachweise; Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 467 f. 3,1
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neue, stetig wachsende, hoch verzinsliche Verpflichtungen. Diese Ursache der Krise der deutschen Landwirtschaft ließ sich durch Preisstützungen nicht auf die Dauer lösen. Die anfanglich überaus großzügigen, auf die Unsicherheiten der Geldentwertung kaum Rücksicht nehmenden Kreditgewährungen der Banken und Genossenschaftskassen in der ersten Nachkriegszeit entsprachen dem großen Kapitalbedarf und einer wahrscheinlich vielerorts allzu unbedachten Kreditaufnahme vor allem der mittleren und größeren Betriebe. Die „falschen Wertvorstellungen bei den Landwirten und den Kreditgebern" 314 führten am Ende zu unverhältnismäßig hohen Zinsbelastungen. Der stete Kapitalfluß auf das Land hielt auch an, als die Hypothekeninstitute dazu übergingen, ihre Kredite in Roggen- und Goldwerten festzulegen. Der große und ständige Betriebsmittelbedarf, Bargeld- und Kapitalmangel 315 führten auch nach der Währungsstabilisierung zu weiter fort3,4 Max Sering, unter Mitarbeit von Heinrich Niehaus und Friedrich Schlömer, Deutsche Agrarpolitik auf geschichtlicher und landeskundlicher Grundlage (Bericht des Deutschen Forschungsinstituts für Agrar- und Siedlungswesen an die Internationale Konferenz für Agrarwissenschaft, Herbst 1934), Leipzig 1934, S. 113. Die Berechnungen, auch für die folgenden Angaben, beruhen zu einem großen Teil auf dem Zahlenmaterial des Gemeinschaftsgutachtens der Deutschen Rentenbank-Kreditanstalt, des Deutschen Landwirtschaftsrates und des Instituts für Konjunkturforschung: Der gegenwärtige Stand der Verschuldung der deutschen Landwirtschaft, in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik. Verhandlungen der Friedrich-List-Gesellschaft von Oeynhausen, Vierter Teil: Gutachten, 1933, Nr. IX. Die Reichsbank förderte in der Phase ihrer restriktiven Kreditpolitik 1924/25 gerade den Agrarkredit. James, German Slump, S. 225. Der Primat der nationalen „Selbstversorgung" mit Lebensmitteln graduierte die „Agrarpolitik als innere Staatspolitik" und sicherte ihr eine Sonderstellung. So Edgar Salin, Wirtschaft und Staat. Drei Schriften zur deutschen Weltlage, Berlin 1932, S. 104-109. Es gab aber auch maßvolle Befürworter einer langfristig geordneten Agrarpolitik unter den Wissenschaftlern; vgl. Kurt Ritter, Die Überwindung der Kapitalnot in der Landwirtschaft, 2. Aufl. Berlin 1926 (zuerst 1925), der sich u. a. für eine „gerechte Verteilung der vorhandenen Kreditmittel in der deutschen Landwirtschaft und deren rationelle Verwendung zugunsten strukturfördernder Maßnahmen" (S. 24) einsetzte. 315 Aus den Ermittlungen des Kapitalstocks der deutschen Landwirtschaft von W. Hoffmann und seinen Mitarbeitern ergibt sich, daß der gesamte Kapitalbestand, in Preisen von 1913 ausgedrückt, ohne den Boden, 1924 unter den Stand von 1903 (innerhalb des größeren Reichsgebietes) zurückgefallen war und bis 1930 — mit 8,58 Milliarden RM — noch nicht einmal den von 1909 erreichte. Bemerkenswert sind die verminderten Vorräte sowie die geringfügigen Veränderungen der Gebäudewerte; lediglich der Wert von Maschinen und Geräten reichte schließlich am Ende der zwanziger Jahre an die Werte der letzten Vorkriegsjahre heran, was den retardierenden Stand der Maschinisierung der deutschen Landwirtschaft anzeigt. Hoffmann, Wachstum, S. 230.
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schreitender Verschuldung durch Real- und in zunehmendem Maße Personalkredite mit steigenden Zinssätzen und bei sinkenden Preisen der Agrarerzeugnisse. Die Zunahme der Verkaufserlöse konnte trotz Anhebung der Hektarerträge — auch dank der besonders reichlich ausgefallenen Ernten — und der oben geschilderten Preisstützung mit der zunehmenden Belastung nicht Schritt halten. Während 1925, auf die gesamte deutsche Landwirtschaft umgerechnet, die Zinsbelastung mit 5,6 Prozent des Verkaufserlöses noch vergleichsweise günstig erscheinen mochte, sogar unter dem entsprechenden Vorkriegssatz lag, stieg sie bereits 1926 auf 7,5 Prozent, 1930 auf 9,74, 1931 auf 10,69 Prozent und erreichte 1932 gar 13,82 Prozent des gesamten Verkaufserlöses.316 Auf das gesamte Reichsgebiet bezogen, hatte sich die landwirtschaftliche Verschuldung in den Nachkriegsjahren um ein Mehrfaches der langfristig in der Vorkriegszeit summierten Schuldenlast, um 12 Milliarden RM vergrößert. 317 Der größte Anteil der Gesamtbelastung entfiel auf die Landwirtschaft in Ostdeutschland. Das Ergebnis einer großen Zahl von Betriebsprüfungen in ganz Deutschland, dessen repräsentativer Charakter in diesem Zusammenhang allerdings kaum abgeschätzt werden kann, ergab schließlich für 1931 ein eindeutiges Übergewicht der hochverschuldeten landwirtschaftlichen Betriebe in den östlichen Provinzen. In diesen waren zwischen 36 und 45 Prozent der Betriebe in der Größenklasse über 100 ha zu mehr als 100 Prozent ihres Einheitswertes verschuldet, während im übrigen Deutschland dieser Anteil zwischen 7 und 14 Prozent lag. 318 Die Lage der größeren und großen Betriebe und Besitzungen in Ostdeutschland war mithin, aufs Ganze gesehen, am aussichtslosesten, was teilweise am Boden, den Klimaverhältnissen und den dadurch bedingten Beschränkungen der Kulturwahl auf Getreide-, vorwiegend Roggen- und Hafer-, Kartoffel- und Futterrübenanbau lag — und den daraus folgenden Abhängigkeiten —, teilweise, so in den östlichsten Gebieten, in Ostpreußen 316 Berechnungen von Gerhard Kokotkiewicz, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Agrarkredits, Berlin 1934, S. 9; vorher schon ders., Immobiliarkredit. Seine Lage und Aussischten (Vierteljahrshefte f. Konjunkturforschung, Sonderh. 26), Berlin 1932.
Kokotkiewicz, Vergangenheit, S. 6. Max Sering, Agrarpolitik, S. 116. Am höchsten verschuldet erscheint innerhalb Ostdeutschlands (damit sind in aller Regel die 5 preußischen Ostprovinzen — ohne Oberschlesien — gemeint) in allen einschlägigen Statistiken die Größenklasse von 200 bis 400 ha, im westlichen Deutschland hingegen die der Kleinbetriebe in der Größenordnung von 5 bis 20 ha. (Aber nur 16 Prozent der geprüften Betriebe dieser Kategorie waren mit mehr als 100 Prozent ihres Einheitswerts verschuldet, in Ostdeutschland 20 Prozent). Das oben (Anm. 314) zitierte Gutachten, das unter Vorbehalt publiziert wurde, ließ die Unterschiede zwar im ganzen nicht gar so kraß, aber doch ähnlich erscheinen. 317
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wie in der grenznahen Zone der anderen Ostprovinzen, auch an der ungünstigen Verkehrslage. 319 Wirtschaftsstruktur und Bevölkerungsverhältnisse ließen einen Großabsatz agrarischer Erzeugnisse in der näheren Umgebung nicht zu; der Markt lag weiter im Westen. Im agrarischen Osten Deutschlands kumulierten also die Probleme schon, ehe sich während der Großen Krise der Knoten schürzte, obgleich die östlichste deutsche Provinz bereits Jahre hindurch, 320 die übrigen Ostprovinzen seit 1930 beträchtliche staatliche Hilfen erhielten, was noch an anderer Stelle zu behandeln ist. Das Vorwiegen des Getreideanbaus und der Kartoffelerzeugung — annähernd schon Monokulturen — wirkte sich auch in der ständigen und harten Konfrontation mit den Weltmarktbeziehungen der deutschen Wirtschaft aus, die kaum weniger entschieden beurteilt wurden als der politische Gegensatz zu dem osteuropäischen Nachbarn Polen, der im Friedensvertrag zu Versailles einstmals preußisch-deutsche, aber doch überwiegend polnisch besiedelte oder polonisierte Gebiete erhalten hatte und dessen wirtschaftliche Entwicklung sich in ähnlich engen Bereichen vollzog wie in den deutschen Nachbargebieten. Ausweg und Rettung meinten die Sprecher der landwirtschaftlichen Verbände durch hohe Agrarschutzzölle wie durch Preisstützungsmaßnahmen verschiedener Arten anstreben zu sollen. Doch es blieb fraglich, ob dies im äußersten Osten des Reiches zu einer Verbesserung der Wirtschaftslage führen konnte, die sich mit den angewandten Mitteln jedenfalls nicht ändern ließ. Allerdings bildeten die Agrarverhältnisse des deutschen Ostens das Endglied einer sozialgeschichtlichen Entwicklung, die bereits vor dem Kriege in eine Krise geraten war. Die Mobilisierung des Grundbesitzes und die „Bauernbefreiung" hatten zu häufigem Besitzwechsel 321 und fortgesetzt 319 Zu Ostpreußen Dieter Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919—1930. Untersuchungen eines Strukturproblems in der Weimarer Republik, Köln/ Opladen 1969. 320 Zur Ostgrenzhilfe seit 1926 und Ostpreußenhilfe seit 1928 Hertz-Eichenrode, a. a. O., 3. und 4. Teil. S. auch unten Fünftes Kapitel. 321 Die von Sering, Agrarpolitik, S. 113, in einem Atemzuge erwähnten „vor dem Kriege hauptsächlich ... an die lange Welle der landwirtschaftlichen Konjunktur gebundenen Besitz Wechsel und die Erbauseinandersetzungen [im westlichen Deutschland]" sollten in ihrer Bedeutung voneinander unterschieden werden, da der seit dem frühen 19. Jahrhundert häufige Besitzwechsel der Großbetriebe angesichts der Besitzgrößen in Ostdeutschland eine weitaus größere Bedeutung annahm als in anderen Teilen Deutschlands.
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steigenden Bodenpreisen, aber auch zu steigender Verschuldung und wachsenden hypothekarischen Belastungen geführt. Im ostelbischen Preußen stiegen die Bodenpreise bereits zwischen 1820 und 1870 um das Zwei- bis Dreifache; annähernd parallel hierzu wuchs auch die hypothekarische Verschuldung.322 Bis zum Eintritt in das Reifestadium der industriellen Entwicklung — bis in die frühen siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts — blieb die Landwirtschaft der „größte der Schwämme, die die Flut der nationalen Ersparnisse aufsogen", 323 der auf sie angewiesen blieb, sollte er nicht allmählich austrocknen. In den folgenden Jahrzehnten hatte sich diese Entwicklung beschleunigt, während bereits die Preise für agrarische Produkte zurückgingen. Die Preis-Zins-Schere wurde schon im 19. Jahrhundert wiederholt spürbar, erneut Anfang der neunziger Jahre und, fortgesetzt zunehmend, wieder nach dem ersten Weltkrieg. Insgesamt und im Ergebnis stiegen die in vielen Fällen nicht mehr abtragbaren Zinslasten bei stetig abnehmender Bodenrente. Wenn diese Entwicklung auch nicht allgemein linear verlief,324 so erschütterte sie doch die wirtschaftliche Stellung des ostelbischen Adels, der sich hiermit freilich nicht abfand. Max Weber hatte dies schon klar erkannt und 1895 in seiner berühmten Freiburger Antrittsvorlesung offen ausgesprochen; aber auch der ehemalige Reichskanzler Graf Caprivi stellte sich und seinen Vertrauten zur gleichen Zeit die Frage über die Zukunft „unserer Junker": „Lohnt es dem Staat noch, für diese Klasse Opfer zu bringen?" 325 322 M. Weyermann, Zur Geschichte des Immobiliar-Kreditwesens in Preußen mit besonderer Nutzanwendung auf die Theorie der Bodenverschuldung (Freiburger volkswirtschaftliche Abhandlungen, I. Bd., Ergänzungsheft 1), Karlsruhe 1910. 323 Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, Bd. I., Berlin 1912, S.402. 324 Den Getreidepreiseinbrüchen folgten bis etwa in die späten achtziger Jahre und erneut nach der Jahrhundertwende — zuletzt unter der Einwirkung der erhöhten Zolltarife — auch Preisauftriebe. Auch die Hektarerträge stiegen bei einer Vergleichung der Spitzenjahre eines jeden Jahrzehnts — vom fünften Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, etwa seit dem Fall der englischen Kornzölle, bis auf die letzten Vorkriegsjahre — fortgesetzt an, so daß kritische Phasen bis zum ersten Weltkrieg von der Erlösseite her immer wieder überwunden wurden. Gründliche Berechnungen und Tabellen von Hans Wolfram Graf Finck v. Finckenstein, Die Getreidewirtschaft Preußens (Vierteljahrshefte f. Konjunkturforschung, Sonderh. 35), Berlin 1934, bes. S. 15 f., 58 f. 325 Max Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, zuletzt abgedruckt in: Weber, Gesammelte politische Schriften, 3. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1971, S.20; Graf Caprivi an Max Schneidewin, 17. März 1895, zit. von John C. G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise im Zweiten Kaiserreich 1 8 9 0 - 1 9 0 0 , übers, aus dem Englischen, Tübingen 1969, S. 59.
FÜNFTES
KAPITEL
Ostsiedlung und Ostpreußenhilfe Eine andere Seite des ostdeutschen Agrarproblems 326 stellte seit Grundlastenablösung und Bauernbefreiung der anhaltende gewaltige Bevölkerungsabfluß aus den deutschen Ostgebieten dar, der vor allem nach 1871 der Industrialisierung viele Arbeitskräfte zuführte, aber auch eine wirtschaftlich wie politisch folgenreiche Bevölkerungsverdünnung innerhalb der östlichen Agrarzone — trotz ihrer erheblichen Geburtenüberschüsse — nach sich zog. 327 Die asynchrone Beziehung zwischen Gebur326 Diese und die nachfolgenden Ausführungen gehen auf weiter ausholende Untersuchungen zurück; s. oben Anm. 288. Den größeren Zusammenhang der deutschen Agrargeschichte skizziert kenntnisreich wie kritisch Hans Rosenberg, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a. M., 1969; wieder abgedruckt in der Aufsatzsammlung von Rosenberg, Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 31), Göttingen 1978, S. 8 3 - 1 4 9 . 327 Die gründlichen Berechnungen von Karl Keller, Umfang und Richtung der Wanderungen zwischen den preußischen Provinzen in den Jahren 1871 bis 1925, in: Zeitschrift des Preußischen Statistischen Landesamts, 70. J g . (1930), S. 273—291, ergeben für die preußischen Ostprovinzen, in den jeweiligen Reichsgrenzen — jedoch ohne Brandenburg — einen Wanderungsverlust von 1,6 Millionen Menschen; hierbei sind die Jahre 1900 bis 1914 wegen des unzulänglichen Zahlenmaterials nicht berücksichtigt. Zu den Jahren 1910 bis 1925 enthält eine Veröffentlichung des Enquete-Ausschusses nähere Angaben: Die Einwirkungen der Gebietsabtretungen auf die deutsche Wirtschaft, 1. Arbeitsgruppe, Bd. 1: Der deutsche Osten und Norden, Berlin 1930, S. 88; sie gibt allein für die vier Regierungsbezirke Ostpreußens (Königsberg, Gumbinnen, Allenstein, Marienwerder) einen Wanderungsverlust (d. i. die Zahl der Abgewanderten nach Abzug des Geburtenüberschusses und der Zugewanderten) von 11 600 an. Auch in den nachfolgenden Jahren bis 1929 blieb der Jahresdurchschnitt (— 21 700 Personen) konstant. So Friedrich Richter, Industriepolitik im agrarischen Osten. Ein Beitrag zur Geschichte Ostpreußens zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1984, S. 236. Die moderne Mobilitätsforschung wendet sich einer anderen Problematik innerhalb der Bevölkerungsbewegung zu; doch die „Landflucht i. e. S." wird nicht verkannt. Vgl. die grundlegende Untersuchung von Rudolf Heberle und Fritz Meyer, Die Großstädte im Strome der Binnenwanderung. Wirtschafts- und bevölkerungswissenschaftliche Untersuchungen über Wanderung und Mobilität in deutschen Städten, Leipzig 1937, S. 58. Die weiteren — methodischen und statistischen — Probleme können hier nicht verfolgt werden.
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tenüberschuß — bei sozio-ökonomischer Wandlungsunfähigkeit der ländlichen — und Anziehungs- bzw. Aufsaugungswirkung der rasch sich entwickelnden städtisch-industriellen Ökonomie und Gesellschaft, diese Asymmetrie von biologischer und sozialer Dynamik spitzte sich zu einem Gegensatz zwischen Ost und West auch in der jüngeren deutschen Sozialgeschichte zu. Zu einem Teil war dies das Ergebnis der fortschreitenden Industrialisierung, zu einem Teil lag die Ursache in dem besonderen Beharrungsvermögen der agrarischen Verhältnisse und Traditionen im Osten Deutschlands begründet. Zu den Folgen zählte, daß sich der polnische Bevölkerungsanteil in den östlichen Provinzen allmählich durch Zuzug von außen verstärkte. 328 1914 wurden zudem nahezu eine halbe Million ausländischer Saisonarbeiter meist polnischer Herkunft in der ostdeutschen Landwirtschaft beschäftigt. Nach den Gebietsabtretungen 1919 ging ihre Zahl unter 200000 zurück; doch sogar noch in den späteren Jahren der Krise blieb der Zufluß an ausländischen Landarbeitern beachtlich. 329 Im Gegenzug war die ländliche Siedlung von Staats wegen seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts darum bemüht, die gewaltige innerdeutsche Bevölkerungsbewegung von Ost nach West, vom Land in die Stadt — lange auch nach Übersee — abzumildern, aufzuhalten oder auszugleichen. Preußen hatte seit 1886 durch Maßnahmen zur besonderen Förderung deutscher Ansiedlungen in den Provinzen Posen und Westpreußen der Polonisierung entgegenzuwirken versucht. Fünf Jahre später war die Einführung von Rentengütern beschlossen worden, die der Schuldenentwicklung des vorherrschenden Großgrundbesitzes und der Bevölkerungsabwanderung gleichermaßen begegnen sollte. Der Großgrundbesitz konnte Entlastung von unregulierten Schulden durch Abgabe von Land erlangen, aus dem lebensfähige landwirtschaftliche Stellen hervorgingen, deren Inhaber auf die Dauer von 60 Jahren rentenpflichtig blieben. Die Grundlage der Finanzierung bildete der tilgbare, jedoch unkündbare, niedrig verzinste Hypothekarkredit des Staates an den Großgrundbesitzer, der sich dafür der staatlichen Aufsicht und der staatlichen Vermittlung bei der Aufteilung des Siedlungslandes unterwarf. Die Hypothekarkredite wurden durch Rentenbankkredite gedeckt, die auf dem 328 Nach der nur begrenzt aussagefahigen Muttersprachenstatistik wurde Preußen vor dem Weltkriege aber von mehr als vier Millionen Menschen slawischer Zunge bewohnt. Friedrich Burgdörfer, Art. „Bevölkerungsstatistik", in Hdwb. d. Staatswissenschaften, 4. Aufl., Erg.-Bd., Jena 1929, S. 115. 329 Fritz Faaß, Max Hofer, Walter Kwasnik, Der landwirtschaftliche Arbeitsmarkt, in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik, S. 522 ff.
Ostsiedlung und Ostpreußenhilfe
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freien Geldmarkt aufgenommen wurden, sofern nicht andere Mittel zur Verfügung standen; in späteren Jahren gewann jedoch die Zwischenfinanzierung aus Haushaltsmitteln größere Bedeutung. Darüber hinaus griff der Staat mit Betriebskrediten und Kreditverlustbeihilfen bei den Siedlungsgesellschaften und mit Beihilfen verschiedener Art, durch Befreiung der Siedlungsvorhaben von Gefallen, Steuern und Abgaben, unmittelbar fördernd ein. Der größte Teil des unmittelbaren Nutzens der staatlichen Aufwendungen kam dem Grundbesitz zugute, soweit er Land zu Siedlungszwecken hergab, ein kleinerer Teil den Siedlungsgesellschaften; dem Siedler selbst blieb das Land und die Verpflichtung, durch seine — weitgehend unbelasteten — Leistungen den Kredit zu amortisieren. Nach der Seite der Landbeschaffung stellte dieses System gewiß eine Lösung dar; seine Finanzierung war jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt aufgebaut. Von 1900 bis zum Ende des Weltkrieges hatte Preußen 200 Millionen Mark an Zwischenkrediten gewährt, seit 1890 für 247 Millionen Rentenbriefe und über 16 Millionen Mark Staatszuschüsse ausgegeben; 330 dafür waren bis 1916 jedoch nur 22603 Rentengüter entstanden und von der Königlichen Ansiedlungskommission weitere 22507 neue Stellen geschaffen worden, im gleichen Zeitraum in den Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Posen und Schlesien aber mehr als 100000 Bauernstellen eingangen, 331 die überwiegend von wirtschaftlich überlegenen Großgrundbesitzern aufgekauft wurden. Dem historischen Konservativismus preußisch-agrarischen Herkommens entsprachen die nationalen Siedlungspläne nicht mehr, für die sich schließlich seit 1912 die .Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation' einsetzte, die neben den Maßnahmen des Staates eine starke private, bürokratisch geförderte und politisch motivierte Initiative entfaltete. 332 Sie vertrat eine modernere, auf die Entwicklung von Landleben und Bauerntum setzende Version und wurde zum Zentrum der Siedlungsidee aus nationalen Motiven während der letzten Vorkriegsjahre, im Weltkrieg und in den Jahren der Weimarer Republik. Ihr Programmatiker und politischer Praktiker Friedrich v. Schwerin propaArticus, Die Finanzierung der ländlichen Siedlung in Preußen, in: Archiv für innere Kolonisation, XIII (1921), S. 1 ff.; Wilhelm Friedrich Boyens, Geschichte der ländlichen Siedlung, im Auftrage der Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation hrsg. von Oswald Lehnich, Bd. I, Berlin/Bonn 1959, S. 171 ff. 331 Boyens, a. a. O., S. 32. 332 An der Spitze der Gesellschaft stand bis zu seinem Tode (1925) Friedrich v. Schwerin, danach, bis 1932 Wilhelm Freiherr v. Gayl. Neben ihnen wirkten seit der Gründung Max Sering und Alfred Hugenberg. 330
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gierte als Folgerung wissenschaftlicher Untersuchungen die Ansicht, daß die Erhaltung der zunehmend entvölkerten Ostgebiete eine Frage sei, die „auf dem Gebiet der Grundbesitzverteilung" entschieden werde: „Nicht die Nationalität der Regierenden, nicht die Nationalität der Grundherren, auch nicht die Nationalität der Oberschichten der städtischen Bevölkerung bestimmen die nationale Zukunft eines Landes, sondern nur die Nationalität der ländlichen, der bäuerlichen Unterschicht im weitesten Sinne." 333 In dieser Auffassung erschien der Nationalstaatsgedanke auch innerhalb des agrarischen Lebensraums als Quintessenz des Zeitalters, wurde die Industrialisierung als Herausforderung, nicht als Grundgesetz verstanden. Während des Weltkriegs schien der bis dahin noch spürbare Widerstand des ostelbischen Großgrundbesitzes zu schwinden, als der Siedlungsgedanke mit der Idee einer Expansion in den osteuropäischen Raum verknüpft wurde. Der Bund der Landwirte schien ebenso gewonnen wie schließlich auch der baltische Adel nach der Besetzung der russischen Ostseeprovinzen. Als sich dann die militärische Niederlage abzeichnete, gewannen Versprechungen von „Land und Eigentum" die Bedeutung einer letzten Sinngebung des Durchhaltens. Der Aufruf Hindenburgs an die heimkehrenden Truppen, den Groener veranlaßt und den der Agrarwissenschaftler und Bodenreformer Franz Oppenheimer zum Teil formuliert hatte, begann mit den Sätzen: „Die Vorarbeiten zu einem gemeinnützigen Ansiedlungswerke sind im Gange; die Ausführung wird unverzüglich beginnen und so schnell gefördert werden, wie der gegenwärtige Mangel an Baumaterial, Kohlen und Transportmitteln es gestattet. Da die Regierung und alle Parteien hierin einig sind, wird die Nationalversammlung dem Werke ohne jeden Zweifel freudig zustimmen. Die heimkehrenden Krieger sind die ersten, diesen Dank des Landes zu empfangen ..," 3 3 4 Diese Behauptungen lasteten der neuen Reichsregierung ein Versprechen auf, das sie nie gegeben hatte, wahrscheinlich auch niemals einlösen konnte, zu dem sich indessen fast alle Parteien bekannten; zugleich trugen sie dazu bei, der Obersten Heeresleitung in den Augen der 333 Friedrich v. Schwerin, Die Bedeutung der Grundbesitzverteilung vom nationalen Standpunkt aus, Lissa 1913, S. 5; vgl. Boyens, Siedlung, I, S. 28; zum Folgenden auch oben, Anm. 288. 334 Boyens, a.a.O., S . 3 4 f . Dem ging eine seit Jahren anhaltende Propagierung des Siedlungsgedankens voraus, die in der kämpfenden Truppe nicht ohne Eindruck blieb. Vgl. Schumacher, Land und Politik, S. 216 f.
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Heimkehrenden ein populäres Ansehen zu sichern, das die bittere Niederlage überdauerte. Der hier zwar nicht ausgesprochene, aber doch indirekt in die Erinnerung gerufene Gedanke einer siedlerischen Expansion in die weiten Gebiete des Ostens blieb haften und kehrte schließlich bei der Anwerbung von Freiwilligen für die Freikorps im Baltikum noch einmal wieder. In den Monaten des Übergangs erlagen aber auch Politiker der Weimarer Koalitionsparteien der Faszination, die von der Vorstellung einer ländlichen Massensiedlung ausging. Das Schlagwort von der „großzügigen Agrarreform", die viele Städter wieder aufs Land bringen sollte, breitete sich aus, ehe es mit der beginnenden Normalisierung des Wirtschaftslebens fast ebenso schnell wieder verschwand. Als bleibendes Zeugnis dieser Stimmung innerhalb der Nationalversammlung kann das Reichssiedlungsgesetz vom 11. August 1919 gelten, das die Schaffung gemeinnütziger Siedlungsgesellschaften überall dort vorschrieb, w o sie noch nicht bestanden, und die Ansiedlung im ganzen Reichsgebiet in die Hände öffentlicher Körperschaften unter Staatsaufsicht legte. 335 335 RGBl. 1919, S. 1429, abgeändert 1923 und 1926 (RGB1.I, 1923, S.364, I, 1926, S. 198). Der Bereitstellung von Siedlungsland dienten Staatsdomänen bei Ablauf des Pachtvertrags, sofern nicht Unterrichts- oder Versuchszwecke im Spiel waren, und Moorund Ödländereien. Außerdem erhielten die gemeinnützigen Siedlungsunternehmen ein Vorkaufsrecht auf Grundstücke von mehr als 25 ha Umfang. In denjenigen Bezirken („Ansiedlungsbezirken" in der Sprache des Gesetzes), deren landwirtschaftliche Nutzfläche zu mehr als 10 Prozent auf Güter mit mehr als 100 ha entfiel, wurden die Eigentümer der großen Besitzungen zu sogenannten Landlieferungsverbänden mit eigener Rechtsfähigkeit zusammengeschlossen. Diese Landlieferungsverbände sollten auf Verlangen der Siedlungsunternehmen bis zu einem Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche der großen Güter und Domänen als Land für Siedlungszwecke beschaffen. Sie besaßen das Vorkaufsrecht auf alle großen Güter ihres Bezirks. (Innerhalb dieses Rahmens waren die Landlieferungsverbände — dies konnten auch die Landschaften sein — Auftragsverwaltungen mit eigener Zuständigkeit.) Welche Größenordnungen auf Grund der im Reichssiedlungsgesetz vorgeschriebenen Abgabeleistungen der Landlieferungsverbände diskutiert wurden, erhellt die Tatsache, daß mindestens 1,6 Millionen ha für Siedlungszwecke in Betracht gezogen wurden, davon 1,2 Millionen allein in Ostpreußen, Pommern, Schlesien und Brandenburg; noch etwas mehr fiel aus großbäuerlichem Besitz an und etwa ebensoviel aus Moorflächen und Ödländern, die zumindest teilweise als meliorations- und besiedlungsfahig galten, und schließlich über eine halbe Millionen ha aus staatlichem Domänenbesitz. Alles in allem waren dies bei nicht übertrieben optimistischer Rechnung 5 bis 6 Millionen ha, die dem Gesetz zufolge besiedelt werden konnten. In der Theorie hätten innerhalb einiger Jahre einige Hunderttausend neue Bauernwirtschaften entstehen und ein bis zwei Millionen Menschen dem flachen Lande zurückgegeben werden können. Doch aus den theoretischen Berechnungen nach einem gewiß gründlich durchdachten Gesetz wurde in der Praxis fast gar nichts.
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Zwei verschiedene, aber voneinander abhängige Motivationen fanden hierin ihren Niederschlag: die politische Idee von der „Festigung des deutschen Volksbodens" innerhalb des gefährdet erscheinenden, unterbevölkerten deutschen Grenzraums und eine ebenso umfassende wie profunde Zivilisationskritik, die sich gegen Landflucht, Verstädterung und Industrialisierung wandte, die die Beendigung des Urbanisierungsprozesses und eine Rückkehr zum ländlichen Leben, zu den „natürlichen Grundlagen" der Volksexistenz propagierte; sie hatte sich mit der Jugendbewegung der Jahrhundertwende durchzusetzen begonnen und erlangte mit den Kriegs- und Nachkriegsnöten, die in den Großstädten am niederdrückendsten erlitten wurden, ihre einseitige Ausprägung, die auch künstlerisch aufgenommen, gestaltet und verarbeitet wurde. Das Elend der vielen und Wohlstand, hemmungsloser Genuß und menschenverachtende Anmaßung weniger — die „Amerikanisierung" der Kultur — wurde zu einem bevorzugten Thema der darstellenden Kunst; es blieb auf das städtische Leben begrenzt; doch in dieser Einschränkung von zäher Lebenskraft, überdauerte es alle Wandlungen des Jahrhunderts. Von Moor- und Ödlandkultivierung ließen sich allerdings größere Leistungen einer inneren Siedlung dieses Stiles nicht erwarten. Auch der staatliche Domänenbesitz reichte keineswegs aus, um Siedlungsvorhaben in dem angekündigten Umfang zu verwirklichen. Die Absichten der Väter des Reichssiedlungsgesetzes standen und fielen mit dem Landerwerb aus den Händen des Großgrundbesitzes. Doch dem hatten sie selbst bereits dadurch Beschränkungen auferlegt, daß sie die gemeinnützigen Siedlungsgesellschaften zu Selbstverwaltungskörperschaften öffentlichen Rechts erhoben, an denen sowohl Vertrauensleute der Ansiedler wie der Altbesitzer beteiligt werden mußten, soweit sie nicht an der Staatsaufsicht unmittelbar partizipierten. Die Ausführung des Gesetzes geriet aber schon im Vorfeld größerer Entscheidungen an die Barriere der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Reich und Ländern, warf die Frage einer eigens für die Siedlung zuständigen und in umfassender Weise ermächtigten Reichszentralbehörde auf. Da sich die Länder solchen Plänen mit Erfolg zu widersetzen vermochten, erschien die Einschaltung der Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation (GFK) notwendig, die nun als die bedeutendste Interessengruppe des Siedlungsgedankens in Erscheinung trat und über personelle Querverbindungen verfügte, die in die beteiligten preußischen Ministerien wie in das für die Siedlung zuständige und um eine entsprechende Abteilung erweiterte Reichsarbeitsministerium hineinreichten.
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Von 1919 bis 1925 konnten insgesamt annähernd 300000 ha Land, davon 250000 innerhalb Preußens zu Siedlungszwecken erworben werden, vor allem in den Provinzen Brandenburg, Pommern und Niederschlesien; Ostpreußen, wo der Großgrundbesitz über den größten wirtschaftlich genutzten Bodenanteil verfügte, folgte an vierter Stelle. Etwa die Hälfte dieser Fläche kam der Neuansiedlung zugute, für die nahezu 17000 Stellen geschaffen wurden. 336 Auch die großen Interessenverbände der Landwirtschaft regten sich und suchten sich mit anderen Verbänden abzustimmen, um von rechts her das Einvernehmen in einer Mehrheit des Reichstags anzubahnen. Doch noch ehe über die Differenzpunkte von unterschiedlicher Stärke und Bedeutung hinweg ein Ausgleich entstehen konnte, mußte sich die Reichsregierung selbst über geeignete Mittel schlüssig werden, was in den Kabinetten Luther wie Marx meist schwierig, häufig überhaupt nicht möglich schien. In zahlreichen Fragen wie Anstößen wirkten die eingearbeiteten Spezialisten, die sich des zuverlässigen Rüstzeugs ihrer Kenntnisse bedienten, in festen Positionen der Verwaltung mit; oder sie gaben gar den Ausschlag. Zwischen allen Gruppen, Institutionen und Organisationen bestanden Querverbindungen unterschiedlicher Art und Stärke. Mehr als davon sichtbar geworden ist, verblieb wohl in den Bezirken personeller Beziehungen, die nicht immer aktenkundig wurden. Alle diese Zusammenhänge berührten aber auch stets das gespannte Verhältnis der Reichspolitik zur Politik Preußens, das schon seit den reformerisch gedachten Eingriffen des preußischen Landwirtschaftsministers Otto Braun im ersten Jahr der Republik und nicht erst durch die konträren Wege der Bürokratie und Sachverständigen belastet war. Vor allem die Auswirkungen der Erzbergerschen Reichsfinanzreform, die Beschneidung der den Ländern zufließenden Mittel, bereiteten alsbald erhebliche Schwierigkeiten; auch das seit Jahrzehnten innerhalb Preußens angewandte Siedlungssystem schien am Ende seiner Finanzierungsmöglichkeiten. Die Durchführung der Siedlung blieb Ländersache; doch die finanzielle Hilfe des Reiches erwies sich selbst für Preußen als unentbehrlich. Kleinere agrarische Länder, wie Oldenburg und Mecklenburg-Strelitz, suchten den Ausweg in Naturairenten und Naturalwertrenten, die der Landbeschaffung für Siedlungszwecke dienten. Sie beschrit336 Boyens, a. a. Ο., I, S. 216 f. Zur Initiative des ersten preußischen Landwirtschaftsministers Otto Braun, des späteren Ministerpräsidenten, in der Siedlungspolitik Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie (Veröffentlichungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz), Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1977, S. 272-287.
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ten einen Weg, den dann auch die Gesellschaft für innere Kolonisation als Lösung empfahl. Für kurze Zeit lieferten die Hypothekenkredite der neugegründeten Roggenbankkreditanstalt ein Beispiel, das auch in dem Währungsstabilisierungsplan Helfferichs und der DNVP die entscheidende Rolle spielte. Doch sowohl Preußen als auch das Reich lehnten derartige Experimente, die von agrarischen Interessen her bestimmt wurden, ganz und gar ab. Der zuständige Abteilungsleiter des preußischen Landwirtschaftsministeriums erkannte schließlich als Alternative zu der konservativen Siedlungspolitik, die er selbst in Tat und Wort vertreten hatte, allein die entschiedene Abkehr von den bisher beobachteten Grundsätzen der Freiwilligkeit der Entschlüsse des Grundbesitzers wie des Landerwerbers und den Übergang zur Enteignung, ein Gedanke, der zunächst neben anderen eine aussichtslose Randexistenz führte, aber nie mehr ganz zum Schweigen kam. Angesichts des Umstandes, daß sich die Verhältnisse auf dem Gütermarkt in den Nachkriegsjahren zusehends schwieriger gestalteten, sah Ministerialdirektor Articus schon 1923 hierin den „einzigen Weg, der zum Ziele führt". 337 Wenige Jahre später schien es allerdings, als könne sich das Blatt wenden, da sich von den Deutschnationalen bis zu den Demokraten einzelne Gruppen in den Regierungsparteien erneut des Siedlungsgedankens bemächtigten und ihm wieder stärkere Resonanz in der Öffentlichkeit zu verschaffen trachteten. Sechs Jahre Nachkriegserfahrungen hatten eine starke Empfindlichkeit gegenüber den nächsten östlichen Nachbarn, Polen und Litauen, entstehen lassen, seitdem infolge der schwierigen Grenzziehung und der gespannten Verhältnisse im Osten Übergriffe fast schon an der Tagesordnung waren und zeitweilig in einen Kleinkrieg alltäglicher Schikanen ausarteten. Die nationale Parole einer Ostpolitik, die auch ein Eintreten für die deutschen Ostprovinzen einbezog, wirkte als stimulierendes Element, dem auch die regierenden Parteien im Reich sehr entschieden zum Ausdruck verhalfen. Doch schon die Frage, an welchen Staat man sich wandte, an das Reich oder an Preußen, offenbarte die zwiespältigen Empfindungen der Repräsentanten dieser nationalen Ostpolitik. Eine einflußreiche Persönlichkeit, der auch außerhalb des Kreises der ostpreußischen Konservativen respektierte ehemalige Oberpräsident v. Batocki-Bledau, drückte dies Articus, Siedlungsprobleme, in: Archiv f. innere Kolonisation, X V (1923), S.6. Dagegen Wilhelm Frhr. v. Gayl, Verzicht auf Enteignung zu Siedlungszwecken, in: Archiv, XVII (1925), S. 59 ff. Über „Roggenmark" und „Roggenrentenbriefe" in den Stabilisierungskonzeptionen 1922/23 Williamson, Karl Helfferich, S. 388 f. 337
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in den stark beachteten Wendungen eines Leitartikels der .Deutschen Allgemeinen Zeitung' aus. Seine Überlegungen gipfelten in der Feststellung, daß hinsichtlich der „Aufnahme des Bevölkerungszuwachses durch Schaffung von Bauerndörfern aus aufgeteilten Gütern" Zurückhaltung und Vorsicht angebracht seien, „weil dabei große Werte an Gebäuden und Inventar zunächst zerstört werden müssen ...; unter den heutigen angespannten Verhältnissen kann auch der Bauer im Osten nur durchkommen, wenn sein Grundstück einigermaßen groß ist und wenn er darauf durch stärkste Maschinenanwendung die Inanspruchnahme menschlicher Arbeitskräfte möglichst einschränkt." 338 Damit erteilte Batocki der billigen Ansetzung von Siedlern auf Höfen mit geringer Wirtschaftskraft, die das Bild der Siedlungspolitik bestimmt hatte, eine ganz und gar unmißverständliche Absage. Das Hauptgewicht sollte auf dem Einsatz von Landmaschinen und auf der Ansiedlung gewisser Industrien innerhalb der agrarischen Gebiete liegen. Batockis Artikel zielte aber auch auf die politischen Verhältnisse, deren Wandlung für ihn offenbar Vorrang besaß. Er brachte erneut die Forderung nach einer weiterentwickelten „Selbstverwaltung der Provinz" vor, die in engster Fühlung mit den berufsständischen und freien Organisationen der Provinz stehen müsse, also mit den Repräsentanten der organisierten wirtschaftlichen Interessen. Unumwunden wies Batocki auf die tiefe Kluft hin, die ihn und seine konservativen Gesinnungsgenossen von den neuen Behörden und Beamten Preußens trennte, welche „nicht das Vertrauensverhältnis gewinnen können, das in einem von außen schwer bedrohten, durch die Abschnürung vom Reiche politisch und wirtschaftlich weit mehr als andere Provinzen auf sich selbst gestellten Gebiete doppelt nötig ist." Es wirke „wie ein Schmerz, daß die wichtigsten politischen Ämter in Ostpreußen in den Händen der Demokraten sind, für welche bei den letzten Wahlen kaum drei Prozent der Wahlberechtigten sich erklärt haben." 339 Nicht weniger charakteristisch für diese Richtung der agrarischen Opposition, der der ehemalige ostpreußische Oberpräsident seine Stimme lieh, erscheint die Anspielung auf die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten und die nun fallige 338 Adolf v. Batocki, Ostpreußische Probleme, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 205 vom 2. Mai 1925, S. 1 f. 339 Bei den Reichstagswahlen am 4. Mai und am 7. Dezember 1924 erhielt die DDP im Wahlkreis Ostpreußen 3,5 bzw. 4,0 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Über frühere Verselbständigungsvorhaben („Oststaatsplan" 1919) und Autonomiepläne in Ostpreußen (seit 1920) Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen, S. 3 ff., 23 ff., 34 ff.
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„verständnisvolle Hilfe aus dem Reiche": „Als Gegenleistung bieten wir ... entschlossene Mitarbeit an der seelischen und politischen Gesundung des durch die Revolution und deren mißverstandene Nachäffung westlicher Demokratie verwirrten und verirrten deutschen Volkes, einer Gesundung, die nur von der Peripherie, von den durch den Umsturz weniger tief berührten äußeren Ländern und Provinzen her nach dem Mittelpunkte vordringen kann." Solche Worte vermochten auch in den Berliner Verwaltungen zu beeindrucken. Sicherlich war es nicht nur eine Beamtenmeinung, „daß in gewissen Kreisen Ostpreußens das Gefühl für die enge Verbundenheit der Provinz mit dem übrigen Preußen nicht allzu schweren Prüfungen ausgesetzt werden darf." 340 Das Gefühl, etwas tun zu müssen, um die Gegner zu besänftigen, absorbierte während der nächsten Jahre einen großen Teil der preußischen Aktivitäten im Osten, die freilich nur wenig über Siedlungspläne hinauskamen. Die eine wie die andere Seite wurde wie vieles, was die Weimarer Republik vorantrieb, von Initiatoren aus dem höchsten Beamtentum stimuliert. In der Reichsregierung reiften andere Gedanken heran. Aus einem deutschnationalen Vorstoß im Reichstag 341 entstand durch die Initiative des Ministerialrats Wachsmann, der zunächst in den Fragen der .inneren Ostpolitik' eine rege Tätigkeit entfaltete, in der Reichskanzlei der Entwurf eines Ermächtigungsgesetzes für die Ostsiedlung, mit dessen Hilfe die Siedlung in den östlichen Provinzen ausschließlich zur Sache des Reiches werden und ein besonderer Ausschuß für die reibungslose Zusammenarbeit des Reiches mit den Ländern Sorge tragen sollte. Der Entwurf scheiterte allerdings schon im Reichskabinett und mußte fallengelassen werden. 342 Doch damit waren die hinter diesem Entwurf stehenden Interessen keineswegs ausgeschaltet. Die Zusammenfassung der Siedlung an zentraler Stelle im Reich wurde im stillen weiterverfolgt, schließlich sogar mit dem Ziele weiterverfolgt, eine für die gesamte Siedlung zuständige Reichsbehörde zu schaffen. 343 Wachsmann hatte hierbei in 340 Stellungnahme aus dem preußischen Innenministerium zu dem oben erwähnten Artikel v. Batockis, die mit Schreiben vom 10. Mai 1925 an das Ministerium für Handel und Gewerbe gegeben wurde. Abschrift für den preußischen Ministerpräsidenten Geh StAB, Rep. 84a/1068. 341 Der Antrag Treviranus, Behrens, Thomsen, Graf v. Westarp u. a. vom 1. Dezember 1925 war mit der G F K „abgestimmt" worden. Boyens, Geschichte I, S. 187; Verhandlungen d. Reichstags, Ani., Bd. 405, Nr. 1594. 342 Reichskabinettssitzung am 23. Januar 1926; Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Luther I und II, Bd. 2, S. 1049 ff. 343 Der Entwurf eines „Gesetzes zur Förderung der ländlichen Siedlung" sah die Schaffung einer Reichssiedlungsstelle als Reichsbehörde vor. Durchschlag mit zahlreichen handschriftlichen Streichungen und Verbesserungen, BA, R 4 3 1/1288.
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den führenden Männern der GFK Gesprächs- und Verhandlungspartner, 344 die nun aber auch andere Kräfte für ihre Pläne einzuspannen und zu gewinnen vermochten. Die Deutschnationalen brachten im Reichstag einen neuen Antrag ein, der ihren älteren Antrag erweiterte 345 . Der Siedlungsreferent des Reichslandbundes, der eng mit der GFK zusammenarbeitete,346 fuhr mit Hilfe der Presse schwerstes politisches Geschütz auf und forderte den Schutz des „nationalgefährdeten Deutschtums im Osten" durch Siedlung und durch Initiative des Reiches. Die Gesellschaft selbst bekundete die optimistische Hoffnung, daß im Schatten des Argumentes eines „nationalpolitischen Abwehrkampfes" in den Ostgebieten „in der Frage der Beteiligung des Reiches an der ländlichen Siedlung eine Lösung gefunden wird, die ohne Verfassungsstreit mit den Ländern doch den Interessen der ländlichen Siedlung weitgehend gerecht wird." 347 Dies spielte auf die preußische Regierung und die Zuständigkeit Preußens an. Die Befürchtung preußischer Gegenwirkungen war nicht unbegründet; aber auch innerhalb der Reichsregierung fehlte die Einmütigkeit. 348 Die Reichskanzlei versuchte zunächst, die Unterstützung der Länder Sachsen und Bayern für den Fall zu gewinnen, daß ein Vorgehen des Reiches in der Frage der Grenzlandsiedlung auf den Widerstand Preußens stoßen sollte. 349 Der Reichslandbundpräsident Hepp appellierte an die Reichsre344 Aktenvortrag Wachsmanns vom 17. Februar 1926, BA, R43 1/1288, der sich auf die Erörterungen mit Frhr. v. Gayl, dem Vorsitzenden der GFK sowie mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Keup und mit Maßmann, einem ihrer Geschäftsführer, beruft. 345 Antrag Treviranus, Behrens u.a. vom 10. März 1926; Verh. d. Reichstags, Ani., Bd. 406, Nr. 2038. 346 Über den Geh. Regierungsrat a. D. Ponfick, einen Siedlungsfachmann, der im preußischen Staatsdienst und danach im Reichsdienst gestanden hatte, 1918/19 Regierungsrat bei der brandenburgischen Provinzialbehörde in Charlottenburg (Oberpräsident v. Loebell) war. Kalender für preußische Verwaltungsbeamte für das Jahr 1919, bearb. im Bureau des Ministers des Innern, Teil II: Behörden und Beamte, Berlin o.J. 347 Schreiben des Mitglieds der Geschäftsführung der GFK, Karl Maßmann, vom 10. April 1926 an Ponfick, Abschrift mit Begleitschreiben an Wachsmann BA, R43 1/1288. Die Darlegungen Ponficks in der Berliner Börsenzeitung, Nr. 164 vom 9. April 1926, werden bestätigt und unterstrichen: „Im Augenblick scheint es uns aber wenig erwünscht, daß diese Frage mit der besonderen Zuspitzung ,Reich und Länder' [im Original unterstrichen] öffentlich in den Vordergrund geschoben wird." 348 Akten der Reichskanzlei: Luther I und 11,2, S. 1146 —1150 (Chefbesprechung am 22. Februar), 1321 — 1324 (Ministerbesprechung am 3. Mai, mit Anmerkungen), 1331 ff. (Ministerbesprechung mit dem Preußischen Staatsministerium, 4. Mai 1926). 349 Aktenvermerke Wachsmanns vom 28. bzw. 29. April 1926 über Gespräche mit den zuständigen Referenten des sächsichen Arbeitsministeriums und des bayerischen Landwirtschaftsministeriums, BA, R43 1/1288.
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gierung, „unter Ausschaltung unnötiger bürokratischer Hemmungen" alsbald „das ins Stocken geratene Siedlungswerk durch Zuführung von Reichsmitteln wieder flott zu machen" und „die bevölkerungspolitisch und national bedenkliche Entvölkerung der deutschen Grenzmarken abzuwenden."350 Seine dramatische Darstellung der Zuspitzung einer scheinbar überraschenden Entwicklung deckte nicht nur die grundsätzliche Wendung agrarischer Interessenten in der Siedlungsfrage, die sich seit dem Weltkrieg angebahnt hatte, sondern diente auch dazu, die latente Opposition zur preußischen Regierung herauszustreichen, der nun alle Fehlschläge in der Siedlungspolitik angelastet wurden: „Die deutschen Länder, insbesondere Preußen, sind nach ihren eigenen Erklärungen außerstande, der Siedlungsnot durchgreifend abzuhelfen und die sonst günstige Konjunktur für die Siedlung auszunutzen." Dies war in der Sache nicht unbegründet; doch das merkwürdige Schlagwort „Siedlungsnot" konnte nur von jemandem geprägt werden, für den das Ziel einer Massenumsiedlung in die Ostprovinzen feststand und die Durchführung allein unter dem Mangel energischer Maßnahmen des Staates litt. Der Ausdruck war nicht ohne Demagogie; ob eine Massenumsiedlung einen starken Bauernstand, der gefordert wurde, herbeiführen konnte, blieb eine offene, zunächst gar nicht erörterte Frage. Den konzentrischen Vorstößen der Siedlungspolitiker lag unverkennbar die Absicht zugrunde, Initiative und Einfluß des Reiches in der Ostsiedlung zugunsten neuer und größerer Pläne zu sichern. Die Finanzierungsfrage schien das Zentralproblem darzustellen, da nach verbreiteter Auffassung, auch nach der Behauptung des Volksparteilers Hepp, „die sonstigen Voraussetzungen für die Siedlung, Siedlungsland und Siedler," gegeben waren. Ging man von der Finanzierung durch das Reich aus, so ließ sich ein Dotierungsverfahren entwickeln, ohne daß die politische Zuständigkeit der Länder, die die Reichsverfassung festgelegt hatte, durchbrochen wurde. Da auch der preußische Landwirtschaftsminister Steiger eine Mitfinanzierung der Siedlung durch das Reich für erforderlich hielt, konnte er schwerlich ein Dotierungssystem a limine zurückweisen. So kam es letztlich darauf an, einen Kompromiß auszuhan350 Vgl. Boyens, a.a.O., S. 188f. Zur bevölkerungspolitischen Entwicklung diesseits und jenseits der deutschen Ostgrenze auch Boyens, Bevölkerungspolitisches aus Polen, in: Archiv f. innere Kolonisation, XVII (1925), S. 320 ff. Die Argumente gegen „bürokratische Hemmungen" einer großangelegten Ostsiedlung wurden auch von Beamten des Reiches Preußen gegenüber vorgebracht; so in dem Artikel von Kurt Wachsmann, Siedlung und Bürokratismus, im Berliner Börsen-Courier, Nr. 29/1927, S. 1 f.
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dein, dem Preußen, unter dem verstärkten Druck der rechten Parteien und der weit verbreiteten Sympathien für eine nationale Ostsiedlung, zuzustimmen vermochte. Die für den Reichskanzler maßgebenden gesamtwirtschaftlichen Gesichtspunkte wiesen unterdessen in andere Richtung. 351 Das noch wenig ermutigende Fazit der Stabilisierung, das Zurückbleiben des Absatzes — und des Konsums — hinter der raschen Produktionsentfaltung und die im Winter 1925/26 wieder ansteigende Arbeitslosigkeit legten den Gedanken einer Intervention der Reichsregierung nahe. Im Reichsfinanzministerium stellte Staatssekretär Fischer die Möglichkeit in Aussicht, in größerem Umfang Mittel des Reiches zur Beschaffung von Krediten für die Landwirtschaft einzusetzen. Da schon zu dieser Zeit Zweifel an der Durchführbarkeit des Dawes-Planes aufkamen und mit einem Rückgang der deutschen Reparationsleistungen ab 1927 gerechnet wurde, sobald die ersten Impulse, die von der Dawes-Anleihe ausgingen, nachließen, rechnete man bereits damit, die für Reparationszwecke erforderlichen Rückstellungen im Haushalt für andere Zwecke freizubekommen. Mehrere Zwecke verfolgte ein Vorschlag des Ministerialrats Wachsmann in der Reichskanzlei352: Die Finanzierung eines großen Bauprogramms mit dem Schwerpunkt im Siedler- und Landarbeiterwohnungsbau sollte möglichst breite Wirkung erreichen, zunächst die Bauwirtschaft fördern, von hier aus die Produktion der eisenschaffenden Industrie anregen und — mit einer Aufwendung von lediglich 100 Millionen RM — zwischen 3 und 400000 Erwerbslose in den Produktionsprozeß eingliedern; im Zuge einer planmäßigen Ostsiedlung mit dem Nebenzweck, den verschuldeten Altbesitz über die Pachtleistungen der Neusiedler zu sanieren, sollten viele Tausend Menschen auf das Land gebracht werden. Eine Eigenart, vielleicht ein Vorzug dieses Planes lag in dem typischen Verwaltungsrationalismus der vielseitigen Zwecksetzung, sein offensichtlicher Nachteil in der absehbaren Beschränkung der Effekte auf jedem der bedachten Gebiete. Die Belebung von Baumarkt und Industrie, die Eindämmung der Arbeitslosigkeit, die Hebung des Konsums und schließlich der „Ostgrenzschutz" sowohl durch Schaffung 351
Aufzeichnung Wachsmanns, nachträglich auf den 28. Dezember datiert, BA, R 43 1/
1288. 352 Denkschrift Wachsmanns „Vorschläge für die Möglichkeit einer Anregung der Wirtschaft vom Baumarkt her durch Verwendung von Reichsmitteln für Schaffung von Siedlungen und Landarbeiterwohnungen", Orig., 36 Seiten mit handschriftl. Korrekturen, undatiert; Vorlagevermerk Wachsmanns trägt das Datum vom 6. Januar 1926, für den Reichskanzler bestimmte Stellungnahme Pünders vom 7. Januar 1926; BA, R 4 3 1/1288.
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eines Siedlungsgürtels als auch durch die Entlastung des verschuldeten Grundbesitzes figurierten nebeneinander als offenbar gleichberechtigte Planziele. Doch das Vorhaben, einige Tausend Menschen auf dem Lande seßhaft zu machen, sicherte noch nicht die Bedingungen einer ertragsstarken Wirtschaftsweise. Auch nach Ansicht Wachsmanns eröffnete die „gegenwärtige Marktlage" dem Siedler keine günstigen Aussichten. Dem setzte er jedoch die Überzeugung entgegen, daß der Siedler auf diese Weise „zu intensiver Arbeit genötigt werde": „Dieses Ziel ist anzustreben, damit die Intensität der Bewirtschaftung nicht leidet." Er blieb bei der eingefleischten Ansicht, die in der Vergangenheit so viele Menschen vom Lande in die Städte getrieben hatte: daß auch in der unterbevölkerten Grenzzone des Ostens Zwang und enge Zucht die zuverlässigsten Lehrmeister auf dem flachen Lande bleiben müßten. Dieser Plan, der erstmals die Grundsätze einer Intervention zugunsten der ostdeutschen Landwirtschaft zusammenfaßte und die Kernprobleme jeder späteren „Osthilfe" niederlegte, versuchte, viele Zwecke mit verhältnismäßig geringen Aufwendungen und durch einfache Maßnahmen von zentraler Stelle aus zu erreichen. Gegen ihn regten sich aber schon innerhalb der Reichskanzlei Bedenken und schien alsbald eine zuversichtlichere Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu sprechen. Der Zusammenschluß der deutschen Farbenindustrie, Anzeichen eines größeren Engagements des New Yorker Bankhauses Warburg auf dem deutschen Effektenmarkt, schließlich die Vorboten der Schaffung eines großen deutschen Stahltrusts unter amerikanischer Beteiligung, die den Umstellungsprozeß der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie zum Abschluß bringen konnte, deuteten allem Anschein nach darauf hin, daß die industrielle Entwicklung das besorgniserregende Stadium der ersten Stabilisierungsphase verließ, so daß sich die Reichsregierung eines Zwanges zu konjunkturanregenden Agrarmaßnahmen enthoben sah. Die Probleme der Siedlungspolitik blieben jedoch auf der Tagesordnung. Eine neue Denkschrift des unermüdlichen Wachsmann beschränkte sich wenig später gänzlich auf den Grundgedanken der „Errichtung eines Bevölkerungsgrenzwalls an den deutschen Ostgrenzen", die als eine „national- und kulturpolitische Aufgabe größten Stils" bezeichnet wurde, um einer weiteren „Verpolung" deutscher Grenzgebiete entgegenzuwirken. 353 Diese Art der „Abwehr des slawischen Vorstoßes auf die deutsche 353 Aufzeichnung Wachsmanns mit eigenhändigen Korrekturen, BA, R 4 3 1/1288, die seinen Ausführungen in einer Ressortbesprechung am 8. Februar 1926 über die „Mitwirkung des Reiches bei der Förderung des landwirtschaftlichen Siedlungswerkes im Osten"
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Ostgrenze" stand in enger greifbarer Beziehung zu militärischen Überlegungen, wie sich schon aus der Darlegung der bezeichneten Aufgaben ergibt: Die „Abwehr" könne wohl nur mit „friedlichen Mitteln geführt werden"; um aber doch das beste mögliche Ergebnis zu erreichen, sollte „eine zentrale Abwehrorganisation" unter dem ständigen Vorsitz des Reichsarbeitsministers als „einer Art Chef der Heeresleitung für diesen Krieg" geschaffen werden. „Damit der nationalpolitische Kerngedanke nicht verwischt wird", sollten allerdings „sozial- und wirtschaftspolitische und allgemein siedlungspolitische Gesichtspunkte zurücktreten." Diese Denkschrift traf eine Scheidung zwischen „Innensiedlung", die preußische Angelegenheit bleiben könne, und „Ostsiedlung", die zur Sache des Reiches werden sollte. Interessierte Organisationen machten sich diese Trennung schnell zu eigen. Die auf einen nationalen Kurs eingestellte ,Vereinigung für Siedlung und Wanderung', Sprecher des ,Reichsverbandes landwirtschaftlicher Klein- und Mittelbetriebe', des .Deutschen Bauernbundes' und die Vertreter der G F K sprachen in der Reichskanzlei vor, um die Zuweisung von Reichsmitteln zu Siedlungszwecken an Preußen zu hintertreiben und auf maßgebliche Einflußnahme der Reichsregierung auf das Siedlungswesen zu drängen. 354 Man verlangte auch die Bevorzugung der provinziellen und örtlichen Siedlungsunternehmungen privatrechtlicher Art gegenüber gemeinnützigen Gesellschaften, die angeblich „zu bürokratisch" arbeiteten und von der wenig siedlungsbegeisterten Haltung des preußischen Landtags abhängig seien. Für die G F K fiel schließlich das Interesse des Großgrundbesitzes ins Gewicht, mit dem sie es nicht verderben wollte. Sie wandte sich daher gegen die Tendenz, die Preise für die zum Verkauf stehenden Güter hinunterzudrücken, während das preußische Landwirtschaftsministerium eben gerade von einer Einschaltung des Reichs einen künstlichen Auftrieb der Güterpreise befürchtete. 355 Der Sturz der Regierung Luther im Mai 1926 löste dann eine Kanzlerkrise aus, in der sich nicht zum ersten Male der Reichspräsident — zugrundelag. Mehrere Wendungen und Gedanken dieser Denkschrift kehren im Bericht über eine Besprechung zur Ostsiedlungsfrage wieder, die unter Vorsitz des Reichskanzlers am 22. Februar 1926 stattfand. S. oben Anm.348. 354 Aktenvermerke von Pünder und Wachsmann über Besprechungen mit den Verbandsvertretern in der Reichskanzlei vom 5. bzw. 6. Februar sowie Denkschrift von Graf v. d. Goltz (,Vereinigung für Siedlung und Wanderung') vom 5. Februar 1926; BA, R43 1/ 1288. 355
Aktenvermerk des Staatssekretärs in der Reichskanzlei Pünder über eine Sitzung des Preußischen Staatsministeriums vom 11. März 1926, BA, R43 1/1288. 13'
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allerdings vergeblich — um eine Regierungsbildung weiter nach rechts bemühte. Doch wenige Tage nach der Bildung der neuen Regierung unter dem Zentrumsführer Marx erschien im Auftrage Hindenburgs Frhr. v. Gayl, der Vorsitzende der GFK und Vertreter Ostpreußens im Reichsrat, in der Reichskanzlei, um den Reichskanzler auf das besondere Interesse aufmerksam zu machen, das der Reichspräsident an der Siedlungsfrage nahm. 356 Erfolg und Folgen hatte dieser Schritt allerdings noch nicht. Vorerst behielten die parlamentarischen Entscheidungen Vorrang. Da sich nun aber auch die Demokraten — unter dem Einfluß des Braunschweigischen Bauernbündlers Rönneburg — für die Beteiligung des Reiches am Siedlungswesen einsetzten, erschien die Haltung der Reichstagsmehrheit nicht mehr fraglich. Am l . J u l i 1926 nahm sie eine Entschließung an, die auf einem in der Reichskanzlei vorbereiteten Kompromiß beruhte und für die nächsten fünf Jahre 50 Millionen RM bereitstellte. Durchführung und Kontrolle der Siedlungspolitik sollten besonderen Richtlinien folgen, die im Einvernehmen mit den Ländern und mit Zustimmung eines eigens hierfür vom Reichstag berufenen Ausschusses aufzustellen waren. Mit der Deutschen Rentenbank-Kreditanstalt kam auch das zentrale Finanzierungsinstitut des Reiches ins Spiel, das die Aufgabe erhielt, die Finanzierungsmittel nach Maßgabe der Richtlinien weiterzuleiten. 357 Hiermit fand sich schließlich auch das preußische Landwirtschaftsministerium ab; die Richtlinien 358 kamen nach wenigen Wochen in Verhandlungen zwischen dem Reich und Preußen zustande. Doch in der praktischen Zusammenarbeit ergaben sich bereits nach wenigen Monaten ernste Reibungen zwischen dem preußischen Ministerium und dem auf der Reichsseite zuständigen Reichsarbeitsministerium. Die preußische Instanz berief sich auf ihre langjährigen Erfahrungen, mit denen sie ihre Skepsis gegenüber allzu hochfliegenden Siedlungsplänen begründete; 359 das Reichsarbeitsministerium erklärte die Siedlung zu einer „hochpolitischen" Angelegenheit, die die „Belange des ganzen Reiches" berühre. 360 356
Aufzeichnung des Staatssekretärs in der Reichskanzlei vom 21. Mai 1926, BA, R 4 3
1/1288.
Sten. Ber. d. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 390, S. 7772. Vom August 1926, BA, R 4 3 1/1289. 359 Denkschrift des preußischen Landwirtschaftsministers „Tatsachen zur Siedlung in Preußen" vom 3. Januar 1927, Abdruck BA, R 4 3 1/1289. 360 Gegendenkschrift des Reichsarbeitsministers „Auseinandersetzung zwischen Reich und Preußen in der Frage der Siedlung" vom 17. Februar 1927, Abdruck BA, R 4 3 1/1289. Der bayerische Gesandte in Berlin kommentierte diesen Denkschriften-Antagonismus, der 357 358
Ostsiedlung und
Ostpreußenhilfe
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Das preußische Landwirtschaftsministerium verwies auf den wirtschaftlichen Hintergrund: „Die Siedlung, eine eminent staatspolitische Maßnahme, ist in ihrem Gelingen von einer gesunden und rentablen Landwirtschaft abhängig. Das Ansetzen von Siedlern, die nicht ihr gesichertes Fortkommen haben, bedeutet nicht eine Bereicherung der ländlichen Bevölkerung, sondern kann sich geradezu zu einer Gefahr auswachsen. Gerade das Bedürfnis nach Siedlung erhöht daher auch das Bedürfnis nach Hilfe für die Landwirtschaft." 361 Auch andere Mängel traten in Erscheinung, etwa Preistreibereien auf dem Gütermarkt, so daß in unmittelbarer Grenznähe vorübergehend sogar eine Verknappung des Siedlungslandes eintrat, 362 was deutlich genug anzeigte, mit welchen Belastungen die Politik einer kühn gedachten Ostsiedlung in der Realität zu rechnen hatte. Das Ergebnis der West-Ost-Bewegung, die durch die Siedlung ausgelöst werden sollte, läßt im Hinblick auf den großen politischen und geistigen Aufwand, mit dem sie vertreten wurde, nur eine kritische Würdigung zu. Die Zahl der Siedler aus dem Westen und aus der Mitte des Reichsgebietes belief sich in den vier Jahren 1927 bis 1930 insgesamt auf 3246. 363 Das bedeutete nur wenig im Verhältnis zur Größe des „ein wenig erfreuliches Bild des Zusammenspiels von Reichs- und Landesbehörden" gab: „In tatsächlicher Beziehung dürften wohl manche, gegen die preußischen Behörden gerichteten Vorwürfe nicht unberechtigt gewesen sein, wie sich dann die preußische Denkschrift zum Teil mehr wie eine Entschuldigungsschrift liest ... Auf der anderen Seite ist unverkennbar, daß das Reichsarbeitsministerium, eine Behörde, die in Bezug auf das Überspringen der Kompetenzlinien zwischen Reich und Ländern gern die stärksten equilibristischen Leistungen zeigt ..., die Gelegenheit zu dem Versuch mit Freude ergriffen hat, sich und dem Reich auf dem Siedlungsgebiet ein neues Verwaltungsfeld zu eröffnen." Der bayerische Ministerpräsident hob ausschließlich auf den letzten Gesichtspunkt ab in seiner Weisung: Die Angelegenheit „beansprucht ... insofern auch für Bayern ein besonderes Interesse, als hier die Mittel und Ziele der Verfassungspolitik des Reiches in ähnlicher Weise wie auf anderen Gebieten in die Erscheinung treten. Auch hier versucht das Reich den Schwerpunkt zu verschieben und die sachliche Seite in den Vordergrund zu stellen, während sich der Streit im Grunde lediglich um die verfassungsrechtliche Seite der Angelegenheit dreht." Ritter v. Preger an das Bayerische Staatsministerium des Äußern, 25. Februar 1927; Ministerpräsident Held an die Bayerische Gesandtschaft in Berlin, 20. März 1927; BGehStAM, MA, 103 281. 361 Denkschrift des preußischen Landwirtschaftministeriums, Anlage zu einem Schreiben des preußischen Innenministers an den Reichsinnenminister vom 3. Dezember 1927; Abdruck BA, R43 1/1798. 362 Niederschrift über eine Sitzung des Referentenausschusses im Reichsarbeitsministerium am 11. Juli 1927, Abdruck, BA, R43 1/1289. 363 Nach Boyens, Geschichte, I, S. 316. Innerhalb ganz Preußens wurden von 1923 bis 1927 jährlich zwischen 1400 und 2340 neue Siedlerstellen geschaffen, im Jahre 1927 in den beiden Provinzen Ostpreußen und Pommern insgesamt 788, hierbei — mit Familienan-
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Bevölkerungsstromes, der weiterhin aus dem Osten in den Westen und vom Lande in die Städte zog, und blieb eine quantité négligeable innerhalb des hochindustrialisierten 64-Millionen-Volkes. Allein die Provinz Ostpreußen gab von 1914 bis 1929 alljährlich — im Jahresdurchschnitt — 21 700 Menschen mehr ab als zuwanderten. 364 Der Erfolg der getroffenen Maßnahmen blieb weit von einer statistisch faßbaren Auswirkung entfernt, wenn man den stetigen Strom der Abwanderung vom Lande beachtet, der nach der Reichsgründung — teilweise früher — einsetzte und den Bevölkerungsstand der östlichsten Provinzen — nunmehr Ostpreußen und Pommern — über Jahrzehnte stagnieren ließ. Aber noch ehe dann die „Siedlungsfrage wegen der ungünstigen Rechtslage", wie behauptet wurde, wieder in den Hintergrund trat, 365 war in der Absicht einer „nationalen Befestigung der Ostgrenze" sowohl der Ostausschuß des preußischen Landtags als auch der preußische Innenminister Severing tätig geworden, der seinem Ressortpartner im Reich einen Katalog teils in Gang gebrachter, teils vorgesehener Maßnahmen in den Grenzgebieten präsentierte, um die besondere Belastung Preußens zu belegen und eine finanzielle Beteiligung des Reiches zu erwirken. 366 Die angeführten Maßnahmen betrafen Ober- und Niederschlesien, zum Teil Ostpreußen, die Grenzmark Posen-Westpreußen und den pommerschen Regierungsbezirk Köslin. Sie umfaßten in erster Linie die Förderung des Wohnungsbaus, Schulbauten, Jugendpflege, Wohlfahrtspflege und Gesundheitspflege. Kleinere Ansätze dienten einer Besserung der Verkehrsverhältnisse und der Elektrizitätsversorgung; der letzte Punkt in der Liste künftiger Vorhaben betraf die „Schaffung eines starken Bauerntums in den politisch gefährdeten Grenzgebieten", für die Preußen die Hilfe des Reiches begehrte. Die Antwort der Reichsregierung blieb nicht aus. Reichsinnenminister Külz gab die erste Anregung zur Entwicklung weiterreichender Hilfsprogehörigen — 3637 Personen angesiedelt; 80,8% (Ostpreußen) bzw. 65,4% (Pommern) kamen aus der gleichen Provinz, nur 10 bzw. 6% aus dem übrigen Deutschland, der Rest aus abgetretenen Gebieten. Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Preußen, 25. Bd., Berlin 1929, S. 96 f. 364 Zahlen nach Friedrich Richter, Industriepolitik im agrarischen Osten. Ein Beitrag zur Geschichte Ostpreußens zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1984, S. 236. Vgl. mit den Bevölkerungszahlen von 1882, 1895 und 1907 in den einschlägigen Übersichten der Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 211, Berlin 1913. 365 So die Empfehlung in einer Stellungnahme zu den kontroversen Denkschriften vom 26.Februar 1927, mit Paraphe des Staatssekretärs, BA, R 4 3 1/1289. 366 Schreiben vom 20. April 1926, Abschrift BA, R 4 3 1/1797.
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gramme für Ostdeutschland, die die Reichsregierung mit preußischer Unterstützung vorantreiben sollte. 367 Eine Rede, die er in Allenstein hielt, schon eine Bereisung Ostpreußens durch den Reichsrat Mitte Juli 1926 stärkten den Eindruck, daß die östlichste Provinz in den Vordergrund des Interesses der Reichsregierung rückte und daß nunmehr ihrer wiederholt behaupteten „berufungslosen Sonderlage" 368 Aussicht auf offizielle Anerkennung eröffnet werde. Der Ruf der tonangebenden Agrarkreise nach „energischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Agrarkrise" und nach einer „neuen großzügigen Agrarpolitik" 369 , aber auch das deutlich offenbarte Interesse des Reichspräsidenten, der im häufig beschworenen Ansehen des „Retters Ostpreußens" vor den Russen 1914 stand, zeitigten allmählich Wirkungen. Preußen strebte seine finanzielle Entlastung im Hinblick auf Aufgaben an, die in Anbetracht der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Provinz und der beanspruchten Hilfen für „den Osten" unübersichtlich, ja unübersehbar erschienen. In Verbindung mit diesem Schlagwort schienen Zweck und Umfang subsidiärer Maßnahmen sich stetig auszuweiten und sich von dem Programm sozial- und kulturpolitischer Fürsorge Preußens zu entfernen. Im August 1926 hatte eine Einladung des Reichsinnenministers an den Reichsfinanzminister zu gemeinsamer Beratung noch allgemein „Kredithilfen für den wirtschaftlichen Aufbau des Ostens" sowie die „Gewährung von Krediten zwecks Neubelebung der Landwirtschaft, des Handels, der Industrie und des Handwerks" 370 auf die Tagesordnung gesetzt. Doch danach wurden Empfangerkreis und territoriale Ausdehnung des „Ostprogramms" näher Abdruck BA, R 4 3 1/1796. Vgl. Schulz, Demokratie und Diktatur, I, S. 266 ff., 295 f.; die gründliche Untersuchung von Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen, S. 40 ff.; ferner hierzu auch Wolfgang Wessling, Die staatlichen Maßnahmen zur Behebung der wirtschaftlichen Notlage Ostpreußens in den Jahren 1920 bis 1930, in: Jb. f. d. Gesch. Mittel- u. Ostdeutschlands, Bd. VI (1957). 369 So in der „Resolution zur Wirtschaftspolitik" einer Vollversammlung der Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen vom 5. Februar 1925; Abschrift bei den Akten des ehem. Oberpräsidiums der Provinz Ostpreußen im Staatl. Archivlager Göttingen, Rep.2 11/2421, Bd. 1. Dort auch Abschrift eines Schreibens der Landwirtschaftskammer an den preußischen Landwirtschaftsminister vom 25. Juni 1925 mit beigefügten Entschließungen örtlicher Agrarvereinigungen, in denen „die ungesprengte Einheitsfront der ganzen Landwirtschaft, ohne Unterschiede von Klein-, Mittel- und Großgrundbesitz" beteuert wird. Die Zahl dieser Beispiele ließe sich vergrößern. Auch an extremen Formulierungen fehlte es nicht. Vereinzelt finden sich auch Aufforderungen wie die, mit der „Wechsel- und Wucherwirtschaft zu brechen. Von heute an müssen alle Rück- und Abzahlungen der Wechsel- und Wucherzahlungen für dieselben unterbleiben." 370 Abschrift BA, R 4 3 1/1797. 367 368
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bestimmt und eingeengt. Man ging davon aus, daß „die ostpreußischen Probleme hauptsächlich solche der agrarischen Kreditwirtschaft und der Tarifpolitik im Bahn- und Seeverkehr" seien,371 so daß das Ostprogramm des Reiches ausschließlich die Provinz Ostpreußen begünstigen sollte,372 aber auch mit greifbaren Ergebnissen der beabsichtigten Maßnahmen gerechnet wurde. Auch die Reichsbank erklärte, daß sie für diesen Zweck „in fast unbegrenztem Maße Kredite geben" könne. Das erleichterte den Beschluß, „daß möglichst zahlreiche und billige Kredite nach Ostpreußen gehen". Noch ehe brauchbare Vorstellungen eines Gesamtkreditbedarfs bestanden, stellte die Reichsregierung, um weiteren preußischen Anregungen oder Schritten „aus politischen Gründen" zuvorzukommen, sofort 32 Millionen RM für Verwaltungszwecke und Kreditmaßnahmen in „den preußischen Ostgebieten" bereit.373 Daraufhin verlangten im Ostausschuß des Reichstags die Vertreter der DNVP und des Zentrums weitere 50 Millionen.374 Unter der dämpfenden Einwirkung des Staatssekretärs im Reichsfinanzministerium wurden dann im Haushaltsbeschluß des Reichstags 41 Millionen RM angesetzt, hieraus aber auch noch andere Wünsche erfüllt. 375 Aus Ostpreußen ließen sich aber bald neue Notrufe vernehmen. Nach einem Urteil der Bank der Ostpreußischen Landschaft war in der gesamten Provinz am Ende des Wirtschaftsjahres 1926/27 eine durchschnittliche Verschuldung des Grundbesitzes erreicht worden, die es unter bankwirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht mehr zuließ, weitere Kredite zu gewähren. Dies schien die wirtschaftliche Unzulänglichkeit der bis dahin geleisteten Hilfen zu unterstreichen und legte viel weiter reichende Maßnahmen nahe: Da die ostpreußische Wirtschaftsbilanz von der Ein371 Schreiben des Reichsinnenministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 9. August 1926, BA, R43 1/1797. 372 Referentenvermerk über Ressortbesprechungen zum Ostprogramm am 12. und 13. August 1926, BA, R43 1/1797. 373 Kabinettsvorlage vom 20. September sowie Protokoll d. Sitzung d. Reichsministerbesprechung am 27. September 1926, Auszug BA, R43 1/1797. 374 Aufzeichnung über die Verhandlungen des 29. Ausschusses des Reichstags am 5. November 1926; Vermerk über eine Besprechung mit den Vertretern der Parteien am 30. November 1926; beides BA, R43 1/1797. Die Zentrumsfraktion im preußischen Landtag erhob zur gleichen Zeit die Forderung nach einer „planmäßigen Grenzfürsorge für den Westen", der ein „besonderes Westprogramm" der preußischen Staatsregierung gewidmet werden sollte. Es wurde im Januar 1928 beschlossen, nahm jedoch einen vergleichsweise bescheidenen Umfang an. 375 Reichshaushaltsausschuß, III. Wahlperiode; Protokoll d. 181. Sitzung am 2. Dezember 1926.
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nahmenseite nicht mehr auszugleichen sei, müsse eine Entlastung von der Ausgabenseite her, durch eine Minderung der Verpflichtungen herbeigeführt werden. Die vorgeschlagenen Maßnahmen galten Zinssenkungen bzw. Beihilfen zum Schuldenlastenausgleich, einem generellen Abbau der öffentlich-rechtlichen Lasten und langjährigen Umwandlungen von Steuerschuldresten, der künftigen Festsetzung der Steuerleistungen allein nach der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit — also nicht mehr nach allgemeinen Bewertungsmaßstäben —, schließlich gar der Aufgabe der bisherigen Verteilung der sozialen Lasten, die doch nur „den Bedürfnissen der westlichen Industriebevölkerung" angemessen sei.376 Es liegt auf der Hand, daß von Entlastungen dieser Art große Betriebe bzw. der Großbesitz den größten Nutzen gehabt hätten. Die Kritik än der Besteuerung wie an den Soziallasten und die Forderung nach einer Exemtion der Landwirtschaft vom Sozialversicherungsrecht zählten jedoch bald zu dem allgemeinen Programm der landwirtschaftlichen Verbände, das später auch mit wissenschaftlich entwickelten Gründen diskutiert wurde. 377 Freilich mündeten Berechnungen und Statistiken am Ende dann in schlichte polemische Behauptungen, die den gesamten Komplex des „Finanzausgleiches" mitsamt den „finanzpolitischen Methoden der Nachkriegszeit" ablehnten. Der Topos von der „Rückkehr zur alten Sparsamkeit" war seit Jahren geläufig, sobald psychologische Unzufriedenheit, reale Mängel und wirtschaftliche Interessen aufeinanderstießen. Hier wie auch andernorts wurde aber geflissentlich übersehen, daß die Forderungen der eigenen Seite unweigerlich Ausgabensteigerungen verlangten, die keineswegs mit der Forderung nach „Sparsamkeit" im Einklang standen. Darin offenbart sich die Härte der Positionen im Verteilungskampf — um äußerst bescheidene Erträgnisse —, der für die Landwirtschaft der Ostprovinzen angesichts ihrer Schuldenlast in der Tat zum Existenzkampf wurde. Eine Aufstellung, die Frhr. v. Gayl dem Reichskanzler vorlegte, bezifferte den Gesamtbedarf an Kreditmitteln, die die ostpreußische Wirtschaft 376 Denkschrift des Kuratoriums der Bank der Landschaft für Reichskanzler Marx vom 3. Mai 1927, BA, R431/1798. Die Forderungen waren nicht neu. Sie finden sich, noch weiter ausgeführt, in zwei Entschließungen des Landwirtschaftsverbandes Preußisch-Holland vom 12. Juli 1924. Abschriften im Staatl. Archivlager Göttingen, Rep. 2 11/2421, B d . l . 377 Vgl. W. Ebbinghaus, Die Steuerbelastung der deutschen Landwirtschaft, in: Deutsche Agrarpolitik (Friedrich List-Gesellschaft, 6), II, S. 297—310; Ferdinand Jacobs, Die Kritik der Landwirtschaft an den geltenden Steuern, a. a. O., S. 311—320; Heinrich v. Sybel, Steuerreform und Steuerentlastung der Landwirtschaft durch „Ausgleich", a. a. O., S. 3 2 1 - 3 6 4 .
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zur „Erhaltung ihrer Lebensfähigkeit" benötigte, auf mindestens 206 Millionen RM. 3 7 8 Der größte Teil sollte eine weitere Beleihung der bis zur Grenze der üblichen Beleihbarkeit voll verschuldeten Betriebe ermöglichen, — die kreditgebende Bank hierfür Reichs- oder Staatsgarantien erhalten. Von dieser Subventionierung des die Grenzen des herkömmlich Ordnungsgemäßen überschreitenden Immobiliarkredits profitierten mithin auch die landwirtschaftlichen Kreditinstitute der Provinz, die in eben dem Maße dem Ende ihrer Tätigkeit entgegensahen, in dem der Grundbesitz die Grenze seiner Kreditfähigkeit erreichte. Um aber das Ansehen nach außen zu wahren, wurde das erstaunliche Versprechen eingeflochten, daß bei Erfüllung dieser Wünsche Ostpreußen keine „besonderen Forderungen mehr für die Überleitung von noch nicht konsolidierten Schulden in konsolidierte Kredite" erheben werde. „Es würde sich dies aus eigener Kraft der ostpreußischen Wirtschaft bewerkstelligen lassen." Diese Zusicherung, die schon bald vergessen wurde, sollte durch Einschaltung der provinziellen Selbstverwaltungsorgane wie der agrarischen Organisationen bekräftigt werden, um die Verteilung der beanspruchten Mittel in eigene Regie zu nehmen und, was zu vermuten stand und sich später bestätigte, den besitzrechtlichen und betriebswirtschaftlichen Status quo mit allen hieran hängenden Folgen zu gewährleisten. Die Hilfen, die Ostpreußen bis dahin erhalten hatte, waren, soweit sie über das sozial- und kulturpolitische preußische Ostprogramm hinausgingen, in erster Linie der Verkehrsentwicklung und hierbei vor allem der Besserung der Verkehrslage der Provinzhauptstadt Königsberg zugute gekommen. Die Landwirtschaft hatte hiervon nur indirekt einen Nutzen. Trotz grundsätzlicher Anerkennung der „Kreditnot" der Landwirtschaft, die in Ostpreußen in besonderer Weise spürbar war, hatte die Reichsregierung immer noch Zurückhaltung gegenüber allzu folgenreichen finanziellen Engagements beobachtet. Hieran war die Haushaltspolitik des Reichsfinanzministeriums maßgeblich beteiligt, die sich allerdings mit dem Wachstum des Steueraufkommens der Konjunkturperiode unter dem vierten Kabinett Marx (1927/28) zu lockern begann. Mit der steten Beschwörung der Hilfe aus der Krise und mit der Verstärkung des 378 „Protokoll über die am 27. Mai 1927 stattgehabte Besprechung ostpreußischer Wirtschaftsvertreter bezügl. staatl. Sonderkreditmaßnahmen zur Unterstützung der ostpr. Wirtschaft", BA, R 43 1/1798; GehStAB, Rep. 90/1070. Weitere Einzelheiten, auch zur Erhöhung der geforderten Kreditsumme für die Landwirtschaft einige Monate später Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft, S. 223.
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Drucks auf die beiden Regierungen in Berlin, dem die Vertreter der nationalen Rechten innerhalb des Reichskabinetts zuerst nachgaben,379 verblaßten die Grundsätze. Die Ziele, die gesteckt wurden, erschienen weniger vom Herkommen geprägt, aber auch weniger auf Dauer berechnet. Dies galt aber auch für die dissentierende Konzeption, die Preußen verfolgte: Die „Stützung der östlichen Grenzprovinzen für die nächsten fünf Jahre" 380 wird man kaum ein Vorhaben nennen dürfen, das Zuversicht und Hoffnung bezeugte. Nach einem Memorandum des preußischen Landwirtschaftsministeriums381 war die Lage Ende 1927 schon recht eindeutig: „Denn wenn die Verschuldung der östlichen Landwirtschaft in dem Tempo der letzten Jahre weiter fortschreitet, so sind auch die letzten Reserven in wenigen Jahren verbraucht und der wirtschaftliche und mit ihm auch der politische Zusammenbruch unvermeidlich." Um dies zu verhindern, mußten nach der Schätzung des Landwirtschaftsministeriums mehrere hundert Millionen RM für Stützungsmaßnahmen aufgewendet werden, unter denen nun aber auch neben der Förderung größerer Meliorationen und Verkehrsbauten Kreditmittel, um Personalschulden in Realschulden umzuwandeln, Bedeutung besaßen. Gänzlich neu waren die Gesichtspunkte für Zwecke und Gründe, die vorgebracht wurden, neu auch die Höhe der Summen, die nun aber für den gesamten Osten des Landes Preußen aufgewendet werden sollten. Die Notlage des agrarischen Ostens mitsamt ihrer psychologischen Wirkung war inzwischen zu einem deutschen Politikum ersten Ranges geworden. Das zeigte sich auf unübersehbare Weise, als der Reichspräsident in dieser Angelegenheit noch entschlossener aus seiner Reserve heraustrat. Die Notlage wie die düstere psychologische Stimmung in der ostdeutschen Landwirtschaft, eine Mischung aus wirtschaftlicher Ratlosigkeit, 379 Im Juli 1927 forderte eine Eingabe der Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen erneut die Schaffung rechtlicher und administrativer Voraussetzungen für eine Sonderbehandlung der Provinz. Sie schlug hierfür die Einrichtung eines besonderen Reichsministeriums oder die Betrauung eines Reichministers mit dieser Aufgabe vor. Reichsinnenminister v. Keudell nahm sich dieser Forderung an und empfahl die Übertragung einer entsprechenden Zuständigkeit auf den Reichsinnenminister und die Bearbeitung aller inneren Ostfragen durch eine besondere Stelle seines Ministeriums. Denkschrift des Reichsinnenministers vom 9. August und Auszug aus dem Protokoll d. Reichsministerbesprechung vom 17. September 1927, BA, R 4 3 1/1798. 380 Schreiben des preußischen Innenministers an den Reichsinnenminister vom 3. Dezember 1927; Abdruck BA, R 4 3 1/1798. 381 Anlage hierzu. Vgl. die Beurteilung von Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft, S. 228.
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politischem Defätismus und hartnäckiger Opposition, 382 dürfen als ebenso unbestritten gelten, wie sie im historischen Rückblick unüberwindbar erscheinen. Die ständige Sorge um die wirtschaftliche Lage und den politischen Rang der preußischen Ostprovinzen hat auch Hindenburg mit vielen seiner Standesgenossen, ehemaligen Kameraden und schließlich auch manchen Freunden aus der Umgebung seines ostpreußischen Gutes Neudeck geteilt, das er 1927 als Geschenk erhielt und im Sommer 1930 bezog. 383 Alarmierende Nachrichten erreichten den ReichspräsidenDaß dies auch in konservativen Kreisen mit Befremden beobachtet wurde, bezeugt ein Brief, in dem ein Stabsoffizier der Reichswehr in Stettin, Graf v. Brockdorff-Ahlefeldt, am 6. Dezember 1925 an den Oberstleutnant v. Schleicher im Reichswehrministerium berichtete, „daß die rechts gerichteten Blätter dauernd Mißtrauen gegen die Regierung, sogar gegen die Person des Reichspräsidenten predigen. Das sind Dinge, die der fern auf dem Lande sitzende Agrarier nicht beurteilen kann, daher glaubt und in seine Rechnung einstellt. ... Ein besonderes Mißtrauen richtet sich gegen die Reichsbank und die Person des Reichsbankpräsidenten Schacht. ... Man redet davon, der Zusammenbruch sei unvermeidlich; er müsse zum Bolschewismus führen. Da sei es schon besser, diesen nicht abzuwarten, sondern zwangsweise herbeizuführen, da man alsdann die Ereignisse in der Hand habe. An anderer Stelle hält man einen Zusammenschluß für erforderlich, um sich jeder Zwangsvollstreckung entgegenzustellen. ..." BA, MA, Nachl. Schleicher, H08—52/ 54. Zeugnisse dieser Art finden sich in Gestalt von Korrespondenzen und anderen schriftlichen Äußerungen außerhalb behördlicher Überlieferungen über Jahre hinweg in größerer Zahl. Über „fatalistische" Stimmen auch aus der Bauernschaft schrieb ζ. B. der Dompropst Monsignore Sander an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen in einem warnenden Brief, demzufolge gerade die Wortführer dieses Fatalismus sonst äußerst national sprächen, jedoch den „Defätismus" gegenüber Polen zur Agitation gegen die Republik nutzten. Schreiben vom 11. Januar 1929 mit mehreren Anlagen bei den Akten der Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen; Staatl. Archivlager Göttingen, Rep. 2 11/2421 —3. Aus einem der beigefügten Briefe: „Niemand denkt mehr ans Aufraffen; und immer wieder bekommt man zu hören: Wenn doch nur erst die Polen kämen. ... Ich fürchte sehr, wenn der Pole eines Tages tatsächlich kommt, findet er zu seiner Überraschung fast nur Leute, die sich beeilen, ihn ihrer Loyalität zu versichern. Ich denke dabei nicht nur an den Grundbesitz." Vgl. Schulz, Ära Brüning: Politik und Wirtschaft, I, S. XXXIV, auch zum Folgenden. 382
383 Das Gut, ein ehemals Hindenburgscher Familienbesitz, wurde dem Reichspräsidenten zu seinem 80. Geburtstag als Geschenk der deutschen Wirtschaft dargebracht. Die notarielle Auflassung mit der Eigentumsübertragung an den Sohn Oskar v. Hindenburg — um später die Erbschaftssteuer zu umgehen, was zunächst vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten wurde, — erfolgte am 18. Juli 1928. Nach langwieriger und schwieriger Beschaffung der erforderlichen Mittel, deren Geschichte erst im August 1933 endete, wurde das Herrenhaus neu errichtet und Ende Mai 1930 bezugsfertig. Gedanke und Anregung der Gutsschenkung stammten von dem nachmaligen Gutsnachbarn Hindenburgs, dem ehemaligen Kammerherrn Elard v. Oldenburg-Januschau, Ehrenvorsitzenden des stets radikal konservativen Landwirtschaftsverbandes Ostpreußen. In der Übergangszeit wurde das Gut von der Ostpreußischen Landgesellschaft unter dem Direktor Frhr. v. Gayl übernommen und von Oldenburg-Januschau in ihrem Auftrag treuhändersch verwaltet.
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ten auf mancherlei Wegen, sobald sich die seit Jahren Klage Führenden, die den entschiedenen Gegnern der Parteien der Weimarer Koalition und der preußischen Regierung zurechneten, von den Berliner Ministerien unverstanden oder benachteiligt behandelt wähnten. Politische Polemik und zielstrebig verfolgte Opposition gegen die Preußenregierung hatten sich seit dem Ende der Monarchie mit der im ganzen gewiß begründeten Unzufriedenheit über die Wirtschaftslage verknüpft, die in zahllosen Eingaben nach Berlin übermittelt wurden, seitdem die im allgemeinen spürbaren Entlastungen, die die industrielle Konjunktur der späten zwanziger Jahre anderen Regionen Deutschlands brachte, im Osten nicht oder doch nicht in vergleichbarem Maße fühlbar wurden, die Belastungen sogar zunahmen. Der sozialgeschichtliche Gegensatz zwischen industrieller Gesellschaft und agrarischer Staats- und Standesauffassung verschärfte sich im Gefolge der Wechselfälle in den wenigen Jahren der Republik. Da durchschlagende Wirkungen der immer wieder erhobenen Forderungen und häufig gar handfesten politischen Drohungen ostdeutscher Agrarverbände ausblieben, wurden auch andere Wege als die über die preußischen Instanzen eingeschlagen. Auf Grund seiner geistigen und politischen Einstellung, seiner Erziehung und Herkunft,384 zeigte sich der Reichspräsident für diese und ähnliche Gedankengänge überaus empfanglich. Manche Töne in den Briefen aus dem Osten berührten die empfindlichste Seite Hindenburgs und waren geeignet, keimende Besorgnisse stetig zu verstärken. Die Befürchtung, daß es für „Ostelbien drei Minuten vor 24 Uhr" sein könne und der „Untergang 700jähriger deutscher Ostpolitik" bevorstünde,385 Eingehende und abschließende Untersuchung der gesamten Angelegenheit von Wolfgang Wessling, Hindenburg, Neudeck und die deutsche Wirtschaft. Tatsachen und Zusammenhänge einer „Affäre", in: VSWG, 64 (1977), S. 41—73. Zu den schon früher von Frhr. v. Gayl in Verbindung mit ostpreußischen adligen Grundbesitzern organisierten Ostpreußenaufenthalten Hindenburgs (1922, 1924, 1927) Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft, S. 229. 384 Hierzu die verschiedene Aspekte hervorhebenden Biographien von John W. Wheeler-Bennet, Hindenburg. The Wooden Titan, London 1936 (unter Verwendung von Mitteilungen Brünings); Andreas Dorpalen, Hindenburg and the Weimar Republic, Princeton, N.J. 1964; (beide Werke auch in deutscher Übersetzung) sowie die mit einem Dokumententeil versehene Darstellung von Walther Hubatsch, Hindenburg und der Staat. Aus den Papieren des Generalfeldmarschalls und Reichspräsidenten von 1878 bis 1934, Göttingen 1966. 385 Generalmajor a. D. v. Thaer an Generalmajor v. Schleicher, 13. März 1930, und von diesem an das Büro des Reichspräsidenten geleitet; Schulz, Quellen Brüning: Politik und Wirtschaft, I, S.92ff.
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hätte, von ernst zu nehmender Seite ausgesprochen, wohl auch jeden anderen Mann an der Spitze der Republik beunruhigt; den sich seines legendären Rufes als „Sieger von Tannenberg" bewußten ehemaligen Oberbefehlshaber des deutschen Ostheeres und des Feldheeres ließ sie nicht zur Ruhe kommen. 386 Man hat Hindenburg häufig als bescheidenen, aber würdevollen Menschen bezeichnet. Das braucht nicht in Abrede gestellt zu werden, wie es sein einstiger Gehilfe und Gefahrte Erich Ludendorff publizistisch getan hat; aber die einfache, mit starkem Pflichtbewußtsein durchsetzte politische Vorstellungswelt Hindenburgs war traditional verwurzelt, an Vergangenheit, an persönliche Einschätzung und an Autoritätsvorstellungen gebunden. Staatsautorität stand in seiner Vorstellung wohl immer über der Autorität der Verfassung. Aus all dem ergaben sich für Hindenburg als höchster Instanz dieses Autoritätskomplexes Verpflichtungen wie Entscheidungen, wobei er sich in dem weiten Feld persönlicher Dinge rechtlich ungebunden wähnte, in politischer Hinsicht dagegen an Grundsätze der Tradition, des Herkommens und der Gewohnheit hielt. Mit der persönlichen Bescheidenheit, Würde, aber auch Entschiedenheit und Unbeirrbarkeit seines Auftretens verband Hindenburg sicherlich nicht die Amtsauffassung eines Diktators, aber die einer gleichsam über Demokratie oder Diktatur schwebenden Instanz, einer quasimonarchischen gewissermaßen, jedenfalls einer am Monarchen gemessenen. Das besagte aber noch nicht, daß er eine Restauration der Monarchie anstrebte oder begünstigte. Der ostpreußische Grundbesitz, dem die Liebe Hindenburgs galt, war kaum schon in dem Maße entschlossen deutschnational festgelegt, wie Parteizugehörigkeit und äußerliches Auftreten vermuten ließen. Preußische Herkunft und Vergangenheit wogen vor allem in preußischen Adelsgeschlechtern schwerer als irgendein als „national" oder „deutsch" bewertetes Staatswesen; dies galt in den Augen der „Deutschkonservativen" schon für die Reichsgründung Bismarcks, für ihre Nachfahren erst recht im Hinblick auf die Republik. Doch nicht minder interessant als ihre Meinungen und als die Formen ihrer Äußerungen erscheinen Mittel und Wege ihrer Beförderung in die unmittelbare Umgebung des Reichspräsidenten, den sie als einen der Ihren erachteten, so daß mit seiner hervortretenden Einflußnahme auf die Politik auch die Frage nach den Einflüssen auf ihn selbst Bedeutung gewinnt. Im Hinblick auf das wesentliche Ergebnis Tilman P. Koops, Zielkonflikte der Agrarund Wirtschaftspolitik in der Ära Brüning, in: Industrielles System, S. 852—868; Hinweise nach Akten auch in der Arbeit von Bruno Buchta, Die Junker und die Weimarer Republik. Charakter und Bedeutung der Osthilfe in den Jahren 1 9 2 8 - 1 9 3 3 , Berlin (Ost) 1959. 386
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Frühere Bemühungen des ostpreußischen Oberpräsidenten Siehr (DDP), über den mit ihm verwandten Syndikus der Industrie- und Handelskammer in Essen einzelne Industrielle für eine Kapitalhilfe zum Zwecke der Sanierung verschuldeter großer Güter in Ostpreußen zu gewinnen, waren insgesamt nahezu ergebnislos geblieben. 387 Sie führten zu den letzten Versuchen einer Stützung des ostpreußischen Gütermarktes, für die die preußische Regierung einen Staatskommissar, den der DDP angehörenden ehemaligen Braunschweigischen Minister und früheren preußischen Landrat Rönneburg bestellt hatte. Die Ansätze zur Sanierung durch Güterverkauf wurden von Kreisen der Landwirtschaft aber verhindert, die es „sehr ungern" sahen, „wenn Güter aus altem Familienbesitz zu Spottpreisen in industrielle Hände übergingen". 388 Für eine groß angelegte Hilfe zugunsten der ostpreußischen wie der gesamten ostdeutschen Landwirtschaft bestanden seitdem theoretisch nur noch wenige Möglichkeiten: die finanzielle Entlastung und wirtschaftspolitische Begünstigung des ostdeutschen Landbaus ohne deutlich festgesetzte Begrenzung, die Liquidation von Schuldverhältnissen oder sowohl von Schuld- als auch von Besitzverhältnissen. In keinem Falle ließ sich das wirtschaftliche Ergebnis auf längere Sicht abschätzen. Gegen Ende 1927 entschloß sich Hindenburg erstmals zu persönlichem Eingreifen zugunsten ostpreußischer Ansprüche und Vorschläge, indem er versuchte, die Entscheidung zugunsten eines für Ostpreußen bestimmten und ausschließlich seiner Landwirtschaft zugedachten Hilfsprogramms rasch und entschlossen herbeizuführen. In einem Brief an Reichskanzler Marx vom 3. Dezember 1927, den er gleichzeitig den deutschnationalen Reichsministern v. Keudell und Schiele zustellen ließ, befürwortete er eine sofortige Hilfsaktion und sprach er seine Besorgnisse über das „Schicksal Ostpreußens" aus: daß das Land „in verzweifelter Stimmung den Mut zur Selbstbehauptung verliert und eines Tages eine Beute der immer auf der Lauer liegenden polnischen Nachbarn wird. Dann aber ist auch die
387 Akten des Oberpräsidenten, Staad. Archivlager Göttingen, Rep. 2 II, 2421 —3. Siehr dachte an einen Güterkauf „potenter Kreise" West- und Süddeutschlands „zu den jetzt gesunkenen Grundstückspreisen..." Syndikus war Siehrs Schwiegersohn Rechlin, der die Verbindung zu Reusch wie zu Carl Bosch vermittelte. Der Briefwechsel zog sich aber ohne Ergebnis bis Dezember 1929 hin, obgleich Reusch unter westdeutschen Industriellen anfangs ernsthaft für den Gedanken Siehrs warb. 388 Mitteilung Reuschs an Siehr vom 28. Juli 1929 im gleichen Bestand. Die Tätigkeit des Staatskommissars Rönneburg läßt sich aus dem Bestand der Akten des Preußischen Staatsministeriums im GehStAB, Rep. 90/1076, 1077, 1078, erschließen; vgl. hierzu unten Anm. 416.
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Schlacht von Tannenberg umsonst geschlagen!"389 Mit diesen Worten drückte der alte Feldmarschall nichts anderes aus, als in vielen Äußerungen und Eingaben an ihn herangetragen und was auch schon Reichskanzler Marx nahegebracht worden war. Aber nun erhob er kraft seiner Autorität diese Äußerungen in einen Rang, der primäre politische Entscheidungen verlangte. In völliger Übereinstimmung mit dem Chorus der ostpreußischen Petenten verlangte er, die Lage der Provinz als „Sonderfall" anzuerkennen und ihr nach dem Beispiel des Ruhrgebietes im Besetzungsjahr 1923 — „unter Ablehnung der Anerkennung von Berufungen anderer" — besondere Hilfen zukommen zu lassen. Diese Beschränkung der Hilfsaktion begründete der Reichspräsident damit, „daß der fast einzige Wirtschaftserwerbszweig der ganzen Provinz die Landwirtschaft" sei, „die — wie ich zur Behebung falscher Auffassungen betone — zur Hälfte im mittelbäuerlichen Besitz, zu einem Viertel im kleinbäuerlichen und nur zu einem Viertel im Großgrundbesitz liegt." 390 Tatsächlich kamen die verlangten Hilfsaktionen jedoch vor allem für den größeren Besitz in Betracht, der in erster Linie an einer Umwandlung der „in großem Umfang schwebenden Personalschulden ... in langfristige Realschulden" und der hochverzinslichen in billigere Hypothekenschulden interessiert war. Außerdem sollte der „Frachtenvorsprung, den Polen gegen Ostpreußen hat, durch Tarifvergünstigungen für Ostpreußen" ausgeglichen werden.
389 Original BA, R43 1/1798; abgedruckt bei Graf Henning v. Borcke-Stargordt, Der ostdeutsche Landbau zwischen Fortschritt, Krise und Politik (Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis, III), Würzburg 1957, S.36ff. 390 Diese Angaben waren keineswegs präzis. Geht man von den Vermögenssteuerwerten aus, so entfiel in dieser Provinz nicht ganz die Hälfte des gesamten Rohvermögens auf das landwirtschaftlich, forstwirtschaftlich und gärtnerisch genutzte Vermögen. Allerdings darf vorausgesetzt werden, daß ein beträchtlicher Teil der anderen Vermögensarten in Verbindung mit der Landwirtschaft stand und womöglich ein noch größerer Teil ihr seine Entstehung verdankte. Geht man von der Bevölkerung der Provinz aus, so standen 70 Prozent (1,6 von 2,4 Millionen) in Verbindung mit der Landwirtschaft. Geht man aber von der Verteilung der landwirtschaftlich, forstwirtschaftlich und gärtnerisch genutzten Fläche auf die Besitzgrößenklassen aus, so ergibt sich, daß 1923 0,4% auf den Besitz bis zu 5 ha und 11,6 auf den von 5 bis 20 ha entfielen, zusammen also 12% auf jene Klasse, in deren unteren Bereichen üblicherweise das „Kleinbauerntum" anzutreffen ist. Auf den „mittelbäuerlichen" und großbäuerlichen Besitz von 20 bis 100 ha entfielen 42,1%, hingegen 45,9% auf den Großgrundbesitz mit mehr als 100 ha. Wenn man von der Verteilung der Vermögensteuerwerte in Besitzgrößenklassen ausgeht, ergeben sich kaum andere Zahlen und gar keine Veränderungen dieser Verhältnisse. Vgl. Die deutsche Vermögensbesteuerung vor und nach dem Kriege (Statistik des Deutschen Reiches, 337), Berlin 1927.
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In ideeller wie in sachlicher Hinsicht machte der Reichspräsident die Forderungen der Provinz zu seinen eigenen, indem er auf die Richtlinienkompetenz des Reichskanzlers einzuwirken suchte. Der verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Intervention des Reichsoberhauptes entsprach der Reichskanzler durch Einberufung einer gemeinsamen Sitzung der Reichsminister und der zuständigen preußischen Minister, in der der Reichspräsident selbst den Vorsitz übernahm und mit militärischer Entschiedenheit anordnete, „nicht eher heute auseinanderzugehen, bis wir zu einem Beschluß gekommen sind". 391 Unter dieser Voraussetzung wurde die „Ostpreußenhilfe" beschlossen. Das vom Reichspräsidenten gewünschte Kommuniqué brachte zwar nur wenige Einzelheiten, enthielt aber doch eine förmliche Anerkennung der Ansprüche der Provinz: „Mit Rücksicht auf die durch die Friedensverträge geschaffene einzigartige wirtschaftliche Notlage Ostpreußens ist ... die Notwendigkeit von Hilfsmaßnahmen für die Provinz anerkannt worden." 392 In einer weiteren Ministerratssitzung, die unter dem Vorsitz des Reichspräsidenten einige Wochen später stattfand, wurden Einzelheiten der vorgesehenen Kreditmaßnahmen vorgetragen und gebilligt, die das Reichsinnenministerium unter v. Keudell vorher mit Vertretern der Behörden und der Wirtschaft Ostpreußens abgesprochen hatte. 393 Zu Krediterleichterungen traten die Subventionierung einer Verbilligung der Eisenbahntarife in und nach Ostpreußen sowie Steuererleichterungen hinzu. Niemand konnte indessen von diesem Programm mehr erwarten, als allenfalls den Schutz vor dem Eintreten der juristischen Form des
391 Niederschrift der Ministerbesprechung vom 21. Dezember 1927, GehStAB, Rep. 90/1070, vollständig abgedruckt bei Walter Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Göttingen 1966, S. 278 ff. 392 GehStAB, Rep. 90/1070. 393 Niederschrift der Ministerbesprechung am 7. Februar 1928, GehStAB, Rep. 90/1070; abgedruckt bei Borcke-Stargordt, Landbau, S. 103 ff. Die öffentlichen Mittel des Reiches und Preußens, die im Jahre 1928 aufzubringen waren, beliefen sich auf insgesamt 70—76 Millionen RM; im einzelnen: 24,9 Millionen zur Übernahme von Pfandbriefen der Landschaft, einen Disagiozuschuß des Reiches für insgesamt 60 Millionen RM Pfandbriefe in Höhe von 7,2 Millionen, eine Million Disagiozuschuß für einen Realkredit zugunsten der mit der Landwirtschaft unmittelbar verbundenen Kleinindustrie, 7,4 Millionen für Schuldscheindarlehen an Pächter, Fischer und Kleinbauern, 18 Millionen zur Ermäßigung der Zinslasten dieses Kredits und 10—15 Millionen zur Bildung eines Betriebserhaltungsfonds für notleidende und vor dem Zusammenbruch stehende Betriebe. Außerdem wollten das Reich und Preußen bis zur Höhe von 51,5 Millionen RM gemeinsam eine Ausfallbürgschaft für eine Auslandsanleihe zur Beschaffung des Restes des 100 Millionen-Kredits zur Umschuldung übernehmen.
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Zusammenbruchs des überschuldeten Grundbesitzes in Ostpreußen. Nur in diesem Sinne durfte von einer „Sanierung" gesprochen werden. Als nationales Erfordernis ließ sich dies betrachten, soweit die bloße Erhaltung der Wirtschafts- und Sozialverhältnisse in Ostpreußen als nationale Sache galt. Doch weder eine gesamtwirtschaftliche Wirkung war zu gewärtigen noch eine dauerhafte Hebung der Wirtschaft innerhalb Ostpreußens selbst; denn die Masse der vorgesehenen Krediterleichterungen diente der Liquidierung überfalliger Schulden und hoher Zinslasten aus der Vergangenheit, keineswegs einer Sanierung für die Zukunft und nicht einmal einer Vorsorge für künftige Belastungen. Daß diese bald wieder anwachsen würden, stand in sicherer Aussicht, sofern die ernst genommene Mitteilung zutraf, daß 88 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe Ostpreußens ständig mit Verlust wirtschafteten. 394 Dem Reichspräsidenten dürfte der Unterschied der Bedeutungen des Wortes „Sanierung" wohl bewußt gewesen sein; denn er ließ erkennen, daß er sich mit dem für „seine" Provinz Erreichten auf längere Sicht nicht zufrieden zu geben gedächte, da „ein klares Programm mit Krediten und Worten allein" nicht zu erfüllen sei. Das Ziel müsse „die Rentabelmachung der Landwirtschaft sein, sonst ist der Zusammenbruch ... nur vertagt, nicht beseitigt". Noch bevor die Ostpreußenhilfe einsetzte, fiel auch schon auf einer Tagung des Deutschen Landwirtschaftsrats das definitive Urteil über die gesamte Umschuldungsaktion, dessen Richtigkeit kaum in Frage steht: „Eine Überwindung der Agrarkrise von der Kreditseite her ist nicht möglich, eine dauernde Sanierung nur denkbar durch Wiederherstellung der Betriebsrentabilität. Neue Agrarkredite ohne diese Voraussetzung bedeuten nicht Rettung der Landwirtschaft, sondern eine neue Morphiumspritze mit so starker Dosis, daß sie voraussichtlich zum Tode führt. Nur wenn die allgemeine Rentabilitätsmöglichkeit hergestellt wird, haben Kreditmaßnahmen für eine Übergangszeit Zweck und Aussicht auf Dauererfolg." 395 Daß in wirtschaftlicher Beziehung, auch im provinziellen Rahmen, von der Ostpreußenhilfe dauerhafte Ergebnisse nicht zu erwarten waren, ist also keineswegs verkannt worden. Ihr agrarpolitischer Sinn lag in den Augen der Sachkundigen unter ihren Verfechtern einzig darin, daß sie den Anfang eines sich ausweitenden Systems bildete, das sich als permanente Verstärkung und Erweiterung der Ostpreußen zugute 394 Angabe des Reichsernährungsministers Schiele in der Besprechung am 21. Dezember 1927, s.o. Anm.391. 395 Deutsche Allg. Zeitung, Nr. 92 vom 23. Februar 1928.
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kommenden Stützungsmaßnahmen vorstellen, aber auch als territoriale Ausdehnung des Interventionsgebiets, also als Einbeziehung weiterer Agrargebiete in den Wirkungsbereich der Stützungsmaßnahmen denken ließ. Man konnte beides zugleich oder auch einander abwechselnd anstreben. Wer aber daran festhielt, daß die Sanierung der Landwirtschaft samt und sonders primäre wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates sei, der mußte wohl auch einen andersartigen Staat wünschen, einen Staat, der selbst mit dem sich ausweitenden und der Krise folgenden oder ihr gar vorauseilenden Katalog der Subsidienforderungen des Landbaus Schritt hielt. Nachdem der Reichspräsident für die Sonderaktion zugunsten Ostpreußens und ausdrücklich nur für diese interveniert hatte, gewann der zuständige Reichsminister in den folgenden Wochen die Regierungsparteien im Reichstag für eine parlamentarische Aktion zugunsten der gesamten Landwirtschaft. Reichsernährungsminister Schiele hatte schon vor der Kabinettsentscheidung über das Ostpreußenprogramm den Plan eines einmaligen Notprogramms der Reichsregierung für die gesamte Landwirtschaft in Aussicht genommen. Unter der Begleitmusik der starken agrarischen Agitation brachte er es im März 1928 auch im Reichstag durch. 396 Sogar die für Ostpreußen bestimmte Umschuldungshilfe wurde im Prinzip bereits mit einer allgemeinen Kreditaktion für die gesamte Landwirtschaft in Beziehung gesetzt und in den Nachtragshaushalt des Reiches eine allgemein formulierte Ermächtigung des Reichsfinanzministers aufgenommen, bis zur Höhe von 200 Millionen RM kurzfristige Zuschüsse an Kreditinstitute zu Umschuldungszwecken zu geben. 397 Die großzügige Kreditzusage des Reichsbankpräsidenten wurde ebenso großzügig ausgenutzt. Der Damm schien durchbrochen, um mit dem starken Fluß der Kredite nunmehr auch die finanziell ausgedörrten Reichshaushaltsausschuß, III. Wahlp., Prot. d. 301., 302. u. 305. Sitzung am 21., 23. u. 26. Januar, sowie d. 343. u. 344. Sitzung am 20. März 1928, in Verbindung mit dem vom Unterausschuß für Landwirtschaft des Enqueteausschusses vorgelegten „Vorbericht über die Verschuldungsverhältnisse der deutschen Landwirtschaft" vom 10. März 1928, abgedruckt in den Anlagen zu den Verh. d. Reichstags, Bd. 422, Nr. 4058. Vgl. Stenogr. Ber., Bd. 395, S. 12957 ff., 13 023 ff., 1 3 1 0 5 . 397 Gesetz über die Feststellung des Reichshaushaltsplans für das Rechnungsjahr 1928 vom 31. März 1928 (RGBl. II 1928, S. 209). Hierbei handelt es sich nicht um ein „Ermächtigungsgesetz" für den Reichsfinanzminister, wie dies Borcke-Stargordt, Landbau, S. 109, mißverständlich ausdrückt, sondern um eine der geläufigen Ermächtigungen des Reichsfinanzministers innerhalb des Reichshaushaltsgesetzes. Über finanzielle Einzelheiten der Ostpreußenhilfe Wessling, Die staatlichen Maßnahmen, S. 243 ff. 396
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landwirtschaftlichen Kreditinstitute wieder zu beleben. Nachdem das Reich und Preußen Anfang Mai 1928 Richtlinien vereinbart hatten, konnte die Umschuldung in Ostpreußen beginnen; eine wesentliche Erweiterung des Programms war aber bereits vorbereitet. Doch von einem glatten Anlaufen konnte von Anbeginn keine Rede sein. Daß die bereitgestellten Mittel nicht einmal ausreichten, um der wirtschaftlichen Krise in Ostpreußen wirksam zu begegnen, ergab sich schon wenige Monate später aus dem vorläufigen Gutachten des Enqueteausschusses über die Lage der ostpreußischen Landwirtschaft, das Ende November 1928 die „alarmierenden" Ergebnisse einer Bereisung der Provinz zusammenfaßte, die der Reichsregierung und der preußischen Regierung, schließlich dann auch dem Reichstag mitgeteilt wurden. 398 Das Gutachten lenkte die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Haftungsverflechtungen, die kreditgebende Institute wie landwirtschaftliche Genossenschaften vor allem mit dem größeren und großen Grundbesitz verbanden und sie mit ihm um ihre Existenz fürchten ließen. Auch dem zentralen landwirtschaftlichen Kreditinstitut der Provinz, der Ostpreußischen Landschaft, drohte schon infolge von Zinsrückständen in Höhe von 14 Millionen RM der Zusammenbruch. Dies erklärte sich aus der eigenartigen Gewohnheit der Bank, jahrelang Hypothekenzinsen anstehen zu lassen. Da ihnen gleicher Rang wie der Hypothek selbst zukam, drängten sie die nachrangigen Gläubiger zurück. Bei Zwangsversteigerungen trat die Landschaft, falls sie es hierzu kommen ließ, stets als stärkster, zuweilen als einziger Bieter auf. Dies mehrte Einfluß und Macht der Landschaft, hatte aber die Folge, daß nachrangige Gläubiger, vor allem „der Getreide- und Kunstdüngerhandel, Verluste erlitten, durch welche alteingesessene und früher wohlhabende Firmen in ihrer Existenzfahigkeit bedroht und zum Teil sogar vernichtet worden sind", wie das Gutachten vielsagend konstatierte. Die ebenso traditions- wie geschäftsbewußte alte und angesehene Landschaft betrachtete sich selbst stets als Hüterin von Landwirtschaft wie Grundbesitz sowohl gegen den wachsenden Einfluß von Handel und Industrie als auch gegen konkurrierende Institute. Doch ihre wirtschaftliche Schlüssel-, wenn nicht gar monopolartige Stellung innerhalb der
398 „Vorläufiges Gutachten über die Lage der ostpreußischen Landwirtschaft", ein als „streng vertraulich" qualifizierter vervielf. Entwurf, GehStAB, Rep. 90/1073. Das Gutachten trägt die Unterschriften der Mitglieder des Unterausschusses, Baade, Bazlen, Beckmann, v. Dewitz, Drewitz, Hermes, Graf Keyserlingk, Lang, Rauch, v. Raumer, Frhr. v. Richthofen, v. Saucken.
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Provinz offenbarte in dem erreichten Grad der Gefahrdung nunmehr auch ihre Kehrseite. Unter ihrem Präsidenten v. Hippel, dem Nachfolger Wolfgang Kapps, wähnte sie wohl Recht und Macht der Geschichte auf ihrer Seite. Die Verpflichtung des Staates zur Förderung und tätiger Unterstützung des alten, „bevorrechteten Rittergutsbesitzes" bildete die historische Grundlage ihrer Tätigkeit. 399 In diesem Aspekt erscheint auch die Ostpreußenhilfe als eine Fortführung dieser tradierten Aufgabe unter den veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit. Angesichts der örtlichen und regional unterschiedlichen, aber doch in großen Teilen der Provinz unstreitig verhängnisvollen Lage empfahl der Unterausschuß des Enqueteausschusses einen umfassenden Sanierungsplan, „um eine Fehlleitung der öffentlichen Mittel zu verhindern und die Sanierungsaufgabe, welche höchstwahrscheinlich zu ihrer Bewältigung die äußerste Anspannung der finanziellen Leistungsfähigkeit von Reich und Staat erfordern wird, überhaupt lösbar zu machen". Dies war deutlich genug. Die Hauptaufgaben einer „notwendigen Gesamtsanierung" erblickte der Ausschuß in der Ausdehnung der Umschuldungsaktion auf sämtliche umschuldungsbedürftigen und umschuldungsfahigen Betriebe und der Übernahme des aus den Kreditverflechtungen folgenden Risikos, außerdem in Steuererleichterungen, Meliorationen und anderen für die Produktion förderlichen Maßnahmen, die mittlerweile zur geläufigen Beigabe der Stützungsprogramme gehörten. Der Ausschuß bezog aber auch die Verwertung nicht mehr entschuldungsfahiger Güter in seine Erwägungen ein, die er als unumgänglich bezeichnete und für die er nun die Siedlung wieder ins Feld führte, für die eine mit den erforderlichen Mitteln ausgestattete Aufnahmeorganisation allerdings erst geschaffen werden mußte. Der Gedanke, den auch unter allen geforderten Begünstigungen nicht mehr entschuldungsfahigen Landbesitz zu Siedlungszwekken zu verwenden, ist seitdem nicht mehr verschwunden. Durch das Gutachten wurden weitgehend die Grundlinien der nachfolgenden Entscheidungen vorgezeichnet. Natürlich erforderten die vorgeschlagenen Maßnahmen jetzt noch weit größere Mittel als zur Verfügung standen. 400 Allein zur Umschuldung des „überwiegenden Teiles der ost399 Die ,Ostpreußische Landschaft', gegründet 1788, zählte zu den ältesten ritterschaftlichen Kreditvereinen in Preußen. Auf genossenschaftlicher Grundlage, aber staatlich unterstützt, diente sie der Aufgabe, dem Rittergutsbesitz durch Kredite aufzuhelfen. Ihre Tätigkeit war im Prinzip auf langfristige Entwicklungen angelegt. Für kurzfristige Kredite sorgte die Bank der Landschaft. 400 Schon am 1. November 1928 schrieb Oberpräsident Siehr, er halte es „für nicht angängig, daß man die Möglichkeit eines ... Ausbleibens weiterer Mittel ... bei Abwicklung
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preußischen Betriebe" hielt der Ausschuß 150 Millionen RM für erforderlich. Im übrigen stellte er unumwunden fest, daß eine Rettung der Landwirtschaft der Provinz nur möglich sei, „wenn Reich und Staat sich sehr frühzeitig darauf einrichteten, daß sie einmal das Äußerste für dieses Ziel werden aufwenden müssen, und wenn die ganze Sanierungsaktion mit dem höchsten nur denkbaren Maße von Planmäßigkeit, Voraussicht und Verantwortungsbewußtsein durchgeführt wird". Von größter „Planmäßigkeit, Voraussicht und Verantwortungsbewußtsein" konnte bei der bisherigen Durchführung der Umschuldung aber kaum die Rede sein. Schon das Verfahren gewährleistete sie nicht. Prüfung und Bewilligung der Umschuldungsanträge wurden auf zwei Ebenen vorgenommen. Eine Kreiskommission unter dem Vorsitz des Landrats traf unter den vorliegenden Anträgen die erste Auswahl und wies eindeutig hoffnungslose Fälle zurück. Die positive Entscheidung lag dann beim Provinzialkreditausschuß unter der Leitung des Landeshauptmanns, also des ersten Mannes der Provinzialselbstverwaltung. Beide Instanzen des Kreditbewilligungsverfahrens, Kreiskommission und Ausschuß, waren Organe der Selbstverwaltung, in denen die Vertreter der agrarischen Organisationen maßgeblichen Einfluß übten. Unter ihnen gaben die Gutsbesitzer den Ton an. Von dieser einseitigen Zusammensetzung der Entschuldungsgremien, die wiederholt auch von der Bauernschaft beargwöhnt wurde, standen kaum unanfechtbare Ergebnisse zu erwarten. Für die Beurteilung von Art und Umfang der Umschuldung in ihrer ersten Phase liefert bereits die Statistik aufschlußreiche Anhaltspunkte. Eine Aufstellung der Landwirtschaftskammer für die Provinz Ostpreußen vom 30. Juni 1929 hielt die Kredithilfen während des ersten Jahres der Ostpreußenhilfe fest. Die Statistik zählte insgesamt 3440 Betriebe des Großbesitzes (100 ha und mehr) bzw. 3,3 Prozent der Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Betriebe, mit insgesamt 911 439 ha oder 40,5 Prozent der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche, und 100243 Betriebe des Klein- und Mittelbesitzes (unter 100 ha) oder 96,7 Prozent der Zahl aller Betriebe mit 1 337 649 ha bzw. 59,5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. 401 Von den Umschuldungsanträgen waren für 1580 Betriebe der Aktion in Rechnung stellt; denn dieses würde einer Bankrotterklärung der Ostpreußenhilfe gleichkommen. ..." Schreiben an die Ostverwaltungsstelle im Reichsinnenministerium; vervielf. Abschrift, GehStAB, Rep. 90/1073. 401 Anlage zu einem Bericht des Oberpräsidenten an den preußischen Ministerpräsidenten vom 19. August 1929, GehStAB, Rep. 90/1076. Bei der Beurteilung der Zahlen ist zu beachten, daß diese Statistik Waldungen und forstwirtschaftlich genutzte Ländereien außer Acht läßt und daß sie keine Unterscheidung zwischen landwirtschaftlichen Betrieben in
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des Großbesitzes (46 Prozent der Größenklasse) 65739 851 RM (69,3 Prozent der Gesamtsumme der ausgesprochenen Bewilligungen) zugeteilt worden, aber nur 6756 Betrieben des Klein- und Mittelbesitzes (6,7 Prozent dieser Klasse) insgesamt 29 076 205 RM (30,7 Prozent der bewilligten Summe). Von den bewilligten Umschuldungskrediten hatten bereits 928 Betriebe des Großbesitzes (27 Prozent dieser Klasse) 42354082 RM erhalten (78,3 Prozent der verteilten Kredite), dagegen 5024 Betriebe des Klein- und Mittelbesitzes (5 Prozent dieser Klasse) 16 873425 RM (28,5 Prozent der verteilten Kredite). Der Großbesitz und der größere Mittelbesitz wurden besonders berücksichtigt, der Großbesitz am schnellsten bedient. Vom Großbesitz war wieder der größte am besten bedacht worden. 278 Betriebe der Besitzgrößenklasse von 200 bis 500 ha hatten Umschuldungs-Hypothekenkredite in Höhe von insgesamt 18695700 RM erhalten und 78 Betriebe mit jeweils mehr als 500 ha allein 10 707 300 RM; auf diese Betriebe der höchsten Besitzklasse (0,34 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe in Ostpreußen) waren 17,7 Prozent aller zur Verteilung gelangten Kreditmittel entfallen. Von den Mitteln aus dem Betriebserhaltungsfonds für äußerste Notfalle waren im gleichen Zeitraum 4661048 RM zur Auszahlung gelangt. 10,3 Prozent dieser Summe (480317 RM) hatten 348 Betriebe des Klein- und Mittelbesitzes erhalten, 89,7 Prozent (4180732 RM) der Großbesitz; und zwar waren 1 310201 RM an 90 Betriebe von 100 bis 200 ha gelangt, 2252974 RM an 144 Betriebe von 200 bis 500 ha und 1097 873 RM an 39 Betriebe mit mehr als 500 ha Anbaufläche. Diese Ergebnisse standen kaum im Einklang mit der wiederholt getroffenen Feststellung, daß die Verschuldung gleichmäßig die Betriebe aller Besitzgrößenklassen in Mitleidenschaft gezogen habe. Der lapidare Kommentar des Referenten im Preußischen Staatsministerium traf gewiß zu: „Hieraus ergibt sich, in wie überragender Weise der Großbesitz bisher bevorzugt worden ist." 402 Allerdings war es Tradition der staatlich subventionierten solidarischen Kredithilfen der Ostpreußischen Landschaft, den Rittergutsbesitz, im allgemeinen den größeren Besitz und mit ihm das wirtschaftliche wie das politische Rückgrat der Provinz zu stützen.
privatem und in öffentlichem Besitz trifft. Die der öffentlichen Hand gehörenden Betriebe, vornehmlich der staatliche Domänenbesitz, dürfte vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, in der Zahl der zuerst genannten Großflächenbetriebe enthalten sein. Natürlich gab es keine Umschuldung für Domänen. 402 Vermerk des Oberregierungsrates Weichmann vom 20. September 1929, GehStAB, Rep. 90/1076.
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Auch die Auswirkungen auf die Zwangsversteigerungsrate war „von symptomatischer Bedeutung": nämlich „der Rückgang der Zwangsversteigerungszahlen bei den Betrieben von mehr als 200 ha Gesamtfläche."403 Allerdings sprach hierbei auch der Umstand mit, daß die großen Objekte immer schwerer verwertbar wurden, da sich kaum noch Käufer fanden, so daß sich bald auch andere Gläubiger die bekannte Neigung der Landschaft zu eigen machten, die gefährdeten Großbetriebe in jedem Fall zu halten und es zu Zwangsversteigerungsverfahren möglichst nicht mehr kommen zu lassen. Aber auch andere, offenkundig persönliche oder politische Rücksichtnahmen spielten in einigen Fällen eine entscheidende Rolle.404 Dem Oberpräsidenten Siehr, der persönlich viel zur Hilfe für Ostpreußen beigetragen hatte, erschienen diese Auswirkungen alles andere als erträglich. Schließlich vertrat er eine Erhöhung der vorgesehenen Umschuldungsmittel mit dem etwas verlegenen Argument, daß nunmehr der bisher „verhältnismäßig geringe prozentuale Anteil der Betriebe unter 100 ha an der Ostpreußenhilfe" erhöht werden müsse.405 Die an der Bearbeitung der Umschuldungsanträge beteiligten Organe gingen aber von dem Gedanken aus, daß die Mittel dieser Stützungsaktion keiner Beschränkung unterlägen,406 so daß eine Unterbrechung oder gar Beendi403
Die Anzahl der Zwangsversteigerungen in Ostpreußen:
von Betrieben
unter 2
2-5
5-20
20-50
50-100
über 100 - 200 200 ha
1927 1928 1929*
8 71 52
16 55 45
42 69 55
19 38 39
19 28 20
16 21 21
21 20 8
*) nur für die Zeit vom 1.1. bis 30.9. Die gesamte Fläche der zwangsversteigerten Betriebe erreichte 1927 12649, 1928 13818 und 1929 8650 ha. Der Rückgang von 1928 auf 1929 entspricht annähernd dem Rückgang der zwangsversteigerten Flächen in der größten Besitzklasse. Anlage zum Bericht des Staatskommissars zur Stützung des ostpreußischen Gütermarktes an den preußischen Ministerpräsidenten vom 13. November 1929, GehStAB, Rep. 90/1076. Über den Fortgang der Umschuldung bis Ende 1930 Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft, S. 251 ff. 41:14 Einige eklatante Beispiele nach Aktenlage bei Hertz-Eichenrode, a. a. O., S. 263 ff. 405 Schreiben an den preuß. Ministerpräsidenten vom 7. August 1929, GehStAB, Rep. 90/1076. 406 Nach einem Schreiben von Rönneburg an die Landesbank der Provinz Ostpreußen vom 30. Juli 1929 „hat der Provinzialausschuß regelmäßig eine Differenzierung der Anträge unter dem Gesichtspunkt der Dringlichkeit nicht für erforderlich gehalten, da er mit der fortlaufenden Bereitstellung aller bewilligter Mittel rechnen zu können glaubte". Abschr. GehStAB, Rep. 90/1076.
Ostsiidlung und
Ostpreußenhilfe
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gung der begonnenen Maßnahmen auch deshalb kaum noch in Frage kam, weil infolge des etwas einseitigen Vorgehens die Behörden überhaupt keine Kontrolle über den Stand der wirklichen Erledigung dringlichster Fälle besaßen und schon die Erfüllung sogar bescheidener Zwecke in Frage stand. Mithin erwuchs aus Art und Umfang der Bewilligung, die die Begrenzung der verfügbaren Mittel notorisch unberücksichtigt ließ und in die Land und Reich keine zuverlässige Einsicht hatten, erneut ein moralischer wie politischer Druck auf die Berliner Regierungen, der sie zwang, die Stützungsaktionen fortzusetzen und weitere Mittel bereitzustellen, ohne daß sich ein Ende absehen ließ. Allerdings verschärfte sich nun auch die Kritik an dieser Entwicklung. Zu äußerst skeptischer Beurteilung der wirtschaftlichen Lage gelangte fast zur gleichen Zeit wie der Enquete-Unterausschuß die halbstaatliche genossenschaftliche Dachorganisation in Preußen, die Preußische Zentralgenossenschaftskasse, deren Untersuchung tief in die betriebswirtschaftlichen Verhältnisse eindrang.407 Da „die bedrohlichsten Anzeichen in den Gegenden mit vorherrschenden Großbetrieben" auftraten, beschränkte sie sich auf Großgrundbesitz und Pachtbetriebe mit mehr als 100 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche, von denen sich die Preußenkasse im Zusammenhang mit einer systematischen Kreditkontrolle umfangreiches Erhebungsmaterial beschafft hatte. Dies wurde zu einer weiteren Datenreihe in Verbindung gebracht, die die Entwicklung auf dem Markt der zum Verkauf gelangenden Güter wiedergab; diese galt als zuverlässiges Zeichen für die derzeitigen Aussichten der Landwirtschaft auf einen Kapitalzufluß von West nach Ost. Für die Zentralgenossenschaftskasse hing das Schicksal des Großgrundbesitzes ausschließlich von der Nachfrage des Anlage suchenden Kapitals ab. Da viele überschuldete Betriebe keine Käufer mehr fanden, aber dennoch der drohenden Folge eines Zusammenbruchs der Gläubiger mit allen ungünstigen Auswirkungen auf andere regionale Wirtschaftszweige begegnet werden mußte, schlug die Preußenkasse die Einrichtung einer Aufnahmeorganisation vor, über die die zum Verkauf angebotenen Güter in die Hand des Staates gelangen sollten, der auf diese Weise zu günstigen Bedingungen in großem Umfang Land für Siedlungszwecke erhielt. Unter der Hand ergab sich hieraus eine neue, auch von dem Vorschlag des Enquete-Unterausschusses abweichende Begründung für eine großangelegte Aufsiedlung ostdeutscher Güter, die von ihren Besitzern nicht mehr gehalten werden konnten. Preußische Zentralgenossenschaftskasse, Denkschrift Nr. 2: Die Lage der landwirtschaftlichen Großbetriebe in den östlichen Landesteilen, Berlin [1928], 407
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/. Wirtschaftliche Rahmenbidingungen und Krisen^eichen
Aber auch andere dachten an die Übernahme hochverschuldeter Güter von Staats wegen, was dem Gedanken der Massenansiedlung und einer Revision der Grundbesitzverteilung erneut stärkeren Auftrieb gab. Anfang 1929 schaltete sich der Reichswehrminister in den Gang der Verhandlungen ein,408 da Demonstrationen der Agrarier im grenznahen Gebiete die militärischen Instanzen beeindruckt hatten, zu denen man sich im Ministerium indessen doch eigene Gedanken machte. In den wiederholt vorgebrachten Klagen „der Grenzbewohner" erblickte Groener die Gefahr einer „Erschütterung des Abwehrwillens gegenüber dem Polentum", wofür er damals eine gewisse Bestätigung in zahlreichen Briefen sah, die in der Tat die wirtschaftliche Lage in dieser Weise interpretierten. Neue Ideen vermochte das Reichswehrministerium nicht beizutragen; aber es drückte nüchtern und unumwunden aus, daß „die bisherige Besitzverteilung im Osten ... aus wirtschaftlichen, sozialen und nationalpolitischen Gründen vielfach nicht mehr haltbar" sei. In den nächsten Monaten entfernten sich dann die Zielsetzungen der subsidiären Interventionen immer deutlicher voneinander. Anfang 1929 beschäftigte sich die Reichsregierung auf eine Anregung des Reichsernährungsministers Dietrich mit dem Gedanken eines erweiterten Osthilfeprogramms. 409 Während sich Dietrich darum bemühte, die Ostpreußen zugute kommenden Hilfsmaßnahmen mindestens auf die Grenzkreise Pommerns auszudehnen, hielt jedoch die Oststelle im Reichsinnenministerium an dem Grundsatz der Beschränkung fest, weil sie weitere Berufungen fürchtete, solange es keine Notstandsaktion für die gesamte deutsche Landwirtschaft gab. 410 In Anbetracht der seit Ende 1927 zunehmenden Beunruhigung und Radikalisierung norddeutscher und bayerischer Bauernorganisationen411 wird man diese Befürchtungen nicht grundlos nennen können. Die preußische Regierung neigte hingegen den von der Preußenkasse herausgearbeiteten Gedanken zu und entwickelte den Plan, einen Staatskommissar zur Stützung des Gütermarktes in Schreiben des Reichswehrministers an den Reichsernährungsminister vom 28. Januar 1929, Abschr. BA, R 4 3 1/1799. 409 Sitzung des Reichskabinetts am 16. Januar 1929; Akten der Reichskanzlei: Das Kabinett Müller II, Bd. 1, S.363Í. 4 , 0 Aufzeichnungen des Staatssekretärs in der Reichskanzlei „betreffend Sondergesetz über die Notlage im Osten" vom 11. und 21. Februar 1929, BA, R431/1799. 411 Bericht des Vertreters der Reichsregierung in München vom 20. Februar 1928 über eine „Kundgebung des Bayerischen Christlichen Bauernvereins wegen der Not der bayerischen Landwirtschaft", Bericht vom 21. März und spätere Zeugnisse hierzu, BA, R 431/2539. 408
Ostsiedlung und Ostpreußenhilfe
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Ostpreußen einzusetzen und mit dem Ankauf einer Anzahl von Gütern zu beauftragen, die zum größeren Teil der Siedlung zugeführt, zum kleineren dem preußischen Domanialbesitz einverleibt oder aufgeforstet werden sollten. 412 Im Frühjahr 1929, während der Landwirtschaftsverband Ostpreußen — nach dem Vorbild des Landvolks in Schleswig-Holstein, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, — seine Mitglieder zum Käuferstreik anhielt und systematisch radikalisierte Kundgebungen veranstaltete, um seine Macht zu demonstrieren,413 fiel in Berlin die Entscheidung für drei verschiedene Arten von Interventionen, die nun gleichermaßen vorangetrieben wurden und die sich auf der Seite der finanziellen Anforderungen summierten: die Fortsetzung der Ostpreußenhilfe, 414 eine Hilfe für alle notleidenden östlichen Grenzgebiete und schließlich die preußische Intervention auf dem ostpreußischen Gütermarkt mit der Übernahme von zusammenbrechenden bzw. nicht mehr entschuldungsfahigen Gütern durch den preußischen Staat.415 Die ostpreußischen Demonstrationen und der Verlauf der interministeriellen Verhandlungen wirkten sich zugunsten einer Beschleunigung des Ostpreußengesetzes aus, in das die preußischen Pläne eingebaut wurden, während eine umfassende Osthilfeaktion noch bis zum Abschluß der Young-Plan-Verhandlungen zur Neugestaltung der Reparationen zurückgestellt, in der Zwischenzeit jedoch weiter ausgearbeitet wurde. 416 4,2
Aufzeichnungen des Staatssekretärs in der Reichskanzlei über eine Aussprache zwischen Reichskanzler Müller, Hilferding, Popitz, Pünder, Ministerpräsident Braun, Höpker-Aschoff und Ministerialdirektor Brecht am 2. März sowie über eine Sitzung des Preußischen Staatsministeriums am 8. März 1929, BA, R 431/1799. 413 Wessling, Maßnahmen, S. 167 ff.; über Organisierung von Käuferstreiks in der Landwirtschaft ausführlich Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft, S. 80 ff. 414 Zwei Gesetzentwürfe über getrennte Hilfsmaßnahmen aus dem Reichsministerium des Innern für eine Reichskabinettssitzung am 25. März 1929, BA, R 431/1799. 415 Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Preußischen Staatsministeriums am 14. März 1929, BA, R 431/1799. 416 Aktenvermerk aus dem Reichsinnenministerium über eine kommissarische Beratung der künftigen Osthilfe am 23. Oktober 1929 BA, R 431/1880. Das Gesetz über wirtschaftliche Hilfe für Ostpreußen vom 18. Mai 1929 (RGBl. I 1929, S.97, Entwurf vom 27. April, Ani. zu den Verhandlungen d. Reichstags, Bd. 435, IV. Wahlperiode, Nr. 988) brachte für die nächsten drei Jahre den Erlaß sämtlicher Grundzinsschulden, Zinslastensenkungen, Reichsgarantien für weitere Umschuldungen in Ostpreußen bis zur Höhe von 50 Millionen RM, auch höhere Garantien zugunsten der Besitzerhaltung von Klein- und Mittelbetrieben und insgesamt 38 Millionen für Zwecke der Besiedlung, der Neu- und der Anliegersiedlung. Es schuf die Voraussetzung für die Einsetzung eines preußischen „Staatskommissars zur Stützung des ostpreußischen Gütermarktes", der auch am Umschuldungsverfahren beteiligt
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I. Wirtschaftliebe
Rahmenbedingungen und Krisen\eichen
In den ersten „Richtlinien für eine künftige Osthilfe der Reichs- und Staatsregierung", die im preußischen Innenministerium entstanden,417 erscheint die Intervention ganz auf wirtschaftliche Zwecke gerichtet, allerdings mit politischen Begründungen versehen. Sie sollte nicht mehr Wiedergutmachung von Schäden sein, die die veränderte Grenzziehung gebracht hatte, auch nicht „Abwehr" einer polnischen Gefahr, sondern vor allem anderen Hilfe auf lange Sicht zur Stärkung der Wirtschaft dieser Gebiete. Der polnischen politischen Propaganda, soweit sie sich gegen Deutschland richtete, sollte die Berechtigung dadurch genommen werden, daß man die Tatsachen veränderte, auf die sie sich stützte. Daher sollten große, nicht nur örtlich wirkende Maßnahmen in Betracht gezogen werden. Was hierunter fiel, blieb allerdings ganz im herkömmlichen Rahmen der traditionellen preußischen Kulturpflege. Die Kreditgewährung an Handel und Industrie galt als Eventualfall; doch der Landwirtschaft gegenüber bezog die preußische Regierung den Standpunkt, daß Preußen, das nunmehr Leistungen und Risiken bis zur Höhe von 100 Millionen RM übernommen habe, auf diesem Gebiete weitere Opfer nicht mehr zuzumuten seien.418 Eine gewisse Wendung wurde jedoch dadurch herbeigeführt, daß innerhalb einer heftigen und weithin erregt geführten Diskussion, die den Kampf hart aufeinander stoßender Interessen widerspiegelt, von der Schwerindustrie, durch den rheinischen Großindustriellen Paul Silverberg, der auf Ausgleich bedachte Plan vorgetragen wurde, die bisherige reparationspolitische Industriebelastung nach dem Dawes-Plan auch nach Annahme des Young-Planes auf weitere fünf Jahre bestehen zu lassen und hieraus ein „Sondervermögen" zu bilden. Frei von staatlichen Eingriffen sollte es für Finanzhilfen zur allgemeinen Entlastung der Landwirtschaft, vor allem zur Umschuldung hochverzinslicher Hypothekenkredite dienen. Dieses Programm419 brachte auf weitere Sicht — in werden mußte. Ausführlich über die Tätigkeit des Staatskommissars Rönneburg und die nachfolgenden Konflikte Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft, S. 285 — 306. 4 , 7 BA, R 431/1809. 418 Der preußische Finanzminister Höpker-Aschoff an Ministerpräsident Braun, 29. August 1929, und die zustimmende Antwort, Konzept mit Ausfertigungs- und Abgangs vermerk vom 19. September 1929, GehStAB, Rep. 90/1076. 419 Der Öffentlichkeit wurde dieses Projekt erstmals durch eine Rede Silverbergs in einer außerordentlichen Mitgliederversammlung des RDI am 12. Dezember 1929 bekanntgegeben. Vgl. Paul Silverberg, Reden und Schriften, S. 127f.; hierzu ausführlich Grübler, Spitzenverbände, S. 64 ff.; Weisbrod, Schwerindustrie, S. 465; zur unverzüglichen Reaktion der Landwirtschaftskammer für die Provinz Pommern Schriftwechsel in den Privatakten Silverbergs, BA, Nachl. Silverberg/574.
Ostsiedlung und Ostpreußenhilfe
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Anbetracht der kaum geahnten Folgen der heraufziehenden Krise — weder für die Landwirtschaft noch für die Industrie den erhofften Gewinn. Unter den absehbaren Verhältnissen aber besaß dieser Plan originelle und überragende Bedeutung: Er sollte die Positionen im Kampf um die Verteilung der ermäßigten Annuitäten auflösen; er sollte die zunehmend verschärfte Konfrontation zwischen der Industrie und der notleidenden, zunehmend auch in ihren Organisationen radikalisierten Landwirtschaft überbrücken; und schließlich sollte er die hartnäckige Front der äußerst radikalen Gegner des neuen Reparationsplanes mit seiner unvermeidbaren Annahme versöhnen: In der Agitation gegen den Young-Plan und alle „Tributlasten" fanden sich die großen agrarischen Organisationen der „Grünen Front" 420 sowohl mit den Deutschnationalen als auch mit den erst im Aufstieg begriffenen Nationalsozialisten gegen Regierung und Republik zusammen. Ein deutsch-polnisches Liquidationsabkommen trug dazu bei, die aufgeputschte Stimmung in den nationalen Kreisen der Ostgebiete in ständige Erregung zu versetzen. Auch den Reichspräsidenten ließ dies nicht unbeeindruckt. Aus dem dauernden Strukturproblem einer Region an der kritischen Ostgrenze Nachkriegsdeutschlands erwuchs eine fortgesetzt schwerere Belastung des Baus der gesamten Republik, aber auch der in Wirtschaftskreisen, unter Wissenschaftlern und Politikern sonst weit verbreiteten Überzeugung und konzeptionellen Grundauffassung, für Deutschland biete „die Wirtschaft die einzige Möglichkeit zum zukünftigen Aufstieg, die einzige Möglichkeit, unter den Mächten der Welt wieder zur Gleichberechtigung zu gelangen .,.". 421
420
Vgl. Beyer, Agrarkrise, S.69f. Ritter, Kapitalnot in der Landwirtschaft, S. 93. Ähnliche Auffassungen, die die Wirtschaftskraft — und nicht die militärische Macht — als dauerhafte Grundlage einer starken politischen Position Deutschlands betrachteten, lassen sich mehrfach belegen. So schon Cuno, vor seiner Kanzlerschaft, auf der Brüsseler Konferenz im Dezember 1920. Vgl. Rupieper, Cuno government, S. 17. 421
ZWEITER
TEIL
Regierungen und Parlamente zwischen Plebiszit und Präsidialgewalt
SECHSTES
KAPITEL
Die Krise der liberalen Parteien Die sich wiederholenden und auch länger dauernden Krisen der Reichsregierung, aus denen mehrmals Minderheitsregierungen hervorgingen, die sich nur mit Hilfe wechselnder Gruppierungen für kurze Zeit über Wasser zu halten vermochten, drängten erfahrenen Parlamentariern die Frage auf, wie eine Stabilisierung der Reichsregierung innerhalb der Legislaturperiode des Reichstags zu erreichen sei. Das französische Beispiel der extrem häufigen Regierungswechsel — allerdings mit weit geringerem Personalwechsel an den Spitzen der wichtigsten Ministerien — erlangte niemals die Bedeutung eines Beispiels oder gar Vorbildes. 1 Die Vereinigten Staaten von Amerika hingegen waren zu fern und zu wenig vertraut, als daß von ihnen nachhaltige Wirkungen auf die deutsche politische Vorstellungswelt ausgingen.2 1 Allein in den 70 Jahren der III. Republik (1870-1940) wurde Frankreichs Politik von 102 Regierungen geführt, auf die mithin eine durchschnittliche Amtsdauer von wenig mehr als acht Monaten entfiel. Allerdings bekleidete von Januar 1921 bis Januar 1932 ζ. B. Raymond Poincaré insgesamt fast fünfeinhalb Jahre das Amt des Ministerpräsidenten; Briand war insgesamt siebendreiviertel Jahre Außenminister und mehrmals für kürzere Zeit Ministerpräsident. Paul Painlevé, der zweimal an der Spitze der Regierung stand, verfügte insgesamt viereinhalb Jahre über das Portefeuille des Kriegsministers und mehrmals über andere wichtige Ministerämter. In diesen elf Jahren hatte Frankreich nur drei Außenminister, außer Briand Poincaré und Herriot, und — von kurzen Zwischenspielen abgesehen — nur vier Kriegsminister, außer Painlevé Maginot und — jeweils ein Jahr — Barthou und Nollet. Zur Problematik Gerhard Schulz, Souveräne Demokratien in der neueren Geschichte. Eine unsystematische Betrachtung in: Staat und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, hrsg. von Werner Pols, Stuttgart 1979, S.73ff. 2 Eine Darstellung des New Yorker Anwalts und vormaligen Solicitor General der Administration Harding, James Beck, die er nach seiner Zulassung zur Londoner Advokaten-Innung Gray's Inn dieser widmete, wurde ins Deutsche übersetzt und mit einer Einleitung des Reichsgerichtspräsidenten Walter Simons versehen, 100 numerierte Exemplare an hohe Beamte und Juristen verteilt: James M. Beck, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, hrsg. von Alfred Friedmann, mit einer Einleitung von Walter Simons, Berlin/Leipzig 1926. — Als nach dem Zweiten Weltkrieg erneut das Bedürfnis nach Kenntnis des amerikanischen Verfassungsrechts in Deutschland erwachte, bot sich der Wiederabdruck eines seinerzeit beachtenswerten, aber längst nicht mehr ausreichenden
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Schulz II
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II. Regierungen und Parlamente ^wischen Plebiszit und Präsidialgewalt
Die Koalitionen der Parteien, von denen zwar nur selten mehr als zwölf in den Reichstag gelangten, sich aber meistens vier oder fünf, einmal sogar sieben an der Reichsregierung beteiligten, waren viel zu groß, als daß die Divergenzen überwunden und dauerhafte Regierungen durch feste Regierungsbündnisse entstehen konnten. Die Weimarer Dreiparteienkoalition des Anfangs hatte die große Mehrheit, über die sie in der Verfassunggebenden Nationalversammlung verfügte, schon in der ersten Reichstagswahl, im Juni 1920, verloren und danach nie wiedergewonnen. Die Auswirkungen eines fragilen parlamentarischen Regierungssystems zeigten sich schon in der auffallig kurzen Amtszeit der Kabinette, die bei jeder Frage, die größere Erregung in die herrschende Meinung brachte, auseinanderzufallen drohten oder auch als Regierungsparteien gegeneinanderwirkten. Es ist kaum erstaunlich, daß das Ansehen sowohl der Reichspolitik als auch das des Reichstags und der parlamentarischen Parteien zunehmend unter dieser Labilität litt. Zum Radikalismus tendierende entschiedene Oppositionen operierten auch aus diesem Grunde fast von Anbeginn unter günstigen Voraussetzungen. Hinter dem bewegten Vordergrund der wechselnden Koalitionen und des Hin- und Herflutens der politischen Meinungen behaupteten sich starke wirtschaftliche Interessengruppen, 3 die deutlich geprägte, schon zur Tradition entwickelte Grundstrukturen fortbildeten und erweiterten und während der zwanziger Jahre den Konzentrationsprozeß der wirtschaftlichen Unternehmungen auf dem weiten Feld der Organisationen fortsetzten, 4 es nahezu lückenlos auszufüllen strebten und an hintergrünWerkes an, das 100 Jahre zuvor erschienen war: Eduard Reimann, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika im Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat, Weimar 1855, ND Stuttgart 1955. 3 Dies ist für die zweite Phase der Republik schon von Michael Stürmer hervorgehoben worden, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik; vgl. die Zusammenfassung S. 278 ff. Für einige wichtige Aspekte Weisbrod, Schwerindustrie in der Weimarer Republik; für die anschließenden Jahre besonders Grübler, Die Spitzenverbände. 4 S. oben, drittes Kapitel, bes. Anm. 214, 226/8. Neben der genannten Literatur seien hier ergänzend aus der Fülle der Darstellungen für das 20. Jahrhundert hervorgehoben: Zunkel, Industrie und Staatssozialismus; Feldman, Army, Industry and Labor in Germany 1914 to 1918; ders., Iron and Steel in the German Inflation; Dieter Gessner, Agrarverbände in der Weimarer Republik. Wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen agrarkonservativer Politik vor 1933, Düsseldorf 1976; Martin Schumacher, Land und Politik, bes. zweiter Teil; Heinrich Potthoff, Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 66), Düsseldorf 1979; Hartwich, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1 9 1 8 - 1 9 3 3 ; Michael Schneider, Unternehmer und Demokratie. Die freien Gewerkschaften in der unternehmerischen Ideologie
Die Krise der liberalen
Parteien
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digem Einfluß ständig gewannen. Allerdings wurde eine gelegentlich angestrebte interessenständische Einheit oder Geschlossenheit nie erreicht, so daß die Strukturen eines umstrittenen und in heiklen Situationen auch kontrovers wirkenden Pluralismus der Spitzenverbände erhalten blieben. Doch innerhalb des parlamentarischen Koalitionsparteiensystems nach der Verfassung der Republik bildeten sich nach und nach „polykratische" Strukturen von teils monolithischer Härte, sobald sich Interessenpolitik mit verfassungsrechtlich zulässiger oder gar reichsgesetzlich begründeter Finanzautonomie zu vereinigen vermochte. Dies ist zuerst von Johannes Popitz erkannt und aus der Sicht der Reichsfinanzpolitik dargestellt und problematisiert worden, 5 was im historischen Rahmen unzulänglich erscheinen mag, aber doch der Einsicht der politischen Kräfte seiner Zeit vorauseilte. Geht man der Frage nach den Ursachen dieser Verhältnisse nach, so erklären sie sich aus der historischen Prävalenz des quasiständischen Interessensystems im 19. Jahrhundert, das sich neben und nach dem Aufkommen von Parteien in Gestalt stetig vordringender organisierter Interessenverbindungen behauptete. Aber ebenso wie die traditional fixierten, teils mit dem Parteiwesen verbundenen, teils mit ihm rivalisierenden Interessenorganisationen das Gesamtsystem beeinflußten, trugen auch traditionale Belastungen der Parteiengeschichte, die bis zum Zusammenbruch der Monarchie außerhalb der Möglichkeiten parlamentarischer Regierungsbildung verlaufen war, 6 sowie der Geschichte des Parlamentader Jahre 1918 — 1933 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, 116), Bonn-Bad Godesberg 1975. 5 Zuerst in einer Vorstudie von Johannes Popitz, Der Finanzausgleich und seine Bedeutung für die Finanzlage des Reichs, der Länder und Gemeinden (Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie), Berlin 1930, S.6: „Es ist ... nicht allein das föderative Moment, das die Spaltung der öffentlichen Willensbildung charakterisiert, wie man es im allgemeinen, indem man das Reich-Länder-Problem herausstellt, auszusprechen pflegt, sondern es ist in der Tat in viel weiterem Sinne ein polykratisches Moment. Es ist die fast unübersehbare Vielheit untereinander nicht hinreichend verbundener Willensträger mannigfachster Art und verschiedenster rechtlicher Qualifikation, die im Vordergrunde dieser Erkenntnis steht." Ders., Finanzpolitische Aufgaben, in: Deutsche Juristenzeitung, 36. Jg. (1931), Sp. 11 — 17; ders., Gesetzgeberische Zukunftsaufgaben, a. a. O., Sp. 385—393. 6 Vgl. Werner Conze, Die deutschen Parteien in der Staatsverfassung vor 1933, in: Das Ende der Parteien, hrsg. von Erich Matthias und Rudolf Morsey, Düsseldorf 1960, S. 18 (2. Aufl., TB, 1979); Thomas Nipperdey, Über einige Grundzüge der deutschen Parteigeschichte, in: Festschrift für Hans Carl Nipperdey, München 1965, Bd. II, S. 836 ff.; die wichtige organisationsgeschichtliche Darstellung von Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 18), Düsseldorf 1961; Bracher, Auflösung S. 71; G. A. Ritter, Kontinuität und Umformung. 15»
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II. Regierungen und Parlamente ¡yvischen Plebiszit und Präsidtalgewalt
rismus selbst, der in seiner Schwerfälligkeit und inneren wie äußeren Unzulänglichkeit scharfsichtigen Kritikern große Angriffsflächen bot, 7 Schuld an den Verhältnissen. Auch die Umgestaltung des Wahlrechts nach der Revolution zeitigte einige ungünstige und vor allem unvorhergesehene Folgen. 8 Das Reichswahlgesetz vom 6. März 1924, das auf ein Gesetz der Ministerzeit KochWesers vom 27. April 1920 zurückging, das wiederum aus dem Wahlgesetz für die deutsche Nationalversammlung von 1919 entwickelt worden war, hatte das Mehrheitswahlrecht des Kaiserreiches mit seiner großen Zahl kleiner Wahlkreise nach einer überalterten, aus den Tagen des Norddeutschen Bundes und der Reichsgründung stammenden Wahlkreisgeographie abgeschafft. Vor allem für die Sozialdemokraten war das alte Wahlrecht äußerst nachteilig gewesen. Sie hatten stets weniger Reichstagsmandate erhalten, als dem erreichten Stimmenanteil entsprochen hätte; dies lag daran, daß sie in vielen Wahlkreisen wohl über respektable Minderheiten verfügten, aber nur in einem kleineren Teil der Wahlkreise ihre Kandidaten durchbringen konnten, weil bis 1912 auch Wahlbündnisse gegen sie die Regel waren. Im Grunde stellte sich hierin aber weniger ein Problem des Wahlrechtes im Deutschen Reich — ganz abgesehen von der Wahlrechtsfrage in Preußen — als die Frage der Beziehungen der Parteien und ihrer Koalitionsfahigkeit. Aber Linksliberale und Sozialdemokraten, soweit sie parlamentarisch und — im politischen Sinne — demokratisch dachten, versuchten, diese Frage durch ein neues Wahlrecht auszuschalten, und verließen sich auf für sie günstige Wirkungen des allgemeinen Wahlrechtes nach Parteilisten, wohl in der Hoffnung, damit Koalitionsproblemen enthoben zu sein. Doch diese stellten sich fortan in verschärfter Form.
7 Hierzu der Bericht des aus eigenen Erfahrungen schöpfenden Hellmuth v. Gerlach, Das Parlament (Die Gesellschaft, 7), Fankfurt a. M. 1907. 8 Unentbehrlich immer noch, auch in seiner kritischen Betrachtung Alfred Milatz, Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik (Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, 66), Bonn 1965, S. 40—58; dort auch die wichtigsten Quellen zum Reichswahlrecht. Diese auszugsweise neuerdings auch bei Jürgen Falter, Thomas Lindenberger, Siegfried Schumann u.a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1 9 1 9 - 1 9 3 3 , München 1986, S . 2 6 - 3 1 . Behandlung in weiter historischer Perspektive durch Hans Fenske, Wahlrecht und Parteiensystem. Ein Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte, Frankfurt a. M. 1972. Zum Folgenden geben für das Beispiel der DDP die Schilderungen ihrer Wahlkämpfe Aufschluß, die in den unveröffentlichten Erinnerungen von Dietrich Mende enthalten sind, in die der Verf. Einblick nehmen konnte.
Die Krise der liberalen Parteien
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Aus ihrer Vorweltkriegserfahrung heraus war das neue Verhältniswahlrecht geschaffen, eine gänzlich neuartige Wahlkreiseinteilung und eine Verrechnung von Reststimmen eingeführt worden. Sowohl für die Aufstellung der Kandidaten als auch für die Auszählung und Auswertung der Wahlergebnisse teilte das Reichswahlgesetz das Reichsgebiet seit 1920 in 35 verhältnismäßig große Wahlkreise mit hoher, aber unterschiedlicher Bevölkerungszahl ein. In Wirklichkeit fielen jedoch bald neue und ganz andere Wirkungen ins Gewicht. In den sehr großen Wahlkreisen konnten sich kommunale oder lokale Einflüsse so gut wie gar nicht auswirken. Das Honoratiorenelement der bürgerlichen Parteien trat infolgedessen zugunsten dauerhafter, festgefügter, stetig arbeitender, zunächst nicht nur parteieigener Organisationen, aber auch zugunsten einzelner, überragender, weithin bekannter Namen zurück, die häufig in mehreren Wahlkreisen die Parteilisten anführten, während die in den Reichstag einrückenden Abgeordneten der großen und erfolgreichen Parteien kaum aus der Anonymität herauszutreten brauchten. Die Ermittlung des Wahlergebnisses war rechnerisch begründet und in seiner schlichten Konstruktion durchschaubar, was jedoch weder von der Motivation der Wähler noch von der Auswahl und Aufstellung der Kandidaten gesagt werden kann; beide entzogen sich dem Einblick und traten auch nicht in kausale Beziehungen zueinander. War das Reichstagswahlrecht der Vorkriegszeit so angelegt, daß Bedeutung und Wirkung der Persönlichkeiten, die sich der Wahl stellten, weit überschätzt werden konnten, so sank im Nachkriegswahlrecht die Person des Kandidaten hinter dem Namen — und dem Erfolg — seiner Partei und bald hinter Schlagworten herab. Die Beziehungen zwischen Abgeordneten und Wählern gingen verloren; die Wahlentscheidung wurde durch Großorganisationen mediatisiert, die für den Erfolg sorgten, aber auch für die Aufstellung der Listen unter Führung der vermeintlich zugkräftigsten Spitzenkandidaten wie für den Einsatz von Wahlrednern. Presse und Versammlungen dienten der Propaganda; doch in den Tageszeitungen drangen auch starke Stimmungen gegen die Parteien der Weimarer Koalition durch, die nicht immer mit den Positionen gegnerischer Parteien identisch waren. Die schlagkräftigsten Massenparteien, die sich auf feste Breitenorganisationen stützten, Sozialdemokraten, Kommunisten, später die Nationalsozialisten, teilweise die Deutschnationalen, in Bayern die Bayerische Volkspartei und in den anderen überwiegend katholischen Gebieten das Zentrum, erreichten in jeder neuen Reichstagswahl insgesamt einen immer größer werdenden Anteil der gültigen Stimmen. Die übrigen Parteien schnitten insgesamt immer
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II. Regierungen und Parlamente çwischen Plebiszit und Präsidialgewalt
schlechter ab und vermochten schließlich nur noch als Zünglein an der Waage Einfluß zu üben. Das Reichswahlgesetz wirkte sich aber nicht nur zugunsten der großen, breit organisierten Massenparteien, sondern an erster Stelle zugunsten derer aus, die im ganzen Reichsgebiet Stimmen zu sammeln vermochten. Es berücksichtigte auch kleinste Gruppen, die nur in wenigen oder gar nur in einem einzigen der 35 Wahlkreise eine Liste aufstellten oder in,_ vielen Wahlkreisen nur wenige Stimmen erhielten. Um die Zulassung einer Liste in einem der großen Wahlkreise zu erreichen, genügten 500, für eine Reichsliste sogar nur 20 Unterschriften. Auf 60000 Stimmen entfiel ein Reichstagsmandat. Das ermutigte kleine und auch politsch absurde Unternehmungen zur Aufstellung eigener Wahllisten. Die Bemühungen der beiden größeren liberalen Traditionsparteien, der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der Deutschen Volkspartei (DVP), Traditionen und Kräfteverhältnisse der Parteiengeschichte aus eigener Kraft zu revidieren und stärkere Konzentrationen oder Zusammenfassungen anzustreben, wurden nie gänzlich aufgegeben, blieben jedoch ohne Ergebnis. Während sich die DDP spätestens 1928 eingestehen mußte, daß sie sich in einer Existenzkrise befand, nachdem sie in der Reichstagswahl am 20. Mai nur noch 4,8 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten hatte und ihre Erwartungen aufs bitterste enttäuscht sah, erlitt die DVP mit einem Stimmenanteil von 8,7 Prozent (7. Dezember 1924: 10,1) zunächst noch einen geringeren Verlust; sie behielt 45 Mandate, die DDP nur 25. In der gleichen Reichstagswahl vermochten die Sozialdemokraten ihren Stimmenanteil von 26 (1924) auf 29,8 Prozent und die Zahl ihrer Mandate von 131 auf 153 zu steigern. Doch infolge der Verluste der Demokraten verfügte einerseits eine bürgerliche Koalition — unter Einschluß von Zentrum und Bayerischer Volkspartei — über keine ausreichende parlamentarische Basis; anderseits reichte der sozialdemokratische Erfolg nicht aus, um der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) noch einmal zu einer tragfahigen Mehrheit im Reichstag zu verhelfen. Die Bildung der neuen Reichsregierung, die mehr Zeit beanspruchte als das Zustandekommen irgendeiner anderen vorher, gelang zunächst nur in Gestalt eines Kabinetts ohne Koalitionsbindungen. Schwierigkeiten größerer wie kleinerer Art belasteten die gesamte, außenpolitisch von den Verhandlungen über den Young-Plan und zum Haager Abkommen bestimmte Amtszeit dieser Regierung. Anders lagen die Verhältnisse in dem größten deutschen Lande, in Preußen, das bis 1932 von einer scheinbar äußerst stabilen Koalition aus
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SPD, Zentrum und DDP unter dem Sozialdemokraten Otto Braun regiert wurde. Während im Reich Regierungskrisen permanente Erscheinungen blieben und sich mit ihren mitunter dramatischen Begleiterscheinungen tief in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit eingruben, schien Preußen hiergegen gefeit. Hier gab es niemals eine Beteiligung der Deutschnationalen an der Regierung; die Weimarer Koalition regierte von 1925 bis 1932 ununterbrochen, in den Jahren 1921 bis 1925, unter Beteiligung der DVP, zur „Großen Koalition" erweitert. In keinem deutschen Parlament befanden sich Deutschnationale und schließlich auch Nationalsozialisten bis zum Frühjahr 1932 in einer so schwachen Position wie innerhalb Preußens, obgleich in den sechs preußischen Ostprovinzen die entschieden antiweimarischen konservativen Kräfte des ostelbischen Grundbesitzes nach wie vor eine wirtschaftlich wie politisch beherrschende Stellung innehatten und hier die DNVP von 1924 bis 1930 die höchsten Stimmenanteile errang, ehe diese Wahlkreise von der NSDAP erobert wurden. Ihre stabile Mehrheit in Preußen verdankte die Weimarer Koalition aber doch in erster Linie einer Reihe glücklicher Umstände. Im Gegensatz zum Reich — wo der Reichstag vorzeitig aufgelöst wurde — fand in Preußen im Krisenjahr 1930 keine Neuwahl des Landtags statt; infolgedessen konnten die herrschenden parlamentarischen Verhältnisse bis April 1932 bestehen. Das preußische Landes Wahlgesetz 9 wich aber auch vom Reichswahlgesetz, dem es nachgebildet war, etwas ab. Die großen Wahlkreise waren zwar in Preußen wie im Reich dieselben; doch nach dem Reichswahlgesetz entfiel auf je 60 000 Stimmen im Wahlkreis ein Mandat, in Preußen auf jeweils 40000. Eine Korrektur des Ergebnisses, eine Verwertung der „Reststimmen" erfolgte sowohl bei Reichstags- als auch bei preußischen Landtagswahlen auf zwei Stufen: Die 35 Wahlkreise waren für den Reichstag in 16 Wahlkreisverbänden zusammengefaßt, in denen 60000 der Reststimmen, auch schon ein Rest von 30000 ein weiteres Mandat ergaben; für Ostpreußen entfiel diese Stufe. Schließlich wurden die hierbei unberücksichtigten Reststimmen auf Reichsebene summiert und in der gleichen Weise berücksichtigt. In Preußen gab es neun Wahlkreisverbände, fand aber ebenfalls eine Summierung der Reststimmen auf Landesebene statt, wobei ein letzter Rest von 20000 Stimmen noch ein Mandat ergab. 9 Fassung vom 28. Oktober 1924, Preußische Gesetzsammlung 1924 S. 671, und die Landeswahlordnung vom 29. Oktober 1924 (a.a.O., S.684), auf der Grundlage des Reichswahlgesetzes vom 27. April 1920 und des preußischen Landeswahlgesetzes vom 3. Dezember 1920, über deren Vorgeschichte Schanbacher, Parlamentarische Wahlen, S. 90 ff., berichtet.
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II. Regierungen und Parlamente zwischen Plebiszit und Präsidialgewalt
Von gewisser Bedeutung erwies sich eine merkwürdige, auf den ersten Blick unscheinbare und bisher niemals beobachtete Differenz einschränkender Bestimmungen. Im Reich war die Zuteilung eines Mandats im Wahlkreisverband lediglich an die Voraussetzung geknüpft, daß mindestens 30000 Stimmen in einem der zugehörigen Wahlkreise auf die betreffende Liste („Wahlvorschlag") entfallen waren. Für die Reststimmenverrechnung auf Landesebene bestand jedoch in Preußen eine andere Höchstgrenze: Die Summierung der nicht verwerteten Reststimmen durfte nicht mehr Abgeordnetensitze ergeben, als ein Wahlvorschlag in den Wahlkreisen insgesamt erlangt hatte. Was diese komplizierten Regelungen im Einzelfall bedeuteten, läßt sich daraus ersehen, daß die NSDAP bei der Landtagswahl in Preußen am 20. Mai 1928 mit 2,9 Prozent der gültigen Stimmen nur acht Mandate erhielt, während sie in der Reichstagswahl des gleichen Tages mit 2,6 Prozent der gültigen Stimmen 12 Mandate gewann. Bei konsequenter Anwendung der Bestimmungen des Reichswahlrechts auch in Preußen glaubte sie, für sich 17 Sitze errechnen zu können, was der Zwei-Stimmen-Mehrheit der Parteien der Weimarer Koalition im preußischen Landtag und vielleicht auch der Amtszeit ihrer Regierung schon damals ein Ende gesetzt hätte. Die politischen Verhältnisse in Preußen waren nicht wesentlich anders beschaffen als im Reich. Die längere Stabilität der parlamentarischen Mehrheit resultierte aus den geringen Abweichungen des Wahlrechts Preußens von dem des Reiches. 9a Da sich die preußischen Bestimmungen in diesem Fall von einiger Tragweite erwiesen, erhob die NSDAP beim Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches Klage auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmungen. Zu gleicher Zeit rief die DNVP das Wahlprüfungsgericht beim Preußischen Landtag an und beantragte eine Nachprüfung der Landtagswahl. 10 Das Wahlprüfungsgericht entschied nach einiger Zeit, 9a Die beiden Wahlvorschläge „NSDAP" und „Völkisch-Nationaler Block" hatten insgesamt 552560 Stimmen gewonnen, aber nur 8 Abgeordnete. Stat. Jahrb. f. den Freistaat Preußen, 25, S. 320 ff. Die einschlägigen Bestimmungen des Landeswahlgesetzes vom 3. Dezember, die unverändert blieben, G S 1920, S. 564 f., 567 ff. 10 Nach den zugänglichen Akten im Bundesarchiv eingehende Darstellung Gerhard Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 258 ff.; Literatur und Forschungen ließen diesen Fall im Hinblick auf das Ergebnis der Landtagswahl in Preußen 1928 völlig unberücksichtigt. Dies gilt im wesentlichen auch für die ausführlichen wahlgesetzlichen Betrachtungen von Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919 — 1932. (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1985, S. 226—323, der der in gewisser Hinsicht entscheidenden Wahl von 1928 die geringste Aufmerksamkeit, der NSDAP hierbei überhaupt keine widmet.
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daß die Wahl gültig sei. Doch das Urteil des Staatsgerichtshofs wurde dadurch kompliziert und vorbelastet, daß er im März 1929 nach einer gemeinsamen Klage der NSDAP und der Volksrechtspartei gegen eine Sperrklausel des Württembergischen Wahlgesetzes zugunsten der Klageführenden entschied, nach dem Wortlaut von Artikel 17 Absatz 1 der Reichs Verfassung11 eine unbegrenzte Stimmen Verwertung nach dem Muster des Reichswahlgesetzes zum Grundsatz erhob und sich dahingehend festlegte, „daß der Begriff der Gleichheit des Wahlrechts formal gefaßt werden muß ... Wird eine Verrechnung der Reststimmen eingeführt, dann muß sie für alle Parteien gleich sein". 12 Die Auswirkungen dieser Entscheidung ließen sich kaum absehen. Denn eine Verrechnung von Reststimmen war in den meisten Wahlgesetzen der Republik in dieser oder jener Form verankert worden; sie hätte wohl samt und sonders auf mögliche Sperrwirkungen hin überprüft und gegebenenfalls entsprechend abgeändert werden müssen. Für Preußen aber stand die Existenz der Weimarer Koalition unter der Führung Otto Brauns auf dem Spiel. Das preußische Justizministerium setzte sich mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln zur Wehr. Schon die erste Stellungnahme ging von der Feststellung aus, daß „jede Verfassung, insbesondere aber die Weimarer Verfassung ... die Fixierung des Ergebnisses eines Kampfes sich widerstreitender Prinzipien" darstelle und „daß der Inhalt einer grundlegenden Verfassungsbestimmung ... entscheidend durch diese Grundsätze bestimmt" sei. „Die Bedeutung" dieser Verfassungsbestimmungen könne daher nicht „nach dem formalen Sinn festge11 Art. 17 Abs. 1 lautete: „Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben. Die Volksvertretung muß in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung." Die Bestimmung „nach den Grundsätzen der Verhältniswahl" stimmte genau mit der über die Reichstagswahl nach Art. 22 der Weimarer Reichsverfassung überein, die von Anbeginn dahingehend ausgelegt wurde, daß „die Gesamtzahl der Abgeordneten jeder Partei ... zur Gesamtzahl der für die Partei (ihre Wahlvorschläge) ... abgegebenen Stimmen entweder innerhalb des ganzen Reiches oder wenigstens innerhalb großer Wahlbezirke im gleichen Verhältnis stehen" muß. Eine Begrenzung der Stimmenverwertung war danach grundsätzlich ausgeschlossen. So von dem für Verfassungs- und Wahlrechtsfragen im Reichsamt des Innern und danach im Reichsinnenministerium zuständigen Geheimen Oberregierungsrat Alfred Schulze, Das Reichstagswahlrecht, Berlin 1924, S. 65 f., und vorher ders., Das Wahlrecht für die verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung, Berlin 1918; vgl. auch Fritz Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919, 3. Aufl. Berlin 1928, S. 142, 164. 12 Abdruck der Entscheidung vom 22. März 1929, BA, Ρ 135/6249.
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stellt, sondern nur nach ihrem geschichtlichen und staatspolitischen Gehalt beurteilt werden". Es gebe keine zwingende, „sich aus dem Wesen der demokratischen Wahl ergebende Folgerung, daß bei der letzten Auszählung der Stimmen auch der letzte Rest seinen Ausdruck in einem Mandat findet". Hingegen sei bei diesen Erörterungen §32 des preußischen Landeswahlgesetzes zu berücksichtigen und gebe es andersartige, „schwerwiegende staatspolitische Gründe: nämlich das Emporkommen der Splitterparteien zu vermeiden". 13 Hier dürfte dieser Grundsatz zum ersten Male in der deutschen Verfassungsgeschichte an bedeutsamer Stelle — und zwar in Beziehung zum Emporkommen des Nationalsozialismus — ausgedrückt worden sein. Die vom Justizministerium aufgebotenen Gutachten angesehener Staatsrechtler, wie Hermann Heller, das sofort gedruckt wurde, 14 und Gerhard Anschütz, das nicht gedruckt vorliegt, aber hier doch als das interessantere erscheint, verfestigten und verfeinerten diesen Grundgedanken. Für Anschütz, der den verfassungspolitischen Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Parlaments hervorhob, entschied „in erster Linie die Herstellung und Erhaltung der Voraussetzungen, unter denen das der Reichs- und der preußischen Verfassung zugrundeliegende parlamentarische Regierungssystem ordnungsgemäß funktionieren kann". 15 Historisch blieb die These von Anschütz — wohl bewußt — hinter der Argumentation des preußischen Justizministeriums zurück. Verfassungspolitisch bedeuteten beide Stellungnahmen die Überwindung des Kompromißcharakters der Verfassung, entweder, so bei Anschütz, zugunsten eindeutiger Entscheidung für die funktionsfähige parlamentarische Regierung oder — so eher das Justizministerium — zugunsten der Erhaltung der Kontinuität der Koalitionsmehrheit. Gewiß wirkten sich hierin schon Erfahrungen mit dem Reichswahlrecht aus, die Preußen erspart bleiben sollten. Wer der Schwächen der Reichsregierung inne wurde, mußte doch wohl die Meinung von Anschütz gelten lassen, „daß eine zu weit gehende ,Gerechtigkeit' gegen die Splitter- und Zwergparteien zwangsläufig dazu führen müßte, die Regierungsbildung bis zur Unerträglichkeit zu erschweren und letzten Endes das parlamentarische Regierungssystem funktionsunfähig zu machen, es geradezu zu sabotieren", aber auch die
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Referentenvorschlag im Preußischen Justizministerium vom 2. Juli 1929, BA, Ρ 135/
6249. 14 Hermann Heller, Die Gleichheit in der Verhältniswahl nach der Weimarer Verfassung. Ein Rechtsgutachten, Berlin, Leipzig 1929. 15 Anschütz, Gutachten vom 19. September 1929, BA, Ρ 135/6249.
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offensichtlich gegen den Staatsgerichtshof gerichtete Mahnung, „die in der Verfassung verankerten Staatsnotwendigkeiten nicht aus dem Auge zu verlieren. Er möge sich bewußt bleiben, daß das parlamentarische Regierungssystem keine bloße politische Forderung, sondern ein System von Rechtsgrundsätzen darstellt, zu dessen Schutz die Verfassungsgerichtsbarkeit ebenso berufen ist wie zum Schutze anderer Rechtsgrundsätze, die in der Verfassung ihren Ausdruck gefunden haben". Für den infrage stehenden Fall hieß das, daß der Grundsatz der Aktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems dem Grundsatz der Wahlgleichheit und -gerechtigkeit nicht unter-, sondern übergeordnet werden mußte. Diese Äußerungen verfehlten nicht ihre Wirkung. Der Staatsgerichtshof hatte sein Urteil für Ende Januar 1930 angekündigt, vertagte aber die Entscheidung unter dem Eindruck der gewichtigen Argumente. Tatsächlich ist sie nie erfolgt, wurden Klage und Problematik durch die Ereignisse und die Neuwahl des Landtags im April 1932 überholt. So kam der Staatsgerichtshof einigermaßen leidlich und ohne Verlust seines Ansehens, wenn auch auf problematische Weise aus der Affäre. Dies bezeugt, wie neu und überraschend die von Anschütz formulierten Erfordernisse des durch die Reichsverfassung gegebenen parlamentarischen Regierungssystems erschienen. Derartige Einsichten galten unter Juristen bei weitem nicht unumstritten. Doch die regierende preußische Mehrheit verdankte ihnen die Verlängerung ihrer Lebensdauer bis 1932. Einen Schutz der Funktionsfahigkeit des parlamentarischen Regierungssystems, den die vom preußischen Justizministerium aufgebotenen Gutachter der preußischen Seite vertraten, sah das Reichstagswahlrecht jedenfalls nicht vor. Die Auswirkungen der zur Vollendung des Prinzips entwickelten Formen des allgemeinen Wahlrechts, das die Nationalliberalen der Kriegs- und Vorkriegszeit gefürchtet und bekämpft hatten, entzog den Parteien des Honoratiorentyps nach und nach den Boden, da sie weder über leistungsfähige Instrumente zur intensiven organisatorischen Durchdringung starker Bevölkerungsgruppen verfügten, noch sie zu entwickeln und sich der veränderten Situation anzupassen vermochten. Zuerst und am stärksten wurde die DDP in Mitleidenschaft gezogen. 16 16 Vgl. Milatz, Das Ende der Parteien im Spiegel der Wahlen 1930 bis 1933, in: Matthias, Morsey (Hrsg.), Das Ende der Parteien 1933, S. 774; ders., Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik. Zur Geschichte der DDP im übrigen Werner Stephan, Aufstieg
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Zu einem weiteren, historisch verhängnisvollen Fehler in der Konstruktion des parlamentarischen Regierungssystems des Reiches, der sich aber eher aus der Geschäftspraxis des Reichstags ergab als unmittelbar aus Bestimmungen der Reichsverfassung, wurde die Usance, den Amtsantritt einer Reichsregierung von der Zustimmung der Reichstagsmehrheit abhängig zu machen. Die für das parlamentarische Regierungssystem charakteristische Vertrauensklausel erhielt durch diese Praxis eine negative Ausformung, die, bei unbegrenzter Anwendung, das parlamentarische System selbst gefährden und sogar zerstören konnte. Die parlamentarische Regierungsweise bedarf, um sich nützlich entfalten zu können, immer des Respekts vor den unabdingbaren Notwendigkeiten ihrer eigenen Existenz und Autorität. Für die Lebensfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems ist nicht nur der stete Fluß und schon gar nicht der rasche Wechsel der regierenden Kräfte entscheidendes Kriterium, sondern in erster Linie doch die Gewähr, daß Wechsel möglich ist, aber dennoch regiert wird. Dies setzt meist voraus, daß die Parteien, die das parlamentarische System in Bewegung halten, einigermaßen feste Größen darstellen und dauerhafte Koalitionen zu bilden imstande sind. Da die Reichsregierungen, wie wir gesehen hatten, stets von mehreren Parteien getragen werden mußten und stets mehrere Parteien in mehr oder minder entschiedener Opposition der Regierung gegenüberstanden und sie zu stürzen versuchten, herrschte fast immer ein Mehrfrontenkrieg zwischen den Parteien, der in wechselnder Schärfe und auf verschiedenen Ebenen geführt wurde. Die DDP neigte meist dazu, die DVP in Koalitionen, an denen sie beteiligt war, ebenfalls einzubeziehen. Das Zentrum sah sich vor der Wahl, entweder mit der Sozialdemokratie in eine Regierung einzutreten oder die Beziehungen zu Parteien außerhalb der Weimarer Koalition, in erster Linie zur DNVP zu glätten, eine Alternative, die sich dann in ähnlicher Form hinsichtlich der DVP wiederholte, sofern man nicht darauf verfiel, außer der Β VP, die seit 1925 wieder ständiger Koalitionspartner war und die Leitung des Reichspostministeriums in den Händen hatte, auch die kleineren Parteien, die Wirtschaftspartei oder Bauernpartei, heranzuholen und gegen Zugeständnisse an der Regierung zu beteiligen. Doch dies ließ die Regierungskoalitionen anfallig und brüchig werden, so daß sie im politischen Tageskampf nicht eben viel Widerstandskraft zu entwickeln vermochten. Kamen sie jedoch überhaupt nicht in einer Form zustande, die eine ausreichende Mehrheit im und Verfall des Linksliberalismus 1918—1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei, Göttingen 1973.
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Reichstag gewährleistete, was sich einige Male ereignete, dann mußte auch die Minderheitsregierung doch sogleich zu Beginn ihrer Amtszeit vor den Reichstag treten, um sein Vertrauen einzuholen.16a Daß der Reichstag das letzte Wort bei der Regierungsbildung behielt, entsprach der Vorstellung, die Reichsregierung gehe aus seiner Mitte hervor. Doch in Wirklichkeit sanktionierte er — mehr oder weniger glücklich und mit manchen Halbheiten — nur die Regierungsbildung, die aus Verhandlungen zwischen Bevollmächtigten einzelner Fraktionen, mitunter auch unter Beteiligung von außerhalb des Reichstags stehenden Persönlichkeiten hervorging. Das Gesetz des Handelns vermochte der Reichstag in pleno in Wirklichkeit gar nicht in Gänze auszuüben. Aber indem er daran festhielt, so zu tun, als ob es in seiner Hand und nur in seiner Hand läge, schwächte er die Regierungen mehr als gut war. Im Hinblick auf die Formen, in denen der Reichstag einer Regierung die Chance gab, ihr Amt zu übernehmen, oder ihr das Vertrauen, die Voraussetzung ihrer Amtsführung, entzog, entwickelte er bemerkenswert feine Unterschiede, die in den Abstimmungsergebnissen, die die stenographischen Berichte der Reichstagsverhandlungen festhalten, zwischen den Entscheidungen über Sieg oder Niederlage — der Regierung oder der Antragsteller — auf eine ganze Skala von Stufen des Übergangs fixiert wurden. Daß die Mehrheit das Vertrauen aussprechen und die Regierung dadurch in ihrem Amt bestätigen — oder festigen — konnte, darf man wohl als Normalfall ansehen, er wurde jedoch nicht zum Regelfall. Wiederholt ließ sich die Mehrheit nur für eine ausgehandelte, wenig verbindliche Billigungserklärung zugunsten der Reichsregierung gewinnen, was jedoch nichts über die Haltung der Parteien während der Amtsführung der Regierung besagte, die dann notgedrungen zwischen den Parteien lavieren mußte, sobald sie die Zustimmung des Reichstags benötigte. Diese Situation förderte bereits — nolens volens — die Neigung mancher der Reichsregierungen, in Krisenzeiten ihre Politik vor den ungewissen Effekten der Einwirkung aus dem Reichstag zu schützen. Schließlich konnte die Regierung jederzeit in eine Kampfabstimmung hineingedrängt werden, wenn aus der Mitte des Reichstags ein Mißtrauensantrag eingebracht wurde. Doch auch in diesen Fällen wurden mehrere Möglichkeiten erprobt. In einigen Fällen erhielt die Reichsregierung das „Vertrauen" lediglich in Form einer Billigungserklärung ausgesprochen. Zweimal wurde dies 16a Das Folgende beruht auf systematischer Auswertung aller Abstimmungen zu Regierungsentscheidungen 1920—1929 auf Grundlage der Stenogr. Berichte d. Verh. d. Deutschen Reichstags.
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sogar ausdrücklich mit außenpolitischen Gründen motiviert, was als deutliche Einschränkung gelten sollte. Mehrmals begnügte sich der Reichstag damit, die Regierungserklärung lediglich zur Kenntnis zu nehmen, ohne sich über die Regierung auszusprechen oder zu entscheiden, was nur eine Amtszeit von ungewisser Dauer verhieß. Nach der Reichsverfassung kam es darauf an, daß die Regierung das Vertrauen erhielt. Aber die Vielfalt der Entscheidungsformen, die sich ausbildete, bezeugt eine Mehrzahl von Motiven, von Vorbehalten und Taktiken, aber auch von Gefahrdungen auf dem schmalen Grat der Anerkennung, auf dem alle Regierungen der Republik in ihrer Amtszeit wandelten, stets dem Sturze näher als einer überschaubaren Regierungsperiode. Es kam aber auch vor, daß Anträge, die wenig Hoffnung auf Erhalt der Regierung ließen, in der Abstimmung überraschend durchfielen, nicht weil eine Mehrheit die Regierung zu unterstützen bereit war, sondern weil sie noch kein Interesse an ihrem Sturz hatte. Angesichts dieser bunten Vielfalt der Erscheinungsweisen verbreitete der Reichstagsparlamentarismus um sich eine Atmosphäre diffuser und unberechenbarer, zunehmend als gefährlich beurteilter Dezisionen. Eine zur Regierung befähigte stete Gemeinschaft von Fraktionen kam nie zustande; auch die drei Parteien der engeren Weimarer Koalition zeigten hierzu kaum dauerhafte Neigungen. Sogar innerhalb der Fraktionen fehlte mitunter der Einklang gerade dann, wenn es darauf ankam. Ein einheitliches Verhalten der Fraktionen — um den unmöglich durchgehend nachweisbaren Fraktionszwang hier aus dem Spiel zu lassen — kam wohl meist, aber auch nicht immer in der Fraktion der SPD, überwiegend in der des Zentrums, mit einiger Sicherheit unter den Abgeordneten der KPD und später der NSDAP zustande, während sich unter den Abgeordneten der anderen Parteien der Dissens häufig nur unter besonderen Bedingungen völlig ausschließen ließ. Doch mit dieser kurzen Übersicht ist auch schon der Entwicklungsstand der zuletzt tonangebenden Fraktionen im Reichstag umrissen. Unter diesen Voraussetzungen, unter denen Regierungen zustandekamen, entfaltete sich die Tätigkeit von Interessengruppen, die sich hinter den wechselhaften Parlamentsverhältnissen als handelnde, Einfluß und Druck ausübende Organisationen betätigten und Positionen bezogen, oder auch einzelner einflußreicher Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens, die über mannigfache Querverbindungen ihre Fäden durch die Fraktionen zogen. 17 17
Zu dem hier Behandelten neben Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924—1928, für die frühen Jahre die wichtige Arbeit von Günter Arns, Regie-
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Dies blieb nicht unbeachtet; doch Erwägungen über neue Formen der Regierungsbildung, die einen Ausweg aus den Schwierigkeiten suchten, lassen sich nur in wenigen Fällen nachweisen. Der gute Glaube, daß Gegner der parlamentarischen Regierungsweise niemals zum Zünglein an der Waage werden oder gar mit wachsender Stärke und im Fall des Zusammenspiels von Grund auf koalitionsunfahiger radikaler Kräfte noch weit größere Gefahren heraufziehen könnten, überwog noch einige Zeit. 1926 bzw. 1927 hatte der Weimarer Parlamentarismus gewiß das Schlimmste noch vor sich, allerdings auch manches schon hinter sich, so daß der Mangel an Besorgnis ins Auge springt. Auf die Folgen wird noch zurückzukommen sein. Wenden wir uns mehr den Taten zu als den Gesinnungen und Programmen, so wird der kritische Blick nachgerade unwiderstehlich von dem mannigfachen Konflux angezogen, der sich im Zentrum der bürgerlichen Liberalen auswirkte: auf die DVP. Herkunft und Tradition des „nationalliberalen Gesinnungsverbandes" 18 brachten es mit sich, daß er sich stets den Einwirkungen industrieller wie mittelständischer Interessengruppen oder einzelner Persönlichkeiten aus diesen Kreisen ausgesetzt sah, so daß die innere Heterogenität dieser Partei auch nach außen hin sichtbar wurde. Die Problematik des internen Ausgleichs von Interessen und Gesinnungen hat auch einer so erfahrenen und unermüdlich tätigen Persönlichkeit wie Gustav Stresemann zermürbende Aufgaben gestellt und schließlich die körperliche Leistungskraft vorzeitig untergraben. Der Name des Reichsaußenministers, seit 1923, und Parteiführers war das wirkungsvollste Aushängeschild, über das die DVP verfügte und dem sie wahrscheinlich einen großen, wenn nicht den größten Teil ihrer einigermaßen stetigen Ergebnisse in den Reichstagswahlen 1924 und 1928, in Konkurrenz mit der DNVP zur Rechten und der schwächeren DDP zur Linken — in der relativen parlamentarischen Topologie, zu danken hatte.
rungsbildung und Koalitionspolitik in der Weimarer Republik 1919 — 1924, phil. Diss. Tübingen 1971. 18 Hans Booms, Die deutsche Volkspartei, in Matthias, Morsey, Das Ende der Parteien, S. 524. Für die Anfangszeit der Republik hierzu und zum Folgenden die Arbeit von Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Eine vergleichende Analyse der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 45), Düsseldorf 1972.
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Im Hinblick auf die Möglichkeiten, anhaltende Eindrücke in größeren Teilen zumindest der bürgerlichen Wähler zu vermitteln, stand es im übrigen um das herausragende Personal an der Parteispitze der DVP eher ungünstiger als in der DDP, die das Ansehen der großen bürgerlichen Sammlungspartei schon bald nach der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung verloren hatte. Die DVP versuchte nie, diesen Titel aufzugreifen und an sich zu reißen, sondern verstand sich stets als elitäre Honoratiorenpartei, was aber auch die DDP stets geblieben ist; daran änderten gelegentliche Bemühungen um neuen Zuzug aus der Jugend, aus der Arbeiterschaft, von den Angestellten, die in der politischen Soziographie eine immer größer werdende Rolle spielten, aus den gewerblichen Mittelschichten oder gar aus den außerparteilichen Bünden, die der DDP eine Basis in breiteren Schichten der Bevölkerung sichern sollten, nichts Wesentliches. In dieser Hinsicht konnte sich keine der liberalen Parteien der Zwischenkriegszeit mit jenen Parteien messen, die über eine größere, soziographisch einigermaßen fest konturierte Anhängerschaft verfügten und diese Position mehr oder minder erfolgreich verteidigten: die SPD in der Industriearbeiterschaft, das Zentrum in den kirchentreuen katholischen Volksteilen und die Bayerische Volkspartei in der katholisch und föderalistisch gesinnten bayerisch-staatstreuen Bevölkerung. Wo die Verläßlichkeit der Kernanhängerschaft nicht mehr über jeden Zweifel erhaben schien — wie in der SPD, gegenüber der scharfen Konkurrenz der KPD und später auch der NSDAP, und im Zentrum gegenüber der Konkurrenz, die die drei genannten Parteien innerhalb der katholischen Arbeiterschaft bewirkten, — wurde versucht, das Ansehen der wahren wirklichen Klassenpartei oder der Kirchenpartei herauszuheben und zu unterstreichen; dennoch entschied immer deutlicher die Integrationswirkung, die von festen Kernen auf benachbarte oder verwandte Gruppen und Schichten ausging. Zur ersten regional unbegrenzten und soziographisch umfassenden „Integrationspartei"19 der deutschen Parteiengeschichte ist allerdings erst die NSDAP geworden, was schließlich ihren Erfolg begründete. Wie und warum sie dies wurde, ist die entscheidende Frage. Die bürgerlichen Honoratiorenparteien lebten unter dem nicht immer eingestandenen, aber gelegentlich doch deutlich empfundenen Druck der 19 Vgl. Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932, S. 49 ff. (neuaufgelegt 1965, mit Vorwort von K. D. Bracher); Bracher, Auflösung, S. 355 ff.
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hier skizzierten Entwicklung, die sich außerhalb ihrer etwas fragmentarischen oder rudimentären Parteiorganisationen vollzog. Um so mehr schien die Persönlichkeit zu bedeuten, die über die anderen weit hinaustrat und die Aufmerksamkeit auf sich zog. In der Reihe der nachhaltig wirkenden deutschen Politiker der Republik wird man Stresemann ohne weiteres in einer Reihe mit Brüning und Friedrich Ebert vergleichen, wenn nicht den Vorrang geben dürfen. Seine Politik der Integration war ebenso zielbewußt wie wirkungsvoll. Als Reichskanzler hatte er im Krisenjahr 1923 eine schwierige, wenig Entscheidungsspielraum gewährende Aufgabe übernommen, als Reichsaußenminister diese mannigfachen Belastungen nachgerade glänzend überwunden. Dies verdient auch an dieser Stelle einige Beachtung. Nach der Aufgabe des passiven Widerstandes gegen die französische Besatzung des Ruhrgebietes hatte sich eine Lösung der Krise in direkten Verhandlungen der Ruhrindustriellen — ihrer Sprecher Stinnes, Klöckner und Vogler — mit dem französischen Befehlshaber General Dégoutté angebahnt. Die Franzosen, die, wie Stinnes dem Reichskanzler berichtete, wahrscheinlich auf Weisung Poincarés, „sowohl in den äußeren Formen wie auch sachlich freundlich" 20 mit ihren deutschen Partnern verkehrten, ließen erkennen, daß sie jetzt „eine zwar sehr komplizierte Regelung der Verhältnisse an Rhein und Ruhr vornehmen wollten, jedoch ... eine Aufgabe der deutschen Landeshoheit nicht in Betracht käme." Stresemann verzichtete in seiner Reichstagsrede am 6. Oktober auf Anraten von Stinnes, über Aufgabe oder Verlust des Ruhrgebietes zu reden, wie es vorgesehen war. Die großindustriellen Unterhändler sprachen über die Kohlenförderung und für den Kohlenbergbau, erklärten ihre Bereitschaft, die Erzeugung rasch wieder aufzunehmen, „wirtschaftlich und lukrativ zu produzieren" und dafür zu sorgen, daß genügend Kohle gefördert werde, „um außer Deutschland auch Frankreich, Belgien, Holland und die Schweiz wohl versorgen zu können". Die unmittelbare Lieferung an die Okkupationsmacht auf Konto der deutschen Reparationsverpflichtungen war ein Angebot, das von französischer Seite bereitwillig angenommen wurde. Die Voraussetzungen, unter denen sich die großindustriellen Unterhändler hierzu bereitfinden
20 Aktenvermerk, wahrscheinlich von Stinnes, über die Besprechung der vom rheinischwestfälischen Bergbau gewählten Kommission mit General Dégoutté am 5. Oktober 1923; BA, R 4 3 1/453; dort auch weitere Akten zu den im Folgenden beschriebenen Vorgängen; so Vermerk Stresemanns vom Ö.Oktober 1923 über eine telefonische Mitteilung von Stinnes.
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wollten, waren nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern bezogen auch die innere Nachkriegspolitik Deutschlands ein. Die patriotische Kampffront des passiven Widerstandes voraufgegangener Monate wurde jedoch in dem Augenblick in einen inneren Konfliktbereich transponiert, als ohne ersichtlichen unmittelbaren Anlaß — offenbar in Ausnutzung des offenkundigen französischen Interesses an niedrigen Kosten, Preisen und Anrechnungsfaktoren — die Kostenfrage aufgeworfen und französische Unterstützung bei der Aufhebung der Achtstundentagsregelung erbeten wurde: „Die Industrie sei der Überzeugung, daß es ein schwerer Fehler gewesen sei, den sozialistischen Einflüssen nachzugeben und nach einem verlorenen Kriege auch noch eine verkürzte Arbeitszeit einzuführen." Die Verlängerung der Arbeitszeit auf achteinhalb Stunden, „einschließlich Ein- und Ausfahrt" für die Arbeit untertage, zehn Stunden für die Übertagearbeit, sei jedoch „ohne die Unterstützung der Okkupationsmächte" nicht durchführbar. Hierin kam der Wunsch einer Separation vom geltenden Arbeitsrecht der Republik mit Hilfe der Besatzungsmacht zu deutlichem Ausdruck. Das Verlangen nach Betriebs- und Betriebsmittelfreigabe blieb demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Mit dem Kapitalisierungsproblem, das Stinnes „vorsichtig" durch seinen Vorschlag zur Erörterung stellte, daß „Frankreich selbst oder das Ausland" Deutschland eine Anleihe gewähre, aus der es die Reparationslieferungen bezahlen könne, deren Verzinsung und Amortisation von der deutschen Regierung zu übernehmen seien — ein Gedanke, zu dem französische Unterhändler kaum Stellung nehmen konnten —, deutete er das Prinzip, das künftigen Reparationsregelungen zugrundelag und das schließlich durch amerikanische Vermittlung zustande kam, bereits an. Rentabilitätsforderungen, die Neigung zur Umgehung oder Aufhebung des Achtstundentages, das Verlangen nach Kapitalversorgungsförderung und Kapitalzufuhr, im Hinblick auf Weltmarktpreise und Exportgeschäfte, blieben Dauerthemen — und Dauerprobleme — der deutschen Großindustriellen, die Verbände wie einzelne Sprecher unaufhörlich zur Erörterung stellten und zu denen die „Kohlenseite" der Ruhrindustrie wiederholt die heftigsten Klagen und entschiedensten Forderungen formulierte, die Jahre einer konjunkturellen Entlastung nicht ausgenommen. Die Haltung zu den allein im Kostenaspekt gesehenen sozialpolitischen Tendenzen der Republik und ihrer linken Parteien und zu den allein als Kostenfaktor verstandenen Steuerlasten, schlechterdings wesentlicher politischer Voraussetzungen des Regierungssystems mitsamt seiner großen Verwaltungsorganisation — von der kommunalen Ebene bis zur Reichsspitze — blieb stets kritisch und konfliktreich.
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Die gegen Ende der schweren Ruhrkrise zunächst von der sogenannten Sechserkommission des Bergbau-Vereins ausgehandelten und schließlich mit der Interalliierten Kontrollkommission für Fabriken und Bergwerke der besetzten Gebiete (M. I. C. U. M.) Anfang November 1923 abgeschlossenen Reparationsverträge für die Übergangszeit warfen alsbald die Frage nach der Verpflichtung der Reichsregierung zur Zahlungsleistung an die liefernde Industrie auf. Der Regierung selbst waren zunächst die Hände gebunden, so daß sie angesichts der Lage, die entstand, nur das Unvermeidliche geschehen lassen, aber den Bemühungen der Industriellen kaum entgegenwirken konnte und sicherlich auch nicht wollte. Die regelmäßige, nur auf den Vollzug bezogene Berichterstattung von Stinnes in Berlin, auch im Interesse der eigenen Sache, sorgte dafür, daß die Regierung sich der Verpflichtungen nicht zu entledigen vermochte. Ihre Haltung blieb daher merkwürdig zwiespältig, was jedoch eher Rückschlüsse auf die Ausdeutung ihrer politischen Zwangslage als auf politische Absichten oder Zielsetzungen zuläßt. Durch den Briefwechsel des Reichskanzlers Stresemann und des Reichsfinanzministers Luther mit Stinnes während der fraglichen Wochen des beginnenden Übergangs, vom 20. Oktober bis 13. November 1923, namentlich zwei Briefe Stresemanns vom 1. und vom 3. November 1923, entstanden — auch nach Ansicht des später eingesetzten Untersuchungsausschusses des Reichstags — „einklagbare Verpflichtungen" des Reiches den Industriellen gegenüber. 20a Die weitesten Entschließungen des Ausschusses enthielten in ihrem Kern die gesamte sozialpolitische Philosophie der Republik, deren sozialstaatlicher Kompromißcharakter den verfassungsgeschichtlichen Kompromiß überlagerte: Die ohne Wissen des Reichstags vorgenommenen Zahlungen stellten in der Tat „auch eine objektive Verletzung des Etatrechts" dar. Zudem seien Überzahlungen „in erheblichem Umfange erfolgt", deren Höhe sich allerdings, wie, keineswegs widerspruchsfrei, festgestellt wurde, nicht mehr genau ermitteln ließ. Doch diese Begünstigung der Großindustrie verlangte der Reichstag durch besondere Entschädigungen der Arbeiter, der Angestellten und des Mittelstandes 20a Bericht des 23. Ausschusses des Reichstags (Unterausschuß Ruhrentschädigungen) über die Feststellung der an die Ruhrindustriellen ausgezahlten Beträge, Reichstagsdrucksachen, III. Wahlperiode, Drucks. Nr. 3615 vom 5. Juli 1927 (mit den Protokollen der Ausschußsitzungen), S. 5. Dem Ausschuß mit dem Vorsitzenden v. Lindeiner-Wildau (DNVP) gehörten die Abgeordneten Esser (Zentrum, Berichterstatter), Hertz (SPD), Imbusch (Zentrum), Koch (DNVP), Rademacher (DNVP), Rippel (DVP), Rosenbaum (SPD) und Troßmann (SPD) an. Von Staatssekretär Joël unterzeichnete Stellungnahme des Reichsjustizministers schon vom 12. Dezember 1924, BA, R 431/455.
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auszugleichen. Der soziale Ausgleich sollte die Rechtsfehler heilen. Allerdings gibt es genügend Anlaß zu der Vermutung, daß schon das entschiedene Bestehen der Großindustrie auf Zahlungsleistungen der Reichsregierung unausweichliche Parallelforderungen anderer Interessenten stimulierte. Der Streit um die Erstattung der Lieferungen der Ruhrindustrie wurde von Anbeginn hart und entschieden ausgefochten; von einer Begünstigung der Industrie kann keine Rede sein. Seit Eröffnung der Verhandlungen, aus denen die MICUM-Verträge der Ruhrwirtschaft hervorgingen, wachten die beteiligten Reichsministerien darüber, daß rechtliche Verpflichtungen des Reiches nicht entstanden, wenn auch Erstattungen des Wertes erfolgter Lieferungen grundsätzlich erfolgen sollten. Die Briefe Stresemanns und Luthers bildeten die unvermeidliche Überbrückung der Lücke zwischen — kaum ganz freiwilliger — politischer Willensäußerung und rechtsverbindlichem Vertrag. Die prinzipientreue Haltung der Reichsministerien änderte sich auch nicht in den langwierigen Verhandlungen der nächsten Wochen; sie versteifte sich nach der Währungsstabilisierung bis zum Juni 1924, als die Reichsregierung, um die Reparationslieferungen des Bergbaus für den Monat Juli zu sichern, eine Zahlung von 24 Millionen RM und die Gewährung eines zinslosen Darlehens beschloß, das auf Abruf durch Kohlenlieferungen an das Reich zurückerstattet werden sollte. 20b Am 1. September endete dann mit dem Inkrafttreten der Gesetze über die Londoner Konferenz (Dawes-Plan) und die Industriebelastung, die die Bank für deutsche Industrieobligationen abwickelte, das Stadium des Übergangs und der informellen Verpflichtungen, über die Stresemann wie Luther nur mit Hilfe seiltänzerischer Drahtseilakte hinwegkamen, die sich juristisch wie politisch widersprüchlich interpretieren ließen. Doch die Ruhrkrise bedrängte alle Parteien; ihre Begleiterscheinungen und Folgen wurden daher keineswegs willkürlich oder gar grenzenlos zu Wahlkampfthemen. Stresemann und die DVP gelangten ohne ernsthafte
^ Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Rhein-Ruhr-Ausschusses der Reichsregierung am 21. Januar 1924 und weitere Vorgänge, BA, R 431/454, sowie Ausführungen Stresemanns vor den Staats- und Ministerpräsidenten der Länder am 2. Juli 1924; Akten der Reichskanzlei: Marx I u. II, 1, S. 250 ff., 2, S. 766 ff. Die nachfolgenden Dawes-Gesetze: Gesetz über die Industriebelastung (Industriebelastungsgesetz), RGBl. II 1924, S. 257, sowie Gesetz zur Aufbringung der Industriebelastung (Aufbringungsgesetz), RGBl. II 1924, S.269, die Verordnung über das Inkrafttreten der Gesetze zur Durchführung des Sachverständigengutachtens (RGBl. II 1924, S.358), alle vom 30. August 1924.
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Beeinträchtigungen oder gar einen Verlust des Ansehens über diese heikle Situation auf den sicheren Boden überschaubarer Rechtsverhältnisse. Stresemanns Wirkung beruhte auf der von einem Teil der Presse nicht nur des Inlandes hervorgehobenen Außenpolitik und ihren gewiß auch umstrittenen, aber doch überwiegend anerkannten Erfolgen, so daß seine Politik nicht ohne Grund mit den weithin empfundenen Entlastungen und erkennbaren Konjunkturen in der Wirtschaft wie in der gesamten inneren Entwicklung im zweiten Jahrfünft der Republik in eins gesetzt werden konnte.20c Hinzu trat seine Tätigkeit als Redner nicht nur vor Partei ver Sammlungen, sondern häufiger noch vor ausgewählten Gremien, vor Honoratioren der Wirtschaft, vor Studenten und in bedeutenden Vereinigungen. Stresemann war weder ein brillanter noch ein rhetorisch sonderlich begabter Redner; seine Stimme wirkte auch nicht angenehm. Aber seine Reden konnten von eindringlicher und in gewisser Hinsicht origineller Art sein. Er kultivierte das nationale Pathos seiner Zeitgenossen, wußte aber auch, Mahnungen und Einsichten anzudeuten oder auszusprechen und auf eine nicht aufdringliche Weise an seine Zuhörer zu appellieren. Was er sagte, klang einsichtig, zuweilen klug, stets selbstbewußt, aber auch maßvoll, eben wie es von den Äußerungen eines sowohl akademisch Gebildeten als auch in der politischen Welt Erfahrenen, dessen Name seit langem einen Klang hatte, erwartet wurde. Was immer auch gegen Stresemanns politische Wege und gegen seine Außenpolitik vorgebracht wird; auch im Zwielicht des Streites der Meinungen erschien er als ein Mann von einigem Format. Die DVP hatte niemals einen besseren als ihn. 21 Doch noch zu Lebzeiten Stresemanns entwickelten sich die Spannungen innerhalb der DVP zu schwer lösbaren Konflikten; nur graduell unterschieden sie sich von jenen, die zur Spaltung mehrerer Gruppen von der weiter rechts stehenden DNVP führten. Der Wahlsieg der SPD 1928 hatte beide Parteien im Reichstag zu Fraktionen mittlerer Größenordnung reduziert. Zwar stellte sich für die DNVP nach ihrer Kampagne gegen den Young-Plan, den sie auch gegen die Minister der DVP führte, ^ Bemerkenswert die Feststellung von G. D. Feldman, Heidrun Homburg, Industrie und Inflation, S. 145: „Die Regierung Stresemann ... legte den Grund fur den Übergang von fast einer Dekade wirtschaftlicher Kontrollen zu einer Periode, in der die wirtschaftlichen Interventionen des Staates wieder vertrautere Formen annahmen." 21 Eine neue Würdigung Stresemanns jetzt bei Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, S. 89 ff.; vgl. auch Robert P. Grathwol, Stresemann and the DNP. Reconciliation of Revenge in German Foreign Policy 1924, 1928, Lawrence/Kan. 1980.
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die für ihn eingetreten waren, die Existenzfrage anders als für ihre Konkurrentin. Doch hier wie dort entzündete sich der Konflikt an der Haltung des Parteiführers und der von ihm verfolgten Linie. Das führte auch zu einer verstärkten Aktivierung der Interessenorganisationen wie der Interessenpolitik. Stresemanns Fraktionskollege, der nachmalige Minister Paul Moldenhauer, schrieb später in seinen „Politischen Erinnerungen" von dem „unverkennbaren Einfluß" der Schwerindustrie auf die DVP. Dieser war „entscheidend für die beiden westfälischen Wahlkreise und DüsseldorfOst", die ihrer Stärke wie der Wählerzahl nach innerhalb der DVP beträchtliches Gewicht besaßen. 22 Dies machte sich in den Jahren des Niedergangs der DVP überaus folgenreich bemerkbar, bestimmte auch die wiederholt verfolgten Bemühungen um dauerhafte und festere Bindungen der bürgerlichen politischen Kräfte, allerdings eher in der Absicht, feste Koalitionsbildungen als Parteiumbildungen oder Fusionen zu erreichen. Die DVP blieb stets auf ihre entscheidende Rolle bedacht und verhielt sich gegenüber Versuchen von anderer Seite eher passiv als interessiert, wenn nicht deutlich abwehrend. Diese — positive oder negative — Rolle der DVP hat die lange Reihe der Bestrebungen zugunsten einer durchgreifenden Revision des Parteiensystems oder einer bürgerlichen Sammlung, 23 von der die DDP einst bei ihrer Gründung ausgegangen war, lange überschattet. Moldenhauers „Politische Erinnerungen" skizzieren das aus den frühen Jahren der Republik übernommene Ziel einer „Großen Koalition" Stresemannscher Prägung, die etwas von der Idee einer bürgerlichen Volksgemeinschaft unter den gegebenen Bedingungen verwirklichen und „sowohl die gemäßigten Deutschnationalen wie die verständigen Demokraten zu uns" hinüberziehen sollte, 24 mithin — in den Begriffen der alten Parteitraditionen der Monarchie ausgedrückt — die einstigen Nationalliberalen mit den einstigen Fortschrittlern aus allen neuen Parteilagern wieder zusammenführte. Die zusehends deutlicher hervortretenden Bindungen eines Teiles der DVP an Interessengruppen des Rheinlandes und Westfalens 25 schlossen indessen derartige Bemühungen weitgehend aus. 22 BA, Nachl. Moldenhauer, 1 (Politische Erinnerungen 1, fotokopiertes Exemplar), S. 136. 23 Einige Beispiele, auch aus den letzten Monaten der Republik, bei Larry E. Jones, Sammlung oder Zersplitterung? Die Bestrebungen zur Bildung einer neuen Mittelpartei in der Endphase der Weimarer Republik 1 9 3 0 - 1 9 3 3 , in: V Z G , 25 (1977), S. 2 6 5 - 3 0 4 . 24 Moldenhauer, a. a. O. 25 Dies ist der bevorzugte Gegenstand der Arbeiten von Lothar Döhn, in: Industrielles System, bes S. 889 ff.; ders., Politik und Interesse. Die Interessenstruktur der Deutschen Volkspartei (Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, 16), Meisenheim 1970.
Die Krise der liberalen Parteien
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Vergleichbare Überlegungen, zu verschiedenen Zeiten mit wechselnder Entschiedenheit vorgebracht, sind aber auch von anderen Politikern überliefert. Innerhalb der DDP bemühten sich vor allem Koch-Weser, Höpker-Aschoff und Dietrich um neue Lösungen. Die Parteiengeschichte kennt jedoch keine große, liberale bürgerliche Sammlung, sondern nur fortschreitenden Zerfall, Spaltungen und Bedeutungsminderungen. Denn alle diese Bemühungen konkurrierten zusehends drastischer mit Versuchen, eine große Sammlung oder Koalition der nationalen Rechten zustandezubringen, die zwar am Ende kaum erfolgreicher ausgingen, im Ergebnis indessen den endgültigen Aufstieg der NSDAP deckten. Stellung und Einfluß führender Männer an der Spitze der Organisationen großindustrieller Interessen sind im Hinblick auf Finanzhilfen für politische Parteien in den letzten Jahren der Weimarer Republik näher untersucht worden. 26 Wirkungen und Einflußnahme auf Ziele, Vorhaben und selbst auf die Konfiguration der „bürgerlichen Parteien" während einer längeren Phase lassen den Rahmen erkennen, der diesen Tätigkeiten den politischen Sinn gibt. Diese erscheinen indessen unausgeglichener und auch uneinheitlicher, stärker von Meinungsverschiedenheiten bestimmt, als meist dargestellt worden ist. Es wäre aber unzureichend, die Bewegungen im bürgerlichen Parteienfeld ausschließlich oder durchgehend aus Verursachungen herzuleiten, die in dem Kreise dieser wirtschaftlichen Interessenten und seiner Querverbindungen eingeschlossen blieben. Für DVP wie DDP waren Koalitionen die parlamentarische Lebensfrage. Dies gilt zwar auch für das Zentrum; doch die Möglichkeiten der DVP hafteten enger am bürgerlichen Lager, und DVP wie DDP mußten ihr Wählerreservoir von Anbeginn mit mehr Konkurrenten teilen als Zentrumspartei und Bayerische Volkspartei, zudem auch gegeneinander verteidigen. Dies führte zu den naheliegenden Erwägungen einer engeren Parteienverbindung entweder nach „links" oder nach „rechts", wobei für die DVP nach dem Tode Stresemanns allein das letzte noch in Betracht kam. Daher blieb der Republik die systemstabilisierende Wirkung der Konvergenz zur politischen Mitte versagt. 27
26 Henry Ashby Turner, jr., Faschismus und Kapitalismus in Deutschland, S. 114—156; auch Bernd Weisbrod, Schwerindustrie, bes. S.441. Zur Finanzierung der NSDAP eingehend Schulz, Aufstieg, S. 6 3 4 - 6 4 2 . 27 Dies schon Schulz, Quellen Brüning: Staat, S. X, ergänzt in der Einleitung zu Schulz, Quellen Brüning: Wirtschaft und Politik, I, S. X X X V I I I ff.
SIEBENTES
KAPITEL
Parlamentarische Regierung und Reichspräsident Das Nebeneinander und Gegenüber von parlamentarischen und präsidentiellen Elementen und Prinzipien charakterisierte die Reichsverfassung von Weimar ebenso deutlich28 wie die unvollkommenen Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen den Reichsgewalten und den Ländern. Im Verlaufe der Amtszeit des zweiten Reichspräsidenten trat das präsidentielle Verfassungsmoment nach und nach deutlicher hervor und erhielt zusehends größeres Gewicht. Während sich der erste Reichspräsident, Friedrich Ebert, mit den Parteien der Weimarer Koalition verbunden fühlte, 29 stand Hindenburg stets inmitten der nationalen Rechten, in steter Gemeinschaft mit seinen Offizierskameraden und ostdeutschen Gutsbesitzern, was stärker ins Gewicht fiel als seine gewiß positiven Empfindungen der dahingehenden Monarchie gegenüber. 30 Während Ebert als Reichspräsident wiederholt seinen Arm der Reichsregierung bot, blieb der alte Generalfeldmarschall im Kreise seiner Ratgeber und Standesgenossen stets eine Autorität über der Reichsregierung mit der Freiheit sowohl zur politischen Enthaltung als auch zur Bekundung politischer Urteile. Diese Autorität wurde schließlich durch das bei eingefleischten Monarchisten wie bei Republikanern fast gleichermaßen wirkende Ansehen des Heerführers aus dem Weltkriege gestützt, während Ebert in den Augen vieler Traditionalisten nie das mindere Ansehen des emporgekommenen Politikers ohne Herkommen und Berufung ganz loswurde. Hindenburg gewann bis weit in die Mitte hinein und sogar am Rande der politischen Linken Vertrauen und Ansehen; sein hohes Alter schien zudem die Gewähr gegen Ehrgeiz und Unbedachtsamkeiten zu bieten, was vielen wichtiger dünkte als naheliegende Bedenken im 28 Vgl. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 210 ff. Für den Gebrauch der Ausdrücke „präsidentiell" und „Präsidialsystem" sind die Erläuterungen in der Brockhaus Enzyklopädie, 15. Bd., S. 94, mustergültig. 29 Mit scharfer Kritik an der „Eigenrestriktion der Kompetenzauslegung" Eberts Günter Arns, Friedrich Ebert als Reichspräsident, in: HZ, Beiheft 1, S. 1 — 30. 30 Vgl. die bedeutsame Biographie von Andreas Dorpalen, Hindenburg in der Geschichte der Weimarer Republik.
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Hinblick auf die geistige Unbeweglichkeit und auch Urteilsarmut des betagten Mannes. Auch unter den die Verfassung auslegenden Autoritäten der Rechtswissenschaft gewann das höchste Amt des Reiches mit dem Eindruck, den die Persönlichkeit des Reichspräsidenten erweckte, zunehmend Beachtung und schließlich gar Vorrang. Doch vorher machte jene Richtung auf sich aufmerksam, die in der plebiszitären Gewandung der Wahl des Reichspräsidenten eine Verwirklichung des demokratischen Prinzips und auch aus diesem Grunde in dem Umfang seiner Macht den unantastbaren Bestandteil der Reichsverfassung erblickte. Derartige Ansichten hegten auch schon einige der Verfassungsväter in Weimar.31 Auf der Jahrestagung der deutschen Staatsrechtslehrer im April 1924, die sich — noch zu Lebzeiten Eberts — mit den beiden für die damalige Situation charakteristischen Themen „Der deutsche Föderalismus" und „Die Diktatur des Reichspräsidenten" befaßte, bezeugten die beiden Referenten zum zweiten Problem völlige Übereinstimmung dadurch, daß sie die These von der verfassungsdurchbrechenden Wirkung justizloser Hoheitsakte auf Grund der dem Reichspräsidenten zustehenden Diktaturgewalt vortrugen und untermauerten.32 Diese Lehre erhielt indessen erst in den späteren Jahren der Amtszeit des zweiten Reichspräsidenten erhebliche praktische Bedeutung. Jede funktionssichere politische Ordnung weist sich letztlich darin aus, daß sie und wie sie einen Wechsel der Regierungszustände zuwegebringt. Seit Juni 1920 war die Weimarer Koalition allein nicht mehr regierungsfähig. Damit begann die Zeit der wechselnden Koalitionsverhältnisse mit mehreren Parteien. Ein Mißtrauensantrag konnte von einer Mehrheit angenommen oder abgelehnt werden. Es geschah aber auch, daß eine Reichsregierung nur deshalb über die Klippe der Vertrauensabstimmung gelangte, weil ein großer Teil der Abgeordneten bewogen 31 Auch Hugo Preuß in einer denkwürdigen Bemerkung, Deutschlands Staatsumwälzung. Die verfassungsmäßigen Grundlagen der deutschen Republik, Berlin 1920, S. 11, über die „durch die unmittelbare Volkswahl" des Reichspräsidenten gewährleistete „ebenbürtige Stellung neben dem Reichstage": sie gibt ihm „wenn er der Mann danach ist, die Möglichkeit, dem Kleinkrieg der Parteien und ihren Eintagsintrigen ein Gegengewicht zu bieten." Ebert hat seine Stellung nicht in diesem Sinne interpretiert und wohl auch nicht interpretieren können; aber Hindenburg tat es. Er befand sich hierin in Übereinstimmung mit den wichtigsten Schöpfern der Weimarer Reichsverfassung. Ausführlicher Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 126, 89 ff., 210 ff. 32 So die beiden Referate von Carl Schmitt und Erwin Jacobi, Die Diktatur des Reichspräsidenten, in: Der deutsche Föderalismus (Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, 1), Berlin/Leipzig 1924.
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wurde, sich der Stimme zu enthalten. Als sich am 28. Januar 1926 die zweite Regierung Luther dem Reichstag präsentierte, gewann sie ein „Vertrauensvotum" durch eine Mehrheit von 160 gegen 150 Stimmen nur deshalb, weil 130 Abgeordnete Stimmenthaltung übten, denen der Zeitpunkt als ungeeignet erschien, das Kabinett an der Aufnahme seiner Geschäfte zu hindern.33 Der Sozialdemokrat Hermann Müller, ein rechtschaffener und einsichtiger Politiker der zwanziger Jahre, nannte zwar schon 1926 die Gefahr mit Namen: daß „eine Serie von Regierungskrisen eines Tages zur Staatskrise führen" könne; aber er äußerte dies in reichlich theoretischem Abstand und betrachtete diese Hypothese als kaum aktuell und wenig realistisch, sondern hielt es mit der unter den Parlamentariern der Linken und der Mitte offenbar vorherrschenden optimistischen Einschätzung der den Parteien überlegenen Einsicht der Wähler, „die dann sicher mit einer Partei abrechneten, die so unverantwortlich vorgegangen wäre. Unter andauernden Krisen bleiben notwendige gesetzgeberische Arbeiten liegen. Das versteht das Volk und quittiert darüber bei Gelegenheit dem Schuldigen" 34 . Hermann Müller hielt indessen eine Reform des Reichstagsparlamentarismus für erwägens-, ja empfehlenswert, meinte allerdings: „Im Verhältnis des Parlaments zur Regierung würde die Unsicherheit in Deutschland erst dann stark schwinden, wenn es gelänge, die Zahl der Parteien zu vermindern". Dies könne auf dem Wege einer Reform des Wahlrechts durch Beseitigung des Listenwahlsystems und die Schaffung kleinerer Wahlkreise geschehen, „in denen die Abgeordneten wieder engere Fühlung mit den Wählern haben, die sie für ihre Partei erobern wollen." Damit schnitt er freilich ein Thema an, das nur wenig Aussicht hatte, im Reichstag von einer Mehrheit mit übereinstimmenden Interessen erkannt und erörtert zu werden. Den Gedanken an eine Wahlrechtsänderung mit Hilfe der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung lehnte Müller jedoch ab; dies wäre seiner Auffassung nach ein ebensolcher „Verfassungsbruch" wie etwa der Verzicht auf die parlamentarische Gestaltung des Budgets, um es mit Kritisch hierzu schon Hermann Müller-Franken, Vom Deutschen Parlamentarismus, in: Die Gesellschaft, 3 (1926), I, S. 299 f.; übereinstimmend hiermit Julius Curtius, Sechs Jahre Minister der Deutschen Republik, Heidelberg 1948, S. 14. 34 Hermann Müller, a. a. O., S. 300: „Parteien, die das parlamentarische System nicht grundsätzlich verneinen, wie Kommunisten und Völkische, dürfen freilich ... nicht täglich auf den Sturz der aus anderen Parteien gebildeten Regierung sinnen, sonst könnte allerdings eine Serie von Regierungskrisen eines Tages zur Staatskrise führen." 33
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Hilfe des Artikels 48 durchzusetzen. Nur vier Jahre trennten dieses, hier deutlich nicht nur als abwegig, sondern gar als absurd betrachtete Beispiel von seiner praktischen Anwendung. Reichswehrminister Geßler schlug etwa zur gleichen Zeit vor, der Reichsregierung dadurch größere Stabilität zu verleihen, daß sie nur durch eine qualifizierte Mehrheit des Reichstags gestürzt werden könne.35 Dies nahm die erste Hälfte des Gedankens vorweg, den man später als „konstruktives" oder „gekoppeltes" Mißtrauensvotum bezeichnete und 1949 in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wie in die Verfassungen der meisten Länder einführte. In ähnlicher Absicht trat der ehemalige Reichsinnenminister Külz in der Deutschen Demokratischen Partei dafür ein, die Vertrauensfrage im Parlament auf die Haushaltsberatungen zu beschränken und Mißtrauensanträge an die Bedingung einer Zweidrittelmehrheit zu binden.36 Noch etwas weiter durchdachte Gedanken „zur Erreichung einer größeren Kontinuität der Reichsregierung" wurden auch innerhalb der Reichskanzlei erwogen. 37 Die Reichstagsfraktion der Deutschnationalen Volkspartei vertrat eine Verfassungsreform, die den Reichsrat durch eine wirtschaftsständische Repräsentation erweiterte und ihm eine dem Reichstag vollkommen gleichgeordnete staatsrechtliche Stellung einräumte.38 Diese Konstruktion zur Eingrenzung der Tätigkeit des Reichstags griff nicht etwa auf das Vorbild von Ober- und Unterhaus der englischen Parlamentsgeschichte, vielmehr auf das Zweikammersystem des deutschen Frühkonstitutionalismus zurück. In dem deutschnationalen Vorschlag rückte die länderstaatlich-föderative und die wirtschaftsständische Repräsentation zur ersten Kammer auf, während die gewählten Vertreter des Volkes die zweite bildeten. Auch die über beiden Kammern schwebende Autorität des unantastbaren Staatsoberhauptes als drittes tragendes Element innerhalb der Verfassung gab es hier wie dort: Der Reichspräsident wurde zu einem durch plebiszitären Wahlakt erkorenen pouvoir modérateur auf Zeit. Der von der DNVP zur DVP übergetretene Abgeordnete und nachmalige Vizepräsident des Reichstags, Siegfried v. Kardorff, der Sohn des führenden Mannes der Freikonservativen und Schutzzöllner in der Bismarckzeit, zählte zu den ersten Fürsprechern einer Stärkung der Stellung des Reichs35 Hamburger Fremdenblatt, 2. Februar 1926; vgl. auch Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 264 f., dem auch die weiteren Beispiele entnommen sind. * Ebda. 37 Referentenvortrag vom 24. Dezember 1926, BA, R 431/1865. 38 Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 470 f.
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Präsidialgevalt
Präsidenten: Ihm sollte freie Hand in der Auswahl und Ernennung von Reichskanzler und Reichsregierung gegeben werden, während der Rücktritt eines Kabinetts nur nach dem Beschluß einer Zweidrittelmehrheit des Reichstags zwingend sei. Die meisten dieser wie auch manche andere Vorschläge waren nur durch eine erhebliche Umgestaltung der Reichsverfassung zu verwirklichen, der sich keine realistischen Aussichten eröffneten. Infolgedessen kam im Grunde doch von Anfang an jenen Überlegungen größeres Gewicht zu, die mehr auf einen stillen Wandel der Verfassungsauslegung und der parlamentarischen Praxis als auf Abänderung der Reichsverfassung hinausliefen. Ein jüngerer Greifswalder Staatsrechtler sprach unumwunden und drastisch aus, was er als Lehre des in den zurückliegenden Krisen beschrittenen, aber „von der parlamentarischen Ideologie aus nur als Notbehelf verstandenen Weges" nun „als notwendigen Ausdruck der veränderten soziologischen Vorbedingungen des 20. Jahrhunderts und als wesentlichen Bestandteil eines neuen Staatsgedankens begreifen" wollte: Die „Änderung der geschriebenen Verfassung ist nicht die Hauptsache. Entscheidend ist, daß diejenigen, in deren Hände die Verfassung die Staatsgewalt gelegt hat, sich als Führer des ganzen Volkes, nicht als Beauftragte von Parteien fühlen". 39 Wir wollen hier auf die Erwähnung weiterer Stimmen verzichten. Über einige dieser Gedanken wurde bald ebenso häufig gesprochen wie über die seit längerer Zeit diskutierten Vorschläge zur Reichsreform, die zuweilen auch schon mit den ersten verknüpft und mit größerer gedanklicher Entschiedenheit als mit verfassungsrechtlicher Sorgfalt aufgegriffen und geführt wurden. Aber auch der Reichspräsident Paul von Hindenburg, der eine gewisse persönliche Würde ausstrahlte, die weit darüber hinausreichte und ihm eine gewisse Popularität sicherte,40 war in seinem Amt kein Mann, der politische Zurückhaltung übte. Im übrigen hätte das der Kreis seiner 39 Heinrich Herrfahrdt, Der Sinn des parlamentarischen Prinzips in der Reichsverfassung, in: Zeitschrift f. Politik, 18 (1929), S. 739, 741; vorher ähnlich ders., Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis (Öffentlichrechtliche Abhandlungen, 9), Berlin 1927, S. 58. Gegenäußerungen hierzu von Karl Rothenbücher und Ernst Wolgast; vgl. Schulz, Aufstieg, S. 815, Anm. 59. 40 In erster Linie ist es dies, was Theodor Eschenburg in einem Aufsatz hervorgehoben hat, wobei persönliche Erinnerungen den Ausschlag gegeben haben mögen: Die Rolle der Persönlichkeit in der Krise der Weimarer Republik. Hindenburg, Brüning, Groener, Schleicher, in: Eschenburg, Die improvisierte Demokratie. Gesammelte Aufsätze zur Weimarer Republik, München 1963, bes. S. 237 ff.
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Berater auch kaum gewünscht. Die anhaltenden Kontroversen und Konflikte zwischen den wichtigsten Parteien boten ihm wiederholt Gelegenheit, sein Ansehen zu festigen und, auch über seine verfassungsmäßige Aufgabe hinaus, den Reichskanzler zu ernennen, in den Prozeß der Regierungsbildung einzugreifen und gar Kanzlerkandidaten auszuwählen. Als die deutschnationalen Minister Schiele, v. Schlieben und Neuhaus Ende Oktober 1925 die erste Regierung einer Rechtsmehrheit unter dem damals partei- und mandatslosen Reichskanzler Luther verließen, entstand bereits eine längere Regierungskrise. Die DNVP wollte sich mit dem Locarno-Pakt, den Stresemann abgeschlossen hatte, nicht abfinden, obgleich dieses Ergebnis der außenpolitischen Entwicklung doch fast in jeder Perspektive, auch in einer entschieden nationalen, eine wesentliche Verbesserung der Position Deutschlands brachte, was allerdings von der Rechten hartnäckig verkannt wurde. 41 Die daraufhin von Hindenburg auf Vorschlag Luthers veranlaßten Bemühungen Koch-Wesers um eine Große Koalition scheiterten, so daß nur die Alternative blieb, entweder ein Minderheitskabinett zu bilden oder den Reichstag aufzulösen. Daraufhin ergriff der Reichspräsident selbst die Initiative. Luther und Stresemann hatten ihn für ihre Politik gewonnen und seine Zurückhaltung wie seine Voreingenommenheit und sein Mißtrauen der Diplomatie gegenüber überwunden; seine beharrliche Weigerung, den Antrag auf Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund zu unterzeichnen, vermochten sie allerdings nicht auszuräumen.42 Hindenburg übernahm dann aber den Vorsitz in mehreren Kabinettssitzungen, 43 die sich mit Ergebnissen und Ereignissen von Locamo befaßten 41 Dies wird ausführlich von Michael-Olaf Maxeion, Stresemann und Frankreich, S. 192 ff., diskutiert, allerdings ohne die innerdeutschen Begleiterscheinungen ähnlich eingehend zu behandeln. Stresemanns Bemühungen, die Rechtskreise auf seiner Linie zu halten, bezeugt sein äußerst offenherzig anmutender Brief an den ehemaligen Kronprinzen vom 7. September 1925, der wohl nur, um einer Regierungskrise vorzubeugen, veröffentlicht wurde und eine kontroverse Beurteilung fand. So auch S. 194 ff. ohne Berücksichtigung der inneren Politik; vgl. Felix Hirsch, Gustav Stresemann. Patriot und Europäer (Persönlichkeit und Geschichte, 36), Göttingen/Frankfurt a. M./Zürich 1964, S. 83. Auch dieses Werben um Verständnis blieb zunächst erfolglos. Wichtig jetzt Jacques Bariéty, Les relations franco-allemandes après la première guerre mondiale, S. 201 ff.; Peter Krüger, Außenpolitik, S. 207 f., 296, 299. 42 Vgl. Dorpalen, Hindenburg, S. 97 ff.; Hubatsch, Hindenburg und der Staat, S. 97, 228 ff. 43 Akten der Reichskanzlei: Luther I u. II, 2, S. 985 ff., 1000 f., 1027 ff. (Staatssekretär Kempner an Luther, 4. Januar 1926).
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und brachte seine abweichende Meinung zum Ausdruck, die sich profund gegen den Friedensschluß von Versailles und den dadurch geschaffenen Rechts- und Rüstungsstand wandte. Die Gesichtspunkte des LocarnoKomplexes mußten auch in dieser Hinsicht von ihren berufenen Interpreten und Verteidigern, vor allem vom Reichskanzler und vom Reichsaußenminister nach rechts weit überzogen werden, um überhaupt Verständnis und das erforderliche Minimum an Zustimmung zu finden, was der späteren, auf den Wortlaut der Reden und einzelner Formulierungen vermeintlich quellenkundlich sorgfaltig eingehenden Geschichtsschreibung wiederum Verständnisprobleme ganz anderer Art beschert hat. Der Reichspräsident beauftragte alsdann den amtierenden Reichskanzler Luther, eine „Regierung der Mitte" ohne parteipolitische Bindungen zu bilden. Als auch dieser Versuch zu scheitern drohte, rief er die Führer der vier Parteien der Mitte, Zentrum, BVP, DVP und DDP, am 19. Januar 1926 zu sich, um sie mit dem Gewicht seiner Autorität in einem „eindringlichen Appell an ihr vaterländisches Gewissen", am Ende sogar durch ein bis zum Abend des Tages befristetes Ultimatum „unter Druck" zu setzen, wodurch er schließlich die Einigung auf die umstrittene Ministerliste der neuen Regierung Luther erzwang. 44 Für den Parlamentarismus der Republik war dies eine Neuerung. Doch da sie von unbestreitbarem Erfolg begleitet war, wurde sie hingenommen und ganz und gar nicht beanstandet. Der preußische Ministerpräsident Otto Braun hat dieses Verfahren nicht nur gebilligt, sondern ausdrücklich auch befürwortet. 45 Das Erfordernis einer starken und zur Entscheidung befähigten überparteilichen Instanz schien nach den Erfahrungen der fragilen Mehrparteienkabinette bestätigt und verfassungsrechtlich mit keinerlei Fragwürdigkeit behaftet. In der Tat: „Hindenburg ging aus der Krise mit erhöhtem Prestige hervor ... Der alte Feldmarschall zeigte sich stärker als die endlos streitenden Parteien."46 Dies blieb nicht ohne weitreichende Folgen. 44 Julius Curtius, Sechs Jahre Minister der deutschen Republik, Heidelberg 1948, S. 14; Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstands der Deutschen Zentrumspartei 1926—1933, bearb. von Rudolf Morsey, Mainz 1969, S. 6, Anm. 1; „Nach einem drängenden Appell des Reichspräsidenten vom Abend des 19. Januar ... einigten sich die Fraktionsführer auf die von Luther vorgelegte Ministerliste."
Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, 2. Aufl. New York 1940, S. 187. Dorpalen, Hindenburg, S. 102, fügt hinzu, daß der Reichspräsident selbst zum „Hinziehen der Verhandlungen" beigetragen habe. Wie man seit der Untersuchung von Michael Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik, S. 13 ff., weiß, folgte Hindenburg den Empfehlungen des Staatssekretärs Meissner, eine Regierung der Mitte unter dem Reichskanzler Luther herbeizuführen, vorher jedoch anderen Politikern 45
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Dauerhafter als andere Reichsregierungen erwies sich nun das vom Reichspräsidenten in den Sattel gehobene Kabinett Luther keineswegs. Knapp vier Monate später stürzte Luther im Streit um die bedeutsame Verordnung des Reichspräsidenten über die Doppelbeflaggung der deutschen Vertretungen im Ausland, da sich nun die Deutschnationalen, SPD, KPD und DDP, die zu Unrecht eine Initiative Hindenburgs vermuteten, gegen den Reichskanzler stellten. Der Entscheidung der SPD, im Dezember 1925, entgegen den Erwartungen Meissners und Hindenburgs, für eine „passive Koalitionspolitik"47 einzutreten, folgte ein gleicher Entschluß in der Frühjahrskrise 1926, während sich der amtierende Reichswehrminister Geßler, der Kölner Oberbürgermeister Adenauer und schließlich der Zentrumsvorsitzende Marx, den Stresemann vorschlug, um die Neubildung der Regierung bemühten. 48 Adenauer wollte sich nur auf eine „große Koalition" einlassen und erhielt von der DVP,
bestimmte Aufträge zur Bildung einer Großen Koalition zu erteilen, deren Mißerfolg wahrscheinlich war. Aufzeichnungen Meissners vom 2. Dezember und des Ministerialdirektors in der Reichskanzlei Pünder vom 4. Dezember 1925 in vollem Wortlaut abgedruckt, a.a.O., S.288—291. Die Strategie, die Meissner in offenen Worten entwickelte, sollte der Sicherung der künftigen Regierung Luther und ihrer als unvermeidlich erachteten Beweglichkeit der DNVP, der zweitstärksten Reichstagspartei gegenüber dienen, was mißlang; in allem übrigen erwiesen sich indessen Meissners Einschätzungen als zutreffend. Auch Luthers Erklärung im Reichskabinett, „eine baldige Klärung der Lage" sei „gar nicht gut", da ein Minderheitskabinett nur aktionsfahig sei, „wenn die Etappen durchexerziert seien und dem Volke klar geworden sei, daß eine andere Lösung nicht gegeben sei",bestätigt den Rahmen dieser Überlegungen. A.a.O., S. 136. Der Reichspräsident hielt sich nur an die ihm begreiflichen Erwägungen anderer, die ihm nahegebracht wurden und wohl auch überzeugen mußten. Stürmer läßt diese Einsicht durchscheinen: „Der weitere Verlauf der Regierungskrise sollte dem Meissnerschen Plan tatsächlich recht nahe kommen ... In der Tat bot die Sozialdemokratie einer solchen Taktik derzeit breite Angriffsflächen ..." A.a.O., S. 136f. Die Bemühungen des ehemaligen Reichskanzlers Fehrenbach, dann Koch-Wesers schlugen in der vorausgesehenen Weise fehl. Hierzu auch mehrere Tagebucheintragungen Koch-Wesers im Dezember 1925, BA, Nachl. Koch-Weser 32; Morsey, Protokolle der Zentrumspartei, S. 6. 47 Stürmer, Koalition, S. 142, auch S.150f. 48 Luther, Politiker ohne Partei, S. 417 f.; Max v. Stockhausen, Sechs Jahre Reichskanzlei. Von Rapallo bis Locamo. Erinnerungen und Tagebuchnotizen 1922—1927, bearb. und hrsg. von Walther Görlitz, Bonn 1954, S. 221 f.; Morsey, Zentrumsprotokolle 1926-1933, S. 36—42; Paul Weymar, Konrad Adenauer. Die autorisierte Biographie, München 1955, S. 129—143; Hugo Stehkämper, Konrad Adenauer und das Reichskanzleramt während der Weimarer Zeit, in: Konrad Adenauer, Oberbürgermeister von Köln. Festgabe der Stadt Köln zum 100. Geburtstag ihres Ehrenbürgers am 5. Januar 1976, hrsg. von H. Stehkämper, Köln 1976, bes. S. 413 —420; Fritz Stern, Adenauer and a Crisis in Weimar Democracy, in: Political Science Quarterly, LXXIIIC (1958), S . 3 - 2 3 .
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wahrscheinlich auf Betreiben Stresemanns, eine Absage.49 Das dann ohne Schwierigkeiten von Marx, zum dritten Male, übernommene Reichskanzleramt beruhte auf der Voraussetzung des Übergangscharakters der Regierung, die auf Verlangen der DVP nach rechts offen blieb, im übrigen aber die alte Zusammensetzung unverändert — und auch die Flaggenverordnung, an der sich der Konflikt entzündet hatte, unbeanstandet — beibehielt. Der Reichskanzler hatte gewechselt; die Regierungsführung hatte Marx anstelle Luthers übernommen; doch der Versuch einer festeren Verankerung der Minderheitsregierung war fehlgeschlagen. Wie immer man den Anteil Stresemanns am letzten Teil dieses Ergebnisses beurteilen mag: er leitete faktisch nach wie vor den Kurs der deutschen Außenpolitik, nicht der Kanzler im Rahmen seiner Richtlinienkompetenz; und so blieb es auch.
49 Diese schon von Adenauer selbst vertretene Version wird im besonderen von Stehkämper, Konrad Adenauer, S. 417 ff., bekräftigt, auch von Stürmer, Koalition, S. 153, der aber die Möglichkeit einer Zusammenarbeit Adenauers und Stresemanns skeptisch beurteilt.
ACHTES
KAPITEL
Ein Plebiszit zur Fürstenenteignung Währenddessen begann sich ein anderes Problem, das der Fürstenabfindung zuzuspitzen, das seit Kriegsende bestand, sich über Jahre hingeschleppt hatte, wiederholt heftiger erörtert worden war und auch im Hintergrund der KoalitionsVerhandlungen im Mai 1926 insofern einen gewissen Einfluß übte, als es den Gegensatz zwischen rechts und links erneut verschärfte und in dieser Hinsicht schließlich die Bedeutung des Flaggenstreits alsbald überbot. Nachdem es in einigen Ländern zu privatrechtlichen Regelungen mit den depossedierten Fürstenhäusern, aber auch zu einigen Prozessen gekommen war, die die wachsende Aufmerksamkeit einer in dieser Frage von Grund auf entzweiten Öffentlichkeit fanden, erhielt schließlich dieser Streitkomplex in den Versuchen zu einem Vergleich Preußens mit dem Hohenzollernhause eine neue Dimension politischer wie finanzieller Art. Nach einer Reihe kostspieliger und für Preußen nachteilig ausgegangener Zivilprozesse, deren Entscheidungen den Vorrang historischer Rechtsverhältnisse herausarbeiteten, war schließlich in einem Vergleich zwischen dem preußischen Finanzministerium unter Höpker-Aschoff (DDP) und dem Generalbevollmächtigten des einstigen Herrscherhauses, v. Berg, dem vorletzten Chef des Zivilkabinetts des Kaisers — und immer noch einflußreichen, „zähen und umsichtigen" 50 Wahrer der Interessen des einstigen Kaiserhauses —, ein „Vertrag über die Vermögensauseinandersetzung zwischen dem Preußischen Staat und den Mitgliedern des vormals regierenden Preußischen Königshauses" ausgehandelt und am 12. Oktober 1925, nicht ohne Kompromißwillen beider Seiten, zustandegekommen, 51 der im April 1926 in Kraft treten sollte. Er beließ zwar im 50 Friedrich v.Berg als Chef des Geheimen Zivilkabinetts 1918. Erinnerungen aus seinem Nachlaß, bearb. von Heinrich Potthoff (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe, 7), Düsseldorf 1971, S. 63. 51 Über die Rechtslage und seine beratende Tätigkeit berichtete der monarchisch gesinnte vormalige (1921 — 1924) preußische Landtagsabgeordnete, (1924—1932) Reichstagsabgeordnete (Wirtschaftspartei) und nachmalige (März—Dezember 1930) Reichsjustizminister Bredt in seinen hinterlassenen Aufzeichnungen: Erinnerungen und Dokumente von
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Prinzip den größeren Teil der land- und forstwirtschaftlichen Liegenschaften im Eigentum der Hohenzollern, reduzierte aber die Geldentschädigungen für Überleitungen an den preußischen Staat auf eine diskutable Barleistung. Allerdings hätten eine umgekehrte Regelung und terminierte Geldleistungen des Landes Preußen dem politisch maßgebenden Gedanken, eine Konspiration des Herrscherhauses mit inner- und außenpolitischen Gegnern der Republik auszuschließen, wirksameren Nachdruck geben können. Schwerer wog, daß diese verhältnismäßig späte Regelung, die man kaum noch der Öffentlichkeit bekanntzugeben wagte, mit einem Aufsehen erregenden Reichsgerichtsurteil zusammenfiel, das den thüringischen Staat zwang, die von ihm eingezogenen Ländereien des ehemaligen Herzogs von Sachsen-Coburg-Gotha wieder zurückzugeben, und daß sich beides in der Zeit einer sich rasch verschärfenden Wirtschaftskrise ereignete,52 in der die Arbeitslosigkeit zunahm und in der die Millionen der neuen, festen Reichsmarkwährung viel bedeuteten. Die Rechtslage war allerdings insgesamt überaus kompliziert, zumal in einigen Ländern die Revolutionsregierungen 1918 zu drastischen, aber nicht einheitlichen Maßnahmen geschritten, reichsgesetzliche oder verfassungsrechtliche Regelungen indessen unterblieben waren. Politische Reaktionen, die eine Gegenbewegung ankündigten, blieben nicht aus. Die Reichstagsfraktion der SPD verfolgte schon seit 1923 den Gedanken einer reichsgesetzlichen Enteignung der Fürstenhäuser gegen begrenzte Ausgleichsrenten. Sie bereitete die Abwendung der preußischen Vertragsverpflichtungen vor, als ihr Ende November 1925 ein von Preußen veranlaßter Antrag Koch-Wesers und der DDP-Fraktion im Reichstag zuvorkam, der zum gleichen Zwecke und im gleichen Sinne die Länder ermächtigen wollte, die Vermögensauseinandersetzungen mit den Fürstenhäusern gesetzlich abschließend zu regeln. Daraufhin brachte wenige Tage später die KPD-Fraktion den Antrag ein, durch Reichsgesetz die entschädigungslose Enteignung der früheren Dynastien herbeizuführen und die gewonnenen Vermögen, die von den Ländern einzuziehen Joh. Victor Bredt 1914 bis 1933, bearb. von Martin Schumacher (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Dritte Reihe, 1), Düsseldorf 1970, S. 199—204; vgl. Bredt, Die Vermögensauseinandersetzung zwischen dem Preußischen Staat und dem Königshause, Berlin 1925, mit einem Vorwort von F. v. Berg. 52 Zur Problematik die Untersuchung von Ulrich Schüren, Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung. Die Vermögensauseinandersetzung mit den depossedierten Landesherren als Problem der deutschen Innenpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Preußen (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 64), Düsseldorf 1978.
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seien, Kleinbauern, Pächtern, Kriegsbeschädigten, Sozialrentnern und Kleinrentnern zukommen zu lassen sowie zur Errichtung von Kinderheimen und Erziehungsanstalten zu verwenden. 53 Da es jedoch schon während der ersten Lesung im Reichtstagsplenum, aldann auch im Verlaufe der von Koch-Weser geführten Verhandlungen über die Bildung einer Regierung der „großen Koalition" fraglich erschien, ob sich überhaupt eine Mehrheit für irgendeine der Lösungen in der Fürstenvermögensfrage finden werde, überbot schließlich die KPD alle vorliegenden Anträge, indem sie den neuen, noch weitergehenden Antrag einbrachte, bis zum Inkrafttreten einer reichsgerichtlichen Regelung sämtliche Rechtsstreitigkeiten über die Fürstenabfindungen auszusetzen. Hierfür fand sich — lediglich gegen die Stimmen der DNVP, bei Stimmenenthaltung der BVP, — eine breite, verfassungsändernde Mehrheit des Reichstags, so daß dieses „Sperrgesetz" im Februar 1926 angenommen wurde und in Kraft trat.54 Unter dieser Voraussetzung gelangte dann aber eine weitere Initiative zum Zuge, die eben in den Januartagen 1926, in denen der Reichspräsident auf eine Erneuerung der Regierung der Mitte unter Luther drängte, 55 Gestalt angenommen hatte. Im Wortlaut abgewandelt, dem Sinne nach aber mit dem erstgenannten kommunistischen Antrag übereinstimmend, der noch zur weiteren Beratung dem Rechtsausschuß des Reichstags vorlag, legten Politiker der linken Parteien ein knapp formuliertes Gesetz vor, das über ein Volksbegehren und einen Volksentscheid durchgebracht werden sollte. Man ging dadurch einer offenen Zustimmung zur KPD-Vorlage und einer Reichstagsmehrheit aus dem Wege, schob aber die Frage selbst auf die Ebene einer höheren, überparlamentarischen Volksgesetzgebung, an der alle Wahlberechtigten teilnahmen. Die Fürstenabfindung erschien prekär, die Forderung nach entschädigungsloser Enteignung auch außerhalb der KPD populär genug, um diesen Weg einschlagen zu können, den die Reichsverfassung in Art. 73 Abs. 3 allerdings als „ferner" vorgesehene Möglichkeit eröffnete. Ganz gleich, ob man eine Veranlassung durch die kommunistische Parteiführung annehmen mochte oder nicht; die entschiedene und militante Agitation der KPD gegen die einstigen Monarchen hatte weithin gewirkt und auch in anderen Organisationen und Gruppen die Überzeugung genährt, daß es blankes Unrecht sei, „daß Wilhelm II. ... jährlich 50000 Goldmark 53 54 55
17*
Einzelheiten bei Schüren, a. a. O., S. 49 f. a.a.O., S. 56f. S. oben, Anm. 44 — 46.
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Pension erhielt [in Wirklichkeit waren seine Finanzmittel weitaus größer] ... und daß man ihm 27 Güterwagen voller Möbel, Kunstschätze, Teppiche und Tafelsilber nach Holland ins Doorner Exil nachgeschickt hatte, während dieselbe großzügige Weimarer Republik ihre Rentner und alten Leute ... für die Folgen des Krieges büßen ließ", 56 wie die kommunistische Agitation behauptete. In Wirklichkeit ging es in der Hauptsache um sehr viel mehr: um Schlösser, Museen, Landbesitz im Umfang von Hunderttausenden von ha und um Millionen RM in Barabfindungen, anderseits um verwickelte Apanagen, Stiftungen, Bezüge und Versorgungsansprüche der Hofangehörigen usf., insgesamt um schwierige, problembeladene Rechtsfragen, die nur von kenntnisreichen umsichtigen Juristen gelöst, in der Massenagitation aber nicht einmal aufgenommen, geschweige denn begreiflich gemacht werden konnten. Der Gedanke, einen Volksentscheid herbeizuführen, kam aus der SPD. Aber Willi Münzenberg, der begabte Organisator der KPD, ergriff die Initiative und schuf die überparteiliche linke Basis, um auch innerhalb und außerhalb der SPD Boden für den Vorstoß zu gewinnen. Die von ihm in Verbindung mit der Liga für Menschenrechte veranlaßte Gründung eines Reichsausschusses gegen die Fürstenabfindung Anfang Januar 1926 brachte den angesehenen Leiter des Berliner Statistischen Amtes, Robert Kuczynski, der sich der KPD angeschlossen hatte, in das Amt des Vorsitzenden. An einem Tage des Gedenkens der Geschichte Preußens und des Deutschen Reiches, aber auch der Erinnerung an die Eröffnung der Pariser Friedenskonferenz von 1919, am 18. Januar 1926, stellte der Reichsausschuß, in dem außer der KPD, der Rest-USPD, dem Roten Frontkämpferbund und der Deutschen Liga für Menschenrechte 21 weitere, meist pazifistische Organisationen vertreten waren, 57 während die SPD-Führung einen Beitritt abgelehnt hatte, beim Reichsinnenministerium den Antrag auf das Volksbegehren. Reichsinnenminister Külz (DDP) leitete es dem Reichspräsidenten und den Reichsministern zu 58 und erteilte bereits am 23. Januar die Zulassung.
Margarete Buber-Neumann, Kriegsschauplätze der Weltrevolution. Ein Bericht aus der Praxis der Komintern 1919-1943, Stuttgart 1967, S. 139. 57 Schüren, Volksentscheid, S. 73, nennt noch den Internationalen Bund der Opfer des Krieges und der Arbeit, den Reichsbund deutscher Kleinbauern und den ArbeiterWanderbund „Die Naturfreunde", Buber-Neumann außerdem noch den Internationalen Bund der Freidenker, die Internationale Frauenliga für Frieden, das Kartell freigeistiger Verbände, den Nelson-Bund und „eine Reihe Sport- und Kulturvereinigungen". 58 22. Januar 1926, vervielf. BA, R43 1/2206. 56
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Wenige Tage vorher hatte auch der Parteivorstand der SPD Position bezogen. Nachdem sich die große Mehrheit der Reichstagsfraktion gegen eine Regierungsbeteiligung ausgesprochen hatte, entschied er sich für den Weg eines Volksgesetzes. Er folgte damit der sich unter den Mitgliedern ausbreitenden Stimmung, die von der Agitation der KPD in die größere Partei hineingetragen wurde. Ein Aktionsbündnis mit der KPD und den ihr folgenden Organisationen lehnte die SPD-Führung jedoch nach wie vor ab. Um dies nach außen hin deutlich genug zum Ausdruck zu bringen, erarbeitete der Parteiausschuß einen vom kommunistischen etwas abweichenden Gesetzentwurf, der dem Volksbegehren zugrundeliegen sollte. Durch Einschaltung des der SPD eng verbundenen ADGB konnte dann aber auf dem Kompromißwege ein gemeinsamer Entwurf noch am 23. Januar zustandegebracht und zwei Tage danach erneut dem Reichsinnenministerium vorgelegt werden, da die Unterhändler der KPD diesen Umweg für belanglos hielten und ohne weiteres zustimmten. Formell war damit der kommunistisch geführte „Reichsausschuß" von der SPD beiseite gedrängt, aber der Anschein eines Aktionsbündnisses kaum ausgeräumt. Die gemeinsam erarbeiteten Richtlinien für die Durchführung und das Zusammengehen in Einzelheiten gaben der KPD genug Anlaß, eine faktisch nun doch gewonnene „Aktionseinheit" emphatisch hervorzuheben und propagandistisch für ihre Zwecke auszunutzen, zumal die SPD-Organe dem kaum nachdrücklich widersprechen konnten und der Reichsausschuß Kuczynskis nach wie vor das Agitationszentrum bildete. Gewiß vertrat die SPD nur ein „widerwillig [eingegangenes] Zwangsbündnis", 59 das sie aus taktischen Gründen Schloß und durchhielt, ohne ihren Kurs der KPD gegenüber auf die Dauer zu ändern. Doch die KPD mit ihrem nach sowjetischem Vorbild geschulten AgitpropApparat konnte zum ersten Male ungehindert und mit mannigfacher Unterstützung eine weit auch ins flache Land wirkende Propaganda betreiben, ihre Mission zur „Botschaft an die Armen" umprägen und neben vielem anderen die „Enteignung der Großgrundbesitzer" als eines der Ziele der Aktion proklamieren. 60 Der Eindruck einer breit formierten Aktionseinheit von links, die sich gelegentlich schon als eine „Volksbewegung" bezeichnete, kann kaum verwundern. Auch die SPD zeigte sich 59
Diesem Urteil von Schüren, Volksentscheid, S. 87, kann man wohl zustimmen. Vgl. Buber-Neumann, Kriegsschauplätze, S. 140. Natürlich wurde die wirtschaftliche Krise in die Schlagwortpropaganda einbezogen. Ein Aufruf der „Roten Fahne" zur gemeinsamen Massendemonstration im Berliner Lustgarten gab die Parole aus: „Solidarität mit den Erwerbslosen und allen Notleidendenl Nieder mit dem Fürstengesindell Weg mit dem Kabinett der Reaktion! Auflösung des Reichstags!" Schüren, Volksentscheid, S. 97. 60
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entschieden aktiv. Sie hielt bis zum Ende der Einzeichnungsfrist, an dem die ausliegenden Listen geschlossen wurden, am 17. März 1926, insgesamt 12846 Veranstaltungen ab und verbreitete 35 Millionen Flugblätter und Broschüren.61 Das Ergebnis übertraf dann selbst kühne Erwartungen und bei weitem auch das verfassungmäßige Mindesterfordernis der Zustimmung von einem Zehntel der Wahlberechtigten, mithin etwa 4 Millionen. Das amtliche Resultat ergab über 12,5 Millionen gültige Stimmen, die das Begehren nach einem Gesetz zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten unterstützten, nahezu zwei Millionen mehr, als SPD und KPD zusammen in der letzten Reichstagswahl am 7. Dezember 1924 erhalten hatten,62 was als Beweis dafür gelten konnte, daß der Agitation zugunsten dieses Plebiszits ein weiter Einbruch auch in bürgerliche Wählerschichten gelungen war. Das Faktum, daß eine große Gruppe bürgerlicher Wechselwähler im Bereich der mittleren und nach links von der Mitte tendierenden Parteien „Volksbewegungen" zuneigte, wird auch für Parlamentswahlen in Rechnung gestellt werden müssen. Doch der nun auf diesem beeindruckenden Wege an den Reichstag gelangte plebiszitäre Entwurf eines Enteignungsgesetzes fand dann keine ausreichende Mehrheit, da außer SPD und KPD keine andere Fraktion für ihn stimmte. Da sein Anliegen im Gegensatz zu weit verbreiteten Rechtsauffassungen stand, die durch Gerichtsurteile gefestigt waren, wurde die vorgesehene Gesetzesentscheidung für eine „entschädigungslose Fürstenenteignung" als verfassungsändernd betrachtet und von der Mehrheit abgelehnt. Somit blieb nur der Volksentscheid, für den SPD und KPD erneut alle Anhänger der Fürstenenteignung mobilisierten, während fast gleichzeitig der Flaggenstreit ausbrach und beigelegt wurde, die DDP, von ihrer nun erreichten Schlüsselstellung aus, den Reichskanzler stürzte und eine neue Regierung unter dem Zentrumskanzler Marx ihr Amt antrat. Sie kam in den Genuß der wirtschaftlichen Wende und bereitete schließlich den Völkerbundseintritt Deutschlands vor. 63 Auch das Jahr 1926 zählte zu den bewegten Phasen in der Geschichte der Weimarer Republik. Eine ungewöhnlich ausgedehnte, schlagartig Schüren, a. a. O., S. 137, Anm. 126. Insgesamt 1 0 5 8 9 0 9 0 Stimmen nach dem endgültigen Ergebnis auf Grund der Urteile des Wahlprüfungsgerichts; Die Wahlen zum Reichstag am 4. Mai 1924 (Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 315, VI), Berlin 1928, S. 4 f. Vgl. auch Volksbegehren und Volksentscheid „Enteignung der Fürstenvermögen" (Statistik des Deutschen Reiches, 332). 61
62
63 Krüger, Außenpolitik der Republik von Weimar, bes. S.311—319, 353ff. Martin Walsdorff, Westorientierung und Ostpolitik. Stresemanns Rußland-Politik und die LocarnoAra, Bremen 1971, S. 1 7 8 - 1 8 9 .
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durchgeführte Haussuchung bei Politikern der Rechten, Verbandsführern und bekannten Großindustriellen verwies auf die Gefahr einer alldeutschen Verschwörung gegen die Republik; anscheinend fand sich einiges als einschlägig bewertetes Material;64 aber „was durch die Haussuchungen hatte bewiesen werden sollen, konnte nicht bewiesen werden: daß der Reichspräsident bereit gewesen wäre, mit den Putschisten zusammenzuarbeiten ...," 65 eine doch wohl allzu kühne und voreilige Mutmaßung. Im Gegenteil: Hindenburg hatte sich trotz allen Drängens seiner alten Anhänger aus ihren Konflikten weitgehend herausgehalten, wenn er auch keinen Zweifel an seiner persönlichen Haltung aufkommen ließ. Auf Meissners Rat wandte er sich in einem Brief, der zur Veröffentlichung bestimmt war, an den einflußreichsten der Initiatoren seiner Wahl, den einstigen preußischen Innenminister Friedrich Wilhelm v. Loebell.66 Der Reichspräsident bezeichnete darin seine Ablehnung der Fürstenenteignung und des Volksentscheides, der in Gang gekommen war, deutlich als private Stellungnahme, aber nicht als Äußerung von Amts wegen. Damit riskierte Hindenburg Verwirrung und Verschärfung der politischen Auseinandersetzungen; ein „Machtwort" des Reichspräsidenten67 war dies aber nicht. Der Ausgang des Volksentscheids wurde wohl hierdurch auch kaum beeinflußt. Die nunmehr nach Art. 75 und 76 der Reichsverfassung erforderliche Zustimmung der Mehrheit der 40 Millionen Stimmberechtigten stand kaum in Aussicht. Immerhin konnten aber die erreichten mehr als 14 Millionen Ja-Stimmen in den Augen mancher als ungewöhnlich großer Erfolg der Linken erscheinen. Das Mittel des Volksentscheids über ein Volksbegehren als Korrektur parlamentarischer Konstellationen im Rahmen der Reichsverfassung war nun erstmals zu einer dramatischen Propagandaaktion verwendet worden
64
Die Frage ist nicht geklärt. Nach Schüren, Volksentscheid, S. 169, der sich auf Angaben im Nachlaß des preußischen Innenministers Grzesinski stützt, erstreckten sich die Untersuchungen am 11./12. Mai 1926 auf Angehörige von 25 Organisationen, unter ihnen auch Großindustrielle, wie Kirdorf, Vogler und Wiskott. Unklar bleibt, wo was gefunden wurde. Die Durchsuchungen wurden durch die Anzeige eines Elberfelder Studienassessors ausgelöst. Ferdinand Friedensburg, Lebenserinnerungen, Frankfurt a. M. 1969, S. 162 ff.; vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie (Veröffentlichung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz), Frankfurt a. M./ Berlin/Wien 1977, S. 504 ff. 65
Schulze, a.a.O., S. 505. Dorpalen, Hindenburg, S. 109; ausführlicher, mit etwas anderer Nuance, Schüren, Volksentscheid, S. 172 ff. 67 So Schüren, a.a.O., S. 171 f. 66
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und schien vorübergehend die Parteien in zwei Blöcke zu spalten.68 Wenn auch das Interesse an den Streitfragen alsbald wieder abflaute, so hatte sich doch der erste Schritt zum Volksbegehren als neues, gewisse Erfolge eröffnendes Mittel im politischen Kampf herausgestellt, das wohl über kurz oder lang auch von anderen Interessen in Anspruch genommen werden konnte. Ein Reichsgesetz blieb weiterhin aus; und noch vor Ablauf des Jahres 1926 Schloß Preußen einen neuen Vergleich mit dem Hohenzollernhause. Aber das Beispiel des Volksbegehrens machte Schule. Noch im Frühjahr 1926 versuchten zwei Organisationen, ein Aufwertungsbegehren der durch die Inflation Geschädigten ins Werk zu setzen. Damit förderten sie allerdings die innerhalb der Reichsregierung gehegten Pläne für ein Gesetz zur Einschränkung der Verfassungsbestimmungen über einen Volksentscheid, das jedoch schon an den Einsprüchen sowohl der Gewerkschaften als auch des Reichsverbandes der Deutschen Industrie scheiterte.69
68 Treffend im abschließenden Urteil Reinhard Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus, 40), Düsseldorf 1971, S. 216. 69 a.a.O., S.207ff.
NEUNTES
KAPITEL
Der Reichspräsident in den Krisen der Koalitionsregierungen Nachdem sich die Übergangsregierung der Mitte unter Marx sieben Monate lang, mit zunehmender Unlust der Beteiligten und dann wechselnden Mehrheiten im Reichstag parlamentarisch hindurchlaviert hatte, zerbrach sie im Dezember 1926 an einem Mißtrauensvotum, das die Sozialdemokraten einbrachten und die Deutschnationalen unterstützten, denen daran lag, eine Regierung mit klaren Mehrheitsverhältnissen zu schaffen. Der Reichspräsident steuerte nun auf eine Reichsregierung hin, deren Bildung er zunächst in die Hände des Fraktionsvorsitzenden der Deutschen Volkspartei, Scholz, legen wollte, dann jedoch, als sich dieser wegen der vom Zentrum zu erwartenden Widerstände versagte, Curtius als „Verlegenheitskandidaten" anvertraute.70 Stresemann Schloß sich nur „widerstrebend" dem Wunsch Hindenburgs an, der seinem Auftrag die nach Koch-Wesers Meinung „verfassungsmäßig bedenkliche Beschränkung" gab, „daß Curtius versuchen sollte, eine Rechtskoalition zu bilden"71. Der Versuch scheiterte schließlich am Zentrum, das sich nur mit der führenden Position des Kanzlers einer solchen Koalition anzuschließen bereit war, um nach Eröffnung der bayerischen und dann auch der preußischen Konkordatsverhandlungen mit dem Heiligen Stuhl sein schulpolitisches Programm mit deutschnationaler Unterstützung auch auf Reichsebene durchsetzen zu können. Diese Gestalt einer Rechtskoalition, die am Ende dieser Krise — zum vierten Male unter dem Zentrumskanzler Marx — entstand, entsprach ganz und gar nicht den Absichten, die der Reichspräsident hegte. 72 Der „schwarz-blaue Block", der bis zum Frühsommer 1928 regierte und in dem der Deutschen Volkspartei die Außenpolitik und die Wirtschaftspolitik zufiel, ging mehr aus dem BetreiCurtius, Sechs Jahre Minister, S. 46 ff. Aufzeichnung vom 12. Januar 1927; BA, Nachl. Koch-Weser/36. 72 Vgl. die Schilderung von Curtius, Minister, S. 49; dort der auf das Zentrum bezogene Ausruf, den Hindenburg ihm gegenüber tat: „Parteigeist, ich klage dich an vor Gott und der Geschichte!" 70 71
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ben der Zentrumsführung als aus der Absicht Hindenburgs hervor, der die Richtung nach rechts gewiesen hatte. Doch auch die Vorgeschichte verdient Beachtung. In dem seit Monaten währenden Ringen, um die Verbreiterung der Grundlage des Kabinetts zu erreichen, hatte der Reichskanzler selbst die Heranziehung der SPD zu einer bedingten Arbeitsgemeinschaft betrieben, um die fallige und drängende Reform der Erwerbslosenfürsorge durchzubringen, was schließlich mit Hilfe des hintergründigen Drucks der Arbeitnehmerorganisationen, von der DNVP bis zum A D G B und den Zentrumsgewerkschaftlern, auf die Reichstagsmehrheit auch gelang. 73 Doch Hindenburg ergriff eindeutig die Initiative zugunsten derer, die, wie der volksparteiliche Fraktionsvorsitzende Scholz, nicht zuletzt aus Opposition gegen die Personalpolitik der SPD in Preußen, die stete Unterstützung durch die Deutschnationalen anstrebten. Nachdem die langen Konflikte über die Fürstenabfindung die Verbindungen zur Sozialdemokratie gestört hatten, trat der Reichspräsident nun für die Einbindung der Deutschnationalen in die Reichsregierung ein, was den Demokraten die Entscheidung abverlangte, mit dieser Neubildung der bürgerlichen Koalition ihre Verbindungen nach links zu lösen. 74 Das provozierte Stürmer, Koalition, S. 210. Hierzu Curtius über seine Bemühungen, Reinhold als Reichsfinanzminister zu halten, Minister, S. 47 f., sowie die Aufzeichnung Koch-Wesers vom 12. Januar 1927; dort die Bemerkung: „Das Verhalten des Reichspräsidenten macht mir Sorgen. Er verliert die Objektivität, die ihm das Volk noch in warmer Begeisterung zutraut. Wie kann man gegen den täglichen Umgang mit alten Generälen und anderen rechtsgerichteten Kreisen ankommen." Vgl. W. Hubatsch, Hindenburg, S. 259 f.; ausführlich und mit starker Kritik an der SPD Stürmer, Koalition, S. 162—181. Die Reichsregierung und die Reichstagsfraktion des Zentrums hatten nach dem Scheitern des vom Sozialpolitischen Ausschuß gebilligten Zentrumsantrags zur Erhöhung der Erwerbslosenversicherung und der Annahme eines weitergehenden Antrags der SPD am 8. November die Erweiterung der Koalition sowohl durch die DNVP als auch durch die SPD erörtert. Morsey, Zentrumsprotokolle 1926 — 1933, S. 59—63. Unter dem Eindruck einer unwillkommenen, von der SPD erzwungenen Reichswehrdebatte bemühte man sich wieder um Annäherung an die letzte. In diesen Wochen gab es aber noch andere Traktanden, die kontrovers blieben, so die Zentrumsvorlage eines „Gesetzes zur Bekämpfung von Schund und Schmutz" (Jugendschutzgesetz), die Abänderung des §1568 BGB zur Erleichterung von Ehescheidungen, den Entwurf des Arbeitsgerichtsgesetzes, Auseinandersetzungen des Reichsarbeitsministers Brauns mit Preußen in der Frage der ländlichen Siedlungen, dann die Gewährung einer einheitlichen Weihnachtsgratifikation für Beamte, hinter die sich eine breite Front der Parteien von der SPD bis zur DNVP in seltener Einmütigkeit aufbaute, der das Zentrum zunächst nur unter der Voraussetzung zusätzlicher Zahlungen an Erwerbslose, Invaliden und Rentner zustimmen wollte, aber nach mehrtägigen Verhandlungen über einen Kompro73
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zunächst Einwände gegen die Beziehungen, die die Reichswehr zu einigen Wehrverbänden unterhielt, und gegen deutsche Rüstungsverbindungen mit der Sowjetunion75 , stärkte auch Bedenken gegen den Kurs des Reichspräsidenten, dessen Wahl die Demokraten nicht gewollt, dessen Anfange sie aber loyal verfolgt hatten. Für Hindenburg sprach hierbei allerdings auch die Reichswehrpolitik mit, in der die Reichsregierung mit der SPD nicht zur Verständigung fand und sich Reichswehrminister Geßler einem wachsenden Druck ausgesetzt sah, nachdem einige Wochen vorher General v. Seeckt als Chef der Heeresleitung zu Fall gebracht worden war. 76 Mit guten Gründen ist gesagt worden, daß systematische Versuche, Hindenburg für die sich konsolidierende Republik zu gewinnen, von den Führern der republikanischen Parteien kaum unternommen wurden, weil ihnen der Reichspräsident persönlich, geistig, seinem Herkommen und seinen Gewohnheiten nach fremd erschien.77 Die politischen Einstellungen im Wahlkampf um die Reichspräsidentschaft blieben bestehen und wirkten noch lange nach. Nur wenige der führenden Politiker außerhalb der DNVP, Scholz, Luther, Marx, Otto Braun,78 Stresemann, suchten und fanden — mit gelegentlicher Ausnahme des letzten — einen im Grunde unsichereren Zugang zu ihm. 79 Daß die Unterschätzung der Bedeutung des Reichspräsidentenamtes oder mannigfache andersartige Unentschiedenheiten zur Fehleinschätzung der Persönlichkeit führten, erscheint zweifelhaft; spätestens ein oder zwei Jahre nach der Wahl Hindenburgs mußten erfahrene Politiker wissen, was die Uhr geschlagen hatte. Die Verlegenheiten, in denen sie sich fanden, sprechen jedenfalls miß beittat, schließlich die Reichswehrprobleme. Hierzu auch Reichsministerbesprechung am 10.November 1926, BA, R 4 3 1/1416. 75 Stürmer, a. a. O., S. 172 ff., 177 ff.; Josef Becker, Zur Politik der Wehrmachtsabteilung in der Regierungskrise 1926/27, in: V Z G , 14 (1966), S. 6 9 - 7 8 . 76 Geßler, Reichs wehrpolitik, S. 3 0 1 - 3 1 1 ; Dorpalen, Hindenburg, S. 112 f. 77 Dorpalen, a.a.O., S. 117. 78 Nach dem Amtsantritt Hindenburgs hatte Braun zunächst in kleinlicher Weise abgelehnt, die preußischen Amtsgebäude in Berlin flaggen zu lassen. Doch während der nächsten Jahre kam es zu einer zeitweiligen Annäherung zwischen beiden, die es Braun ermöglichte, dem Reichspräsidenten manchen erbetenen Ratschlag zu erteilen. Das Urteil über das wiederholt übertriebene Verhältnis ist jetzt zurechtgerückt von H. Schulze, Otto Braun, S. 4 8 8 - 4 9 3 . 79 So Dorpalen, Hindenburg, S. 117: „Im Unterschied zu Westarp, Tirpitz oder Oldenburg-Januschau konnten die meisten republikanischen Führer in Hindenburgs Gegenwart das Gefühl einer gewissen Unsicherheit niemals ganz überwinden, was es ihnen erschwerte, ihm ihre Ansichten überzeugend vorzutragen."
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nicht für die erfahrenen älteren Parteiführer, zumal Hindenburg anfanglich zumindest äußerste Vorsicht und offenkundig auch die entschiedene Schonung seiner Opponenten bescheinigt werden muß. Allerdings ist die Frage nach Größe und Qualität der innen- und außenpolitisch urteilsfähigen Kreise unter deutschen Parteiführern kaum gestellt und schon gar nicht untersucht worden. Die Geschichte der offenkundigen Fehleinschätzungen politischer Situationen durch deutsche Parlamentarier begann nicht erst und endete ebensowenig Anfang August 1914. Schwer wog die Unsicherheit der Parteienverhältnisse, namentlich in der Mitte und in der Linken, die Hindenburg durch einige Ratgeber eher ausgiebig als maßvoll erläutert, aber auch in der Haltung ihrer Politiker deutlich vor Augen geführt wurde. Der preußische Ministerpräsident Otto Braun, der Gespräche mit Hindenburg führte, 80 vermochte auf längere Sicht hieran nichts zu ändern, weil innerhalb der sozialdemokratischen Partei in den ersten Jahren unter dem zweiten Präsidenten die Neigung zur Opposition überwog, bis der Kieler Parteitag 1927 eine Wende einleitete.81 Auch Brauns Vorschlag im Dezember 1926, einige Sozialdemokraten mit Ministerämtern zu betrauen, um mit einer solcherart verbreiterten „Regierung der Mitte" die Regierungskrise zu überwinden, stieß nicht nur bei der DVP, sondern ebenso bei der SPD selbst auf Widerstand, wobei die Verbindungen der Reichswehrführung zur Sowjetunion wie andere geheime Rüstungskomplexe und Verbindungen zwischen Reichswehr und Wehrverbänden den Ausschlag gaben, 82 die in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wiederholt für politischen Sprengstoff sorgten und mehr noch als die deutsche Außenpolitik die Beziehungen zwischen Reichsregierung und SPD blockierten. Die neue Regierung Marx schuf im Einvernehmen mit dem Reichspräsidenten in zweien dieser Punkte Klarheit: Sie untersagte Verbindungen zwischen Reichswehr und Wehrverbänden und kündigte eine neue Rekrutierungsordnung an, die die
Vgl. Dorpalen, a.a.O., S.129f., auch 249. Hierzu und zum Folgenden a. a. O., S. 120 f. 82 Eine vom sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Kieler Polizeipräsidenten Otto Eggerstedt gefertigte Niederschrift bezeugt eine Aussprache zu diesen Punkten, die am 1. Dezember 1926 im Auswärtigen Amt zwischen Marx, Stresemann und Geßler seitens der Reichsregierung und Philipp Scheidemann, Hermann Müller, Otto Wels, Rudolf Breitscheid und Eggerstedt von der SPD stattfand und mit der Andeutung eines Einvernehmens endete; abgedruckt bei Otto-Ernst Schüddekopf, Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918 bis 1933, Hannover/Frankfurt a. M. 1955, S. 214-217. 80 81
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Aufnahme verfassungsfeindlicher Kräfte in die Reichswehr ausschließen sollte.83 Auf der anderen Seite bemühte sich der Reichspräsident, die DNVP oder doch namhafte Persönlichkeiten an die Regierung heranzuführen und ähnlichen Bemühungen des Reichskanzlers Marx Rückhalt zu geben. Die innere Zerspaltenheit dieser Partei war indessen schon seit ihrem Wahlsieg in der Reichstagswahl im Mai 1924 gerade in dieser Frage offenkundig, so daß sich die Aussicht auf Verwirklichung derartiger Bemühungen kaum günstiger ausnahm als im Falle der SPD. Es scheint nicht leicht, den verwirrenden Fäden der Politik innerhalb der DNVP zu folgen, um das Gewicht der Autorität des Reichspräsidenten zu ermessen.84 Das Bild läßt sich auch deshalb schwer nachzeichnen, weil die Wandlungen in den Auffassungen einiger Persönlichkeiten, die zur Führung der Partei zählten, innerhalb kurzer Zeit offenkundig wurden. Wahrscheinlich traf dies auch auf Hindenburg selbst, als Angehörigen dieser Partei und Richtung, zu, wie anderseits seine Wahl in das höchste Reichsamt nicht ohne tiefen Eindruck und Wirkungen auf die DNVP und ihre Mitglieder blieb. Bis zu dem am Ende dann doch erfolgreichen Versuch, diese Partei aus dem Bannkreise des Ansehens und der Autorität des alten Generalfeldmarschalls herauszulösen, den Hugenberg seit 1929 unternahm, fiel die Aussicht auf Gewinn von Einfluß und Positionen in der Führung der DNVP ausschlaggebend ins Gewicht. Nach der Wahl des Reichspräsidenten kam allerdings der gegenläufigen politischen Entwicklung, die in den Ergebnissen der Reichstagswahl im Mai 1928, vier Jahre nach dem größten Erfolg der DNVP, sichtbar wurde, 85 kaum geringere 83 Schüddekopf, Heer, S. 213; nach den Ergänzungsbestimmungen für die Rekrutierung des Reichsheeres vom 28. Dezember 1927 hatten Bewerber polizeiliche Führungszeugnisse beizubringen, die über verfassungwidrige Tätigkeiten Auskunft geben sollten. 84 Einen Einblick vermittelt der über mehrere Monate sich erstreckender Briefwechsel vom Jahre 1927 zwischen dem Partei- und Fraktionsführer der DNVP, Kuno Graf Westarp, und dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Hans-Erdmann v. Lindeiner-Wildau, Schwiegersohn von Graf Pourtalès, dem deutschen Vorkriegsbotschafter in St. Petersburg; BA, Nachl. Lindeiner-Wildau/3. 85 Am 4. Mai 1924 erhielt die DNVP 19,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen und wurde mit einem Abstand von nur einem Prozent nach der SPD zweitstärkste Partei; sie stellte vorübergehend die stärkste Reichstagsfraktion. Die Deutsch-völkische Freiheitspartei erhielt neben ihr 6,5 Prozent. Am 20. Mai 1928 entfielen auf die DNVP 14,4 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen, daneben auf die NSDAP ganze 2,6 Prozent. Der Anteil der SPD wuchs von 20,5 auf 29,8 Prozent der Wählerstimmen. Statistiken des Deutschen Reiches, hrsg. vom Statistischen Reichsamt, Bde. 315 u. 372.
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Bedeutung zu für die innere Auseinandersetzung und die permanenten Orientierungsprobleme innerhalb dieser Partei. Nach der Wahl im Mai 1924 war zunächst die Absicht durchgedrungen, die parlamentarische Regierungsweise ganz und gar kompromißlos, wenn auch ohne deutliche Reflexion von Zukunft und Folgen niederzuringen und in Worten und Taten eine große politische Umwälzung anzubahnen. Über Nationalsozialisten und Völkische weit hinaus fand diese Vorstellung Aufnahme oder Unterstützung in Teilen der DNVP, in denen die breit gestreute Saat nationalrevolutionärer Prinzipien 86 fruchtbaren Boden gewann. Der deutschnationale Landesvorsitzende in Pommern, Abgeordneter im Reichstag wie im preußischen Landtag, Hans SchlangeSchöningen, der drei Jahre später ganz anders dachte, schrieb nach der Reichstagswahl vom Mai in einer Denkschrift, die für Hugenberg bestimmt war: „Eine Partei, welche sich einmal mit dem Feinde in Verhandlungen eingelassen hat, ohne sich durchzusetzen, deren Nimbus ist dahin." 87 Gegenüber der „Agitation der gesamten Judenpresse" und „perfiden Zentrumspolitik" gebe es — wie Schlange meinte — entweder den Weg „in eine große nationale Opposition, bei der wir uns eine Schärfe angewöhnen müssen, wie wir sie bisher leider noch nicht gehabt haben, jede Regierung mit jedem Mittel zum Sturz bringen, den nationalen Willen des Volkes mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln wecken ... dann können wir mit ganz anderen Machtmitteln das Heft in Deutschland doch sehr bald in die Hand nehmen"; oder den „anderen Weg ...: Wir müssen den parlamentarischen Weg mißbrauchen, um in die Machtstellung des Staates zu kommen mit der festen Absicht, eines Tages von diesen Machtstellungen aus das Parlament zu vernichten." Das „Schwergewicht" lag seiner Ansicht nach in der Verfügung über das Reichswehrministerium und das preußische Innenministerium, das mit einem Mann neuer Wahl — „ausgerüstet mit unerschütterlichen Nerven und gesundem Menschenverstand, der getragen wird vom Vertrauen der nationalen Kreise" — besetzt werden und der sich auf drei vordringliche Punkte konzentrieren sollte: die „Reorganisation der Beamtenschaft an Haupt und Gliedern ..., wobei ... namentlich der Arbeiterschaft gezeigt werden muß, daß man sie unter keinen Umständen ausschalten will"; die „Reorganisation der Schu[tz]po[lizei], um sie ... zu einer innenpolitisch schlagkräftigen Truppe in der Hand des Ministers zu machen", und
Vgl. Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, bes. 5. u. 6. Kapitel. Denkschrift vom 19. Mai 1924, Originaldurchschlag BA, Nachl. Schlange-Schöningen/la. 86
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Der Reichspräsident
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die „Zusammenfassung der gesamten Vaterländischen Verbände". Diese hätten bereits „die absolute Macht ..., wenn sie einig wären"; gewönne man aber noch weiteren „Zulauf ... auch aus Arbeiterkreisen, sobald die Staatsgewalt den Arbeiter gegen den Terror der Sozialdemokratie schützt", dann gäbe es schließlich eine „Machtzusammenfassung in Deutschland ..., wie sie bisher noch nicht dagewesen ist; dann mag die Reichsregierung aussehen, wie sie will. Eines Tages wird diese Macht in Deutschland imstande sein, alles durchzusetzen ..." Es steht zu vermuten, daß sich Schlange-Schöningen vom Faschismus in Italien beeindrucken ließ. Die späteren Praktiken Hitlers und der Nationalsozialisten lagen jedenfalls, wie dieses frühe Zeugnis eines deutschnationalen Scharfmachers beweist, seit langem in der Luft: Nur die Frage blieb offen, wer der Mann sein werde, der nach ihnen griff. Schlange hielt Hugenberg gegenüber nicht mit Zweifeln zurück, ob ihre Partei über die rechten Männer für die Diktatur verfüge: „Haben wir die Nerven und den festen Willen dazu? Ich glaube nicht, daß ein Teil unserer Führer dazu entschlossen ist. Sie sind aufgewachsen in der Legalität der Vorkriegszeit und können sich nicht daran gewöhnen, daß die revolutionäre Zeit, in der wir auch heute noch stehen, nicht mit den legalen Mitteln der Vergangenheit, sondern nur mit revolutionären Mitteln geklärt werden kann. Deswegen wird man über diese Führer eines Tages hinweggehen müssen." Damit waren offenbar Männer wie der vormalige preußische Staatsminister Oskar Hergt, der Parteigründer und Parteivorsitzende bis 1924, und sein Nachfolger Graf Westarp gemeint. Diese Denkschrift bezeugt aber nicht nur die frühe Vorwegnahme eines später von der NSDAP weitaus erfolgreicher verwirklichten machtpolitischen Programms, sondern auch den inneren Zwiespalt der Deutschnationalen, schon vor den bekannteren Gruppierungen und Flügelbildungen der Endzwanzigerjahre. Die nationalsozialistische Radikalisierung war mithin kein bloßes Ergebnis der späteren großen Krise; sie wurde durch sie nur begünstigt und nahm andere Organisationsformen an. Auch im Hinblick auf die Hauptlinien der politischen Anschauungen und Zielsetzungen erscheinen in der historischen Bedeutung die Differenzen kaum gravierend. Hans Schlange-Schöningen, der spätere Reichskommissar und Reichsminister unter Brüning, 88 hatte erkannt, daß aus 88 In der Literatur sind neuerdings Verwechselungen unterlaufen. Der Regierungsrat Ernst Schlange (nicht: Ernst v. Schlange) wurde 1930 nationalsozialistischer Gauleiter von Brandenburg, später innerhalb der NSDAP kaltgestellt. Er war mit dem pommerschen
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der vollständigen Vereinnahmung aller Vaterländischen Verbände und ihrer einheitlichen Disziplinierung die größte Machtkonzentration innerhalb Deutschlands hervorgehen würde. Die intransigente Richtung innerhalb der DNVP, die unter dem Einfluß der Reste des Alldeutschen Verbandes stand, richtete ihre Hoffnungen auf Hugenberg, der jedoch durch die Aktion der preußischen Polizei und die Aufdeckung von Putschplänen im Mai 1926 bis zur Einstellung des Untersuchungsverfahrens im Oktober 1927 isoliert war. 89 Daneben drängte seit Ende 1924 eine andere Gruppe nach vorn, die „den Eintritt in die Reichsregierung zu erzwingen" und in dieser Absicht „zunächst mit einem System" zu brechen suchte, „das durch müdes Gehenlassen den Fortbestand einer Mittelregierung mit wechselnder Anlehnung nach rechts und links ermöglichte". 90 Der Stoß richtete sich sowohl gegen die parlamentarische als auch gegen die innerparteiliche Konstellation. Hans-Erdmann v. Lindeiner-Wildau erreichte gemeinsam mit Gottfried Treviranus im November 1926 — „gegen den Widerstand des rechten Flügels" —, daß die DNVP der Regierung Marx die Unterstützung versagte und dadurch die ersehnte „latente Regierungskrise" herbeiführte, die man, „unter Ausnutzung der taktischen Torheiten der Sozialdemokratie in der Reichswehrfrage", in der Abstimmung über das von der SPD eingebrachte Mißtrauensvotum, 91 zu „einer offenen zu machen" beabsichtigte, was im Einvernehmen mit dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Graf Westarp auch gelang. Als nach dem Rücktritt des dritten Kabinettes Marx dann Julius Curtius (DVP) mit der Neubildung beauftragt war, schob Graf Westarp Lindeiner-Wildau als Unterhändler vor, dessen Ambitionen auf das Reichsinnenministerium er unterstützte. Eine „Emanzipation des Kabinetts von der Volksvertretung", die Curtius vorschwebte, fand sogleich den Beifall Lindeiners; doch dem zweiten Teil des Gedankens des KanzRittergutsbesitzer und deutschnationalen Politiker Hans Schlange-Schöningen zwar verwandt, aber nicht identisch; der Name Ernst v. Schlange-Schöningen ist bisher nirgends bekannt. Dies zu Dietrich Orlow, Weimar Prussia 1 9 1 8 - 1 9 2 5 . The Unlikely Rock of Democracy, Pittsburgh, Pa. 1986, u. a. S. 162, 165 f., eine im übrigen insgesamt bedeutende, fortan unentbehrliche Darstellung. Stürmer, Koalition, S. 192. „... seit über zwei Jahren ..." Schreiben v. Lindeiner-Wildaus an Graf Westarp vom 3. Februar 1927. Die gründliche Art der Darlegungen wie der ungewöhnliche Umfang von 23 Seiten weisen diesem wichtigen Schriftstück innerhalb des Briefwechsels die Bedeutung des Rechenschaftsberichts Lindeiners nach dem Scheitern seiner ersten persönlichen Pläne zu. BA, Nachl. Lindeiner-Wildau/3. 89
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17. Dezember 1926; Stenogr. Berichte d. Reichstags, Bd. 391, S.8651.
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lerkandidaten, eine Allparteienregierung von der DNVP bis zur SPD zustandezubringen, entzog er sich aus gut begreiflichen Gründen. Falls es Curtius mit seiner Absicht ernst war, dann kann sein Versuch als erster, aber ungeschickt in Szene gesetzter und offenkundig auch unzeitgemäßer Anlauf zu einem „Kabinett der Köpfe" vermerkt werden, der nach dem Wahlsieg der SPD 1928 zum Erfolg - allerdings ohne DNVP - führte, dann allerdings nur wieder den Übergang zu einer Koalitionsbildung herkömmlicher Art bildete. Ausgang Dezember 1926 konnte es für Lindeiner keinen Zweifel geben, daß für derartige Versuche in der Reichstagsfraktion nicht einmal sein „Freund Treviranus" zu haben gewesen wäre. Immerhin spricht ein starker Anschein dafür, daß einzelne Mitglieder der DNVP den Gedanken einer ganz großen Koalition — einer Allparteienregierung der größeren Parteien — zumindest in Preußen erörterten. 92 Lindeiners Bemühungen ergaben allerdings kaum Nennenswertes, wenn er auch meinte, Stegerwald und Staatssekretär Pünder gewonnen zu haben — in erster Linie wohl für seine eigene Ministerkandidatur, für die er auch die Unterstützung von Führern der Wehrverbände, wie Duesterberg und den einstigen Freikorpsführer Ehrhardt, zu haben meinte, die zuvor „von diesem Ersuchen [!] eines wichtigen Faktors unserer Partei" gar nicht in Kenntnis gesetzt worden waren, wie Lindeiner mit unüberhörbarem Vorwurf seinem Parteivorsitzenden schrieb. 93 Es ist kaum auszuschließen, daß die von Lindeiner aufgenommenen Kontakte zu Brauns, Stegerwald und Pünder, 94 die er ausdrücklich er-
Lindeiner-Wildau behauptet in seinem Brief an Graf Westarp, daß in der Preußenfraktion der DNVP „solche Ideen mehrfach erörtert" wurden; er nennt namentlich die Abgeordneten Walther Graef und erstaunlicherweise Hans Schlange, den er zu Recht als einen seiner entschiedensten Gegenspieler betrachtet. In der bisherigen Forschung zu der kontroves beurteilten Geschichte Preußens in der Weimarer Republik findet sich augenscheinlich kein Reflex dieser Episode, der es ermöglichte, die Mitteilungen Lindeiners zu bewerten, weder bei H. Möller, Parlamentarismus in Preußen, noch D. Orlow, Weimar Prussia; dieser führt seine Darstellung nur bis 1925, vermerkt aber zur Vorgeschichte des preußischen Regierungsversuchs von Marx im Februar 1925 die Ansicht, „the DNVP's hard-line position was only its opening gambit and not meant as a final position", mit Erwähnung auch Schlange-Schöningens, S. 318, Anm. 173, S. 210. 93 Lindeiner-Waldau, ebda. 94 Da der Inhalt der Mitteilungen Lindeiner-Wildaus nicht deutlich genug datiert ist, läßt sich nicht sagen, ob seine Bemühungen und Inforamtionen auch in den Brief Pünders an Marx vom 28. Dezember eingeflossen sind; abgedruckt bei Stürmer, Koalition, S. 299 ff. Denkbar ist es. 92
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wähnte, aber vielleicht auch andere, die er nicht nannte, 95 auf den Gang der Dinge einen gewissen, wenn auch nach der Aktenlage schwerlich deutlich bestimmbaren, vielleicht nicht einmal einen ganz und gar im Sinne ihres Urhebers liegenden Einfluß übten. Der in erkennbarer Reserve bleibende Graf Westarp dürfte für die Schwierigkeiten innerhalb seiner Fraktion ein weit ausgeprägteres Empfinden gehabt haben als sein unverkennbar ehrgeiziger, aber politisch weniger fest stehender Stellvertreter, der sich empört und etwas mutlos über die persönlichen „Angriffe" aus der Fraktion beschwerte und über die Behandlung, die sie ihm als „preußischem Edelmann und Royalisten" angedeihen ließ, während er ganz offensichtlich auf größeren Vertrauensvorschuß gerechnet hatte. Westarps verzögerte Erwiderung und sein sorgsames Bemühen, das Bild, das der Jüngere im Leid gebrochenen Ungestüms entworfen hatte, auf eine gerade Linie zurechtzurücken, erleichterte die Aufhellung eines Teiles der anschließenden Vorgänge im Januar 1927, die Lindeiner bis dahin nur unzulänglich bekannt gewesen sein dürften. 96 Die Vorgeschichte des vierten Kabinetts Marx erscheint verwickelter als die seiner Vorgänger, vielleicht vom Niedergang des letzten abgesehen, zu dem auch Lindeiner und seine Freunde beigetragen hatten — um der Gelegenheit eines auch von ihrer Fraktion salvierten Regierungseintritts willen. Curtius war letztlich am Widerstand des Zentrums gescheitert, hinter dem in erster Linie Marx stand. Aber auch Wirth hielt es „für notwendig, die von der Deutschen Volkspartei gewünschte Führung der deutschen Politik durch den Liberalismus zu verhindern und dem Zentrum im Lande draußen erneut politische Geltung zu verschaffen", 97 mithin die Kanzlerschaft für das Zentrum zu sichern, was praktisch auf dasselbe Ergebnis hinauslief. Als dann Marx mit der Regierungsbildung betraut wurde, der die Kandidatur von Guérard abgewehrt hatte, 98 veranlaßte Graf Westarp 95 Etwas rätselhaft erscheint die kaum motivierte Bemerkung in seinem Brief an Westarp, der dies ohnehin wußte, daß er, Lindeiner, in erster Linie auf außenpolitischem Gebiet gearbeitet habe — gegen Stresemann und Locamo. 96 Schreiben Graf Westarps an Lindeiner-Wildau vom 2. März 1927 und eine beigefügte Niederschrift, die die Antwort auf Lindeiners Brief darstellen. BA, Nachl. LindeinerWildau/3. 97 So das Protokoll (12. Januar 1927); Morsey, Zentrumsprotokolle 1 9 2 6 - 1 9 3 3 , S. 82. Die von Stürmer, Koalition, S. 184, aus Stresemanns Aufzeichnungen entwickelte Version, daß Curtius zu sehr als „Wirtschaftsvertreter" galt, gibt eher die Argumentation, kaum die Motivation wieder. Die Verhandlungen zwischen den Zentrumsunterhändlern und Curtius wurden intern und nach außen wie Arcana behandelt und geheim gehalten. 98 Aufträgen zur Regierungsbildung an Zentrumsführer folgten wiederholt rasche kaleidoskopische Wechsel. Dies zeigt am Beispiel der wiederholten Gelegenheitskandidatur des
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wieder die Einschaltung des Reichspräsidenten, von dem er einigen Druck auf das Zentrum durch die erwünschte Erklärung erhoffte, die Deutschnationalen seien bereit, auch einer Regierung unter Führung des Zentrums beizutreten. 99 Hierbei dürfte wiederum der Druck wirtschaftlicher Organisationen auf die DNVP mitgewirkt haben. Die Frage, ob die Empfehlung des Obersten v. Schleicher aus dem Reichswehrministerium — wahrscheinlich im Sinne seines von Hindenburg geschätzten Ministers Geßler — zuletzt den Ausschlag gab, die angesichts der jüngeren Erfahrungen mit der SPD eine Absicherung der Reichsregierung mit Hilfe der DNYP nahelegte, oder ob andere Empfehlungen noch wirkungsvoller in die gleiche Richtung wiesen, kann beiseite gelassen werden: Sie drängten in die gleiche Richtung. Staatssekretär Meissner gab jedenfalls die Empfehlung Graf Westarps sogleich an den Staatssekretär in der Reichskanzlei weiter. 100 Die mit der Reichskanzlei abgesprochene Übermittlung dieses Briefes an den Fraktionsvorstand des Zentrums am 20. Januar und seine Veröffentlichung am folgenden Tage, übten dann in der Tat jenen Druck auf das Zentrum aus, 101 der wieder einmal programmgemäß die Verhandlungen mit der SPD beendete und den Weg zur Koalition mit der DNVP, wenn auch nicht ohne Widerstände innerhalb der Fraktion, 102 anbahnte. Der Fraktionsvorstand nutzte seine Position, indem er die Leitsätze der künftigen Regierungspolitik bereits vor Eintritt in die Verhandlungen beschloß und den künftigen Kanzler wie die Regierung festlegte. 103 Sie lesen sich wie die Erklärung einer Garantie der Fortsetzung der bisher verfolgten Außenpolitik, aber auch des Bestandes der Verfassung wie der Reichswehr gegen Angriffe und Einwirkungen von der rechten Seite. Hierzu gehörte auch das Vorhaben eines „Vorgehens gegen alle Vereinigungen und alle Bestrebungen, die den Umsturz der bestehenden Kölner Oberbürgermeisters Adenauer Hugo Stehkämper, Konrad Andenauer und das Reichskanzleramt, in: Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer, bes. S. 412 ff. 99 Hindenburg gab diese Mitteilung unverzüglich, am 15. Januar, an den Zentrumsunterhändler v. Guérard weiter, dieser am Nachmittag dem Fraktionsvorstand. Morsey, a. a. O., S. 85. Die Angaben von Dorpalen, Hindenburg, S. 125, sind zu ergänzen bzw. zu korrigieren. Vgl. Hubatsch, Hindenburg, S. 260, Dok. 55. 100 Brief Meissners an Pünder vom 18. Januar 1927; abgedruckt bei Stürmer, Koalition, S. 302 f. 101 Morsey, Zentrumsprotokolle 1 9 2 6 - 1 9 3 3 , S. 88. 102 Vgl. Morsey, a. a. O., S. 89 f., Anm. 5; auch Josef Becker, Joseph Wirth und die Krise des Zentrums während des IV. Kabinetts Marx (1927 — 1928), in: Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins, 109 (1962), S. 3 6 5 - 3 7 6 . 103 Morsey, a.a.O., S.91, 95f. 18*
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Staatsform bezwecken", das „Verbot an alle Beamte, sich an solchen Vereinigungen oder Bestrebungen zu beteiligen", ein Verbot der Zusammenarbeit von Reichswehr und sogenannten „Wehrverbänden aller Richtungen und Formen" wie die Grundsätze einer neuen Rekrutierungsordnung. Ein Reichsschulgesetz und eine gesetzgeberische Sozialreform mit mehreren bedeutenden Zielen (Ausbau des Arbeitsrechts, definitive Einführung des Achtstundenarbeitstages, Sicherung der Mitwirkung der Arbeiter und Angestellten bei der Entwicklung der Bestimmungen nach der Verfassungsvorschrift über den Reichswirtschaftsrat, Schaffung der Arbeitslosen- und Ausbau der Sozialversicherung). Alles in allem war dies wohl ein umfassendes, in wesentlichen Punkten ein bemerkenswertes, in seinen Absichten überaus kraftvolles, kaum jemals in dieser Geschlossenheit und konsequenten Abrundung wiederholtes, im voraus von der Zentrumsführung beschlossenes Regierungsprogramm. Uber die Regierung und womöglich für die weitere Zukunft entschied nun die Frage, wieviel hiervon die hinter der Regierung sich versammelnden politischen Kräfte zu verwirklichen vermochten oder überhaupt zu verwirklichen bereit waren. Damit stand und fiel die Programmatik einer auf breite Wirkung und Zustimmung Anspruch machenden Regierungskoalition. Der Beitritt des Zentrums zur Regierungskoalition war nach geschickten hintergründigen Vorbereitungen innerhalb einer sorgsam eingeleiteten Rechtsorientierung der neuen Reichsregierung zielbewußt angebahnt worden, wobei dem Einschreiten des Reichspräsidenten schon gravierende Bedeutung zukam — sowohl im Hinblick auf die Entscheidung des Zentrums als auch in Hinsicht auf die DNVP, um sie zum Mitgehen zu veranlassen. Der Darstellung Graf Westarps 104 ist zu entnehmen, daß es auch der Reichspräsident war, der Lindeiner-Wildau als Kandidaten für das Reichsinnenministerium bezeichnete, nachdem ihn Marx wie Unterhändler der anderen Parteien akzeptiert oder gewünscht hatten, um andere Persönlichkeiten der DNVP auszuschalten. Der Reichspräsident intervenierte schließlich sogar gegen einen Beschluß der DNVP-Fraktion, um Lindeiner durchzusetzen und die Kabinettsbildung zustandezubringen; Marx hatte Hindenburg gedrängt, Lindeiner und Hergt, den 1924 gestürzten Parteivorsitzenden, als Ministerkandidaten zu benennen. 105 Doch der massive Widerstand der Partei, an dem Westarp nicht unbeteiligt gewesen sein dürfte, brachte schließlich den alten Herrn dazu, Lindeiner-Wildau fallenzulassen und sich auf zwei andere Namen zu versteifen, 104 105
S. oben Anm. 96. a. a. O., wohl ein Beschluß des Parteivorstandes, auf Antrag Graefs.
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die ihm ebenfalls genehm schienen: Frhr. v. Gayl und v. Keudell. Auf der nach einigem Hin und Her endlich aufgestellten Ministerliste traten dann vier Deutschnationale in Erscheinung, Hergt als Vizekanzler und Reichsjustizminister, v. Keudell als Reichsinnenminister, Schiele als Ernährungs- und Wilhelm Koch als Reichsverkehrsminister, während das Zentrum für Marx das neben dem Kanzleramt von rheinischen Abgeordneten energisch eingeforderte Reichsministerium für die beset2ten Gebiete106, die Finanzen (Köhler) sowie das Arbeitsministerium (Brauns) und die BVP wiederum das Reichspostministerium (Schätzel) erhielten. Stresemann, Curtius und noch für ein weiteres Jahr der aus der DDP ausgeschiedene, nunmehr parteilose Geßler107 behielten ihre Ressorts. Die DDP gehörte dieser Regierung, die bis zur Reichstagswahl vom Mai 1928 amtierte, nicht mehr an. Mit der SPD teilte sie, nach mehr als sieben Jahren Regierungsbeteiligung, nunmehr die Bänke der Opposition. Fortan gab es nun aber keine Regierungsbildung mehr ohne mehr oder minder deutlich hervortretende Beteiligung des Reichspräsidenten. Auch seine persönliche Anteilnahme an dem Schicksal der Landwirtschaft in Ostpreußen wurde alsbald zum Politikum. Am 3. Dezember 1927 wandte sich Hindenburg in seinem offenen Brief unvermittelt an Reichskanzler Marx und verlangte vor aller Öffentlichkeit eine Hilfsaktion zur Behebung der Notlage der Provinz von der Reichsregierung. 108 Auch der Affront gegen Preußen und die Regierung Otto Braun, in deren Zuständigkeit eingegriffen, die aber mit keinem Wort erwähnt wurde, war in diesem Schritt des Reichspräsidenten unübersehbar, der sowohl die verfassungsrechtlichen Normbestimmungen über sein Amt als auch die bisherigen Usancen außer Acht ließ. Auszusetzen gab es mithin manches; vor allem aber hätte die einem starken Druck gleichkommende Mahnung an den Reichskanzler, dem verfassungsrechtlich die Bestim106 Morsey, Zentrumsprotokolle, S. 97, Anm. 5. Nach Spannungen im Vorstand der DDP im Gefolge einiger Kritik am Reichswehrministerium trennte sich Geßler in kollegialem Einvernehmen mit dem Parteivorsitzenden Koch-Weser im Januar 1927 von seiner Partei. Vgl. Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918—1933, eingeleitet von Lothar Albertin, bearb. von Konstanze Wegner in Verbindung mit L. Albertin (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Dritte Reihe: Die Weimarer Republik, Bd. 5), Düsseldorf 1980, S. 414 f., 420; vgl. Otto Geßler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, hrsg. von Kurt Sendtner, Stuttgart 1958, S . 5 0 2 f . 108 Original BA, R 4 3 1/1789; vgl. oben, S. 193 f. 107
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Präsidialgewalt
mung der Richtlinien der Politik oblag und der sie auch parlamentarisch zu verantworten hatte, Anstoß erregen müssen. Doch offenbar dachte unter den Regierungsmitgliedern im Reich wie in Preußen niemand an eine Entgegnung. Der Reichspräsident bestand auch auf der weiteren Verfolgung seiner Initiative, auf Grund derer schließlich die Ostpreußenhilfe ein neues Ansehen erhielt, und ließ zweimal einen Ministerrat unter Einschluß der preußischen Minister in das Reichspräsidentenpalais einberufen, um an den Sitzungen, soweit sie sich mit der Ostpreußenhilfe befaßten, selbst teilzunehmen und sie zu leiten. 109 Wenn Hindenburg bei diesen Gelegenheiten auch wenig sagte und vor allem zuzuhören schien, was und wie man ihm berichtete, 110 so ließen doch die Auffassungen und Forderungen, die er vorbrachte, nichts an Deutlichkeit vermissen. Diese erfolgreichen Initiativen wiederholten sich in den folgenden Jahren auch in der Amtszeit der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung. Die Regierung Marx sah Hindenburg nur ungern scheiden, obgleich die Koalition schon Monate vorher zerfiel, da es zwischen dem „schwarzblauen Block" von Zentrum, DNVP und BVP auf der einen Seite und der DVP auf der anderen wegen des Reichsschulgesetzentwurfes — unter der Federführung Keudells — nicht zur Einigung kam. Der Reichspräsident versuchte mit seiner Autorität, die Regierung noch bei der Stange zu halten, was aber nur für kurze Zeit gelang, in der Öffentlichkeit indessen dem Ansehen des Präsidenten, nicht dem der beteiligten Parteien 109 Niederschriften über die Ministerbesprechung im Reichspräsidentenpalais am 21. Dezember 1927 und am 7. Februar 1928, Geh.StAB, Rep. 90/1070 u. 1071; abgedruckt bei Hubatsch, Hindenburg, S. 278 ff. 1,0 Eine aufschlußreiche Schilderung über eine Ministerratssitzung, die sich mit ähnlichen Fragen am 20. März 1929 befaßte, findet sich bei Koch-Weser, BA/Nachl., Nr. 39, Eintragung gleichen Datums: „Heute Ministerrat beim Reichspräsidenten von Hindenburg wegen der Ostpreußenhilfe. Damit die Sitzung nicht rein repräsentativ ist, ist ausdrücklich darauf geachtet, daß die Vorschläge nach den eingehenden Chefbesprechungen nicht mehr vorher in eine Kabinettssitzung gelangt sind, sondern erst in der Sitzung unter dem Vorsitz des Reichspräsidenten der Erfolg erzielt wird. [Reichskanzler] Müller hebt das in seiner Eingangsrede ausdrücklich hervor. [Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft] Dietrich gibt sich große Mühe, einen eingehenden und klärenden Vortrag zu halten. Danach muß sich der preuß. Landwirtschaftsminister Steger noch mit ähnlichen Ausführungen betätigen. Der Reichspräsident hört mit steinerner Miene, aber anscheinend aufmerksam zu. Zum Schluß erklärt er sich einverstanden und bittet nur, bei der Siedlung vorsichtig zu sein. ,Der Siedler lebt von der Hand in den Mund. Der Große produziert für den Weltmarkt oder den Vaterlandsmarkt ... Selbstverständlich, gesiedelt werden muß, aber Vorsicht ist angebracht.'"
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zugute kam. 111 Zu wenige sahen, daß eine Fortsetzung dieser Praktiken, die Hindenburg beobachtete, nachgerade zwangsläufig zu einer Entfernung von den parlamentarischen Grundlagen der Verfassung führen mußte, zumal angesichts der Erfahrungen mit der eher zurückhaltenden Amtsführung des Vorgängers Friedrich Ebert 112 eine stärkere Einschaltung des Reichspräsidenten schon geboten, jedenfalls kaum noch abweisbar erscheinen mochte. Die präsidiale Initiative sowohl bei Koalitionsbildungen als auch in einzelnen politischen Fragen und schließlich bei drohendem Koalitionszerfall, Ermahnung wie Stützung der Reichsregierung durch konkrete Forderungen, die kraft einer neuartigen Autorität des Reichspräsidenten vorgebracht und untermauert wurden, entwickelten sich zu permanenten und integralen Bestandteilen des deutschen Regierungssystems, was zwar kaum herkömmlich als verfassungsnotorisch gelten durfte, aber doch von der Entwicklung der Eigenarten der Parteienkoalitionsregierungen gleichsam nahegelegt und insofern abgedeckt wurde. Der Grat, auf dem Entscheidung wie Scheidung evident wurden, erscheint denkbar schmal. Hatten in den ersten Jahren der Republik die Verordnungen des Reichspräsidenten auf Grund des Artikels 48 Absatz 2 der Reichsverfassung als effektvoll genutzte Handhabe die Tendenz zu Wiederholungen mit sich gebracht und in den kritischen Jahren als Mittel einer außerordentlichen Gesetzgebung häufig und umfangreich Inanspruchnahme und Bevorzugung erfahren, so daß von einem Ausnahmeweg der Legislatur kaum noch gesprochen werden konnte, so hatte sich nun für die zweite Hälfte der zwanziger Jahre unter dem zweiten Reichspräsidenten — sogar ohne Rückgriff auf die in der Verfassung Dorpalen, Hindenburg, S. 137; zum Ganzen Günther Grünthal, Reichsschulgesetz und Zentrumspartei in der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 39), Düsseldorf 1968, S. 207 — 244. In der Koalitionskrise, die durch den Gegensatz zwischen Zentrum und DVP im Hinblick auf den Reichsschulgesetzentwurf verursacht wurde, wandte sich der Reichspräsident am 9. Februar 1928 brieflich an den Reichskanzler und die Führer der Koalitionsparteien mit dem Appell, die Regierung arbeitsfähig zu erhalten. Original BA, Nachlaß Pünder/118. Stürmer, Koalition, S. 243. In der Reichstagsfraktion des Zentrums gab schließlich die Aussicht auf eine baldige Auflösung und Neuwahl des Reichstags den Ausschlag. Der amtierende Vorsitzende v. Guérard stellte indessen nach Ausweis des Protokolls vor der Fraktion am 13. Februar ausdrücklich fest: „Man könne gemäß der Verfassung dem Reichspräsidenten das Recht nicht bestreiten, in dieser Weise in das politische Geschehen einzugreifen." Morsey, Zentrumsprotokolle, S. 184 f. 112 Hierzu die kritische Betrachtung von Günter Arns, Friedrich Ebert als Reichspräsident, in: HZ, Beiheft 1, München 1971, S. 1 - 3 0 . 111
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II. Regierungen
und Parlamente
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und
Präsidialgewalt
vorgesehene Diktaturgewalt des Reichspräsidenten — mit vergleichbarem Erfolg die präsidiale Initiative zur Usance gesteigert, deren Grenzen sich noch nicht absehen ließen und offenkundig auch niemanden interessierten. Daß Hindenburg aber auch am Artikel 48 nicht rühren ließ und ebenso wie das Reichswehrministerium ein Ausführungsgesetz, das die Reichsverfassung im fünften Abschnitt dieses Artikels vorsah, nicht zuließ, hatte er bereits im November 1926 eindeutig, in unwiderruflichem Tone und abschließend bekundet. 113 Eine Verbindung beider Elemente präsidentieller Regierungsweise, die die parlamentarischen Bestandteile der Reichsverfassung auf kaum gesicherte Reservate einschränkte, existierte am Ende der zwanziger Jahre allerdings nur in Form von Theorien, spielte jedoch in Erörterungen von Männern der Staatslehre wie der akademischen Politik schon eine unübersehbare Rolle. Der offenkundigen Absicht einer generellen rechtsstaatlichen Legitimierung der Präsidialinitiative, angesichts der Koalitionsschwäche der Reichstagsparteien, diente eine Theorie von der Regierungsbildung „unter dem Einfluß der politischen Praxis" eines in der Reichskanzlei bekannten und beachteten Autors. Sie ging von der These aus, daß der Anspruch einer Parteienmehrheit, das Kabinett aus seiner Mitte zu stellen, durch den Willen und die Fähigkeit dieser Mehrheit legitimiert werde, Vertretung des ganzen Volkes zu sein, ohne daß die von der Minderheit repräsentierten Volkskräfte in Gegensatz zur Staatsordnung gerieten. 114 Aus der angenommenen „Unmeßbarkeit dieser Vorbedingungen" folgerte der Autor mit unmittelbarem Bezug auf die präsidiale Kompetenz, daß es Sache des Reichspräsidenten sei zu entscheiden, „ob und welche Mehrheit eine geeignete Grundlage für die Regierung bietet"; die Gestaltung der Regierung stehe ihm zu. Das Manko der Wählerentscheidung und das Manko der Konstruktions- und Kompromißfähigkeit der Parteien, die man freilich Jahr für Jahr erlebt hatte, sollte der Reichspräsident in höchster Instanz heilen, auch dadurch „daß der Reichspräsident das Kabinett gegenüber einem Mißtrauensvotum solange im Amt belassen darf, bis die Bildung eines neuen regierungsfähigen Kabinetts sichergestellt ist." In solchen Sätzen wurden die Praktiken Hindenburgs formalisiert und verallgemeinert und auf das Podest einer staatsrechtlichen Lehrmeinung erhoben. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 4 7 2 - 4 7 7 , 6 4 7 - 6 5 8 . Heinrich Herrfahrdt, Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis (Öffentlichrechtliche Abhandlungen, 9), Berlin 1927, S. 58. 113
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Nun war es üblich geworden und auch in der Sache unvermeidlich, daß eine Regierung auch nach ihrem Rücktritt noch so lange geschäftsführend im Amt blieb, bis ein neues arbeitsfähiges Kabinett an ihre Stelle trat. Doch das Wesentliche dieses Versuches, zu einer allgemeinen juristischen Darstellung zu gelangen, lag einmal in dem Übelstand, daß Regierungsneubildungen mehr und mehr Zeit erforderten und offensichtlich schwieriger wurden, ganz gleich welcher Art die entstehende oder angestrebte Koalition war, und zum anderen, daß das zwangsläufige Interimistikum nicht mehr als „geschäftsführende Reichsregierung" angesehen und bezeichnet, sondern daß dem Reichspräsidenten die Entscheidung über die „geeignete Grundlage" einer neuen Regierung anheim gegeben, somit eine amtierende Reichsregierung ausschließlich durch seine Entscheidung — auch gegen den Willen des Reichstags — im Amt gehalten werden sollte. Solche Auffassung erkannte dem Reichspräsidenten, in Beziehung zum Reichstag, im Hinblick auf Bildung und Amtszeit der Reichsregierung unzweideutig den Primat zu. Wenn diese Meinung auch zu diesem Zeitpunkt keineswegs allgemein von der Staatsrechtslehre geteilt wurde, 115 so fand sie doch am Vorabend der Auflösung des „schwarz-blauen Blocks" in der Reichskanzlei aufmerksames und aufnahmebereites Interesse.116 Den Appell, den Hindenburg wenige Tage später an den Reichskanzler richtete, um die Reichsregierung im Amte zu halten, glich der Statuierung eines neuen Exempels.117 Der Auffassung, der Reichspräsident könne eine Regierung sogar gegen ein Mißtrauensvotum des Reichstags im Amte behalten, lag in nuce eine weitergehende Meinung zugrunde, die auch den offenen Konflikt zwischen Reichspräsidenten und Reichstag vorausschauend für den Reichspräsidenten und seine „Kampfregierung" entschied.118 Für den historisch-politisch kriti115 Gegen Herrfahrdt die sarkastische Frage in der Rezension von Karl Rothenbücher: „Welche Aussichten eröffnen sich für die Staatsrechtswissenschaft, wenn sie, zum mindesten in Zeiträumen von sieben Jahren, veranlaßt werden wird, die jeweils ,zur Zeit richtige' Rechtsauffassung ,zu erzeugen'! ... sie könnten den Weg frei machen für jene Schriftsteller, die, die Grenze zwischen Wissenschaftler und Literaten verwischend, in jeder politischen Situation eine ,zur Zeit richtige Rechtsanschauung' zu vertreten bereit sind." Rothenbücher, Der Kampf um Artikel 54 der Deutschen Reichsverfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht, VII (1928), S. 3 2 9 - 3 4 1 . 116 Referentenvortrag vom 3. Februar 1928 unter Hinweis auf angeblich ähnliche Auffassungen von Fritz Poetzsch-Heffter und Gerhard Anschütz (ohne weitere Angaben), BA, R 4 3 1/1308. 117 9. Februar 1928, BA, Nachl. Pünder/118. 118 Ernst Wolgast, Die Kampfregierung. Zur Lehre von der Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung, Königsberg 1929. Kritisch zum „Konfliktskabinett" Richard Thoma,
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sehen Betrachter werden die fließenden Übergänge zu einem neuen Staatsgedanken, dem die Ideen von Weimar schon fern lagen, deutlich sichtbar. Doch auch Warnungen ließen sich vernehmen und konnten Gehör finden, etwa von der Art der Mahnung Richard Thomas: „Man kann die verfassungsändernde Umwandlung unserer parlamentarischen Republik in eine konstitutionelle Präsidentschaftsrepublik nach amerikanischem Muster diskutieren — ich würde das freilich für ganz verkehrt halten, denn entweder bleibt es auf dem Papier oder es eröffnet die Aussicht auf eine Kette von Verfassungskonflikten — ...; man kann einen solchen Umbau des Verfassungssystems diskutieren und eventuell gesetzlich einführen, aber man kann ihn nicht einschmuggeln mit Interpretationskünsten." 119 Ein solches Wort, an Staatsrechtler, Verwaltungsjuristen wie an die Öffentlichkeit gerichtet, zeigte an, wie weit die Entwicklung zum präsidentiellen System gediehen war. In theoretischen Erörterungen fügte sich indessen ein Bild des Reichspräsidenten zusammen, das noch größere Macht und noch mehr Rechte umfaßte und legitimierte, als bis dahin in Anspruch genommen und angewendet worden schienen. Mit Begriffen, die auf der einen Seite haarscharf abgegrenzt waren, auf der anderen außerordentlich weit faßten, stets in streng deduzierender Logik, stellte der auf diesen Gebieten mehr und mehr hervortretende, weltweiten Ruf und am längsten über die Weimarer Republik hinausreichende Berühmtheit erlangende Carl Schmitt 120 eine weitere abstrahierende These von dem die „normale" Situation wiederherstellenden „Aktionskommissar" auf: vom Reichspräsidenten als außerordentlichem Gesetzgeber in anomaler Lage, der natürlich — dies gab dem Ganzen erst den eigentlichen Sinn — dem „Gesetzgeber der normalen Situation" in seinen Eigenschaften notwendig überlegen sein müsse. Schmitts ÜberleSinn und Gestaltung des deutschen Parlamentarismus, in: Recht und Staat im Neuen Deutschland, hrsg. v. Bernhard Harms, I. Bd., Berlin 1929, S. 121. 119 Ebda. 120 Jüngste, so unterschiedliche wie bedenkenswerte Zeugnisse: die Bemerkungen von Günter Maschke, Im Irrgarten Carl Schmitts, in: Karl Corino (Hrsg.), Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg 1980, S. 204 — 241; und der fragmentarische Teil eines Dialogs mit Franz Neumann (7. September 1932) bei Rainer Erd (Hrsg.), Reform und Resignation. Gespräche über Franz L. Neumann, Frankfurt a. M. 1985, S. 79 f. u. passim. Zu den literarischen Anfängen und Versuchen Schmitts der mit einer nachhaltigen Bibliographie aufwartende Essay von Heinrich Muth, Carl Schmitt in der deutschen Innenpolitik des Sommers 1932, in: HZ, Beiheft 1, S. 7 5 - 1 4 7 .
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gungen beschränkten sich nicht auf den Träger eines „pouvoir neutre" und „pouvoir modérateur", bloß auf die höchstinstanzlich schlichtende und unparteiisch vermittelnde Autorität, die kraft ihres Ansehens wirkt, die sie bei allen Parteien genießt, was sich in einem enger begrenzten Umfang auch von der Reichspräsidentschaft Friedrich Eberts sagen ließ. 121 Schmitt ließ den plebiszitären, in der unmittelbaren Wahl durch das Volk — die Ebert infolge Ausnahmeregelungen nie erlebt hatte — gekürten Reichspräsidenten selbst zur Macht werden, um ihn unabhängig von Parteien und Parlamenten Regierung ausüben zu lassen. Auf solche Weise konnte dieser, Schmitts Vorstellungen zufolge, zum „politischen Führer" werden. Schon 1928 schrieb Schmitt, der Reichspräsident sei „in der Idee als ein Mann gedacht, der über die Schranken und den Rahmen von Parteiorganisationen und Parteibürokratie hinweg das Vertrauen des ganzen Volkes auf sich vereinigt nicht als Parteimann, sondern als der Vertrauensmann des ganzen Volkes. Eine Reichspräsidentenwahl, die wirklich diesem Sinne der Verfassungsbestimmungen gerecht wird, wäre mehr als irgendeine der vielen Wahlen, die es in einem demokratischen Staate gibt. Es wäre eine großartige Akklamation des deutschen Volkes und hätte die ganze Unwiderstehlichkeit, die solchen Akklamationen in einer Demokratie zukommt". 122 Carl Schmitt entwickelte auch die Lehre von der Qualitätsdifferenz zwischen Gesamtverfassung und verfassungsrechtlichen Einzelbestimmungen weiter und schlug eine gedankliche Bresche in den Bau des Verfassungssystems, durch die Ausnahmezustand und Diktatur ungehindert einzudringen und das Gerüst verfassungsrechtlicher Normen Stück für Stück in Frage zu stellen vermochten. Dieser Teil seiner Thesen, die schon den Praktiken der präsidentiellen Regierungsweise vorauseilten, erreichte schließlich jenen Punkt, an dem Schmitt kundtat, daß der Verfassung Gefahr von dem ordentlichen verfassungsmäßigen Gesetzgeber, dem Reichstag, drohe, daß juristische Vorkehrungen nicht bestünden, da ein justizmäßiger Schutz der Verfassung unvereinbar mit dem Wesen des Gerichts und des Richteramtes, daß hingegen der aus der Volkswahl hervorgegangene Reichspräsident der einzige geborene „Hüter der Verfassung", der Wahrer von Kontinuität und Permanenz sei, dessen Handlungsfähigkeit Bestand und Dauer
Vgl. Arns, Friedrich Ebert. Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 350, kursive Ausstellung vom Verfasser (G. Schulz); Vorwort vom Dezember 1927. 121
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des Staates in der Krise gewährleiste. 123 Die plebiszitäre Komponente der Weimarer Reichsverfassung gelangte durch diese originelle Kombination in eine geradezu überwältigende, legitimierende Verbindung zur weitesten Amtsausübung des gewählten Reichspräsidenten, so daß man schon von einer gedanklich vorweggenommenen „Diktatur des Reichspräsidenten" sprechen kann. Es bleibt unzulänglich und der Situation wie der geistigen Originalität des Urhebers unangemessen, diese Wege eines allzu konsequent und distanziert — nach wenigen Jahren der Erfahrung — aus der parlamentarisch-repräsentativen Regierungspraxis der Reichsverfassung hinausleitenden, eigenartigen Denkens allein in der Retrospektive des nationalsozialistischen Führerstaates und der sichtlich mangelnden Défiance Carl Schmitts ihm gegenüber zu betrachten und zu beurteilen. Die weite, fortschreitende Wirkung seiner Lehre setzte etliche Jahre früher ein. Es ist auch zu bedenken, daß in dem größeren Zusammenhang der anhebenden geistigen und theoretischen Auseinandersetzungen mit den Epochenerscheinungen des Bolschewismus wie des Faschismus 124 nun in einem weiteren Horizont, in besonderem Ausmaß in den neuen — und kurzlebigen — erfahrungsarmen Demokratien die Überzeugung von einer europäischen „Krisis des heutigen Parlamentarismus" erwuchs. Sie bestimmte auch die Position Carl Schmitts: „Auch wenn der Bolschewis123 Am weitesten ausgeprägt bei Schmitt, Der Hüter der Verfassung (Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, 1), Tübingen 1931, bes. S. 156ff.; ein Teil hiervon erschien schon kurz vorher unter dem später berühmt gewordenen Titel: Die Wendung zum totalen Staat, in: Europäische Revue, 7 (1931), S. 241—250. Die Abfolge seiner Darlegungen setzt jedoch früher ein und ist schon in dem Ausklang des bekannten Vortrags von Schmitt deutlich, Staatsethik und pluralistischer Staat (1929), abgedruckt erst in der späteren Aufsatzsammlung mit dem zeitgemäßen Titel: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923-1929, Hamburg 1940, bes. S. 143 ff.; auch in dem Aufsatz von Schmitt, Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie, in: Hochland, 23 (1926), S. 257—290, abgedruckt in: Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München/Berlin 1926, auch wieder in: Positionen und Begriffe, S. 5 2 - 6 6 . 124 Vgl. Gerhard Schulz, Faschismus — Nationalsozialismus. Versionen und theoretische Kontroversen 1922-1972, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1974, bes. S. 3 3 - 4 2 . Von Einfluß auf die deutsche Diskussion während der zwanziger Jahre waren vor allem Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Berlin/Leipzig 1925; Robert Michels, Sozialismus und Faschismus als politische Strömungen in Italien, 2 Bde., München 1925/ 26, und Erwin v. Beckerath, Wesen und Werden des faschistischen Staates, Berlin 1927; hierzu die Besprechung von Carl Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates, in: Schmollers Jahrbuch, 53 (1929); S. 107—113; wieder abgedruckt in: Positionen und Begriffe, S. 1 0 9 - 1 1 5 .
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mus unterdrückt und der Faschismus ferngehalten wird", sei sie „nicht im geringsten überwunden", schrieb Schmitt weit-, ja fernsichtig. „Denn sie ist nicht als Folge ... dieser beiden Gegner entstanden, sie war vor ihnen da und würde nach ihnen fortdauern." 125 Der Topos von der „Krise des Parlamentarismus" verbreitete sich nicht nur unter Juristen und lenkte die Aufmerksamkeit auf die „Diktatur innerhalb der Grenzen der Demokratie", wie der charakteristische Titel eines Vortrage vor der Berliner Hochschule für Politik lautete. 126 Die bewegte politische Diskussion gegen Ende der zwanziger Jahre war allerdings in der Eigenart ihrer Kontroversen und Konfrontationen weitund weltläufiger als das später — begreiflicherweise — eingeengte Verständnis sich vorzustellen vermag, nachdem viele Zugänge verschüttet wurden. (Allerdings sprach man über Diktatur mit weniger ablehnender Dezision, als es den Nachlebenden der faschistisch-nationalsozialistischen Geschichtsepoche fast selbstverständlich erscheint, soweit nicht die offene oder verhüllte Diktatur als ,Befreiungsdiktatur' gleichsam den Status der naiven Aufnahme der zwanziger Jahre noch genießt. Im übrigen haben die vergangenen und nachfolgenden Schreckensregimes und Terrororgien das historische Verständnis des Vergangenen noch mehr eingeengt als notwendig präzisiert.) Damals gingen auch die Urteile über Demokratie wie über den Parlamentarismus sehr weit auseinander. 127 Daß nun derartige Gedanken und offen erörterte Pläne auf die engere Umgebung im Büro des Reichspräsidenten oder auf weitere Kreise um ihn einwirkten, erscheint nicht verwunderlich. Dem Präsidialamt und seinen Beratern drängten sich Ideen auf, nach denen sie nur zu greifen Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie, in: Positionen und Begriffe, S. 65 f. 126 Vgl ,ji e Dokumentation von Waldemar Besson, Zur Frage der Staatsführung in der Weimarer Republik, in: VZG, 7 (1959) S.85ff. 127 Ein Beispiel geben die Vorträge zum Thema „Probleme der Demokratie", die im Sommersemester 1927 an der Deutschen Hochschule für Politik von namhaften Politikwissenschaftlern und Staatsrechtslehrern gehalten wurden. Carl Schmitt trug zum ersten Male seine seitdem umstrittenen Ansichten über den Begriff des Politischen vor. Politische und soziale Homogenität als Inbegriff der Demokratie, die Schmitt später vertrat, bildete hier noch die Thematik des Sozialisten Hermann Heller, während der Herausgeber als Kritik den Vorwurf einer vermeintlichen Neigung Schmitts durchscheinen ließ, sich mehr der Außen- als der Innenpolitik zuzuwenden. Für eine Geschichte der Geistesentwicklung in der Weimarer Republik, die noch kaum eine befriedigende Untersuchung erfahren hat, obgleich sie zur Vorgeschichte des Nachfolgenden gehört, liefert diese Quelle einige Aufschlüsse: Hierzu Arnold Wolfers (Hrsg.), Probleme der Demokratie, Erste Reihe (Politische Wissenschaft, 5), Berlin 1928. 125
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brauchten, um sich der Argumente für nahezu jede denkbare Form einer Machtausweitung des Reichspräsidenten zu bedienen. Schon nach dem Volksentscheid zur Fürstenenteignung galt der energisch vorangetriebene Versuch des starken, uniformierten Wehrverbandes „Der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten" dem Ziele, weitgehend aus eigener Kraft die Sammlung aller Kräfte der äußersten Rechten herbeizuführen. Die Herauslösung des Kapitäns Ehrhardt und seiner Anhänger auf der einen, das Ausscheiden von Ministern und Abgeordneten der DVP auf der anderen Seite und die deutliche Neigung eines starken Flügels, sich am Vorbild des faschistischen Italiens zu orientieren, 128 bildeten die Begleitmusik des neuen politischen Aktes, in dem sich der Stahlhelm bemühte, die Führung einer neu formierten nationalistischen Opposition zu übernehmen. Die Niederlage der Rechten in der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 129 brachte den Sozialdemokraten die Führung der Reichsregierung, zog aber die längste und schwierigste Kabinettsbildung in der Geschichte der Weimarer Republik nach sich. Sie wurde von einer anhaltenden Führungskrise in der DNVP begleitet, während sich im Stahlhelm diejenigen Kräfte durchsetzten, die jede parteipolitisch geartete Beziehung ablehnten, aber auf eigene Vertretungen in den Parlamenten verzichteten, auch den Anschein, Partei zu sein und am politisch-parlamentarischen Leben der Republik zu partizipieren, konsequent vermieden. 130 Die langwierige Regierungsbildung, der Briand-Kellogg-Pakt, die RheinlandFrage, Abrüstungs- und vor allem Reparationsprobleme schienen einige Aussichten zu eröffnen, die gesamte Rechte gegen die Politik der Reichsregierung in eine große Angriffslinie zu bringen. Die Krise, in der sich die Führung der DNVP befand, begünstigte diesen Anspruch. Die unermüdlichen Alldeutschen waren seit 1927 ganz auf Hugenberg als Gegner des Parteiführers Graf Westarp eingeschworen, der sich wegen der Haltung der DNVP-Fraktion in der gesetzlichen Arbeitszeitregelung, mit der der Achtstundenarbeitstag zum Prinzip erhoben und allgemein eingeführt wurde, auch die Kritik einflußreicher 128 Wichtig hierzu Klaus-Dieter Hoepke, Die Deutsche Rechte und der italienische Faschismus (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 38), Düsseldorf 1968, S. 2 7 7 - 2 8 5 ; Vgl. auch Volker R. Berghahn, Der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten 1 9 2 8 - 1 9 3 5 (Beiträge zur Geschichte ... 33), Düsseldorf 1966, S. 1 0 3 - 1 2 1 . 129 130
Ergebnisse in: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 372, I —III. Berghahn, Stahlhelm, S. 116 ff.
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Industrieller zugezogen hatte.131 Nun drohte entweder den Finanzen der Partei oder ihrem beharrlich vertretenen Anspruch, als konservativer Gesinnungsverband über den Interessen zu stehen, der Rutsch in den Abgrund. Anderseits hatten sich jene monarchistisch-restaurativen Kreise innerhalb der DNVP um Freiherr v. Gayl, der seit den frühen zwanziger Jahren enge Verbindungen zu den Wehrverbänden in Ostpreußen, nun auch Beziehungen zur Stahlhelm-Bundesführung unterhielt, hinter den Reichspräsidenten gestellt und ihn von Fall zu Fall unterstützt132, während jene, die, wie der radikale pommersche Agrarier Hans SchlangeSchöningen, noch 1924 Hugenberg bedrängt hatten, eine Regierungsbeteiligung zu verhindern, sich als Opfer der an mehreren Orten aufgebrochenen Gärungsprozesse innerhalb der DNVP sahen. Kurz nach der Reichstagswahl 1928 wurde Schlange durch den Landbundflügel von der Spitze der pommerschen Parteiorganisation verdrängt, woraufhin er aus der DNVP ausschied.133 So schien es denn, daß die seit längerem bestehende Rivalität zwischen Bünden, militanten Organisationen und Parteien innerhalb der nationalistischen Rechten von einer Bewegung unter der Führung des Stahlhelms zugunsten der Bünde entschieden werden könnte. Nach dem Vorbild, das die äußerste Linke aus Anlaß der Frage der Fürstenabfindung 1926 gegeben hatte, griff auch sie zu dem verfassungsmäßigen Mittel des Volksbegehrens und Volksentscheids, doch nunmehr um umstürzende außerparlamentarische Entscheidungen, vor allem eine Änderung der Reichsverfassung herbeizuführen und die parlamantarische Bindung der Reichsregierung zu lösen.134 Die Vielfalt verfassungskonformer außerparlamentarischer Instrumente, die als demokratisch gelten, aber die Verfassung aus ihren Angeln zu heben vermögen, ließ sich spätestens zu diesem Zeitpunkt schon erkennen. Sie eröffnete den Ausblick auf die Möglichkeit verfassungsförmig gestalteter Verfassungsgegnerschaft. Die Weimarer Republik ist schließlich an ihr zugrunde gegangen. In faktischer Hinsicht schien die Initiative nicht ungeschickt angelegt. In neuneinhalb Jahren hatten 16 Reichsregierungen einander abgelöst. Diese Zahl übertraf sogar die der teilweise äußerst kurzlebigen, unter Hierzu Stürmer, Koalition, S.192ff., 2 0 5 - 2 0 9 . Berghahn, Stahlhelm, S.92ff. 133 Bericht Schlanges über die Jahreshauptversammlung der Landesversammlung Pommern der DNVP zu Stettin am 23. Juni sowie Schreiben Schlanges an den Landesverbandsvorsitzenden Graf Behr vom 25. Juni 1928; Originaldurchschläge BA, Nachlaß SchlangeSchöningen/la. 134 Berghahn, Stahlhelm, S. 115 ff. 131
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einer in Deutschland geradezu sprichwörtlich gewordenen Regierungsstürzerei leidenden französischen Kabinette im gleichen Zeitraum. Daß dies ein seit hundert Jahren bestehendes elastisches politisches System und das Regime einer durch zähe Lebensfähigkeit ausgezeichneten „classe politique" charakterisierte, wurde von den an ausländischen Regierungen nach wie vor wenig interessierten deutschen politischen Kommentatoren meist geflissentlich übersehen.135 Die nationalistische Rechte hob die Häufigkeit des Regierungswechsels, als dessen Verursacherin sie selbst mitwirkte, in ihrer Propaganda und Kritik am parlamentarischen System wie an den anderen Parteien der Weimarer Republik, namentlich der „großen Koalition", stets nachdrücklich hervor. Obgleich der Reichspräsident schon in früheren Jahren in großem Umfang von seiner Diktaturermächtigung Gebrauch gemacht hatte, war der Artikel 54 der Reichsverfassung, der Reichskanzler und Reichsregierung an das Vertrauen der Reichstagsmehrheit band, wiederholt Ansatzpunkt von Erörterungen zur Reform der Reichsverfassung geworden. Die Änderung oder gar Beseitigung dieses Artikels sollte die Reichsregierung wohl stärken, aber doch auch noch enger an die Entschlüsse des Reichspräsidenten binden, der nun schon wiederholt zu erkennen gegeben hatte, daß er sich staatsrechtlich befugt und politisch berufen wähnte, den Reichsregierungen die Erfüllung von politischen Bedingungen oder Forderungen aufzuerlegen. Während auf der anderen Seite vor allem die SPD die Rechte des Reichspräsidenten nach dem Artikel 48 der Reichsverfassung einzuschränken versuchte, hierfür allerdings die erforderliche Mehrheit im Reichstag kaum gewonnen hätte, unternahm die Rechte mehrere Versuche, die Stellung des Reichskanzlers dem Reichstag gegenüber zu stärken. Auch der Gedanke einer Verlängerung der Haushaltsperiode und der Wunsch nach Herbeiführung eines Zweiparteiensystems, das viele Deutsche für die Grundlage der englischen Parlamentsherrschaft hielten, wiesen in diese Richtung. Die Diskussion war bereits in vollem Gange, als Graf Westarp und die DNVP im Reichstag den Antrag auf eine Änderung der Reichsverfassung einbrachten, der entweder zur Aufhebung des Artikels 54 „oder zumindest im Sinne der Stärkung der Regierungsgewalt" zu einer „wesentlichen" Änderung füh135 Kein besseres Beispiel läßt sich finden, als das berechtigterweise viel beachtete Buch des gelehrten und kenntnisreichen Wilhelm Hasbach, Die moderne Demokratie. Eine politische Betrachtung, 2. unveränderte Auflage Jena 1921 (1. Aufl. 1912), in seinen Äußerungen und Urteilen über Frankreich. Revisionsversuch von Gerhard Schulz, Souveräne Demokratien, in: Staat und Gesellschaft im politischen Wandel.
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ren sollte. 136 Doch diese Versuche verliefen im Sande, da sich weder das Zentrum noch die DDP ihrer annehmen wollten und auch die DVP eine Diskussion ähnlicher Vorschläge ihres Fraktionsvorsitzenden Ernst Scholz vermied. Die Taktiker und Praktiker der Koalitionspolitik behielten mithin in den Regierungsparteien die Oberhand. Zweieinhalb Jahre später jedoch, als sich die Diskussion über eine Reichsreform stark belebt hatte und die DNVP Anstalten traf, ihre ältere Initiative wieder aufzunehmen, setzte Heinz Brauweiler im Stahlhelm, als dessen Verfassungsspezialist er galt, den Gedanken durch, dieses Ziel mit einem Volksbegehren und einem Volksentscheid nach der Reichsverfassung zu verknüpfen, um es den Entscheidungen und dem Einfluß von Juristen und Parlamentariern zu entziehen. 137 Der Einfall, eine Verfassungsänderung auf dem außerparlamentarischen Wege der plebiszitär-demokratischen Volksgesetzgebung anzubahnen und mit entsprechender Propaganda vorzubereiten, folgte dem Beispiel des Volksbegehrens zur Fürstenenteignung. Daß der problematisierte Artikel 54 der Reichsverfassung zum Gegenstand dieses Unternehmens werden sollte, entsprach der besonderen Anziehungskraft, die er auf die Rechte ausübte. Daß diese außerparlamentarische Initiative der Regierung, die allerdings nur schwer und langsam Zusammenhalt gewann, große Ungelegenheiten bereiten mußte, lag auf der Hand. Stresemann, der stärkste Mann des Reichskabinetts, der seine Außenpolitik durch diese Aktion bedroht sah, wandte sich sogleich entschieden gegen diesen Plan, so daß der Versuch des Stahlhelms, „eine politische Bewegung gegen die augenblickliche Verfassung aufzurollen und die ,Scheidung der Geister'" zu erreichen, 138 ganz und gar auf Zustimmung aus der DVP verzichten mußte. Anderseits ließ sich die Einstellung Hindenburgs, dem 1924 die Ehrenmitgliedschaft im Stahlhelm angetragen worden war, die er auch nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten beibehalten hatte, nicht von vornherein abschätzen. Angesichts der Anfeindungen von rechts her duldete der Reichspräsident gelegentlich auch engere Verbindungen zwischen der Stahlhelm-Bundesführung und seinem Büro. 139 Den entscheidenden Stoß erhielt das Unternehmen des Stahlhelm nicht durch den Reichspräsidenten, sondern durch die Parteien der Rechten, Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 564—613. Berghahn, Stahlhelm, S. 119. 138 Stahlhelmbundesführer Seldte, Zit. a.a.O., S. 121 ff., über die Tonart auf den Stahlhelmtreffen nach der Reichstagswahl 1928 auch Dorpalen, Hindenburg, S. 143 ff. 139 Etwas zurückhaltender als Berghahn urteilt Dorpalen, ebda., über das Verhältnis des Reichspräsidenten zum Stahlhelm. 137
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die es nach dem Beispiel der DVP ablehnten, sich in einer Frage der Verfassungsreform vor den Wagen der Stahlhelmführung spannen zu lassen. Der Plan eines Volksbegehrens und Volksentscheids zur Verfassungsänderung wurde daher einem anderen Projekt geopfert, als sich im späten Frühjahr 1929 im Gefolge der Verhandlungen über eine Revision der deutschen Reparationsverpflichtung nach dem Young-Plan starke Meinungsgegensätze ergaben, die mehr und auch stärkere Kräfte einzubeziehen schienen als die Ideen Brauweilers. Die Absicht, „Krisenstimmung ... durch Mundpropaganda" zu erzeugen, wechselte die Objekte und wandte sich in eine andere Richtung. Der bereits ins Leben gerufene „Reichsausschuß für das StahlhelmVolksbegehren" übernahm Ende Juni 1929 die neue Aufgabe, die „Pariser Vertragsentwürfe zur Neuregelung der Tributlasten" dem Volksentscheid zu unterwerfen. 140 Sodann wurde die Mobilisierung der Massen in einem inneren mehr als äußeren Konflikt vorbereitet, dessen psychologische Implikationen bereits zutage getreten waren. Das Thema war ebenfalls „kein Thema, das sich zur Erörterung vor Tausend Menschen eignet" 141 und erst recht nicht zur Agitation unter Millionen. Das Problem war heikel. Aber angesichts der weithin konfusen und stereotypen Berufung auf „Demokratie" in Deutschland wie in anderen Ländern 142 konnte es wohl gar nicht ausbleiben, daß sich die blutigsten Realisten wie die Berghahn, a.a.O., S. 128. Gustav Stolper auf der Mitgliederversammlung des Langnamvereins am 8. Juli 1929; Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen, 1929, Nr. 1/2, S.37. 142 In einer sehr interessanten Darstellung der Reichsbank und der Finanzpolitik, die allerdings die innenpolitischen Bedingungen weithin und die außenpolitischen größtenteils ausläßt, Harold James, The Reichsbank and Public Finance in Germany 1924—1933, S. 348, gelangt der Verfasser zu dem Ergebnis: „Within the framework of a recognition of political necessity, practical Germany were rather better than Keynes allows for, and in general better too, than their counterparts in other European countries. What they were not very good at was preserving democracy", ein Urteil, das in der größeren Darstellung von James, The German Slump, nicht wiederkehrt. Dort findet sich ein konzises, nicht minder interessantes Fazit des Wirtschaftshistorikers, S. 419: „Low growth in Weimar produced increasing distributional conflicts. These destroyed first the corporate interest groups, then also Weimar democracy." Es fragt sich, ob beide Schlußurteile miteinander in vollem Einklang stehen. Eine Untersuchung der Erklärung der Eigenart der Demokratie in Deutschland fällt jedoch weder in dem einen noch in dem anderen Falle unter die Thematik, die der Wirtschaftswissenschaftler behandelt. Zu den verschiedenartigen Interpretationen von „Demokratie" durch namhafte deutsche Staatsrechtler (Preuß, W. Jellinek, Bilfinger, Thoma, Triepel, van Calker, Kelsen, Heller, Smend, C. Schmitt): Schulz, Aufstieg des Nationalsozialismus, S. 245 ff. 141
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härtesten Reaktionäre auch auf die Möglichkeit besannen, auf die Macht der großen Zahl zu setzen und sie durch rasche Streiche zu mobilisieren. Dies hatte übrigens mit einem Vorbild des italienischen Faschismus, der sich anfanglich hierin gar nicht erfolgreich erwies und eher Gewalttätigkeiten anwandte, nichts oder fast gar nichts zu tun. Vielmehr hatte die Deutsche Vaterlandspartei während des letzten Kriegsjahres ein Beispiel gegeben, wie binnen weniger Monate mit Hilfe einer ebenso großzügigen wie offensiv operierenden Organisation durch ältere extremistische und höchst fragwürdige politische Postulate eine große Mitgliederschaft, wie sie keine andere Partei je zuvor — und auch Jahre danach nicht erreichte, und eine noch größere Anhängerschaft zu gewinnen war. Das plebiszitäre Lehrstück, das die Vaterlandspartei unter den Bedingungen des Weltkrieges sowohl im Hinblick auf die innerpolitische Strategie und Taktik als auch auf die psychologische Wirkung bestimmter nationalistischer Parolen darstellte, ist in der Geschichte weitgehend verkannt oder übergangen worden. Doch die erfahrenen Kenner unter den Zeitgenossen lud es zur alsbaldigen Nachahmung unter den Voraussetzungen der Republik ein.
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DRITTER
TEIL
Die „Große Koalition"
ZEHNTES
KAPITEL
Schwieriger Weg zur Koalition Man kann das zweite Jahrfünft der Republik angesichts der wirtschaftlichen und außenpolitischen Situation und eingedenk des Staatsmannes, der auf deutscher Seite einen unstrittig großen Anteil an ihr hatte, soweit die deutsche Seite überhaupt zu Entscheidungen beizutragen vermochte, am besten durch den Namen Gustav Stresemanns charakterisieren. Man kann von einer „Ära Stresemann" sprechen — nicht zuletzt in Anbetracht der offenkundigen Schwierigkeiten, eine bündigere zusammenfassende Benennung dieses zweiten Jahrfünfts zu finden, wenn schon Ausdrücke wie „relative Stabilität" oder „relative Stagnation" eben vor allem relativ und ungenau bleiben und nur begrenzte objektive Aussagekraft besitzen. Mit dem Namen des Reichsaußenministers Stresemann ist auch die Rolle der Partei unter seiner Führung, der DVP, gemeint. In den Jahren 1926 bis 1929 erreichte sie in ihrer Geschichte den Stand ihres größten Einflusses, gemäß der von Stresemann verfolgten Maxime, die seit 1923 das Ziel der größten möglichen Koalition verfolgte und etwas von der Idee einer bürgerlichen „Volksgemeinschaft" unter gegebenen Bedingungen verwirklichen wollte. Die später zusehends deutlicher hervortretenden engen Bindungen eines Teiles der DVP an starke wirtschaftliche Kräfte des Rheinlandes und Westfalens 1 , die noch einseitiger bemerkbar wurden als die zu allen Zeiten engen Verbindungen der nationalliberalen Richtung mit dem Bürgertum von „Besitz und Bildung", begrenzten freilich Kraft und Wirkung derartiger Bemühungen, die unter Stresemann gewissermaßen den größten Nenner einer mehr von wirtschaftlichen Interessen getragenen als schon dirigierten Integrationspolitik anstrebten, die „sowohl die gemäßigten Deutschnationalen wie die verständigen Demokraten" zur DVP hinüberzog. 2
1 Diese sind kritisch in den Arbeiten von Lothar Döhn behandelt worden; vgl. Industrielles System, bes. S. 889 ff.; auch Döhn, Politik und Interesse. Die Interessenstruktur der Deutschen Volkspartei (Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, 16), Meisenheim 1970. 2 BA, Nachl. Moldenhauer/1 (Politische Erinnerungen, 1), S. 136.
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III. Die „Große Koalition"
Auf der Seite des sich weithin mit dem Bürgertum identifizierenden Unternehmertums waren Integration und Einbindung der stets vorhandenen divergierenden politischen Einstellungen in erster Linie Aufgabe und Werk der größten Spitzenorganisation industrieller Interessen, des RDI, der unter seinem Vorsitzenden Carl Dulsberg und dem geschäftsführenden Präsidialmitglied Ludwig Kastl, in enger Verbindung mit den Arbeitgeberverbänden, vor der Öffentlichkeit einheitliche Forderungen vertrat. Seine Adressaten waren die Reichsministerien; sein schärfstes, zwischen Konfrontation und Vereinbarung wechselndes Pendant in lohnund sozialpolitischen Angelegenheiten bildeten die Gewerkschaften. Diese vom überwiegend gewerblichen Hansa-Bund gefürchtete und bekämpfte dualistische bzw. trialistische Konstellation blieb auch nach dem langen Ruhreisenstreit 1928/293 im Prinzip unverändert. Der energisch verfolgte, wenn auch variable sozialpolitische Kurs des ADGB 4 dürfte — zumindest nach dem Niedergang der Unabhängigen Sozialdemokraten — entscheidend dazu beigetragen haben, daß sich die Sozialdemokraten 1923 und wieder 1928 als Koalitionspartner bürgerlicher Parteien an Reichsregierungen beteiligten. Die sozialdemokratischen Parteiführer akzeptierten praktisch — im Grunde auch theoretisch — die Existenz des Kapitalismus, ähnlich wie die sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer der älteren und der jüngeren Generation. Vor den prekären Problemen der Republik blieb indessen die Übereinstimmung der Mehrheit der Parteianhänger mit ihren versierten parlamentarischen und politischen Führern wie auch dieser selbst ebenso fragwürdig und offen wie die Erfüllung des häufig wiederholten Verlangens nach der „ständigen Herausforderung an den Wirtschaftsliberalismus" und die
3 Hierzu Ernst Fraenkel, Der Ruhreisenstreit 1928 — 1929 in historischer Sicht, in: Staat, Wirtschaft und Politik, S. 97 —117; Ursula Hüllbüsch, Der Ruhreisenstreit in gewerkschaftlicher Sicht, in: Industrielles System, S. 271—289; Michael Schneider, Auf dem Weg in die Krise. Thesen und Materialien zum Ruhreisenstreit 1928/1929 (Die Arbeiterbewegung in den Rheinlanden, 2), Wentorf b. Hamburg 1974; Weisbrod, Schwerindustrie, S. 415—456; zuletzt Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1 9 2 4 - 1 9 3 0 , Berlin/Bonn 1985, S. 5 5 7 - 5 7 2 . 4 Hierzu Ursula Hüllbüsch, Die deutschen Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise, in: Staats- und Wirtschaftskrise, S. 126 —154; dies., Koalitionsstreit und Zwangstarif. Die Stellungnahme des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes zu Tarifzwang und Schlichtungswesen in der Weimarer Republik, in: Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Werner Conze zum 31. Dezember 1975, hrsg. von Ulrich Engelhardt, Volker Sellin und Horst Stuke, Stuttgart 1976, S. 5 9 9 - 6 5 2 .
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Darstellung der Eigeninteressen der Arbeiterklasse. 5 Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen boten längst kein freies Experimentierfeld für die Erprobung derartiger Kontraste. Die Führung der SPD neigte daher dazu, sich in kritischen Zeiten dem Druck der Gegner zu entziehen und aus der Reichspolitik auszuscheiden. Sie verließ sich in erster Linie auf die preußische Regierung unter der Führung Otto Brauns, die eine Position von unstrittiger Bedeutung behauptete, obgleich sich auch in Preußen die Rolle der SPD, eingespannt zwischen ihren Koalitionspartnern, Zentrum und DDP, und einer nur bedingt und zeitweilig beeinflußbaren Reichspolitik, bald mehr, als es nach außen schien, auf das Verteidigen der Stellung gegen links und rechts beschränkte.6 5 Vgl. Robert A. Gates, Von der Sozialpolitik zur Wirtschaftspolitik? Das Dilemma der deutschen Sozialdemokratie in der Krise 1929—1930, in: Industrielles System, bes. S. 209—215. Heftige, aber unterschiedlich motivierte und akzentuierte Kritik an der sozialdemokratischen Politik mit Rücksicht auf die Ereignisse der Jahre 1932 und 1933 brachten zwei ehemalige Reichstagsabgeordnete schon in den dreißiger Jahren zu Papier, die in dieser Form erst neuerdings veröffentlicht wurde: Julius Leber, Schriften, Reden, Briefe, hrsg. von Dorothea Beck und Wilfried F. Schoeller, München 1976; Wilhelm Hoegner, Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik 1933, München 1977; der letzte Beitrag zu dieser Diskussion das umfangreiche Werk von Winkler, Schein der Normalität. 6 Die emphatische, allzu euphemistische Darstellung der preußischen Position der SPD täuschte über die ernsten Probleme, die später deutlich zutage traten, hinweg. Auf dem Kieler Parteitag der Sozialdemokraten von 1927 konnte allerdings die Überzeugung noch unwidersprochen gelten: „Dank Otto Braun und ... Carl Severing ist es geschehen, daß die Wellen sowohl des Bolschewismus als des Faschismus sich an Preußen gebrochen haben[!] ... Preußen ist eine stolze Feste im Lager der Republik; und unsere Aufgabe kann es nur sein, es zu einer stolzen Feste im Lager des Sozialismus zu machen", obgleich wenig geklärt schien, was damit gemeint sein könnte. Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel. Protokoll ..., Berlin 1927, ND Glashütten 1974, S. 180f. Die Nachwirkungen dieses Urteils auf die jüngere Historiographie sind offenkundig. Die Arbeit von Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928—1932 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, 111), Bonn—Bad Godesberg 1975, äußerte sich kritisch zur „Bollwerk Preußen"-Theorie und ließ die Persönlichkeit Otto Brauns eher blaß erscheinen. Anders dagegen, aus der Sicht der Frühzeit der Weimarer Republik Suanne Miller, Bürde der Macht, S. 400 f., vor allem die Biographie von Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt a. Main, Berlin/Wien 1977, der in der verfassungsrechtlich ausgefeilten Kritik an der Reichspolitik — von Friedrich Ebert bis Hermann Müller, auffallig verändert unter Brüning — die Eigenständigkeit wie die Züge der Persönlichkeit Otto Brauns doch wohl überzeichnet (S. 458 f., 503 f.). Ähnlich auch Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen, der aber die institutionelle Entwicklung in Preußen thematisiert und in den Vordergrund treten läßt; schließlich H. A. Winkler, Schein der Normalität, bes.
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Auf der — sozioökonomisch wie politisch gesehenen — „Gegenseite" kann allerdings von übereinstimmenden Ansichten ebensowenig die Rede sein wie von einheitlichen politischen Bestrebungen, wenngleich sich die Alternativen doch auch objektiv zusehends verengten. 7 Gewiß existierte ein interessenpolitischer Rahmenkonsens im Hinblick auf die geläufigen Fragen der Lohnpolitik, auf das Tarifwesen, die Ausgaben der öffentlichen Hand, in Verbindung mit der Steuer- und Sozialpolitik, auf die Zoll- und Außenhandelspolitik wie in den Erörterungen des immer größere Bedeutung erlangenden Problems der Arbeitslosenlasten, die Jahre hindurch weit größere Beachtung fanden als die Tatsache der Arbeitslosigkeit selbst und die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Bekämpfung. Hierin sind die Grenzen unternehmerischer Interessenwahrnehmung unter Führung der nordwestdeutschen Schwerindustrie ganz und gar unübersehbar. Ohne generell den notorischen Anspruch auf ein am Gemeinwohl orientiertes Interesse aufzugeben, entbehrten Forderungen und Urteile meist tiefer gründender politischer Vorstellungen oder Programme innerhalb eines weiteren Horizonts der innerpolitischen wie der weltwirtschaftlichen Zusammenhänge. Wechsellagen und Krisenmomente wurden in aller Regel als Herausforderungen gedeutet, die die Anwendung stärkerer Mittel bei der Verfolgung „klassischer" kapitalistischer Ziele und Zwecksetzungen verlangten wie rechtfertigten. Als kritische Marke galten Art und Stand der Kreditversorgung der industriellen Seite oder — anders ausgedrückt — eine optimale Geldversorgung und Geldzirkulation innerhalb der Gesamtwirtschaft. Die Vorstellung eines möglichst freie Hand in der Lohnpolitik gewährleistenden, sparsamen, sich in seinen wirtschaftlichen Maßnahmen zurückhaltenden, in seinen politischen hingegen starken Staates bezeichnet annähernd vollständig das erkennbare Reservoir an politisch relevanten Ideen und Forderungen. Die keineswegs in kryptischem Dunkel oder auch nur im Hintergrund bleibenden Organisationen und Postulate dieser Seite hätten allerdings nicht politische Durchschlagskraft gewinnen und historisch in Erscheinung treten können, wenn die manifestierte Interpretation der S. 400 f., 404 f., 532. Doch die beiden letztgenannten Darstellungen berücksichtigen auch innerparteiliche Vorgänge wie Koalitionsprobleme der Regierung Otto Brauns, der in dem jüngsten kritischen Werk von Dietrich Orlow, Weimar Prussia 1918—1925. The Unlikely Rock of Democracy, Pittsburgh, Pa. 1986, S. 76, als „a master of consensus politics" genannt wird, was allerdings weniger für die Politik des Reichs als innerhalb Preußens gelten dürfte. 7 Die nachfolgenden Überlegungen berühren sich mit der Einleitung zu der Edition Schulz, Quellen Brüning: Politik und Wirtschaft, I.
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kapitalistischen Wirtschaft nicht doch weithin und namentlich auf höheren politischen Rängen geteilt worden und schlechthin zu den höchst lebendigen maßgebenden Ideen in der geistigen Atmosphäre der Zeit zu rechnen gewesen wäre. Hierzu gab es keine ernsthaft nennenswerte Alternative. Von einer Aufzählung von Gelegenheitsaposteln und politischen Sonntagspredigern, derer es in Deutschland nie ermangelte und die bis 1932 vereinzelt in die zugelassenen Wahllisten zu den Reichstagswahlen Eingang fanden, sei hier abgesehen. Die inneren Konflikte und die Zerrüttung des vierten Kabinetts Marx, die vorzeitige Auflösung des Reichstags und seine Neuwahl am 20. Mai 1928 führten zu einer beträchtlichen Verschiebung der parlamentarischen Verhältnisse. Als große Gewinnerin ging die SPD aus der Reichstagswahl hervor; größte Verliererin war die DDP. Die erste erreichte mit 29,8 Prozent der Wählerstimmen ihr bestes Ergebnis nach der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919, die DDP mit nur noch 4,8 Prozent ihr schlechtestes. Bei der preußischen Landtagswahl am gleichen Tag fiel das Ergebnis ähnlich aus. Die SPD gewann nicht ganz so viel, errang 29 Prozent der Stimmen; aber die DDP verlor noch etwas mehr und erhielt nur noch 4,5 Prozent. Starke Verluste hatte auch die DNVP erlitten, was letztlich der Situation der DVP in der parlamentarischen Topologie und damit ihrem Operationsspielraum zugute kam. Wie in der Vorgeschichte der letzten Reichsregierung das Zentrum versucht hatte, einem politischen Programm schon bei der Regierungsbildung Anerkennung zu sichern, bemühte sich nunmehr die DVP darum, neben der Führung der Außenpolitik auch innenpolitisch eine stärkere Position zu gewinnen. Das wäre ihr sicherlich gelungen, wenn sie zumindest in Preußen die DDP, die im Landtag nur noch halb so stark war wie die DVP, für ein Bündnis gewonnen hätte, was durchaus den Vorstellungen der preußischen Minister der DDP entsprach, deren Kopf der Finanzminister Höpker-Aschoff war. Doch der potentielle Bundesgenosse, der der DVP hierbei hätte entgegenkommen können, war getroffen, behindert, in seiner Bewegungsfreiheit nahezu völlig gelähmt. 8 Das Wahlergebnis 8 Ein Zeugnis der inneren Situation der DDP gibt das Protokoll der ersten Vorstandssitzung, die erst am 14. Juni 1928 stattfand, nachdem das einstige Gründungsmitglied Theodor Wolff bereits zwei Wochen vorher zur Gründung einer neuen republikanischen Partei aufgerufen hatte. Albertin, Linksliberalismus, S. 452—463, Sitzung des Vorstandes der Reichstagsfraktion, S. 464—469, vgl. auch Ernst Feder, Heute sprach ich mit... Tagebücher eines Berliner Publizisten 1926 — 1932, hrsg. von Cécile Lowenthal-Hensel und Arnold Paucker, Stuttgart 1971, S. 181 ff.
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vom 20. Mai hatte in der DDP alle Erwartungen enttäuscht. Die Stellung des Parteiführers Koch-Weser, der an einigen Fehlschlägen seiner Partei nicht schuldlos war, sich dennoch stets aufs neue zum nüchternen, allerdings zur Resignation neigenden Moralisten über Parteifreunde und Zeitgenossen aufschwang, beschreibt die Stimmung nach diesem einschneidenden Ereignis mit den vielsagenden Worten: „Die Wahlen sind so ungünstig ausgegangen, wie ... seit langer Zeit zu befürchten. Trotzdem war der Ausgang für alle am Wahlkampf Beteiligten eine Bestürzung..." 9 In illusionsloser Einschätzung der entstandenen Lage gab er sich keiner Täuschung darüber hin, daß mehr als eine Wahlschlacht verloren und daß an einen Wiederaufstieg der Demokraten nicht mehr zu denken war. Die zuvor noch bedeutungslose Interessenpartei des sogenannten „Mittelstandes", die Wirtschaftspartei, hatte mit Unterstützung durch den Handwerkerbund und den Zentralverband Deutscher Haus- und Grundbesitzervereine, durch Mobilisierung von Verbandsmitgliedern und Protestwählern fast ebensoviele Stimmen und Reichstagsmandate wie die DDP errungen, sie in den Wahlkreisen Sachsen und Thüringen sogar überrundet. 10 Schon bei den Vorbereitungen zur Reichstagswahl traten in der DDP die Unzulänglichkeiten des schwachen Parteiapparates zutage, der nur in der Reichsspitze und in einigen örtlichen, kaum in allen Wahlkreisverbänden gleichmäßig existierte und agierte, da der Aufbau einer leistungsfähigen demokratischen Parteiorganisation versäumt worden war. 1 1 Pro9 Auch diese Tagebucheintragung verhältnismäßig spät; die Zwischenzeit bleibt rätselhaft; BA, Nachl. Koch-Weser/37 (22. Juni 1928). Die Mehrseitigkeit der Agitation im Wahlkampf hatte sich als verfehlt erwiesen. Koch-Weser hatte sowohl das zögernde Vorgehen des deutschnationalen Reichsinnenministers v. Keudell gegen den Rotfrontkämpferbund, das der preußischen Unterstützung bedurfte, als auch das Verhalten der SPD beim Volksbegehren für die Fürstenenteignung angegriffen. Vgl. Albertin (Hrsg.), Linksliberalismus, S. 444 — 448: „Sieben Ziele für den neuen Reichstag". 10 Die DDP erhielt 25, die Wirtschaftspartei 23 Sitze im Reichstag. Hierzu Martin Schumacher, Mittelstandsfront und Republik, bes. S. 68 ff., 108 f., 222 f. 11 Koch-Weser zählt zu den Gründen in einer Tagebuchaufzeichnung vom 22. Juni 1928 auch „die Berliner Presse mit ihrer kalten und herzlosen Art und mit ihrer parteiischen Vorliebe für die Sozialdemokratie ...", nennt aber doch an erster Stelle die Mängel der Organisation. BA, Nachl. Koch-Weser/37. Seine eigenen Verfehlungen läßt er gänzlich außer acht. Einblick in die völlige Unzulänglichkeit von Wahlkampfführung, Kandidatenaufstellung und jeglicher organisatorischen Leistung dieser Partei des überständigen Honoratiorentyps verdankt der Verf. ausführlichen Schilderungen in den ungedruckten Erinnerungen des Herrn Ministerialrats a. D. Dr. Dietrich Mende. Vgl. auch Stürmer, Koalition und Opposition, S. 197 f.; zur Geschichte der DDP und der Deutschen Staatspartei unentbehrlich die Darstellung des einstigen Reichsgeschäftsführers Werner Stephan, Aufstieg
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grammatische und taktische Unsicherheiten hingen hiermit eng zusammen. Koch-Wesers Pessimismus beschränkte sich aber nicht auf die Lage der eigenen Partei, sondern bezog das gesamte liberale politische System ein, wenn ihm auch Ursachen wie künftige Wege noch verborgen schienen. „Es gärt überall im Parteiwesen. Man hat im Bürgertum das Gefühl, daß es so nicht weitergeht." 12 Auch der nächste Schritt blieb ohne rechte Zuversicht. Koch-Weser übernahm den Ehrenvorsitz der Liberalen Vereinigung, die als über- und außerparteilicher Honoratiorenklub Köpfe verschiedener Richtungen in der vagen Hoffnung vereinigte, dem Gedanken einer neuen bürgerlichen Sammlung einen Dienst zu erweisen: „Ich kann nicht anders, als bei passenden Gelegenheiten öffentlich zu bekunden, daß ich die Gründung einer großen Partei der Mitte für ein erstrebenswertes Ziel halte. Denn das ist meine Überzeugung. Ich muß das aber auch deswegen tun, weil weite Schichten unserer Anhänger sich von uns abkehren, wenn sie glauben, daß der eigentliche Hort der Einigungsbestrebungen bei der Deutschen Volkspartei liegt. Auf der anderen Seite allerdings besteht die Gefahr, daß, wenn man zu rasch über die Brücke zu gehen versucht, hinter einem alles zusammenbricht. Das wäre noch unerträglicher, denn alles kommt darauf an, daß, wenn einmal der Übergang vollzogen wird, die ganze oder doch fast die ganze Partei mitgeht. Daß die Deutsche Demokratische Partei in ihrer gegenwärtigen Organisation und Finanzkraft einen neuen Wahlkampf nicht mehr wird bestehen können, ist meine Überzeugung. Irgendeine Reorganisation muß kommen". 13 Diese „Reorganisation", die schließlich auf einen Brückenschlag zur Deutschen Volkspartei hinauslaufen sollte, stand freilich 1928 noch unter einem anderen Vorzeichen. Zunächst ließen sich Reibungen zwischen beiden Parteien bei dem schwierigen Zustandekommen der neuen Reichsregierung ausschließen. Auf weitere Sicht aber bot das auf die Formel des „Einheitsstaates" festgelegte Programm einer eben so verstandenen demokratischen Reform des überkommenen Reichsaufbaus, auf den die treibenden Köpfe der Demokraten — wie der SPD — hindrängten, Aussichten für ein Zusammengehen mit der DVP in einigen Fragen der und Verfall des Linksliberalismus 1918 — 1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei, Göttingen 1973. 12 Nachl. Koch-Weser, ebda. 13 Ebda. Ähnlich, wenn auch etwas vorsichtiger äußerte sich ungefähr zur gleichen Zeit der ehemalige Parteivorsitzende Carl Petersen in einem Brief an Geßler; abgedruckt von Otto Geßler, Reichswehrpolitik, S. 503.
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inneren Politik. In der äußeren bestanden ohnehin keine Gegensätze. Seit der Neujahrsrede Stresemanns 1928, der Erwiderung Aristide Briands und den nachfolgenden Verhandlungen war aller Welt deutlich, daß die baldige Räumung des Rheinlandes und die Ablösung der Reparationsverpflichtungen nach dem Dawes-Plan auf der Tagesordnung standen, mochte sich auch die deutsche Außenpolitik noch so energisch darum bemühen, beide Fragen voneinander getrennt zu halten, um hochtreibende Forderungen der Gegenseite auszuschließen. 14 Obgleich nach dem Gewinn der Sozialdemokraten in der Reichstagswahl von 1928 eine Erneuerung der Weimarer Koalition — infolge des Rückgangs der Demokraten — keine tragfähige Mehrheit im Reichstag gebracht hätte, gestalteten sich die Bemühungen um eine neue „große Koalition" überaus schwierig; die Bildung der neuen Reichsregierung beanspruchte mehr Zeit als das Zustandekommen irgendeiner anderen und gelang schließlich zunächst nur in Gestalt eines „Kabinetts der Köpfe" ohne Koalitionsbindungen. Das Zentrum bewegte sich mit äußerster Vorsicht und zögerte, an einer neuen Regierung teilzunehmen. Nach dem Rücktritt des Reichskanzlers Marx, der bis zum äußersten Termin hinausgeschoben wurde, vergingen 17 Tage, ehe unter der verstärkten Begleitmusik unruhiger Pressestimmen das Reichskabinett des Sozialdemokraten Hermann Müller-Franken ins Amt trat. Es galt als Provisorium, erreichte allerdings dennoch die bis dahin längste Amtszeit einer Reichsregierung der Weimarer Republik. Doch eben diese Beständigkeit des sich wandelnden Provisoriums charakterisiert die Situation des parlamentarischen Regierungssystems der Republik in der Phase der erklärten Bereitschaft der SPD, die Regierungsverantwortung im Reich zu übernehmen. 15 Zuerst und voreilig und ohne rechtes Maß beanspruchte Otto Braun das Reichskanzleramt, ohne die 14 Die ganze Breite dieser Vorgänge jetzt bei Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, bes. S. 422 ff., 433 ff. Die Zusammenhänge hat zuerst Rolf E. Lüke behandelt, Von der Stabilisierung zur Krise, Zürich 1958, S. 147 ff.; hierzu Emile Moreau, Souvenirs d'un Gouverneur de la Banque de France, Paris 1954, bes. S. 451, 475, 528; Julius Curtius, Der Young-Plan, Stuttgart 1950, S. 22 ff., die deutsche offiziöse Darstellung: Die Entstehung des Youngplans, dargestellt vom Reichsarchiv 1931 — 1933, hrsg. von Martin Vogt (Schriften des Bundesarchivs, 15), Boppard 1970. 15 Noch vor der Neuwahl des Reichstags, nach dem entscheidenden Referat von Rudolf Hilferding auf dem Parteitag von 1927: Sozialdemokratischer Parteitag in Kiel. Protokoll ..., S. 165 — 184. Zur Vorgeschichte der Regierung Hermann Müller 1928: Ilse Maurer, Reichsfinanzen und Große Koalition, S . 3 6 f f . ; Schulze, Otto Braun, S.539—561: „Kein Kompromiß mit Hermann Müller"; Winkler, Schein der Normalität, S. 528—538.
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Leitung des Preußischen Staatsministeriums abgeben zu wollen. 16 Als sich aber nach wenigen Tagen Vorstand und Reichstagsfraktion der SPD gegen diese Lösung und für eine Kanzlerschaft Hermann Müllers entschieden, blieb eine zwischen SPD und DVP stehende „Preußenfrage" nicht das einzige, aber das hauptsächliche Hindernis auf dem Wege zur Regierungsbildung. Koalitionsvereinbarungen kamen nicht zustande; das Problem, „die fünf heiligen Bücher der beteiligten Parteien in einen Katechismus für den Hausgebrauch umzuarbeiten", wie es Koch-Weser ausdrückte, 17 blieb ungelöst; „die Aufgabe wird jedesmal schwieriger, weil die Parteien immer mehr festfrieren". Die Folgen erschienen dem demokratischen Parteiführer aber nicht nur in ungünstigem Licht. Nachdem die Regierungsbildung auf der Grundlage koalitionsmäßiger Bildung „glücklich gescheitert" 18 war, kam nur eine neue Art der Regierungsbildung in Betracht, aus der ein „Kabinett der Persönlichkeiten" mit parlamantarischen, aber nicht fraktionsmäßigen Bindungen hervorgehen sollte. Doch nicht die Bewegungsfreiheit der zusammengeschmolzenen DemokratenFraktion, auf die Koch-Weser setzte, sondern das Gewicht Stresemanns, der als langjähriger und — nach dem Willen des Reichspräsidenten — auch als präsumptiver Reichsaußenminister über eine nur schwer angreifbare Position verfügte, gab den Ausschlag. Als alle anderen Bemühungen zu scheitern schienen, führte der erkrankte Stresemann durch ein kategorisches Telegramm an den mit der Regierungsbildung betrauten sozialdemokratischen Fraktionsführer Hermann Müller, durch den „Schuß von Bühlerhöhe", die Entscheidung herbei: daß er eine Fortsetzung seines Amtes in einer Regierung der Weimarer Koalition ablehne, die eine „zu schwache Basis" für die großen außenpolitischen Aufgaben bilde und daß er nach wie vor ein „Zusammenwirken im Rahmen der ,großen Koalition'" für möglich und nötig halte. 19 Stresemanns Urteil war wohlbegründet; denn von französischer Seite wie von dem Reparationsagenten Parker Gilbert wurde seit Monaten die Aufnahme von Verhandlungen über eine Revision der Reparationsregelungen betrieben und mit einer vorzeitigen Beendigung der Rheinlandbe-
Schulze, Winkler, ebda. So auch Koch-Weser, in der Vossischen Zeitung, Nr. 297 vom 26. Juni 1928 („Festgefrorene Parteien"). 18 Nachl. Koch-Weser, S. 37, Aufzeichnung vom 4. Juli 1928. 19 Gustav Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, Berlin 1933, S. 297 ff.; Curtius, Minister, S. 70: „Scholz und Fraktion tobten und mußten doch die Entscheidung hinnehmen." 16 17
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setzung verknüpft. 20 Doch von Anfang an stand fest, daß, sofern der Anschein von Zugeständnissen zugunsten einer deutsch-französischen Verständigung eine Rolle spielen sollte, dies „ein Programmpunkt der französischen Linksparteien" blieb, „wobei die Linke die notwendigen Konzessionen, die auch ihr viel Kopfschmerzen machen, nur einer deutschen Linksregierung zugute kommen lassen möchte."21 Verhandlungen strebte sowohl die französische Rechte unter Ministerpräsident Poincaré an als auch die Linke, die sich Außenminister Briand anschloß; aber die Linke setzte ihr Gewicht zugunsten eines deutschen linken Partners ein. Die Verhandlungen konnten mithin nicht anders als unter sozialdemokratischer Leitung einer deutschen Regierung geführt werden. Diese blieb aber Transitorium und Notlösung, bis endlich im April 1929 das „Kabinett der Persönlichkeiten"22 durch engere Bindungen wieder fest an die Fraktionen herangezogen und parlamentarisch durch eine „große Koalition" - SPD, Zentrum, Bayerische Volkspartei, D D P und DVP abgesichert wurde. Doch der Weg war voller Hindernisse. In einem komplizierten Spiel hielten Sprecher der Deutschen Volkspartei bis zuletzt an der Forderung fest, die erst Stresemann eskamotierte, daß die Regierungen im Reich und in Preußen gleichzeitig neu zu formieren und die DVP an beiden zu beteiligen sei. 23 Der Versuch aus der Mitte der DVP, namentlich aus der preußischen Landtagsfraktion, die Gunst 20
Lüke, Stabilisierung, S. 147 ff.; vgl. auch Anm. 14. Der Botschafter in Paris, v. Hoesch, an Stresemann, 8. Januar 1927; Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918—1945, Serie B: 1925 — 1933, (künftig abgekürzt ADAP, B), Bd. IV, Göttingen 1970, S.29f. 22 Euphemistisch noch Koch am 4. Juli 1928: „Das Kabinett der Persönlichkeiten ist tatsächlich auch sehr rasch auf die Beine gebracht worden. Es ist in Wahrheit nichts als ein parlamentarisches Kabinett, nach einer Methode gebildet, wie sie in allen anderen parlamentarischen Ländern selbstverständlich ist. Zwar grollen die Fraktionen des Zentrums und der DVP noch. Die Fraktion der DVP hat sogar in einem Beschluß es gewagt, Herrn Stresemann wegen seines eigenmächtigen Vorgehens zu tadeln ..., aber in letzter Linie können die Fraktionen, weil ihre Führer im Kabinett sind, gar nicht anders, als es unterstützen. Daß sie nicht gebunden sind, befreit auch das Kabinett von einer Bindung und macht es viel stärker. Es ist schon ein Zeichen von einer gewissen Stärke, daß das Kabinett sich geweigert hat, den Wunsch des Zentrums und der DVP, sich mit der Ablehnung eines Mißtrauensvotums zu begnügen, zu entsprechen." BA, Nachl. KochWeser/37. 21
23 Undatierte „Darstellung der Verhandlungen des Herrn Abg. Müller-Franken über seinen Auftrag zur Regierungsbildung", BA, R43 1/1308. Inhalt und Erfassung in der Registratur lassen keine Zweifel, daß sich diese Niederschrift auf die Vorgänge im Juni 1928 bezieht; auch abgedruckt: Akten der Reichskanzlei: Kabinett Müller II, 1, S. 1 ff.
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der parlamentarischen Flügelposition der Reichstagsfraktion dafür zu nutzen, den Anfang 1925 verlorenen Regierungsanteil in Preußen zurückzugewinnen, fiel zu diesem Zeitpunkt, als die öffentliche Diskussion einer Reichsreform auch von preußischer Seite stimuliert wurde, 24 keineswegs aus dem Rahmen der gegebenen Verhältnisse. Auch ein Junktim zwischen den Regierungsbildungen im Reich und in Preußen war nach den Wahlen 1928 erörtert, von Preußen aus allerdings an den Gedanken einer Kanzlerschaft des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun geknüpft worden, aber, wie erwähnt, schon im Parteivorstand der SPD gescheitert, der sich gegen die Beibehaltung des Ministerpräsidentenamtes wehrte, 25 die doch allzu sehr an die Lösung des Bismarckreiches erinnerte und in den süddeutschen Ländern auf starke Opposition gestoßen wäre. Allerdings blieb die Haltung der Sozialdemokraten nicht ohne Widerspruch. Das Ziel der politischen Homogenität von Reichsregierung und preußischer Regierung und der Personalunion von Reichskanzleramt und Ministerpräsidentenamt wurde zwar von der preußischen Regierung nie offiziell angestrebt, aber doch unumwunden von dem einflußreichen, hinter Braun stehenden demokratischen Staatssekretär Abegg proklamiert26 und deutlich genug von Innenminister Grzesinski wie von seinem Amtsvorgänger und künftigen Reichsinnenminister Severing unterstützt, der als Reichstagsabgeordneter das Wort prägte, „daß die ungerade republikanische Regierung des Reiches der geraden republikanischen Regierung Preußens sich anpassen muß". 27 24 In kritischer Distanz zu den Arbeiten des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz (unter Beteiligung des preußischen Ministerialdirektors Brecht), sie begleitend und direkt oder indirekt kommentierend, äußerte sich zuerst der Staatssekretär im preußischen Innenministerium, Wilhelm Abegg, Die preußische Verwaltung und ihre Reform, Länder und Reich, Berlin 1928, der Bedeutung und Vorrang einer preußischen Verwaltungsreform betonte, danach Innenminister Albert Grzesinski wiederholt auch selbst: Denkschrift „Vorschlag für eine Verwaltungsreform", Abdruck BA, R 431/1952; ders., Preußische Verwaltungsreform, in: Berliner Tageblatt, Nr. 17 vom 10. Januar 1929; auch in: Hannoverscher Kurier, Nr. 16/17 vom 11. Januar 1929; ders., Die Verwaltungsreform kommt, in: Vossische Zeitung, Nr. 18 vom 16. Januar 1929; ders., Die Einzelheiten der Verwaltungsreform, in: Berliner Tageblatt, Nr. 24 vom 15. Januar 1929; ders., Beamtenschaft und Verwaltungsreform, in: Der Beamte, Jg. 1929, S. 7 ff. Vgl. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 598.
Im einzelnen Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen? S. 123 f.; und die oben in Anm. 15 genannte Literatur. 26 Abegg, Preußische Verwaltung, S. 432. 27 Vgl. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, Bd. I, S. 599; vollkommen übereinstimmend Ehni, Bollwerk Preußen? S. 120 f. 25
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Daß indessen angesichts dieser Position nach dem Scheitern der Kanzlerambitionen Otto Brauns keine Hoffnungen mehr auf eine Beteiligung der DVP an der preußischen Regierung bestanden, hatte Stresemann weitaus besser erkannt als sein Gegenspieler, der Fraktionsvorsitzende Scholz. Mit einer Unterstützung durch das Zentrum war kaum zu rechnen, da der Streit um den Reichsschulgesetzentwurf 28 kurze Zeit zurücklag; und Hermann Müller bemühte sich vergeblich, um der DVP entgegenzukommen, den preußischen Ministerpräsidenten unterhalb der Kanzlerebene und unabhängig von der Kanzlerfrage für eine politische „Homogenisierung" der beiden Regierungen in Berlin zu gewinnen. Otto Braun bestand auf der „Selbständigkeit der Entschließung der preußischen Regierung." 29 Rücksichten auf das Zentrum als dem verläßlichen Koalitionspartner in Preußen sprachen hierbei kaum weniger mit als Brauns starker Sinn für die Erhaltung der Machtposition der preußischen Regierung. Auch Staatssekretär Meissners Versuch, den Wunsch des Reichspräsidenten ins Spiel zu bringen, der sich an einer Erweiterung der in Preußen regierenden Koalition interessiert zeigte, schlug fehl. Erst während einer Besprechung Stresemanns mit Braun fand sich der preußische Ministerpräsident bereit, im kommenden Herbst in einer Landtagserklärung eine Regierungsumbildung in Preußen anzukündigen, mithin die Frage zu vertagen, aber doch nicht unvermittelt zurückzuweisen. Dieses Zugeständnis umging zwar vorläufig jede Entscheidung, gab jedoch Stresemann ein Mittel in die Hand, die Bildung der Reichsregierung voranzutreiben und innerhalb seiner Partei die Widerstände gegen eine Beilegung des Streites auszuräumen. Ihm kam daher im ganzen das größte Verdienst an der Entstehung des „Kabinetts der Persönlichkeiten" zu. Für Otto Braun dürften mancherlei, sicherlich auch persönliche Gründe im Spiel gewesen sein, die ihn veranlaßten, dem sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Hermann Müller das ausschlaggebende Gewicht der preußischen Position nachdrücklich vor Augen zu führen. Der Umstand, daß nunmehr führende Sozialdemokraten sowohl im Reich als auch in Preußen an der Spitze der Regierungen standen, erleichterte die Verhältnisse keineswegs. 30 Braun nutzte die Lage, um die Frage der Günther Grünthal, Reichsschulgesetz, S. 229 f. „Darstellung der Verhandlungen ...", s.o. Anm.23. 30 Braun deutet dies selbst unmißverständlich in seinen Erinnerungen an, indem er bemerkt, daß er im Falle einer zustimmenden Erklärung des Parteivorstandes der SPD bereit gewesen wäre, an die Spitze der Reichsregierung zu treten, ohne auf die „Machtposition in Preußen" zu verzichten. Otto Braun, Von Weimar zu Hitler, 2. Aufl. New York 28 29
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Reichsreform auf neue Weise zu behandeln, indem er, unter dem Druck der finanzpolitischen Situation, die anrainenden Länder — zunächst die beiden Mecklenburg und Hessen — zum Anschluß an Preußen zu bewegen und dessen Gewicht im Reichsrat und damit im Reich wie auch innerhalb seiner Partei ständig zu verstärken suchte, was er nun selbst aus dem überzeugt angenommenen Vorbild Bismarcks herleitete,31 dem er auf seine Art folgen wollte. Ein Erfolg blieb aus; doch Brauns Umkehrung des von der DVP verlangten Junktims, mit der er seine Einbeziehung in die Kabinettsbildung zu erreichen versuchte, wirkte sich erschwerend und hemmend auf Müllers Bemühungen um die Bildung und Festigung der Reichsregierung aus. 32 Auch mit seinen kaum glücklicheren Versuchen, die Aufmerksamkeit Frankreichs zu gewinnen, verärgerte Braun den Reichskanzler und den Reichsaußenminister.33 In seiner eher pessimistischen Einschätzung der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung wie der Beurteilung des Ganges der Reparationsverhandlungen in Paris 1929, aber auch in manchen anderen Fragen trennte Braun vieles von den Parteiführern Müller und Stresemann. In einer Reihe von Streitpunkten konnten sich wohl Demokraten und Zentrum mit der DVP gegen die Sozialdemokraten einigen, in anderen, 1940, S. 245 f. Nach dem Erfolg der Sozialdemokraten in der Reichstagswahl und in der preußischen Landtagswahl scheint sich Braun Chancen sowohl auf den Vorsitz seiner Partei als auch auf die Betrauung mit der Bildung der neuen Reichsregierung durch den Reichspräsidenten, bei dem er sich um gute Beziehungen bemühte, ausgerechnet zu haben. Vgl. die Mitteilung des persönlichen Referenten Otto Brauns, Dr. Herbert Weichmann, bei Erich Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Erich Matthias, Rudolf Morsey (Hrsg.), Das Ende der Parteien 1933, S. 114. Die SPD entschied in der Wahl des Parteivorsitzenden, indem sie sich an ihre traditionellen Gepflogenheiten hielt und den bereits vor längerer Zeit gewählten Hermann Müller in diesem Amt bestätigte. Brauns Kritik, soweit sie dieses Verfahren betraf, richtete sich also indirekt dagegen, daß seine Partei seine preußische „Machtposition" nicht in dem Maße honorierte, daß sie bereit gewesen wäre, mit dieser Usance zu brechen, wonach Parteipolitik stets vor Staatspolitik ging. Braun ging stets vom Vorrang der Regierungsbeteiligung der SPD aus. Dies begründete die Spannungen in seinem Verhältnis zum Parteivorstand, dem er nicht mehr angehörte, und seine Unzufriedenheit mit dem konzilianten, taktisch schwankend erscheinenden Hermann Müller. Diese persönlichen Auffassungen und Gegensätze herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst der biographischen Darstellung von Hagen Schulze, Otto Braun, bes. S. 407 ff. 31 So Schulze, Otto Braun, S. 557 ff. 32 Koch-Weser urteilte knapp und klar, Braun sehe Müller „als seinen Gegner an, nachdem die Sozialdemokraten ihn [Müller] als Reichskanzler vorgeschlagen haben, ohne ihm [Braun] das Amt anzubieten". BA, Nachl. Koch-Weser/39, 27. Februar 1929. 33 Schulze, Otto Braun, S. 602 ff.; dies wiederholte sich 1931; Heinrich Brüning, Memoiren 1918-1934, Stuttgart 1970, S.392. 20*
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etwa in den häufig diskutierten Fragen „Einheitsstaat und Schulwesen", standen Demokraten und Deutsche Volkspartei dem Zentrum oppositionell gegenüber und taktierte die Führung der preußischen Sozialdemokraten — mit Rücksicht auf das Zentrum — eher zurückhaltend. 34 Das zeitweilig erbitterte Ringen um den Reichsschulgesetzentwurf 1927/28 hatte schließlich zum Sturz des um Vermittlung bemühten Reichskanzlers und Zentrumführers Marx geführt und schwer überbrückbare Gegensätze zwischen Zentrum und DVP hinterlassen. 35 Während noch bis zur Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 auch im Zentrum Gedanken zur Reichsreform eine Rolle spielen konnten, kamen im Anschluß an den fünften Reichsparteitag der Zentrumspartei am 8. und 9. Dezember und die Ablösung des Parteiführers Wilhelm Marx durch Ludwig Kaas gerade die Kritiker dieser Bestrebungen zu Wort. Der „Kölner Parteitag der Besinnung" zeigte in mehrerer Hinsicht eine Wende an. Sie brachte das Zentrum auf einen politischen Kurs, in dem sowohl eine noch engere Bindung an die katholische Kirche und die von ihr unterstützten politischen Bestrebungen der „Katholischen Aktion" als auch eine entschiedene Annäherung an nationale und konservative Kräfte möglich erschien, obgleich die in der parlamentarischen Arithmetik begründete Koalitionsbildung mit der SPD — im Reich wie in Preußen — ohne äußerliche Hemmnisse schien. Die Mittellage des Zentrums im deutschen Parteiensystem gewährleistete nach wie vor seine „permanente Regierungsfahigkeit" 36 , gab ihm eine glänzende Position zur Kooperation unter selbstbestimmten Voraussetzungen gerade in der Phase des Niedergangs der liberalen bürgerlichen Parteien und der daraus folgenden Veränderungen im Parteienfeld. Das Zentrum konnte links einsetzen, aber auch einer Verschiebung nach rechts elastisch nachgeben oder sie begleiten. Mit dem Prälaten und Trierer Kirchenrechtler Kaas wurde zum ersten Male ein katholischer Geistlicher zum Parteivorsitzenden gewählt. Er nannte den Parteitag, der diese Entscheidung fällte, „eine Etappe, die in ihrer Bedeutung und weittragenden Wirkung wohl erst in späterer Zeit ganz erkannt und gewertet werden kann", 37 was sich gewiß bewahrheitet hat, wenn vielleicht auch nicht in jeder Hinsicht so, wie Kaas es gemeint haben dürfte. Nachl. Koch-Weser/37, 22. Juni 1928. Zu den verwickelten parteipolitischen Zusammenhängen Grünthal, Reichsschulgesetz und Zentrumspartei, S. 235—244. 36 Bracher, Auflösung, S. 90. 37 Zit. nach Rudolf Morsey, Die Deutsche Zentrumspartei, in: Matthias, Morsey (Hrsg.), Das Ende der Parteien 1933, S. 285. 34 35
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Ein führender Parlamentarier — und auch Theoretiker — des Zentrums bemerkte, daß seine Partei „nur in den unveränderlichen Grundsätzen einer religiös-sittlichen Auffassung des Lebens" ihre Begründung gefunden habe, doch sei sie „in einem gewissen Sinne frei in der Anwendung dieser Grundsätze auf die Veränderlichkeit des Lebens." 38 Dies kann als eine Erklärung historischer Vorgänge gelten, in denen sich diese Partei wiederholt imstande zeigte, innerhalb kurzer Fristen scheinbar politisch widerspruchsvolle Bindungen einzugehen. Die offenkundig gewordene Krise, die die historischen liberalen Parteien Deutschlands erfaßte, und auch das Zentrum, in milderer Weise, nicht unberührt ließ, 39 stimulierte einen allmählich auch von außen erkennbaren Kurswechsel, der sich während der Amtszeit des Kabinetts Hermann Müller anbahnte. Zunächst trat jedoch der Konflikt zwischen DVP und Sozialdemokraten ungleich stärker in Erscheinung, an dem das Zentrum keinen Anteil zu nehmen schien. Der von Scholz, dem Vorsitzenden der DVP-Fraktion, wiederholt erhobenen Forderung nach gleichzeitiger Umbildung der Reichs- und der preußischen Regierung, offenkundig ein Druckmittel, um wieder „in Preußen in die Regierungskoalition zu kommen", 40 folgte in den unter Vermittlung des Reichskanzlers Müller geführten Verhandlungen keine Einigung zwischen den Unterhändlern des Zentrums und der DVP über die Reihenfolge der Erörterungen wie die Art der angestrebten Lösung. 41 Am Ende erklärte Reichsverkehrsminister v. Guérard, bis dahin der einzige Minister des Zentrums im Kabinett Müller, seinen Rücktritt. 42 Das Zentrum befand sich in der preußischen Regierungskoalition an der Josef Joos, Die Zentrumspartei in Koalitionen, in: Politisches Jahrbuch 1927/28, Mönchen-Gladbach 1928, S. 159. Vgl. Morsey, Zentrumspartei, S. 283; Bracher, Auflösung, S. 89 f. 39 Über den Rückgang der katholischen Wählerschaft Johannes Schauff, Die deutschen Katholiken und die Zentrumspartei. Eine politisch-statistische Untersuchung der Reichstagswahlen seit 1871, Köln 1928, ND hrsg. von Rudolf Morsey, Das Wahlverhalten der deutschen Katholiken im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Untersuchungen aus dem Jahre 1928 von Johannes Schauff, Mainz 1975, S. 3—189; immer noch beachtenswert wegen der besonderen Blickrichtung auf die Beziehungen der Christlichen Gewerkschaftsbewegung zum Zentrum, die ungedruckte Arbeit von Helga Grebing, Zentrum und katholische Arbeiterschaft 1918—1933, phil. Diss. Freie Universität Berlin 1953 (Maschschr.), S. 238 ff. 40 So in einem Aktenvermerk des Staatssekretärs Pünder vom 24. Januar 1929, Auszüge abgedruckt bei Morsey, Zentrumsprotokolle 1926 — 1933, S. 255. 41 a.a.O., S.256 — 266, mit den Vermerken Pünders. 42 6. Februar 1929, Original BA, R 431/1308. 38
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Seite der SPD und der DDP, während an der Reichsregierung, neben dem Reichspostminister aus der Bayerischen Volkspartei, die beiden liberalen Parteien mit der SPD partizipierten; doch diese Regierung konnte nicht ohne Unterstützung des Zentrums amtieren. Die Unterhandlungen hierüber traten infolgedessen beherrschend in den Vordergrund, während die preußischen Verhandlungen auf ein Nebengleis gerieten. Hier mündete der Widerstand des preußischen Ministerpräsidenten gegen eine Aufnahme der DVP in die Regierungskoalition, wobei er sich nun ausdrücklich auf das Zentrum berief, 43 in den Kompromißvorschlag, Reichswirtschaftsminister Curtius gleichzeitig mit dem preußischen Handelsministerium zu betrauen, was auf Kosten der demokratischen Partei gegangen wäre. 44 Das hätte der SPD keine Einbuße gebracht, deren Stellung gar durch die Ablösung des der DDP zugerechneten Kultusministers Carl Heinrich Becker um ein weiteres Ministeramt gestärkt werden sollte. Faktisch lief dies auf eine Schwächung der im Landtag allerdings nur noch mit 20 Abgeordneten vertretenen DDP hinaus, die nur noch den Finanzminister behalten sollte. Dies hätte die Beziehungen zwischen DVP und DDP sicherlich eher belastet als erleichtert — zudem für einen äußerst geringen Lohn. Daß die Reichstagsfraktion der DVP hierüber ihr „Entzücken" geäußert haben soll, 45 erscheint recht zweifelhaft. Jedenfalls versagte sich im entscheidenden Augenblick schon die preußische Landtagsfraktion, da ihr diese Lösung keinen Vorteil zu bringen schien; sie stellte die aussichtslose Gegenforderung, auch das Kultusministerium zu 43 So die Erklärung des Reichskanzlers: „Der preußische Ministerpräsident sei an und für sich bereit, die Große Koalition in Preußen zu bilden, halte sich aber wohl an die Haltung des Zentrums für gebunden. Da das preußische Zentrum die Politik des preußischen Ministerpräsidenten immer unterstützt habe, könne der preußische Ministerpräsident wohl schlecht im gegenwärtigen Augenblick das preußische Zentrum im Stiche lassen. Aus der Tatsache, daß das preußische Zentrum innerhalb der preußischen Regierung drei Ministersitze fordere, ergebe sich, wenn die Deutsche Volkspartei zwei Minister bekommen soll, die Notwendigkeit, entweder ein neues Ressort zu schaffen oder einen Minister ohne Portefeuille zu ernennen." Reichsministerbesprechung am 7. Februar 1929, Akten der Reichskanzlei: Kabinett Müller II, 1, S. 414. Der Reichskanzler fügte hinzu: „Nach seinen Informationen habe das Konkordat in Preußen im Laufe der Verhandlungen keine entscheidende Rolle gespielt. Lediglich die personellen Fragen seien entscheidend." Etwas anders Koch-Weser, BA, Nachl. Koch-Weser/39, 27. Februar 1929. Hierzu auch Herbert Hömig, Das preußische Zentrum in der Weimarer Republik (Veröffentlichungen der Kommission f. Zeitgeschichte, Reihe B, 28), Mainz 1979, S. 158 f. 44 Koch-Weser, ebda.; Akten der Reichskanzlei: Kabinett Müller II, 1, S.445, Anm.2; vgl. Curtius, Sechs Jahre Minister, S. 70. Der Demokrat Schreiber war preußischer Handelsminister; neuerdings hierzu Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen, S. 382. 45 So Möller, ebda.
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erhalten, der sich alle drei Fraktionen der preußischen Regierungskoalition widersetzten. Doch den zentralen Streitpunkt zwischen DVP und SPD in Preußen bildete seit 1926 die Personalpolitik des Innenministeriums unter dem Sozialdemokraten Grzesinski, 46 die Brauns Unterstützung fand. Die Beamtenpolitik Preußens bildete in der Tat ein Problem eigener Art. Strittig war sie im Hinblick auf die höheren Positionen; das übrige Beamtentum fand nur wenig Beachtung. Nirgends wurde innerhalb des Reiches ein derartig stark durchgreifender Personalwechsel in den disponiblen politischen Positionen der allgemeinen und inneren Verwaltung vom Landrat aufwärts vorgenommen wie in dem größten Lande. Schon dies löste Befremden aus und mobilisierte die stets wache Opposition gegen den sozialdemokratischen Innenminister, die nicht allein auf die an der Regierung unbeteiligten Parteien beschränkt blieb. In späteren Jahren wandte sie sich noch stärker gegen Ministerpräsident Braun selbst; doch die Fragen und Angriffspunkte blieben dieselben. Offenbar hatte Grzesinskis personalpolitischer Versuch, eine Diagonale zwischen den von ihm provozierten personellen Forderungen aus der „Basis" seiner eigenen Partei und den von anderen 44 Zum Kreis der „politischen Beamten" weiter unten, Anm. 124. Der Personalwechsel in den Stellen der disponiblen politischen Beamten außerhalb des Ministeriums nahm sich unter Innenminister Severing 1920 bis 1926 zahlenmäßig weit erheblicher aus als unter seinem Amtsnachfolger Grzesinski bis zu den Bewegungen im Herbst 1929. Aber gerade angesichts dieses Sachverhaltes, dessen Nutznießer zunächst auch Angehörige der DVP waren, erregte dann offenkundig die Verschärfung der Personalpolitik Anstoß. Einige Einzelheiten und Zahlen bei Wolfgang Runge, Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933 (Industrielle Welt, 5), Stuttgart 1965, S. 145 ff. Vgl. hierzu auch Eberhard Pikart, Preußische Beamtenpolitik 1918-1933, in VZG, 6 (1958), S. 119 ff. Daß Grzesinskis Personalpolitik auch auf unteren Ebenen seiner Partei Gegner fand, kann kaum zu ihrer Rechtfertigung angeführt werden. Eine Erklärung hierfür wie für die Eigenart des Vorgehens Grzesinskis geben einige Beispiele, die Horst Möller erwähnt, Parlamentarismus in Preußen, S. 530: „Beispielsweise beklagte sich der ADGB-Ortsausschuß Berlin am 7. April 1929 bei Innenminister Grzesinski, er habe zugesagt, Vorschläge für eine Stellenbesetzung im Polizeipräsidium Berlin vom ADGB entgegenzunehmen, sich aber an diese Zusage nicht gehalten. Die Stelle sei ohne Rücksprache mit dem ADGB besetzt worden. Auch die Personalwünsche seines Parteifreundes und Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, Ernst Hamburger, lehnte Grzesinski häufiger ab. Hamburgers Vorschläge betrafen vor allem Politische Beamtenstellen in Niederschlesien, da er im Wahlkreis Breslau gewählt worden war und die Wünsche seiner dortigen Parteifreunde in Berlin vertrat." Die Unterlassung stärkerer Eingriffe auf der Ebene der Ministerialräte unter Severing kritisierte nachträglich der ehemalige Staatssekretär Abegg. Schreiben an Severing vom 31. Mai 1947, Originaldurchschlag BA, Kl. Erw. 3 2 9 - 8 .
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politischen Kräften ausgehenden Präsentationen — nach den Beurteilungen durch zuständige Beamte seines Ministeriums — herzustellen, wohl zu Veränderungen, aber nicht zu überzeugenden Erfolgen geführt. Der eingeschlagene Kurs aber hob sich von der Beamtenpolitik des Reiches deutlich ab; schon dies ließ ihn problematisch und strittig erscheinen. Er wird im Nachfolgenden noch zu erörtern sein. In den Verhandlungen über einen Eintritt der DVP in die preußische Regierung, die bis Ende 1930 wiederholt, doch stets erfolglos erneuert wurden, ehe sie definitiv endeten, vermochten dann SPD und Zentrum, einen Druck auf die schwache DDP auszuüben und sie zur Freigabe hoher Personalstellen zu bewegen.47 Dies gelang schließlich 1930, kam jedoch der SPD und nicht mehr der DVP zugute. Angesichts dieses schier unerschöpflichen und verwirrenden Wechselspiels konnten sogar langmütige Parlamentarier ihre Geduld verlieren. Der von Stresemann und Koch-Weser im voraufgegangenen Sommer empfohlene und zunächst auch verwirklichte Gedanke eines „Kabinetts der Persönlichkeiten" — ohne koalitionsmäßige Bindung — schien unter diesen Umständen auch langfristig den einzigen Ausweg zu weisen. Der ehemalige demokratische Reichsinnenminister Külz forderte — ganz auf der Linie Koch-Wesers — den Reichskanzler unumwunden auf, nunmehr auf weitere Verhandlungen mit den Fraktionen zu verzichten und „den von der Verfassung gewollten und für das parlamentarische Regierungssystem gegebenen Weg der Regierungserweiterung zu beschreiten, dementsprechend die ... für geeignet gehaltenen Persönlichkeiten dem Herrn Reichspräsidenten vorzuschlagen, mit dem so erweiterten Kabinett vor den Reichstag zu treten und die praktische Arbeit zu beginnen". 48 Doch der Reichskanzler, der seine Erfahrungen mit dem Parteifreund und Rivalen Otto Braun hatte, wünschte einen stärkeren Rückhalt zumindest innerhalb der Reichstagsfraktion und im Vorstand der SPD und mußte daher diesen Gedanken als Dauerlösung zurückweisen: Verhandlungen mit den Fraktionen seien zwar nicht in der Verfassung vorgesehen, aber doch „seit der Verfassungsgebung Praxis gewesen"; der andere, auch nach Müllers Meinung „mit dem Wortlaut der Verfassung übereinstimmende Weg" könne in Wirklichkeit nur dann beschritten werden, wenn die Fraktionen ihren in die Regierung eintretenden Mitgliedern diesen Weg auch freigäben. Ohne seine eigene Fraktion zu erwähnen, bezog Möller, Parlamentarismus in Preußen. S. 384. Schreiben des Reichstagsabgeordneten Oberbürgermeister Külz an Reichskanzler Müller vom l . M ä r z 1929, Orig. BA, R431/1308. 47
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sich Müller auf das Zentrum; es habe ihm, dem Reichskanzler, „bis jetzt erklärt, daß es Fraktionsmitgliedern nicht erlauben würde, in die Regierung zu gehen, solange die Volkspartei sich nicht an die Regierung binde". 49 In der Vorgeschichte der Reichsregierung der „großen Koalition" traten mithin zwei nunmehr charakteristische Merkmale der Situation hervor: die starke Stellung des Zentrums auch in den sozialdemokratisch geführten Regierungen im Reich wie in Preußen, und die strikte Trennung beider Regierungen und ihrer Politik. An der Erhaltung des Dualismus Reich-Preußen sowie fester Beziehungen zwischen Zentrum und Sozialdemokratie scheiterten alle Pläne, die auf eine Verbindung Preußens mit dem Reich zielten. Sie beschränkten aber auch den Einfluß von DVP und DDP, obgleich ihren Reichs ministem weiterhin die Leitung der nicht unumstrittenen Außenpolitik wie der Ressorts der Wirtschaftspolitik überlassen wurde. Das Bemühen vor allem des Zentrums, eine Bindung der beiden liberalen bürgerlichen Parteien an die Reichsregierung sicherzustellen, ihren Einfluß jedoch zurückzuhalten, verlangte zunächst Opfer von den Demokraten. Ihr Führer, Koch-Weser, zeigte sich dem Zusammenspiel der anderen offenkundig nicht gewachsen und mußte aus dem Amt des Reichs justizministers zugunsten des wieder in die Reichsregierung eintretenden Zentrumsmannes v. Guérard weichen. Da sich die DDP trotz ihrer Beteiligung sowohl an der preußischen als auch an der Reichsregierung außerstande zeigte, die Spannungen und Konflikte dieser Jahre zu mildern, vielmehr selbst zu leiden hatte, reduzierte sie ihre verfassungs- und staatspolitische Grundlinie bis zur doktrinären Einseitigkeit auf den von Anbeginn verfolgten Gedanken einer Reichsreform mit dem Ziele des deutschen Einheitsstaates. Allein unter dieser Voraussetzung hatte sich Koch-Weser 1928 bereit gefunden, an die Spitze des Justizressorts zu treten, obgleich es ihm „nicht völlig lag", weil er doch die ebenso vage wie eitle Hoffnung hegte, „daß von hier der Anfang zur Vereinheitlichung am ehesten zu machen" sei, nachdem ihm der Reichskanzler einen Sitz in dem anfanglich für einflußreich gehaltenen Verfassungsausschuß der Länderkonferenz zugesagt hatte. 50 Doch als sich Koch-Weser mit der 49 Antwort Müllers an Külz vom 4. März 1929, Abschrift BA, R 431/1308. Sie schließt übrigens mit der Bemerkung: „Ob eine stabile [im Original unterstrichen] Regierung dadurch zu schaffen ist, daß außerhalb des Parlaments stehende Persönlichkeiten berufen werden, ist mir sehr fraglich." 50 BA, Nachl. Koch-Weser/37, Aufzeichnung vom 4. Juli 1928.
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Frage einer Amnestie für politische Fälle zu befassen hatte, geriet er sofort in Auseinandersetzungen mit Preußen. In der Behandlung dieser heiklen Frage vollführte er allerdings einen geradezu seiltänzerischen Akt. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte er sich im Reichstag gegen eine politische Amnestierung der Fememörder zu kurzer Festungshaft ausgesprochen und festgelegt. Inzwischen war die Erörterung weiter gediehen, wurden Vorschläge zu einer Amnestierung kleineren Umfangs erörtert zugunsten von Kommunisten und sogenannten „literarischen Landesverrätern", für die sich innerhalb des Reichstags die kommunistische, die sozialdemokratische, die demokratische Partei und zeitweilig auch das Zentrum 51 einsetzten. Koch befürchtete nun eine Belastung seiner eigenen Beziehungen zur DVP, die ihm für seine weitergehenden Bestrebungen wichtig genug erschienen, um es darauf anzulegen, daß nur ein Amnestiegesetz mit verfassungsändernder Qualität den Reichstag passierte, so daß in jedem Falle eine Zweidrittelmehrheit erforderlich war. Hierdurch spielte er die Entscheidung der DVP zu; und um sie für die Vorlage seines Ministeriums zu gewinnen, bot er an, auch die Fememörder in der Weise zu berücksichtigen, daß Zuchthausstrafen in Gefängnisstrafen geringerer Dauer umgewandelt würden. Mit diesem Kompromiß aus dem Geist der scheinbar stabilisierten Verhältnisse der späten zwanziger Jahre heraus, bevor eine radikalisierte und militante nationalistische Rechte erneut in Erscheinung trat, erklärten sich schließlich sogar die Deutschnationalen einverstanden, was die DVP in Zugzwang brachte. Die Verhandlungen nahmen jedoch nur noch einen schleppenden Verlauf, sobald sich die Länder zu äußern hatten. Bayern stimmte zu; doch Preußen ließ sich drängen, ohne sich zu entscheiden. 52 Durch die Belastungen, die hieraus erwuchsen, sah sich Koch-Weser seine kurze Amtszeit hindurch gehemmt. Aus einer Nebenfrage wurde unversehens eine schwierige Hauptfrage, die die Entscheidungen des Reichsjustizministers blockierte und ihm Schwung und Zuversicht raubte. Daß es gerade diese Art der Reich-Länder-Beziehungen war, aus denen Schwierigkeiten erwuchsen, kam für Koch doch unerwartet, der Braun zehn Jahre zuvor
Morsey, Zentrumsprotokolle, 1 9 2 6 - 1 9 3 3 , S. 344 ff. Koch-Weser an Ministerpräsident Braun, 5. Juli 1928, Originaldurchschlag Nachl. Koch-Weser/37. Vorher kommentierte Koch in einer umfangreichen Aufzeichnung: „Meine alte Erfahrung, daß die preußische Regierung die am wenigsten unitarische sei, bestätigte sich alsbald bereits wieder zu Beginn meiner neuen Tätigkeit." (4. Juli 1928). 51
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für einen Parvenu, aber doch „braven Mann", und „die Sozialdemokraten von heute mit den Nationalliberalen von 1871" verglichen hatte. 53 Ungeachtet dieser neuerlichen Enttäuschung über die Haltung der Sozialdemokraten hat sich Koch dann aber doch mit den Reichsreformplänen des „Bundes zur Erneuerung des Reiches" des ehemaligen Reichskanzlers Luther nicht befreunden können. Trotz der vermittelnden Bemühungen der engeren Parteifreunde KochWesers, Hamm, Petersen und Delius, kam weder jetzt noch später eine Zusammenarbeit zwischen ihm und Luther zustande. Koch behagte es nicht, daß „Luther in seiner behutsamen Schonung aller rechtsgerichteten Kreise nicht einmal das Wort Einheitsstaat in den Mund nehmen wollte und alles darauf abstellte, den Dualismus zwischen Preußen und Reich zu beseitigen, während Süddeutschland verschont bleiben" sollte.54 Während er anfanglich seinen Parteifreunden riet, im Luther-Bund mitzumachen, da er es bedenklich fand, „wenn die Bewegung lediglich in die Hand der Rechten käme", entschied er sich bald nach der Bekanntgabe der Vorschläge Luthers dafür, dem Bund auch öffentlich entgegenzutreten. 55 Die von Luther vorgesehene Regelung des Finanzausgleichs blieb nach Kochs Meinung unausführbar. Seine „schwersten Bedenken" betrafen aber die im Lutherschen Plane erkennbare Absicht, bereits einen „Verzicht auf das Land Preußen auszusprechen", obgleich „die süddeutschen Länder ihre jetzige souveränitätsähnliche Stellung behalten." Für Koch stand außer Frage, daß die Reichsreform etwas anderes bringen mußte als nur die Auflösung Preußens, so störend er auch den Dualismus der beiden Regierungen in Berlin in politischer wie in administrativer Hinsicht empfand: „Man kann die Schaffung des Einheitsstaates keinesfalls mit der Preisgabe Preußens beginnen. Preußen ist erst entbehrlich, wenn der neue Einheitsstaat die Zuständigkeit und Macht hat, die er erhalten muß." 56 Für Koch gab es kein preußisches Problem, das der Lösung bedurfte, lediglich ein Problem des Reiches mitsamt seinen Ländern, wenn das Ziel eines starken parlamentarischen Staates erreicht werden sollte, der nach den Begriffen jener Sprache, die Demokraten wie Sozialdemokraten seit Anbeginn der Republik führten, nur ein „Einheitsstaat" sein konnte. Ihm kam es darauf an, daß dem „einheitli53
Nachl. Koch-Weser/14, 31. Januar 1919; 16, 21. Februar 1919.
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Nachl. Koch-Weser/37, 4. Februar 1928. a.a.O., Aufzeichnung v o m 23.August 1928: „Es wäre mir viel lieber, man könnte,
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auch unter Konzessionen, mit ihm zusammengehen, denn er hat wenigstens einen starken Willen ...". 56 Koch-Weser, Luthers Leitsätze, in: Vossische Zeitung v o m 11. August 1928.
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chen Willen des Reiches in den Lebensfragen der Nation nicht aus partikularistischen Rücksichten Widerstand geleistet wird", aber auch darauf, „daß innerhalb der Reichsinstanzen leistungsfähige und gut abgerundete Gebilde vorhanden sind, die in der Lage sind, alle Aufgaben, die ihnen im Wege weitgehendster Dezentralisation vom Reiche zu verantwortlicher und ortskundiger Erledigung abgegeben werden, selbständig und ohne daß jedesmal die Instanzenleiter nach Berlin erklettert wird zu übernehmen". 57 Die zweite Amtszeit Koch-Wesers an der Spitze eines Reichsressorts währte indessen nur wenige Monate und blieb ebenso wie seine frühere Tätigkeit als Reichsinnenminister ohne bahnbrechende oder dauerhafte Ergebnisse. Das Zentrum, in seiner vorteilhaften Position, stellte mit Beginn der Haushaltsberatungen und angesichts der wachsenden Unsicherheit der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder dem Reichswehrministerium gegenüber — in der Frage der Bewilligung der zweiten Rate für den Bau des Panzerkreuzers A — seinen Eintritt in die Regierungskoalition in Aussicht. Doch es verlangte, um „dem Lande eine innerlich festgefügte, auf längere Sicht gedachte Regierung zu geben", wie Kaas dem Reichskanzler am 9. April 1929 in einem sogleich der Öffentlichkeit bekanntgegebenen Brief schrieb, 58 die Zustimmung der SPD zur Panzerkreuzerrate und „eine parlamentarische Haltung, die mit unserer Auffassung einer koalitionsmäßigen Regierung und unserer pflichtmäßigen Sorge um das Ansehen des parlamentarischen Systems vereinbar ist." Nach einer zustimmenden Erklärung, die der Reichskanzler den Führern der fünf Fraktionen der präsumtiven Koalition - SPD, Zentrum, BVP, DVP und DDP gegenüber am nächsten Tage abgab, 59 kam endlich das langgesuchte Einvernehmen zustande und trat das Zentrum mit drei Ministern in die Regierung ein. Wirth wurde Reichsminister für die besetzten Gebiete, der Gewerkschaftsführer und Fraktionsvorsitzende Stegerwald Reichsverkehrsminister; für diese beiden Ressorts, die vorher Guérard verwaltet hatte, waren bis dahin interimistische Regelungen getroffen worden. Auch Theodor v. Guérard kehrte in die Reichsregierung zurück und übernahm nun an der Stelle Koch-Wesers das Justizressort. Von einer Vereinheitlichung der Justiz wurde nicht mehr gesprochen. 57 Schreiben Kochs vom 2. Dezember 1926 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Zentralstelle für die Neugliederung des Reiches an Reichsminister Külz. Abschr. Nachl. Koch-Weser/36. 58 Morsey, Zentrumsprotokolle, S. 285, Anm. 3. 59 Niederschrift über eine Besprechung des Reichskanzlers mit den Parteiführern der Koalition am 10. April 1929; Akten der Reichskanzlei: Müller 1,1, S . 5 4 2 f .
ELFTES
KAPITEL
Programme der liberalen Sammlung Der schwierige Weg zur Bildung des „Kabinetts der Köpfe" nach der Reichstags wähl vom 20. Mai 1928 und schließlich die mehrere Monate dauernden Verhandlungen bis zur Verankerung der Reichsregierung in der „großen Koalition" hinterließen in den liberalen Parteien eine dauernde Beunruhigung, die sich zunehmend gegen die Sozialdemokratie richtete und die auch Stresemann nicht mehr einzudämmen vermochte. Ein ausdrucksstarkes Zeugnis gibt eine denkschriftartige Aufzeichnung im Nachlaß des demokratischen Reichsernährungsministers Dietrich vom Frühjahr 1929, 60 die den „tristen Verlauf der Verhandlungen über die Neubildung" der Reichsregierung bitter beklagte: „Es ist wohl nur aus der eklatanten Würdelosigkeit und dem geradezu krankhaften Mangel an politischem Selbstvertrauen des deutschen Bürgertums ... zu erklären, daß das Bürgertum nicht weiß, daß es diesen Staat zu beherrschen hat und daß es seine verdammte Pflicht ist, ihn zu beherrschen ... Das Bürgertum soll herrschen. Es geht nicht anders. Bei aller freudigen Anerkennung der glänzenden Eigenschaften des deutschen Arbeiters, besonders der älteren Generation, muß doch gesagt werden, daß der Sozialismus an den Rockschößen des Kapitalismus oder, besser gesagt, an den Rockschößen der unternehmerischen Menschen hängt." Diese vom Geiste Max Webers genährte — und wie kaum ein anderes Wort es besser könnte — die Ära Stresemann in ihren Zielen deutende Exklamation mündete in eine dezidierte Gleichsetzung von Bürgertum und „unternehmerischen Menschen", die wohl auch den überragenden Persönlichkeiten im Unternehmertum entsprechenden Einfluß einräumen wollte. Auch in der zeitkritischen Sicht dieser Denkschrift erscheint der Begriff des Bürgertums auf die einzige Potenz der industriellen Führungsund Entscheidungsfähigkeit der nach Entfaltung und Expansion drängenden Schicht — oder Gruppe — reduziert, in wahrscheinlich unbewußter Anlehnung an die Idee des „industriel" von Saint-Simon hundert 60
Schulz, Quellen Brüning: Politik und Wirtschaft, I, S . 3 - 8 .
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Jahre früher. Hier tut sich ähnlich eine Sackgasse des Denkens und Handelns auf wie in den Aktionen der Sozialdemokraten an der Spitze ihrer großen Organisationen. An den alten und den neuen Mittelstand, an Handwerk, Kleinhandel und auch an Bauern war hier weniger gedacht, deren schwierige Bemühungen um Existenzsicherung und neue Positionen in den Wandlungsphasen der Nachkriegszeit zusehends in den Schatten der Stärkeren gerieten, so daß die Entgegnung durch ständeartige Reorganisation mittelständischer Interessenparteien gar nicht überraschend erscheint. 61 Indessen drangen innerhalb der DDP zwei verschiedene Richtungen durch, die unterschiedlichen Interpretationen dieser Auffassung gleichen. Das Präsidium des ,Reichsausschusses für Handel, Industrie und Gewerbe beim Hauptvorstand der DDP' führte darüber Klage, „daß dem Unternehmer als Träger des wirtschaftlichen Risikos keine entsprechende Bewegungsfreiheit mehr ... zur Verfügung stehe und daß dies in immer stärkerem Umfange die Wirtschaft zur Passivität gegenüber den politischen Parteien bzw. zur Förderung reaktionärer Strömungen veranlasse." Diese „fortschrittlichen Unternehmer" in der DDP 62 wandten sich „mit allem Nachdruck ... gegen den Leitgedanken, der gegenwärtig die Gesamteinstellung aller gewerkschaftlichen Richtungen zu den Problemen der Wirtschaftspolitik beherrsche: gegen die Wirtschaftsdemokratie", dagegen, „daß wirtschaftspolitisch sich nichts ändert, sondern nach wie vor die Wirtschaft das Kompromißobjekt für Auseinandersetzungen engumgrenzter parteipolitischer und auch personeller Eigensüchteleien sei". Zentrum und Deutschnationale „haben große umfassende Ideen..."; die DDP müsse sie noch entwickeln: „Scharfes und eindeutiges Bekenntnis zum Wirtschaftsliberalismus, bewußtes Pflegen der Freiheit der Wirtschaft als der wichtigsten Grundlage wirtschaftlich zweckmäßiger und ertragbringender Einordnung der Produktionsüberschüsse auf dem Weltmarkt, des weiteren als der ersten und dringendsten Voraussetzung für die Erfüllung der sozialen Gemeinschaftsaufgaben." Zu gleicher Zeit regten sich aber auch die Vertreter des Hansa-Bundes, nach wie vor der Spitzenverband des Handels, der kleinen Industrie und anderer Gewerbe. Ihre Proteste gegen Eingriffe des Staates und „organisatorische Maßnahmen zur Verwirklichung der sozialistischen 61
Über das größte Unternehmen dieser Art Schumacher, Mittelstandsfront und Repu-
blik. 62 Vertrauliches Exposé vom 9. Oktober 1928 für Reichsminister Dietrich; BA, Nachl. Dietrich/228. Namentlich genannt sind Robert Bosch, Ernst Leitz und Max Levy.
Programme der liberalen Sammlung
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Wirtschaftsordnung" begründeten sie mit einer Kritik an dem vermeintlichen Vorbild dieses .Sozialismus' in dem immer noch lebendigen „Kriegssozialismus" 63 : „... die Hypertrophie, des Verbandswesens, die kollektivistische Produktionsleitung innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, den Kapitalismus der Kartelle und Syndikate 64 ." Dies führe zur „Bürokratisierung in der Leitung der Industrie" und zur Verdrängung der „Momente der freien Unternehmertätigkeit zugunsten allgemeiner, der berufsmäßigen Handhabung zugängiger Reglements." Diese Seite fürchtete die Gefahr eines Paktierens der Syndikate „über gewisse Maßnahmen der Produktionsleitung mit den Gewerkschaften. ... Man muß sich darüber klar sein, daß eine derartige Entwicklung schließlich bis an die Grenze heranführt, die den Sozialismus (d. h. die kollektivistische Produktionsleitung) der Unternehmer von dem Sozialismus der Arbeitnehmer trennt." 65 Diese Gegensätze, zu denen andere hinzutraten, erschwerten die Formierung einer in eben dem bezeichneten Sinne als „bürgerlich" verstandenen Partei. Die Wirkung der zunächst stark beachteten Programmrede Gustav Stolpers auf dem Mannheimer Parteitag der DDP am 5. Oktober 192966 bestätigte dies. Sie krönte die seit dem Vorjahr anhaltenden Versuche zur Ermunterung der Anhänger dieser Partei nach den Wahlschlappen von 1928, vermochte aber dennoch nicht die innerparteilichen Kontroversen zu beenden, die in den folgenden Jahren immer weiter auseinanderliefen. Um eine Erneuerung des bürgerlichen Selbstbewußtseins und die ebenso notwendige Wiederherstellung der gemeinsamen Basis bemühte sich Stolper in phantasievollen Verbindungen moderner Fragen mit Prinzipien des Vorkriegsliberalismus. Dies wurde in den nächsten Monaten Zum „Kriegssozialismus" Zunkel, Industrie und Staatssozialismus. Hans Reif, Risikoloser Sozialismus! in: Mitteilungen des Hansabundes für Gewerbe, Handel und Industrie, Nr. 10 vom 1. Oktober 1928, S. 5; auch BA, Nachl. Dietrich/228. 65 Reif, a. a. O., S. 6; die letzten Sätze finden sich schon im Jahresbericht des HansaBundes für das Jahr 1926. 66 Gustav Stolper, Die wirtschaftliche und soziale Weltanschauung der Demokratie, Berlin [1929]; auch BA, Nachl. Gustav Stolper/43. Stolper, Herausgeber der zu Ansehen gelangten wirtschaftspolitischen Zeitung „Der Volkswirt", wurde zunächst von Schacht gefördert, 1929 jedoch zum Kritiker des Reichsbankpräsidenten. Er trat in der DDP und später in der Deutschen Staatspartei hervor, für die er 1930 in den Reichstag einzog. Briefwechsel Schacht—Stolper BA, Nachl. Stolper/29. — Vgl. Werner Stephan, Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus, S.405, 418 f.; Toni Stolper, Ein Leben in Brennpunkten unserer Zeit - Wien, Berlin, New York. Gustav Stolper 1 8 8 8 - 1 9 4 7 , Tübingen 1960, S. 233 ff. 63 64
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III. Die „Große Koalition"
auch von Koch-Weser wie den Politikern anderer Richtungen mehrfach hervorgehoben. Der Katalog der behandelten Probleme bezog Kriegsfolgen, Steuersystem, Finanzreform, Bildungs- und Sozialpolitik, Lohnpolitik, Kapitalbildung, Wohnungswirtschaft und Handelspolitik ebenso ein wie weltanschauliche Grundfragen der Demokratie, die Stolper auf dem Boden des „kapitalistischen Liberalismus" den „neuen Formen des Sozialismus" gegenüber — in Rußland wie unter der Diktatur im faschistischen Italien — absichern wollte. In nun doch auffalliger Weise nahm er sich hierbei der bedrängten Mittelschichten an, für die er ein größeres politisches und weltanschauliches Interesse der DDP anmeldete. Insofern bezeugt diese Rede positive politische Reaktionen auf die nicht mehr zu übersehende Beunruhigung im alten und neuen „Mittelstand", 67 der Stolper nicht durch liberale und nationale Parolen, sondern mit einer umfassenden sozialstaatlichen Aufgabenstellung zu begegnen suchte. 68 Aus dem zeitgenössischen Schrifttum vor allem Franz Eulenburg, Die sozialen Wirkungen der Währungsverhältnisse, in: Jahrbücher f. Nationalök. u. Statistik, 3. F., Bd. 67 (1924), S. 789 ff.; für die Wirtschaftskrise Heinrich August Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972. 68 Es lohnt, einige Gedanken aus den umfänglichen Darlegungen herauszuschälen, mit denen Stolper neue Grundlagen schaffen wollte, da „alle Parteien heute ein festes geistiges Fundament ihres Wirkens vermissen, die Sozialdemokraten nicht minder als die bürgerlichen Parteien. Denn wir leben in einer Zeit, die die Grundlagen unserer gesellschaftlichen Existenz vermindert hat". (Weltanschauung, S. 4) Deutschland sei „eine kapitalentblößte Nation", das „Hauptproblem unserer künftigen Wirtschaftspolitik" daher, „die Auffüllung des Kapitalfonds, die Wiederherstellung eines normal funktionierenden Kapitalmarktes ..." Daraus ergaben sich Folgerungen für die Steuerpolitik wie für die Reparationspolitik: „Wir dürfen bei aller ehrlichen Friedensbereitschaft ... die Proteststimme nicht erlahmen lassen, mit der wir die uns aufgezwungenen Tributlasten tragen und mit der wir zäh und unermüdlich jede politische Gelegenheit suchen wollen, sie von uns abzuwälzen." Stolper nahm den Ausdruck der „Volksgemeinschaft" auf, mit dem er einerseits „den politischen Aufstieg des Proletariats" anerkennen wollte, aber doch eine Orientierung der Sozialpolitik auf die Interessen der Industriearbeiterschaft als unzureichend ablehnte, um „andere Volksteile mindestens ... in demselben Maß wie die Arbeiterschaft ... der Fürsorge des Staates anzuvertrauen", so „die Masse der notleidenden Kleinbauern ..., den schwer bedrohten gewerblichen Mittelstand, der von Steuern, sozialen Lasten und Zinsen erdrückt wird, der von zwei Seiten, hier von den Kapitalriesen und dort vom Proletariat, zwischen die Schere genommen wird"; schließlich „die wachsende Masse von kaufmännischen und technischen Angestellten, die nicht im gleichen Maße durch Organisation und Kampfdrohung imstande ist, ihre Interessen wahrzunehmen, wie die Industriearbeiterschaft mit ihren Gewerkschaften". Stolper respektierte das durch den Krieg veränderte Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft; er nannte es „von Grund auf revolutioniert". Die Folgerung führt zur Bejahung einer stärkeren Einschaltung des Staates, zu neuen Aufgaben, Fürsorgepflichten, Initiativen in der öffentlichen Wirtschaft, die bereits über die Hälfte des Volkseinkommens 67
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Doch anders, als nach dem ersten Echo auf die Mannheimer Programmrede erscheinen konnte, verlief die nachfolgende Erörterung innerhalb der D D P im ganzen ergebnislos. Die gemäßigten, vom Liberalismus manchesterlicher Prägung Abstand nehmenden, aber auf wirtschaftliche Probleme konzentrierten Gedanken Stolpers unterstrichen geradezu den Gegensatz zu der stärker an die Gewerkschaften und an das Interesse der Arbeiterschaft gebundenen Sozialdemokratie, obgleich die DDP — in Distanz zum großindustriellen Flügel im Parteiwesen — auch im Schatten eines derartigen Programms näher an die Sozialdemokratie heranzureichen schien, mit der sie derzeit innerhalb des Reiches und in Preußen ihre enge, wenn auch nicht von Spannungen freie Koalition bildete, die sie beibehalten wollte. Politik und Krisenprobleme der Regierung ließen die Punkte dieses Programms alsbald in Vergessenheit geraten. Man darf es den letzten Versuch nennen, aus der DDP heraus eine Beziehung zwischen Wirtschaftssystem, Wirtschaftsinteressen und liberaler Weltanschauung wiederzugewinnen. Er ist gescheitert. Das gleiche Urteil gilt letztlich auch für den ganz anders gearteten Versuch: die stärker an großwirtschaftlichen Interessen angelehnten Beverfüge. Eine Finanzreform sollte sowohl die Einkommen der breiten Masse entlasten und „das steuerfreie Existenzminimum scharf hinaufsetzen", zugleich aber auch Einkommensbildung und Spartätigkeit nachhaltig begünstigen, um der Kapitalnot abzuhelfen. Zur Dekkung des öffentlichen Finanzbedarfs stellte er allerdings nur bescheidene Mittel, wie eine stärkere Belastung des „entbehrlichen Genusses" (ζ. B. Tabak und Alkohol), in Aussicht. Dafür erhoffte Stolper vor allem von Aufgabenbeschränkungen der öffentlichen Verwaltung und vom Zwang zur öffentlichen Sparsamkeit die stärkste Entlastung der Besteuerung, obgleich er gerade sozialstaatliche Verpflichtungen forderte und die öffentliche Hand im Bereich der gewerblichen Bauten, des Verkehrswesens und der Energiewirtschaft stärken — wenn auch jede Konkurrenz mit der Privatwirtschaft ausschließen — wollte. Dieser Widerspruch blieb ungelöst. Stolpers Argumentation für die Auflassung von Monopolen und anderen großen Konzentrationen entsprach ebenso mittelstandspolitischen Grundgedanken, die das ganze Programm durchziehen, wie das von ihm geforderte starke kreditpolitische Engagement der öffentlichen Hand. Für die industrielle Arbeitswelt blieb in den gedankenreichen Darlegungen Stolpers die Verkürzung der Arbeitszeit und eine Besserung der Betriebsorganisation, schließlich die Lösung des „seelischen Problems" der Arbeiterschaft, wobei er Auswege weniger im Bereich der Lohnpolitik als in dem neuartigen Vorschlag der gesetzlichen Verankerung einer „obligatorischen Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer wenigstens an großen Unternehmungen" erblickte. Modern erscheinen auch die Gedanken zur „Anthithese Lohn- und Kapitalbildung". Von stärkerer Kapitalbildung und sinkendem Zinsfuß erhoffte Stolper eine optimale Lohnpolitik, „die ... immer die Tendenz haben muß, etwas über den jeweils möglichen Stand der Lohnhöhe hinauszugehen", um den Konsum zu stimulieren und auf diesem Wege für eine dauerhafte Belebung der Wirtschaft zu sorgen. 21
Schulz II
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III. Die „Große
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mühungen Luthers um eine bürgerliche Sammlung über den Parteien. Noch vor dem Tode Stresemanns am 3. Oktober 1929 war es wiederholt zur Fühlungnahme zwischen dem führenden Mann der DVP und Persönlichkeiten der DDP, so mit Koch-Weser, gekommen, um die Möglichkeiten einer Verbindung zwischen beiden liberalen Parteien zu untersuchen. Letztlich erwiesen sich jedoch die Widerstände im industriellen Lager der DVP als zu groß, um einen über die Differenzen innerhalb der DDP noch hinausreichenden Bogen zu spannen und die vermehrten Probleme zu lösen. Allerdings gab es Stimmen, die nach den Stolperschen Darlegungen und unter Bezugnahme auf sie ein größeres Maß an Einigung für unumgänglich hielten. Hierzu gehörte zunächst der ehemalige Reichskanzler Luther, der in dem von ihm geführten „Bund zur Erneuerung des Reiches" eine Reihe namhafter Persönlichkeiten um sich sammelte, die, gegen den Widerstand Koch-Wesers, Demokraten und Volksparteiler, auch einige Sozialdemokraten beteiligte, in das Lager der Deutschnationalen und des Landbundes reichte und einige Köpfe der Ruhrindustrie einbezog. 69 Dies konnte als das Modell einer überparteilichen Einigung betrachtet werden, die den Gedanken einer Reform der Reichsverfassung verfolgte und in Verbindung mit wirtschaftlichen Interessenten stand. Auf der Konferenz der Friedrich-List-Gesellschaft von Eilsen, Ende Oktober 1929, die sich mit dem Vorrang behauptenden wirtschaftspolitischen Thema „Kapitalbildung und Steuersystem" befaßte, ergriff auch Luther zweimal das Wort, um in der ihm eigenen vorsichtigen Form den Zusammenhang von wirtschaftlichen, steuerpolitischen und größeren politischen Reformen als notwendiges Aufschwungrezept, das die erforderliche seelische Beteiligung der Bevölkerung einbezog, ausführlich zu beschreiben. Seine theoretischen und finanzpolitischen Argumente fußten auf einer interessanten politischen Psychologie, mit der er auch die Gedanken des „Erneuerungsbundes" vertrat. Er meinte, „daß psychologisch wohl überhaupt nichts Wirkungsvolleres geschehen könnte, um 69 Die Initiatoren der Gründung des Bundes 1928 waren der Hamburger Regierende Bürgermeister Petersen (DDP) und der ehemalige Staatssekretär des Reichsschatzamtes Graf v. Roedern, der der DVP nahestand und 1930 als Nachfolger Luthers den Vorsitz des Bundes übernahm. Beide hatten den ehemaligen Reichskanzler für die Pläne gewonnen und ihm den Vorsitz angetragen. Die von dem Bund vertretenen grundlegenden Gedanken zu einer Reichsreform wurden jedoch schon 1924 zwischen Petersen und dem damaligen Reichswehrminister Geßler erörtert und von diesem im Prinzip schon festgelegt. Geßler übernahm dann auch wegen seiner besseren Beziehungen in Bayern im Herbst 1931 den Vorsitz. BA, Nachl. Koch-Weser/37 (Tagebucheintragung vom 4. Februar 1928); Nachl. Geßler/18.
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die Kapitalbildung zu fördern, als eine Gesamtrationalisierung unseres Staatswesens. ...; wenn man sähe, daß vom Staate aus ein Zustand entsteht, zu dem man sagen könnte: Siehe, es ist alles neu geworden, so würde das einen ungemeinen Antrieb zur Kapitalbildung, zur Sparsamkeit, zum Wiederaufbauwillen darstellen". 70 Der Zweck diente der Wirtschaft; doch die beabsichtigte „Erneuerung" sollte einen größeren gedanklichen Bogen schlagen und populär werden. Die aufmerksamen Zuhörer konnten gerade an dem Punkt an Gedanken Stolpers erinnert werden, an dem Luther auf die Mitwirkung der arbeitenden Bevölkerung und die Beteiligung ihres Konsums am Wirtschaftsaufschwung einging: „Wir können unser Volk schwerlich zu dem freiwilligen Entschluß bringen, die Lösung der gegenwärtigen Not schlechthin und vornehmlich auf dem Wege der Verbrauchsbeschränkung, auf dem Wege dessen, was man als altpreußische Sparsamkeit zu bezeichnen pflegt, herbeizuführen. Bei allem berechtigten und notwendigen Hindrängen auf Sparsamkeit sind hier Grenzen. Was vor hundert Jahren bei uns war, hat sich in einem agrarischen und im wesentlichen autarkischen Staat vollzogen. Die Wirtschaftsform, in der wir heute leben, die darauf angewiesen ist, industrielle Güter zu produzieren, kann sich nicht entwickeln, ohne daß sich auch im Volk selbst ein Verbrauchsmarkt, ein gewisser steigender Verbrauch gestaltet. Wir können nicht im Stile eines exportierenden Kolonialvolkes leben. Natürlich können wir ebensowenig den amerikanischen Prosperitätsstandpunkt in den Vordergrund stellen, denn der setzt die Unbegrenztheit der Entwicklungsmöglichkeiten voraus und hat wohl selbst für Amerika Grenzen in sich. Auch für uns als Volk wird es psychologisch unmöglich sein, unsere eigene Produktion immer mehr in die Höhe zu treiben, ohne daß das Volk in der Gesamtheit daran bis zu einem gewissen Grade teilnimmt. ..." 7 1 Man muß diese sorgsam formulierten Bekundungen des ehemaligen Reichskanzlers Luther im Auge behalten, um den Wandel der Auffassung des späteren Reichsbankpräsidenten Luther zu ermessen, der während der nächsten beiden Jahre vonstatten ging. Wie man aber auch derartige Überlegungen und im Gedanklichen scheinbar eröffnete Chancen für größere politische Zusammenfassungen und gar eine Modernisierung vorherrschender Wirtschaftsvorstellungen 70 Gerhard Colm, Hans Neisser (Hrsg.), Kapitalbildung und Steuersystem. Verhandlungen und Gutachten der Konferenz von Eilsen. Erster Teil (Veröffentlichungen der Friedrich-List-Gesellschaft e.V., 3. Band), Berlin 1930, S.74f. 71 a.a.O., S. 114f.
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III. Die „Große Koalition"
beurteilen möchte; für eine Verschärfung der Tonart in politischen Auseinandersetzungen boten sie jedenfalls keinen Anhalt. Wenn aber aus der Mitte der auch politisch ambitionierten Industriellen „die innerpolitische Stoßkraft" verlangt wurde, die nach Meinung Paul Reuschs der „bürgerlichen politischen Kräfte unseres Volkes ... ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrer Bedeutung für die Zukunft von Volk und Wirtschaft entspräche",72 so war wohl kaum zu erwarten, daß die DDP in ihrer Façon hierzu Entscheidendes beitragen würde. Reuschs Parole der „Sammlung aller Kräfte, die sich die Erhaltung der Wirtschaft zum Ziele setzen", gegen jene „Gegner des Unternehmertums", deren Ziel „die vollendete Durchführung des Sozialismus und die Vernichtung der von uns zu verteidigenden kapitalistischen Wirtschaft" sei, diese Auffassung hätte wohl kaum in der DDP und nicht einmal in der DVP ungeteilten Beifall gefunden, schon gar nicht beide Parteien zusammenzuführen vermocht. Reuschs einprägsamer Aphorismus: „Die Frage der Gesundung ist eine politische Machtfrage und nichts anderes",73 bot aber auch in allen anderen Hinsichten kaum Auswege noch Lösungen. Es leuchtet ein, daß wirtschaftliche Interessen weniger wirksam wahrgenommen werden, wenn ihre Adressaten Repräsentanten unter sich uneiniger Parteien oder Gruppen sind, die im letzten schwach bleiben. Die Alternative liegt in der Kanalisierung ständiger Einflüsse, nicht zuletzt auf die Regierung. 74 Diese Spielarten traten in stetem Wechsel in Erscheinung. Daß Interessenwahrnehmung durch eine geschlossene 72 30. Januar 1930; Schulz, Quellen Brüning: Politik und Wirtschaft, I, S. 3 5 - 3 8 . Reusch war Mitglied der DVP. 73 Ebda. 74 Ein wichtiges konstruktives Medium für das Zusammenwirken zwischen Reichsministerien und Spitzenverbänden bildete die Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien, sowohl in ihrem Allgemeinen Teil ( G G O I ) als auch im Besonderen Teil (GGO II), nach der vom ersten Kabinett Marx (Reichsinnenminister Jarres) geschaffenen, zum 1. Mai 1924 in Kraft gesetzten Fassung, Dienstdruck Berlin 1924, sowie die Geschäftsordnung der Reichsregierung vom 3. Mai 1924, Dienstdruck Berlin 1924; alle abgedruckt von Fritz Poetzsch, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung (vom 1. Januar 1920 bis 31. Dezember 1924), in: Jahrb. d. öff. Rechts d. Gegenwart, Bd. XIII, Tübingen 1925, S. 175 ff. §27 G G O II bestimmte: „Bei der Vorbereitung von Gesetzen und wichtigen Verordnungen sind möglichst die Vertretungen der Fachkreise rechtzeitig heranzuziehen." §28 enthielt die Sollbestimmung, „den Verbänden" bei der „Vorbereitung von Gesetzen und wichtigen Verordnungen" für ihre Beteiligung ausreichend Zeit zu gewähren, „um ihre Unterverbände zu hören und deren Äußerungen zu verarbeiten". Zur Vorgeschichte der erstgenannten Bestimmung und ihrer Bedeutung Carl Bohret, Institutionalisierte Einflußwege der Verbände in der Weimarer Republik, in: Varain (Hrsg.), Interessenverbände, S. 217 ff.
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größere politische Kraft eher gewährleistet ist als über mehrere, in wechselnden Koalitionen sich zusammenschließende Parteien, blieb der leitende Gesichtspunkt auf der industriellen Seite während dieser Jahre. Er intendierte die Wandlung des Parteiwesens75 in einer Richtung, die den für die deutsche Parteiengeschichte charakteristischen Primat der Verbände vor den politischen Parteien erneut stabilisieren sollte.
Hierzu Larry Eugene Jones, In the Shadow of Stabilization: Germany Liberalism and the Legitimacy Crisis of the Weimar Party System, 1924—1930, in: Feldman (Hrsg.), Nachwirkungen der Inflation, S. 20—41; einen Ausschnitt aus den weiteren Sammlungsbemühungen behandelt ders., Bestrebungen zur Bildung einer neuen Mittelpartei 1930—1932, in: V Z G , 25 (1977), S. 2 6 5 - 3 0 4 . 75
ZWÖLFTES
KAPITEL
Preußische Politik Innerhalb Preußens befand sich das Zentrum in konsolidierter Stellung, nachdem die Bemühungen der Deutschen Volkspartei um eine Verbindung zwischen der Reichsregierung und Preußen gescheitert waren. Neben dem schwächeren Koalitionspartner, der DDP, war es zum unentbehrlichen Bundesgenossen der SPD geworden. Auch einen anderen Triumph konnte das Preußenzentrum dank des Kurses von Joseph Heß, seines tonangebenden und einflußreichsten Mitgliedes, eben zu dieser Zeit erringen, da sich der preußische Ministerpräsident in der Alternative zwischen liberalen Verbindungen und Zentrumskoalition entschieden hatte. Nach Abschluß des Konkordats des Heiligen Stuhls mit Bayern am 24. März hatte der päpstliche Nuntius Pacelli, seit 1926 in Berlin, noch während der Verhandlungen über ein Reichskonkordat, die dann fehlschlugen, auch Verhandlungen über ein Konkordat mit Preußen aufgenommen, die sich zunächst schwierig gestalteten und in die Länge zogen. Im zeitigen Frühjahr 1929 führten sie aber schließlich, „hinter einer Wand vollkommener Verschwiegenheit", 76 zu endgültigen Vereinbarungen mit Kultusminister Carl Heinrich Becker und Ministerpräsident Braun, der sich persönlich eingeschaltet und auch die definitive Fassung bestimmend beeinflußt hatte. Erstmals in der Geschichte der Konkordate blieben Regelungen der Schulfragen unberücksichtigt, was am Ende gewiß nicht unwesentlich zum Einverständnis der Regierungsparteien beitrug. Doch bis zur Unterzeichnung des Konkordats im Juni 1929 mußte der Ministerpräsident noch viel, zum Teil vehemente Kritik aus seiner eigenen Partei durchstehen: an der Sache im ganzen, an seiner geheim gehaltenen Beteiligung und vor allem an seinem äußerst selbstbe76 Schulze, Otto Braun, S. 553. Dies kann allerdings nur für das letzte Aushandeln des Wortlauts gelten. Öffentlichkeit wie Parteien hatten sich häufig auch erregt zu den Verhandlungen geäußert, die SPD ein Konkordat abgelehnt. Ausführlich Hömig, Das preußische Zentrum, S. 189 —196; vgl. auch Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918—1934, Frankfurt a. M./Berlin/ Wien 1977, S. 89 ff. Die Gesichtspunkte für die DDP werden aus dem Protokoll der Sitzung des Reichsvorstandes ersichtlich; Albertin (Hrsg.), Linksliberalismus, S. 508 ff.
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Politik
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wußten Übergehen der sozialdemokratischen Landtagsfraktion und ihres einflußreichen Vorsitzenden Heilmann, so daß Braun entschied, keine Photographen zu dem offiziellen Akt der Unterzeichnung zuzulassen, um Aufsehen und Erregung in Grenzen zu halten.77 Eindeutiger Gewinner blieb das Zentrum, das noch enger als zuvor an den Ministerpräsidenten heranrückte, der auf diese Unterstützung seit 1925 den größten Wert legte und immer mehr angewiesen war. Heß, noch nicht der offizielle, aber doch inoffiziell der wirkliche Führer der Zentrumsfraktion und ihr vielseitiger Vertreter in den wichtigsten Ausschüssen des preußischen Landtags, brauchte in der Öffentlichkeit kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen und sich, angesichts des Werbens der Bayerischen Volkspartei für eine katholisch-föderalistische Front gegen die Reichsreformbestrebungen, keine Zurückhaltung aufzuerlegen. Vor einer Münchener Landesversammlung der Bayerischen Volkspartei, auf der auch die Christlichsozialen Österreichs vertreten waren, sprach Heß sogar davon, daß eine Wiedervereinigung der Bayerischen Volkspartei mit dem Zentrum nahegerückt sei. Für die beiden katholischen Parteien dürfe es jetzt nur noch einen einzigen Standpunkt in der Länderfrage geben, nämlich den, Länder, Länderparlamente und -regierungen auf dem Status quo zu halten. Nach der Behauptung, er „könne dafür einstehen, daß hinter seinen Erklärungen jedes Mitglied seiner Fraktion stehe", rechnete Heß mit jenen Kreisen in Westdeutschland und innerhalb des Zentrums ab, die in der Vergangenheit andere Ziele verfolgt hatten: mit der „Kölnischen Volkszeitung" wie mit der „Germania" und im besonderen mit dem rheinischen Landeshauptmann Johannes Horion78, der sich an den Bestrebungen zu einer Reichsreform Schulze, Otto Braun, S. 556. Bericht des Vertreters der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei vom 25.November 1929, Abschr. BA, R431/1881. Das Verhältnis zwischen Heß und Horion war vordem anders. Nach der Wahl des preußischen Landtags im Dezember 1924 kam es schließlich zur Wahl des ehemaligen und nachmaligen Reichskanzlers Marx zum Ministerpräsidenten einer nur wenige Tage amtierenden Regierung. Die Kandidatur von Marx hatte Heß betrieben, nachdem Horion, sein erster Kandidat, abgelehnt hatte. Möller, Parlamentarismus in Preußen, S. 364, Anm. 172; ausführlicher Hömig, Das preußische Zentrum, S. 126 ff. Über Heß dort besonders S. 1 1 6 - 1 2 0 , 1 5 0 - 1 5 4 , 1 6 4 , 1 7 2 - 1 7 7 (Einfluß von Heß auf die preußische Personalpolitik); auch Hömig, Joseph Heß, in: Jürgen Aretz, Rudolf Morsey, Anton Rauscher (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 20. Jahrhunderts, Mainz 1979, S. 162—175. Auf die Auseinandersetzungen im rheinischen Zentrum über die von Heß inspirierte Personalpolitik fallt einiges Licht bei Romeyk, Adenauers Beziehungen zum Rheinischen Provinzialverband und zu staatlichen Behörden, in: Stehkämper, Konrad Adenauer, S. 306 ff. 77 78
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III. Die „Große Koalition"
entschieden beteiligte, „durch gute Verwaltungstätigkeit großes Ansehen" erworben und sich der „Deutschen Volkspartei und den Deutschnationalen genehm" gemacht hatte.79 In der einmütigen Zustimmung der Landtagsfraktion zu den Ausführungen ihres in Wirklichkeit führenden Mannes80 wurde die Ausrichtung des preußischen Zentrums deutlich demonstriert, das fest und verläßlich an der Seite des Ministerpräsidenten stand. Hierauf konnte Braun stets bauen. Im Grunde war seine Stellung gerade so stark wie der innere Zusammenhang der Regierungskoalition. Bis 1932 überwog die Tendenz der Festigung, da das Zentrum stets zu seinem Bündnis stand, solange es seine politischen Ansprüche erfüllt sah, die seit dem preußischen Konkordat vornehmlich personalpolitischer Art blieben. Aber in dieser Hinsicht sah sich Braun auch einem zunehmenden Druck aus der Landtagsfraktion der eigenen Partei ausgesetzt, die sich auf diese Weise für die Eigenmächtigkeiten des strikt nach überliefertem historischen Reglement verfahrenden starken Ministerpräsidenten81 schadlos zu halten suchte. Opfer brachten unter diesem doppelseitigen Druck die Demokraten, der schwächste Koalitionspartner. Nach Abschluß des Konkordats bemühte sich die SPD-Fraktion unter ihrem Vorsitzenden Heilmann hintergründig wie vordergründig, mit Billigung der Zentrumsfraktion, den als Orientalisten und Kulturpolitiker in hohem Ansehen stehenden, zu den wenigen bedeutenden kulturpolitischen Reformern der Republik zählenden Kultusminister Carl Heinrich Becker, der sich entschieden gegen nationalistische, aber auch gegen 79 So die Kölnische Zeitung am 29. Januar 1925, zit. von Hömig, Das preußische Zentrum, S. 127, Anm. 5. Einiges über Horion berichtet Romeyk, Adenauers Beziehungen, S. 299 ff. 80 Morsey, Zentrumsprotokolle 1926 — 1933, S. 343, Anm. 1. Die Haltung des Vorstandes der Reichstagsfraktion blieb reserviert. 81 Grundlage bildeten die in zentralen Punkten an die überkommene Praxis angelehnten „Grundsätze für die Erledigung von Geschäften des Staatsministeriums", die das Preußische Staatsministerium unter Braun am 16. Dezember 1921 beschlossen hatte. Abdruck Geh StAB, Rep. 90/396. Im Gegensatz zu seiner Erklärung in der Öffentlichkeit (Verhandlungen des Preußischen Landtags 1922, 151. Sitzung, 20. Juni 1922, Sp. 10989) nahm Braun durch interne Verfügungen sehr weitgehende Rechte für sich „als die die Regierungspolitik bestimmende Persönlichkeit" und „zur Wahrnehmung einer einheitlichen Führung der preußischen Regierungspolitik" in Anspruch, so u. a. praktisch die Entscheidung über die Behandlung von Gesetzentwürfen aus den Ressorts, die alleinige Unterzeichnung aller gültigen Erklärungen des Staatsministeriums — ohne Gegenzeichnung der Ressortminister. Rundschreiben des Ministerpräsidenten an die Staatsminister vom 27. November 1923, Nebenabdruck; Aktenvermerk vom 14. März 1927, Abschr. GehStAB, Rep. 90/396.
Preußische Politik
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föderalistische Tendenzen ausgesprochen hatte, 82 aus dem Amt zu drängen. Man wollte ihn durch einen kaum vergleichbaren Mann aus den eigenen Reihen ersetzen, der auch innerhalb der SPD nur in Religionsund Konfessionsfragen hervorgetreten und hinsichtlich seiner Eignung für ein derartiges Amt umstritten war. 83 Kultusminister Becker stand der DDP nahe und fand ihre Unterstützung, war jedoch kein Parteimann. Er bekleidete erstmals 1921 in der preußischen Regierung unter Stegerwald (Zentrum) und dann erneut im Februar 1925 in der nur wenige Tage amtierenden Regierung Marx als „Fachminister" dieses Amt, das er dazwischen wie danach in der Koalitionsregierung Braun behielt. Schon vorher hatte er als Staatssekretär, in den letzten Kriegs jähren als Unterstaatssekretär, großen Einfluß auf die preußische Kulturpolitik, vornehmlich auf die Hochschulpolitik, später durch die von ihm begründeten Pädagogischen Akademien auch auf die Lehrerbildung genommen, die Becker als das Kernstück eines republikanischen und demokratischen Erziehungssystems ansah. Die von ihm auch literarisch vertretenen Reformvorstellungen waren vom bürgerlichen liberalen Bildungshistorismus geprägt, seine erreichten Leistungen — auf vielen Gebieten — unübersehbar. Parteipolitisch ohne Profil und völlig frei von fachwissenschaftlichen Beschränkungen politischen Denkens, selbstbewußt und programmatisch denkend, war er ein hervorragender Mann des Übergangs und der zielbewußten Umformung nach eigenen, fortgesetzt reifenden Einsichten, der sich mit engagiert Anteil nehmenden, geschulten und kompetenten Mitarbeitern zu umgeben versuchte, soweit ihm dies im Gitterwerk des politischen Proporz- und Prioritätsdenkens möglich war. Becker war sowohl der ausgezeichnetste und in seinem Amt einflußreichste, wahrscheinlich der einzige des Gedenkens würdige Kulturpolitiker der Weimarer Republik, dessen Überlegungen und Pläne, nach dem Abbruch Anfang 1930, erst nach 1945 wieder aufgenommen und eingehend erörtert wurden. Dies waren allerdings kaum Überlegungen von der Art, die die preußische SPD-Fraktionsführung zu beeindrucken vermochten. Weniger die Rücksichtnahme auf den Koalitionspartner DDP als der Respekt vor dem hochgeachteten, 82 Vgl. Kurt Diiwell, Staat und Wissenschaft in der Weimarer Epoche. Zur Kulturpolitik des Ministers C. H. Becker, in: HZ, Beiheft 1, 1971, S. 35; auch Erich Wende, C. H. Becker, Mensch und Politiker. Ein biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgart 1959. 83 Christoph König, Oberregierungs- und Schulrat beim Provinzialschulkollegium in Berlin, 1921—32 Mitglied des preußischen Landtags. Hierzu Möller, Parlamentarismus, S. 388 f. Zur Haltung des Zentrums Hömig, Das preußische Zentrum, S. 230 f.
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III. Die „Große Koalition"
bedeutenden Mann bestimmte Brauns Widerstand gegen die Wünsche seiner Partei, denen er jedoch eben zu dem Zeitpunkt nachgab, als die Krise und der Umschlag zugunsten einer Rechtsentwicklung in Deutschland offen zutage trat. Ihr hätte gerade die Kulturpolitik widerstehen müssen, wofür es gewiß auch persönlicher und fachlicher Qualitäten und unbezweifelbarer Autorität bedurft hätte, die dann nicht mehr zur Verfügung standen. Sieht man von Becker ab, so war die DDP in der achtköpfigen preußischen Regierung durch zwei Staatsminister vertreten, HöpkerAschoff (Finanzen) und Schreiber (Handel und Gewerbe, mit dem tüchtigen und einflußreichen sozialdemokratischen Staatssekretär Staudinger zur Seite83"). Regierungen werden aber in aller Regel nicht in einem Proporzverhältnis zu den Abgeordnetensitzen gebildet. Die Fraktion der DDP zählte nur 21, die der SPD 136 Mitglieder, das Zentrum 72 Mandate; doch ohne Beteiligung der DDP konnte keine regierungsfähige Koalition im preußischen Landtag — bei knapper Mehrheit (228 von 449 Sitzen) und ungewissen Folgen der Wahlrechtsanfechtung durch die NSDAP - gebildet werden. Von Ende 1928 bis Ende Januar 1930 verfolgte die DDP mit nicht nachlassenden Hoffnungen eine Erweiterung der Regierungskoalition durch Einbeziehung der DVP, die nach Plänen der demokratischen Parteiführer das Handelsministerium und ein Staatsministeramt ohne Portefeuille erhalten, während Minister Schreiber zum Oberpräsidenten entweder der Provinz Hessen-Nassau oder der Provinz Pommern ernannt werden sollte. Diese Bestrebungen wurden sogar noch verfolgt, als Koch-Weser bereits voraussagte, „daß die große Koalition im Reich in kurzer Zeit auseinanderfällt". 84 Nach langem, respektablem Widerstand — und als sich auch die Demokraten bereit erklärten, für die immer noch angestrebte und wieder für erreichbar gehaltene „große Koalition" mit der DVP ein „Opfer zu bringen" — gab Braun nach. Er legte Becker am 30. Januar 1930 den Rücktritt nahe, ersetzte ihn jedoch,
83a Hans Staudinger, Wirtschaftspolitik und Weimarer Staat. Lebenserinnerungen eines politischen Beamten im Reich und in Preußen, 1889 bis 1934, hrsg. und eingeleitet von Hagen Schulze (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 10), Bonn 1982, bes. S. 41 f. Staudinger bekennt sich als entschiedener Parteigänger Otto Brauns, der in Preußen den größten staatlichen „Wirtschaftskomplex" schaffen wollte. Über die problematische Seite des preußischen Staates als Unternehmung berichtet Hans-Joachim Winkler, Preußen als Unternehmer 1925 — 1932. Staatliche Erwerbsunternehmen im Spannungsfeld der Politik ... (Veröffentlichungen d. Historischen Kommission zu Berlin, 17), Berlin 1965. 84 Protokolle der Landtagsfraktion, BA, R45III/65, pag. 154.
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ohne seine Fraktion zu konsultieren, durch einen Mann seiner Wahl. 85 Weit unglücklicher verfuhr der Ministerpräsident bei dem Rücktritt des Innenministers Grzesinski vier Wochen später, dessen Personalpolitik auch innerhalb der Koalition, vor allem von der DDP angegriffen wurde und an dessen Stelle Braun in einem Überraschungscoup einen der seltenen Universitätsprofessoren der Wirtschaftswissenschaft, die in der SPD tätig waren, setzte: Heinrich Waentig, der bisherige Oberpräsident der Provinz Sachsen, war schon in der SPD-Fraktion als Kandidat für das Amt des Kultusministers benannt worden, wäre indessen für das Innenministerium nicht ihr Kandidat gewesen.86 Nach kurzer Amtszeit 85 Dies war zunächst der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete, Oberpräsident der Provinz Sachsen und Hallenser Universitätsprofessor Heinrich Waentig, der jedoch von den Demokraten abgelehnt wurde, danach Adolf Grimme (SPD), Gymnasialoberlehrer und Vizepräsident des Provinzialschulkollegiums in Berlin, also Vorgesetzter von König. Ihn hatte Becker Braun gegenüber als Nachfolger vorgeschlagen. So überraschend, wie der Darstellung von Schulze, Otto Braun, S. 558 f., zu entnehmen ist, dürfte jedoch die Ersetzung Beckers durch Grimme am 30. Januar 1930 nicht erfolgt sein. Die preußische Fraktion der DDP erörterte bereits eine Woche lang die Möglichkeit, zur „großen Koalition" zu gelangen, die ihr die Opferung eines Ministers wert schien. Protokolle der Landtagsfraktion der DDP, Sitzungen am 23., 24., 27. und 28. Januar 1930, BA, R45III/ 65,158 ff. Am 27. verabschiedete die Fraktion eine Erklärung, die sich an den Ministerpräsidenten richtete und als Rückenstützung des im Namen der Fraktion verhandelnden Ministers Höpker-Aschoff gedacht war: „Die Fraktion der DDP hält heute wie bisher die Wiederherstellung der großen Koalition für erwünscht. Sie ist bereit, hierfür Opfer zu bringen, glaubt aber, daß ihr nicht zugemutet werden kann, allein solche Opfer zu bringen. Die Bestellung eines Ministers ohne Portefeuille widerspricht dem Gedanken der Verwaltungsreform und der Notwendigkeit äußerster Sparsamkeit auch in allen Einzelaufgaben. Ein Arbeitsgebiet für den neu zu bestellenden Minister ist kaum zu finden. Die Fraktion wäre damit einverstanden, wenn sich ein im Amte befindlicher Reichsminister bereit erklären sollte, gleichzeitig das Amt eines preuß. Staatsministers zu übernehmen. Bei der Besetzung des Kultusministeriums muß auf die Stimmung der evangel. Bevölkerung Rücksicht genommen werden, weil der derzeitige Staatssekretär [Aloys Lammers, Zentrum] dem kathol. Bekenntnis angehört ..." Dieser konfessionspolitische Gesichtspunkt sprach sowohl gegen die Kandidatur Königs, der katholisch gewesen, aber aus der Kirche ausgetreten, als auch Waentigs, der kurz zuvor aus der evangelischen Kirche ausgetreten war. — Die konfessionelle Parität bestimmte übrigens die Personalpolitik innerhalb des preußischen Kultusministeriums seit 1919. — BA, R45III/65, pag. 161 f. Vgl. auch den Bericht Höpker-Aschoffs in der Sitzung des Reichsvorstandes der DDP am 8. Februar, in: Albertin (Hrsg.), Linksliberalismus in der Weimarer Republik, S. 522 f.: „Grimme ist immerhin der beste Minister nach Becker." 86 Zu diesen Vorgängen Schulze, Braun, S. 619 ff. Die Gegenüberstellung von Fraktionsstärken einerseits und Kabinetts- und hohen politischen Beamtenpositionen (Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten), die die SPD in ungünstiger Lage erscheinen läßt (a. a. O., S. 558, 620), bedarf einiger Differenzierungen: Der Kreis der hohen politischen Beamten muß weiter gezogen werden und die Staatssekretäre einbeziehen, deren Zahl der der
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machte Waentig Severing Platz; 1931 trat er aus der SPD aus, ohne sein Landtagsmandat niederzulegen; später wurde er Mitglied der NSDAP. Beide Entscheidungen Brauns waren in ihrer Form wie in ihren Folgen unglücklich und beeinträchtigten nicht nur das Ansehen seiner Regierung, sondern vermehrten zudem die Belastung der Regierungskoalition. Wenn es auch der kleinen DDP-Fraktion schwer fiel, sich zu einmütigen Entscheidungen durchzuringen, so daß sie die Beratung wichtiger Entschlüsse auf merkwürdig anmutende Weise geheim zu halten versuchte, 87 so entstand doch eine zusehends einmütiger werdende Opposition der Empörung angesichts der Entschlüsse Brauns und der ihn bedrängenden SPD-Fraktion. Man meinte hier wie andernorts, „die Staatsminister entsprach und von denen sechs Mitglieder der Regierungsparteien waren (vier SPD, je einer Zentrum und DDP); aber auch die Ministerialdirektoren und die Polizeipräsidenten der großen Städte sind zu berücksichtigen. In der allgemeinen und inneren Verwaltung gehörten 1929 von den 12 Oberpräsidenten vier der SPD, je drei dem Zentrum und der DDP und zwei der DVP, von 32 Regierungspräsidenten acht der DDP, sieben dem Zentrum, sechs der SPD, neun der DVP, einer der DNVP an; einer war parteilos. Der Wechsel in den politischen Beamtenämtern der Mittelinstanz kam mithin nicht ganz den Veränderungen der Stärkeverhältnisse der Koalitionsfraktionen im Landtag nach, was allerdings als ganz und gar natürlich angesehen werden kann. Die SPD setzte sich in diesem Bereich allmählich von oben nach unten durch. Noch deutlicher trat eine verbliebene Mitte-Rechtsorientierung in den Landratsämtern in Erscheinung. Anderseits waren zum gleichen Zeitpunkt jedoch bereits von 44 Polizeipräsidenten 24 Mitglieder der SPD, je sieben der DDP bzw. des Zentrums, vier der DVP und zwei parteilos. Hier wurde der Personalwechsel also geradezu drastisch forciert. Insgesamt bedeutet dies, daß lediglich unterhalb der Staatssekretärs- und Oberpräsidentenebene — auch dies mit Ausnahme der Polizeibehörden — das Karrieremuster der politischen Beamten dem Maßstab einer bloß parteipolitischen Personalauswahl noch nicht entsprach, was gewiß nicht allein nur auf Stärken oder Schwächen in der Durchsetzung politischer Absichten und Tendenzen der Personalpolitik zurückzuführen ist, sondern auch auf Eigenarten und politische Orientierung des verfügbaren Reservoirs an vorgebildeten und qualifizierten Berufsbeamten, das in zahlreichen Positionen außerhalb der Ministerien auf und unterhalb der Ebene der Regierungspräsidenten nur begrenzte Auswahlmöglichkeiten zuließ. Vgl. hierzu vor allem die gründliche Untersuchung von Wolfgang Runge, Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933 (Industrielle Welt, 5), Stuttgart 1965, bes. S. 143-156, 200ff. 87 Dies kann man den Protokollen der Fraktionssitzungen entnehmen. Der Bericht, den der Vorsitzende Bernhard Falk über die Verhandlungen zur Erweiterung der Regierungskoalition am 23. Januar 1930 in Gegenwart der Gäste Koch-Weser, Lemmer (MdR) und Brammer (Demokratischer Zeitungsdienst) erstattete, wurde für absolut vertraulich erklärt. Auch fehlende Fraktionsmitglieder sollten nicht durch anwesende unterrichtet, sondern an den Fraktionsvorsitzenden verwiesen werden. Damit wollte man offenbar vermeiden, daß andere als die vom Vorsitzenden Falk vertretene Versionen entstehen und nach außen dringen konnten. BA, R45III/65, pag. 158.
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Personalpolitik sei die Grundlage der Koalitionspolitik", 88 und verlangte nach „Kompensationen", allerdings auch in erster Linie im Interesse des erwünschten neuen Koalitionspartners DVP, zu dem der Finanzminister Höpker-Aschoff Fäden knüpfte, während der Fraktionsvorsitzende Falk darauf bedacht war, die entscheidenden Verhandlungen im interfraktionellen Ausschuß zu führen und dann dem Ministerpräsidenten zu überlassen, diesen aber zur Entscheidung zu drängen; 89 doch beides führte zu nichts. Die Skepsis, die Koch-Weser von Anfang an zum Ausdruck brachte, schien sich zu bestätigen, wurde schließlich auch von Falk geteilt, der, allerdings ohne die Fraktion schon beruhigen zu können, am 2. Februar 1930 abschließend resümierte: „Wir sind dicht bis an die Grenze des Koalitionsbruchs gegangen. [Aber] die Rücksicht auf die politische Ruhe und den Rückhalt der Republik, die allein in Preußen verankert sind, muß Richtschnur unseres Verhaltens sein." 90 Braun war offenkundig überzeugt, daß ihm von dieser Seite höchstens noch Theaterdonner drohte. Der Beschluß der DDP-Fraktion, im Staatsministerium durch offene Aussprache über die Personalpolitik festzustellen, ob „die Grundlagen für die Koalitionspolitik noch gegeben sind", 91 blieb ohne erkennbares Ergebnis. An der Jahreswende 1929/1930 erweckte die preußische Koalition — offenbar auch in den Redaktionsstuben der ihr nahestehenden Zeitungen Berlins — allenfalls noch äußerlich den Anschein, fest und dauerhaft gefügt zu sein. Da die Sorgfalt, mit der Braun innerpreußischen Konflikten aus dem Wege ging und besonders in kritischen Zeiten die Kollegialität der Staatsminister pflegte, dem Zentrum reichlich Bewegungsfreiheit einräumte, blieb die Koalition sicherer Unterpfand für die Position des Ministerpräsidenten. Dies steht gewiß nicht im Widerspruch zu der später bekundeten Selbstbeurteilung Brauns, er habe „die Mission des neuen Preußens" darin erblickt, „die Demokratie in Deutschland zu sichern und zu vertiefen". 92 „Demokratie" hieß für Braun Erhaltung, Behauptung und Festigung der Regierung, die er führte und die allerdings der Vorstellung von konstanter politischer Homogenität und Kontinuität für einige Jahre weitaus näher kam, als je die Regierung des Reichs und die Verhältnisse innerhalb des Reichstags. Da dessen wechselnde und stets 88 a. a. O., pag. 169, Sitzung am 18. Februar 1930 (im Protokollbuch irrtümlich „18. Januar"), Abg. d. Landtags Schmiljan. 89 a.a.O., pag. 162, 169. 90 a.a.O., pag. 165 91 a.a.O., pag. 169 (im Protokollbuch irrtümlich „Grundlage"). 92 Braun, Von Weimar bis Hitler, S. 438.
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unsichere Mehrheitsbildungen weit häufigere Wechsel der Regierungskoalitionen mit sich brachten, war das Schlagwort von der „Krise des deutschen Parlamentarismus"93 schon seit der Mitte der zwanziger Jahre psychologisch in breiten Schichten verankert und wurde zu Beginn der dreißiger Jahre das Drängen auf eine Alternative populär. Wiederholt wurde die Kampfposition sichtbar, die die preußische Regierung Braun gegen die politische Rechte wie die äußerste Linke bezog. Man wird jedoch nicht sagen können, daß in irgendeiner strukturellen Hinsicht Preußen demokratischer regiert oder eingerichtet wurde als irgendein anderes deutsches Land, in dem andere Parteien oder Koalitionen herrschten. Seine Regierung hielt sich in sinnvoller Weise korrekt an die Grundgedanken der Verfassung und bemühte sich vor allem seit Mitte der zwanziger Jahre, nach Ausscheiden der DVP aus der Regierungskoalition, in Grenzen erfolgreich, um eine stetig erweiterte politisch legitimierte Personalpatronage. 94 Dies bedeutete gewiß nicht 93 Ernster zu nehmen waren die kultur- und geistesgeschichtlichen Analysen von der Art, die etwa Alfred Weber vertrat: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Berlin/Leipzig 1925. Einzelne Aspekte derartiger Überlegungen finden sich alsbald auch bei einigen hervorragenden französischen Staatslehrern, wie Giraud, Barthélémy und Devèze, auf die später Gerhard Leibholz verwies, als er — gegen Ende der Weimarer Republik — die „Krise der parlamentarischen Demokratie" beschrieb; Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, XII), München 1933, S. 50 ff. Der neuerliche Versuch von Horst Möller, das parlamentarische System in Preußen gegen das des Reiches abzusetzen, in die große Dimension der Diskussion eines „deutschen Sonderweges" einzubringen und als den Erfolgstyp der Parlamentarisierung auszuweisen („Preußen ging einen anderen, einen erfolgreicheren Weg zum Parlamentarismus — einen Weg, der sich in signifikanter Weise von dem des Reiches unterschied"), schießt über ein vertretbares Ziel hinaus. Gewiß, die Republik krankte nicht an Preußen. Doch die übermäßige Betonung einer „eigenständigen Leistung des Länderparlamentarismus" verkennt die — allerdings auch von Otto Braun nicht immer eingesehenen — Qualitäts- und Quantitätsdifferenzen der Aufgaben des Reiches wie seiner Organe und der Preußens und beider Voraussetzungen. Sie übersieht in beträchtlichem Umfang Konflikte und deren Bedeutung und trägt dem Ende, dem Ergebnis wie seinen Ursachen keinerlei Rechnung. Aber schon die Herauslösung eines zu heuristischen Zwecken konstruierten und so auch vertretbaren Komplexes „Parlamentarismus" aus den umgreifenden Zusammenhängen der Zeitgeschichte ist fragwürdig, ebenso die Sonderbehandlung Preußens innerhalb der deutschen Nachkriegsgeschichte, was sich an zahlreichen Beispielen zeigen läßt. Möller, Parlamentarismus in Preußen, bes. S. 577ff., 597 ff. Einige bedenkenswerte Überlegungen bei Orlow, Weimar Prussia, 243 — 254. 94 Vgl. Albert Grzesinski, Das Beamtentum im neuen Staat. Zwei Vorträge, Berlin 1930, S. 13. Zu den Problemen der Verwaltung und der Beamtenpolitik in Preußen liegt eine Reihe von Studien vor, unter denen immer noch die von Runge, Politik und Beamtentum, an erster Stelle zu nennen ist. Die „Ämterpatronage der drei Regierungsparteien" hebt
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wenig. Allerdings kann weder der Verwaltung noch der Bevölkerung in Preußen nachgesagt werden, daß sie am Ende „demokratischer" oder „parlamentarischer" gesinnt war als anderswo in Deutschland. Schließlich blieb es Tatsache, daß in den sechs Ostprovinzen die antiweimarischen Kräfte des traditionsbewußten ostelbischen Adels innerhalb — und im weiteren Umkreis — der historischen, äußerst aktiven Interessentenorganisationen des Landbaus nach wie vor eine wirtschaftlich wie politisch unantastbare Stellung einnahmen, daß sie zunächst Domänen der DNVP waren, während in den dreißiger Jahren die stärksten Hochburgen des nationalsozialistischen Einflusses in den Wahlkreisen eben dieser preußischen Provinzen lagen. 95 Ministerpräsident Otto Braun hatte seine eigenen politischen Erfahrungen in einer langjährigen Partei- und Gewerkschaftsführerlaufbahn gemacht, aber auch eigene Vorstellungen vom preußischen Staat, von der Macht und der Autorität seines Amtes und von dem Wesen der Republik entwickelt, die sich indirekt erschließen lassen — für die Epoche gewiß bedenkenswerte, aber niemals diskutierte oder durch irgendeinen Konsensus bestätigte Vorstellungen. Historische Beobachtungen und Beurteilungen können daher die Relativität ihres Bezuges kaum übersehen. In seiner Erklärung zum Verfassungstag der Republik im Jahre 1928, kurz nach Bildung der Regierung Müller, die der Amtliche Preußische Pressedienst verbreitete, 96 erwähnte Braun Preußen mit keinem einzigen Worte, obwohl alles, was er sagte und in positiven Wendungen beurteilte, offenkundig auf Preußen und seine Regierung bezogen war, jedenfalls die
auch Möller hervor. Doch er überschätzt bei weitem den Ertrag seiner Analyse eines statistischen Soziogramms, wenn er von einer „neuen politisch-administrativen Elite Preußens" spricht, die realiter doch nur in einigen exzellenten Staatssekretären, Regierungspräsidenten und Ministerialdirektoren und einigen wenigen Abgeordneten verkörpert war, und gar von einer „personellen Verklammerung [sie!] von vier großen Sektoren des gesellschaftspolitischen Lebens: der öffentlichen Verwaltung aller Ebenen, des staatlichen Bildungssystems, der Parteiapparate und der Gewerkschaften". Möller, Parlamentarismus in Preußen, S. 596. Vgl. auch unten Anm. 120. 95 Die DNVP erreichte relative Mehrheiten bei den Reichstags wählen von 1924 bis 1930 in den ostdeutschen Reichstagswahlkreisen Pommern, Ostpreußen, Frankfurt a. d. Oder, Schleswig-Holstein, Potsdam I und II, Merseburg, Liegnitz und Breslau. Von Merseburg abgesehen, wo sich Industrie und Landwirtschaft in etwa die Waage hielten, waren dies überwiegend agrarische Gebiete. Die .NSDAP erlangte im September 1930 und im Juli 1932 die höchsten Stimmenanteile in den Wahlkreisen Ostpreußen, SchleswigHolstein, Osthannover, Frankfurt a. d. Oder, Pommern und Liegnitz. Vgl. Milatz, Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik. 96 GehStAB, Rep. 90/186.
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von ihm und seinen Parteigängern vertretene Version von der besonderen Position und Politik Preußens wiedergab. Braun hat sich der Reichsverfassung wie der Einheit und der Interessen des Reiches als einer eigenen Sache angenommen, hieraus aber auch gewisse Ansprüche hergeleitet. In einem prinzipiellen Sinne empfand er sich wohl als ,Hüter' der Reichs Verfassung, 97 doch stets im Aspekt der preußischen Hegemonie 97 Diese nach Art. 59 der Reichsverfassung dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich zugewiesene Aufgabe hat der Staatsrechtler Carl Schmitt durch ein Schlagwort populär gemacht und schließlich den Befugnissen des Reichspräsidenten zugewiesen. Art. 59 enthielt allerdings Formulierungen, die die politische Fixierung dieser Aufgabe von vornherein festlegten und insofern die politische Verfassungsauslegung von Carl Schmitt bereits intendierten: „Der Reichstag ist berechtigt, den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anzuklagen, daß sie schuldhafterweise die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt haben. Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens hundert Mitgliedern des Reichstags unterzeichnet sein ..." Hierzu kam es nie; doch die bedingungslose Verknüpfung der alten liberalen Forderung auf ein Recht zur Ministeranklage mit einem Verfassungsschutzprinzip, dessen Gefahrdung einseitig charakterisiert wurde, ist offensichtlich. Von hier aus ergab sich die Maxime Schmitts: „Echte Verfassungsstreitigkeiten sind immer politische Streitigkeiten." Anlaß hierzu bot das Faktum, daß der Staatsgerichtshof in einer Entscheidung 1927 sich selbst als „Hüter der Reichsverfassung" bezeichnete. (Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Berlin/ Leipzig 1929, Bd. I, S. 154—178; wieder abgedruckt in: Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924—1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 6 3 - 1 0 0 ; auch Schmitt, Verfassungslehre, München/Leipzig 1928, ND Berlin 1954, S. 136.) In einer Aufsehen erregenden Wendung wies dann Schmitt die Aufgabe dem Reichspräsidenten als — von ihm so interpretierten — oberstem Inhaber der Staatsgewalt zu. Dies drückte auch die „Formel" aus vom Reichspräsidenten als „Hüter der Verfassung", dem — von Schmitt so bezeichneten — „verfassungsrechtlichen Stichwort des Präsidialsystems". Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 16 (1929), S. 161 — 237. Dem kam entgegen, daß sich Hindenburg schon vor dieser Diskussion selbst als „Hüter" der Rechte, die dem Reichspräsidenten auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung zustanden, bezeichnet hatte und mit diesem Anspruch auch einer Einschränkung durch ein — in der Verfassung vorgesehenes — Ausführungsgesetz entgegengetreten war, sich mithin als Herr über den Notstandsartikel und seine Anwendungen verstand. Reichspräsident von Hindenburg an Reichskanzler Marx, 22. November 1926, Faksimileabdruck bei Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 647. In einer profunden Kritik an der Schrift Carl Schmitts schrieb dagegen Hans Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein? in: Die Justiz, 6 (1930/31), S. 618 f.: „Den Reichspräsidenten als den einzigen Hüter der Verfassung zu erklären, widerspricht den klarsten Bestimmungen der Reichsverfassung. ...Wenn in der Weimarer Verfassung der Reichspräsident als Garant der Verfassung neben anderen Verfassungsgarantien vorgesehen ist, so kommt darin die einfache Wahrheit zum Ausdruck, daß diese Garantie der Verfassung nur einen Teil der Einrichtungen zum Schutz der Verfassung ausmachen kann und daß es eine summarische
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im Reich, die in Wahrheit die Stärke des Reiches garantieren und seine Verfassung gewährleisten sollte. Wenn er „das Lebensinteresse des deutschen Volkes", seinen „zukunftsgestaltenden Willen, aufzusteigen und erhöhte Leistungen zu vollbringen", — doch wohl mit der Vision einer stärkeren Machtstellung oder einer neuen Großmachtstellung — „unlösbar an die Fortexistenz der Weimarer Verfassung gebunden" erklärte, so erteilte er hier wie bei anderen Gelegenheiten allen Bemühungen um Reichsreform oder Verfassungsrevision eine entschiedene Absage. Aus dem gleichen Motiv läßt sich erklären, daß sich der preußische Ministerpräsident, wenn er es für angebracht hielt, um die Außenpolitik des Reiches kümmerte und mit Kritik an der Politik Hermann Müllers und Stresemanns im entscheidenden Augenblick nicht zurückhielt. Von Preußen ging der Antrag zur Ablehnung des „Panzerkreuzers A" 1927/ 28 aus, 98 der zu dramatischen Zuspitzungen in der Reichstagsfraktion der SPD führte. Anderseits äußerte sich Braun ganz anders als liberale und sozialdemokratische Blätter zum ersten, erfolglosen Gutachten der deutschen Delegierten im Sachverständigenrat unter Owen Young in Paris. Er ergriff im preußischen Landtag überraschend ihre Partei gegen die Sachverständigen der alliierten Reparationsgläubiger. 99 Die Reichsverfassung in der Interpretation des Preußischen Staatsministeriums, nicht aber Reichspolitik und Reichstagsbeschlüsse erkannte Braun unbedingt als verpflichtend oder der Kritik enthobenes Faktum an. Der unmittelbare Verkehr der preußischen Ressorts mit den Reichsministerien war schon seit längerem eingegrenzt und nur im Einverständnis Oberflächlichkeit wäre, über dem Reichspräsidenten als Garant der Verfassung die sehr engen Grenzen dieser Art von Garantie und die vielen anderen Arten und Methoden einer Verfassungsgarantie zu vergessen!" Danach hat vor allem Gerhard Leibholz geltend gemacht, daß „letzthin ... die Identifizierung von politischem Recht und Politik zu einer völligen Auflösung des Verfassungsrechts überhaupt" führt. Schließlich hat er darauf hingewiesen, daß auch andere Kräfte als der Reichspräsident Träger einer Ausgleichs- und Vermittlungsfunktion „mit politischen Mitteln, die tatsächlich in der Regel viel wirksamer sind als die des Rechts", sein können. Leibholz, Auflösung der liberalen Demokratie, S. 32 f., Anm. 68. Diese für uns wesentlichen Feststellungen wurden zwar erst Ende März 1933 getroffen, beruhen mithin auf nachträglich formulierten Erkenntnissen, die in eine Abhandlung schulmäßiger juristischer Gesichtspunkte und Erörterungen eingekleidet ist; doch an dieser Stelle kann die so ergänzte Formel — besser: der Topos — vom „Hüter der Verfassung" auch auf die Position Preußens, des Preußischen Staatsministeriums und des Ministerpräsidenten Braun in der politischen Situation gegen Ende des ersten Jahrzehnts der Weimarer Republik angewandt werden. 98 Schulze, Otto Braun, S . 5 4 5 f . 99 Sitzungsberichte des Preußischen Landtags, 3. Wahlperiode, 22. April 1929, Sp. 636 ff.; auch Schulze, Braun, S. 605. 22
Schulz II
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mit dem Ministerpräsidenten, wenn nicht auf seine Veranlassung zulässig. 100 Wir greifen hier in der Zeit etwas vor, wenn wir ergänzend bemerken, daß Braun die Eigenart vorherrschender Auffassungen der Zeit aber auch in überraschender Weise teilte. Eine später von ihm getroffene Anordnung bezeichnet eine bedeutsame Ausnahme von der erwähnten Regelung, die sich allerdings auf die allerhöchste Ebene bezog. Ein Rundschreiben des Ministerpräsidenten an die Staatsminister vom 10. Dezember 1930 ordnete an, „bei sämtlichen vom Herrn Reichspräsidenten ausgehenden Ersuchen, die irgendwelche behördlichen Maßnahmen erforderlich machen, die Behörden und Beamten ... mit Nachdruck zu veranlassen, die erforderlichen Amtshandlungen mit aller Beschleunigung vorzunehmen und in jedem Falle mir, nötigenfalls auch durch Zwischenbescheid, Bericht über das Veranlaßte zu erstatten."101 Unmittelbare Eingriffe des Reichspräsidenten in die Exekutive, sofern sie versucht wurden, hatte die Reichsregierung bis dahin überzeugend abzuwehren gewußt. Braun vertrat nun insofern auch gewisse preußische Traditionen, als er unmittelbare Beziehungen zwischen preußischen Verwaltungen und dem Reichsoberhaupt zuließ bzw. herstellte, was sicherlich nicht nur aus taktischen Erwägungen heraus geschah. Braun beantwortete so die Frage nach einem Staatsoberhaupt Preußens, die am Beginn der preußischen Nachkriegsgeschichte unter den Verfassungsvätern erörtert wurde, zur späten Stunde auf seine eigene Weise.
100 101
GehStAB, Rep. 90/396. Rep. 90/396.
DREIZEHNTES
KAPITEL
Staatsschutz und Beamte Eine besondere und spezifische Aufgabe, die letztlich das Reich im ganzen betraf, ergriff Preußen schon frühzeitig im Republikschutz, dessen Geschichte stark von der preußischen Politik unter Ministerpräsident Braun beeinflußt worden ist. 1 0 2 Die Republik war aus Zusammenbruch, Umsturz und Revolution hervorgegangen, die in anhaltenden Konflikten nachwirkten. Sie gab sich mit einiger Verzögerung, dann allerdings in ebenso entschiedener wie eiliger Reaktion auf bestürzende Ereignisse — die Ermordung Erzbergers, dann Rathenaus und weitere Attentate — einen aus der Situation geborenen und weitgehend an ihr haftenden gesetzlichen Staatsschutz. Nachdem die Republikschutzverordnungen von 1921 und 1922, aufgrund der Ausnahmegewalt des Reichspräsidenten gemäß Artikel 48 der Reichsverfassung, im Gefolge von Konflikten mit Bayern verändert bzw. wieder aufgehoben worden waren, 1 0 3 bestand gesetzlich dieser Schutz in der abschließenden Form der Schutzgesetze des Reiches v o m 21. Juli 1922 104 vor allem in einem besonderen StrafDas Folgende lehnt sich an Ausführungen in der Aktenedition an und ergänzt sie: Schulz, Quellen Brüning: Staat und NSDAP, S. X I - X X I V . 103 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze der Republik vom 29. August 1921 (RGBl. 1921, S. 1239), ersetzt durch die Präsidialverordnung vom 28. September (RGBl. S. 1271), dann durch die Verordnung vom 26. Juni 1922 (RGBl. I 1922, S.521) sowie die Zweite Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze der Republik vom 29. Juni 1922 (S. 532). Vgl. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 3 6 4 - 4 0 3 . 104 Gesetz zum Schutz der Republik (RGBl. 11922, S. 585) und Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutze der Republik (S. 590). Vgl. Gotthard Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik, Tübingen 1963. Die Geltungsdauer des Republikschutzgesetzes war auf fünf Jahre beschränkt. Zur letzten Verlängerung fehlte in der dritten Lesung — nach Annahme in der ersten und zweiten — im Reichstag am 27. Juni 1929 die erforderliche, verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit. Die Auffassung der Staatsrechtler über das Gesetz zum Schutze der Republik, das hier nicht im einzelnen zu erörtern ist, war weithin kritisch. Graf zu Dohna kritisierte im Anschluß an die von ihm erörterten materiellen Regelungen durch dieses befristete Gesetz die Unterlassung, einen ausreichenden und teilweise weiter greifenden Staatsschutz im Rahmen einer Reform des Strafrechts zu schaffen. Alexander Graf zu Dohna, Die staatlichen Symbole und der Schutz der Republik, in: Handbuch des Deutschen 102
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III. Die „Große
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rechtsschutz für Persönlichkeiten und Einrichtungen der Republik. Wenig wirksam blieb der Versuch des Gesetzgebers, durch das Republikschutzgesetz mittels Strafandrohungen generell Gewalttaten gegen die demokratisch-republikanische Staatsform zu unterbinden. Allerdings konnten geheimbündlerische verschwörerische Organisationen ausgeschaltet werden, sofern sie sich nicht veranlaßt sahen, durch neue, den Gesetzen gemäße Formen ihrer Tätigkeit diesen Charakter rechtzeitig abzustreifen; die Vergangenheit wurde nicht gerichtet. Bedeutsamer war der durch das zweite Gesetz vom 21. Juli 1922 unternommene, teilweise umstrittene, aber doch für die Beamtenpolitik in der Weimarer Republik charakteristische Versuch, die Reichsbeamten in einer über die Eidesformel hinausgehenden Bindung zum Eintreten für die „verfassungsmäßige republikanische Staatsgewalt" zu verpflichten. Das Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutze der Republik enthielt einige disziplinarische Verschärfungen und Änderungen des Reichsbeamtengesetzes von 1907 von grundsätzlicher und ausschließlich politischer Bedeutung. Ein neuer Paragraph (§ 10a) bestimmte: „Der Reichsbeamte ist verpflichtet, in seiner amtlichen Tätigkeit für die verfassungsmäßige republikanische Staatsgewalt einzutreten. Er hat alles zu unterlassen, was mit seiner Stellung als Beamter der Republik nicht zu vereinen ist." Insbesondere war ihm untersagt, „sein Amt oder die ihm kraft seiner amtlichen Stellung zugänglichen Einrichtungen für Bestrebungen zur Änderung der verfassungsmäßigen republikanischen Staatsform zu mißbrauchen" und „bei Ausübung der Amtstätigkeit oder unter Mißbrauch seiner amtlichen Stellung über die verfassungsmäßige republikanische Staatsform, die Reichsflagge oder über die verfassungsmäßigen Regierungen des Reiches oder eines Landes zur Bekundung der Mißachtung Äußerungen zu tun, die geeignet sind, sie in der öffentlichen Meinung herabzusetzen". Auch durfte der Beamte des Reiches nicht „bei Ausübung der Amtstätigkeit oder unter Mißbrauch seiner amtlichen Stellung auf die ihm unterstellten oder zugewiesenen Beamten, Angestellten und Arbeiter, Zöglinge und Schüler im Sinne mißachtender Herabsetzung der verfassungsmäßigen republikanischen Staatsform oder der verfassungsmäßigen Regierungen des Reiches oder eines Landes" einwirken. Schließlich war ihm „untersagt, in der Öffentlichkeit gehässig oder aufreizend die Bestrebungen zu fördern, die auf Wiederherstellung der
Staatsrechts, hrsg. von Gerhard Anschütz und Richard Thoma, I. Bd., Tübingen 1930, bes. S. 204 ff. Daran schließt die bis heute unentschiedene Frage an, ob es in erster Linie Sache der Justiz sei, Gefährdungen des Verfassungsrechts abzuwehren.
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Monarchie oder gegen den Bestand der Republik gerichtet sind", oder solche Bestrebungen zu unterstützen. Die Bedeutung dieser Vorschriften sollte allerdings nicht überschätzt werden. Am größten war wohl die Wirkung auf die Lehrerschaft. Doch die Gesinnung selbst, auf die es ankam, ließ sich schwerlich auf diese Weise regulieren. In den damit vorgezeichneten Bahnen entwickelte sich während der nächsten Jahre der Staatsschutz einmal als Strafrechtsschutz zur Abwehr politischer Ausschreitungen und zum anderen als rechtliche Bindung der Beamtenschaft an die Republik zur Sicherung des Vollzugs in allen seinen Bereichen. Die subjektiven öffentlichen Rechte nach der Reichsverfassung wurden im allgemeinen großzügig und in einem weiten Sinne zugunsten des einzelnen interpretiert. Im Hinblick auf zwei politisch bedeutsame Normenkomplexe widerstrebte die im Grundsätzlichen liberale Auffassung und Anwendung von Bestimmungen der Reichsverfassung jedem entschiedenen Vorgehen staatlicher Instanzen gegen extremistische und radikale politische Richtungen. Hierzu gehörten die Bestimmungen des Artikels 118 über den Grundsatz der freien Meinungsäußerung, der prinzipiell wie begrifflich nach vorherrschender Juristenmeinung weit auszulegen war und der natürlich das unbehinderte Zeigen von Flaggen und Tragen von Abzeichen und sogar die ungehinderte Verwendung von Uniformen und anderen militärischen Requisiten einschloß. Von nicht geringerem Belang war im subjektiven Teil der Beamtenrechte die im Artikel 130 verankerte Freiheit der politischen Gesinnung sowie die Vereinigungsfreiheit der Beamten, die nach den Vorstellungen der Verfassungsväter wie den Interpretationen der Reichsverfassung garantierte, daß den Beamten die Rechte des Staatsbürgers uneingeschränkt zugutekamen und ein politisch begründetes Subordinationsmoment aus dem beamtenrechtlichen Dienstverhältnis ausgeschlossen blieb. 105 Die Freiheit politischer Gesinnung, auch des Bekennens eigener politischer Einstellung und persönlicher Entscheidung, womöglich gegen die Regierung oder den Staat, dem der Beamte diente, blieben unberührt. Die allerdings prekäre Frage, ob und inwieweit Freiheiten mit Dienstverpflichtungen, die auch politisch relevant sein konnten, in Einklang zu bringen seien, fand in der Reichsverfassung selbst keine Regelung und konnte wohl keine finden. Diese Frage blieb zunächst auch in der Gesetzgebung offen. Doch Konflikte zwischen den liberalen Verfassungs105 Vgl. hierzu Fritz Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919. Ein Handbuch für Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 3. Aufl. Berlin 1928, S. 416 ff., 438 f.
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grundsätzen und dem politischen Schutzbedürfnis des liberalen Verfassungsstaates wurden bald evident. Die Anwendung der Bestimmungen des Republikschutzgesetzes, dessen Geltung zunächst auf fünf Jahre begrenzt war, dann verlängert wurde, aber am 22. Juli 1929 endete, bot in verschiedenen Aspekten juristischen Problemstoff, der teilweise kontrovers behandelt wurde. Im Grunde erfüllte das Republikschutzgesetz auch schon vor seiner Erneuerung in reduzierter und verwässerter Form in den letzten Tagen der Regierung der „großen Koalition", 106 nach Fehlschlägen und Verschleppungen, im ganzen kaum die Erwartungen, die mit seiner Verabschiedung verknüpft waren. Denn vor wie nach Schaffung des gesetzlichen Staatsschutzes wurde die Entwicklung der Republik von militanten oppositionellen Demonstrationen, auch von einzelnen Gewalttaten und von Gewaltandrohungen aus verschiedenen Richtungen begleitet. Die juristische Einengung des Anwendungsspielraumes war beträchtlich; zudem erwies sich das im Gesetz festgelegte Entscheidungsrecht der Länderregierungen und die damit zugelassene Opportunitätserwägung, wie sich im Falle des Roten Frontkämpferbundes erwies, in heiklen und strittigen Fragen als gravierend. Davon unabhängig blieb jedoch die stete Aufmerksamkeit zuständiger Polizeistellen und Staatsanwaltschaften, die vom KappPutsch bis zum Erlaß des Republikschutzgesetzes vornehmlich dem Gesichtspunkt der Verhütung hochverräterischer Unternehmen und der Anwendbarkeit einschlägiger strafrechtlicher Normen folgte. 107 106 Das zweite Gesetz zum Schutze der Republik vom 25. März 1930 (RGB1.I 1930, S. 91) wurde nach dem Scheitern der Verlängerungsversuche (s. oben Anm. 104) ohne verfassungsändernde Bestimmungen mit einfacher Mehrheit im Reichstag angenommen. Es galt bis zum 31. Dezember 1932. Die Zuständigkeit in Staatsschutzsachen ging 1927 vom Staatsgerichtshof an einen Senat des Reichsgerichts über, der dann mehrmals in Republikschutzstreitfragen in restriktivem Sinne entschied. Diese Übertragung der Zuständigkeit war ein Kompromiß, der dazu diente, in den Verhandlungen über die Verlängerung der Geltung des Schutzgesetzes auch die Zustimmung der DNVP zu gewinnen, die an der Reichsregierung beteiligt war und den Reichsinnenminister stellte. Dessen Verlangen nach Verbot des Roten Frontkämpferbundes fand dann jedoch keine Unterstützung im erkennenden Senat des Reichsgerichts. Niederschrift über eine Parteiführerbesprechung beim Reichskanzler am 13. Mai 1927, BA, R 4 3 1/1868. Zum Streit über das vom Reichsinnenminister v. Keudell verlangte Verbot des Roten Frontkämpferbundes Kurt G. P. Schuster, Der Rote Frontkämpferbund 1924—1929 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 55), Düsseldorf 1975, S. 208 ff. 107 Als ein Beispiel für Eigenarten des Beobachtungsfeldes wie des Vorgehens sei hier eine vom preußischen Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, Weismann, veranlaßte Aufforderung des preußischen Justizministers an den Generalstaats-
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Die stetige Beobachtung radikaler politischer Organisationen und Parteien war schon in der Frühzeit der Republik zur Aufgabe besonderer Behörden geworden, die teilweise innerhalb der Polizeiorganisation verblieben. Dies waren zunächst spezielle Referate oder Abteilungen in den Polizeipräsidien der Hauptstädte der größeren Länder. Die Abteilung I A des Polizeipräsidiums in Berlin dehnte als Partnerin einer politischen Gruppe der Polizeiabteilung des preußischen Innenministeriums ihre Tätigkeit in Angelegenheiten der politischen Polizei über ganz Preußen aus, während geheime polizeiliche Ermittlungen, Recherchen und alsbald in wachsendem Umfang auch die Vermittlung vertraulicher oder geheimer politischer Informationen seit Ende Juli 1919 Aufgaben eines preußischen Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung waren. 108 Der Zuständigkeitskatalog der Reichsverfassung von Weimar anwalt beim Kammergericht Berlin im September 1920 erwähnt. Im Hinblick auf die Tatbestände der rechtswidrigen Gewaltanwendung, der Aufhetzung zum Klassenhaß und des Hochverrats sollten Möglichkeiten eines strafrechtlichen Vorgehens gegen führende Mitglieder der USPD geprüft werden. Diese hatten am 1. September im Reichstagsgebäude an einer Reichskonferenz ihrer Partei teilgenommen, um über die Annahme der Bedingungen zu beraten, die die (III.) Kommunistische Internationale für den Fall einer Aufnahme der USPD stellte. Das Parteiorgan „Freiheit" gab mehrere Reden auszugsweise wieder, in denen die Ankündigung von Gewaltakten im Klassenkampf größeren Raum einnahm. Ein Einschreiten wurde jedoch vom Oberstaatsanwalt beim Landgericht I Berlin mit der Begründung abgelehnt, der sich der Generalstaatsanwalt im wesentlichen anschloß, daß die zitierten Sätze und Redewendungen nicht in der Öffentlichkeit, sondern vor Konferenzteilnehmern gefallen seien, deren Zusammenkunft „den Zweck theoretischer Erörterungen verfolgte", ohne daß ein Vorsatz, den öffentlichen Frieden zu brechen, nachgewiesen werden könne, zumal der Nachweis der Richtigkeit der Berichterstattung in der „Freiheit" schwer oder gar nicht zu erbringen sei. Berichte des Oberstaatsanwalts an den Generalstaatsanwalt vom 24. September 1920 und des Generalstaatsanwalts an den Justizminister vom 30. September 1920 GehStAB, Rep. 84a/10773. Im übrigen gehörten die Redner dem Reichstag an, so daß sie schon infolge des Immunitätsschutzes nach Art. 36 der Reichsverfassung wegen ihrer Äußerungen nicht belangt werden konnten. Eine umstrittene, einschränkende Auslegung der Immunität gab erst der Reichsdiziplinarhof in einer Entscheidung vom 1. Juli 1924. So Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung, S. 187 f. 108 Die Aufgabe des Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung beschreibt eine geheime Denkschrift vom 22. Dezember 1919, die wahrscheinlich von Unterstaatssekretär Albert verfaßt wurde, BA, R43 1/2305. Danach hatte der Staatskommissar „für das preußische Staatsgebiet alle Bestrebungen, die auf Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, auf wirtschaftliche Sabotage, auf illegale Aufwiegelung der Volksleidenschaften gerichtet sind, zu überwachen, ihnen durch Maßnahmen der vollziehenden Gewalt entgegenzutreten und durch Aufklärung der öffentlichen Meinung entgegenzuwirken". Die Denkschrift stellte fest: „Zur Erfüllung der dem Staatskommissar außerhalb der Bearbeitung der Ausnahme-Maßnahmen zufallenden ... Obliegenheiten [an anderer Stelle
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wies die Angelegenheiten der Polizei den Ländern zu; das Reich verfügte lediglich im Bedürfnisfalle über das Recht, eine einheitliche Gesetzgebung herbeizuführen. Die Bemühungen des Reichsinnenministers Severing um die Errichtung eines Reichskriminalpolizeiamtes blieben erfolglos. Schon während der Vorgänge vor und nach dem Kapp-Putsch, vor allem in Süd- und Mitteldeutschland, wurde angesichts der unterschiedlichen Behandlung von Freikorps und geheimen politischen Organisationen durch die Reichsregierung einerseits und einige Länderregierungen anderseits die Lücke in der rechtsstaatlichen Konstruktion erkennbar. 109 Vor allem die Beobachtung und Kontrolle von Organisationen, die in bestimmten Ländern Stützpunkte fanden und in anderen zu Aktionen schritten, wäre unzulänglich geblieben, hätte sie sich strikt an die Ländergrenzen gehalten. Der Nachweis von Verbindungen über die Grenzen hinweg, zu denen die Länder rechtens eigentlich nicht befugt waren, das Reichsinnenministerium jedoch keine Mittel zur Verfügung hatte, war überhaupt nur außerhalb des geltenen Verfassungsrechts möglich. In der Wahrnehmung einer Ersatzfunktion im Sinne des vom Preußischen Staatsministerium unter Otto Braun beanspruchten republikanischen Wächteramtes eignete sich der von der preußischen Regierung eingesetzte Staatskommissar für die Überwachung der Öffentlichen Ordnung, der fortan als geheime politische Nachrichteninstanz tätig war, Aufgaben an, die er auch außerhalb Preußens erfüllte. Die Natur der in den Untergrund abgedrängten, aber weit verzweigten radikalen, auch terroristischen bezeichnet: „Bekämpfung der nicht nur über Preußen, sondern gleichmäßig über das ganze Reich ausgebreiteten Strömungen und Bewegungen der radikalen Kreise"] ist von ihm eine weit verzweigte Nachrichtenorganisation geschaffen worden. Dies setzt ihn in den Stand, am zuverlässigsten und genauesten über die innere Lage sowohl in Preußen und seinen Provinzen als auch in den einzelnen Ländern und Staaten eingehend unterrichtet zu sein. Ihm stehen die Mittel für eine zur zutreffenden Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse erforderlichen Vergleichung der verschiedensten Nachrichten zur Verfügung." Die Denkschrift diente der Begründung des Vorschlags, den preußischen Staatskommissar in Erweiterung seiner Zuständigkeiten zugleich zum Reichskommissar für die öffentliche Ordnung zu ernennen und dessen Behörde dann mit der Bearbeitung der Ausübung aller Rechte aus dem Art. 48 der Reichsverfassung zu betrauen. — Zur Politischen Polizei in Preußen Bernhard Weiß, Polizei und Politik, Berlin 1928, bes. S. 51 ff.; ders., Art. „Politische Polizei", in: Handwörterbuch d. Rechtswissenschaft, Bd. IV, Berlin 1927. Weiß, der der DDP angehörte, war 1921 — 1925 Leiter der Abteilung IA beim Polizeipräsidium und danach Polizeivizepräsident in Berlin. Zur Politischen Polizei liegt neuerdings eine etwas problematische Arbeit vor von Christoph Graf, Politische Polizei zwischen Demokratie und Diktatur. Die Entwicklung der preußischen Polizei vom Staatsschutzorgan der Weimarer Republik zum Geheimen Staatspolizeiamt des Dritten Reiches, Berlin 1983. 109
Im einzelnen Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 333—348, 370—382.
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Organisationen der ersten Nachkriegszeit brachte es mit sich, daß sich die geheime Tätigkeit der Mitarbeiter des Staatskommissars bald über mehrere Länder erstreckte, was schließlich zu Beanstandungen bayerischer Instanzen und zu Konflikten führte. 110 Durch Überlassung von Nachrichtenmaterial an das Reichsinnenministerium war zunächst ein stillschweigendes Einvernehmen herbeigeführt worden. Die Überschreitung von Ländergrenzen wie -Zuständigkeiten bei der Ausführung des Staatsschutzes häuften jedoch bald in mehreren Hinsichten Konfliktstoff an. Nach Ablösung des Gesandten v. Berger, des ersten Staatskommissars, der durch seine Haltung unmittelbar vor dem Kapp-Putsch Kritik auf sich gezogen hatte und auf den Posten eines preußischen Gesandten in Dresden abgeschoben wurde, übernahm der in der Umwälzungsperiode 1918/19 wiederholt mit der Verfolgung politischer Delikte befaßte Erste Staatsanwalt beim Landgericht I Berlin, Robert Weismann,111 dieses wichtige Amt, der damit eine zu hohem Einfluß gelangende Karriere begann. Neben dem preußischen Staatskommissar wurde nach dem Kapp-Putsch aber auch eine gleichnamige Reichsbehörde geschaffen: der Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, der unmittelbar dem Reichsinnenminister unterstand, während der preußische Staatskommissar sowohl dem preußischen Ministerpräsidenten als auch dem preußischen Innenminister unterstellt war. Tatsächlich bediente sich jedoch der Reichskommissar, der badische Gendarmerieoberst Kuenzer, auch weiterhin des Apparates des preußischen Staatskommissars unter Verzicht auf eine eigene Exekutive.112 Wiederholte Bemühungen 1 , 0 Schulz, a. a. O., S. 364 f.; Wolfgang Benz, Süddeutschland in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1918—1923 (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter, 4), Berlin 1970, S. 311 ff. 111 Persönlichkeit und Bedeutung dieses für die Politik Preußens wichtigen Mannes, der nicht der SPD, sondern der DVP angehörte und schließlich als Staatssekretär im Staatsministerium zum ersten Mitarbeiter des Ministerpräsidenten Braun wurde, sind der Historiographie lange Zeit fast vollkommen entgangen. Einen ersten Versuch, die Lücke zu schließen, der zunächst von den Klagen der kommunistischen Gruppen ausgeht, unternahm H.Schulze, Otto Braun, S . 3 7 7 f f . ; eine bissige Charakterisierung „unseres Polizeiministers" findet sich bei Harry Graf Kessler, Tagebücher 1933—1937, hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1979, S . 2 3 1 f . Bezeichnend ist das fast durchgehende positive Urteil ehemaliger Mitarbeiter; vgl. Arnold Brecht, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1 8 8 4 - 1 9 2 7 , Stuttgart 1966, S . 3 2 7 f . Den Herren Dr. Dietrich Mende und Dr. Heinrich Muth (•(•) habe ich für ausführliche mündliche Mitteilungen über Robert Weismann zu danken, Dr. Muth auch die Nachricht, daß Weismann der DVP angehörte. 112 Einige Hinweise auf die Tätigkeit des Reichskommissars bei Schuster, Der Rote Frontkämpferbund, S. 10f., der jedoch die ältere und wichtigere Organisation des preußischen Staatskommissars nicht kennt.
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um die Zusammenlegung beider Kommissariate, die eine erste Zusammenfassung von Reichs- und preußischen Staatsbehörden gewesen wäre, scheiterten längere Zeit an dem Widerstand des preußischen Ministerpräsidenten, des Innenministers und vor allem an der Persönlichkeit Weismanns selbst, bis dessen Ernennung zum Staatssekretär im Preußischen Innenministerium und bald danach im Preußischen Staatsministerium den Weg zu der vom Reichsinnenminister gewünschten Lösung freigab. Die Schwierigkeiten, die entstanden waren, konnten dadurch ausgeräumt werden, daß Ende 1923 die Funktionen des preußischen Staatskommissars beim Reichskommissar des gleichen Namens zusammengefaßt, aber auf den Rahmen der Reichskompetenz nach der Weimarer Verfassung zurückgeschraubt wurden. Der Reichskommissar sammelte fortan mit Unterstützung der zuständigen Landesbehörden in allen Ländern des Reiches Beobachtungsmaterial, das er dem Reichsinnenminister vorlegte, aber auch den Ländern in Gestalt regelmäßig abfolgender geheimer Berichte übermittelte. 113 Er blieb indessen eine Instanz mit lediglich vermittelnden Aufgaben, die schließlich 1928 an eine Unterbehörde des Reichsministeriums des Innern übergingen, die den in der Sache treffenden Namen „Nachrichtensammelstelle beim Reichsministerium des Innern" führte und dem Leiter der Abteilung I (Verfassung, Politik, Verwaltung, Beamtentum) unterstand. Sie sammelte Nachrichten, faßte sie zusammen und gab sie in Gestalt geheimer Denkschriften an Reichsministerien und Länderbehörden weiter. Die Nachrichtensammelstelle, wie sie häufig der Einfachheit halber genannt wurde, trat aber auch in einer anderen Form unmittelbar mit den Ländern in Verbindung. In lockerer Folge berief sie, erstmals 1929, Nachrichtenkonferenzen ein, in deren Verlauf die zuständigen Referenten in ausführlichen Berichten aktuelles Beobachtungsmaterial vortrugen und Diskussionen über polizeiliche und auch politische Verhaltensregeln in Gang brachten. Auf diesem Wege sollten engere Beziehungen, aber auch einheitliche Auffassungen im Verhältnis der politischen Polizeiinstanzen entstehen. Spätestens Anfang 1932 stellte sich indessen die Unzulänglichkeit dieses Versuches heraus, der die Reihe der institutionellen Zentral113
Diese Berichte sind nicht vollständig in Gestalt eines geschlossenen Aktenbestandes erhalten, aber doch im ganzen in verschiedenen Archiven der Bundesrepublik ohne größere Lücken überliefert und über eine Sammlung fotokopierter Stücke im Bundesarchiv (Bestand R 134) zugänglich, so daß es möglich ist, die Tätigkeit des Reichkommissars wie seiner Nachfolgeinstitution zu verfolgen. Wichtige Aufschlüsse vermitteln neben den einschlägigen Beständen im Bundesarchiv und im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz das Staatsarchiv Bremen.
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konferenzen eröffnete, die im föderativen Parteienstaat ein unverzichtbares Minimum an verwaltungspraktischer Homogenität zu schaffen versuchten — und dann später in der Bundesrepublik ständig ausgebaut und aufgewertet wurden —, eine notwendige verwaltungsgeschichtliche Neuerung im föderativen Verfassungssystem. Dem Historiker vermitteln die Vorträge der Referenten ebenso wie vorher die Mitteilungen des Reichskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung Aufschluß über Methoden und Ergebnisse der politischen Beobachtung. Die Berichte des Reichskommissars und dann der Nachrichtensammelstelle unterschieden durchgehend zwischen „linkem" und „rechtem" Radikalismus. Im ersten herrschte als Beobachtungsobjekt die KPD mitsamt dem Geflecht ihrer Unter- und Neben- oder lockerer gebundenen Trabantenorganisationen und den mit ihnen sympathisierenden Kreisen vor. Innerhalb des zweiten Komplexes spielte die NSDAP zunächst eine wechselnde, doch seit 1928 zusehends stärker hervortretende, seit 1929 dominierende Rolle. Aufgabenstellung und überlieferte Eigenart der Institution legten jedoch, angesichts der auf beiden Seiten erkennbaren dezidierten Opposition gegen den Verfassungsstaat wie der Art, in der er bekämpft wurde — durch heimliche, untergründige wie auch offene Agitation und Propaganda, organisierte Massendemonstrationen und anderes mehr —, in gewissem Grade eine vergleichbare Behandlung von linkem und rechtem Radikalismus nahe. Aus der Frühgeschichte der Weimarer Republik ergab sich der zeitliche Primat des „linken" Beobachtungsfeldes in der Kommunistischen Partei; gegen Ende der zwanziger Jahre wurde, wie schon 1923, während der bayerischen Krise, das „rechte" Beobachtungsfeld an das zunächst primär beobachtete linke angeschlossen. Anzumerken ist, daß der „Stahlhelm — Bund der Frontsoldaten" in diese Beobachtungen und Beurteilungen nicht einbezogen wurde. Von der Reichsseite her wurde er niemals als staatsfeindliche Organisation behandelt. Die enge gefühlsmäßige Beziehung Hindenburgs, seines „Ehrenmitgliedes", zum Stahlhelm war bekannt. 114 Auch die Führung der DVP hielt Verbindung zum Stahlhelm, von einer Phase der Entfremdung 1929/30 abgesehen; und einige prominente Parteimitglieder gehörten auch dem Bunde an. 115 Schließlich bestanHierzu Berghahn, Stahlhelm, S. 122. Das Gewicht von DNVP- und DVP-Mitgliedern innerhalb des Stahlhelms entspricht allerdings nicht der Bedeutung seiner Verbindung zur Führung der DVP als Regierungspartei. Nach einer stahlhelmeigenen Statistik gehörten Anfang 1928 51 Reichstagsabgeordnete der DNVP und 9 der DVP, 55 Landtagsabgeordnete der DNVP und 9 der DVP dem Stahlhelm an. (Die DNVP-Fraktionen waren etwa doppelt so stark wie die der DVP.) Berghahn, Stahlhelm, S. 111, Anm., S . 7 5 f f . 114
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den enge und intime Verbindungen einiger Stahlhelmführer zur Reichswehr.116 Für das Reichswehrministerium, das offenbar über eigene Methoden und Einrichtungen zur Beobachtung politischer Vorgänge verfügte, stellte sich übrigens die Aufgabe insofern anders, als die Frage nach dem Auftrag und den militärischen Möglichkeiten der Reichswehr im Vordergrund stand und die Gefahrdung ihrer Einsatzfahigkeit das entscheidende Kriterium bildete. Die von Anbeginn angestrebte und von General v. Seeckt, als Chef der Heeresleitung, durchgesetzte Kompetenz für verteidigungs- und wehrpolitische Pläne, die auch ohne öffentliche oder parlamentarische Erörterungen galten, entschied hierbei. In dieser Perspektive ergab sich ein andersartiger Charakter verschiedener rechtsradikaler Gruppen und Richtungen. Während der Stahlhelm meist über positive Beziehungen zum Ministerium verfügte, blieb eine ähnlich geartete Beziehung zur NSDAP ausgeschlossen. Agitation, Tenor der Propaganda, zunächst aber auch einzelne schwer definierbare personelle Verbindungen ließen die nationalsozialistische Bewegung gerade in jenen Punkten der Reichswehr besonders gefährlich erscheinen, in denen sich Vergleiche mit der KPD anzubieten schienen.117 An der Spitze der bereits genannten Abteilung I des Reichsinnenministeriums stand von 1928 bis 1932 — unter den Reichsministern Severing, Wirth und Groener und stets unter dem Staatssekretär Zweigert — Ministerialdirektor Menzel, der der sozialdemokratischen Partei angehörte. Für die radikalen Parteien war als Leiter der Unterabteilung Politik (Ula), der Ministerialrat, spätere Ministerialdirigent Häntzschel zuständig. Diese beiden Beamten galten zu Recht als verantwortliche Träger der Politik des Reichsinnenministeriums. Sie waren schließlich auch die entscheidenden Gegenspieler der Nationalsozialisten. Ihre Abberufung war bei ihren Gegnern schon 1932 beschlossene Sache; dies bildete übrigens den ersten Anstoß zu dem Vorhaben eines weitreichenden Berghahn, a.a.O., S . 5 6 f f . Erlaß des Reichswehrministers vom 22. Januar 1930, abgedruckt in: Quellen Brüning: Staat und NSDAP, S. 3 ff. Diesem Erlaß, der den Endpunkt bezeichnet, sind mehrfach gleichsinnige Anordnungen vorausgegangen. Die Autorität des Wehrministers und des im besonderen zuständigen Ministeramtschefs v. Schleicher lassen Zweifel an der Befolgung dieser Jahre hindurch wiederholten Grundsätze unbegründet erscheinen, zumal die ersten offenkundigen Durchbrechungen Reaktionen des Reichswehrministeriums auslösten. Dies zu Rudolf Morsey, Staatsfeinde im öffentlichen Dienst (1929—1932), in: Öffentlicher Dienst. Festschrift für Carl Hermann Ule, hrsg. von Klaus König, Köln/Bonn/Berlin/ München 1977, S.114, Anm. 16. 116
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Personalwechsels innerhalb des Berufsbeamtentums des Reiches und Preußens,118 das 1933 in die Tat umgesetzt wurde. Die Zusammenarbeit Menzels und Häntzschels mit dem preußischen Innenministerium war allerdings denkbar eng sowohl während der Amtszeit Severings als auch unter seinen Nachfolgern Wirth und Groener. In Preußen trugen nacheinander die sozialdemokratischen Innenminister Grzesinski (Oktober 1926 bis Februar 1930), der vorher, 1925 bis 1926, und nachher wieder, von Oktober 1930 bis zum 20. Juli 1932, Polizeipräsident von Berlin war, und Severing (von März 1920 bis April 1921, von September 1921 bis Oktober 1926 und wieder von Oktober 1930 bis Juli 1932) und der demokratische Staatssekretär Abegg (seit 1926) in ihrer Zuständigkeit die Verantwortung für die Politik gegenüber radikalen Bestrebungen. Als Referent in der Abteilung für Verfassung und Rechtsfragen 119 war Ministerialrat Schönner, als Leiter der Polizeiabteilung Ministerialdirektor Klausener an Beratungen und Entscheidungen beteiligt, die in einigen Fällen auch die Zuziehung des preußischen Justizministers verlangten. Schon die Handhabung der Befugnisse, über die die aufgeführten Instanzen verfügten, im Falle des preußischen Staatskommissars zur Überwachung der öffentlichen Ordnung einst auf Grund streng geheim gehaltener Rechtstitel, lenkt den Blick auf Verwaltung und Beamtenschaft. Nach dem Stand der Forschung und auf Grund der Überlieferung in den behördlichen Akten läßt sich feststellen, daß eine einheitliche politische Beurteilung der „Beamtenpolitik" in Reich und Ländern, die sich stets in Behörden- und Personalpolitik gliedert, schlechterdings nicht möglich ist. Sowohl der Kurs, den Regierungen, Ministerien und Behördenchefs verfolgten, als auch die politischen Voraussetzungen, unter denen er stand, entziehen sich summarischer Charakterisierung. Allerdings besaß einmal die entschiedene Behauptung des Juristenmonopols bei der Rekrutierung der höheren Beamten dauernde Bedeutung; zum anderen wurden die von verschiedenen Seiten extensiv — im Sinne der Restitution eines geschlossenen und im Staatsdienst herausgehobenen Berufsstandes — interpretierten verfassungsrechtlichen Garantien der Rechte der BerufsbeAusarbeitungen des Ministerialrats a. D. Pfundtner für Artikel in nationalsozialistischen Zeitungen (wahrscheinlich Juni 1932), die jedoch nicht veröffentlicht wurden. BA, R18/5314. 119 Diese Abteilung ging aus der Zusammenlegung zweier Abteilungen im Zuge der Neugliederung des Ministeriums nach dem Amtsantritt Grzesinskis im Oktober 1926 hervor. Organisationsplan GehStAB, Rep. 90/899. 118
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amten herausgearbeitet, die innerhalb aller Parteien, die an den Regierungen des Reiches und der Länder beteiligt waren, entschiedene Fürsprecher fanden. 120 Diese wesentlichen, zum großen Teil stetigen Tendenzen haben sowohl zeitgenössische als auch zeitgeschichtliche Kritik hervorgerufen, die allerdings verschiedenartigen Maßstäben gefolgt ist. Die seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitete und stetig zunehmende Kritik an tradierten und in ständiger Erweiterung begriffenen Verwaltungszuständigkeiten, am Bürokratiesyndrom, ist hier nicht zu behandeln. Sie ist von der Kritik an der personellen Beamtenpolitik zu unterscheiden, deren verschiedenartige Gesichtspunkte sich über eine ganze Skala erstrecken. Sie reicht von Ausgangspunkten, von denen aus Prinzipien genereller, tendenzieller oder partieller (etwa nach Ressorts differenzierter) politischer oder staatspolitischer Verpflichtung der Beamten mehr oder minder entschieden befürwortet werden, bis zu dem Postulat einer 120 Aus der Literatur zur Beamtenpolitik in der Weimarer Republik seien — in der Reihenfolge der Veröffentlichung — hervorgehoben: Hans Nawiasky, Die Stellung des Berufsbeamtentums im parlamentarischen Staat, München 1926; Arnold Köttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, Berlin/Leipzig 1928; ders., Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts und die Bedeutung des Beamtentums im Staate der Gegenwart, in: Handb. d. deutschen Staatsrechts, Bd. II, Tübingen 1932, S. 1 —19; Die Berichte von Hans Gerber und Adolf Merkl bei den Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Halle am 28-/29. Oktober 1931: Entwicklung und Reform des Beamtenrechts (Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, 71), Berlin/Leipzig 1932; Arnold Brecht, Das deutsche Beamtentum von heute (als vervielfältigtes Manuskript veröffentlicht von der Deutschen Gesellschaft für Personalwesen e.V.), Frankfurt a . M . 1951; Bracher, Auflösung, S. 174—191; Hans-Karl Behrend, Zur Personalpolitik des Preußischen Ministeriums des Innern. Die Besetzung der Landratsstellen in den östlichen Provinzen 1919 bis 1933, in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 6 (1957), S. 1 7 3 - 2 1 4 ; Eberhard Pikart, Preußische Beamtenpolitik 1918-1933, in: VZG, 6 (1958), S. 1 1 9 - 1 3 7 ; Gerhard Schulz, Die Anfange des totalitären Maßnahmenstaates ( = Karl Dietrich Bracher, Gerhard Schulz, Wolfgang Sauer, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, II. Teil), 3. Aufl. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1974, S. 140—150, bes. S. 442ff.; Runge, Politik und Beamtentum; Hans Fenske, Monarchisches Beamtentum und demokratischer Staat. Zum Problem der Bürokratie in der Weimarer Republik, in: Demokratie und Verwaltung (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 50), Berlin 1972, S. 117-136; Ehni, Bollwerk Preußen? S. 4 7 - 5 6 ; Hans Mommsen, Die Stellung der Beamtenschaft in Reich, Ländern und Gemeinden in der Ära Brüning, in: Tradition und Reform in der deutschen Politik. Gedenkschrift für Waldemar Besson, hrsg. von Gotthard Jasper, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, S. 81 —137; die rechtsgeschichtliche Untersuchung von Hermannjosef Schmahl, Disziplinarrecht und politische Betätigung der Beamten in der Weimarer Republik (Schriften zur Rechtsgeschichte, 13), Berlin 1977. Zur politischen Haltung der Beamten Friedberg Schenck, Die Einstellung der deutschen Beamten zur Weimarer Republik, 2 Bde., jur. Diss. Mannheim 1984.
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politisch homogenen Beamtenschaft mit eindeutigem Vorrang der politischen Bindung vor allen anderen Qualifikationsmerkmalen. Auch das Prinzip der Demokratisierung der Beamtenschaft 121 wurde in unterschiedlichem Sinne aufgefaßt: etwa als Öffnung der höheren Laufbahnen für Außenseiter aus Funktionärskader von Parteien und Gewerkschaften, als Bevorzugung von Parteimitgliedern bei der Besetzung wichtiger Stellen oder auch als Desiderat oder Postulat des Anschlusses der Beamtenschaft an die regierenden demokratischen Parteien. Es trifft wohl zu, daß „der große, wahre und echte Zwiespalt, der die Demokratisierung und Parlamentarisierung Deutschlands und nicht allein Deutschlands durchzieht", unüberbrückt und wahrscheinlich unüberbrückbar blieb, weil das Berufsbeamtentum selbst, aber auch die Regierungen und fast alle Parteien an der „herrschaftlich gebliebenen Form des Dienstes" festhielten. 122 Auch der aus revolutionären Anstößen in einer Umwälzung hervorgegangene Mehrparteienstaat setzte sich aus heterogenen Elementen zusammen, was sowohl die Gewinnung politischer Homogenität als auch die Milderung zentrifugaler und die Abwehr zerstörender Tendenzen nur als perennierende Probleme begreifen läßt. Von den zuständigen „Beamtenministern", den Innenministern des Reiches und der Länder, wie von anderen Ressortchefs wurden tatsächlich die entschiedensten Forderungen ihrer eigenen Parteien in der Personalpolitik kaum jemals im Prinzipiellen verfolgt, geschweige denn durchgesetzt. Auch der sozialdemokratische preußische Ministerpräsident Otto Braun befand sich weder in geistiger noch in sachlicher Übereinstimmung mit den beamtenpolitischen Sprechern seiner Partei, wenn er nach Ende der Reichsregierung der „großen Koalition", am Tage der Bildung der Regierung Brüning, in einer Rundfunkansprache die Funktion des unparteiischen Interessenausgleichs als politische Aufgabe der Beamtenschaft im „Volksstaat" unterstrich und erklärte, daß ihr als „Sachwalterin der Allgemeinheit praktisch die sorgfältige und durchdachte, niemals schematische und rein formelle Durchführung der Gesetze und Verordnungen" obliege und daß sie es sei, die die „praktische Durchsetzung jener Rechts- und Verwaltungsnormen" gewährleiste, „die ein Staatswesen braucht, um die Interessen all seiner Staatsbürger wahrnehmen zu können". 123 Man wird hierin Vgl. auch oben, S. 318 ff. Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923, S.353. 123 Rundfunkansprache Brauns über den Sender Königsberg anläßlich der Eröffnung der gewerkschaftlichen Bildungskurse des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes in Ostpreußen am 30. März 1930. Amtlicher Preußischer Pressedienst vom 29. März (Sperrvermerk), Hervorhebung im Original; GehStAB, Rep. 84a/3631. 121
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kaum noch einen kategorischen Unterschied gegenüber jenen konservativen Anschauungen erblicken können, in denen das Standesbewußtsein der höheren Beamtenschaft vertreten und gefördert wurde. In Preußen, das über den größten Personalkörper des öffentlichen Dienstes verfügte, und in den Reichsverwaltungen — im Unterschied zu einigen anderen Ländern, in denen es derartiges nicht gab, — boten die disponiblen hohen, seit 1 8 9 9 so genannten p o l i t i s c h e n Beamten', die nach überlieferten und v o n der Republik erneuerten Grundsätzen mit ihren vorgesetzten Autoritäten politisch übereinstimmen sollten, 1 2 4 in institutioneller Hinsicht den Ansatz, um v o n oben her f ü r politische Bindungen der aus der Monarchie übernommenen Beamtenschaft zu sorgen. Die hierin liegenden Möglichkeiten w u r d e n nach und nach, allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen, genutzt, im allgemeinen in den Obersten Reichsbehörden etwas zögernder, entsprechend der In den preußischen Ministerien zählten hierzu die Diplomaten, Staatssekretäre (anfangs Unterstaatssekretäre) und Ministerialdirektoren, in der allgemeinen und inneren Verwaltung die Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräte, Polizeipräsidenten und Polizeidirektoren. Sie konnten jederzeit ohne Begründung in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Außerdem wurde die Ernennung von Ministerialräten (anfangs Vortragenden Räten), Ministerialdirigenten, Vizepräsidenten und Regierungsvizepräsidenten, in der Justiz der Generalstaatsanwälte, der Leiter der Staatsanwaltschaften, Oberlandesgerichtspräsidenten und Landgerichtspräsidenten sowie des Präsidenten, der Senatspräsidenten und der Oberverwaltungsgerichtsräte des Preußischen Oberverwaltungsgerichts nach Vorschlag des zuständigen Ministers vom Staatsministerium beraten und beschlossen. Grundsätze für die Erledigung von Geschäften des Staatsministeriums vom 16. Dezember 1921; GehStAB, Rep. 90/396. Für das Reich erfolgte eine neue Festlegung durch Art. IV des Gesetzes über die Pflichten der Beamten zum Schutze der Republik vom 21. Juli 1922 (RGBl. I 1922, S. 590). Zur Kategorie der Politischen Beamten gehörten danach alle nichtrichterlichen Beamten vom Ministerialdirigenten aufwärts, Ministerialräte in Dirigentenstellungen sowie alle Beamten vom Oberregierungsrat aufwärts, die „mit Aufgaben zum Schutze der Republik besonders betraut" waren. Doch schon vorher, nach Bildung des zweiten Kabinetts Wirth, hatte Reichspräsident Ebert durch Schreiben an den Reichskanzler vom 28. Oktober 1921 verlangt, daß vor Versetzungen in den einstweiligen Ruhestand (Politische Beamte) vom Ministerialdirektor an aufwärts seine Entscheidung einzuholen sei. Die Reichsregierung fügte sich diesem Ersuchen dann in der Form einer Verfahrensregelung vom 8. November, derzufolge einschlägige Ernennungen nunmehr zuvor dem Kabinett zu unterbreiten waren, bei beabsichtigten Entlassungen zuerst die Stellungnahme des Reichskanzlers eingeholt werden mußte, „bevor entscheidende und verpflichtende Maßnahmen und Eröffnungen erfolgen", um danach — „vor solchen Maßnahmen" — die Angelegenheit dem Reichspräsidenten „zur Entscheidung zu unterbreiten". BA, R43 11/856. Eine derartige, durch die Verfassungsbestimmungen über die Rechte des Reichspräsidenten nicht geforderte Einschaltung des Staatsoberhauptes sollte offenbar einen stärkeren bzw. rascheren Wechsel in den höchsten Rängen der Beamtenschaft hemmen, wenn nicht unterbinden. 124
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Kurzlebigkeit der meisten Reichsregierungen und dem Wechsel der Koalitionen, im Reichsinnenministerium entschiedener seit 1927, vorher aber schon in Preußen, wie schon oben dargelegt. Dort wurden in den Provinzen zunächst Stellung und Befugnisse der Oberpräsidenten verstärkt, dann aber doch, entgegen älteren Plänen, nach personellen Umbesetzungen die Regierungspräsidenten mit ihren Aufgaben beibehalten. Auf der untersten Stufe der allgemeinen und inneren Verwaltung verblieb indessen unter den Landräten in den sechs östlichen Provinzen Preußens (Ostpreußen, Pommern, Grenzmark Posen-Westpreußen, Brandenburg, Schlesien und Oberschlesien) bis zuletzt eine starke Minderheit von Angehörigen und Anhängern der DNVP, von denen allerdings viele in ihren Ämtern nicht mehr als Gegner der Republik betrachtet wurden. Das Ergebnis blieb, wie wir gesehen hatten, 125 auch in Preußen außerhalb wie innerhalb der Regierungskoalition umstritten. Sowohl die politische Verschärfung der Ernennungspraxis unter Innenminister Grzesinski, die die parteipolitische Zuordnung in den Personalien bewertete, als auch die Tendenz, Maßstäbe der Auswahl politischer Beamter nach und nach auf die Besetzung der nächsten nachgeordneten Positionen unter den Politischen Beamten im Wortsinne auszudehnen (Vizepräsidenten bei den Oberpräsidien und Regierungsvizepräsidenten), blieben nicht ohne Gegenwirkungen im Landtag und unter den Koalitionspartnern wie im Staatsministerium selbst. Die im großen und ganzen erfolgreiche Behauptung des Juristenmonopols aber sicherte, von den Oberpräsidenten abgesehen, einen unverhältnismäßig großen Anteil von Zentrum, DDP und DVP an der Stellenbesetzung gegenüber einem begrenzten Einfluß der SPD, der sich nur bei entschiedener Heranziehung von Außenseitern hätte verstärken lassen. Im ganzen herrschte schließlich, als Folge größerer Personalschübe, zuletzt nach dem Volksbegehren gegen den Young-Plan 1929, von dem noch zu sprechen sein wird, unter den Politischen Beamten ein entschieden zur Regierung haltender Typus vor. Einheitliche Auffassungen über staatspolitische Entscheidungen, aber auch einheitliche Beurteilungen dieses Weges dürften indessen nicht entstanden sein. 126 125 Oben, S. 317 ff., auch Anm. 86. Unvollständige, aber teilweise einander ergänzende Zahlenangaben für Preußen bei Fenske, Beamtentum, S. 129 (für 1929), und Runge, Politik und Beamtentum, S. 121 f., 134 (1920), 145 f. (1926), 156 (1930); für 1928 Hans-Peter Ehni, Zum Parteienverhältnis in Preußen 1918 — 1932. Ein Beitrag zu Funktion und Arbeitsweise der Weimarer Koalitionsparteien, in: Archiv für Sozialgeschichte, 11 (1971), S. 251. 126 Nicht ohne Grund stellte der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Zweigert 1929 „eine gewisse Änderung des psychologischen Beamtentyps" fest. „Wir stehen hier in
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Die Folgen oder bewußt angestrebten Auswirkungen unter den anderen höheren Beamten innerhalb wie außerhalb der Ministerien blieben im ganzen doch unsicher. Die bevorzugte Beförderung solcher höherer Beamter, die sich enger an die regierenden Parteien angeschlossen oder deren Vertrauen gefunden hatten, wie die Umstände mancher Entlassungen riefen auch Aversionen hervor, die sich unter den jüngeren der höheren Beamten (Regierungsassessoren, -räten und Oberregierungsräten) ausbreiten konnten, die längere Zeit, bei unveränderten Bezügen, ohne Beförderung blieben. 127 Zu einem Teil wirkte sich hierin offenbar auch ein Generationenkonflikt aus, den die aus den Studenten- und Jugendorganisationen der ersten Nachkriegszeit Hervorgegangenen ebenso wie die jüngeren Kriegsteilnehmer empfanden, die sich den schon vor 1914 oder während des Krieges zum höheren Verwaltungsdienst Einberufenen gegenüber benachteiligt wähnten. Uneinheitlich, unsicher, teilweise sogar unangemessen erscheint die Behandlung von Beamten, die republikfeindlichen Organisationen angehörten oder solchen, die so oder ähnlich eingeschätzt wurden. 128 Unterschiedlich ging man auch in Preußen gegen Angehörige des Stahlhelms vor. Da einheitliche Richtlinien zur Behandlung dieser Fälle fehlten, hing viel, wenn nicht gar alles vom Ermessen des Behördenchefs ab, dessen Entscheidungen — soweit die Akten hierüber Auskunft geben — regeleiner Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist. ... Man kann aber doch sagen, daß der Typus sich wandelt ... Der Typ des Beamten, der das Volk als Objekt des Regierens ansah, ist im Aussterben, und wir wollen ihm nicht nachtrauern. Im Verschwinden ist auch der Typus des geschwollenen Beamten, der, durchdrungen von seiner Würde und vermeintlichen Machtfülle, sich als Achse der Welt fühlte und jeden Untergebenen und Besucher in benommener Ehrfurcht erstarren ließ. ... Der Aufstieg des Tüchtigen von unten wird sich freilich nicht im Handumdrehen vollziehen. ... Wo Licht ist, ist auch Schatten, und so kann ich auch an einer unerfreulichen Erscheinung im modernen Beamtentum nicht vorübergehen. Ich meine den Typ des politischen Strebers, des Helden der politischen Konjunktur. Er ist der Typ, der das, was ihm an fachlicher Tüchtigkeit fehlt, durch parteipolitische Gesinnungstüchtigkeit ersetzen will, ... Ich sage nichts gegen den gesunden Ehrgeiz, der durch Leistungen vorwärtsstrebt. ... Aber ich wende mich gegen den Typ, der nicht durch Leistungen, sondern durch die Parteizugehörigkeit vorwärtskommen will. Daß dieser Typus, der für das Berufsbeamtentum geradezu eine Gefahr ist, sich überhaupt entwickeln konnte, ist... zu einem nicht unerheblichen Teil von den Berufsbeamten selbst mitverschuldet. Er wäre nicht hochgekommen, wenn das Berufsbeamtentum sich früher zu der Staatsgesinnung bekannt hätte, die die deutsche Republik nun einmal für sich fordern kann und muß". Erich Zweigert, Der Beamte im neuen Deutschland, in: Volk und Reich der Deutschen, hrsg. von Bernhard Harms, II. Bd., Berlin 1929, S. 467 ff. 127 128
Runge, Politik und Beamtentum, S. 245 ff. Vorgänge GehStAB, Rep. 90/478.
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mäßig vom Staatsministerium gedeckt wurden; im übrigen tauschten die Ressortchefs untereinander Mitteilungen und Zeitungsausschnitte aus über politische Vorkommnisse und über Persönlichkeiten, die radikale Einstellungen bezeugten. Auf Veranlassung der preußischen Ressortminister mußten etwa Beamte, die Mitglieder des „Kaiserlichen Yachtclubs" in Kiel waren, aus dieser an und für sich unpolitischen Vereinigung austreten, weil der Name Anstoß erregt hatte. Ähnliche Maßnahmen wurden hinsichtlich der Deutschen Adelsgenossenschaft vorbereitet, dann aber doch unterlassen. Scharfe Angriffe auf Stresemanns „Erfüllungspolitik" im „Adelsblatt" hatten Anlaß gegeben, die Frage der Loyalität von Beamten, die Mitglieder der Adelsgenossenschaft waren, aufzuwerfen. Doch sie wurde durch Entfernung des verantwortlichen Autors aus der Redaktion entschärft. Die Personalpolitik mußte sich innerhalb der Grenzen bewegen, die die vorherrschenden Rechtsauffassungen zogen. Daß hieraus auch Forderungen einer Opposition hergeleitet werden konnten, mag hier das Beispiel eines Schreibens des Adelsmarschalls der Deutschen Adelsgenossenschaft (DAG) an den preußischen Innenminister illustrieren. 129 Die DAG hatte Funktionen einer Patronageorganisation übernommen, wurde aber auch als Wohlfahrtsverband für verarmte Adelige tätig. Der Adelsmarschall führte Beschwerde, daß die „adelige Jugend" wegen ihrer politischen Haltung Schwierigkeiten in ihrem Bemühen hätte, „dem Staat in dieser Notzeit zu dienen und damit unserer Tradition treu zu bleiben." Hierbei nahm er auch die politischen Freiheiten des Beamten in Anspruch: „Die Weimarer Verfassung gibt jedem Staatsbürger das Recht, an den Schäden des derzeitigen Systems Kritik zu üben und auf seine Änderung auf verfassungmäßigem Wege Einfluß zu nehmen." Der Briefschreiber berief sich darauf, daß dies auch einer Bestimmung in der Satzung der DAG zufolge „nur im Rahmen der bestehenden Gesetze angestrebt werden d a r f . Damit übernahm er nur die Auffassung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, das in einem Urteil von großer Tragweite die Klage eines aktiven Mitgliedes der Kommunistischen Partei gegen seine disziplinarisch verfügte Entlassung abgewiesen, im übrigen aber festgestellt hatte, daß „eine disziplinarische Bestrafung eines Beamten wegen des bloßen Bekenntnisses zu einer politischen Partei jedenfalls ausgeschlossen" sei. „Ein Dienstvergehen ... würde ein Beamter erst dann begehen, wenn er die Erreichung des auf gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staatsordnung gerichteten Zieles der Partei, 129
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Abschrift des Schreibens vom 15. Februar 1930, GehStAB, Rep. 90/478.
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III. Die „Große Koalition"
zu der er sich bekennt, durch positive Handlungen zu fördern versuchte." 130 Auf der Skala zwischen dem Bekenntnis zu einer radikalen Partei und der aktiven Förderung umstürzlerischer Handlungen lassen und ließen sich natürlich mehrere Möglichkeiten vorstellen. Die herrschende juristische Auffassung traf jedoch eine „scharfe Unterscheidung zwischen ,bloßem Bekenntnis' und .positiven Handlungen'" 131 , wobei das erste weiter, das zweite enger verstanden wurde. Innerhalb des Kreises dieser Entscheidungen und Auffassungen blieben auch die Erörterungen der folgenden Jahre, die dem Problem galten, die Zuverlässigkeit der Administration gegen untergrabende politische Einflüsse abzusichern. Doch die politischen Kräfteverhältnisse unterlagen gegen Ende der zwanziger Jahre einem Wandel, in dem sich neue und größere Gefahren ankündigten als zuvor. Schon vor dem Volksbegehren und der Agitation der radikalen Parteien der Rechten wie der Linken gegen den YoungPlan gingen dem preußischen Innenminister alarmierende Meldungen über lokale oder regionale Vorgänge der Radikalisierung der Beamtenschaft zu, in denen sich ein Fehlschlag der bis dahin verfolgten Beamtenpolitik abzuzeichnen schien. Auch wenn man die Zuverlässigkeit einiger Berichte, die schon die Gefahr der Bedrohung des Staates durch eine in großem Umfang aus der Beamtenschaft rekrutierte Bewegung an die Wand malten, mit den gebotenen Vorbehalten beurteilt, sind die Momente starker Beunruhigung nicht zu verkennen. 132 Im Gefolge heftiger Attak130 17. Oktober 1921; Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, 77. Bd., S. 495. Ähnlich in einer Entscheidung vom 17. Januar 1924 (ebenfalls gegen einen kommunistischen Beamten): „Die ... Freiheit der politischen Gesinnung enthält auch gegenüber verfassungswidrigen Zielen oder Mitteln keine Einschränkung. Auf der anderen Seite ist dann festzuhalten, daß die unmittelbare Beteiligung an Handlungen, die politische Parteiziele auf ungesetzlichem Wege zu verwirklichen suchen, mit der Bekleidung eines öffentlichen Amtes unvereinbar ist. Zwischen diesen beiden Formen der Gesinnungsäußerung sind zahlreiche Stufen politischer Betätigung denkbar, die über das bloße Bekenntnis zu einer Partei hinausgehen, ohne eine unmittelbare Teilnahme an gesetzwidrigen Handlungen darzustellen, vom Beitritte zur Partei und der üblichen Beitragszahlung bis zur agitorischen Wirksamkeit und leitenden Parteistellung." Entscheidungen OVG, 78. Bd., S. 455. 131 Im Ergebnis zustimmend Poetzsch-Heffter, Handkommentar, S. 438 f.; Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl. Berlin 1933 (ND Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968), S. 604 f., zahlreiche Literaturangaben S.602. 132 So übermittelte der Regierungspräsident in Magdeburg einen Bericht des dortigen Polizeipräsidenten Menzel vom 21. Februar 1929 über die Beteiligung von Beamten an Veranstaltungen radikalen Gepräges: „Es fallt auf, daß während der letzten Monate in
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ken gegen Politik und Politiker der Republik entstand für die Regierungen des Reiches wie der Länder ein neues gewichtiges Problem, da nun deutliche Anzeichen für die wachsenden Einflüsse auch radikaler Tendenzen auf Teile der Beamtenschaft sprachen, die von der Politisierung durch die Regierungsparteien nicht erfaßt worden waren. Preußen war nicht weniger, eher stärker betroffen als andere Länder und als die Reichsministerien. In juristischer Hinsicht ähnelte das Problem, das sich stellte, dem, das bei einem Verbot des Roten Frontkämpferbundes aufgetaucht war. Die deutschnationalen Reichsinnenminister Schiele und v. Keudell hatten es seit 1925 wiederholt verlangt; dies war jedoch auf den Widerstand der Länder gestoßen. Der preußische Innenminister Grzesinski warf die Argumente der Zweckmäßigkeit und der politischen Parität in die Waagschale, die die Gleichbehandlung mehrerer Rechtsorganisationen mit dem kommunistischen Bund verlangten. Nach bitteren Erfahrungen der SPD in Berlin im Frühjahr 1929 entschloß sich der preußische Innenminister aber doch zum Verbot des Roten Frontkämpferbundes. 133 In politischer Hinsicht wurde hierdurch die Situation jedoch nicht geklärt: Zwar gab es offiziell keinen Roten Frontkämpferbund mehr; doch unversehens war nun ein weit größerer Einfluß radikaler Tendenzen von rechts her auf die Beamtenschaft zum Diskussionsthema geworden.
zunehmendem Maße sich Beamte und zwar insbesondere solche der Justiz-, Finanz- und der Eisenbahnverwaltung an Veranstaltungen rechtsradikaler Organisationen beteiligen. Die Teilnehmer an den Versammlungen ζ. B. der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei rekrutieren sich zu etwa 80% aus diesen Beamtenkreisen; die Beteiligungsquote der übrigen Bevölkerungsschichten ist demgegenüber äußerst gering ... Es besteht keinerlei Grund, diese Beamten anders zu behandeln, als wenn sie die kommunistische Partei oder den Roten Frontkämpferbund förderten." Abschrift für den Preußischen Ministerpräsidenten GehStAB, Rep. 90/478. Ein Bild von der Aversion der Beamten gegen „Parteipolitik", die letztlich aber den Staat traf, vermittelt ein späterer ausführlicher Bericht des Landrates des Kreises Anklam (v. Philippsborn), 18. Dezember 1929, GehStAB, Rep. 84a/3147, größtenteils abgedruckt bei Runge, Politik und Beamtentum, S. 267—272. 133 Schuster, Der Rote Frontkämpferbund, S. 197 ff., 208 ff., 2 1 4 - 2 2 5 . Grzesinski erwog Anfang 1929 ein Verbot der KPD; Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Frankfurt 1969, Bd. I, S. 223 f.; ders. (Bearb.), Die Generallinie. Rundschreiben des Zentralkomitees der KPD an die Bezirke 1929 — 1933 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Dritte Reihe, Bd. 6), Düsseldorf 1981, S . l - 1 2 ; über den „Blutmai" 1929 und den RFB zusammenfassend jetzt Winkler, Schein der Normalität, S. 671—679, auch S. 455-459.
VIERZEHNTES
KAPITEL
Preußens Kurs gegen rechts Der bis in das Jahr 1932 hineinreichende und gelegentlich auch später wieder erneuerte, legendäre wie legendenhafte Ruf, den Otto Braun in großen Teilen der Mitglieder und Anhänger der SPD im nördlichen Deutschland besaß, gründete sich offenbar auf drei herausragende Momente: Er hatte eine lange Parteikarriere hinter sich; schon in jüngeren Jahren, erstmals 1895, war er als Parteitagsdelegierter, seit 1906 als Mitglied der Parteikontrollkommission, die von einer Gruppe linker Kritiker des Parteivorstandes beherrscht wurde, einem größeren Kreis bekannt geworden. 1911, auf dem Jenaer Parteitag, zugleich mit dem Reichstagsabgeordneten Philipp Scheidemann, doch mit größerer Stimmenzahl, in den Parteivorstand gewählt, stieg Braun im folgenden Jahre zum obersten Parteikassierer und gewissermaßen zum Finanz- und Verwaltungschef der Partei auf, noch ehe Friedrich Ebert — als Nachfolger August Bebels — zu einem der beiden Vorsitzenden der Partei gewählt wurde. Vor dem älteren Scheidemann, der nur noch auf Parteitagen und gelegentlich im Reichstag vor der Öffentlichkeit eine Rolle spielte, und neben dem vier Jahre jüngeren Reichskanzler Hermann Müller war Braun einer der in den Augen der Parteianhänger prominenten, herausragenden überlebenden Parteiführer aus Vorkriegs- und Kriegszeit, der seine Stellung stetig gefestigt hatte. Als preußischer Ministerpräsident, den die Landtagsmehrheit erstmals nach dem Kapp-Putsch, im März 1920 in dieses Amt wählte und — nach kurzen Zwischenspielen von Stegerwald, später von Marx — 1921 und 1925 wiederwählte, hatte er in den besten Jahren der Republik seiner Regierung das Ansehen von Stetigkeit und Festigkeit gegeben, das auch Teile des preußischen Beamtentums verbreiteten. Braun stand aber auch, dank seiner strikten Loyalität gegenüber engeren Mitarbeitern 134 , in dem Ruf eines ebenso unbeirrbaren wie menschlich zuverlässigen Staatschefs, wie wir ihn nennen dürfen. Diesen Ruf wußte er auch in Konflikten mit der Landtagsfraktion seiner Partei 134
Hierzu Schulze, Braun, S. 36 f.
Preußens Kurs gegen rechts
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zu verteidigen und weitgehend auch durchzuhalten, ohne daß er hierdurch seine Position, seine Macht oder sein Ansehen wirklich ernsthaft aufs Spiel setzte. Dieses Ansehen erscheint der sorgfaltigen Beobachtung erst nach und nach erwachsen, unter den schwierigen und eher prohibitiven Regierungsverhältnissen der Weimarer Republik, was auffallig war, zumal Braun seine zweite Wahl 1921 nur einigen Zufallen verdankte: der entschiedenen Abneigung der bürgerlichen Parteien, ihn erneut in dem umstrittenen Amt des Landwirtschaftsministers zu sehen, das er seit der Revolution innehatte und in das er zurückstrebte, dem Ausbleiben eines Gegenkandidaten und schließlich dem angeblichen Machtwort Stresemanns, daß Braun als Landwirtschaftsminister wohl „nicht annehmbar sei, daß er aber, auf das mehr formale und repräsentative Amt des Ministerpräsidenten beschränkt, zu tragen sei". 135 Dieser Bericht der Vossischen Zeitung mag richtig oder falsch, dürfte aber doch wohl der Auffassung, die Stresemann — nicht ohne Grund — hegte, in etwa nahegekommen sein. Auch die zweite Wiederwahl Brauns ergab sich aus einer Reihe von zufalligen Umständen, schließlich der Absage des vom Zentrum als neuen Kandidaten bezeichneten rheinischen Landeshauptmanns Horion, 136 der, bezeichnend genug, aus denselben Gründen ablehnte, mit denen Stresemann vier Jahre zuvor die Wahl Otto Brauns befürwortet hatte. Doch die Umstände des wiederholten Anfangs haben das Entstehen eines ganz anders gearteten Rufes nicht beeinträchtigen können, 137 der dann freilich das politische Ende um so weniger zu erklären vermag und nur Verblüffung übrig ließ. 138 Dieser Ruf beruhte wesentlich auf den Fähigkeiten und dem Erfolg Brauns als „Koalitionsführer", 139 was wesentlich mehr bedeutete, als nur Ministerpräsident einer Fraktion zu sein. Durch Braun und mit ihm lebte die Weimarer Koalition in Preußen, die äußerlich den Eindruck der Festigkeit vermittelte, solange sie bestand, schließlich gar die Vorstellung von einem „Bollwerk Preußen" innerhalb der Republik aufkommen ließ. Das dritte Moment, das zugunsten des Parteiprestiges Otto Brauns ins Gewicht fiel, war nun freilich von erheblicher, inner- wie außenpoliti135
a. a. O., S. 349.
136
Hömig, Zentrum, S. 128.
137
Ganz unter diesem Eindruck Möller, Parlamentarismus, in gewissem Umfang auch
Schulze, Braun, was im übrigen die wichtigste Arbeit zu diesem Themenkreis bleibt. Kritisch Ehni, Bollwerk Preußen? 138
Schulze, Braun, S . 3 7 f .
139
Ehni, Bollwerk, S. 30.
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III. Die „Große Koalition"
scher, womöglich brisanter Bedeutung für die Parteianhänger, soweit sie von einem — gerade in den zwanziger Jahren realiter höchst prekären — „Primat der Innenpolitik" überzeugt waren. Tatsächlich war dies eine primär innerpolitisch relevante und nach innerpolitischen Kriterien beurteilte Frage: das Verhältnis zur Reichswehr, zu ihren im Hintergrunde wirksamen Einflüssen wie zu den in Verbindung zu ihr stehenden politischen und quasimilitärischen Verbänden. Die lange Geschichte der Entwaffnung nach dem Friedensvertrag und der Auflösung von Wehrund Selbstschutzverbänden hatte mehr als nur einige Restbestände in militanten Hilfsorganisationen großer Parteien zurückgelassen, die sich in der kurzen historischen Spanne von weniger als einem Jahrzehnt nicht eliminieren, auflösen oder aufsaugen ließen und der Reichswehr ein innerpolitisches Problem aufluden, das sie nicht akzeptieren, aber auch nicht ohne weiteres abweisen konnte. Hierbei spielten schließlich ihre Beziehungen zu dem größten politisierten quasimilitärischen Wehrverband, dem Stahlhelm, eine wesentliche Rolle. Zu den Traditionselementen der SPD, die Otto Braun wie eine Art Essenz sozialdemokratischer Programmatik aus der Vorkriegszeit entschieden zu bewahren versuchte, zählte der hochempfindliche Antimilitarismus der großen Arbeiterpartei, der nach dem ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreichte und der jegliche Gefährdung politischer Zustände von der militärischen Macht befürchtete. Otto Braun erschien nach den Wechsel vollen Anfangs] ahren der Republik als der führende und einflußreiche Politiker, der genug Entschlossenheit an den Tag legte, gegen derartige Gefährdungen den Kampf aufzunehmen. Hieraus erwuchsen wiederholt Gegensätze, hart wie hartnäckig ausgetragene Auseinandersetzungen zwischen dem preußischen Ministerpräsidenten und dem Reichswehrministerium, die um so denkwürdiger erscheinen, als sich Otto Braun wiederholt als sensibler Politiker zeigte, der über ein ausgeprägtes Empfindungsvermögen für die Möglichkeiten und Handhabungen, aber auch die Grenzen der Macht verfügte. Während der sich zuspitzenden Herbstkrise 1923 hatte er als der erste Ministerpräsident in einer Besprechung mit Reichskanzler Stresemann schon am 25. September 1923 den Rat erteilt, die Beendigung des Widerstandes im Ruhrgebiet, angesichts der zu erwartenden Beunruhigung im ganzen Reichsgebiet, mit der Verhängung des Ausnahmezustandes zu verknüpfen, 140 was nur unter Einsatz der militärischen Macht möglich war. Stresemann wollte 140 Akten der Reichskanzlei: Die Kabinette Stresemann, bearb. von K. D. Erdmann und Martin Vogt, Boppard, 1978, Bd.I, S.351.
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sich hierzu nicht entschließen, sah sich aber durch das eigenwillige Vorgehen der bayerischen Regierung gezwungen, diesen Schritt zu tun. 141 Als Ende April 1925 aus der Wahl des zweiten Reichspräsidenten im zweiten Wahlgang Generalfeldmarschall v. Hindenburg hervorging, 142 erschien dies in den Augen der Linken als großes Unglück. Als einstiger Chef der III. Obersten Heeresleitung, zuletzt an der Spitze einer militärischen Kriegsdiktatur, schien er all das zu verkörpern, was die heftig bekämpften Epigonen und Überreste einer dahingegangenen Oberschicht der Monarchie repräsentierte: tradiertes Soldatentum ohne politischen Sinn, militärisch gebundenes Denken und entsprechende Interessenwahrnehmung, ostdeutsches adeliges Junkertum schärfster und zugleich anspruchlosester preußischer Ausprägung mit deutlich entwickeltem Sinn für Macht und geringer intellektueller Kraft, ideenarm und in engem Bildungshorizont befangen. Dies konnte wohl Verantwortung tragende Politiker der Sozialdemokratie in Verlegenheit bringen. Da Hindenburg sich in einigen Kreisen aber immer noch auf eine beträchtliche Popularität stützen konnte, was beharrlich und systematisch ausgebaut wurde, und ihm eine unbestreitbare Würde eignete, die ihm in seinem hohen Alter eine im äußerlichen schwerlich überbietbare Eignung für sein Amt zu sichern schien, und da dies bei vielen Gelegenheiten, da sich der einstige Oberbefehlshaber auch in feierlichem Zivil würdevoll, doch umgänglich und in tadelloser Manier zu geben wußte, der Bevölkerung eindrücklich vorgeführt wurde und die herrschenden Vorstellungen beeinflußte, erschien Hindenburg manchen bald auch wie ein moralischer Sieger nach den inneren Auseinandersetzungen, Wirren und Wahlkämpfen der letzten beiden Jahre, was die Verlegenheiten seiner Gegner aus Gesinnung und Prinzip nicht minderte. 141 Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, I, S. 421 ff.; die Aktenedition: Das Krisenjahr 1923. Militär und Innenpolitik 1922—1924, bearb. von Heinz Hütten (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Zweite Reihe: Militär und Politik, Bd. 4), Düsseldorf 1980. 142 Hindenburg erhielt am 26. April 1925 gegenüber zwei Gegenkandidaten (Marx und Thälmann) mit 48,3% der abgegebenen gültigen Stimmen die — im zweiten Wahlgang ausreichende — relative Mehrheit. Im ersten Wahlgang am 29. März kandidierten Jarres (DVP, Oberbürgermeister von Duisburg, ehemaliger Reichsinnenminister), Braun, Marx, Hellpach (DDP, badischer Staatspräsident und Kultusminister), der bayerische Ministerpräsident Held, Thälmann und der ehemalige General Ludendorff, von denen keiner die vorgeschriebene absolute Mehrheit erreichte. Bei relativ niedriger Wahlbeteiligung (68,5% der Wahlberechtigten) gewann Braun den zweithöchsten Stimmenanteil, 29%). Eingehende Darstellung zur Reichspräsidentenwahl jetzt bei Winkler, Schein der Normalität, S. 2 3 4 - 2 4 5 .
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III. Die „Große Koalition"
Otto Braun, kurz nach seiner Wiederwahl zum preußischen Ministerpräsidenten, reagierte ebenso heftig wie kleinlich und schien zunächst der steten Neigung der Sozialdemokraten zur agitatorischen Darstellung einer entschiedenen Unterschätzung ihrer erklärten Gegner nachzugeben. Er verbot die Beflaggung preußischer Amtsgebäude aus Anlaß und Ankunft und der Amtsübernahme des neuen Staatsoberhauptes in Berlin und unterband durch ein eigens zu diesem Zweck getroffenes Abkommen mit dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold dessen Beteiligung an den Veranstaltungen republikanischer Verbände wie allen Feierlichkeiten zu Ehren des neuen Reichspräsidenten. 143 Braun trug mithin allen Animositäten der Linken gegen den von rechts her inaugurierten Reichspräsidenten uneingeschränkt Rechnung. Rücksichten auf das Amt oder gar die Eigenarten der Persönlichkeit spielten keine Rolle in seinen Reaktionen und Erwägungen. Offenkundig hat Otto Braun nicht nur „mit dem Abbruch der Beziehungen zwischen den beiden Seiten der Wilhelmstraße" gerechnet, 144 sondern diesen Bruch in Kauf nehmen, wenn nicht gar herbeiführen wollen. Doch infolge der weithin reichenden Anerkennung der Autorität des Reichspräsidenten, seiner sicheren Behandlung auch der engagiertesten Gegner und seines offensichtlich steigenden Ansehens in der Bevölkerung trat unter den sozialdemokratischen Führern alsbald ein neuer Effekt ein, der sie gegenüber der Persönlichkeit Hindenburgs versöhnlich stimmte und sich mit ihm abfinden ließ. Es mag offen bleiben, ob neue Hoffnungen in diesen Mann an der Spitze des Reiches gesetzt wurden oder ob lediglich seine Stetigkeit und das äußerliche Ansehen der Art seiner Amtsführung imponierte. Natürlich veränderten sich weder Erscheinung noch Persönlichkeit Hindenburgs im Reichspräsidentenamt; doch die sozialdemokratische Agitation gegen sein erfolgreiches Hervortreten bei der Wahl und danach milderte sich und schwand allmählich, machte schließlich sogar, wie Otto Braun von sich aus bezeugte, einem illusionären Euphemismus Platz, führte auch zu Versuchen der politischen Inanspruchnahme Hindenburgs innerhalb der beobachteten Usancen der Republik. 145 Fabeln aus diesem 143 144 145
Vgl. Schulze, Braun, S. 488. Ebda.
Eine relative Gemeinsamkeit auf höchst provinzieller Ebene der Vorstellungen von Braun und Hindenburg beschreibt Schulze, a.a.O., S.489ff., ohne die stärkere, resistente Natur des Reichspräsidenten zu erkennen. Die Legende von „persönlichen Beziehungen" und „Zechgelagen" Brauns mit Hindenburg entsprang wohl einer höchst einseitigen Sicht und Urteilsweise, die wenig zur Erklärung der weiteren Entwicklung beiträgt. Offenbar
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Bereich brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Was sie überliefern, hat offenbar Hindenburg nie entscheidend beeinflußt, vielleicht noch nicht einmal die Peripherie seines Charakters berührt. Anderseits dürften sie manche Illusionen und manche späteren Fehleinschätzungen der Person des Reichspräsidenten erklären. Allerdings erkannte Braun doch bald in seiner nüchternen, klaren, der des Reichspräsidenten in manchem doch ähnlichen oder gar wahlverwandten Auffassung, daß zwar Beziehungen, aber keine Annäherungen zwischen Hindenburg und ihm möglich seien. 146 Anderseits dürfte er sich aber allzu leicht darüber hinweggesetzt haben, daß für altpreußisch gesinnte Konservative, die sich für die treuesten Diener ihres Staates hielten — für viel staatstreuer als die neuen Herren der nachrevolutionären Regierungen —, zu denen auch Hindenburg selbst zählte, der Gedanke unerträglich schien, daß sich in der Hauptstadt, dem von vielen Seiten heftig gescholtenen Berlin — in dem auch und zuerst von den Anhängern der Vorkriegsordnung in allen seinen Neuerungen verachteten Berlin jede politische Regung unter den Augen einer Verwaltung mit einem Regierungschef geschah, der eigentlich einem Staatschef eigener Legitimation ähnelte und im Besitze einer großen und entscheidenden Macht schien, über die man selbst Herr sein wollte. Dies erklärt das wahrhaft unangemessene, nicht nur bösartige, sondern profund polemisch gemeinte, aber geläufig gewordene Schlagwort, das den Ministerpräsidenten Braun zum „Roten Zaren von Preußen" erhob. 147 Daß der Reichspräsident in seiner verfassungsrechtlichen Position auch die Aufmerksamkeit nationalistischer Ultras, alldeutscher, an dem idolisierten Kriegsbild eines mächtigen Hindenburg orientierter Kreise auf sich zog, erscheint ebensowenig verwunderlich wie die neue Regsamkeit alsbald weit um sich greifender konservativer, antirepublikanischer und neokonservativer Stimmungen und Strömungen. Doch der erste, übers Knie gebrochene Versuch des preußischen Ministerpräsidenten, entwickelte Braun seine Fähigkeit eher als andere Politiker der Republik, „als Ostpreuße und begeisterter Jäger" den Reichspräsidenten anzusprechen und zu beeindrucken. So, in gebotener Zurückhaltung, Dorpalen, Hindenburg, S. 129. 14