Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland 9783848757442, 9783845299075


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German Pages 353 [351] Year 2019

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Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland
 9783848757442, 9783845299075

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Maximilian Fuhrmann

Antiextremismus und wehrhafte Demokratie Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland

Nomos

Diese Publikation wurde gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Bremen, Univ., Diss., 2018 ISBN 978-3-8487-5744-2 (Print) ISBN 978-3-8452-9907-5 (ePDF)

1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

Dieses Buch ist eine leicht veränderte Fassung meiner Dissertation, die ich 2018 an der Universität Bremen abgeschlossen habe. Dies wäre ohne Martin Nonhoff, der mich gleich nach unserem ersten persönlichen Treffen als Doktorand angenommen hat, nicht möglich gewesen. Ihm danke ich für die unkomplizierte und sehr verbindliche Betreuung meiner Arbeit. Mein Dank geht ebenso an Sebastian Haunss, der als Zweibetreuer immer ansprechbar war. Ich danke der Hans-Böckler-Stiftung für das Promotionsstipendium und die damit verbundene materielle und immaterielle Förderung. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines Prozesses in dem mich viele Menschen auf verschiedene Art und Weise unterstützt haben. Ich danke Martin Hünemann für die zahlreichen Diskussionen über den Sinn und Unsinn des Extremismuskonzepts, Martin Silbermann für das beeindruckend akribische Lektorat, Mathis Eckelmann für die zahlreichen Anmerkungen zu meinen Manuskript und Carolin Küppers. Sie versteht es wie keine Zweite Texte zu strukturieren und ebenso kritisch wie konstruktiv zu lesen. Ganz herzlich danke ich meinen Eltern für die Finanzierung meines Studiums, auch wenn lange weder mir noch ihnen klar war, wohin die berufliche Reise geht. Viele wichtige Anregungen für dieses Buch erhielt ich von den Teilnehmer_innen des Kolloquiums der politischen Theorie in Bremen, von den Kolleg_innen aus der Mikro-AG Kritische Extremismusforschung und anderen Promovierenden der Hans-Böckler-Stiftung. Außerdem danke ich allen Freund_innen, die auf unterschiedliche Weise Anteil am Fortschritt der Arbeit genommen haben, auch wenn ich hier nicht alle namentlich nennen kann.

5

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

11

Abkürzungsverzeichnis

13

1.

Einleitung

15

2.

Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

25

2.1 Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 2.1.1 Gesellschaft als unabschließbar Diskursives 2.1.2 Stabilisierung und Wandel von Sinn 2.1.3 Hegemoniale Praxis 2.2 Von der Hegemonietheorie zur Hegemonieanalyse 2.3 Hegemonien zweiter Ebene – Deutungskämpfe um Demokratie 3.

26 26 30 32 40 48

Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen 53

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus – Kontext und Identifikation der Analysephasen 3.1.1 Herausbildung des antitotalitären Selbstverständnisses der Bundesrepublik (1945–1952) 3.1.2 Stabilisierung des antitotalitären Konsens (1953–1965) 3.1.3 Liberalisierung und erneuerte Grenzziehung (1966–1972) 3.1.4 Terrorismus und Neue Soziale Bewegungen (1973–1982) 3.1.5 Verschiebungen in der politischen Kultur (1983–1989) 3.1.6 Beitritt der DDR und neue innenpolitische Herausforderungen (1990–1997) 3.1.7 Rechtsextremismus im Fokus (1998–2009) 3.1.8 Antiextremismus und ›Durchmarsch von rechts‹ (2010– 2017) 3.1.9 Identifikation der Analysephasen 3.2 Quellenauswahl 3.2.1 Erste Analysephase (1950–1952) 3.2.2 Zweite Analysephase (1972–1975)

53 54 61 64 67 69 71 73 75 77 80 80 82 7

Inhaltsverzeichnis

3.2.3 Dritte Analysephase (2000–2017) 3.3 Methodisches Vorgehen 3.3.1 Typen diskursiver Relationen 3.3.2 Identifikation hegemonialer Strategeme

84 85 85 86

4.

Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie – Vorphase

91

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Zum Begriff der wehrhaften Demokratie Deutungen über das Scheitern der Weimarer Republik Bedeutung der Demokratie in den Landesverfassungen Bedeutung der Demokratie im Grundgesetz Erstes Sediment: Wehrhaftigkeit nach unten

92 94 95 97 100

5.

Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

105

5.1 Die antifaschistische, sozialistische Demokratie – ein anderer Ansatz 5.2 Die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie – ein hegemoniales Projekt 5.3 Eintritt der SPD in die Diskurskoalition 5.4 Verfassungsgrundsätze im ersten Strafrechtsänderungsgesetz 5.5 Eintritt des Bundesverfassungsgerichts in die Diskurskoalition 5.6 Einordnung 5.6.1 Zweites Sediment: Antitotalitärer Konsens 5.6.2 Hegemonietheoretische Einordnung

112 120 123 126 130 131 131

6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

135

6.1 Institutionen politischer Kontrolle 6.1.1 Politische Justiz 6.1.2 Verfassungsschutz 6.1.3 Staatliche politische Bildung 6.2 Wissenschaft: Totalitarismusforschung 6.2.1 Herrschaftsstruktureller Ansatz 6.2.2 Genealogischer Ansatz 6.2.3 Reflexiver Ansatz 6.2.4 Wissenschaft und antitotalitäre, wehrhaften Demokratie 6.2.5 Rezeption der Totalitarismusansätze in den 1950er und 1960er Jahren Exkurs: Die kurze Renaissance der Totalitarismusforschung

136 136 141 145 148 149 152 153 155

8

106

157 158

Inhaltsverzeichnis

6.3 Einordnung 7.

Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

160

163

7.1 Risse in der Hegemonie 7.2 Konservative Vernähungsstrategie 7.2.1 Die Strategie der Systemüberwindung 7.2.2 Die Position von CDU und CSU 7.2.3 Eigentliche Bedeutung von Demokratie 7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie 7.3.1 Diskussion um den Radikalenerlass 7.3.2 Rolle des Verfassungsschutzes 7.3.3 Eigentliche Bedeutung von Demokratie 7.4 Einordnung 7.4.1 Drittes Sediment: Antiextremismus 7.4.2 Hegemonietheoretische Einordnung

164 166 166 171 176 177 178 187 191 192 192 194

8.

Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

197

8.1 Institutionen politischer Kontrolle 8.1.1 Politische Justiz 8.1.2 Verfassungsschutz 8.1.3 Staatliche politische Bildung 8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung 8.2.1 Radikalismusforschung 8.2.2 Wehrhafte Demokratie in der Diskussion 8.2.3 Radikalismus oder Extremismus? 8.2.4 Prämissen der normativen Extremismusforschung 8.2.5 Demokratie und Extremismus – ein antithetisches Begriffspaar? 8.2.6 Das Postulat der Äquidistanz 8.2.7 Extremismus der Mitte 8.2.8 Totalitarismus- und Extremismusforschung 8.3 Einordung 8.3.1 (De-)Stabilisierung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie 8.3.2 Hegemonietheoretische Einordnung

198 198 201 205 206 207 214 218 220 229 235 250 256 258 258 259

9

Inhaltsverzeichnis

9.

Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

9.1 Übersicht staatlich geförderter Präventionsprogramme 9.2 Rechtsextremismusprävention seit 2001 9.2.1 Forderung nach Extremismusprävention 9.2.2 Forderung nach Rechtsextremismusprävention 9.2.3 Zusammenfassung 9.3 Umstrittene Weiterführung der Rechtsextremismusprävention 2006/2007 9.3.1 Diskussion um die Ausweitung auf weitere Extremismusformen 9.3.2 Diskussion um Rechtsextremismus 9.3.3 Zusammenfassung 9.4 Durchbruch der Extremismusprävention 2010 9.4.1 Maßnahmen der Extremismusprävention 9.4.2 Kritik an der Extremismusprävention vor ihrer Implementierung 9.4.3 Kritik an der Extremismusprävention nach ihrer Implementierung 9.4.4 Diskussionen um die Demokratieerklärung 9.4.5 Zusammenfassung 9.5 Abkehr von der Extremismusprävention? 9.6 Einordung 9.6.1 Der Streit geht weiter 9.6.2 Hegemonietheoretische Einordung

263 264 267 267 268 270 271 272 274 276 277 278 279 280 283 286 287 289 290 291

10. Fazit

293

Literaturverzeichnis

311

10

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: offensiv-hegemoniale Strategeme nach Nonhoff

41

Abbildung 2: offensiv-hegemoniale Strategeme, eigene Darstellung nach Wullweber

44

Abbildung 3: offensiv-hegemoniale Strategeme, eigene Darstellung nach Herschinger

46

Abbildung 4: offensiv-hegemoniale Strategeme zweiter Ebene, eigene Darstellung

49

Abbildung 5: Ausschnitt der Strukturierung des Diskurses um die politische Ordnung der BRD 1952, eigene Darstellung

132

Abbildung 6: Ausschnitt der Strukturierung des Diskurses um die politische Ordnung der BRD 1975, eigene Darstellung

195

Abbildung 7: Hufeisen-Schema, eigene Darstellung nach Backes

225

Abbildung 8: Koordinaten des politischen Raums, eigene Darstellung nach Bobbio

227

Abbildung 9: Verhältnis von Negativ- und Positivdefinition eigene Darstellung

234

Abbildung 10: Gegenstandsbereich von Rechts- und ›Linksextremismus‹ im politischen Raum eigene Darstellung

242

Abbildung 11: Übersicht zu den aufgelegten Präventionsprogrammen im Verantwortungsbereich des BMFSFJ, eigene Darstellung

266

Abbildung 12: Ausschnitt der Strukturierung des Diskurses um die politische Ordnung der BRD 2018, eigene Darstellung

297

Abbildung 13: Anknüpfungspunkte zur Dekonstruktion der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie, eigene Darstellung

307

11

Abkürzungsverzeichnis

131er Gesetz AfD AgAG AHK APuZ BBG BEG BfDT BfH BfV BMAS BMFSFJ BMI BpB BRD BVerfG BVerfGE BVerfSchG DDR DGB DJI DRP DVU FAP fdGO GETZ GG GMF Grüne GTAZ HChE

Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen Alternative für Deutschland Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt Alliierte Hohe Kommission Aus Politik und Zeitgeschichte Bundesbeamtengesetz Bundesentschädigungsgesetz Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt Bundeszentrale für Heimatdienst Bundesamt für Verfassungsschutz Bundesministerium für Arbeit und Soziales Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium des Innern Bundeszentrale für politische Bildung Bundesrepublik Deutschland Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheid Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsches Jugendinstitut e. V. Deutsche Reichspartei Deutsche Volksunion Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei freiheitliche demokratische Grundordnung Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum Grundgesetz Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Bündnis 90/Die Grünen Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948

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Abkürzungsverzeichnis IDS JfTD

Initiative Demokratie stärken Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus kfD kompetent. für Demokratie KPD Kommunistische Partei Deutschlands LfV Landesamt für Verfassungsschutz Linke Partei Die Linke NATO Nordatlantisches Verteidigungsbündnis NEIS Niedersächsische Extremismus-Informationsstelle NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NSB Neue Soziale Bewegungen NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSU Nationalsozialistischer Untergrund PDS Partei des Demokratischen Sozialismus PEGIDA Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes PMK Politisch motivierte Kriminalität RAF Rote Armee Fraktion RCDS Ring Christlich-Demokratischer Studenten SA Sturmabteilung SBZ Sowjetische Besatzungszone SDS Sozialistischer Deutscher Studentenbund SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland SRP Sozialistische Reichspartei StÄG Strafrechtsänderungsgesetz TFKS Toleranz fördern. Kompetenz stärken VerfSchutzÄndG Änderungen zum Bundesverfassungsschutzgesetz Vielfalt Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie VS Verfassungsschutz VVN-BdA Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten WASG Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit ZdT Zusammenhalt durch Teilhabe

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1.

Einleitung

Die Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 schockierte die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Sie löste eine Debatte über Rechtsextremismus, über Mängel in der Sicherheitsarchitektur und über die Verbreitung rassistischer Stereotype in den Sicherheitsbehörden aus. Da selbst Beobachter_innen1 der rechten Szene aus Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und dem Verfassungsschutz ein solches Ausmaß des Rechtsterrorismus nicht vermutet hatten, taten sie sich mit der Einordnung des NSU schwer. Im Januar 2012 schrieb der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Niedersachsen, Udo Baron, in der Zeitschrift Die politische Meinung, herausgegeben von der Konrad-AdenauerStiftung, einen Artikel zu der Frage An der Schwelle zum Linksterrorismus?. Er befürchtete, das Bekanntwerden des NSU könne zu einer Radikalisierung des ›Linksextremismus‹2 führen und forderte: Gerade in einer momentan sicherheitspolitisch höchst sensiblen Situation bedarf es erst recht des Blickes auch nach ›links‹, um zu verhindern, dass Entwicklungen erst wahrgenommen werden, wenn das Kind bereits in den berühmten Brunnen gefallen ist. (Baron 2012: 58)

Der Bundesfachausschuss Innenpolitik und Integration der CDU veröffentlichte anlässlich des Jahrestags der NSU-Selbstenttarnung eine Erklärung mit dem Titel Für eine wehrhafte Demokratie – Extremismus und Gewalt konsequent bekämpfen!. Darin fordern die Autor_innen neben Rechtsextremismus auch andere Formen des Extremismus im Blick zu behalten. So dürfe »Deutschland kein Operations- und Rückzugsraum für den gewaltbereiten Salafismus werden« (CDU 2012: 3). Auch die Extremismusforscher Uwe Backes, Alexander Gallus und Eckhard Jesse setzten sich in ihrem Vorwort für das Jahrbuch Extremismus & Demokratie 2013 mit dem NSU auseinander. Sie brachten ihren Wunsch zum Ausdruck, ____________________ 1 2

Ich verwende den Gender Gab, um Frauen, Männer und alle weiteren Geschlechter gleichermaßen anzusprechen. Ich setze den Begriff ›Linksextremismus‹ durchgehend in einfache Anführungszeichen, da ihm – im Gegensatz zu den anderen Unterkategorien des Extremismusbegriffs – kein konsistentes soziales Phänomen zugeordnet werden kann. Ich werde dieses Argument in Kapitel 8.2.6 ausführen.

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1. Einleitung die NSU-Diskussion gäbe Anstöße für die Entwicklung neuer Forschungsprojekte. Diese sollten sich nicht auf einzelne Akteure konzentrieren, sondern der Gewaltdynamik stärkere Beachtung schenken, wie sie aus der Wechselwirkung und den Interaktionen extremistischer Szenen entsteht. Besondere Beachtung verdient die oft vernachlässigte Konfrontationsgewalt zwischen ›rechts‹ und ›links‹ motivierten Gewalttätern. (Backes u. a. 2013: 7–8)

In diesen Zitaten zeichnet sich eine spezifische Verarbeitung der NSUMordserie ab. Sie bedient sich eines Deutungsmusters das in der politischen Debatte als Extremismuskonzept, -modell, -theorie, -doktrin, -formel, -ansatz oder -paradigma bezeichnet wird. Auffällig ist dabei die Entkoppelung der formulierten Forderungen von dem auslösenden Ereignis. Das Ereignis ist eine rassistisch motivierte Mordserie, verübt von bekennenden Neonazis. Davon ausgehend schlagen die genannten Autor_innen eine Brücke zur Forderung nach mehr Forschungsprojekten zu Konfrontationsgewalt, warnen vor gewaltbereitem Salafismus und mahnen an, ›Linksextremismus‹ bedürfe einer scharfen Beobachtung. Strukturelle Reformen im Sicherheitsapparat werden ebenso wenig gefordert wie Forschungsprojekte oder Präventionsstrategien, die sich auf Rechtsextremismus konzentrieren: Forderungen, die anlässlich des Ereignisses auf der Hand lägen. Meine Arbeit ist durch eine kritische Distanz zum skizzierten Deutungsmuster motiviert. Meine These ist, dass es Fehldeutungen politischer Ereignisse provoziert und ein eingeschränktes Verständnis von Demokratie impliziert, was ich in der vorliegenden Arbeit herausarbeiten werde. Zudem ist mein Ziel zu rekonstruieren, wie sich dieses Deutungsmuster in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) so erfolgreich durchsetzen konnte. Dabei ist zentral, dass diese Durchsetzung nur durch bestimmte Entscheidungen möglich war, die in einem spezifischen historischen Kontext getroffen wurden. Mit der Rekonstruktion sollen diese Entscheidungen offen gelegt und damit wieder zugänglich gemacht werden, um sie in einem veränderten historischen Kontext erneut zur Debatte zu stellen. Somit ist die Rekonstruktion des Deutungsmusters ein möglicher erster Schritt zu seiner Dekonstruktion. Dem Deutungsmuster liegt die Annahme zugrunde, dass alle Formen des Extremismus die Demokratie gleichermaßen gefährdeten und es nicht angängig sei, »unter dem Gesichtspunkt der Abwehrbereitschaft [...] eine Differenzierung vorzunehmen« (Jesse 2013a: 510). So werden mittels der Unterkategorien ›Linksextremismus‹, Rechtsextremismus und Islamismus sehr verschiedene Phänomene unter dem Extremismusbegriff subsummiert. Dieser umfasst all jene Strömungen, die als nicht-demokratisch gelten und ist dadurch »zu einer Schlüsselkategorie im politischen System 16

1. Einleitung

der Bundesrepublik geworden« (Kraushaar 1994b: 19). Die Bezeichnung extremistisch wird von den so Bezeichneten nicht selbst gewählt, sondern ist stets eine Kategorisierung von außen, die in der politischen Auseinandersetzung häufig stigmatisierend wirkt. »Wer in der Bundesrepublik als politischer ›Extremist‹ qualifiziert wird, scheidet aus dem öffentlichen Diskurs aus und hat mit Sanktionen vielfältigster Art zu rechnen.« (Jaschke 1991: 109). Diese zentrale Stellung kommt dem Begriff maßgeblich durch die bereits im Grundgesetz festgeschriebene Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie zu. Eine wehrhafte Demokratie erlaubt Sanktionen gegen sogenannte Feinde der Demokratie präventiv zu ergreifen, also bevor sie Gewalt anwenden oder dazu aufrufen. Dadurch ist in einer wehrhaften Demokratie elementar demokratiefeindliche Ziele frühzeitig zu identifizieren, um sie präventiv bekämpfen zu können. Sie hat »den eindeutig identifizierbaren Feind des freiheitlichen Verfassungsstaates im Visier« (Kielmansegg 1979: 59). Die Bestimmung dieses Feindes erfolgt durch das Extremismuskonzept, das verspricht, eine exakte Grenze zwischen der Demokratie und ihren Feinden zu ziehen. Wehrhaftigkeit und die Ausgrenzung aller Formen des Extremismus sind also miteinander verwoben, weswegen ich das einleitend vorgestellte Deutungsmuster im Folgenden als antiextremistische, wehrhafte Demokratie bezeichne. Sie definiert gleichsam die Grenze der Demokratie und legt fest, welche Konsequenzen deren Überschreitung zur Folge hat. Sie ist in zahlreichen Gesetzen festgeschrieben, ist handlungsleitend für Behörden und wird von einer breiten Koalition politischer Akteur_innen vertreten. Die Unterscheidung zwischen einer demokratischen Mitte und extremistischen Rändern beherrscht mediale und politische Debatten. Gegenstand meiner Rekonstruktion ist also nicht ein beliebiges politisches Deutungsmuster, sondern das politische Selbstverständnis der BRD. Die Geschichte der BRD und ihres politischen Systems sind bereits ausführlich erforscht.3 Einen Fokus auf die Beschreibung der wehrhaften Demokratie und ihre Anwendung legt dabei vor allem die normative Extremismusforschung (u. a. Backes und Jesse 1996; Gerlach 2012; Flümann 2015b). Zahlreiche Arbeiten dieses Forschungszweigs beschäftigen sich zudem mit der Frage, welche Strömungen als extremistisch klassifiziert werden können und wie sich diese Strömungen zueinander verhalten (u. a. Backes und Jesse 2005b). Dieselben Autor_innen untersuchen die histori____________________ 3

Die im Folgenden genannten Werke werden in Kapitel 4 und 8.2 ausführlich diskutiert, weswegen ihre Darstellung hier knapp ausfällt.

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1. Einleitung

schen Grundlagen der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie und stellen dabei einen systematischen Zusammenhang zwischen Wehrhaftigkeit und Antiextremismus her. Diese Rekonstruktionen führen in der Konsequenz jedoch durchwegs zu einer Affirmation des vorherrschenden Deutungsmusters (u. a. Backes und Jesse 1993b; Backes 2006). Wissenschaftliche Arbeiten, die eine Kritik an der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie formulieren, lassen den systematischen Zusammenhang zwischen Wehrhaftigkeit und Antiextremismus meist unterbeleuchtet. Entweder fokussieren sie auf eine Kritik an der wehrhaften Demokratie und deren Instrumente, oder sie kritisieren die gegenwärtige Bestimmung des Extremismusbegriffs und problematisieren die Grenzziehung zwischen dem was als demokratisch und dem was als antidemokratisch gilt. Dies liegt maßgeblich darin begründet, dass sich die Konzepte zu unterschiedlichen Zeiten durchsetzten und eine solche Ungleichzeitigkeit auch in der Kritik festzustellen ist. Das Konzept der wehrhaften Demokratie bestimmt die politische Ordnung der BRD von Beginn an, ist von Beginn an im Grundgesetz verankert und wurde in den Folgejahren weiter ausgebaut. Die meisten kritischen Auseinandersetzung mit diesem Konzept erschienen in direkter Folge zum Radikalenerlass von 1972 (u. a. Bulla 1973; Preuß 1973; Abendroth 1975; Maus 1976; Denninger 1977a, 1977b; Lautner 1978). Von den wenigen Untersuchungen der letzten 30 Jahre (u. a. Leggewie und Meier 1995; Ullrich 2009; Rigoll 2013) rekonstruieren Hans-Gerd Jaschke (1991) und Sarah Schulz (2017) die Bedeutung der wehrhaften Demokratie aus politikwissenschaftlicher Sicht. Jaschke kritisiert in seiner bereits etwas länger zurückliegenden Arbeit den zunehmend repressiven Charakter der wehrhaften Demokratie. Er fordert einen Fokus auf die geistige Auseinandersetzung mit den Feinden der Demokratie, ohne das Konzept der Wehrhaftigkeit prinzipiell abzulehnen. Seine Rekonstruktion veranschaulicht er anhand mehrerer Institutionen, die mit der Auslegung der wehrhaften Demokratie vertraut sind. Schulz analysiert die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie im Grundgesetz und den ersten Jahren der BRD anhand umfangreicher juristischer, geschichts- und politikwissenschaftlicher Quellen. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie diese Entscheidung politisches Handeln in der BRD beein flusst, und arbeitet heraus, inwiefern das Extremismuskonzept als stabilisierender Faktor für die wehrhafte Demokratie dient. Eine deutlichere Kritik am Extremismuskonzept entstand, nachdem sich die normative Extremismusforschung Ende der 1980er Jahre etablierte. So setzen sich bspw. die Arbeiten von Gero Neugebauer (2000) und Jens Zimmermann (2010) mit dem Extremismuskonzept aus wissenschafts18

1. Einleitung

theoretischer, die von Stefan Kausch (2010) und Christoph Butterwegge (2011) aus demokratietheoretischer Perspektive auseinander, Christoph Kopke und Lars Rensmann (2000) weisen auf dessen politische Implikationen hin. In einem Sammelband des Forums für kritische Rechtsextremismusforschung (2011) werden alle drei Perspektiven eingenommen. Eine ausführliche Rekonstruktion des Extremismusbegriffs legten kürzlich Jan Ackermann u. a. (2015) vor. Sie zeichnen die Bedeutung und den Bedeutungswandel des Begriffs im politischen Diskurs der BRD nach und kommen zu dem Schluss, dieser sei eine »funktionale Unzulänglichkeit« (Ackermann u. a. 2015: 69). Hierfür analysieren sie – ähnlich wie Jaschke – das Zusammenspiel verschiedener gesellschaftlicher Bereiche wie Verfassungsschutz, Wissenschaft, politische Bildung und Öffentlichkeit. Die wenigen Arbeiten, die rekonstruktiv vorgehen, offenbaren, dass sowohl die wehrhafte Demokratie als auch die antiextremistische Abgrenzung dem Zusammenwirken verschiedener gesellschaftlicher Kräfte entsprangen und sich kontinuierlich weiterentwickelt haben. Sie sind weder im luftleeren Raum entstanden, noch können sie auf das Wirken lediglich einer Institution zurückgeführt werden. Die vorliegende Studie berücksichtigt deshalb verschiedene Institutionen und gesellschaftliche Bereiche, um die Frage zu beantworten, wie sich die antiextremistische, wehrhafte Demokratie in der BRD durchgesetzt hat. Der potenzielle Untersuchungszeitraum hat keinen eindeutigen Startpunkt. Jeder Entscheidung, die dazu beitrug, die gegenwärtige Bestimmung der politischen Ordnung zu formen, geht eine Entscheidung voraus, deren Zustandekommen wiederum von Interesse wäre. Als geeignete Ausgangspunkte für die Rekonstruktion erscheinen Ereignisse, die einen Bruch in der politischen Ordnung darstellen und deren Neuverhandlung notwendig machen. So beginnt die vorliegende Analyse direkt nach der Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945. In der Folge musste eine neue politische Ordnung ausgehandelt und etabliert werden. Durch die Einschränkung des Untersuchungszeitraums kann der Gegenstand der Analyse näher bestimmt werden: Die Positionen zentraler Institutionen und Personen zwischen 1945 und 2017, die zur Ausbildung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie führten. Um dem ausgeführten Forschungsinteresse anhand des skizzierten Untersuchungsgegenstands nachzukommen, greife ich auf eine hegemonietheoretisch informierte Diskursanalyse zurück. In den Sozialwissenschaften wurden diskursanalytische Verfahren durch den französischen Philosophen Michel Foucault (u. a. 1981, 1983) und seine materialreichen historischen Arbeiten bekannt. Dabei arbeitete er heraus, wie Sinn bzw. das, 19

1. Einleitung

was als Wahrheit gilt, konstruiert wird. Er zeigt, wie wiederkehrende Aussagen sich zu Mustern verdichten, die einen Diskurs konstituieren. Die Sprecher_innen werden als (Gruppen-)Subjekte im Diskurs selbst verortet und sind diesem weder äußerlich noch vorgängig. Die Vorstellung eines autonomen Subjekts wird zurückgewiesen. Dies ermöglicht es textübergreifend Sinnstrukturen herauszuarbeiten und das komplexe Zusammenwirken verschiedener Institutionen und Personen zu erfassen (Keller 2011: 43–53; Küppers 2018: 128–129).4 Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2001), die mit ihren hegemonietheoretischen und poststrukturalistischen Überlegungen die Diskursanalyse weiterentwickelten, begreifen die gesamte Gesellschaft als diskursiv verfasst. Institutionen, Gesetze oder Konventionen gelten dabei als verfestigte bzw. sedimentierte Diskurse. In dieses Gesellschaftsverständnis fügt sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ein. Denn all diese Sedimente sind das Ergebnis von Kämpfen um Hegemonie, also um Vorherrschaft über Deutungen. Genau diese Kämpfe gilt es zu rekonstruieren, um ihren kontingenten und kontextabhängigen Charakter zu verdeutlichen. Indem sedimentierte Kämpfe um Hegemonie offen gelegt werden, können ihre Ergebnisse, also verfestigte gesellschaftliche Strukturen oder Deutungsmuster, wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und so potenziell dekonstruiert werden. Eine Herausforderung besteht darin, die entscheidenden Kämpfe bzw. diejenigen Diskursbeiträge, die diese Kämpfe entschieden haben, zu identifizieren. Gelingt dies, kann der bislang sehr grob umrissene Gegenstandsbereich auf wenige zentrale Texte reduziert werden. Diese diskurs- und hegemonietheoretischen Überlegungen griff Martin Nonhoff (2006) auf und machte sie der empirischen Forschung zugänglich. Er identifizierte diskursive Strategien, die zum Tragen kommen, wenn sich ein Deutungsmuster gegen andere durchsetzt und zur hegemonial anerkannten Diskursformation5 wird. Die so gewonnene und bereits ____________________ 4

5

20

Auf eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Diskurstheorien und analysen wird im Rahmen dieser Arbeit verzichtet. Dies ist an anderer Stelle geleistet worden (u. a. Keller u. a. 2011b; Angermüller u. a. 2014; Nonhoff u. a. 2014). Diese Bezeichnung soll nicht den Eindruck erwecken, dass es sich bei einer Diskursformation um ein statisches Gebilde oder einen Block handelt. Im Gegenteil ist diese Formation nicht von ihren Herstellungsprozessen, der Formierung zu trennen. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, da die Formation immer wieder artikuliert werden muss, um Verschiebungen innerhalb des Diskursraums zu verarbeiten.

1. Einleitung

mehrfach an unterschiedlichen Gegenständen erprobte Hegemonieanalyse (u. a. Wullweber 2010; Herschinger 2010; Hildebrand 2017) leitet die vorliegende Untersuchung. Mit der soeben vorgestellten Rahmung meiner Analyse kann das Erkenntnisinteresse der Arbeit reformuliert werden. Ausgangspunkt ist die gegenwärtig hegemoniale Diskursformation der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie. Ich verstehe sie als Ergebnis vergangener Kämpfe um Hegemonie. Zunächst werde ich diese Kämpfe rekonstruieren, um zu zeigen, mithilfe welcher diskursiven Strategien sich die Diskursformation in welchem historischen Kontext durchsetzen konnte. Durch das Sichtbarmachen dieser Kämpfe kann ihr Ergebnis, also die antiextremistische, wehrhafte Demokratie, an den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen geprüft und ggf. neu verhandelt werden. Auf dieser detaillierten Rekonstruktion aufbauend werde ich Risse und Brüche in der hegemonialen Formation herausarbeiten, die als Anknüpfungspunkte zur Dekonstruktion dieser Formation dienen können. Aufbau der Arbeit Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Analyse der Diskurse über die politische Ordnung der BRD. Sie bedarf ausführlicher theoretischer und methodologischer Vorarbeiten. In Kapitel 2 stelle ich die hegemonietheoretischen Überlegungen von Laclau und Mouffe vor und verknüpfe sie mit der empirischen Analyse. Dabei konzentriere ich mich auf den Ausschnitt ihres umfangreichen Werks, der für meine Fragestellung zentral ist (Kapitel 2.1). Drei Fragen stehen deshalb im Mittelpunkt: Wie begreifen die beiden Theoretiker_innen Gesellschaft? Wie werden, an dieses Verständnis anknüpfend, gesellschaftlicher Wandel und die Ausbildung stabiler gesellschaftlicher Strukturen konzipiert? Und drittens, wie funktionieren hegemoniale Praxen als grundlegende Modi gesellschaftlichen Wandels? Diese Praxen nimmt Nonhoff genauer unter die Lupe und übersetzt ihre theoretische Bestimmung in empirisch anwendbare Termini. Die von ihm so identifizierten Bestandteile diskursiven Strategien, im Folgenden Strategeme genannt, sind von anderen Wissenschaftler_innen weiterentwickelt und erprobt worden (Kapitel 2.2). Sie eignen sich, um die Hegemonialisierung diskursiver Formationen nachzuzeichnen und dienen, angepasst an den Untersuchungsgegenstand, als Heuristik für die vorliegenden Analyse (Kapitel 2.3). Bevor die Hegemonieanalyse zur Anwendung kommen kann, sind Vorarbeiten notwendig, die ich in Kapitel 3 ausführe. Den Kontext der Analy21

1. Einleitung

se bilden die gesellschaftspolitischen Entwicklung Deutschlands seit 1945. Mithilfe dieser Kontextanalyse identifiziere ich zentrale Zeiträume, in denen die wesentlichen Kämpfe zur Herausbildung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie stattfanden (Kapitel 3.1). Um diese detailliert rekonstruieren zu können, bedarf es einer sorgfältigen und gut begründeten Auswahl der zu analysierenden Texte (Kapitel 3.2). Anschließend lege ich beispielhaft dar, wie die durch Nonhoff und andere herausgearbeiteten diskursiven Strategeme auf der Ebene des Textes identifiziert werden können (Kapitel 3.3). Die gesamte Rekonstruktion gliedert sich in eine Vorphase, drei Analysephasen und zwei Zwischenphasen, die ich in den Kapiteln 4 bis 9 in ihrer zeitlichen Folge vorstelle. Die Vorphase, die in Kapitel 4 dargestellt wird, umfasst die Jahre 1945 bis 1949. Darin zeichne ich die Auseinandersetzungen um die politische Ordnung in den verfassungsgebenden Versammlungen der Länder und dem Parlamentarischen Rat nach. Zentrale Frage in diesen Auseinandersetzungen war, wie nach den Erfahrungen des Zusammenbruchs der Weimar Republik, auf den der Nationalsozialismus folgte, eine stabile Demokratie in Deutschland etabliert werden könne. Diese Debatten führten zum Grundgesetz, das die politische Ordnung der BRD rahmt und eine verfassungsrechtliche Verankerung der wehrhaften Demokratie beinhaltet. Eine Bestimmung der Grenze zwischen der Demokratie und ihren Feind_innen ist dadurch jedoch noch nicht festgelegt. Die Herausbildung dieser Grenze und die Verstetigung der wehrhaften Demokratie sind Gegenstand der ersten Analysephase in Kapitel 5. Durch die detaillierte Rekonstruktion von politischen Reden, Gerichtsurteilen und Gesetzestexten kann nachvollzogen werden, wie der strafrechtliche Ausbau der wehrhaften Demokratie und eine Abgrenzung gegen ›Gefahren von rechts‹ und ›Gefahren von links‹ begründet wurden. Begünstigt durch die Zuspitzung des Kalten Krieges bildete sich die diskursive Formation der antitotalitären, wehrhaften Demokratie heraus, die sich gegen andere Formationen durchsetzte. Sie etablierte sich in den Jahren 1950 bis 1952 als hegemoniales Deutungsmuster für die politische Ordnung der BRD. In den Folgejahren wirkt die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie in verschiedene gesellschaftliche Bereiche hinein und wird von dort aus artikuliert und stabilisiert. Diesen Prozess möchte ich in Kapitel 6.1, in Anlehnung an Jaschke (1991: 112), anhand der »Institutionen politischer Kontrolle« nachzeichnen. So zeige ich, wie dieses Deutungsmuster die politische Justiz, die Sicherheitsbehörden, allen voran den administrativen Verfassungsschutz, und die staatliche politische Bildung bestimmt. Diese 22

1. Einleitung

Institutionen wiederum sind Teil des Diskurses um die politische Ordnung und popularisieren die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie. Ebenfalls stabilisierend wirkt sich die Totalitarismusforschung auf die hegemoniale Diskursformation aus. Jedoch war Totalitarismus in den 1950er und 1960er Jahren mit verschiedensten Bedeutungen belegt und floss in unterschiedliche politikwissenschaftliche Ansätze ein, wie ich in Kapitel 6.2 zeigen werde. Vor allem einer dieser Ansätze offenbart sich als wissenschaftliches Korrelat zur hegemonialen Diskursformation. Die Rezeption der jeweiligen Ansätze in der BRD diskutiere ich abschließend von Kapitel 6. Gegen Ende der 1960er Jahre gerät die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie als hegemoniales Deutungsmuster unter Druck. Die ›68er‹ fordern eine grundlegend andere politische Ordnung und in den Volksparteien werden Stimmen laut, die sich gegen die bislang restriktive Abgrenzung gegenüber den sogenannten Feinden der Demokratie aussprechen. Zudem lassen sich die entstehenden radikalen rechten und linken Bewegungen nur noch unzureichend mit dem Ansatz des Antitotalitarismus erfassen. Diese veränderten Kontextbedingungen erzwingen eine Neuaushandlung der politischen Ordnung der BRD, weshalb die zweite Analysephase Anfang der 1970er Jahre ansetzt (Kapitel 7). Dabei ringen zwei Diskursformationen darum, als hegemoniales Deutungsmuster anerkannt zu werden. Bis Mitte der 1970er Jahre setzt sich die antiextremistische, wehrhafte Demokratie durch. Der Extremismusbegriff wird in dieser Phase prominent in den Diskurs um die politische Ordnung eingeführt und prägt diesen bis heute. Der Status eines weitgehend unangefochtenen und akzeptierten, also hegemonialen, Deutungsmusters bildet sich allerdings erst in den Folgejahren heraus, wie ich in der zweiten Zwischenphase darstellen werde. Kapitel 8 ähnelt in Aufbau und Zielrichtung der ersten Zwischenphase in Kapitel 6. Hier zeige ich anhand der Institutionen politischer Kontrolle und eines Forschungszweigs der Politikwissenschaft, wie die antiextremistische, wehrhafte Demokratie stabilisiert und popularisiert wird. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der normativen Extremismusforschung, die erst Ende der 1980er Jahre entstand und weitgehende Übereinstimmung mit der hegemonialen Diskursformation der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie aufweist. Diese Übereinstimmung führt dazu, dass die Verfasstheit der hegemonialen Formation förmlich unter die Lupe genommen werden kann. Denn die wissenschaftlichen Diskussionen sind sehr viel detaillierter als der politische Diskurs um die antiextremistische, wehrhafte Demokratie. Dies birgt die Chance herauszuarbeiten, wel-

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1. Einleitung

che Brüche und Risse in der hegemonialen Formation vorhanden sind und durch diskursive Strategien verschleiert werden. Die in Kapitel 8 gewonnen Erkenntnisse begründen eine dritte Analysephase (Kapitel 9), die sich gegenwärtigen Kämpfen um Hegemonie zuwendet. Dabei erscheint der Diskurs über die Prävention von demokratiegefährdenden Positionen als besonders geeignet. Denn in diesem (prekär) abgegrenzten Diskursbereich war in den 2000er Jahren ein Deutungsmuster vorherrschend, das dem der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie widersprach. Erst in den letzten Jahren hielten die Prämissen des Antiextremismus Einzug in den Präventionsdiskurs, bislang allerdings ohne sich gänzlich durchzusetzen. Es wird also nicht eine bereits durchgesetzte Formation rekonstruiert, sondern das noch nicht entschiedene Ringen um Hegemonie und Abwehrstrategien gegen die Expansion der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie. Dies hat zur Folge, dass nicht ex post wenige entscheidende Texte identifiziert werden können, die hinsichtlich ihrer Rolle für die hegemoniale Deutung analysiert werden, sondern dass ein weitaus größerer Textkorpus notwendig ist, um die verschiedenen Diskurspositionen abbilden zu können. Der Analysefokus liegt dabei auf den Fragen, ob und inwieweit die in Kapitel 8 rekonstruierten Brüche und Risse in den Debatten um Prävention aufgegriffen werden und ob dies zur Dekonstruktion der hegemonialen Formation führt. Während in Kapitel 4 bis 7 die Rekonstruktion der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie im Mittelpunkt steht, fokussieren die beiden anschließenden Kapitel auf mögliche Brüche und Risse in dieser Diskursformation. Diese beiden Schritte werden im abschließenden Kapitel 10 zusammengefasst und diskutiert, welche Ansätze vielversprechend sind, um die hegemoniale Formation zu dekonstruieren.

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2.

Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

Die Entscheidung für eine Hegemonieanalyse als Instrument zur Bearbeitung der Frage, wie ein bestimmtes Deutungsmuster hegemonial für die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) wurde, bedeutet nicht nur die Festlegung auf ein bestimmtes Untersuchungsschema, sondern auch auf den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen das Schema entwickelt wurde. Diesen Rahmen bilden die diskurs- und hegemonietheoretischen Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe,6 deren zentrale Annahmen ich im ersten Teil dieses Kapitels vorstelle. Hier soll indes keine umfassende Diskussion der Theorie vorgenommen werden, da das Ziel der vorliegenden Arbeit nicht die Weiterentwicklung der Hegemonietheorie ist, sondern ihre empirische Anwendung. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Diskussion jener Aspekte des Theoriegebäudes, die zur Einordnung des Analysevorgehens notwendig sind. Dabei fokussiere ich auf drei Fragen: Welches Verständnis von Gesellschaft entwickeln die beiden Theoretiker_innen? Wie ist, diesem Verständnis folgend, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Wandel möglich? Und was zeichnen hegemoniale Praxen als zentrale Modi gesellschaftlichen Wandels aus? Hinsichtlich der ersten Frage wird das poststrukturalistische Denken von Laclau und Mouffe deutlich, das sich in einer Absage an jegliche essentialistische Bestimmung von Objektivität und Gesellschaft verdeutlicht (2.1.1). Dieser Anti-Essentialismus bestimmt auch ihr Verständnis von Wandel und Kontinuität. Denn wenngleich soziale Sinnzusammenhänge und gesellschaftliche Identitäten nicht endgültig fixiert werden können, ist die Ausbildung stabiler gesellschaftlicher Strukturen dennoch möglich (2.1.2). Diese rekurrieren jedoch nicht auf basalen Wesensmerkmalen oder objektiven Unterscheidungen, sondern entstehen durch hegemoniale Praxen, die zur Herausbildung politischer Antagonismen und tendenziell leerer Signifikanten führen (2.1.3). Die Modi dieser Praxen stehen ____________________ 6

Ihre Arbeiten werden je nach Blickwinkel als Theorie der radikalen Demokratie, Diskurstheorie oder Hegemonietheorie bezeichnet. Ich beschränke mich auf die Bezeichnung Hegemonietheorie, da dieser Aspekt der Theorie für die vorliegende Arbeit zentral ist.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

im Zentrum der Hegemonieanalyse auf die ich im zweiten Teil des Kapitels eingehe. Laclau und Mouffe vermieden es ihre theoretischen Überlegungen zu einem ›Werkzeugkasten‹ auszubauen, aus dem sich empirisch forschende Wissenschaftler_innen bedienen können. Es gab in den letzten Jahren jedoch mehrere Arbeiten, die Wege zur Operationalisierung der Hegemonietheorie vorschlagen (u. a. Howarth u. a. 2000; Bedall 2014; Herschinger und Renner 2014; Krüger 2015; Hildebrand 2017). Ich konzentriere mich dabei auf die Überlegungen von Martin Nonhoff (2006), Eva Herschinger (2010) und Joscha Wullweber (2010). Trotz des gemeinsamen Bezugs auf die Hegemonieanalyse, zeigen sich in den drei Arbeiten Unterschiede, die in den jeweiligen Forschungsgegenständen begründet liegen (2.2). Auch für die vorliegende Arbeit ist es angezeigt, die theoretischen Vorüberlegungen und das Analyseinstrument dem Erkenntnisinteresse anzupassen (2.3). 2.1

Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

2.1.1 Gesellschaft als unabschließbar Diskursives Die Basis ihrer Hegemonietheorie legen Laclau und Mouffe 1985 in Hegemony and Socialist Strategy7dar. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist das Scheitern des Marxismus und dessen autoritäre Entwicklungen. Mit Hilfe poststrukturalistischer Ansätze haben sie sich eine EntEssentialisierung marxistischer Theorien zum Ziel gesetzt (Laclau und Mouffe 2001: 17–18, 49–55).8 In den Folgejahren entwickelte vor allem Laclau (1990a, 1996a, 2005) die hegemonietheoretischen Überlegungen des Hauptwerks fort, während Mouffe (2007, 2008, 2014) durch ihre demokratietheoretischen Schriften bekannt wurde. Für das Gesellschaftsverständnis von Laclau und Mouffe spielen poststrukturalistische Theoreme eine entscheidende Rolle. Diese Bezeichnung legt die berechtigte Annahme nahe, dass ihre Ausführungen auf struktura____________________ 7 8

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Ich beziehe mich im Folgenden auf die zweite Ausgabe aus dem Jahr 2001. Das an sie herangetragene Label Post-Marxismus weisen sie nicht zurück, betonen aber in ihrem Vorwort der zweiten Auflage von Hegemony and Socialist Strategy dies treffe nur zu »insofar as it is properly understood: As the process of reappropriation of an intellectual tradition, as well as the process going beyond it« (Laclau und Mouffe 2001: ix).

2.1

Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

listischen Überlegungen basieren und sie diese an entscheidenden Stellen radikalisieren. Die strukturalistische Basis der Hegemonietheorie wird durch den Bezug auf den Sprachwissenschaftler Ferdinand Saussure und dessen Theorie zur Sinnproduktion deutlich. Sinn entsteht nach Saussure, indem differente Elemente miteinander in Bezug gesetzt werden. So verstanden ist Sprache ein System differenter Zeichen, in dem kein Element an sich mit Bedeutung belegt ist, sondern erst durch Inbezugsetzung zu anderen Elementen bezeichnet wird (Wullweber 2010: 58–61). Diesen Aspekt teilen Vertreter_innen strukturalistischer wie poststrukturalistischer Diskurstheorien. Im Gegensatz zu anderen poststrukturalistischen Diskurstheorien, wie der Michel Foucaults, verstehen Laclau und Mouffe auch nicht-sprachliche Praktiken, Objekte oder Zustände als diskursiv hergestellt (Laclau und Mouffe 2001: 93–96). Sie leugnen damit zwar nicht die physische Existenz von Objekten wie beispielsweise eines Steins, argumentieren aber, dass dieser erst seine Bedeutung erhält, indem er artikuliert wird. Ein Stein wird bereits artikuliert, wenn er durch eine Fensterscheibe geworfen oder gemeinsam mit anderen Steinen zu einer Mauer zusammengesetzt wird. Ob es sich bei dem Steinwurf um Vandalismus oder Protest handelt, ist wiederum Teil sprachlicher Aushandlung oder weiterer Handlungen wie bspw. einer Festnahme der Werferin. Dieses weite Diskursverständnis erlaubt es, »das Soziale mit dem Diskursiven gleichzusetzen« (Hildebrand 2017: 78).9 Deswegen läuft der häufig vorgetragene Einwand gegen die Hegemonietheorie, sie verkürze soziale Realität auf Text und Sprache und könne somit wirkmächtige Institutionen nicht adäquat erfassen, ins Leere (Howarth 2000: 115–124). Der Vorstellung eines Sinnsystems, das aus Relationen zwischen verschiedenen Elementen besteht, geben Laclau und Mouffe eine poststrukturalistische Wendung. Während Saussure jedem Lautbild (Signifikant) eine feste Vorstellung über den Inhalt (Signifikat) zuordnet, stellen sie diese eindeutige Verknüpfung infrage und sprechen von »an impossible suture between signified and signifier« (Laclau und Mouffe 2001: 99). Eine relativ stabile, aber nicht eindeutige Verknüpfung existiert bspw. zwischen dem Lautbild Tisch und einem Objekt, das aus vier Beinen und einer Platte besteht. Das so beschriebene Objekt kann in kleiner Ausführung aber ____________________ 9

Für die vorliegende Arbeit ist dieses weite Diskursverständnis jedoch von untergeordneter Bedeutung, da die Analyse auf Texten basiert. Für das Verständnis der Theorie, die Gesellschaft als diskursiv verfasst versteht, ist dieser Aspekt zentral.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

auch als Hocker bezeichnet werden und wird auf diesem Hocker eine Speise ausgebreitet, die von am Boden Sitzenden eingenommen wird, könnte er wiederum als Tisch bezeichnet werden. Weit weniger stabil ist die Verknüpfung des Signifikanten Gerechtigkeit mit einem Signifikat. Damit kann sowohl der Zustand ökonomischer Egalität einer Gesellschaft als auch der Zustand ausgeprägter Ungleichheit, in dem jede_r bekommt, was er oder sie ›verdient‹, bezeichnet werden. Eine dauerhaft fixierte Verknüpfung ist nicht möglich (Laclau 2005: 101–110). Dieses Beispiel verweist auf einen weiteren Aspekt, mit dem Laclau und Mouffe die strukturalistischen Annahmen radikalisieren. Sie widersprechen der Annahme, jeder Signifikant habe fixierte Relationen zu anderen Signifikanten. Der Idee abgegrenzter und geschlossener Differenzsysteme (Diskurse) stellen sie deren konstitutive Unabgeschlossenheit entgegen. Denn eine Schließung würde das Ende des Diskurses bedeuten, da alle Signifikanten klare Relationen hätten, ihre Bedeutung somit festgeschrieben und Bedeutungsverschiebungen ausgeschlossen wären. Die entgegengesetzte Vorstellung wäre ein Signifikationssystem, das keinerlei stabile Relationen aufweist und einem chaotischen Zustand gleicht; dies würde Sinnproduktion verunmöglichen. Empirisch vorfindbar sind viele stabile Relationen, die jedoch nie endgültig fixiert sind (Laclau und Mouffe 2001: 96–101). Die essentialistische Annahme einer gültigen Objektivität wird zurückgewiesen, da diese immer geworden und nur in einem bestimmten Kontext und dort nur temporär gültig ist (Laclau 1990b: 36). War der Signifikant Radikalismus Mitte des 19. Jahrhunderts mit liberalen Positionen verknüpft, galten Jahre später Sozialist_innen als Radikale. Teilfixierung oder temporäre Fixierung von Relationen und somit Bedeutung ist möglich, aber konstitutiv prekär, wie in der Figur des Antagonismus deutlich wird. Die spezifische Bedeutung der komplexen theoretischen Figur des Antagonismus10 verdeutlichen Laclau und Mouffe, indem sie diese mit ähnli____________________ 10

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Zu unterscheiden ist dabei Antagonismus im Singular und Antagonismen im Plural. Beides hat einen wichtigen Stellenwert in der Theorie von Laclau und Mouffe, wird jedoch durch die gleiche Bezeichnung oftmals nicht sauber voneinander getrennt. Auf dieses Problem machte bereits früh Zizek (1990) aufmerksam und Nonhoff (2017) hat sich in jüngster Zeit mit dem Verhältnis von Antagonismus und Antagonismen auseinandergesetzt. In diesem Unterkapitel betrachte ich den Antagonismus im Singular als »sozialontologische Grundkonstante« (Nonhoff 2017: 82). Die Funktionsweise der Antagonismen, wie sie für die empirische Untersuchung relevant ist, erläutere ich in Kapitel 2.1.3.

2.1

Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

chen Figuren wie der Realrepugnanz und dem Widerspruch kontrastieren. Widersprüche beschreiben das Verhältnis A – Nicht-A, also die Beziehung von Etwas mit seiner Negation. Realrepugnanz meint das Verhältnis A – B, also die Beziehung von Etwas zu einem anderen Positiven. Der Antagonismus beschreibt dem gegenüber eine Beziehung, deren Elemente von Negativität durchzogen sind (Laclau und Mouffe 2001: 108–110; Nonhoff 2017: 84–85). Was das bedeutet, wird in der Bestimmung von Identität durch Laclau deutlicher. Eine Identität entsteht durch Identifikation mit Etwas (Laclau 1990b: 60). Gesellschaftliche Identität konstituiert sich durch das gemeinsame Streben nach bzw. der Identifikation mit einem Idealzustand, dem »pure being« (Laclau 1996b: 38). Jedoch kann dieser Idealzustand nicht erreicht werden. Dies würde das Ende der gemeinsamen Identifikation und damit der gemeinsamen Identität bedeuten. Eine Gesellschaft verliert ihre Begründung, wenn sie sich nicht mehr gegenüber etwas abgrenzen kann (Laclau 1990b: 39). Ihre Objektivität verdankt sie also jenen Elementen, die verhindern, dass sich ihr Streben nach ›reinem Sein‹ erfüllt. Diese Elemente blockieren also einerseits das ›reine Sein‹ und sind andererseits konstitutiv für die Herstellung von Identität und Gesellschaft. Eine antagonistische Beziehung konstituiert sich also nicht zwischen positiven Identitäten, sondern zwischen blockierten bzw. mit Negativität kontaminierten Identitäten. Oder in den Worten von Laclau und Mouffe (2001: 111): »the presence of the ›Other‹ prevents me from being totally myself. The relation arises not from full totalities, but from the impossibility of their constitution«. Antagonismus meint also die Unmöglichkeit, dass reine positive Identitäten in einer stabilen Beziehung zu anderen positiven Identitäten stehen. Dieser konstitutive Mangel, den Laclau auch mit dem Begriff der Dislokation beschreibt, verunmöglicht dauerhafte Fixierungen diskursiver Strukturen (Laclau 1990b: 39–59). Die Durchziehung von Negativität dynamisiert gesellschaftliche Prozesse, ist dafür verantwortlich, dass das Soziale nie fixiert und letztlich Objektivität, im Sinne »einer stabilen Ordnung aller sozialen Elemente« (Nonhoff 2017: 87), unmöglich ist (Laclau 1990b: 5–27; Laclau und Mouffe 2001: 108–113; Laclau 2007: 26–32). Doch was bedeutet diese Bestimmung von Gesellschaft als dynamisch und unabschließbar für jene Diskurse, die sich auf diesem Grund konstituieren und als empirisch analysierbar in Erscheinung treten? Diese befinden sich einerseits in einer »permanenten Krise« (Wullweber 2010: 74), generieren und teilfixieren andererseits jedoch Bedeutung, die sich unter bestimmten Voraussetzungen perpetuiert oder wandelt.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

2.1.2 Stabilisierung und Wandel von Sinn Sinn wird, wie oben bereits ausgeführt, hergestellt, indem zwei diskursive Elemente miteinander in Bezug gesetzt bzw. artikuliert werden. Artikulationen sind Sinnproduktionsakte. Durch den Artikulationsprozess verändert sich sowohl die Identität des artikulierten Elements als auch die Identität des artikulierenden Subjekts, da es sich in bestimmter Weise im Diskurs positioniert und mit anderen Elementen und Subjekten in Beziehung setzt (Laclau und Mouffe 2001: 91). Beide, sowohl Diskurse als auch Subjekte, konstituieren sich in Abhängigkeit voneinander im Zuge von Artikulationen. Diskurse halten Subjektpositionen als jene Orte bereit, an denen Individuen als Subjekte in den Diskurs sinnhaft eintreten können, indem sie artikulieren. (Nonhoff 2006: 156–157).

Die Vorstellung eines autonomen oder außerdiskursiven Subjekts liegt der Hegemonietheorie im Gegensatz zu bspw. Rational-Choice-Ansätzen nicht zugrunde: Whenever we use the category of ›subject‹ in this text, we will do so in the sense of ›subject positions‹ within the discursive structure. Subjects cannot, therefore, be the origin of social relation. (Laclau und Mouffe 2001: 101)

Subjektposition meint dabei die Situierung des Subjekts in der Struktur. Im Anschluss an Foucault setzt sich das Subjekt aus verschiedenen Subjektpositionen zusammen, und ist folglich eingebettet in eine komplexe Struktur verschiedener Diskurse (Wullweber 2010: 76). Diese Diskurse sind, wie bereits ausgeführt, konstitutiv von Brüchen und Rissen durchzogen und eben nicht abschließbar. Deshalb ist – und dies ist der zweite wichtige Aspekt zum Subjektverständnis – keine fixierte oder geschlossene Identität möglich. Die Identität der Subjekte setzt sich aus ihrer Positionierung in verschiedenen Diskursräumen zusammen, die auf einem dynamischen Terrain konstituiert sind. Identität ist also stets prekär und muss immer wieder hergestellt werden (Laclau 1990b: 60). Dabei muss die Herstellung einer geschlossenen oder puren Identität scheitern. Dieses Scheitern, aufgrund der Unabgeschlossenheit der Diskurse, in denen das Subjekt positioniert ist, ist aber auch gleichzeitig Bedingung für sein Auftreten. Denn die Dynamik von Diskursen eröffnet erst den Raum für kontingente Entscheidungen des Subjekts, die Grund seiner Freiheit sind. »[T]he subject is nothing but this distance between the undecidable structure and the decision« (Laclau 1990b: 30). Die Struktur

30

2.1

Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

oder der Diskurs ist aufgrund seiner Unabgeschlossenheit unentscheidbar.11 Das heißt, es ist nicht zwingend vorgegeben, welche Reaktion auf ein Ereignis folgt. Wäre dies der Fall, würde dies das Ende der Freiheit des Subjekts bedeuten. Oder anders herum: »Die Freiheit, die das diskursive Subjekt gleichzeitig konstituiert und auszeichnet, ist die Freiheit zur Entscheidung angesichts strukturell-diskursiver Unentscheidbarkeit« (Nonhoff 2006: 162). Ein autonomes Subjekt, das unabhängig von den Strukturen, in die es eingebettet ist, entscheidet, wurde bereits ausgeschlossen. Folglich ist jede getroffene oder zu treffende Entscheidung kontingent. Entscheidungen ermöglichen eine temporäre ›Vernähung‹ der Diskursstruktur, die aufgrund der Unabgeschlossenheit des Sozialen Risse aufweist. Der Raum der sinnhaften Artikulationen ist dabei durch die Struktur begrenzt, aber nicht geschlossen. Je stabiler die Struktur, desto mehr ist der Entscheidungsraum determiniert (Laclau 1990b: 43–44; Wullweber 2010: 75). Die Diskursstruktur entscheidet darüber, ob dem Subjekt nach seiner Artikulation die Position des Idioten, Experten oder genialen Philosophen zugewiesen wird. Während bspw. die binäre Geschlechterstruktur in der Bundesrepublik der 1950er Jahre stabil war und eine Positionierung außerhalb als ›krank‹ oder ›pervers‹ galt, wurde eine solche Positionierung im Jahr 2017 durch das Bundesverfassungsgericht anerkannt. Dieses Beispiel zeigt wie stabil und unhinterfragt Diskurse über einen langen Zeitraum sein können. Die Zweigeschlechtlichkeit hat sich in viele gesellschaftliche Konventionen und Institutionen eingeschrieben. Sein Herstellungsprozess war weitgehend unsichtbar. Dennoch unterschied sich dieser Diskurs, denn nichts anderes als stabile Diskurse sind Institutionen und Konventionen, zu sprachlichen Äußerungen nur »in their degree of stability« (Howarth 2000: 120). Laclau verortet solche stabilen Formationen, die täglich unterhinterfragt reproduziert werden und stabile soziale Beziehungen ausmachen, im Feld des Sozialen. »The sedimented forms of ____________________ 11

Wullweber (2010: 63–64, FN 34 Hervorh. im Original) wendet ein, dass der Begriff Unentscheidbarkeit »suggeriert, es könne in diesem spezifischen Moment keine Entscheidung getroffen werden. Gemeint ist jedoch vielmehr, dass die Struktur keine Entscheidung vorgibt und die Situation daher unentschieden ist«. Er spricht daher von Unentschiedenheit. Um aber dem eh schon relativ unübersichtlichen Begriffsarsenal der Hegemonietheorie nicht noch einen weiteren hinzuzufügen, verwende ich den Begriff Unentscheidbarkeit, wie er in den deutschen Übersetzungen der Werke von Laclau und Mouffe vorzufinden ist.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

›objectivity‹ make up the field of what we will call the ›social‹« (Laclau 1990b: 35). Auf dem Feld des Politischen hingegen bewegen sich Diskurse, in denen um Deutung gerungen wird, wie bspw. über die Rolle des Islam in der Bundesrepublik. Der Übergang zwischen beiden Felder ist fließend, da kein Diskurs zu endgültiger und fixierter Objektivität geronnen ist, aber auch nicht andauernd politisch verhandelt wird. Die RePolitisierung ist theoretisch jederzeit möglich, indem bspw. der Herstellungsprozess einer vermeintlichen Objektivität sichtbar gemacht wird, was ihre Kontingenz verdeutlicht. In unserem Beispiel trug dazu die Thematisierung sogenannter Geschlechtsangleichungen kurz nach der Geburt bei. Dies wurde mit dem Hinweis verknüpft, dass diese Vorgabe eine Angleichung vorzunehmen die Folge von politischen Auseinandersetzungen ist. So zeigt sich in der Diskussion um Zweigeschlechtlichkeit, wie eine vermeintliche Objektivität aus dem Feld des Sozialen in das Feld des Politischen gerückt ist. Sedimentierte Diskurse wurden reaktiviert und die Hegemonie des Deutungsmusters Zweigeschlechtlichkeit wird durch einen sehr wirkmächtigen Diskursakteur, dem Bundesverfassungsgericht, offen infrage gestellt. Hegemonietheorie und Hegemonieanalyse fokussieren auf das Feld des Politischen, da hier das Ringen um Bedeutung analysiert werden kann. Dies betrifft aber nicht nur gegenwärtige politische Auseinandersetzungen, sondern auch bereits vergangene, die zu vermeintlicher Objektivität geronnen sind. Durch deren Rekonstruktion wird deutlich, dass diese vermeintlichen Objektivitäten Ergebnisse hegemonialer Auseinandersetzungen und damit kontingent sind. Die Offenlegung der Kontingenz kann zu einer Repolitisierung führen. Auf dem Feld des Politischen kommen hegemoniale Praxen zum Tragen, die um eine vorläufige Schließung, eine Stabilisierung von Sinn und damit um die Herstellung einer – stets prekären – Objektivität ringen. 2.1.3 Hegemoniale Praxis In seiner Populismustheorie konkretisiert Laclau (2005), wie eine erfolgreiche Artikulationspraxis aussehen kann. Erfolgreich bedeutet in diesem Fall, dass eine bestimmte Sinnformation wie bspw. die des Neoliberalismus sich gegen andere durchsetzt und von möglichst vielen Subjekten anerkannt und artikuliert wird. Ein weiteres Erfolgskriterium ist die Institutionalisierung dieser Formation, bspw. durch Gesetze. Wird sie nicht mehr ernsthaft infrage gestellt, ist sie weitgehend sedimentiert und Teil 32

2.1

Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

des Sozialen. Auf dem Feld des Politischen ringen mehrere Sinnformationen um Vorherrschaft bzw. Hegemonie. Wann sich eine Formation durchgesetzt hat und hegemonial geworden ist, lässt sich nur ex post feststellen. Denn meist vollzieht sich dieser Übergang über einen längeren Zeitraum und das Gewicht einzelner Artikulation wird erst durch die Resonanz im Diskursraum, also im Nachhinein, deutlich. Wichtige Hinweise sind aber der Eintritt besonders wirkmächtiger Subjekte oder Gruppensubjekte in eine bestimmte Subjektposition des Diskurses. Aber nicht jedes Gruppensubjekt ist für jeden Diskurs gleich gewichtig. So wird Greenpeace eine Expertise in Fragen der Klimapolitik zugestanden, wohingegen eine Pressemitteilung zur Reform der Sozialversicherung von derselben Organisation wohl kaum Gehör finden würde. Ob eine diskursive Formation hegemonial ist, lässt auch deshalb nicht ohne Weiteres bestimmen, da sie nie eine totale Deutungshoheit erringen kann, sondern diese, aufgrund der Dynamik und der konstitutiven Unabgeschlossenheit von Diskursen, immer prekär sein muss. Es gibt stets Elemente oder Positionen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von dieser Formationen nicht repräsentiert werden und die Ausgangspunkt von Veränderungsprozessen sein können. Zur genaueren Bestimmung dieser Elemente führt Laclau den Begriff der Forderung als »our minmal unit of analysis« (Laclau 2005: 72) ein. Bei der Analyse politischer Diskurse sind vor allem jene Artikulationen von Interesse, die Forderungen mit Bezug auf »the universality« (Laclau und Mouffe 2001: xiii) bzw. das Allgemeine stellen. Die Artikulation einer Forderung ist mit dem oben beschriebenen Prozess der Identifikation vergleichbar. Sie strebt nach Erfüllung eines (nicht realisierbaren) Idealzustand, dem Allgemeinen. »Das Allgemeine verweist […] auf das substanziell wie normativ Absolute, auf das Vollkommene und Unbefleckte des sozialen und politischen Zusammenlebens« (Nonhoff 2006: 107). Das Kennzeichen politischer Diskurse ist, dass in ihnen »das Allgemeine konflikthaft verhandelt wird« (Nonhoff 2006: 94–109, hier 109). Konflikte um die Repräsentation des Allgemeinen sind der Kern hegemonialer Praxen. Nonhoff unterscheidet drei unterschiedliche Stufen, um den Erfolg hegemonialer Praxen zu beschreiben. Die niedrigste Erfolgsstufe sind hegemoniale Artikulationen. Dies sind Artikulationen von Forderungen, die versprechen, andere Forderungen mit zu erfüllen, sofern sie selbst erfüllt seien. ›Die Reduktion der Klimaerwärmung verhindert Verteilungskriege

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

und Migrationsbewegungen nach Europa‹, wäre eine solche Artikulation. Von einem hegemonialen Projekt12 kann gesprochen werden, wenn eine Formation artikuliert wird, die sowohl einen politischen Antagonismus als auch einen tendenziell leeren Signifikanten enthält (s. u.). Anspruch dieser Formation ist es, die Deutungshoheit in einem Diskursraum durchzusetzen und alle einschlägigen Forderungen zu erfüllen. Wird dieser Anspruch weitgehend anerkannt, wird er von einem Großteil der (Gruppen-)Subjekte artikuliert, spreche ich von Hegemonie. Der Übergang von einem hegemonialen Projekt zu einer Hegemonie zeichnet sich nicht in erster Linie durch die Änderungen in der Formation aus, sondern im Grad der Anerkennung dieser Formation (Nonhoff 2006: 138–141; Wullweber 2010: 150–153). Ist dieser Übergang vollzogen, muss das hegemoniale Projekt seinen Anspruch auf Hegemonie und Durchsetzung aller Forderungen immer wieder reartikulieren. Ein Ringen um Hegemonie kann zwischen zwei oder mehreren hegemonialen Projekten verlaufen oder, indem ein oder mehrere hegemoniale Projekte die bestehende Hegemonie einer Formation herausfordern. Ausbildung politischer Antagonismen Eine hegemoniale Formation ist stets mit oppositionellen Forderungen konfrontiert. Wird bspw. die Forderung nach kostenlosem Zugang zu Bildungseinrichtungen artikuliert, kann die vorherrschende Formation die Forderung erfüllen und damit absorbieren. Das Potenzial zur Ausbildung eines oppositionellen hegemonialen Projektes ist erloschen. Wird der Forderung nicht entsprochen, kann sie sich mit weiteren oppositionellen Forderungen, bspw. nach mehr Fahrradwegen, zusammenschließen. Dieser Zusammenschluss verschiedener Forderungen zu einer Äquivalenzkette ist ____________________ 12

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Die Bezeichnung Projekt soll dabei nicht implizieren, »dass es sich um ein geplantes und strategisch durchorganisiertes Unterfangen handelt«, sondern bedeutet, »dass die Artikulationen [sic!] eines hegemonialen Projekts durch viele Akteure, dezentral und mitunter auf heterogene Weise erfolgt« (Nonhoff 2012: 264; siehe auch Wullweber 2010: 143). Bedall (2014: 53) und Krüger (2015: 35) sprechen von Hegemonieprojekten, da ihrer Ansicht nach der Begriff des hegemonialen Projekts suggeriert, diese Formation sei bereits hegemonial geworden. Setzt sich ein solches Projekt durch, wird es zu einem hegemonialen Projekt. Ich mache mir diese Begriffsdeutungen nicht zu eigen, möchte aber auf die verschiedenen Verwendungen derselben Begriffe in hegemonietheoretischen Arbeiten hinweisen.

2.1

Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

ein Bestandteil hegemonialer Praxen. Dabei bleiben die Forderungen different, sind aber äquivalent in ihrem Verhältnis zur vorherrschenden Formation, von der sie sich nicht repräsentiert sehen. Aus Sicht jener Subjekte, die diese Forderungen artikulieren, können nun verschiedene Elemente dafür verantwortlich gemacht werden, warum die Forderungen nicht erfüllt werden. Ich nenne sie, in Anlehnung an Laclau, Elemente des Mangels.13 So können bspw. die Regierung, die bürokratische Verwaltung und die Zinspolitik der Zentralbank als die Elemente artikuliert werden, die den Weg zur Erfüllung der Forderungen blockieren. Dies hat die Herausbildung einer zweiten Äquivalenzkette zur Folge, deren Elemente different sind, aber in dem Sinne äquivalent, dass sie den Forderungen entgegenstehen bzw. als den Forderungen entgegenstehend artikuliert werden. Sie repräsentieren den zu überwindenden Mangel. Diese antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raumes in eine Äquivalenzkette A und eine Äquivalenzkette M14 ist der erste Schritt auf dem Weg zur erfolgreichen Herausbildung eines hegemonialen Projekts. Ein politischer Antagonismus ist also nicht einfach da oder ergibt sich aus der antagonistischen Verfasstheit des Sozialen (Wullweber 2010: 75). So führt bspw. das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit nicht zwingend zu einem politischen Antagonismus. Das Verhältnis muss erst als ein solches artikuliert werden, was bedeutet, dass es diskursiv ist. Die Artikulation eines antagonistischen Verhältnisses ist weder zwingend noch zufällig, sondern es basiert auf kontingenten Entscheidungen. Nicht zwingend ist es, da bspw. sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftskonzepte das Verhältnis anders artikulieren. Nicht zufällig ist es, da sich die Subjekte innerhalb des Verhältnisses in der Ausbildung ihrer Identität bspw. als Konsumentin blockiert sehen können (Laclau 1990b: 15). Ebenso kontingent ist, wie auf ____________________ 13

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Dieser Mangel ist, wie in den Ausführungen zum Antagonismus angedeutet, konstitutiv für Gesellschaft. Gäbe es keinen Mangel am Allgemeinen, könnten keine Identifikationsprozesse vonstattengehen. Oder wie Nonhoff (2006: 116– 117 Hervorh. im Original) schreibt: »Eine Gesellschaft ist wesentlich unvollständig, es mangelt ihr an Fülle, an Vollkommenheit, an einem Allgemeinen, das die einzelnen tatsächlich zu einer Gesellschaft macht [...]; und das kollektive Begehren danach, den Mangel an Allgemeinem zu beheben, konstituiert Gesellschaft erst als solche (gleichzeitig wird es zum Movens politischer Diskurse).« Die Bezeichnung der Äquivalenzketten variieren in der Literatur. Ich verwende den Buchstaben A für die Äquivalenzkette jener Forderungen, die auf das Allgemeine orientiert sind. In der Äquivalenzkette M werden hingegen die Elemente des Mangels verortet.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

einen Streik oder eine Revolte reagiert wird. Dies kann bspw. die Niederschlagung des Streiks, dessen rasche Beendigung durch Verhandlung oder ein Ignorieren des Streiks sein. Diese jeweilige Kontingenz führt uns zu dem wichtigen Umstand, dass politische Antagonismen immer perspektivisch sind. So artikulieren Streikende unter Umständen einen Antagonismus zwischen ihnen und ihren Arbeitgeber_innen sowie der Polizei, die den Streik gewaltsam beendet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die anderen Akteur_innen ein ebensolches Verhältnis sehen. So ist es etwa zweifelhaft, dass die Polizei sich selbst auf der Seite der Arbeitgeber_innen und in einem antagonistischen Verhältnis zu den Streikenden sieht (Nonhoff 2006: 221–230; Wullweber 2010: 149–150; Laclau 2013: 92). Die antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums ist stets von einer bestimmten Diskursposition aus artikuliert. Neben der Herauslösung einzelner Forderungen kann es in diesem frühen Stadium auch zu einem Bruch der Äquivalenzkette A kommen. Die Aufnahme vieler Forderungen in die Äquivalenzkette hat den Vorteil, dass viele Subjektpositionen bereitgestellt werden, die von vielen Gruppensubjekten besetzt werden können. Es erhöht sich aber dadurch auch die Spannungen in der Kette. Denn bei Aufnahme in die Äquivalenzkette geben die Forderungen ein Teil ihrer Exklusivität auf, bleiben aber different zu den anderen Forderungen.15 Die Logik der Äquivalenz und die der Differenz bleiben in einem Spannungsverhältnis miteinander innerhalb der Äquivalenzketten erhalten (Laclau 2005: 79–80). Nimmt die Logik der Differenz überhand, kann es zum Bruch kommen. In unserem Beispiel könnte dies der Fall sein, wenn die Forderung nach einer rigiden Abschiebepolitik gemeinsam mit anderen Forderungen artikuliert wird – etwa mit dem Argument, dass so Gelder für einen kostenlosen Zugang zu Bildungseinrichtungen und für mehr Fahrradwege frei würden. Dies stellt zwar weitere Subjektpositionen in der Äquivalenzkette bereit, kann aber auch zum Bruch mit den anderen Forderungen führen. Sowohl die Herauslösung von einzelnen Forderungen als auch der Bruch der Kette wird weniger wahrscheinlich, wenn ihre Einheit durch die Herausbildung eines tendenziell leeren Signifikanten repräsentiert und damit weiter stabilisiert wird. ____________________ 15

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Sie verlieren einen Teil der Kontrolle darüber, welches Gewicht ihnen im hegemonialen Projekt eingeräumt wird. Laclau (2005: 88) nennt die Aufnahme deswegen auch »a mixed blessing«.

2.1

Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

Ausbildung tendenziell leerer Signifikanten Der Zusammenhalt der Äquivalenzkette A besteht bislang aus einer rein negativen Identität, der Ablehnung aller Elemente des Mangels. Eine weitere Stabilisierung erhält die Kette durch eine erfolgreiche Artikulation einer positiven Identität. Diese positive Identität erhält die Kette durch den Akt der Repräsentation, durch den die Elemente der Kette zu mehr als die Summe ihrer Einzelteile werden (Laclau 2005: 77). Gleichzeitig wird durch eine erfolgreiche Repräsentation der antagonistische Bruch signifiziert. Das Moment des antagonistischen Aufeinanderpralls kann nicht direkt repräsentiert werden, aber es kann dennoch signifiziert bzw. positiviert werden durch die Produktion eines leeren Signifikanten (oder vielmehr von zwei leeren Signifikanten: einen auf jeder Seite der antagonistischen Grenze). (Laclau 2007: 31).

Zwei Anmerkungen zu diesem Zitat sind notwendig. Ein hegemoniales Projekt verspricht die Überwindung aller Mängel und einen Zustand der Erfüllung aller Forderungen. Dieser Zustand ist jedoch nicht vollständig repräsentierbar, da dies eine Schließung des Diskursraumes und das Ende der Differenz bedeuten würde. Oder anders formuliert: Wenn ich vom Prozess der Repräsentation spreche, ist nicht die tatsächliche Repräsentation der positiven Identität der Äquivalenzkette gemeint, sondern deren symbolische durch einen tendenziell leeren Signifikanten. Wie weiter oben ausgeführt, ist die tatsächliche Schließung einer Identität nicht möglich. Der Bedarf an dieser Schließung bzw. an der symbolischen Repräsentation der Schließung ist trotzdem vorhanden. Dieses unmögliche, aber nötige Unterfangen einer Signifizierung der Grenze der Identität bzw. des Allgemeinen versucht der tendenziell leere Signifikant. Er nimmt folglich die Rolle der symbolischen Repräsentation des imaginären Allgemeinen ein.16 Er bezeichnet das Unbezeichenbare und macht somit das Allgemeine symbolisch, aber nicht tatsächlich verfügbar. Da er seine theoretische ____________________ 16

Die hier verwendeten Begrifflichkeiten gehen auf den Psychoanalytiker Jacques Lacan zurück, der zwischen dem Imaginären, als das Ganze, das Sein ohne Mangel, dem Symbolischen, welches das Imaginäre repräsentiert, und dem Realen unterscheidet. Im Gegensatz zum Imaginären lässt sich das Reale nicht im Symbolischen abbilden, sondern »wird zu einem Namen gerade für das Scheitern des Symbolischen« (Laclau 2013: 82–93, hier 87). Diskurs bei Laclau und Mouffe wiederum »stimmt weitgehend mit dem überein, was in der Lacan´schen Theorie das ›Symbolische‹ genannt wird« (Laclau 2013: 98).

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

Funktion der Repräsentation des reinen Seins nicht nachkommen kann, ist er tendenziell unangemessen (Laclau 1996b: 40). Eine zweite Bemerkung betrifft Laclaus Ergänzung, dass die Produktion zweier leerer Signifikanten stattfindet. In dem oben bemühten Bespiel könnte dies auf der einen Seite bspw. Gerechtigkeit sein, während die Elemente der anderen Seite unter ›neoliberale Ordnung‹ gefasst würden. Die Funktion beider Bezeichnungen decken sich größtenteils: beide werden ihrer spezifischen Bedeutung weitgehend entleert und umfassen die Bedeutung aller Elemente der jeweiligen Äquivalenzkette. Dies trägt jeweils zur Stabilisierung der Äquivalenzkette bei. Die zentrale Funktion eines tendenziell leeren Signifikanten ist es jedoch, die Struktur zu schließen bzw. das Allgemeine zu repräsentieren. Laclau (2007: 30) beschreibt diese Funktion als Prozess, in dem »eine bestimmte Partikularität […] ihren eigenen Körper in die Repräsentation einer inkommensurablen Totalität« transformiert. Eine solche Totalität vermag der Signifikant, der die Elemente des Mangels repräsentiert, nicht herzustellen. Somit fällt die letztlich unmögliche Aufgabe das Universelle zu signifizieren nur dem Signifikanten zu, der vorgibt, die Äquivalenzkette A zu repräsentieren. Folglich kann es zwar einen Repräsentanten des Mangels und einen des Allgemeinen geben, wobei nur letzterem die Funktion des tendenziell leeren Signifikanten zukommt. Ohne diese kann nicht von der Ausbildung eines hegemonialen Projekts gesprochen werden, während der Repräsentant des Mangels »kein notwendiger Bestandteil hegemonialer Strategien« (Nonhoff 2006: 220) ist. Doch wie wird nun eine Forderung zu einem tendenziell leeren Signifikanten? Wie bereits erwähnt, operieren innerhalb einer Äquivalenzkette die Logiken der Differenz (Partikularität) und der Äquivalenz (Universalität) in unauflöslicher Spannung. Das besondere an einem tendenziell leeren Signifikanten ist nun, dass hier eine partikulare Forderung soweit von ihrer Bedeutung entleert wird, dass sie die unmögliche Funktion erfüllt, Universalität zu repräsentieren (Laclau 2013: 73). Der tendenziell leere Signifikant »signifiziert eine Totalität, die tatsächlich unmöglich ist« (Laclau 2007: 30).17 ____________________ 17

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Da es sich bei der Herausbildung eines tendenziell leeren Signifikanten um einen artikulatorischen Prozess handelt, wäre es treffender von einem geleerten Signifikanten zu sprechen, um die Prozesshaftigkeit zu betonen. Im Anschluss an Nonhoff (2006: 132–133) werde ich diese Präzisierung begrifflich nicht mitführen, um das umfangreiche hegemonietheoretische Begriffsarsenal nicht noch weiter auszudehnen.

2.1

Die Hegemonietheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

Nicht alle Signifikanten haben gleich gute Voraussetzungen, um den beschriebenen Entleerungsprozess erfolgreich zu durchlaufen. So gibt es Zeichen, die auf eine Vielzahl anderer Zeichen verweisen und denen im Alltagssprachgebrauch eine wenig klar umrissene Bedeutung zugeordnet ist. Dazu gehören bspw. Gerechtigkeit oder auch Würde und Souveränität. Aber dennoch geht es nicht um Abstraktion, sondern um Entleerung und auch weniger komplexe Zeichen wie ›Friede, Brot und Land‹, die die Forderungen der russischen Opposition 1917 signifizierten, können soweit entleert werden, dass sich verschiedene Forderungen durch sie ausdrücken lassen bzw. verschiedenen Positionen durch sie repräsentiert fühlen (Laclau 2005: 96–98). Voraussetzung für diesen Entleerungsprozess ist die oben ausgeführte poststrukturalistische Entkoppelung von Signifikant und Signifikat, »die Vorbedingung für Hegemonie schlechthin« (Laclau 2013: 84) ist. Nur dadurch kann ein Signifikant von einem bestimmten Signifikat distanziert werden. Dennoch gelingt es nie vollständig, einen Signifikanten von seiner Partikularität zu distanzieren, weswegen ich von einem tendenziell leeren Signifikanten spreche.18 Mit der Äquivalenzierung differenter Forderungen, der antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums und der Repräsentation durch einen leeren Signifikanten sind nun alle drei Faktoren benannt, die notwendig sind, um von der Ausbildung eines hegemoniales Projekts zu sprechen. Ob sich dieses Projekt erfolgreich durchsetzt, sprich hegemonial wird, ist damit hingegen nicht garantiert. Neben den bereits erwähnten Aspekten ist ein weiterer Hinweis auf den Erfolg eines Projekts, wenn um die eigentliche Bedeutung des tendenziell leeren Signifikanten gestritten wird. Wenn also nicht darum gerungen wird, ob Gerechtigkeit das Leitbild der Wirtschaftspolitik sein soll, sondern darüber, was Gerechtigkeit eigentlich ausmacht. Diese Auseinandersetzungen sind hegemoniale Praxen zweiter Ebene, die nach ähnlichen Logiken funktionieren (Nonhoff 2006: 204– 206). Dieser Aspekt ist in der Literatur wenig ausgearbeitet. Für die vorliegende Arbeit, die die eigentliche Bedeutung von Demokratie rekonstruiert, spielen die Auseinandersetzungen zweiter Ebene eine gewichtige Rolle. Ich werde dies in Kapitel 2.3, der Anpassung des hegemonieanalytischen Instrumentariums an die Fragestellung, ausführen. Doch zuvor ____________________ 18

Laclau selbst wechselt zwischen den Bezeichnungen. 1996 schreibt er noch durchgängig von leeren Signifikanten (Laclau 1996b), in einem Sammelband aus dem Jahre 2000 ergänzt er diesen Term mit tendenziell (Laclau 2013: 73), um wenige Jahre später diesen Zusatz wieder wegzulassen (Laclau 2007).

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

möchte ich dieses Instrumentarium und seine bisherigen empirischen Anwendungen diskutieren. 2.2

Von der Hegemonietheorie zur Hegemonieanalyse

In ihren zahlreichen hegemonietheoretischen Schriften entwickelten Laclau und Mouffe keine Methodologie oder Theorien mittlerer Reichweite, die konkrete Antworten auf die Frage geben, wie hegemoniale Praxis im empirischen Material identifiziert werden können. Diesem Vorwurf gegenüber bekennt sich Laclau (2004: 321) »happily guilty« und sieht sich nicht in der alleinigen Verantwortung Brücken zur empirischen Sozialforschung zu bauen. Vor allem in den 2000er Jahren entstanden mehrere Werke, die analytische Heuristiken aus der Hegemonietheorie ableiteten, empirisch prüften und weiterentwickelten. Diese Heuristiken sind Grundlage meiner Analyse. Besonders wertvolle Anregungen ziehe ich aus den Arbeiten von Nonhoff, Wullweber und Herschinger, die ich in diesem Kapitel vorstellen möchte. Ziel ist es einerseits darzulegen, wie meine Analyseheuristik zustande gekommen ist und andererseits zu begründen, warum ich mich für bestimmte Begrifflichkeiten entschieden habe. In einer umfassenden Monografie möchte Nonhoff (2006: 16) erhellen »wie diskursive Muster, die im Zuge hegemonialer Praxis artikuliert werden, typischerweise aussehen« und »die theoretische Rekonstruktion hegemonialer Strategien«19 empirisch überprüfen. Diese Überprüfung erfolgt durch die Rekonstruktion des erfolgreichen hegemonialen Projekts Soziale Marktwirtschaft. Nonhoff zeigt, wie es sich gegen andere hegemoniale Projekte im Diskurs um die Gestaltung der Wirtschaftspolitik der BRD durchsetzte. Sein Fokus liegt auf der Rekonstruktion offensivhegemonialer Strategien, die zur Durchsetzung einer bestimmten diskursiven Formation führen können.20 Als Ergebnis seiner Untersuchung stellt ____________________ 19

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Nonhoff weist darauf hin, dass sich der Begriff nicht ohne Weiteres in die poststrukturalistische Konzeption hegemonietheoretischer Arbeit integrieren lässt, da er ein starkes Subjekt in Form einer Strategin nahelegt. Genau dieses starke Subjekt schließen die hegemonietheoretischen Annahmen aus. Strategien sollen im Folgenden nicht als das Ergebnis intentional handelnder Subjekte verstanden werden, sondern als Formen der Sinnproduktion die nur rekonstruktiv zu erfassen sind (Nonhoff 2006: 207–211). Gegen- oder anti-hegemoniale Strategien hingegen arbeiten an der Zerstreuung von hegemonialen Projekten bzw. Hegemonien, indem sie Differenzen zwi-

2.2

Von der Hegemonietheorie zur Hegemonieanalyse

er neun Bestandteile dieser Strategien bzw. neun Strategeme vor (Abbildung 1), die aber nicht in dem Sinne zu verstehen sind, dass ihre Anwendung automatisch zum Erfolg eines hegemonialen Projektes führt, da diskursive Realitäten zu komplex und kontingent sind, um Kausalitäten zu behaupten (Nonhoff 2006: 211). Da es sich um Strategeme des Projekts Soziale Marktwirtschaft im Kontext wirtschaftspolitischer Diskurse handelt, ist nicht auszuschließen, dass sich manche Strategeme in der Rekonstruktion anderer erfolgreicher hegemonialer Projekte nicht wiederfinden bzw., dass neue Strategeme entdeckt werden. Nonhoff (2008: 328) selbst versteht seine Heuristik als offenes Set. A I

Kernstrategeme der offensiv-hegemonialen Strategie: Äquivalenzierung differenter, am Allgemeinen orientierter Forderungen II Antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums III Repräsentation B Grundlagenstrategem: IV Grundlagenstrategem der superdifferenziellen Grenzziehung C Ergänzende hegemoniale Strategeme: V emergente Interpretationsoffenheit des symbolischen Äquivalents des Allgemeinen VI Einrichtung/Fortschreibung von Subjektpositionen für politischgesellschaftliche Kräfte VII gezieltes und vereinzeltes Durchbrechen der antagonistischen Grenze D Sekundäre hegemoniale Strategeme: VIII Strategem des eigentlichen Verfechters IX Strategem der eigentlichen Bedeutung Abbildung 1: offensiv-hegemoniale Strategeme nach Nonhoff (2006: 213) Konstitutiv für jedes hegemoniale Projekt ist die Herausbildung dreier Kernstrategeme. Diese leitet Nonhoff direkt aus der Hegemonietheorie ab. Sie gleichen den »three structural dimensions« (Laclau 2005: 76) hege____________________ schen den Elementen der Äquivalenzketten artikulieren (Nonhoff 2006: 238– 240). Wegweisende Arbeiten hinsichtlich der Rekonstruktion im empirischen Material sind von Herschinger (2010: 37–39, 50–53) geleistet worden.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

monialer Praxis, wie Laclau (2005: 65–128) sie in seinem Buch On Populist Reason ausführlich beschrieben hat. Ihre grundlegende Funktionsweise wurde bereits skizziert. Die weiteren sechs, induktiv gewonnenen Strategeme bedürfen einer Erläuterung. Das Grundlagenstrategem der superdifferenziellen Grenzziehung (IV) ist von daher grundlegend, da der diskursive Raum in irgendeiner Form parzelliert und gegliedert werden muss, sodass überhaupt diskursive Strategien zum Tragen kommen können. Zwei Formen der Eingrenzung sind dabei bedeutend: zum einen die Eingrenzung der Reichweite des Diskurses auf eine bestimmte Bezugsgruppe, zum anderen durch den Bezug auf jeweils unterschiedliche Aspekte des imaginären Gemeinwohls (Nonhoff 2006: 231).

In den empirisch vorfindbaren Diskursen wird stets um die vorherrschende Deutung eines spezifischen Allgemeinen gerungen. Die Grenze zwischen verschiedenen Diskursräumen ist dabei weder gegeben noch fixiert, sondern muss immer wieder hergestellt werden. Dies geschieht, indem bspw. betont wird, die politische Ordnung hätte nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun. Die Eingrenzung von Diskursräumen ist zwar konstitutiv, aber nicht zwingend in den analysierten Texte vorfindbar, da manche Diskursräume stabil abgegrenzt sind, sodass die Grenze nicht notwendigerweise artikuliert wird (Nonhoff 2008: 328). Die drei ergänzenden Strategeme sind ebenfalls nicht zwangsläufig Teil von Artikulationen eines hegemonialen Projekts, erhöhen jedoch dessen Erfolgschancen. Sie wirken darauf hin, »hegemoniale Projekte so zu gestalten, dass sie möglichst umfassende Diskurskoalitionen ausbilden können« (Nonhoff 2008: 315). Das Strategem der emergenten Interpretationsoffenheit des symbolischen Äquivalents des Allgemeinen (V) ist eine Möglichkeit, die Diskurskoalition potenziell auszuweiten. Denn ist das symbolische Äquivalent des Allgemeinen, also jenes Element, dass die Funktion der Repräsentation einnimmt, für weitere Interpretationen offen, kann es von mehreren Positionen aus als symbolisches Äquivalent artikuliert werden. Dies ermöglicht breitere Diskurskoalitionen, da differente Forderungen von einem interpretationsoffenen symbolischen Äquivalent ›eingefangen‹ werden können (Nonhoff 2006: 233, 2008: 315). Das Strategem der Einrichtung/Fortschreibung von Subjektpositionen für politischgesellschaftliche Kräfte (VI) hat zum Ziel, nicht nur vielen Subjekten, sondern politisch-gesellschaftlichen Kräften wie bspw. Parteien oder Verbänden Subjektpositionen einzurichten. Dies geschieht mit dem Hinweis einer Regierung durch ihr Gesetzesvorhaben würden sowohl die Interessen der Unternehmerverbände als auch der Gewerkschaften berücksich42

2.2

Von der Hegemonietheorie zur Hegemonieanalyse

tigt. Machen sich diese das Vorhaben zu eigen und richten ihre Artikulationen in dessen Sinn aus, fördert das die Erfolgschancen (Nonhoff 2006: 233–234). Im Strategem des gezielten und vereinzelten Durchbrechens der antagonistischen Grenze (VII) zeigt sich der vermeintliche Widerspruch, dass antagonistische Grenzen zwar als streng und undurchlässig artikuliert werden, in Diskursen jedoch als deutlich flexibler und durchlässig rekonstruiert werden können. Da Diskurse permanent in Bewegung und durch Dislokationen brüchig sind, kann es aus Sicht eines hegemonialen Projekts erfolgsversprechend sein, Subjektpositionen oder Elemente in die eigene Kette zu integrieren bzw. aus dieser zu lösen und jenseits der Grenze zu artikulieren.21 Die sekundären hegemonialen Strategeme kommen dann zum Tragen, wenn ein hegemoniales Projekt bereits erfolgreich, sprich hegemonial ist. Das Strategem des eigentlichen Verfechters (VIII) beschreibt das Ringen um die Frage, welche politische Kraft dafür steht, die zum tendenziell leeren Signifikanten gewordene Forderung umzusetzen oder weiterhin stark zu machen. Dies impliziert eine Differenzierung jener Elemente, die das hegemoniale Projekt stützen. Es wird zwischen Elementen des eigentlichen Verfechtens und jenen, die ›nicht wirklich‹ oder ›nicht ernsthaft‹ das symbolische Allgemeine vertreten, unterschieden (Nonhoff 2006: 234– 235). Das Strategem der eigentlichen Bedeutung (IX) zeigt sich darin, ob es gelingt, dieses symbolische Äquivalent des Allgemeinen mit bestimmten Bedeutungen zu verknüpfen. Ist bspw. Gerechtigkeit als Repräsentant weitgehend akzeptiert, kann sich eine Auseinandersetzung darüber entwickeln, ob sie im Sinne von gleicher Verteilung ökonomischer Ressourcen oder im Sinne von Chancengerechtigkeit verstanden wird. In diesen Auseinandersetzungen kommen auch die Strategeme der ersten Ebene zum Tragen, da bspw. versucht wird, Subjektpositionen für politischgesellschaftliche Kräfte bereitzustellen, um eine bestimmte eigentliche Bedeutung des Repräsentanten durchzusetzen. Hingegen findet das Strategem der Repräsentation bei der Ausbildung von Hegemonien zweiter Ebene keine Anwendung, da nicht um die Besetzung des symbolischen Allgemeinen, sondern um dessen eigentliche Bedeutung gerungen wird ____________________ 21

Als Beispiel dafür nennt Nonhoff (2006: 234) die Röhmkrise 1934, im Zuge derer dem finanzkräftigen Großbürgertum eine Subjektposition in der Äquivalenzkette des hegemonialen Projekts Nationalsozialismus eingeräumt wurde, während die Positionen des sozialistischen Nationalsozialismus ihren Platz in der Kette verloren.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

(Nonhoff 2006: 236–237). Auseinandersetzungen zweiter Ebene sind Kennzeichen stabiler Hegemonien, da nicht mehr um ihren Anspruch auf Erfüllung aller Forderungen gerungen wird, sondern um Details dieser Erfüllung. Nonhoff gelingt es mit seiner Arbeit, die Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe so zu übersetzen, dass sie für empirische Forschungen anwendbar wird. Die teils deduktiv, teils induktiv gewonnenen Strategeme werden auch für meine Analyse eine zentrale Rolle spielen, wobei kleinere Anpassungen an den Untersuchungsgegenstand geleistet werden müssen. Weitere Anpassungen sind durch andere hegemonieanalytische Arbeiten inspiriert, die sich wiederum an Nonhoff orientieren, aufgrund der Fragestellung und ihres Untersuchungsgegenstands jedoch Abweichungen aufzeigen. Wullweber geht in seiner Analyse des Nanotechnologie-Projekts ähnlich vor wie Nonhoff in der Rekonstruktion des Diskurses um Soziale Marktwirtschaft. Inspiriert von dessen Arbeit rekonstruiert er sechs offensiv-hegemoniale Strategeme bzw. »Strategie-Cluster« (Wullweber 2010: 145), die zum Teil deckungsgleich mit den bereits vorgestellten sind (Abbildung 2). I II III IV V VI

Strategien der Artikulation des Leeren Signifikanten Strategische Grenzziehung Strategien der Äquivalenzierung von Artikulationen Strategien der legitimen Differenz Antagonistische Strategien Strategische Ausweitung der Äquivalenzketten

Abbildung 2: offensiv-hegemoniale Strategeme, eigene Darstellung nach Wullweber (2010: 144–150) Dabei ist nicht überraschend, sondern durch den hegemonietheoretischen Rahmen naheliegend, dass auch Wullweber die drei Kernstrategeme, Äquivalenzierung differenter Forderungen (hier das Strategem III), Antagonistische Zweiteilung (hier V) und Repräsentation (hier I) rekonstruiert. Das Strategem der strategischen Grenzziehung (II) beschreibt bei Wullweber, ähnlich zu Nonhoff, die Abgrenzung des Diskurses. Wullweber betont zudem die Möglichkeit mit diesem Strategem einzelne Elemente aus dem Diskurs auszugrenzen, was bedeutet, dass sie weder in die Äquivalenzkette A noch M verortet werden, sondern suggeriert wird, sie hätten mit dem Diskurs nichts zu tun (Wullweber 2010: 146). Das Strategem der 44

2.2

Von der Hegemonietheorie zur Hegemonieanalyse

legitimen Differenz (IV) beschreibt die Integration diskursiver Elemente, die aus der Äquivalenzkette M in die Äquivalenzkette A überführt werden. Vormals artikulierte Mängel oder Gefahren werden zu »›simplen‹ Widersprüchen« (Wullweber 2010: 148). Die Andersartigkeit dieser Elemente wird nicht negiert, sondern als legitime Differenz artikuliert, was das Projekt stärkt, da es behaupten kann, auf Kritik einzugehen und ehemalige Gegner_innen zu integrieren (Wullweber 2010: 147–148). Das Strategem der strategischen Ausweitung der Äquivalenzketten (VI) beschreibt das Vorgehen, die Äquivalenzketten nicht um jeden Preis zu erweitern und ggf. auch aus strategischen Gründen einzelne Elemente aus der Kette zu verbannen. Diese beiden Strategeme spezifizieren das, was Nonhoff als gezieltes und vereinzeltes Durchbrechen der antagonistischen Grenze bezeichnet hat. Somit sind diese beiden von Wullweber rekonstruierten Strategeme im Set von Nonhoff bereits enthalten. Damit stellen die von Wullweber herausgearbeiteten Strategeme keine Ergänzung dar, sind für meine Analyse jedoch besonders wertvoll, da viele der bisherigen Strategeme Nonhoffs, in einem völlig anderen diskursiven Kontext bestätigt wurden. Ebenso wie Wullweber orientiert sich auch Herschinger in ihrer Arbeit über Diskurse zu Terrorismus und Drogen an Nonhoff. Auch ihr geht es darum zu zeigen, wie bestimmte Sinnformationen vorherrschend werden (Herschinger 2010: 6). Sie rekonstruiert nicht nur die Strategien eines erfolgreichen hegemonialen Projekts, sondern »the discursive production and transformation of hegemonic orders« (Herschinger 2010: 1). Folglich stehen bei ihr offensiv-hegemoniale bzw. »productive hegemonic strategies« (Herschinger 2010: 34) und gegen- oder anti-hegemoniale bzw. »counter-hegemonic strategies« (Herschinger 2010: 37) gleichermaßen im Fokus. Ich werde mich auf die Diskussion der offensiv-hegemonialen Strategeme beschränken (Abbildung 3). Insgesamt arbeitet Herschinger neben den drei Kernstrategemen, welche bereits ausführlich vorgestellt wurden, fünf ergänzende Strategeme heraus, von denen einige den bereits diskutierten, ergänzenden Strategemen gleichen.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

A I II III B IV V VI

Kernstrategeme: Universalization Establishing an antagonistic frontier Representation Ergänzende Strategeme: Extending the antagonizing chain of equivalence Referring to a subject´s agreement with the general equivalent Simultaneously emphasizing and downgrading the articularity of a subject of chain A VII Crossing the antagonistic frontier in order to strengthen chain A VIII Enlarging the antagonized chain of equivalence Abbildung 3: offensiv-hegemoniale Strategeme, eigene Darstellung nach Herschinger (2010: 37–39, 49–50) Das ergänzende Strategem Extending the antagonizing chain of equivalence (IV) beschreibt die Integration weiterer Elemente, nachdem sich die Äquivalenzkette konstituiert hat (Herschinger 2010: 49). Da ich den im Kernstrategem Äquivalenzierung differenter am Allgemeinen orientierter Forderungen beschriebenen Vorgang als einen Prozess begreife, der nie abgeschlossen ist, ist dieses ergänzende Strategem also bereits darin enthalten. Das Strategem Referring to a subject´s agreement with the general equivalent (V) kommt dann ins Spiel, wenn die Äquivalenzkette A zu brechen droht und Differenzen innerhalb dieser Kette offensichtlich werden. Die Betonung der gemeinsamen Forderungen kann helfen, ein solches Auseinanderbrechen zu verhindern (Herschinger 2010: 49). Dieses Strategem verdeutlicht die Funktion des Strategems der Repräsentation, da dadurch Differenzen in der Äquivalenzkette A eher auszuhalten sind, bevor es zu einem Bruch kommt. Da auch die Repräsentation immer wieder artikuliert werden muss, ist die von Herschinger vorgenommene Spezifizierung durch dieses Kernstrategem abgedeckt. Mit dem Strategem Simultaneously emphasizing and downgrading the particularity of a subject of chain A (VI) ist es möglich, Differenzen in der Äquivalenzkette offen zu artikulieren, aber nur wenn gleichzeitig die Zustimmung zu den übergeorteten Forderungen mit betont wird. Herschinger nennt als Beispiel die Legalisierung des Kokaanbaus in Bolivien, bei gleichzeitiger Versicherung der Regierung, den internationalen Drogenhandel zu bekämpfen. Nur durch diese Artikulation kann Bolivien Teil des 46

2.2

Von der Hegemonietheorie zur Hegemonieanalyse

Projekts bleiben, ohne seine partikularen Forderungen nach legalem Anbau von Koka aufgeben zu müssen (Herschinger 2010: 49). Herschinger beschreibt hier eine interessante hegemoniale Operation, die im Kontext ihres Diskurses eine zentrale Rolle spielt. Meines Erachtens zeigt sich hier die Funktion und Notwendigkeit des Kernstrategems der Repräsentation, die es ermöglicht, dass die Äquivalenzkette A trotz Differenzen nicht bricht. Nur durch den Verweis auf den Kampf gegen Drogen, kann die Differenz in der Kette ausgehalten werden. Das Strategem Crossing the antagonistic frontier in order to strengthen chain A entnimmt Herschinger (2010: 49) den Arbeiten von Nonhoff, weswegen es deckungsgleich mit dem Strategem gezieltes und vereinzeltes Durchbrechen der antagonistischen Grenze ist. Etwas komplizierter ist die Einordnung des Strategems Enlarging the antagonized chain of equivalence (VIII), da Herschinger darunter meines Erachtens zwei verschiedene Aspekte subsumiert. Als Beispiel für die Erweiterung nennt sie einerseits die Einflechtung neu aufkommender synthetischer Drogen in die Äquivalenzkette M. Eine solche Operation sehe ich in dem Kernstrategem der antagonistischen Zweiteilung des diskursiven Raums beschrieben, da dieses Strategem permanent fortgeschrieben wird und neu auftauchende Elemente in der einen oder anderen Äquivalenzkette verortet werden. In ihrem Beispiel beschreibt sie auch die Verschmelzung des Drogendiskurses mit dem Diskurs zu Terrorismus. So kann durch die Verknüpfung neuer Drogen mit der Finanzierung des Terrorismus suggeriert werden, der Kampf gegen Drogen, diene auch dem Kampf gegen Terror (Herschinger 2010: 50). Diese Verschmelzung hat eine Erweiterung der Äquivalenzketten zur Folge. Ich sehe hierin eine Ergänzung zum Strategem der superdifferenziellen Grenzziehung. Denn das Beispiel zeigt, dass dieses Strategem nicht nur dazu dient, einen Diskursraum abzugrenzen oder Elemente aus diesem Raum zu verbannen, sondern die Erweiterung des Diskursraums oder eine Verschmelzung mit anderen Diskursräumen angewendet werden kann, um dem hegemonialen Projekt zum Erfolg zu verhelfen. Ich werde diese Spezifizierung in meiner Analyse berücksichtigen. In allen drei Arbeiten gelingt es, die von Laclau ausgearbeiteten Modi hegemonialer Praxen im empirischen Material zu rekonstruieren. Trotz der Unterschiedlichkeit der untersuchten Diskurse decken sich die rekonstruierten Modi in weiten Teilen. Damit zeigt sich die Analyseheuristik hinreichend empirisch tragfähig, um sie, angepasst an meinen Untersuchungsgegenstand und unter Vorbehalt möglicher weiterer Strategeme oder Verschiebungen in den Strategemen, der Arbeit zugrunde zu legen. 47

2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

Mit dem Instrument der Hegemonieanalyse, wie es von Nonhoff ausgearbeitet und von Wullweber und Herschinger erprobt und angepasst wurde, ist ein Weg gefunden worden, die Hegemonietheorie für empirische Studien zu übersetzen. Die Frage, nach welchen diskursiven Mustern die Forscherin Ausschau halten soll, um hegemoniale Praxen aus dem empirischen Material zu rekonstruieren, ist damit hinreichend geklärt.22 Ich bin somit der konzeptionellen Umsetzung der leitenden Forschungsfragen einen großen Schritt nähergekommen. Doch ehe ich auf die weiteren notwendigen Vorarbeiten zur Bearbeitung der Fragestellung eingehe, bedarf es eines Transfers der bisherigen hegemonietheoretischen und hegemonieanalytischen Überlegungen auf den Gegenstand der vorliegenden Analyse, auf den Diskurs der politischen Ordnung in der BRD. 2.3

Hegemonien zweiter Ebene – Deutungskämpfe um Demokratie

Ziel der Arbeit ist es zu rekonstruieren, wie die politische Ordnung der BRD geworden ist und wie das gegenwärtig hegemoniale Verständnis von Demokratie diese nahezu unangefochtene Position erlangen konnte. Die Spezifik dieses Diskurses besteht darin, dass durch die alliierten Besatzungsmächte nach Ende des Zweiten Weltkrieges bereits festgelegt war, dass Deutschland eine demokratische Ordnung bekommen sollte. Die Alliierten waren auch dazu in der Lage, diese Vorgabe durchzusetzen, weswegen dem Ringen um die politische Ordnung nach 1945 ein Rahmen gegeben war. Es wurde nicht darum gerungen, ob die politische Ordnung eine demokratische, monarchistische, faschistische etc. sein soll, sondern wie diese demokratische Ordnung eigentlich ausgestaltet werden solle und welche politisch-gesellschaftlichen Kräfte sie eigentlich durchsetzen könnte. Dies entspricht einer Auseinandersetzung um Hegemonie zweiter Ebene. Diese Einordung des Untersuchungsgegenstands erfordert eine Anpassung des Analyserahmens. Die meisten der in Kapitel 2.2 vorgestellten Strategeme werden voraussichtlich auch in der kommenden Analyse zum Tragen kommen, wobei aus theoretischer Perspektive die Bedeutung des Kernstrategems der Repräsentation an Bedeutung verliert. Denn die Demokratie als Repräsentant der politischen Ordnung steht nicht in____________________ 22

48

Wie wiederum die diskursiven Strategeme nachvollziehbar und präzise aus dem empirischen Material herausgearbeitet werden können, führe ich in Kapitel 3.3 aus.

2.3

Hegemonien zweiter Ebene – Deutungskämpfe um Demokratie

frage.23 Hingegen rücken die Strategeme der zweiten Ebene, die ich als zusammenfassende Strategeme begreife (Abbildung 4), in den Fokus. Das Grundlagenstrategem der superdifferenziellen Grenzziehung, tritt bei Auseinandersetzungen um Hegemonie zweiter Ebene in anderer Form in Erscheinung. Da der Diskursraum, durch die Entscheidung erster Ebene in irgendeiner Form begrenzt ist, bewegen sich diese Auseinandersetzungen bereits in einem abgegrenzten Raum. Dennoch ist es möglich, dass um den Verlauf der superdifferenziellen Grenze gerungen wird. Ich sehe dieses Ringen als ergänzendes Strategem, wie es bereits Herschinger in ihrer Untersuchung herausarbeitete. Aus diesen Anpassungen leitet sich folgendes Set ab, das meiner Untersuchung zugrunde liegt. Dabei ist die Identifikation weiterer Strategeme im Laufe der Analyse möglich. A I II B III IV V C VI VII

Kernstrategeme: Äquivalenzierung differenter, am Allgemeinen orientierter Forderungen Antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums Ergänzende Strategeme: Verschiebung der superdifferenziellen Grenze Einrichtung/Fortschreibung von Subjektpositionen Gezieltes und vereinzeltes Durchbrechen der antagonistischen Grenze Zusammenfassende Strategeme: Strategem des eigentlichen Verfechters Strategem der eigentlichen Bedeutung

Abbildung 4: offensiv-hegemoniale Strategeme zweiter Ebene, eigene Darstellung Obwohl in meiner Rekonstruktion die Hegemonie zweiter Ebene verhandelt wird, sind Rückkoppelungen auf die erste Ebene aufgrund der Unabgeschlossenheit von Diskursen erwartbar. Denn im Diskursverlauf tauchen neue Elemente auf, die diskursiv verarbeitet werden müssen. Werden sie ____________________ 23

Auch das Strategem der Interpretationsoffenheit der des symbolischen Allgemeinen wird nicht zum Tragen kommen. Eine solche Interpretationsoffenheit ist Voraussetzung für Kämpfe um Hegemonie zweiter Ebene, nicht ihr Bestandteil.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

als Mangel artikuliert kann dies entweder auf erster oder zweiter Ebene erfolgen. In unserem Beispiel wäre zu fragen, ob ein Mangel als antidemokratisch gilt oder als andere Position hinsichtlich der eigentlichen Bedeutung von Demokratie. Zur Veranschaulichung greife ich der Analyse vor. So wurden nationalsozialistische Positionen seit 1945 als antidemokratisch und Mangel erster Ebene artikuliert. Aus Sicht der Unionsparteien vertrat der Bundesrat 1950 eine andere Position bezüglich der eigentlichen Bedeutung von Demokratie, wurde deswegen aber nicht als antidemokratisch, sondern als Mangel zweiter Ebene artikuliert. Zudem wurden die Kämpfe bezüglich der politischen Ordnung der BRD erster Ebene nicht offen ausgetragen, sondern von den Alliierten vorgegeben, dass eine demokratische Ordnung etabliert werden müsse. So verstärkt sich der Effekt, dass die Kämpfe um Hegemonie zweiter Ebene, Rückkoppelungen auf die Kämpfe erster Ebene bewirken. Dies zeigt sich bspw. in der Rolle der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die nach Kriegsende als Akteurin im Ringen um die eigentliche Bedeutung der Demokratie akzeptiert wurde und erst Anfang der 1950er als antidemokratisch und somit Mangel erster Ebene galt. Die Auseinandersetzungen zweiter Ebene, geben auch Hinweise auf die Stabilität der Hegemonie erster Ebene (Nonhoff 2006: 206). Denn erstarrt die Debatte über die eigentliche Bedeutung von Demokratie, ist die hegemoniale Position von Demokratie bedroht. Denn die Spezifik eines tendenziell leeren Signifikanten ist, dass er flexibel und bedeutungsoffen ist. Verliert er diese Eigenschaften, was das Ende des Ringens um eigentliche Bedeutung impliziert, destabilisiert dies die hegemoniale Formation. Das wäre bspw. der Fall, wenn alle, die eine andere Bedeutung von Demokratie artikulieren, als sogenannte Feinde der Demokratie betrachtet würden. Alle Mängel zweiter Ebene also zu Mängeln erster Ebene würden. Dies verlagert den Konflikt auf die erste Ebene und erhöht die Gefahr, dass die Auseinandersetzung um Demokratie aufbricht. Der Repräsentant verliert seine integrierende Wirkung. Die Fixierung der eigentlichen Bedeutung von Demokratie stellt also eine Gefahr für die Hegemonie der Demokratie selbst dar. Die Unterscheidung zwischen Mängeln erster und zweiter Ebene sowie der Fokus auf das Ringen um die eigentliche Bedeutung von Demokratie sind Ergebnis der Anpassung des Untersuchungsrahmens an den Gegenstand der Analyse. Eine weitere, sprachliche Anpassung möchte ich daran anschließend vornehmen. Wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, ist es nicht das Kernanliegen der vorliegenden Arbeit, die Hegemonietheorie weiterzuentwickeln oder eine neue Operationalisierung vorzuschlagen. 50

2.3

Hegemonien zweiter Ebene – Deutungskämpfe um Demokratie

Der Fokus liegt auf einer theoretisch hergeleiteten Durchdringung des Gegenstands, der bundesrepublikanischen Demokratie. Um diesen Fokus zu unterstreichen, werde ich die Darstellung der Ergebnisse weitgehend von hegemonietheoretischem Vokabular befreien. So werden die Mängel in den jeweiligen Unterkapiteln zu ›Gefahren für die Demokratie‹ vorgestellt, wobei hierunter in der Regel die Mängel erster Ebene fallen. Auf eventuell artikulierte Mängel zweiter Ebene werde ich gesondert eingehen. Elemente, die sich am Allgemeinen orientieren, werden als unabdingbare Bestandteile der Demokratie artikuliert; ich fasse sie unter ›Kern der Demokratie‹. Aus beiden Aspekten lassen sich Rückschlüsse auf die zusammenfassenden Strategeme der eigentlichen Bedeutung und des eigentlichen Verfechters der Demokratie ziehen. Der Grenze zwischen Demokratie und den Elemente, die als antidemokratisch artikuliert werden, kommt folglich eine zentrale Bedeutung zu. Ein dritter wichtiger Aspekt ist, welche Konsequenzen an eine Artikulation als Mangel erster Ebene geknüpft sind. In unserem Bespiel meint dies, inwieweit antidemokratische Elemente toleriert oder bekämpft werden. Denn daran schließt sich die Frage an, wer legitimiert und überhaupt in der Lage ist, diese Konsequenzen zu vollziehen. Dies wiederum ist nicht unerheblich für die Frage, nach dem eigentlichen Verfechter der Demokratie. Die Darstellung der Analyse orientiert sich also an den drei Fragen: • Welche Elemente werden als Gefahren für die Demokratie artikuliert? • Welche Elemente werden als Kern der Demokratie artikuliert? • Welche Maßnahmen werden zum Schutz der Demokratie gefordert und welcher gesellschaftlich-politischen Kraft wird zugeschrieben, diese Maßnahmen umsetzen zu können?24 Passage Mit der Diskussion zentraler Aspekte der Hegemonietheorie nach Laclau und Mouffe wurde der theoretische Rahmen der vorliegenden Arbeit aufgespannt. Innerhalb dieses Rahmens entwickelten und erprobten Nonhoff, ____________________ 24

Eine Entscheidung diesbezüglich ist bereits weitgehend mit der Verabschiedung des Grundgesetzes gefallen. Die BRD versteht sich seit ihrer Gründung als wehrhafte Demokratie (Kapitel 4). In den darauf folgenden Analysen werde ich die dritte Frage folglich als ›Aspekte der Wehrhaftigkeit‹ diskutieren.

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2. Wie Hegemonien entstehen – theoretisch-analytischer Rahmen

Wullweber und Herschinger ein Instrument, das die Hegemonietheorie für die empirische Sozialwissenschaft übersetzt. Die so gewonnene Hegemonieanalyse leitet diese Arbeit. Ich verwende die hegemonialen Strategeme, die von den genannten Autor_innen weitgehend übereinstimmend rekonstruiert wurden, als Heuristik für meine Analyse. Hierfür waren allerdings einige Anpassungen hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands notwendig (Abbildung 4). Denn Auseinandersetzungen über die politische Ordnung der BRD sind Kämpfe um Hegemonie zweiter Ebene, da um die eigentliche Bedeutung von Demokratie gerungen wird. Durch diesen Blick auf den schillernden und umkämpften Begriff Demokratie erhoffe ich mir Rückschlüsse auf die Frage, welches Verständnis von Demokratie der politischen Ordnung der BRD zugrunde liegt. Nachdem ich in diesem Kapitel dargelegt habe, welcher theoretisch-analytische Ansatz meine Arbeit rahmt, möchte ich im folgenden Kapitel begründen, in welchen Untersuchungszeiträumen und anhand welcher Texte, sich die Entscheidung für eine antiextremistische, wehrhafte Demokratie rekonstruieren lässt.

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3.

Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

Um zu rekonstruieren, wie sich eine bestimmte diskursive Formation gegen andere durchgesetzt hat und hegemonial geworden ist, eignet sich die Hegemonieanalyse in besonderem Maße. Mit ihrer Hilfe kann herausgearbeitet werden, dass vermeintliche Objektivitäten auf Kämpfen um Hegemonie und damit auf kontingenten Entscheidungen beruhen. Durch die Verdeutlichung des kontingenten Charakters bestehender Formationen, können diese Diskurse repolitisiert und sedimentierte Entscheidungen unter veränderten Kontextbedingungen wieder diskutiert werden. Bezogen auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD), ist offensichtlich, dass nicht alle Auseinandersetzungen um die eigentliche Bedeutung von Demokratie im Rahmen dieser Arbeit detailliert analysiert werden können. Die Herausforderung besteht darin, genau jene Kämpfe zu identifizieren, die entscheidend zur Herausbildung der aktuellen Formation beigetragen haben. Um transparent zu machen, warum ich mich für welche Zeiträume entschieden habe, wird im ersten Unterkapitel der gesellschaftspolitische Kontext, in dem sich meine Analyse bewegt, dargestellt (3.1). Diese Kontextanalyse ist zudem notwendig, um die Darstellung der Analysen von ausführlichen Beschreibungen des Kontextes zu entlasten. An die Begründung der Analysephasenauswahl schließt die Erläuterung an, warum ich welche Texte für die Detailanalysen heranziehe (3.2). Abschließend werde ich erläutern, wie die gegen Ende des vorherigen Kapitels vorgestellten Strategeme auf der Ebene des Textes rekonstruiert werden können (3.3). 3.1

Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus – Kontext und Identifikation der Analysephasen

Eine Gefahr bei der Analyse unterschiedlicher Texte aus verschiedenen Zeiträumen liegt darin, die jeweiligen Kontexte aus dem Blick zu verlieren und somit falsche Schlüsse bezüglich der Fragestellung zu ziehen. Armin Landwehr (2008: 108) schreibt zur Funktion, die eine Kontextanalyse in diskurstheoretisch informierten Arbeiten einnimmt:

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen Die jeweils erforderlichen Verbindungen zu parallelen Entwicklungen, Zuständen, Ereignissen und Prozessen müssen hergestellt werden, um das untersuchte Material angemessen einordnen zu können.

Doch wie werde ich dieser Anforderung gerecht? Ein Blick in die themenbezogene Literatur zeigt, dass die Frage nach der Relevanz bestimmter Ereignisse und Entwicklungen sehr unterschiedlich beantwortet wird. Somit werden interessierte Leser_innen in diesem Kapitel manche Aspekte zu ausführlich und andere zu knapp behandelt sehen. Angesichts des langen Untersuchungszeitraums von 1945 bis 2017 bedarf es einer Schwerpunktsetzung. Im Mittelpunkt der jeweiligen Unterkapitel steht die Frage, in welchem gesellschaftspolitischen Klima die eigentliche Bedeutung von Demokratie verhandelt wird und ob sie entscheidenden Verschiebungen unterlag. Konkret bedeutet dies einen Fokus auf jene Ereignisse zu legen, durch die die politische Ordnung der BRD infrage gestellt wurde und auf die jeweilige hegemoniale Verarbeitung dieser Herausforderungen. Die Besonderheit der direkten Nachkriegszeit besteht darin, dass die politische Ordnung erst hergestellt werden musste. 3.1.1 Herausbildung des antitotalitären Selbstverständnisses der Bundesrepublik (1945–1952) Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war relativ offen, wie die politische Ordnung Deutschlands ausgestaltet werden würde. Einen erheblichen Einfluss hatten diesbezüglich die alliierten Besatzungsmächte. Deshalb wirkte sich die Entwicklung von einer Anti-Hitler-Koalition zu einer Frontstellung zwischen ›West‹ und ›Ost‹, die als Kalter Krieg in die Geschichtsbücher einging, erheblich auf die Deutschlandpolitik der Alliierten aus. Damit einher geht die Verschiebung der Feindbilder, gegen die sich der Westen Deutschlands abgrenzte, einher. Waren dies Anfangs die Nationalsozialist_innen, entwickelte sich bis 1952 durch Prozesse der Integration und Abgrenzung eine antitotalitäre Feindbildkonstruktion bzw. ein »antitotalitärer Konsens« (Glaeßner 1995: 18–22; Rigoll 2013: 8). Nach der Kapitulation des Deutschen Reichs übte der Alliierte Kontrollrat die höchste Regierungsgewalt über das ehemalige Staatsgebiet aus. Als Grundlage seiner Arbeit galt das Potsdamer Abkommen, das die Präsidenten der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens am 2. August 1945 unterzeichneten. Darin hieß es, »der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet« (zitiert nach Benz 2010: 39). Diese AntiHitler-Koalition zerbrach schon bald. Die sogenannte Truman-Doktrin, die 54

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

der damalige US-amerikanische Präsident am 12. März 1947 verkündete läutete »den Beginn des eigentlichen Kalten Krieges« (Nolte 1974: 234) ein. Sie sah eine Unterstützung antikommunistischer Kräfte in Griechenland und der Türkei vor, was zu einem offenen Bruch zwischen den USA und der Sowjetunion führte (Benz 2010: 255–324). Bereits zuvor war die Deutschlandpolitik der Alliierten von Spannungen zwischen den beiden Großmächten geprägt. Zu Protesten in den westlichen Zonen führte die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im April 1946, die auf Druck der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) aus der Vereinigung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) mit der SPD hervorging (Benz 2010: 124–128). Wirtschaftspolitische Differenzen kündigten sich bereits mit der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1945 und dem Streit über das Ausmaß der Reparationszahlungen an. Als Reaktion auf diesen Streit gründete sich am 1. Januar 1947 die britisch-usamerikanische Bizone, der sich Frankreich im März 1948 anschloss. Zu einer erheblichen Eskalation führte die Währungsreform in den Westzonen am 20. Juni 1948, die durch die Berlinblockade der SMAD beantwortet wurde. Die Abriegelung der Teile Berlins, die unter Verwaltung der westlichen Besatzungsmächte standen, blieb vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 bestehen. Währenddessen verfestigte sich die politische Trennung zwischen der SBZ und den drei westlichen Zonen. Am 1. Juli 1948 überreichten die Militärgouverneure den Ministerpräsidenten der Westzonen die Frankfurter Dokumente, die den Weg für das Grundgesetz ebneten. Dieses baut auf den Überlegungen der 1946/47 verabschiedenden Landesverfassungen sowie dem Konvent von Herrenchiemsee auf, und wurde im Parlamentarischen Rat ausgearbeitet. Das Grundgesetz war die Basis der am 23. Mai 1949 gegründeten BRD und legte den Grundstein für ihre politische Ordnung. Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) trat am 23. Oktober 1949 in Kraft, wodurch der zweite deutsche Staat gegründet war (Wolfrum 2007: 20–42; Benz 2010). Diese welt- und deutschlandpolitischen Entwicklungen beeinflussten die Grenzziehung zwischen der Demokratie und ihren Feind_innen in den Westzonen, und später der BRD, maßgeblich. Direkt nach Kriegsende war klar, dass die Nationalsozialist_innen als antidemokratisch galten, während die KPD nach Kriegsende an der Regierung von Niedersachsen und Bremen beteiligt war. Trotz prinzipieller Übereinstimmung im Potsdamer Abkommen hinsichtlich der Entnazifizierung Deutschlands bildeten sich in den Besatzungszonen verschiedene Integrations- und Abgrenzungsmechanismen gegenüber den ehemaligen NS-Belasteten heraus, die je nach 55

3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

nationalem Interesse und ideologischer Ausrichtung variierten (Dotterweich 1979).25 In der Bevölkerung der Westzonen verlor die Entnazifizierungspraxis zunehmend an Rückhalt und die anfangs verhalten geäußerte Kritik gewann spätestens seit 1948 die Oberhand (Frei 1996: 14). Grund dafür waren unter anderem die undurchsichtige ›Persilscheinpraxis‹, Korruption und die zunehmende Milde mit denen die Verfahren entschieden wurden, wovon vor allem die zurückgestellten Schwerbelasteten profitierten (Niethammer 1972: 546–550, 613–644). Diese Milde erklärt sich unter anderem aus dem Bruch der Anti-Hitlerkoalition, da Westdeutschland zunehmend als Partner gegen die Sowjetunion gesehen wurde, was eine weniger strikte Entnazifizierungspraxis nach sich zog (Niethammer 1972: 483–537). Da sich die Entnazifizierung auf etwa die Hälfte aller deutschen Familien negativ auswirkte (Dotterweich 1979: 149), waren die Erwartungen hoch, diese Praxis zu beenden, als der Bundestag am 20. September 1949 seine Arbeit aufnahm. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, dass der Bundestag als eine der ersten Maßnahmen ein Straffreiheitsgesetz auf den Weg brachte. Trotz kritischer Stimmen der Alliierten Hohen Kommission (AHK)26 und des Bundesrats, die eine massenhafte Amnestierung mit »unübersehbaren Auswirkungen« (Frei 1996: 43) fürchteten, wurde das Gesetz einstimmig angenommen und konnte bereits am 31. Dezember 1949 verkündet werden. Norbert Frei (1996: 53) bewertet das Gesetz als »den Einstieg in eine rasch fortschreitende Delegitimierung der Verfolgung von NS-Straftaten«. Ein weiterer zentraler Baustein dieser Entwicklung war die ›Wiedergutmachung‹ für Beamt_innen durch das 131er Gesetz.27 Es wurde am 11. Mai 1951 ohne Gegenstimme bei nur zwei Enthaltungen angenommen, was auf das große Wähler_innenpotenzial dieser Gruppe zurückzuführen ist (Frei 1996: 70). Diese Gruppe stellte 1953 30 Prozent aller Ministerial____________________ 25 26 27

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Sehr ausführlich ist die Entwicklung am Bespiel Bayerns bei Niethammer (1972) nachgezeichnet. Zur Entnazifizierung in der britischen und französischen Zone siehe Lange (1976) und Henke (1981). Die AHK ersetzte den Alliierten Kontrollrat, nachdem die Sowjetunion dieses Gremium verlassen hat. Bis zum Abschluss der Pariser Verträge 1955 hatte die AHK erhebliche Eingriffsrechte in die Souveränität der BRD. Als ›131er‹ wurden Beamt_innen aus den Ostgebieten, ehemalige Berufssoldaten oder von den Alliierten wegen ihrer Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) aus dem öffentlichen Dienst entfernte Personen bezeichnet. Von dem Gesetz profitierten 55.368 Personen, von denen ein »kräftiger Anteil« (Frei 1996: 87) als politisch belastet galt (Wolfrum 2007: 57).

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

beamt_innen (Frei 1996: 79, 85) und einige leitendende Gestapo- und SSAngehörige traten begünstigt durch das Gesetz in den Polizeidienst ein (Gössner 1994: 43–44). Die Reintegration der ›131er‹ stellte nach weit geteilter Meinung eine Stabilisierung der jungen Demokratie dar, da sich eine »loyale, dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtete Beamtenschaft« (Frei 1996: 100) bildete. Die andere Seite der Medaille zeigte einen großen moralischen Verlust an Glaubwürdigkeit und »schwerste Unterlassungsschäden« (Frei 1996: 100) in der Verfolgung von NS-Straftaten. Dominik Rigoll (2013: 36) bezeichnet das 131er Gesetz als »›Deal‹ zwischen den NS-Funktionseliten auf der einen, den Alliierten und deutschen Aufbaupolitikern auf der anderen Seite«. Die Integration eines großen Teils der politisch Belasteten durch das Amnestiegesetz, das 131er Gesetz und die Abwicklung der Entnazifizierung waren flankiert von einer Abgrenzung gegen die sogenannten Feinde der Demokratie. Der Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juni 195028 war dabei zentral und spielte eine »konsensbildende Rolle« (Gössner 1994: 41) zwischen den Westalliierten, der Bundesregierung und der Opposition (Schiffers 1989: 117; Frei 1996: 195–306). Dieser Konsens gab der Bundesregierung weitgehend freie Hand in der Bekämpfung sogenannter innerer Feinde. In einer Denkschrift an die Amerikaner vom 29. August 1950 beschwor Bundeskanzler Konrad Adenauer ein ähnliches Vorgehen der Sowjetunion gegen Westdeutschland herauf, wie es sich im Koreakrieg gegen Südkorea zeigte (Fülberth 1999: 43). Er leitete daraus die Notwendigkeit einer Aufrüstung nach Außen, aber auch nach Innen ab.29 Letzteres vollzog sich in den USA am 12. September 1950 durch den McCarran Internal Security Act, der die politische Verfolgung von Kommunist_innen legitimierte (Rigoll 2013: 79–82). Zwei Tage später kam der Bundestag anlässlich der bevorstehenden Volkskammerwahlen in der DDR zu einer »antikommunistische Feierstunde« (Rigoll 2013: 81) zu____________________ 28

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An diesem Tag marschierten Truppen des kommunistischen Nordkoreas in den von den USA unterstützten Süden des Landes ein. Die nordkoreanischen Truppen erhielten bald Unterstützung aus China und indirekt auch aus der Sowjetunion. In wenigen Monaten nahmen sie fast die gesamte koreanische Halbinsel ein. Am 27. Juli 1953 schlossen die Konfliktparteien einen Waffenstillstand. Der Koreakrieg schürte weltweit Angst vor einem neuen Weltkrieg. Auf Grund dieser Denkschrift reichte Innenminister Gustav Heinemann sein Rücktrittsgesuch ein, das Adenauer erst in einem zweiten Ablauf am 10. Oktober 1950 annahm. Heinemann war ein entschiedener Gegner der Remilitarisierung und auch dem Adenauererlass (s. u.) gegenüber kritisch eingestellt (Rigoll 2013: 85–86).

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

sammen. Der Minister für Gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser (1950: 3185D) forderte dort, es müsse ein »politischer und ein moralischer Feldzug gegen den Kommunismus geführt werden«. Der abschließenden Resolution stimmten auch die oppositionelle SPD und das Zentrum zu. Diese innen- wie außenpolitische Einigkeit gab »der Bundesregierung den Weg frei für Disziplinarmaßnahmen gegen Bundesbedienstete, die Mitglieder der KPD waren« (Schiffers 1989: 65). Am 19. September 1950 trat der sogenannte Adenauererlass in Kraft. Er baute auf dem § 3 des vorläufigen Bundespersonalgesetzes30 auf und kündigte Konsequenzen bei der Mitgliedschaft in Organisationen an, die Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Staatsordnung entfalten. Im Erlass werden zwei rechte und elf linke Organisationen, darunter die KPD, genannt.31 Die Umsetzung des Erlasses, der auf die Bundesländer und Kommunen ausgeweitet werden sollte, blieb in der Folgezeit unklar und der Erlass weitgehend wirkungslos (Schiffers 1989: 66–74; Rigoll 2013: 94–106). Mit den Gesetzen zum Verfassungsschutz, zum Bundeskriminalamt und zu den Bundesgrenzschutzbehörden verabschiedete der Bundestag in den folgenden Monaten weitere Maßnahmen einer Aufrüstung nach Innen (Schiffers 1989: 49–63). Wichtigster Baustein dieser Entwicklung war die Einführung der von den Alliierten abgeschafften Regelungen zum politischen Strafrecht. Durch das erste Strafrechtsänderungsgesetz (1. StÄG) wurden die Tatbestände zu Hochverrat und Landesverrat wieder, sowie zu Staatsgefährdung erstmals eingeführt. Da eine Änderung des Grundgesetzes notwendig war, bedurfte es der Zustimmung der SPD. Diese stellte im März 1950, also vor Ausbruch des Koreakrieges, ein eigenes Gesetz zum Schutz der Demokratie zur Diskussion, das sich erheblich vom Regierungsentwurf unterschied ____________________ 30

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Am 14. April 1950 hatten die Alliierten noch ein Veto gegen dieses Gesetz eingelegt, da es auf dem Beamtenrecht von 1937 beruhte. In einem Kompromiss wurde es vorerst bis zum 31. Dezember 1950 befristet. In den Augen der Alliierten war das Beamtentum maßgeblich für die Funktion des NS-Apparats verantwortlich, weswegen sie sich für dessen Abschaffung aussprachen. Die Bundesregierung pochte jedoch auf eine Beibehaltung und konnte sich im Frühjahr 1952 gegen die AHK durchsetzen. Somit trat am 14. Juli 1953 das Bundesbeamtengesetz in Kraft, welches »sämtliche alliierte Reformbestrebungen« (Wolfrum 2007: 57) im Beamtenrecht zunichte machte (Rupieper 1993: 175–199). Der genaue Wortlaut, die Liste der betroffenen Organisationen und die Anweisung an alle nachgeordneten Behörden, wie der Erlass umzusetzen sei, sind abgedruckt bei Fülberth (1982: 83–84). Ausführlicher zur Vorgeschichte des Erlasses siehe Rigoll (2013: 33–93).

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

(Schiffers 1989: 94–101). Dennoch stimmte sie der Vorlage der Bundesregierung am 11. Juli 1951 in dritter Lesung zu.32 Das wieder eingeführte politischen Strafrechts prägte in den Folgejahren den Kampf gegen die Feinde der Demokratie. Mit diesem Gesetz war die Aufrüstung nach Innen vorerst abgeschlossen (Rigoll 2013: 76–77, 83–84). In den Begründungen der aufgeführten Maßnahmen wird die KPD als demokratiefeindlich bezeichnet. Dies lag einerseits an der außenpolitischen Frontstellung im Kalten Krieg und der Wahrnehmung der KPD als ›Agentin Moskaus‹, aber auch an der zunehmenden Stalinisierung der Partei selbst. Sie isolierte sich durch einen radikalen Oppositionskurs und generierte sich als einzige Kraft des ›Nationalen Widerstands‹ gegen die Alliierten und für die Einheit Deutschlands. Die genannten Maßnahmen, allen voran das politische Strafrecht, ziehen aber auch eine Grenze nach rechts. Sie galten als Signal an die zahlreichen NS-Belasteten, dass sie nichts zu befürchten hätten, wenn sie sich an die Spielregeln der Demokratie hielten. Verlassen sie aber diesen Rahmen, drohen ihnen Konsequenzen, wie im ersten Parteienverbot in der Geschichte der BRD deutlich wird. Anlass dafür war der Wahlerfolg der offen neonazistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP), die bei den Landtagswahlen in Niedersachsen im Frühjahr 1951 elf Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Das veranlasste Adenauer, der eine Intervention der Alliierten und somit eine Verzögerung der Wiedererlangung der nationalen Souveränität fürchtete, ein Verbot der Partei zu erwägen (Doering-Manteuffel 1988: 51–64). Seine Koalitionspartner verknüpften jedoch ihr Einverständnis zu einem Verbotsantrag gegen die SRP mit einen Antrag gegen die KPD (Flümann 2015b: 175). Justizminister Thomas Dehler (FDP) argumentierte in einem Brief an Innenminister Robert Lehr (CDU), es wäre »›eine psychologische Erleichterung‹ für das Gericht, wenn auch eine Klage gegen die KPD eingereicht würde« (zitiert nach Bundeskabinett 1951b). So beschloss das Kabinett am 16. November 1951 sowohl einen Antrag zur Erklärung der Verfassungswidrigkeit von SRP als auch KPD an das Bundesverfassungsgericht (BverfG) zu stellen, obwohl die Materialzusammenstellung bezüg____________________ 32

Besonders pikant an dem umstrittenen Gesetz war, dass es von Schafheutle maßgeblich mit verfasst wurde, der schon als Mitarbeiter des Reichsjustizministeriums an der Ausarbeitung des politischen Strafrechts der Nationalsozialist_innen mitarbeitete (Gössner 1994: 53). Die personellen Kontinuitäten zum Nationalsozialismus im Prozess der Aufrüstung nach Innen arbeiten Gössner (1994) und vor allem Rigoll (2013) detailliert heraus.

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

lich der KPD noch nicht abgeschlossen war (Bundeskabinett 1951c).33 Gereon Flümann (2015b: 180) resümiert: »Ohne das Verbotsurteil gegen die SRP wäre es wohl nicht zu einem Verbot der KPD gekommen.« Am 23. Oktober 1952 gab das Gericht dem Antrag statt und verbot die SRP. Das Urteil ist bis heute von großer Bedeutung, da darin erstmals höchstrichterlich der Kern der bundesdeutschen Demokratie definiert wird. Denn nach Art. 21, Abs. 2 GG ist es alleinige Aufgabe des BVerfG festzustellen, ob eine Partei verfassungswidrig ist und somit verboten wird. Dies ist der Fall, wenn sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) verstößt. Eine Definition der fdGO, die bis heute leitend ist, legte das BVerfG in ihrem Urteil erstmals fest. Durch den Adenauererlass, die Wiedereinführung des politischen Strafrechts, dem ersten Parteienverbot und die Definition der fdGO als Kern der Demokratie, setzte sich in den ersten Jahren der Bundesrepublik eine spezifische Vorstellung von Demokratie durch. Diese grenzte sich gegen Kommunist_innen und noch aktive Nationalsozialist_innen ab, während viele ehemalige Nationalsozialist_innen großteils integriert wurden. Diese Form der Grenzziehung wurde von der Bundesregierung, der SPD und dem höchsten deutschen Gericht vertreten und von der AHK zumindest geduldet. Aufgrund dieser Einigkeit halte ich die Bezeichnung eines antitotalitären Konsenses für gerechtfertigt. Innerhalb dieses Konsenses variierte zwar die Schärfe der Abgrenzung zu den jeweiligen Seiten, der Grundstein für ein Denken, dass den politischen Raum zwischen legitimen Positionen der Mitte und zu bekämpfenden Positionen der radikalen bzw. extremen Ränder trennte, war hiermit gelegt und durch Gesetzgebung und Rechtssprechung institutionalisiert. In den Folgejahren stabilisierte sich dieser Konsens weiter, ohne umfassende Änderungen zu erfahren.

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Die Schwierigkeiten, die sich dem Gericht mit einem KPD-Verbot stellten, zeigten sich u. a. in der stark verzögerten Urteilsverkündung, die erst am 17. August 1956 erfolgte, und der Nachfrage des Gerichts 1954, »ob die Bundesregierung an ihrem Antrag weiterhin festhalte« (zitiert nach Brünneck 1978: 117). Aktuelle Forschungen, die auf die bislang unveröffentlichtes Material zugreifen konnten, sprechen von einem staatlich diktierten und verfassungswidrigen Verfahren (Foschepoth 2017).

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

3.1.2 Stabilisierung des antitotalitären Konsens (1953–1965) Die Phase bis Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich durch ein hohes Maß an Stabilität aus, das zu einer gesellschaftspolitischen Erstarrung führte, die Ende der 1960er Jahre aufbrach. In außenpolitischer Hinsicht ermöglichte die konsequente Westbindung eine baldige Rückgewinnung der staatlichen Souveränität. Die Pariser Verträge von 1954, die im Mai 1955 in Kraft traten, legten die Auflösung des Besatzungsstatuts und der AHK fest. Die Verträge ebneten ebenfalls den Weg für die Wiederbewaffnung der BRD und die Gründung der Bundeswehr. Diese im eigenen Land umstrittene Maßnahme ging mit dem Eintritt der BRD in das nordatlantische Verteidigungsbündnis (NATO) einher und vertiefte die Westbindung. Damit war auch die deutsche Teilung besiegelt und die Möglichkeit der Neutralität ausgeschlossen. Diese hatte Stalin bereits 1952 vorgeschlagen, wobei nicht zweifelsfrei geklärt ist, wie ernst es ihm mit der möglichen Wiedervereinigung eines neutralen Deutschlands war. Kurz nach dem NATO-Beitritt gründeten mehrere kommunistische Staaten, unter ihnen die DDR, mit dem Warschauer Pakt ein militärisches Beistandsbündnis. Die Frontlinie des Kalten Krieges verlief so durch das geteilte Deutschland (Fülberth 1999: 41–62; Küsters 2005; Schwarz 2005). Die innenpolitische Situation erwies sich bis Mitte der 1960er Jahre ebenfalls als stabil. Aus den Bundestagwahlen 1953 ging die Union als klare Siegerin hervor. Die kleinen bürgerlichen Parteien FDP, DP, Bayernpartei und das Zentrum büßten ebenso an Stimmen wie die KPD, die ab 1953 nicht mehr im Bundestag vertreten war. Ihren Rückhalt verlor die Partei durch ihren moskautreuen Kurs und der damit verbundenen engen Assoziation mit den Entwicklungen in der DDR. Die schlechte wirtschaftliche Lage und die blutige Niederschlagung der Aufstände vom 17. Juni 1953 im östlichen Nachbarstaat beschleunigten den Popularitätsverlust der KPD (Gössner 1994: 34–35, 126–128; Korte 2009: 37). Nach ihrem Verbot 1956 gab es für viele Jahre keine kommunistische Wahlalternative mehr. Mit dem Godesberger Programm von 1959 manifestierte die SPD den Wandeln von einer sozialistischen Arbeiter_innenpartei zu einer Volkspartei. Somit gab es keine größere politische Formation, die eine radikale Alternative zur bestehenden Ordnung anstrebte. Adenauer regierte bis 1963 mit stabilen bürgerlichen Mehrheiten und wurde von Ludwig Erhard abgelöst, unter dessen Führung die Union auch die Bundestagswah-

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

len 1965 gewann.34 Die lange Kanzlerschaft Adenauers machte Deutschland zu einem berechenbaren Partner. Doch als Kehrseite dieser Stabilität sahen einige Beobachter_innen die autoritär geführte »Kanzlerdemokratie« (Bracher 1974) und eine gesellschaftspolitische Erstarrung, die in den Folgejahren aufbrechen sollte (Doering-Manteuffel 1988: 24–29). Die autoritären Züge der Adenauerzeit zeigten sich in der Kriminalisierung oppositioneller Stimmen und der massenhaften Anwendung des politischen Strafrechts. Nach Schätzungen wurden bis 1968 gegen etwa 150.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, wobei sich der überwiegende Teil der Verfahren gegen Kommunist_innen, Liberale und andere links-oppositionelle Personen richtete (Posser 2000: 9).35 Diese wurden wegen ihres Engagements gegen die Wiederbewaffnung, für die Wiedervereinigung oder Kontakten zu Kommunist_innen bzw. in die DDR verfolgt. Nach der antisemitisch motivierten Hakenkreuz-Schmierwelle 1959/6036 verschärfte sich auch das Vorgehen gegen rechts. Für den anhaltend starken Fokus der Repression auf die linke Opposition gab es mehrere Gründe. Die »These von der kommunistischen Gefahr« (Jaschke 1991: 161), welche in der innenpolitischen Diskussion der BRD der 1950er und 1960er Jahre sehr präsent war, hatte mit der militärischen Stärke der Sowjetunion einen realen Kern. Kommunist_innen wurden als ____________________ 34

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Ein wichtiger Baustein für den Wählerzuspruch der Union war die stabile wirtschaftliche Lage. Begünstigt durch den Marshallplan, der Übersiedelung von Betrieben und Fachkräften aus der DDR und die relativ geringen Kriegsschäden, erholte sich die bundesdeutsche Wirtschaft rasch. Bis Mitte der 1960er Jahre wuchs das Bruttoinlandsprodukt kontinuierlich und bereits Ende der 1950er Jahre herrschte Vollbeschäftigung. Dieses sogenannte Wirtschaftswunder ermöglichte weiten Teilen der Bevölkerung zunehmende Konsumwünsche zu befriedigen (Fülberth 2007: 61–65, 103–106). Die Zahl der Verurteilten war mit geschätzten 10.000 vergleichsweise gering, trotzdem litten viele Angeklagte unter Schikanen wie Untersuchungshaft, Jobverlust, politische Disziplinierung etc. (Gössner 1994: 14–15). Genaue Zahlen zu Angeklagten und Verurteilten veröffentlichte das Bundesjustizministerium nie. Nur für das Jahr 1963 gab man gegenüber dem Magazin panorama (1964) eine Zahl von 10.000 Verfahren an, von denen lediglich 177 gegen Rechtsradikale eingeleitet wurden. In der Weihnachtsnacht 1959 schmierten zwei Mitglieder der Deutschen Reichspartei (DRP) antisemitische Parolen und Hakenkreuze an die Wände der Kölner Synagoge. Sie fanden rasch Nachahmer_innen, sodass die Polizei in den folgenden vier Wochen über 400 ähnliche Fälle registrierte. Diese Welle wurde vor allem im Ausland kritisch aufgenommen und löste Diskussionen um die Demokratiereife der Deutschen aus (Maxwill 2014).

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

eine »unmittelbare und akute Bedrohung für die Bundesrepublik« (Brünneck 1978: 338) gesehen und eine Bürgerkriegsszenario mehrfach heraufbeschworen. An dieser Stimmung hatte auch die Restaurationspolitik37 in der frühen BRD ihren Anteil. Der Antikommunismus galt als Bindeglied zwischen Adenauer und den reintegrierten ›131ern‹ im Beamtenapparat (Korte 2009). Deren berufliche Zukunft war vor allem vom Engagement oppositioneller Antifaschist_innen bedroht, die »weiterhin in aller Öffentlichkeit aus der NS-Belastung eines Beamten oder Richters dessen mangelnde Eignung ableiteten« (Rigoll 2013: 15). In wenigen Fällen führte die Aufdeckung der braunen Vergangenheit mancher Richter, Minister oder hoher Beamter zu Rücktritten, wie bei Theodor Oberländer, der als Bundesvertriebenenminister am 3. Mai 1960 auf Druck Adenauers zurücktrat. Häufiger hatten Anschuldigungen dieser Art eine Verurteilung oder Verunglimpfung der Ankläger_innen zur Folge, da viele ehemalige NSDAPMitglieder an der politischen Strafjustiz gegen links beteiligt waren (Rigoll 2013: 79, 179–180). Die Ausgrenzung linker Oppositioneller ging nicht nur von der Bundesregierung, der Justiz und der Beamtenschaft aus, sondern wurde auch von der SPD betrieben. Prominent war bspw. der Fall Viktor Agartz, der 1957 wegen Ostkontakten angeklagt wurde. Trotz eines Freispruchs distanzierten sich SPD und Gewerkschaften von ihm und schlossen ihren »wichtigsten Wirtschaftspolitiker« (Jünke 2008: 40) später sogar aus (Posser 2000: 159–172; Jünke 2008). Drei Jahre später wurden zwei Mitglieder aus dem damals noch SPD-nahen Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ausgeschlossen, die auf Basis ostdeutschen Archivmaterials die Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz konzipiert hatten. Den beiden half es auch nicht, dass Generalbundesanwalt Max Güde (CDU) ihrem Material Echtheit bestätigte (Rigoll 2013: 145–147). Der antitotalitäre Konsens, der sich in den ersten Jahren der BRD herausbildete, bleibt also bis in den 1960er Jahre hinein bestehen und verfestigt sich durch repressive Maßnahmen gegen Kommunist_innen und noch ____________________ 37

Der Vorwurf der Restauration, also der Herstellung des früheren Zustands, geht auf einen Aufsatz von Dirks aus dem Jahre 1950 zurück. Dieser beklagt darin jedoch den restaurativen Charakter der Nachkriegsjahre in ganz Europa und sieht neben den Unionsparteien auch bei den Alliierten, SPD und KPD eine Verantwortung dafür, dass die Chance verpasst wurde »nach dem Zusammenbruch der alten Welt eine menschlichere aufzubauen« (Dirks 1950: 942). Zum Streit über diesen Begriff und seine Bedeutung in der BRD siehe Fröhlich (2008).

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

aktive Nationalsozialist_innen.38 Eine substanzielle Verschiebung in der Grenzziehung zwischen Demokratie und jenen, die als Feinde der Demokratie bezeichnet wurden, hat nicht stattgefunden. Jedoch wurden die kritischen Stimmen gegen Restaurationspolitik, Remilitarisierung und autoritärer Innenpolitik lauter (Rupp 1970; Korte 2009: 82–99). Zudem verwiesen verschiedene Urteile hoher Gerichte bereits Anfang der 1960er Jahre auf eine kommende Liberalisierung des Strafrechts (Rigoll 2013: 164–169). Die Spiegelaffäre von 1962 führte zum Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß (CSU) und signalisierte »einen Wandel im öffentlichen Selbstverständnis der Bundesrepublik« (Wolfrum 2007: 212). Dieser Wandel »war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Machtwechsel des Jahres 1969« (Sontheimer 2003: 64). 3.1.3 Liberalisierung und erneuerte Grenzziehung (1966–1972) Nach der Phase der Stabilität bzw. Erstarrung beschleunigten sich die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik ab Mitte der 1960er Jahre. Die Jahre der Großen Koalition von 1966 bis 1969 waren von einer innenpolitischen Polarisierung und Reformbemühungen gekennzeichnet. Die erste sozialliberale Koalition versuchte ab 1969 die aufgebrochene Polarisierung zu befrieden, was sie einerseits mit Demokratisierung und Reformen, andererseits mit einer Grenzziehung zu den Protestpotenzialen, die sich nicht integrieren ließen, vollzog. Erste zaghafte Versuche einer gesellschaftlichen Öffnung, fanden nach dem Scheitern der Regierung Erhard unter einer von Kurt Georg Kiesinger (CDU) geführten Großen Koalition statt. Dazu gehörte die Liberalisierung des politischen Strafrechts einerseits, aber auch die heftig umstrittenen Notstandsgesetze und eine weitgehende Amnestie für NS-Täter_innen39 ____________________ 38

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Die Integrationspolitik der Nachkriegszeit zeigte sich in der Hinsicht erfolgreich, dass sich keine größere neonationalsozialistische Partei oder Bewegung etablieren konnte. Jedoch bekleideten viele ehemalige NSDAP-Mitglieder hohe Posten in der Nachkriegsdemokratie. Aus einer jüngeren Anfrage im Bundestag geht detailliert hervor, wie viele Belastete im Bundestag und in Ministerien tätig waren (Bundesregierung 2011). Durch das Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24. Mai 1968 profitierten viele NS-Täter_innen, deren Verfahren nun endgültig eingestellt wurden. Justizminister Heinemann sprach diesbezüglich von einer »bedauernswerten Panne« (zitiert nach Rigoll 2013: 209).

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

andererseits (Lehmann 1995: 168–170). In Hinblick auf die Bundestagswahlen 1969 stellte die Große Koalition zunehmend ihre Reformbemühungen ein (Fülberth 1999: 134–154). Obwohl das sozialliberale Lager als Siegerin aus diesen Wahlen hervorging, vereinten die Rechtsparteien eine Mehrheit von 50,4 Prozent der Stimmen, da die NPD mit 4,3 Prozent nur knapp am Einzug in den Bundestag scheiterte. Somit konnte die Regierung unter Willy Brandt (SPD) nur bedingt auf eine gesellschaftliche Mehrheit zurückgreifen. Die angesprochene Polarisierung verdeutlicht sich vor allem durch ein Erstarken der nationalen Opposition und der radikalen Linken.40 Die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) konnte weite Teile der nationalen Opposition auf sich vereinen und schaffte in den Jahren der Großen Koalition den Einzug in sieben Landesparlamente mit insgesamt 61 Abgeordneten (Stöss 1984a: 53, 58). Bei den Bundestagswahlen 1969 scheiterte die Partei wider Erwarten an der Fünf-ProzentHürde und verschwand bald darauf für viele Jahre in der Bedeutungslosigkeit. Ein Großteil der Wähler_innen wechselte zur CDU, die nach ihrer Wahlniederlage einen Rechtskurs einschlug (Stöss 1984a: 58). Die außerparlamentarischen nationalen Kräfte bündelten sich in der Aktion Widerstand, die Anfang der 1970er Jahre mit teils gewaltsamen Aktionen gegen die neue Ostpolitik der Regierung Brandt auf sich aufmerksam machte (Botsch 2012: 62–63). Eine linksradikale Protestbewegung entstand vor allem an den Universitäten. Die Solidaritätswelle nach der Entlassung des Politologen Ekkehart Krippendorff im Zuge einer Veranstaltung zur Restaurationspolitik in der BRD am 8. Mai 1965 gilt als ein wichtiger Startpunkt der Protestbewegung, die mit dem Bezeichnung ›68er‹ in die Geschichtsbücher einging. Durch die anhaltenden Proteste gegen die geplanten Notstandsgesetze sowie die Entwicklungen im Iran und in Vietnam wurden linksradikale Positionen zunehmend populär. Für zusätzliche Spannungen sorgten der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und der Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11. April 1968, dem die sogenannten Osterunruhen folgten ____________________ 40

Diese beiden Begriffe sind Sammelkategorien für jene politischen Strömungen, die die bestehende politische Ordnung infrage stellten. Sie sind weitgehend eine Selbstbezeichnung der entsprechenden Gruppen. Von Rechts- und ›Linksextremismus‹ spreche ich nur im Sinne einer Fremdbezeichnung. Sofern es der Zusammenhang erlaubt, werde ich spezifischere Bezeichnungen wie bspw. Neonationalsozialist_innen oder Trotzkist_innen den Sammelkategorien vorziehen, um den Gegenstand exakter zu fassen.

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

(Wolfrum 2007: 261–271). Spätestens nach der Niederschlagung des ›Prager Frühlings‹ durch sowjetische Truppen brach ein Großteil der Protestbewegung mit kommunistischen Vorstellungen sowjetischer Prägung. Mit den ›68ern‹, inspiriert durch linke Intellektuelle, fanden trotzkistische, rätedemokratische oder anarchistische Ideen Widerhall in der jungen Generation. Dieser Teil der linksradikalen Gruppen wurde, in Abgrenzung zur orthodox-kommunistischen Linken, unter dem Sammelbegriff Neue Linke gefasst (Wolfrum 2007: 261–271; Birke u. a. 2009). Bei den Bundestagswahlen 1969 gelang es Brandt, einen großen Teil des linken Protestpotenzials für sich zu gewinnen, indem er ihre grundsätzlichen Fragen in seine Politik integrierte (Scherer 1984: 73). Die Hoffnung mit der konservativen Vorherrschaft der Adenauerjahre zu brechen, schlug sich in 300.000 neuen SPD-Mitgliedern zwischen 1969 und 1972 nieder (Rigoll 2013: 227). Die von Brandt 1970 ausgehandelten Ostverträge verabschiedete der Bundestag im Mai 1972 nach einem Misstrauensvotum und leidenschaftlichen Debatten (Lehmann 1995: 240–243). Auch innenpolitisch setzte die sozialliberale Regierung einige bildungsund wirtschaftspolitische Reformen durch (Lehmann 1995: 295–296; Fülberth 1999: 165–167). Die Ost- und Reformpolitik stand unter großem Druck der parlamentarischen und außerparlamentarischen rechten Opposition. Die Radikalisierung eines Teils der ›68er‹ und gewalttätige Proteste erhöhten den Druck auf die Regierung, eine Grenze gegenüber der radikalen Linken zu ziehen. Der erste Schritt dahingehend war der Beschluss des SPD-Parteivorstands eine Zusammenarbeit mit der DKP und ihren Gliederungen zu untersagen. Sehr viel umstrittener und heftig diskutiert wurde der Beschluss der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers vom 28. Januar 1972 zur Fernhaltung von Radikalen aus dem Öffentlichen Dienst, besser bekannt als Radikalenerlass. Lehmann (1995: 229) erkennt darin ein »innenpolitisch ›repressives‹ Pendant zu sozialliberalen Ostpolitik« (siehe auch Schultz 2011: 159–186). Aufgrund der Transformation der radikalen Linken und der weitgehenden Diskreditierung des rigiden Antikommunismus der 1950er und 1960er Jahre musste eine andere Form der Grenzziehung gefunden werden. Bis Ende der 1960er Jahre definierte sich die demokratische Ordnung der BRD vornehmlich »in der Abgrenzung vom ›Totalitarismus‹. Nationalsozialismus und Stalinismus als seine beiden Ausdrucksformen fungieren als negative Bezugsfolien der politischen Kultur« (Jaschke 1991: 12). Aber weder konnten weite Teile der Neuen Linken mit den kommunistischen Regimen, noch die NPD ohne Weiteres mit dem Nationalsozialismus 66

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

identifiziert werden. So löste Extremismus den Totalitarismusbegriff zur Bezeichnung der Feinde der Demokratie ab. 3.1.4 Terrorismus und Neue Soziale Bewegungen (1973–1982) Viele Protagonist_innen der ›68er‹ engagierten sich in den aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen (NSB), die als nicht formalisierte Akteurinnen zu einem festen Bestandteil der politischen Landschaft wurden. 1979 waren ca. 1,8 Millionen Bundesbürger_innen in den NSB aktiv (Wolfrum 2007: 404). Die Umweltbewegung setzte sich in erster Linie gegen den Ausbau der Atomkraft ein. Die Zweite Frauenbewegung erkämpfte mit der Änderung des Abtreibungsparagrafen und der Reform des Familien- und Eherechts wichtige Teilerfolge (Fülberth 1999, 189–91; Scherer 1984a, 75–79). Auch die Proteste gegen den Radikalenerlass mobilisierten viele Menschen bis in die Regierungsparteien hinein (Fülberth 1999, 180). Im Widerstand gegen den NATO-Doppelbeschluss, der vom NATO-Rat am 12. Dezember 1979 ratifiziert wurde, wuchs die Friedensbewegung zur größten sozialen Bewegung der BRD. Fünf Millionen Menschen unterschrieben den Krefelder Appell und fast halb so viele beteiligten sich an Demonstrationen gegen diesen Beschluss (Scherer 1984: 84–86). Ebenfalls aus der Protestbewegung der ›68er‹ entwickelte sich mit der Roten Armee Fraktion (RAF) eine linke Terrorgruppe. Als ihre Geburtsstunde gilt die Befreiung von Andreas Baader am 14. Mai 1970, der aufgrund einer Kaufhausbrandstiftung im April 1968 im Gefängnis saß. Die Beteiligten an dieser Aktion, die erste Generation der RAF, wurden zwei Jahre später gefasst. Im Mittelpunkt der zweiten Generation stand das Ziel, die Aktivist_innen frei zu pressen, was sie durch eine Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm 1975, die Entführung Hanns Martin Schleyers und der Lufthansa-Maschine ›Landshut‹ im Herbst 1977 zu erreichen hofften. Die Regierung ging jedoch nicht auf die Forderungen der Entführer_innen ein. Schleyer wurde tot aufgefunden, die Entführer_innen der ›Landshut‹ überwältigt, während die noch lebenden Mitglieder der ersten Generation in Folge der gescheiterten Aktionen nach offiziellen Angaben Selbstmord im Gefängnis Stuttgart-Stammheim begingen. Das einzig überlebende Mitglied der ersten Generation, Irmgard Möller, sowie Unterstützer_innen der RAF gingen hingegen von Mord aus (u. a. Aust 1997; Tolmein 2002; Winkler 2008). Neben der RAF verübten die Bewegung 2. Juni und die Revolutionären Zellen Terroranschläge in der BRD. Insgesamt hatten die linksterroristischen Anschläge in den 1970er Jahren 28 67

3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

Todesopfer zur Folge (Haus der Geschichte Baden-Württemberg 2009: 125–127). In Folge des Niedergangs der NPD radikalisierten sich in den 1970er Jahren Teile der nationalen Opposition. Nachdem die NPD ihre Bindungskraft verlor, gab es ab Mitte der 1970er Jahre eine ›Renaissance des Nationalsozialismus‹ (Dudek und Jaschke 1984: 164–166). Neben provokanter Zurschaustellung von NS-Symbolik gewannen neonazistische Gruppen wie die Wiking-Jugend oder der Bund Heimattreuer Jugend Zulauf. Terroristische Züge nahmen die Volkssozialistische Bewegung Deutschlands um Friedhelm Busse, die Aktionsfront Nationaler Sozialisten, die Wehrsportgruppe Hoffmann und die Deutschen Aktionsgruppen um Manfred Roeder an (Botsch 2012: 60–84). Letztere verübten 1980 mehrere Sprengstoff- und Brandanschläge, denen Ngoc Nguyen und Anh Lan Do zum Opfer fielen. Im selben Jahre zündete auf dem Münchner Oktoberfest der Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmann, Gundolf Köhler, einen Sprengsatz, der ihn und zwölf weitere Menschen tötete und über 200 verletzte. Auch der Doppelmord an dem jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frieda Poeschke im Dezember 1980 in Erlangen wurde von einem Anhänger der Wehrsportgruppe verübt (Botsch 2012: 82–83; Chaussy 2014). In den Folgejahren wurden die Wehrsportgruppe und weitere rechtsextreme Vereinigungen verboten. Die bis 1982 amtierende sozialliberale Koalition sah sich in erster Linie durch den Linksterrorismus herausgefordert und reagierte mit einer Fülle von Gesetzesverschärfungen (Kapitel 8.1.1). Während Heinrich August Winkler (2000a: 348) darin ein »neues Selbstbewusstsein« der bundesdeutschen Demokratie erkennt, resümieren andere Beobachter_innen, dass »aus dem Jahrzehnt der inneren Reformen [...] das Jahrzehnt der inneren Sicherheit« (Scherer 1984: 76; ebenso Lehmann 1995: 229–234; Fülberth 1999: 197) wurde. Vor allem im Zuge der Diskussion um RAFSympathisant_innen gab es Bestrebungen, die kurz zuvor gezogene Grenze der Demokratie zu erweitern und neben Extremist_innen und Terrorist_innen auch gegen deren vermeintliche oder tatsächliche Sympathisant_innen vorzugehen, die im intellektuellen Milieu der Universitäten ausgemacht wurden (Jaschke 1991: 241–276; Husmann 2015: 44–99). Zu den Herausforderungen durch den Terrorismus wurde der Rechtstaat zunehmend durch Aktionen des zivilen Ungehorsams in Bedrängnis gebracht. Vor allem die Friedensbewegung rief nach dem NATODoppelbeschluss zu massenhaften Blockaden auf. Die Debatte um Legitimität dieser Aktionen und die staatliche Reaktion darauf zogen sich bis in die Regierungszeit der 1982 anbrechenden Ära Kohl. 68

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

3.1.5 Verschiebungen in der politischen Kultur (1983–1989) Am 1. Oktober 1982 gelang es der Union durch ein Misstrauensvotum die Regierung von Helmut Schmidt (SPD) abzusetzen. Der neue Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) sollte 16 Jahre lang regieren. Trotz seiner Ankündigung einer politischen Wende und der harschen Kritik an der sozialliberalen Ostpolitik führte die neue Bundesregierung den eingeschlagenen außen- und deutschlandpolitischen Kurs im Prinzip fort (Benz 1989: 66; Winkler 2002: 20). Als Antwort auf die innenpolitischen Herausforderungen waren keine strukturellen Unterschiede zur Vorgängerregierung auszumachen, die bereits weitgehende Sicherheitsgesetze auf den Weg gebracht hatte. Der Höhepunkt linksterroristischer Aktionen war Ende der 1970er Jahre erreicht. Spektakuläre und länger andauernde Entführungen blieben in den 1980er Jahren aus. Nachdem führende Mitglieder der zweiten Generation der RAF im November 1982 festgenommen wurden, bildete sich eine dritte Generation, die bis 1993 zehn Morde verübte. Im Gegensatz zu den ersten beiden Generationen fand sie weit weniger Unterstützung in der linken Szene und geriet vor allem durch den Mord an dem US-Soldaten Edward Pimental auch in ihrem eigenen Umfeld in die Kritik (Straßner 2003). Eine beständigere Herausforderung für die etablierte Politik stellten die sozialen Bewegungen dar. 1980 gründete sich die Partei Die Grünen als parlamentarisches Standbein der Ökologie- und Friedensbewegung. Sie zog 1983 mit 5,6 Prozent in den Bundestag ein und übernahm bereits zwei Jahre später Regierungsverantwortung in Hessen. In den Folgejahren passte sich diese ›Anti-Partei‹ zunehmend dem Politiksystem an (Dittberner 2011: 212–213). Im Herbst 1983 rief die Friedensbewegung zu einem ›heißen Herbst‹ auf, an dem sich über eine Millionen Menschen mit verschiedenen Aktionen beteiligten. Während Innenminister Friedrich Zimmermann (CDU) die Aktionen des gewaltfreien Widerstands verurteilte, fanden sie bei vielen Prominenten wie Heinrich Böll, Oskar Lafontaine oder Jürgen Habermas Unterstützung (Glotz 1983; Habermas 1983). Unter dem Druck Zimmermanns wurde 1985 das Versammlungsgesetz trotz Bedenken des liberalen Koalitionspartners verschärft. Vermummungen galten nun als Straftat und die 1970 eingeführte Liberalisierung der Regelung zu Landfriedensbruch wurde zurückgenommen (Busch 2002). Trotz der scharfen Rhetorik gegenüber den sozialen Bewegungen und den Grünen, deren Verbot vereinzelt gefordert wurde, gelang es nicht, diese als antidemokratisch zu markieren und aus dem politischen Diskurs auszugrenzen (Stöss 1984b; Jaschke 1991: 19). Eine solche Grenze wurde hingegen zum 69

3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

militanten Teil der sozialen Bewegungen, den Autonomen, gezogen. Sie gingen aus der Anti-AKW-Bewegung und der Hausbesetzer_innenszene hervor und lehnten die »gemäßigten Forderungen der Bürgerinitiativen und [die] hierarchische und autoritäre Binnenstruktur« der K-Gruppen ab (Haunss 2013: 27). Fiel die Abgrenzung gegenüber den sozialen Bewegungen und den Grünen von Seiten der Bundesregierung deutlich aus, versuchte sie rechte Wähler_innen an sich zu binden. 1983 verabschiedete die Koalition das umstrittene Rückkehrhilfegesetz, welches durch finanzielle Anreize Ausländer_innen zur Ausreise drängen sollte (Wolfrum 2007: 357). Im Wahlkampf 1987 nahm sie die Forderung nach einer Begrenzung der Ausländer_innenzahlen auf und forderte einen ungezwungen Umgang mit der deutschen Vergangenheit (Stöss 2000: 118–119). Ein konservativer Kurs in der Geschichtspolitik zeigte sich bspw. in Kohls Rede über die Gnade der späten Geburt 1984 vor der Knesset oder der Bitburg-Affäre 1985 (Fischer und Lorenz 2007: 226–242; Wolfrum 2007: 362–364).41 Der Historiker Gerhard Paul (1989b: 8) kritisiert eine Politik des Tabubruchs und der nationalen Symbolik, der Ausländer- und Asylantenhetze, [die] die politische Kultur der Bundesrepublik verändert und ideologische Schranken nach rechts geöffnet [hat], die gestern noch geschlossen waren.

Dennoch zeigte sich gegen Ende der 1980er Jahre durch Wahlerfolge der Deutschen Volksunion (DVU) in Bremen 1987, der Republikaner 1989 in Berlin und bei den Europawahlen, sowie der NPD auf kommunaler Ebene in Hessen ein Integrationsverlust nach rechts. Vor allem die Republikaner nahmen für einige Jahre eine »Brückenfunktion« (Paul 1989a: 13) zwischen rechtsextremen und rechtskonservativen Kreisen ein. Eine ebensolche Funktion wird auch der Neuen Rechten zugeschrieben, die in den 1980er Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erregte und der es gelang, Unionspolitiker_innen für ihre Positionen zu gewinnen (Feit 1987; PfahlTraughber 1994). Im gleichen Zeitraum ging die Bundesregierung mit mehreren Verboten gegen neonazistische Gruppierungen, die teils terroris____________________ 41

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Auf der anderen Seite gilt die Weizäcker-Rede anlässlich dem 40-jährigen Kriegsende als geschichtspolitischer Meilenstein, da erstmal ein Bundespräsident den 8. Mai als Tag der Befreiung kennzeichnete und forderte, die Vergangenheit anzunehmen (Hammerstein und Hofmann 2015). Die wissenschaftliche Debatte über die Rolle des Holocaust im deutschen Geschichtsbild wurde im Historikerstreit 1986/87 geführt. Die Primärtexte der Debatte sind abgedruckt bei Augstein (1987).

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tische Strukturen entwickelten, vor (Pfahl-Traughber 2000: 82–85; Botsch u. a. 2013: 281–282). Gegen Ende der 1980er Jahre stand die Regierung Kohl zunehmend in der Kritik. Von rechts aufgrund der Deutschland- und Ostpolitik, von links aufgrund der Ausländer- und Wirtschaftspolitik. So galt es als »eher wahrscheinlich, daß Bundeskanzler Kohl die nächste Bundestagswahl nicht im Amt überstehen könne« (Fülberth 1999: 237). Dass seine Koalition wenige Monate später mit 54,8 Prozent der Stimmen einen überzeugenden Wahlsieg errang, ist auf den Zusammenbruch des Ostblocks und den daran anschließenden Beitritt der DDR zur BRD zurückzuführen. 3.1.6 Beitritt der DDR und neue innenpolitische Herausforderungen (1990–1997) 1989 gab die Bundeszentrale für politische Bildung das DeutschlandHandbuch. Eine doppelte Bilanz 1949–1989 (Weidenfeld und Zimmermann 1989) heraus. Auf über 700 Seiten wird die Entwicklung in beiden deutschen Staaten bilanziert. Jedoch prognostizierte keine_r der Autor_innen eine baldige Wiedervereinigung – es wirkte als habe man sich mit der Teilung arrangiert. Von den Ereignissen der Jahre 1989 schienen Wissenschaft, Politik und Bevölkerung gleichermaßen überrascht (Grünbaum 2000: 7, 68), obwohl Erosionstendenzen in einigen Staaten des Warschauer Pakts nicht zu übersehen waren. In Polen fanden in den 1980er Jahren Proteste gegen die sozialistische Regierung statt, die Sowjetunion öffnete sich unter Gorbatschow und Ungarn unterstrich im Juni 1989 seine Reformbemühungen mit der Demontage seiner Westgrenze zu Österreich (Fülberth 1999: 244–245). Auch in der DDR nahmen die Proteste zu, und am 9. November 1989 wurde die innerdeutsche Grenze geöffnet (Grünbaum 2000: 43–45; Wolfrum 2007: 435–436). Bei den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gewann die bürgerlich-konservative Allianz für Deutschland mit ihrer Forderung nach einer raschen Wiedervereinigung fast 50 Prozent der Stimmen, während die oppositionellen Bürgerrechtsbewegungen im Bündnis 90 bei unter drei Prozent lagen, sodass »jene Kräfte, die im Herbst 1989 die friedliche Revolution maßgeblich in Gang gesetzt hatten, in der frei gewählten Volkskammer nur eine geringe Rolle« (Grünbaum 2000: 69) spielten. Der Beitritt zur BRD erfolgte am 3. Oktober 1990. Die BRD erlangte durch den kurz zuvor unterzeichneten Zwei-plus-VierVertrag ihre volle Souveränität unter Anerkennung der Oder-Neiße71

3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

Grenze und blieb als Mitglied der NATO fester Bestandteil des westlichen Bündnisses, was vor allem der Sowjetunion weitreichende Zugeständnisse abverlangte (Lehmann 1995: 421–433; Grünbaum 2000: 110–124). Bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 verloren SPD und Grüne erheblich an Stimmen und mit der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) zog eine weitere Partei links der SPD in den Bundestag ein. Neben den Folgen der Wiedervereinigung entwickelte sich mit dem zunehmenden, sich teils gewaltvoll entladenden Rassismus eine weitere gesellschaftliche Herausforderung. 1992 zog die DVU in den Landtag von Schleswig-Holstein ein und die Republikaner erzielten 10,9 Prozent bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Im selben Jahr fielen 27 Menschen42 neonazistischen Angriffen zum Opfer, während sich die Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund von 1990 bis 1993 nach behördlichen Angaben vervierfachten (Söllner 1995: 46). Die ersten Morde und aufsehenerregenden Pogrome von Hoyerswerda (1991) und RostockLichtenhagen (1992) ereigneten sich in den neuen Bundesländern, waren aber keineswegs auf Ostdeutschland beschränkt. Eine Welle von Verbotsmaßnahmen führte zu einer Organisierungsdiskussion in der neonazistischen Szene, was sich in der Gründung loser, relativ autonom agierender sogenannter freier Kameradschaften niederschlug. Diese konnten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre von der NPD unter ihrem 1996 gewählten Vorsitzenden Udo Voigt zunehmend eingebunden werden (PfahlTraughber 2000: 87–96; Stöss 2000: 122–123). Neben Verboten rechter Organisationen reagierte die Politik auf die Asyl- und ›Überfremdungs‹-Debatten mit der umstrittenen Aushebelung des Grundrechts auf Asyl, was durch eine von CDU/CSU, FDP und SPD beschlossene Grundgesetzänderung möglich wurde. Einige Wissenschaftler_innen machten auf den Zusammenhang zwischen den rassistischen Ausschreitungen und den Warnungen etablierter Politiker_innen vor einem ›Staatsnotstand‹, vor ›Überfremdung‹ und einer ›Asylantenflut‹ aufmerksam (Link 1993; Söllner 1995). Eine weitere Reaktion war der Ausbau von Jugendarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen, die durch das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) von 1992 bis 1997 ____________________ 42

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Für das Jahr 1992 werden in behördlichen Statistiken 13 Todesopfer genannt. Diese schätzen die Opfer rechter Gewalt von 1990 bis 2011 auf 60, während zivilgesellschaftliche Schätzungen auf bis zu 182 Opfer im gleichen Zeitraum kommen (Erkol und Winter 2013).

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

gefördert wurde. Kritisiert wurde das AgAG wegen ihrer Reduktion der Probleme auf Gewalt und Jugend. Zudem wurde bekannt, dass »in mehreren Orten aktive Neonazis für Jugendarbeit mit rechten Jugendszenen eingestellt worden seien« (Krafeld 2000: 277). Aufgrund des erstarkten Rechtsextremismus in der Wähler_innengunst und auf der Straße spielte das Thema ›Linksextremismus‹ in den 1990er Jahren eine untergeordnete Rolle. Als Reaktion auf die Welle rechtsextremer Gewalt und die Aushebelung des Grundrechts auf Asyl entstand eine relativ große antirassistische und antifaschistische Bewegung, in denen die Autonomen eine zentrale Rolle einnahmen (Keller u. a. 2011a; Jänicke und Paul-Siewert 2017). Die RAF löste sich am 20. April 1998 endgültig auf. Der Zusammenbruch der Sowjetunion stürzte kommunistische Gruppen in eine tiefe Krise und die DKP verlor bis Mitte der 1990er Jahre 80 Prozent ihrer Mitglieder. Bezüglich der PDS gab es immer wieder Kontroversen, ob die Partei als extremistisch einzustufen sei (Backes und Jesse 1995b: 83–114; Neugebauer und Stöss 1996; Lang 2003). Auch von behördlicher Seite zeigte sich ein ambivalenter Umgang. Während die Partei durch das Bundesamt und von einigen Landesämtern für Verfassungsschutz als teilweise oder gänzlich verfassungsfeindlich eingestuft wurde, war sie ab 1998 an der Landesregierung von MecklenburgVorpommern beteiligt und tolerierte bereits vier Jahre zuvor die SPDLandesregierung von Sachsen-Anhalt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Beitritt der DDR zur BRD haben linke Systemalternativen stark an Relevanz verloren. Als innenpolitische Herausforderung gewannen die steigende Arbeitslosigkeit und ein Rechtsextremismus, der sowohl auf der Straße und in den Parlamenten Fuß fassen konnte, an Bedeutung. Diese Herausforderungen blieben auch ab 1998 unter der rot-grünen Bundesregierung bestehen, wobei sich hinsichtlich des Rechtsextremismus ein anderer Umgang zeigte. 3.1.7 Rechtsextremismus im Fokus (1998–2009) Um die Jahrtausendwende stiegen politisch rechts motivierte Straftaten weiter an. Anschläge, Morde und Berichte über ›national befreite Zonen‹ im Osten der Republik befeuerten die Diskussion um eine rechte soziale Bewegung (Pfahl-Traughber 2003). Bernd Wagner (2000: 157), der im Jahr 2000 die Aussteiger_innenorganisation EXIT gründete, meinte im selben Jahr, dass in der »rechtsextrem orientierten und gewalttätigen Jugendkulturlandschaft […] das gegenwärtige Hauptproblem der Demokra73

3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

tie in Deutschland« läge. Ende der 1990er Jahre zog die DVU in die Landtage von Sachsen-Anhalt und Brandenburg ein, während die rechtspopulistische Partei Rechtsstaatliche Offensive bei den Senatswahlen in Hamburg 2001 auf fast 20 Prozent der Stimmen kam und ihr umstrittener Vorsitzender Ronald Schill Innensenator wurde. 2004 gelang der NPD mit 9,2 Prozent der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde bei den Landtagswahlen in Sachsen und zwei Jahre später in Mecklenburg-Vorpommern. Die rot-grüne Bundesregierung strebte bereits vor diesen Wahlerfolgen ein Verbot der NPD an und reichte Anfang 2001 einen entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht ein. Aufgrund der vielen Verbindungsleute (V-Leute) in der Partei und einer unzureichenden Verbotsbegründung wurde das Verfahren zwei Jahre später eingestellt (Flemming 2005). Das entschlossenere Vorgehen gegen Rechtsextremismus zeigte sich vor allem durch die gezielte Förderung von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die seit 2001 mit mehreren Millionen Euro unterstützt werden. Dadurch erhielt die »Entpolitisierung des rassistischen und neonazistischen Normalzustandes […] mit dem Regierungswechsel 1998 eine Korrektur« (Burschel u. a. 2013: 9). Die konservative Opposition und Wissenschaftler_innen kritisierten den Fokus auf Rechtsextremismus, da sie den »antiextremistischen Konsens« (Backes und Jesse 2000a) in Gefahr sahen. Überdeckt wurden die Diskussionen um eine ›Gefahr von rechts‹ zeitweise durch die islamistisch motivierten Terroranschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001. Diese führten zu einem militärischen Engagement der Bundeswehr in Afghanistan, an dem die Bundesregierung 2002 beinahe zerbrochen wäre, sowie zur Verabschiedung verschiedener Sicherheitsgesetze. Deren Folge war eine schärfere Überwachung des Luftraums, biometrische Ausweispapiere, eine Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden und die Gründung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ). 2006 legte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble die Bereiche Links- und Rechtsextremismus beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zusammen, um Kapazitäten zur Beobachtung des Islamismus freizusetzen (Abou-Taam 2011).43 Linksextreme Gruppen kamen auch in den 2000er Jahren nicht aus ihrem Nischendasein raus. Diskussionen um die Einordnung der PDS blie____________________ 43

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Infolge der Anschläge von New York wurde Islamismus von den Sicherheitsbehörden und in der Wissenschaft vermehrt als ›dritter Extremismus‹, neben Rechts- und ›Linksextremismus‹, geführt (u. a. Backes 2010: 27–28; PfahlTraughber 2015a: 75–76).

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

ben bestehen (Neu 2004; Jesse und Lang 2008). 2002 scheiterte die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde und war lediglich durch zwei Abgeordnete im Bundestag vertreten. Sie fusionierte kurz vor der folgenden Wahl mit der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG), die aus Protest gegen die Hartz-Gesetzgebung der rot-grünen Bundesregierung vor allem von enttäuschten Gewerkschafter_innen und SPD-Mitgliedern gegründet wurde. Die neu entstandene Partei Die Linke ist seitdem mit mehr als acht Prozent kontinuierlich im Bundestag vertreten und schaffte auch den Einzug in viele westdeutsche Landesparlamente. Das Thema ›linke Gewalt‹ wurde nur punktuell und vermehrt gegen Ende des 2010er Jahre in der Öffentlichkeit diskutiert. Anlässe waren unter anderem die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007, Ausschreitungen zum 1. Mai in Berlin und Hamburg sowie einer gestiegenen Zahl von Autobrandstiftungen in diesen beiden Großstädten, vor allem 2009. Auch wenn es Zweifel an dem politischen Charakter der Ausschreitungen am Rande politischer Großereignisse sowie an der Zählweise der Behörden bezüglich politisch motivierter Kriminalität gibt (Hoffmann-Holland 2010; panorama 2011), legte diese Debatte den Grundstein für einen anderen Umgang mit politischem Extremismus in den folgenden Jahren. 3.1.8 Antiextremismus und ›Durchmarsch von rechts‹ (2010–2017) Bereits in ihrem Koalitionsvertrag einigte sich die seit 2009 regierende bürgerliche Koalition auf einen Umbau der Rechtsextremismusprävention zu einer allgemeinen Extremismusbekämpfung (CDU, CSU und FDP 2009: 95, 99–100). Dies beinhaltete ein Präventionsprogramm gegen Islamismus und ›Linksextremismus‹, die Einrichtung eines Fonds für Opfer linksmotivierter Gewalttaten und ein Aussteigertelefon für sogenannte Linksextremist_innen. Außerdem wurde zivilgesellschaftlichen Trägern der Extremismusprävention ein Bekenntnis zum Grundgesetz abverlangt sowie eine Garantie, dass ihre Projektpartner_innen keiner extremistischen Organisation nahe stünden. Auch nach dem Regierungswechsel 2013 gab es unter der Großen Koalition nur eine partielle Abkehr von dieser antiextremistischen Präventionspolitik, die durch aktuelle Ereignisse immer wieder in der Kritik stand (siehe dazu ausführlich Kapitel 9). Ein solches Ereignis war die Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011. Die beiden Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wurden am 4. November 2011 erschossen in ihrem Wohnmobil aufgefunden und vier Tage später stellte 75

3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

sich ihre Komplizin Beate Zschäpe der Polizei. Die drei gelten als hauptverantwortlich für eine Mordserie an neun migrantischen Kleinunternehmern und einer Polizistin zwischen 2000 und 2007, mehreren Bombenanschlägen und etlichen Banküberfällen. Sicherheitsbehörden schätzen das Umfeld der Unterstützer_innen auf bis zu 200 Personen und zivilgesellschaftliche Beobachter_innen sprechen vom »NSU-Komplex« (Karakayalı u. a. 2017), in den auch staatliche Einrichtungen verstrickt seien. Staatliche Behörden, allen voran die Landesämter und das Bundesamt für Verfassungsschutz, standen aufgrund zahlreicher Ermittlungsfehler und rassistischer Untertöne während der Ermittlungen stark in der Kritik (Ramelow 2013; Aust und Laabs 2014; Gomolla 2017). Infolge der Taten gab es Untersuchungsausschüsse im Bundestag und in acht Landtagen. Das am 6. Mai 2013 gestartete Verfahren gegen Zschäpe und vier weitere Beschuldigte endet am 11. Juli 2018 mit einer lebenslänglichen Haftstrafe für Zschäpe und relativ milden Urteilen für die weiteren Angeklagten. Alle diese Aufklärungsbemühungen verdeutlichen die Kritik an den Sicherheitsbehörden. Sie lassen aber auch viele Fragen nach weiteren Mittäter_innen und Verstrickungen von Verfassungsschützer_innen ungeklärt (Burschel 2017b; Busch 2017).44 Die ersten politischen Folgen hatten die Geschehnisse um den NSU noch im November 2011, als der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) das Terrorabwehrzentrum, welches sich allein mit Islamismus beschäftigte, um ein Zentrum gegen Rechtsextremismus erweiterte. Nur ein Jahr später wurde das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) in Köln gegründet, welches ›Linksextremismus‹ mit einschließt. Weitere Folgen waren die Rücktritte mehrerer hochrangiger Verfassungsschützer_innen und die Revision der Zusammenlegung der Abteilungen zu Rechts- und ›Linksextremismus‹ beim BfV. Nur wenige Jahre nach dem NSU-Skandal wurden der Verfassungsschutz jedoch mit mehr Personal und Kompetenzen ausgestattet (Busch 2017). Ein weiteres Ereignis, das sich über einen längeren Zeitraum erstreckte, ist der »Durchmarsch von rechts« (Burschel 2017a), der durch die zunehmende Migration in die BRD 2015 katalysiert wurde. Vorläufer dieser ____________________ 44

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Besonders pikant ist dabei die Rolle des V-Mann-Führers Temme. Er war beim Mord an Halit Yozgat, der am 6. April 2006 in einem Internetcafé in Kassel erschossen wurde, am Tatort. Angeblich surfte er privat im Internet und bekam von dem Mord nichts mit (Kallert und Gengnagel 2017: 12–17).

3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

Bewegung zeigten sich in der Diskussion um die rassistischen Thesen von Thilo Sarrazin und um finanzielle Hilfen für Griechenland (Kemper 2017). Bereits bei den Bundestagswahlen 2013 hatte die Alternative für Deutschland (AfD), die mit nationalistischen Tönen zu reüssieren versuchte, überraschend 4,7 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Vier Jahre später zog sie mit einem deutlich weiter rechts stehenden Personal und Programm und 12,7 Prozent der Stimmen in den Bundestag ein. Seit 2014 übersprang sie bei jeder Landtagswahl die Fünf-Prozent-Hürde und ist seit Oktober 2018 in allen Landesparlamenten vertreten. Im selben Zeitraum formierte sich eine rechte Bürger_innenbewegung gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und den Islam. Initialzündung dafür waren die wöchentlichen Protestmärsche der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) in Dresden. Im Zuge dieser Mobilisierung kam es 2015 fast täglich zu flüchtlingsfeindlichen Protesten. Über das Jahr verteilt zählten die Sicherheitsbehörden mehr als 1000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte (Diehl 2016; Heim 2017). Neben diesen Ereignisse führte der erste größere islamistisch motivierte Terroranschlag in Deutschland vom 19. Dezember 2016, im Folge dessen zwölf Menschen starben, zu einer Diskussion über die Bekämpfung des Islamismus. Nach den Ausschreitungen rund um den G-20-Gipfel Anfang Juni 2017 in Hamburg, verstärkten sich die Diskussionen um ein repressives und präventives Vorgehen gegen ›Linksextremismus‹. Trotz der wechselnden Fokusse, bedingt durch tagespolitische Ereignisse, bleibt die Grenzziehung zwischen der Demokratie und ihren Feind_innen stabil. Die prinzipielle Ausrichtung der bundesdeutschen Sicherheitsarchitektur, gegen alle Formen des Extremismus, stand seit den 1970er Jahren nicht mehr zur Disposition. 3.1.9 Identifikation der Analysephasen Anhand dieses Überblicks zu innenpolitischen Entwicklungen und zentralen politischen Ereignissen in Deutschland werde ich im Folgenden begründen, in welchen Phasen hegemoniale Kämpfe um die Deutung der politischen Ordnung stattgefunden haben. Oder anders formuliert: Wann wurden die drei, für diese Arbeit zentralen Fragen entschieden bzw. neu verhandelt? Also darüber, welche Elemente als Gefahren für die Demokratie gelten, welche als ihr Kern und welche Maßnahmen zum Schutz der Demokratie strukturell verankert werden?

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

In den Jahren bis 1952 wurden alle drei Fragen vorerst beantwortet und somit die eigentliche Bedeutung von Demokratie stabilisiert. Spätestens infolge des Koreakrieges hat sich eine antitotalitäre Grenzziehung etabliert, die sowohl Gefahren von rechts als auch von links, bzw. ›früher‹ und ›drüben‹ ausmacht. Eine solche Grenze war zur Zeit der Gründung der BRD noch nicht in der Form gezogen, weswegen die Auseinandersetzungen um diese Abgrenzung in einer ersten Phase, mit dem Fokus auf die Jahre 1950 bis 1952, rekonstruiert werden. Ebenfalls in dieser Zeit wurde durch das höchste deutsche Gericht definiert, welche Teile unabdingbar zur bundesdeutschen Demokratie gehören, also ihren Kern ausmachen. Sie wurden in der fdGO festgelegt. Die Rekonstruktion der Festlegung auf die Gefahren für die Demokratie und ihren Kern, stehen in Mittelpunkt der ersten Analysephase (Kapitel 5). Maßnahmen zum Schutz der Demokratie werden in dieser Phase durch das politische Strafrecht verankert. Andere, wie bspw. die Möglichkeit der Parteienverbote, sind bereits im Grundgesetz vorgesehen. Das Grundgesetz rahmt die politische Ordnung der BRD und enthält bereits die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie. Deshalb werde ich der ersten Analysephase eine Darstellung der Debatten, die zum Grundgesetz führten, voranstellen (Kapitel 4). Sowohl die Gefahren für die Demokratie als auch ihr Kern bleiben ab 1952 zunächst weitgehend unverändert. Die bereits festgelegten verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Maßnahmen gegen die Feinde der Demokratie werden aufgrund ihrer rigiden Anwendung sichtbar. Tiefgreifende Verschiebungen kündigen sich erst Ende der 1960er Jahre an. Politische Strömungen, die die bisherige Grenzziehung herausfordern, werden zu relevanten politischen Akteur_innen. Hegemonietheoretisch werden solche Entwicklungen als Dislokationen, also »störende Ereignisse [die] nicht in den Begriffen des Diskurses selbst ausgedrückt werden können« (Bedall 2014: 44), bezeichnet. Sie müssen diskursiv verarbeitet werden bzw. die diskursive Struktur muss ›vernäht‹ werden. Dieser Vernähungsprozess führt in den Jahren bis 1975 zu einer neu ausgehandelten, leicht verschobenen Grenze der Demokratie. Veränderungen gegenüber der antitotalitären Grenzziehung zeigen sich vor allem bezüglich der ausgemachten Gefahren für die Demokratie. Diese wurden nun nicht mehr vornehmlich ›früher‹ und ›drüben‹ verortet, sondern als extremistische

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3.1 Vom antifaschistischen Fenster zum Antiextremismus

Strömungen im Inneren der BRD ausgemacht. Diese Entwicklung wird in der zweiten Analysephase rekonstruiert (Kapitel 7).45 Die für die Jahre 1950 bis 1952 bzw. 1972 bis 1975 ausgemachten Verschiebungen in der politischen Ordnung der BRD bedürfen weiterer Fundierung. So möchte ich für die jeweiligen Zeiträume nach den Analysephasen zeigen, wie sich die hegemoniale Deutung der politischen Ordnung weiter festschreibt und stabilisiert. In diesen sogenannten Zwischenphasen werde ich nachzeichnen, wie die »Institutionen politischer Kontrolle« (Jaschke 1991: 112), politische Justiz, administrativer Verfassungsschutz und staatliche politische Bildung, die jeweilige hegemoniale Formation stützen und in eine Diskurskoalition mit ihr eintreten. Gleiches zeige ich für Teile der Sozialwissenschaften, deren wissenschaftliche Erklärungen stabilisierend auf den Antitotalitarismus bzw. Antiextremismus wirken (Kapitel 6, 8). Die zweite Zwischenphase zeigt, dass der Antiextremismus den Diskurs um die politische Ordnung der BRD bis heute bestimmt.46 Dennoch möchte ich eine dritte Analysephase hinzufügen. Diese beschränkt sich auf den Diskursbereich47 der Prävention, in dem das Ringen um Hegemonie zwischen 2000 und 2017 rekonstruiert werden soll. Mit den Bemühungen der Bundesregierung ab dem Jahr 2000 Präventionsmaßnahmen ausschließlich gegen Rechtsextremismus zu fördern, gab es eine Abweichung von der antiextremistischen Grenzziehung. Der Antiextremismus setzte sich erst ab 2010 im Diskurs um Prävention fest. Die Rekonstruktion der Expansion der hegemonialen Diskursformation in einen weiteren Bereich gibt Hinweise auf dessen Stabilität und ist deswegen Gegenstand dieser Analyse____________________ 45 46

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Die Einführung des Extremismusbegriffs in den politischen Diskurs wird auch von anderen Autor_innen Anfang der 1970er gesehen (Oppenhäuser 2011: 38; Ackermann u. a. 2015: 72, 101–144). An dieser Stellung haben auch die vielfältigen Herausforderungen für die politische Ordnung nichts grundlegend geändert. Sowohl der Beitritt der DDR, die terroristischen Aktivitäten, das Aufkommen des Islamismus, starke linksradikale Bewegungen oder die Wiederkehr nationalsozialistischer Politikvorstellungen, die immer wieder zu politischen Morden führen, konnten diskursiv verarbeitet werden, ohne, dass sich die Strukturierung der politischen Ordnung maßgeblich wandelte. Ich spreche hierbei bewusst nicht von Diskursräumen, um hervorzuheben, dass die Grenze zwischen dem Präventionsdiskurs und dem Diskurs um die politische Ordnung sehr prekär ist und von vielen Diskursakteur_innen nicht anerkannt wird. Die Unterscheidung zwischen Diskursbereich und Diskursraum ist dabei eine tendenzielle.

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

phase. Die Expansion des Antiextremismus ist jedoch bis heute nicht unumstritten und nach wie vor prekär. Ein zweiter Fokus dieses Analysekapitels liegt deshalb auf jenen Artikulationen, die eine Expansion des Antiextremismus abzuwehren versuchen. Dadurch lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie die Brüche und Risse in der hegemonialen Formation vertieft und die Hegemonie des Antiextremismus infrage gestellt werden können (Kapitel 9). Der zeitliche Umfang dieser Phase und der Fokus auf das Ringen um Hegemonie, und nicht auf eine bereits durchgesetzte Hegemonie, bedürfen eines anderen Analysevorgehens und einer anderen Zusammenstellung des Analysekorpus als in den ersten beiden Analysephasen. Das jeweilige Vorgehen und die entsprechende Zusammenstellung des Analysekorpus werden in den folgenden Unterkapiteln dargelegt. 3.2

Quellenauswahl

Die Antwort, wann die drei für diese Arbeit leitenden Fragen hegemonial entschieden wurden, ist nicht exakt zu bestimmen. Ein Wesenszug von Hegemonien ist, dass sie nie gänzlich unangefochten sind. Der Übergang von einem hegemonialen Projekt zur Hegemonie ist prozesshaft und Hegemonien sind immer prekär (Kapitel 2.1). Von Hegemonie wird gesprochen, wenn die entsprechende diskursive Formation weitgehend anerkannt ist. Ihr wird zugetraut, die artikulierten Forderungen zu erfüllen und die artikulierten Mängel zu überwinden (Nonhoff 2008: 310). Sie muss also auf einer Diskurskoalition verschiedener (Gruppen-)Subjekte basieren, die im jeweiligen Diskursraum von Bedeutung sind. Für den Diskurs über die politische Ordnung der BRD sind dies in erster Linie der Bundestag, der Bundesrat und das BVerfG. Darüber hinaus haben Parteien, Gerichte, Gewerkschaften, Kirchen, Lobbyorganisationen und andere Verbände erheblichen Einfluss auf den politischen Prozess. Für die Aufnahme in den Korpus ist entscheidend, dass der entsprechende Text von einem relevanten (Gruppen-)Subjekt artikuliert wurde und gewichtige Resonanz erfuhr. Dies kann nur ex post festgestellt werden. 3.2.1 Erste Analysephase (1950–1952) Für die erste Analysephase besteht der Korpus für die Detailanalysen aus folgenden Texten:

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3.2 Quellenauswahl



Rede des damaligen Justizministers Thomas Dehler (FDP) zur ersten Lesung des 1. StÄG vom 12. September 1950. In diesem Text begründet Dehler das Gesetzespaket, das strafrechtliche Schutzvorkehrungen gegen die Feinde der Demokratie enthält. Stellvertretend für die damalige Bundesregierung, führt er deren Vorstellungen über die eigentliche Bedeutung von Demokratie aus. Er artikuliert das hegemoniale Projekt der antitotalitären, wehrhaften Demokratie. • Rede des Bundestagabgeordneten Adolf Arndt (SPD) zur dritten Lesung des 1. StÄG vom 11. Juli 1951. Durch diese Rede tritt mit der SPD die größte Oppositionsfraktion in die Diskurskoalition des hegemonialen Projekts ein. Mit der anschließenden Abstimmung zur Verabschiedung des Gesetzes verfestigt sich dieses hegemoniale Projekt und prägt das politische Strafrecht bis weit in die 1960er Jahre hinein.48 • Ausschnitt aus dem 1. StÄG, das am 1. September 1951 in Kraft trat. In diesem Ausschnitt ist das Schutzgut, also der Kern der Demokratie, exakt bestimmt. Es zeigen sich erhebliche Überschneidungen mit der fdGO, wie sie vom BVerfG definiert wird.49 • Ausschnitt aus dem Verbotsverfahren gegen die SPR vom 23. Oktober 1952, in denen der Kern der Demokratie bestimmt wird. Mit diesem Urteil tritt das höchste Gericht in die Diskurskoalition des hegemonialen Projekts ein und trägt maßgeblich zu seiner Durchsetzung bei. Der analysierte Ausschnitt umfasst die Definition der fdGO und die Begründung mit welcher sich das Gericht dem Projekt anschließt. Neben diesen Detailanalysen werden weitere Texte herangezogen, um die rekonstruierten Diskursstrukturen zu verdichten. So fließen weitere Reden von Vertretern der Regierungskoalition aus der ersten Lesung des 1. StÄG ____________________ 48

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Ein vielversprechendes Ereignis, um das sich eine Debatte über die politische Ordnung der BRD hätte entwickeln können, ist der Adenauererlass vom 19. September 1950. Es gab jedoch fast keine öffentliche Debatte um diesen Vorläufer des Radikalenerlasses, weswegen er für die Analyse nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zur Rekonstruktion hegemonialer Strategeme eignen sich nicht alle Textsorten gleich gut. So kommen bspw. hegemoniale Strategeme in politischen Reden eher zum Tragen als in Gesetzestexten oder Erlassen. Entscheidende Texte, in denen sich Auseinandersetzungen um Hegemonie festschreiben, wie bspw. im 1. StÄG oder im Verbotsurteil des BVerfG gegen die SRP, werden dennoch in den Korpus aufgenommen. Eventuelle Anpassungen in der Darstellung der Ergebnisse werden an den entsprechenden Stellen in den empirischen Kapiteln vermerkt.

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

mit ein, ebenso die parlamentarische Debatte vom 14. September 1950, anlässlich der Volkskammerwahlen in der DDR. Zudem wird das Weißbuch des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Feinde der Demokratie. Feinde der Gewerkschaften, das am 19.10.1950 erschien, berücksichtigt. Darin wird der Eintritt des Dachverbands der westdeutschen Gewerkschaften in die Diskurskoalition deutlich.50 Die bisherigen Texte zeigen eine breite Diskurskoalition des hegemonialen Projekts der antitotalitären, wehrhaften Demokratie. Aus zwei Gründen möchte ich ihnen die Rekonstruktion eines Textes voranstellen, der eine andere Vorstellung über die eigentliche Bedeutung von Demokratie enthält. Sie geht aus der Bundestagsrede des SPD-Abgeordneten Otto Greve vom 15. März 1950 hervor. Greve begründet darin den Entwurf eines Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie, eingebracht von der SPDFraktion. Erstens wird damit gezeigt, dass die politische Ordnung der frühen BRD durch das Grundgesetz zwar gerahmt war, innerhalb dieses Rahmens jedoch mehrere Vorstellung um die eigentliche Bedeutung von Demokratie rangen. Die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie war also nicht alternativlos, sondern ist das Ergebnis von Auseinandersetzungen um Hegemonie und kontingenten Entscheidungen. Zweitens wird durch diese Alternative deutlich, wie sich die Position der SPD in den ersten Jahren der BRD verschoben hat. 3.2.2 Zweite Analysephase (1972–1975) Ebenso wie in der ersten Analysephase rangen auch in der zweiten Phase mehrere Formationen um die Deutungshoheit über die politische Ordnung. Zwei Formationen konnten eine breite Diskurskoalition schmieden. Sie knüpften jeweils an den Antitotalitarismus der 1950er und 1960er Jahre an, reagierten jedoch unterschiedlich auf den veränderten gesellschaftspolitischen Kontext. Die Formation der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie wurde vor allem – aber nicht nur – von Akteur_innen des sozial-

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Die genannten Texte wurden detailliert analysiert und bilden die Grundlage des empirischen Teils der Arbeit. Diese Analysen sind meinem Dissertationsmanuskript, das unter dem Titel Extremismus und Demokratie. Eine Rekonstruktion des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Bremen eingereicht wurde, auf einer Daten-CD beigefügt.

3.2 Quellenauswahl

liberalen Lagers vertreten und setzte sich bis 1975 weitgehend durch. Die Detailanalyse, die diese Formation rekonstruiert, umfasst folgende Texte: • Wortlaut des Radikalerlasses vom 28. Januar 1972. Dieser kurze Text repräsentiert die Einigung aller Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers hinsichtlich der Fernhaltung von Feinden der Demokratie aus dem öffentlichen Dienst. Er prägte den Diskurs um die politische Ordnung der BRD und die Grenzziehung zu ihren Feind_innen in den Folgejahren maßgeblich. • Artikel des Niedersächsischen Kultusministers Peter von Oertzen (SPD), der am 8. März 1973 im SPD-Organ Vorwärts erschien. Einen Text zu identifizieren, indem die damaligen Regierungsparteien den Radikalenerlass begründeten, stellte sich als schwierig heraus. Wohl auch, weil vor allem die SPD von Beginn an kritisch zum Radikalenerlass stand. Von Oertzen, ranghoher Sozialdemokrat des linken Parteiflügels, reiht sich mit seinem Artikel in den Diskurskoalition ein. Zur Verdeutlichung der SPD-Position werden Texte von Brandt und dem Hamburger Oberbürgermeister Peter Schulz berücksichtigt, aber nicht detailliert analysiert. Ebenso fließt ein Artikel aus Die Zeit des SPD-Mitglieds und Professors für Politikwissenschaft, Richard Löwenthal, mit ein. • Vorwort des damaligen Innenministers Werner Maihofer (FDP) zum Verfassungsschutzbericht über das Jahr 1974. Maihofer begründet in diesem Vorwort, wie der Verfassungsschutz die Grenze zwischen Demokratie und Extremismus zieht und definiert damit sowohl den Kern der Demokratie als auch die Gefahren. Der Text nimmt von daher eine große Bedeutung im Diskurs um die politische Ordnung der BRD ein, da den Ämtern des Verfassungsschutzes in den Folgejahren und bis heute eine zentrale Deutungshoheit über die Grenze der Demokratie zugesprochen wird. Die genannten Texte artikulieren eine diskursive Formation, die antiextremistische, wehrhafte Demokratie genannt wird. Der Extremismusbegriff nimmt darin eine zentrale Stellung ein. Zur Rekonstruktion der anderen bedeutenden Formation dieser Zeit, die dafür plädiert die Abgrenzungspolitik der 1950er Jahre fortzuführen, greife ich auf folgende Texte für die Detailanalyse zurück: • Essay von Helmut Schelsky Die Strategie der ›Systemüberwindung‹. Es erschien erstmals am 10. Dezember 1970 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist ein wichtiger Baustein dieser Formation. Schelsky brachte in seiner Analyse die Befürchtungen und Ansichten

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

vieler Zeitgenoss_innen zum Ausdruck. Seine Überlegungen fanden eine weite Verbreitung und flossen in den politischen Diskurs ein. • Rede von Alfred Dregger (CDU) vor dem Bundestag am 14. Februar 1974. Hier begründet das Vorstandsmitglied der CDU/CSUBundestagsfraktion einen Antrag zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, den die Fraktionen bereits am 21. Dezember 1973 stellten. Durch diese Texte kann eine diskursive Formation rekonstruiert werden, die Anfang der 1970er Jahre von wichtigen Diskursakteur_innen vertreten wurde, sich aber nicht durchsetzte. Stattdessen wurde der Antiextremismus in den Folgejahren zunehmend auch von konservativer Seite gestützt und konnte sich als hegemoniales Deutungsmuster der politischen Ordnung etablieren. Diese Position hat er bis heute inne und rahmt somit auch die dritte Analysephase. 3.2.3 Dritte Analysephase (2000–2017) Die Auswahl der analysierten Texte für die dritte Analysephase hebt sich von jener der ersten beiden Phasen ab. Hier geht es nicht darum, eine hegemoniale Formation, die sich bereits durchgesetzt hat, zu rekonstruieren. Ziel ist vielmehr, das Ringen um Hegemonie im Diskurs um Prävention zu untersuchen, das bis heute unentschieden ist. Im Gegensatz zu den anderen beiden Phasen kann somit nicht ex post entschieden werden, welche Texte die Auseinandersetzungen bestimmend entschieden haben. Zudem erstreckt sich die Rekonstruktion der Auseinandersetzungen auf einen längeren Zeitraum (2000 bis 2017), weswegen das Diskursaufkommen vergleichsweise hoch ist. Es setzt sich vor allem aus Bundestagsdebatten und Anträgen der Fraktionen zusammen, die den Präventionsbereich thematisieren. Stellenweise fließen auch Stellungnahmen von Wissenschaftler_innen und Vertreter_innen der Zivilgesellschaft mit ein, die sich zur Ausrichtung der Präventionsprogramme äußerten. Die meisten Diskursbeiträge gruppieren sich um die Jahre 2001, 2006/2007, 2010 und 2014/2015, als wichtige Entscheidungen bezüglich der Strukturierung des Präventionsdiskurses gefallen sind und politisch debattiert wurden. Eine Reduktion des Diskursaufkommens auf wenige Texte, wie in den ersten beiden Analysephasen, ist also nicht möglich. Um das Diskursaufkommen handhabbar zu gestalten, greife ich auf die Überlegungen von Siegfried Jäger (1999: 158–199) zur Diskursstrukturanalyse zurück. So werde ich das umfassende Material genau sichten und auf »typische Diskursfragmente« 84

3.3 Methodisches Vorgehen

(Jäger 1999: 193) reduzieren. In der Darstellung der dritten Analysephase werden diese typischen Textstellen wiedergegeben, hegemonieanalytisch diskutiert und mit weiteren Quellen versehen. Nach der Identifikation der Analysephasen sowie der Texte, die den Analysen zugrunde liegen, möchte ich als letzten Schritt vor der Darstellung meiner Ergebnisse erläutern, wie ich in den Detailanalysen vorgehe, um die hegemonialen Strategeme in den Texten bzw. textübergreifend zu identifizieren. 3.3

Methodisches Vorgehen

Um nachvollziehbar aufzuzeigen, wie ich meine Ergebnisse generiere, möchte ich das konkrete methodische Vorgehen auf den hegemonietheoretischen Rahmen der Arbeit rückbeziehen. In einem ersten Schritt werde ich die grundlegenden Typen diskursiver Relationen vorstellen, um darauf aufbauend zu zeigen, wie ich diese Relationen in Texten rekonstruiere und daraus Rückschlüsse auf die hegemonialen Strategeme ziehe. Anschließend werde ich einige Überlegungen bezüglich der Identifikation von Strategemen auf zweiter Ebene anstellen. 3.3.1 Typen diskursiver Relationen Wie in Kapitel 2.1 ausgeführt, entsteht Bedeutung indem verschiedene diskursive Elemente miteinander in Bezug gesetzt werden. Dieses Bedeutungssystem ist dabei permanent im Fluss und nicht endgültig fixierbar. In Auseinandersetzungen um Hegemonie kommen verschiedene Strategeme zum Tragen, denen verschiedene Typen diskursiver Relationen zugrunde liegen. Nonhoff (2006: 85–89) hat folgende Typologie ausgearbeitet und später weiterentwickelt (2008: 307). Er bezieht sich dabei auf Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2001: 113–120), die in Relationen der Differenz und Äquivalenz unterscheiden. Mit insgesamt fünf Typen diskursiver Relationen geht Nonhoff darüber hinaus und weist bereits auf die Möglichkeiten der Identifikation zentraler Strategeme hin. • Eine grundlegende Relation ist die der Differenz. Die Differenz zwischen Elementen, ›x ist anders als y‹, ist notwendig, um die Produktion von Sinn zu ermöglichen (Kapitel 2.1.1). Diese Relation wird in vielfältiger Weise überformt.

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen



Eine Relation der Äquivalenz setzt differente Elemente in gewisser Hinsicht gleich. Die Aussage »›x ist anders als y, geht aber in Beziehung zu a mit y Hand in Hand‹« (Nonhoff 2008: 307), beschreibt eine solche Äquivalenzbeziehung. Damit werden die Elemente nicht als identisch artikuliert, sondern als gleich in Bezug auf ein Drittes. Werden mehrere Elemente in Bezug auf dieses Dritte als äquivalent artikuliert, bildet sich eine Äquivalenzkette aus. • Die Relation der Kontrarität ist eine weitere Überformung der Differenzbeziehung. Eine solche Relation lässt sich als »›x ist anders als y, und steht in Bezug auf a in Kontrarität zu y‹« (Nonhoff 2008: 307) beschreiben. Die beiden Elemente werden nicht als generell gegensätzlich, sondern als konträr hinsichtlich eines Dritten artikuliert. • Die Relation der Superdifferenz dient zur Zurückweisung eines Bedeutungszusammenhangs zwischen verschiedenen Elementen. Sie kann mit »x ist anders als y und hat auch nichts mit y zu tun« (Nonhoff 2008: 307) umschrieben werden. Diese Relation ist zentral für die Begrenzung des Diskursraums. Eine solche Begrenzung ist wiederum grundlegend, damit Strategeme zum Tragen kommen können. • Die Relation der Repräsentation lässt sich mit ›x steht für y‹ umschreiben. Sie ist vor allem im Hinblick auf das Strategem der Repräsentation und der damit verbundenen Herausbildung tendenziell leeren Signifikanten von Bedeutung.51 Die aufgeführten Relationen sind wichtige Marker, um hegemoniale Strategeme im Text zu erkennen. Wie die Identifikation hegemonialer Strategeme möglich ist und im empirischen Material funktioniert, soll nun anhand kurzer Textbeispiele gezeigt werden. 3.3.2 Identifikation hegemonialer Strategeme Mit den Typen diskursiver Relationen sind bereits die grundlegenden Muster zur Identifikation der Kernstrategeme und der ergänzenden Strategeme beschrieben. Jedoch sind nicht alle diese Relationen, werden sie in einem Text ausgemacht, in jedem Fall Bestandteile hegemonialer Strate____________________ 51

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Dieses Strategem spielt bei hegemonialen Kämpfen auf zweiter Ebene keine Rolle, weswegen ich auf weitere Ausführungen dazu verzichte. Möglichkeiten, das Strategem der Repräsentation im Text zu rekonstruieren, schlägt Nonhoff (2008: 314) vor.

3.3 Methodisches Vorgehen

geme. Denn der Kampf um Hegemonie ist das Kennzeichen politischer Diskurse. Diese wiederum zeichnen sich durch die Artikulation von Forderungen aus, welche Laclau als kleinste Analyseeinheit bezeichnet hat (Kapitel 2.1.3). Deshalb möchte ich zunächst zeigen, wie Forderungen, die Ausgangspunkt der Analyse sind, im Text auftreten können. Forderungen kommen nicht nur durch Marker wie ›wir fordern, dass‹, oder ›unsere Forderung ist‹ zum Ausdruck. Oftmals werden sie in Form von Notwendigkeiten artikuliert. Diese werden bspw. mit ›dringendes Gebot der Stunde ist‹, ›es ist notwendig, dass‹ oder ›es bedarf‹ umbeschrieben. In anderen Fällen wird etwas als ›zwingend‹ beschrieben, das ›nur funktionieren kann, wenn‹ oder unter bestimmten Bedingungen ›nicht mehr bestehen kann‹. Manchmal fehlt es Forderungen gänzlich an einem entsprechenden Marker und sie können nur aus dem Zusammenhang des gesamten Textes als solche identifiziert werden. Wenn bspw. zum Schutz von Freiheit und Demokratie die Einführung des politischen Strafrechts gefordert wird, können sämtliche Bestandteile des Gesetzes als Forderungen verstanden werden, selbst wenn in den entsprechenden Textpassagen ein eindeutiger Marker fehlt. Die Forderungen, die durch eine Analyse auf Satz- oder auf Textebene identifiziert wurden, sind Ausgangspunkte, um die genannten diskursiven Relationen zu erkennen und hegemoniale Strategeme zu rekonstruieren. Das Strategem der Äquivalenzierung differenter Elemente möchte ich anhand folgenden Beispiels aus der Rede von Dehler (1950: 3108C, D) erläutern: Eine Demokratie verdient diesen Namen nicht, wenn sie nicht eine rechtsstaatliche ist. Die Gerichte sind die Träger des rechtsstaatlichen Gedankens. Sie müssen in die Lage versetzt sein, unabhängig ihre hohe Aufgabe zu erfüllen. Die Unabhängigkeit muß mit allen Mitteln, nach meiner Meinung notfalls auch mit den Mitteln des Strafrechts, gehütet werden.

Hier wird die Forderung nach einem Strafrecht, das die Unabhängigkeit der Gerichte gewährt, mit dem rechtsstaatlichen Gedanken (dessen Träger die unabhängigen Gerichte sind) und Demokratie (die nur eine ist, wenn sie auch rechtsstaatlich ist) verknüpft. Die Elemente sind in der Hinsicht äquivalent zueinander, da sie alle konträr zur den Elementen des Mangels stehen, was im gleichen Abschnitt deutlich wird: Die Unabhängigkeit der Gerichte ist eins der wichtigsten Kriterien, durch die sich eine Demokratie von den autoritären Systemen unterscheidet. Wir haben schauerliche Erfahrungen mit der ›gelenkten‹ Rechtspflege gemacht, und wir erleben jetzt, daß sich Gleiches im Osten vollzieht. (Dehler 1950: 3108D)

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3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

Demokratie und die Unabhängigkeit der Gerichte werden konträr zu autoritären Systemen artikuliert. Letztere wiederum werden mit der gelenkten Rechtspflege und, wie aus dem weiteren Kontext der Rede deutlich hervorgeht, der DDR verknüpft, sodass eine Äquivalenzkette M entsteht, in der die Elemente des Mangels aufgeführt sind. Über den gesamten Abschnitt hinweg, aus dem die beiden Zitate entnommen sind, können die ersten beiden Kernstrategeme identifiziert werden. Es findet eine antagonistische Teilung des diskursiven Raums statt, indem eine Äquivalenzkette differenter, am Allgemeinen orientierter Forderungen und eine Äquivalenzkette des Mangels artikuliert werden. Die Elemente beider Ketten gehen jedoch nicht an sich Hand in Hand, sondern erst durch ihre Beziehung zu den Elementen der jeweils anderen Äquivalenzkette. Ergänzende Strategeme, die sich auf Textebene rekonstruieren lassen, sind das Strategem Verschiebung der superdifferenziellen Grenze und die Einrichtung/Fortschreibung von Subjektpositionen. Für die Identifizierung des erstgenannten Strategems ist die Relation der Superdifferenz maßgeblich. Diese ist nicht immer in den Texten vorfindbar. Aus einer Rede der SPD-Bundestagsabgeordneten Gabriele Fograscher (2010: 4918A), entnommen der dritten Analysephase, geht eine solche Artikulation hervor: »Extremismusbekämpfung und innere Sicherheit sind originäre Aufgabe des Bundesinnenministers und nicht der Familienministerin«. Aus dem weiteren Zusammenhang der Rede wird deutlich, dass die Abgeordnete hiermit ausdrückt, dass sich das Familienministerium um die Prävention zu kümmern habe, während Innere Sicherheit Aufgabe des Innenministeriums sei. Damit versucht sie zwischen dem Diskurs um Repression bzw. Extremismusbekämpfung und dem Diskurs um Prävention eine Grenze einzuziehen. Denn nur so kann getrennt um die Bedeutung in den jeweiligen Bereichen gerungen werden. Die Einrichtung einer Subjektposition geht bspw. aus der Aussage von Dehler (1950: 3105C) hervor, dass er aus dem Gesetzesentwurf der SPD »wertvolle Anregungen weitgehend übernommen hat. Ich habe mich damals nur gegen die Form des Gesetzes gewandt«. Damit stellt er eine Position für die SPD bereit, sich seinem Gesetzesentwurf anzuschließen, da sich beide inhaltlich nicht unterscheiden würden. Ob die SPD diese Position auch einnimmt ist damit nicht entschieden, aber wahrscheinlicher geworden. Das dritte ergänzende Strategem, das gezielte und vereinzelte Durchbrechen der antagonistischen Grenze, kann nur textübergreifend identifiziert werden. Seine Funktionsweise wurde bereits in Kapitel 2.2. Sollte es 88

3.3 Methodisches Vorgehen

in einem der Texte auftreten, werde ich die Rekonstruktion anhand der entsprechenden Textstellen begründen. Neben den erwähnten Kern- und ergänzenden Strategemen, sind für die Rekonstruktion von Kämpfen um Hegemonie zweiter Ebene, zwei weitere Strategeme von Bedeutung (Abbildung 4, Kapitel 2.3). In bisherigen hegemonieanalytischen Arbeiten wurden sie als hegemoniale Strategeme zweiter Ebene bezeichnet. In der vorliegenden Arbeit, die Kämpfe um Hegemonie zweiter Ebene untersucht, haben sie den Charakter zusammenfassender Strategeme. Zusammenfassend in dem Sinne, dass auf die eigentliche Bedeutung und den eigentlichen Verfechter maßgeblich durch die Ausbildung der bisher erläuterten Strategeme geschlossen werden kann und selten anhand einzelner Textstellen. Zur Rekonstruktion der eigentlichen Bedeutung der Demokratie, dem ersten zusammenfassenden Strategem, ist die Herausbildung der beiden Äquivalenzketten von Bedeutung. In den Äquivalenzketten A jener Formationen, die um die eigentliche Bedeutung der Demokratie ringen, sind die Elemente aufgeführt, die als zentrale Bestandteile der Demokratie gelten. Von besonderem Interesse sind die Artikulationen, die als Kern der Demokratie oder als deren unabdingbare Bestandteile artikuliert werden. Dies kommt bspw. in Ausführungen wie »eine Demokratie, die nicht gewillt ist, sich zu verteidigen, kann nicht bestehen« (Dehler 1950: 3110B) oder »eine Demokratie verdient diesen Namen nicht, wenn sie nicht eine rechtsstaatliche ist« (Dehler 1950: 3108C, D) zum Ausdruck. In diesen Fällen werden die Wehrhaftigkeit bzw. Rechtsstaatlichkeit als unabdingbare Bestandteile von Demokratie artikuliert. Auch Elemente, die als ›Essenz der Demokratie‹ oder als ›demokratischer Konsens‹ vorgestellt werden, geben Hinweise auf die eigentliche Bedeutung. Weitere Hinweise lassen sich über die Elemente gewinnen, die als Mängel erster Ebene artikuliert werden. Vor allem in der Abgrenzung zu den ›Gefahren für die Demokratie‹, also den Elementen, die als außerhalb der Demokratie stehend artikuliert werden, lassen sich Rückschlüsse über die Identität des Inneren (in dem Fall der Demokratie) ziehen. Voraussichtlich wird das Strategem der eigentlichen Bedeutung von Demokratie erst im Zusammenspiel mehrerer Textpassagen oder gar Texte deutlich, wobei die gerade beispielhaft vorgestellten Artikulationen entscheidende Hinweise geben. Das zweite zusammenfassende Strategem ist das des eigentlichen Verfechters der Demokratie. Ziel ist es hierbei, eine gesellschaftlich politische Kraft zu identifizieren, der am ehesten zugetraut wird, den tendenziell leeren Signifikanten erster Ebene, in diesem Fall also die Demokratie, zu 89

3. Hegemonien analysieren – historischer Kontext und methodischer Rahmen

schützen bzw. zu verwirklichen. Dabei werden selten unvermittelte Artikulationen im Text vorfindbar sein, die bspw. Gerichte, starke Gewerkschaften, den Bundespräsidenten etc. als eigentlichen Verfechter vorstellen. Vielmehr muss das Strategem über einen Umweg rekonstruiert werden. Dies kann darüber erfolgen, zu analysieren, welche Vorkehrungen des Demokratieschutzes vorgenommen werden und wer legitimiert ist diese anzuwenden, zu deuten und durchzusetzen. Passage Im zweiten Teil dieses Kapitels wurde das Analysevorgehen dargelegt. Der mögliche Korpus wurde auf wenige Texte reduziert, die hegemonieanalytisch untersucht werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind in den folgenden Kapiteln dargestellt. Die Schwerpunkte der meiner Analyse ergeben sich aus dem historischen Kontext in den die Kämpfe um die eigentliche Bedeutung von Demokratie eingebettet sind. So konnten mit den Jahren 1950 bis 1952 und 1972 bis 1975 zwei Zeitperioden identifiziert werden, in denen zentrale Kämpfe um die Deutung von Demokratie stattfanden. Diese Auseinandersetzungen werden in Kapitel 5 und 7 ausführlich dargestellt. Jeweils nach diesen Kapiteln wird gezeigt, wie sich die jeweils siegreiche Deutung weiter stabilisiert und hegemonial wird. Die dritte Analysephase in Kapitel 9 rekonstruiert das Ringen um Hegemonie in einem bestimmten Diskursbereich. Der ersten Analyse vorgeschaltet ist eine Vorphase, in der die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie nachvollzogen wird.

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4.

Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie – Vorphase

Die Kapitulation des deutschen Reichs am 8. Mai 1945 hinterließ eine Leerstelle in der politischen Ordnung Deutschlands. Da das Ende des Nationalsozialismus nicht von innen heraus erkämpft, sondern von außen erzwungen wurde, lag die Entscheidungsgewalt bei den alliierten Besatzungsmächten. Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 legten sie fest, dass sich die Deutschen ihr Leben »auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage« (Attlee u. a. 1945: o. S.) aufbauen sollen. Durch das Lizensierungsverfahren von Presse und Parteien schlossen die Westalliierten aus, dass sich eine antidemokratische, bspw. monarchistische, Ordnung etabliert, obwohl solche Positionen in der Bevölkerung Anklang fanden, wie Umfragen zeigten (Ullrich 2009: 80, 195–199). Der Grundstein für die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) wurde mit dem Grundgesetz gelegt. Wichtige Schritte hierzu waren die Verfassungsversammlungen in den Ländern der Westzonen,52 der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee 1948 und die Beratungen des Parlamentarischen Rats 1948/49, aus denen schließlich das Grundgesetz hervorging. Diese Schritte fanden unter den Vorzeichen des aufkommenden Kalten Krieges statt, der sich mit dem Bruch der Anti-Hitler-Koalition 1947 zunehmend verschärfte. Während in vielen Landesverfassungsversammlungen die Frontlinie zwischen der SPD und den Unionsparteien verlief, rückten diese in den Beratungen des Parlamentarischen Rats zusammen, was mit einer Isolation der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) einherging (Lameyer 1978: 162–165; Ullrich 2009: 143, 195–302). Bevor ich nachzeichne, wie die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie, verankert im Grundgesetz, fiel (4.3 und 4.4.), bedarf der Begriff der wehrhaften Demokratie einer genaueren Erörterung (4.1.). Da »ohne Zweifel die Erfahrung der gescheiterten Weimarer Republik« (Bracher 1964: 110) die Verfassungsstruktur der BRD entscheidend prägte, möchte ich in einem weiteren Unterkapitel die Interpretationen der Parteien bezüglich des Scheiterns der Weimarer Republik darlegen (4.2). Denn diese ____________________ 52

Da ich auf die Genese der politischen Ordnung der BRD fokussiere, gehe ich auf die politischen Entwicklungen in der SBZ / DDR nur punktuell ein.

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4. Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie – Vorphase

Interpretation liegt der jeweiligen Position zur Ausgestaltung der politischen Ordnung zugrunde. 4.1

Zum Begriff der wehrhaften Demokratie

In der Literatur hat sich für das, was im Folgenden unter wehrhafter Demokratie verstanden wird, die Bezeichnung streitbare Demokratie weitgehend durchgesetzt (Backes und Jesse 1993b: 475–476; Flümann 2015b: 100, FN 393).53 Ich möchte diese Bezeichnung jedoch aufgrund ihrer irreführenden Konnotation zurückweisen. Denn das Konzept beschreibt, wie ich gleich ausführlich zeigen werde, eine Form der Demokratie, in der bestimmte Grundsätze dem freien Streit der Meinungen entzogen sind. Über sie solle eben nicht gestritten werden. Vielmehr beinhaltet das Konzept der streitbaren bzw. wehrhaften Demokratie Instrumente, die es ermöglichen gegen sogenannte Feinde der Demokratie vorzugehen, also, sich ihnen gegenüber wehrhaft zu zeigen. Als Schnittmenge verschiedener Definitionen von streitbarer bzw. wehrhafter Demokratie hat sich in der deutschen Politikwissenschaft eine Trias aus Wertgebundenheit, Abwehrbereitschaft und Vorverlagerung des Demokratieschutzes entwickelt (Backes und Jesse 1993b: 476; Gerlach 2012: 65; Flümann 2015b: 100). Wertgebundenheit impliziert, dass sich eine demokratische Gesellschaft auf Grundlage bestimmter Werte konstituiert, »die als unabänderlich gelten und auch der ›Volkssouveränität‹ Grenzen setzen« (Backes und Jesse 1996: 13).54 Das Element der Abwehrbereitschaft beinhaltet gesetzliche Möglichkeiten gegen Gruppen vorzugehen, die diese Werte nicht anerkennen. Die Vorverlagerung des Demokratieschutzes ermöglicht es, bereits Positionen, die den Werten widersprechen, aber gewaltfrei propagiert werden, unter Strafe zu stellen. Durch dieses präventive Vorgehen solle verhindert werden, dass sich eine ____________________ 53

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Zur Durchsetzung verhalf dem Begriff, dass er vom Bundesverfassungsgericht verwendet und geprägt wurde (Thurich 2011: 48). Erstmals ist von streitbarer Demokratie in der Entscheidung über das Verbot der KPD 1956 die Rede (BverfG 1956: 139). Die Diskussion darüber, ob die Verfassung eines werthaften Kerns bedarf, war Gegenstand des rechtswissenschaftlichen Positivismusstreits der 1920er Jahre. Vor allem Carl Schmitt nahm die antipositivistische Haltung ein, dass es einer solchen Verankerung bedarf (u. a. Lameyer 1978: 81–93; Flümann 2015b: 93– 100; Schulz 2017: 78–83).

4.1 Zum Begriff der wehrhaften Demokratie

Demokratie erst wehrt bzw. wehren darf, wenn sie bereits durch gewalttätige Handlungen gefährdet ist (Jesse 2007b: 16–17). Uneinigkeit besteht, ob mit der Idee der wehrhaften Demokratie bestimmte Gruppen verknüpft sind, gegen die sie sich richtet. Einige Autoren sehen dieses Konzept als zwingend antiextremistisch und nicht als ›einseitig‹ antifaschistisch oder antikommunistisch ausgerichtet (Backes und Jesse 2000a: 14–15; Flümann 2015b: 114, 170). Sie begründen dies damit, dass sich eine Demokratie gegen alle ihre Feind_innen erwehren müsse. Die Forderung nach einem Antiextremismus setzt jedoch eine spezifische Bestimmung von Demokratie und ihren Feind_innen voraus und wohnt nicht bereits dem Konzept der Wehrhaftigkeit inne. Claus Leggewie und Horst Meier treten bspw. dafür ein, dass in der bundesrepublikanischen Verfassung Abwehrinstrumente verankert werden, die lediglich gegen neonazistische Gruppierungen Anwendung finden. Denn diese Ideologie sei, wie die Vergangenheit gezeigt habe, per se gewaltvoll und antidemokratisch (Meier 1994: 85–86; Leggewie und Meier 1995). Auch Karl Löwenstein (1937), der mit seiner Konzeption einer ›militant democracy‹ den Grundstein für das Konzept der wehrhaften Demokratie legte (u. a. Boventer 1985a: 34–36; Flümann 2015b: 99), entwickelte seine Überlegungen vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und hatte keine zwingend antitotalitäre oder antiextremistische Ausrichtung vorgesehen (Ooyen 2007).55 Schließlich werden das vorliegende und kommende Kapitel zeigen, dass die Koppelung von wehrhaft und antitotalitär/antiextremistisch zwar vorherrschend, aber keineswegs zwingend ist. Mit der Unterscheidung zwischen einer sogenannten Wehrhaftigkeit nach oben und einer Wehrhaftigkeit nach unten möchte ich eine fast vergessene, aber wichtige Differenzierung einführen. Wehrhaftigkeit nach oben meint Abwehrinstrumente, die der Bevölkerung in die Hand gegeben werden, um sich zu wehren, falls der Staat eine antidemokratische Entwicklung einschlägt. Dazu zählen bspw. plebiszitäre Elemente wie die Richterwahl, Volksentscheide oder ein verankertes Widerstandsrecht. Wehrhaftigkeit nach unten impliziert Instrumente, die dem Staat in die Hand gegeben sind, um gegen antidemokratische Bestrebungen in der Bevölkerung vorzugehen. Dies sind bspw. Parteienverbote oder die Mög____________________ 55

Die Konzeption der wehrhaften Demokratie in der Bundesrepublik kritisierte Loewenstein (1969: 93) scharf und nannte sie »demoautoritär«, da während der Legislaturperiode kaum Möglichkeiten für einen Regierungswechsel oder eine Parlamentsauflösung gegeben seien.

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4. Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie – Vorphase

lichkeit Grundrechte einzuschränken. Beide Konzepte sind nicht immer strickt zu trennen, wie sich bspw. in der Treuepflicht im Öffentlichen Dienst zeigt.56 Die Möglichkeit einer Wehrhaftigkeit nach oben spielt in aktuellen Diskussion kaum noch eine Rolle und wird bspw. von Gereon Flümann (2015b: 105) per Definition ausgeschlossen: Eine streitbare Demokratie ist eine Demokratie, deren staatliche Institutionen politische Freiheitsrechte von oppositionellen Extremisten beschneiden können, ohne dass diese notwendigerweise die Gewaltschwelle übertreten müssen.

Ob sich eine Partei in der Nachkriegszeit für eine wehrhafte Demokratie aussprach und mit welcher Ausrichtung, leitete sich zu großen Teilen aus ihrer Interpretation über das Scheitern der Weimarer Republik ab. 4.2

Deutungen über das Scheitern der Weimarer Republik

Die Erfahrung einer gescheiterten Demokratie, auf die der Nationalsozialismus folgte, prägte die deutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb nahm die Frage, weshalb die Weimarer Republik scheiterte, eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis und die Ausrichtung der politischen Ordnung der BRD ein (Balke und Wagner 1997; Gusy 2003; Ullrich 2009). Die politischen Akteur_innen der direkten Nachkriegszeit vertraten verschiedene Deutungen, die mittelbar in die Ausarbeitung des Grundgesetzes einflossen und auch für dessen weitere Ausgestaltung nach 1949 eine Rolle spielten. Sebastian Ullrich arbeitet für die in den ersten Jahren landesweit einflussreichsten Parteien idealtypische Deutungsmuster57 über das Scheitern der Weimarer Republik heraus. Nach anfänglicher Annäherung zwischen den beiden Arbeiter_innenparteien durch die gemeinsame Verfolgungserfahrung, ging die kommunistische Deutung bald dazu über, die Hauptschuld für den Zu____________________ 56

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In den 1970er Jahre wurde die Treuepflicht als ein repressives Instrument gegen kritische Teile der Bevölkerung interpretiert. Sind aber, wie in der Weimarer Republik, viele Antidemokrat_innen im Staatsdienst, könnte eine effektive Treuepflichtregelung der Bevölkerung als Instrument dienen, gegen diese Beamt_innen vorzugehen. Entscheidend ist dabei, wer legitimiert ist, die mangelnde Treue zur Demokratie festzustellen und entsprechende Konsequenzen zu vollziehen. Idealtypisch deshalb, weil die Parteien in den Nachkriegsjahren dezentral organisiert waren und die jeweiligen Landesverbände teils sehr unterschiedliche Vorstellungen vertraten (Niclauß 1998: 21).

4.3 Bedeutung der Demokratie in den Landesverfassungen

sammenbruch der Weimarer Republik der Sozialdemokratie anzulasten. Da die SPD die proletarische Revolution 1919 blockiert habe, hätte keine ›echte‹ bzw. sozialistische Demokratie entstehen können. Die SPD hingegen wies diese Interpretation von sich und entgegnete ihr mit einem Verweis auf die punktuelle Zusammenarbeit von KPD und NSDAP (Ullrich 2009: 127–128). Für sie galt der Mangel an engagierten Demokrat_innen, die sich gegen die Feind_innen von links und rechts zur Wehr gesetzt hätten, als Hauptursache des Scheiterns. Der linke Parteiflügel hingegen sah, ähnlich der KPD, die fehlenden Sozialisierungsmaßnahmen als Hauptursache. Das liberale Deutungsmuster ähnelte jenem der rechten Sozialdemokratie und sah das Scheitern in der antidemokratischen Einstellung der Bevölkerung begründet. Die konservative Deutung machte Verwerfungen der modernen Massengesellschaft und das egalitäre politische System Weimars als Wegbereiter für den Nationalsozialismus aus (Ullrich 2009: 93–108, 117–143; siehe auch Grüner 2003). 4.3

Bedeutung der Demokratie in den Landesverfassungen58

Trotz der unterschiedlichen Deutungen von Weimar waren sich die Parteien weitestgehend darin einig, dass die neue Demokratie entschlossener gegen ihre Feind_innen vorgehen müsse. Dem zugrunde lag die Überzeugung, die Nationalsozialist_innen seien gesetzeskonform an die Macht gekommen, weswegen verhindert werden müsse, dass eine solche Legalitätstaktik nochmals zur Abschaffung der Demokratie führen könne (Niclauß 1998: 92–93, 202–210; Ullrich 2009: 204–209). So ist das Prinzip der wehrhaften Demokratie in allen Landesverfassungen mehr oder weniger stark implementiert, wobei sich deutliche Unterschiede in der bevorzugten Wahl der Maßnahmen zeigen. Die KPD sah den besten Schutz der Demo____________________ 58

Mitte 1946 kamen in den Ländern der US-amerikanischen Besatzungszone Hessen, Bayern, Württemberg-Baden und später auch Bremen verfassungsgebende Landesversammlungen zusammen. Kurz darauf genehmigte die französische Besatzungsverwaltung für die Länder Baden, Württemberg-Hohenzollern, Rheinland-Pfalz und Saarland ebensolche Versammlungen, die bis Ende 1947 ihre Beratungen abgeschlossen hatten. Die Bundesländer der britischen Besatzungszone und Berlin erhielten ihre Verfassungen erst nach 1949, weswegen sie auf dem Grundgesetz aufbauten und keinen eigenen Grundrechteteil enthalten. Auch die Verfassung des Landes Baden-Württemberg, die am 19. November 1953 in Kraft trat, weist keinen Grundrechteteil auf (siehe ausführlich Pfetsch 1986; Scherb 1987; Pfetsch 1990; Niclauß 1998).

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4. Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie – Vorphase

kratie in einer ›echten‹, sprich sozialistischen Demokratie mit starken plebiszitären Elementen. Sie trat vehement, und meist vergeblich, für eine Wehrhaftigkeit nach oben in Form eines Widerstandsrechts und der Richterwahl ein. In Hessen, wo die Landesverfassung weitgehende sozialistische Elemente aufweist, trug sie die verhältnismäßig harte Treuepflichtregel mit. Die Unionsparteien hingegen sprachen sich gegen das Widerstandsrecht aus, was aus einem Misstrauen gegen die Bevölkerung entsprang, und befürworteten in allen Ländern Schutzbestimmungen nach unten.59 Die SPD hingegen befürwortete einerseits ein restriktives Vorgehen gegen mögliche Feinde der Demokratie in der Bevölkerung, bekundete aber punktuell ihr Misstrauen gegen zu ausgeprägte staatliche Eingriffsmöglichkeiten und argumentierte in manchen Ländern für eine Wehrhaftigkeit nach oben. Damit näherte sie sich, wie in Hessen, der Position der KPD an (Scherb 1987: 207, 255–260; Niclauß 1998: 202–210). Herrschte also über die Vorverlagerung des Demokratieschutzes, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, weitgehend Einigkeit, blieb die Frage nach dem Kern dessen, was es unbedingt präventiv zu schützen gilt, vage und uneinheitlich. So stehen sehr interpretationsoffene Formulierungen, wie »Geist der Verfassung« (Art. 85 WüBaVerf) oder der »demokratische Grundgedanke« (Art. 75 BayVerf), recht konkreten Formulierungen, wie »die republikanisch-parlamentarische Staatsform« (Art. 150 HessVerf), gegenüber. Von einer Einigkeit über das Schutzgut der wehrhaften Demokratie bzw. des Kerns der Demokratie waren die verschiedenen Landesverfassungen weit entfernt (Scherb 1987: 194–195). Ebenso unklar war, welche Strömungen als Gefahren für die Demokratie angesehen wurden. Zwar begründeten die Verfassungsgeber_innen die Abwehrinstrumente fast ausschließlich mit einer Abgrenzung gegen den Nationalsozialismus und dessen mögliche Wiederkehr, jedoch scheiterte die KPD in Bayern und Rheinland-Pfalz mit dem Versuch, diese spezifische Ausrichtung auch in den Verfassungen festzuhalten (Scherb 1987: 110–111, 167–168). Vereinzelt wurde von Vertreter_innen der Unionsparteien angedeutet, dass sich die Schutzbestimmungen auch gegen die KPD richten könnten (Scherb 1987: 64). Die genauere Bestimmung der Feinde der Demokratie klärte sich auch mit dem Grundgesetz nicht abschließend. ____________________ 59

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Den Unterschied zwischen einer Wehrhaftigkeit nach oben (Widerstandsrecht, Richterwahl) und einer Wehrhaftigkeit nach unten (Entzug politischer Grundrechte, Organisationsverbote) zeigt Rigoll (2013: 42–47) durch den Kontrast zwischen der hessischen und badischen Landesverfassung.

4.4 Bedeutung der Demokratie im Grundgesetz

4.4

Bedeutung der Demokratie im Grundgesetz

Das Grundgesetz der BRD, das vom Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (10. bis 23. August 1948) vorbereitet und während der Beratungen im Parlamentarischen Rat (1. September 1948 bis 8. Mai 1949) 60 ausgearbeitet wurde, ist »durch den Filter der Landesverfassungen gegangen« (Fromme 1960: 22). Dies zeigt sich sowohl in der überlappenden personellen Zusammensetzung, als auch den inhaltlichen Fortschreibungen (Scherb 1987: 187–246; Ullrich 2009: 271, 292). Trotzdem hatten die veränderten historischen Rahmenbedingungen Einfluss auf die Ausgestaltung und führten zu Verschiebungen gegenüber den Landesverfassungen. Zwar galt es nach wie vor als eine Lehre aus Weimar Schutzvorkehrungen zu treffen, der aufkommende Kalte Krieg führte jedoch dazu, dass vermehrt die Entwicklungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) den Begründungszusammenhang für die Gestaltung des Grundgesetzes darstellten (u. a. Fromme 1960: 171–172; Jaschke 1991: 23). Im Grundgesetz der BRD, das am 23. Mai 1949 erlassen wurde, sind mehrere verfassungsrechtliche Bestimmungen enthalten, die als Elemente einer wehrhaften Demokratie gelten. In dieser konkreten Form einzigartig (u. a. Boventer 1985a: 37; Jaschke 1991: 13) ist die sogenannte Ewigkeitsklausel in Art. 79, Abs. 3 GG: Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

Damit sind die Menschenwürde aus Art. 1 GG sowie die Strukturprinzipien aus Art. 20 GG von einer Veränderung auf legalem Weg ausgeschlossen. Diese Bindung der Verfassung an einen werthaften Kern steht im Kontrast zur Weimarer Reichsverfassung, die eine solche Festschreibung nicht kannte (Scherb 1987: 21).61 ____________________ 60

61

Für diese Beratungen gaben die Alliierten in ihrem Auftrag an die Ministerpräsidenten der Westzonen auch den inhaltlichen Rahmen vor. Im ›Dokument 1‹ vom 1. Juli 1948 heißt es: »Die verfassungsgebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft [...] und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.« (zitiert nach Seifert 1974: 15). Damit folgen die Väter und Mütter des Grundgesetzes der antipositivistischen Argumentation der 1920er und 1930er Jahre. Ob Carl Schmitt deswegen aber

97

4. Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie – Vorphase

Verknüpft mit dieser Wertebindung sind verschiedene präventive Abwehrmöglichkeiten, die sich bereits gegen Ziele (nicht erst gegen Handlungen) richten, sobald diese den Grundwerten der Verfassung widersprechen (Scherb 1987: 234; Jesse 2016: 13). Im Grundgesetz sind mindestens drei solcher Möglichkeiten eingeräumt. Zu Vereinsverboten heißt es in Art. 9, Abs. 2 GG: Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.

Durch Art. 18 GG können Bürger_innen politische Grundrechte entzogen werden: Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.

Als dritter Baustein dieser Abwehrmöglichkeiten gilt das Parteienverbot, geregelt durch Art. 21, Abs. 2 GG: Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.62

____________________

62

98

zum »geistigen Ahnherren des BGG [Bonner Grundgesetzes, M. F.]« (Fromme 1960: 179) erklärt werden kann, ist strittig. Dieser Ansicht sind unter anderem Leggewie und Meier (2012: 69–70) sowie Kopke und Rensmann (2000: 1455). Bezweifelt bzw. zurückgewiesen wird diese Position u. a. von Ullrich (2009: 273–275), Backes (2014: 15–17) und Jesse (2013a: 517). Von manchen Beobachter_innen wird auch Art. 5, Abs. 3 GG als Instrument der wehrhaften Demokratie benannt (Boventer 1985a: 34). Darin heißt es: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.« Andere wiederum rechnen das Treueverhältnis für Angehörige des öffentlichen Diensts zum Instrumentarium der wehrhaften Demokratie (u. a. Jesse 2016: 13). In Art. 33, Abs. 4 GG heißt es: »Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen.«

4.4 Bedeutung der Demokratie im Grundgesetz

Die genannten Instrumente ermöglichen ein präventives Vorgehen gegen Feinde der Demokratie und zeigen die Verankerung der wehrhaften Demokratie im Grundgesetz. Auffallend ist, dass im Gegensatz zu manchen Landesverfassungen Elemente einer Wehrhaftigkeit nach oben eine untergeordnete Rolle spielen.63 Dies ist auf die bereits erwähnten Verschiebungen durch den Kalten Krieg zurückzuführen, die dazu führten, dass sich die SPD von der KPD weiter abwandte und einen Kompromiss mit der Union suchte. War durch das Grundgesetz die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie gefallen, gab es hinsichtlich des Kerns der Demokratie gegenüber den Landesverfassungen eine Spezifizierung, die aber eine weitere, notwendige Konkretisierung offen ließ. Denn paradoxerweise stand die Bezeichnung des Kerns der Demokratie fest, bevor er mit Inhalt gefüllt wurde. Durch Art 18 GG und Art 21, Abs. 2 GG wird die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) als jener Kern vorgestellt,64 dessen Missachtung den Entzug politischer Grundrechte und ein Parteienverbot nach sich ziehen kann. Gleichzeitig implizieren die Artikel, dass über den genauen Umstand, wann der Boden der fdGO verlassen wird, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entscheiden müsse. Da diese Begriffsschöpfung auf keine Tradition im deutschen Rechtswesen zurückgeführt werden konnte, war einer Interpretation durch das BverfG nicht vorgegriffen (Lautner 1978: 1; Schiffers 1989: 182). So war zwar die Grenze benannt, aber das »Rechtsgut nicht inhaltlich gefüllt« (Schulz 2015: 289). Erstmals taucht die Wortkombination im Abschlussprotokoll des Herrenchiemseer Konvents auf, wo noch von einer »freiheitlichen und demokratischen Grundordnung« (HChE 1948: 10) die Rede war, welche den Kern des Grundgesetzes ausmache. Eine Diskussion um diese Begriffsschöpfung ist erst den Protokollen des Parlamentarischen Rats zu entnehmen. Zur Frage, ____________________ 63

64

Die Möglichkeit einer Absetzung des Bundespräsidenten Art. 61 GG (antragsberechtigt sind der Bundestag oder der Bundesrat) oder zur Richterabsetzung Art. 98 Abs. 2 GG (kann nur vom BVerfG durchgeführt werden) sind zwar im Grundgesetz verankert, wurden aber bislang nicht angewendet und sind in der Diskussion um die wehrhafte Demokratie weitgehend vergessen. Zur Diskussion um das Widerstandsrecht Art. 20 Abs. 4 GG, eingeführt 1968, siehe Kapitel 6.1.1. Die Formulierung ›verfassungsmäßige Ordnung‹ in Art. 9, Abs. 2 GG wird als gleichbedeutend mit der fdGO verstanden (u. a. Ridder 1965: 23–24; Ruland 1971: 136–156; Schwagerl 1985: 13).

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4. Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie – Vorphase

ob es nicht genüge, demokratische Grundordnung zu schreiben bzw. freiheitliche oder demokratische Grundordnung, führt v. Mangoldt (CDU, Schleswig-Holstein) [...] aus, daß es eine demokratische Ordnung gebe, die weniger freiheitlich sei, nämlich die volksdemokratische. Deshalb müsse ›freiheitlich‹ als Konkretisierung des ›demokratisch‹ gelten. (Scherb 1987: 227)

Daraufhin einigte man sich auf die Formulierung freiheitliche demokratische Grundordnung (Schulz 2017: 130–131). Ob diese Begründung jedoch belegt, dass die fdGO von Beginn an gegen den Kommunismus gerichtet war, ist umstritten. Hans Čopić (1967: 8) bspw. spricht trotz dieser Hinweise von einer »antinazistisch-demokratischen Grundordnung«, die erst später, vor allem in Folge des Koreakrieges antikommunistisch ausgelegt wurde (Čopić 1967: 6–10; Stuby 1977). Wolfgang Wippermann (1997a: 45) und Ernst Nolte (1974: 248–255) hingegen sehen das Grundgesetz bereits antitotalitär ausgerichtet. Aus dieser Interpretation folgt jeweils, was als Hauptgefahr für die Demokratie ausgemacht wird. Richtet sich das Grundgesetz gleichermaßen gegen rechts und links oder ist es als Gegenmodell zum Nationalsozialismus entworfen? Zwar kündigte sich eine Abgrenzung nach links und rechts bereits im Parlamentarischen Rat an (u. a. Scherb 1987: 227, 238), ich argumentiere aber, dass sich die antitotalitäre Ausrichtung erst durch die Anwendung des Grundgesetzes und die Einführung des politischen Strafrechts in den Jahren 1950 bis 1952 durchsetzt (Kapitel 5). 4.5

Erstes Sediment: Wehrhaftigkeit nach unten

Hinsichtlich der drei die Analyse strukturierenden Fragen kann zumindest eine weitgehend beantwortet werden. Denn die Maßnahmen zum Schutz der Demokratie sind im Grundgesetz bereits weitgehend verankert. Sie wirken bevor es zur Anwendung von Gewalt durch die Feinde der Demokratie kommt, sind also präventiv angelegt. Die Maßnahmen richten sich dabei in erster Linie gegen antidemokratische Entwicklungen in der Bevölkerung, weswegen von einer Wehrhaftigkeit nach unten gesprochen werden kann. Diese Form der Demokratie setzte sich gegen andere Vorstellungen durch und sedimentierte, indem sie sich ins Grundgesetz einschrieb. Sie wurde in der Geschichte der BRD nicht mehr grundsätzlich

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4.5 Erstes Sediment: Wehrhaftigkeit nach unten

infrage gestellt (Jaschke 1990: 228; Schiffers 1997: 15–16; Gusy 2016: 80).65 Noch nicht entschieden war hingegen, welche Strömungen als Gefahr für die Demokratie galten. Durch die Alliierten gesetzt war eine antifaschistische Abgrenzung, die aber nicht eindeutig im Grundgesetz verankert wurde. Dies verhinderten Akteur_innen, die bereits nach Kriegsende eine antitotalitäre Abgrenzung bevorzugten. Ebenso unentschieden war, welche Elemente als Kern der Demokratie bzw. als dessen unabdingbare Bestandteile gelten würden. Absehbar war hingegen, dass die fdGO in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielen wird, ohne, dass durch das Grundgesetz ihr Inhalt konkreter bestimmt wurde. Eine nähere Bestimmung war dem BVerfG vorbehalten. Diese Entwicklungen, allen voran die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie, fanden in einem spezifischen historischen Kontext statt. Neben der alliierten Kontrolle und dem aufkommenden Kalten Krieg war der ausschlaggebende Punkt für diese Entscheidung die vermeintlich richtige Lehre aus Weimar (u. a. Kutscha 1979: 26–31; Scherb 1987: 21; Schiffers 1989: 36; Jaschke 1991: 13, 23; Ullrich 2009: 19–22; Schulz 2015).66 Abhängig davon, ob es sich bei der Entscheidung um die richtige Lehre handelte, ist die Frage, woran die Weimarer Republik gescheitert ist. Die zentralen Argumente für eine wehrhafte Demokratie, Weimar sei wehrlos gewesen und die Nationalsozialist_innen legal an die Macht gekommen, möchte ich anhand neuerer Forschungsergebnisse prüfen. Die Weimarer Verfassung hätte, so die hegemoniale Interpretation der Nachkriegszeit, keine Schutzvorkehrungen gehabt, was einem ›Selbstmord der Demokratie‹ gleich gekommen wäre. In den letzten 70 Jahren sind mehrere wissenschaftliche Untersuchungen erschienen, die an dieser Einschätzung Zweifel aufkommen lassen (siehe auch Kapitel 8.2.2). Vor allem Christoph Gusy legte Anfang der 1990er Jahre ausführlich die Schutzinstrumente der Weimarer Republik dar. Er fokussiert auf deren Anwendung und folgert: »Die vorhandenen Gesetze wurden aus politischen Gründen nur partiell, nur mit Verzögerung oder in Einzelfällen gar nicht angewandt.« (Gusy 1991: 369). Diese politischen Gründe sieht er in der mangelnden Identifikation der politischen und juristischen Eliten mit der Republik. Weimar habe es nicht an den notwendigen Schutzvorkeh____________________ 65 66

Auf die wenigen Ausnahmen gehe ich in Kapitel 8.2.2 ein. Meier (1994) spricht anschaulich von einem »Weimar-Syndrom der bundesdeutschen Verfassung«.

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4. Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie – Vorphase

rungen gefehlt, sondern an deren konsequenter Anwendung (Gusy 1991).67 Die vermeintliche Schutzlosigkeit ermöglichte es den Nationalsozialist_innen legal an die Macht zu gelangen, so ein weiteres Argument. Auch diese Legalitätsthese ist mehrfach infrage gestellt worden. Denn durch den Preußenschlag vom 20. Juni 1932 war Preußen nicht mehr im Reichsrat vertreten. Dadurch wären, so die Argumentation, alle danach zustande gekommenen Gesetze, also auch das Ermächtigungsgesetz, nicht verfassungskonform gewesen (Schulz 2017: 94–95). Zudem spreche gegen die Legalität des Ermächtigungsgesetzes, dass über 100 Abgeordnete durch Flucht oder Haft nicht an der entscheidenden Sitzung teilnehmen konnten (Deiseroth 2008: 101). Durch eine Täuschung der Zentrumspartei, die dem Gesetz zustimmte, einer Änderung der Geschäftsordnung und einer Drohkulisse durch im Reichstag anwesende Sturmabteilung (SA) könne schwerlich von einem gesetzeskonformen Zustandekommen und damit einer ›legalen Machtübernahme‹ der Nationalsozialist_innen gesprochen werden (Kutscha 1979: 44–47; Strenge 2002: 170–188; Deiseroth 2008; Schulz 2017: 92–100). Sarah Schulz (2017: 91–92) merkt mit Verweis auf Ernst Fraenkel (1984: 26) an, dass die Erzählung der legalen Machtübernahme eine nationalsozialistische Legende sei, die nach dem Krieg vielfach unkritisch übernommen wurde. Das Scheitern der Weimarer Republik ist vielschichtig. Ein zentraler Aspekt ist sicherlich die Stärke jener Kräfte, die die Republik abschaffen wollten, aber eben auch die mangelnde Verankerung des demokratischen Gedankens in den Führungseliten Weimars, wie Karl Dietrich Bracher (1955: 21–27, 83–95, 174–208, 237–246) bereits zehn Jahre nach Kriegsende herausgearbeitet hat. Die genannten Gründe lassen erhebliche Zweifel aufkommen, ob eine Wehrhaftigkeit nach unten, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben wird, die richtige Lehre aus Weimar sein kann. Doch genau diese Deutung wirkt durch ihre Festschreibung im Grundgesetz bis heute fort und wird immer wieder reartikuliert (u. a. Gerlach 2012: 50; Backes 2014: 28; Jesse 2016: 13). In der weiteren Auseinandersetzung um die eigentliche Bedeutung von Demokratie ist die Diskussion um die richtige Lehre aus Weimar selten Gegenstand des Diskurses. Sie wirkt aber, eingeschrieben im Grundgesetz, ____________________ 67

102

Diese These wird von mehreren Wissenschaftler_innen geteilt (u. a. Bulla 1973: 343–344; Lautner 1978: 10–11; Mommsen 1997; Schulz 2017: 83–90).

4.5 Erstes Sediment: Wehrhaftigkeit nach unten

bis heute fort.68 Die Entscheidung für eine Wehrhaftigkeit nach unten ist insofern sedimentiert, da sie zwar erhebliche Relevanz für die eigentliche Bedeutung der Demokratie hat, aber kaum Gegenstand politischer Debatten ist. Vielmehr stand in den Folgejahren im Mittelpunkt, gegen wen sich die Demokratie verteidigen müsse. Erheblichen Einfluss auf den sich ausbildenden antitotalitären Konsens hatte die Zuspitzung des Kalten Krieges (Grüner 2003; Ullrich 2009: 292–296).

____________________ 68

Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Weimar in der Geschichte der BRD immer wieder eine wichtige Rolle spielte. Siehe dazu vor allem die Beiträge in dem Sammelband Vom Nutzen und Nachteil historischer Vergleiche. Der Fall Bonn Weimar (Balke und Wagner 1997; siehe auch Ullrich 2009: 9– 38, 305–613).

103

5.

Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

Die Verabschiedung des Grundgesetzes stellte einen wichtigen Schritt zur Ausgestaltung der politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) dar. Allen voran mit den Artikeln 9, 18, 21 und 79 GG manifestierte sich die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie. Das Kriterium für die Grenze, die antidemokratische Positionen von der Demokratie schied, war mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) benannt, ohne dass dies mit einer inhaltlichen Bestimmung des Begriffs einherging. Ebenso offen war, welche Positionen als Gefahren galten. Deutlich war lediglich, dass der Nationalsozialismus eine negative Abgrenzungsfolie darstellte und man nicht das gleiche Schicksal wie die Weimarer Republik erleiden wollte. Die Fragen nach dem Kern der Demokratie und den Gefahren für die Demokratie wurden in den ersten Jahren nach Gründung der BRD entschieden, indem die fdGO definiert und eine antitotalitäre Gefahrenbestimmung durchgesetzt wurde. Das Postulat des Antitotalitarismus vertraten bereits einige Akteur_innen der verfassungsgebenden Versammlungen (Löw 1988a: 185–190; Scherb 1987: 274–276) ebenso wie Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949. Er forderte aus der Vergangenheit die nötigen Lehren gegenüber allen denjenigen zu ziehen, die an der Existenz unseres Staates rütteln, mögen sie nun zum Rechtsradikalismus oder zum Linksradikalismus zu rechnen sein (Adenauer 1949: 27B–C).

Doch erst nach dem Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juni 1950, der die beiden großen Volksparteien in Fragen der Sicherheitspolitik zusammenrücken ließ (Schiffers 1989: 117; Frei 1996: 195–306), setzte sich eine antitotalitäre Ausrichtung der wehrhaften Demokratie durch. Wichtige Bausteine auf diesem Weg waren der Adenauererlass vom 19. September 1950 und andere Instrumente der Aufrüstung nach Innen (Kapitel 3.1.1). Eine besondere Rolle nahm dabei das erste Strafrechtsänderungsgesetz (1. StÄG) ein, da für seine Verabschiedung eine Grundgesetzänderung und damit die Zustimmung der SPD, als größter Oppositionsfraktion, notwendig war (Seifert 1974: 177; Schiffers 1989: 216). Die Einigung zog sich über mehrere Monate. In der ersten Lesung am 12. September 1950 begründete Justizminister Thomas Dehler (FDP) das Gesetzesvorhaben ausführlich und skizzierte das hegemoniale Projekt einer antitotalitären, 105

5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

wehrhaften Demokratie (5.2). Erfuhr er dafür von der SPD anfangs noch starke Kritik, reihte sich diese in der dritten Lesung, am 11. Juli 1951, in die Diskurskoalition der Fürsprecher_innen dieses Projekts ein und stimmte für das Gesetz (5.3). Zwischen den beiden großen politischen Blöcken bestand dadurch hinsichtlich der Gefahren für die Demokratie und der zentralen Bestandteile der Demokratie weitgehende Einigkeit. Diese Bestandteile haben in den Gesetzestext des 1. StÄG Einzug gefunden (5.4). Ein weiterer zentraler Schritt zur Festschreibung der antitotalitären, wehrhaften Demokratie war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 (5.5). Hierin nahm das Gericht erstmals seinen im Grundgesetz formulierten Auftrag wahr, über die Verfassungswidrigkeit einer Partei zu entscheiden. Voraussetzung dafür war eine nähere Bestimmung der fdGO. Bis heute ist diese Definition von 1952 wichtiger Bezugspunkt für Fragen zur Grenze der Demokratie (Jesse 2013a: 508; Flümann 2015b: 177). Diese breite Diskurskoalition aus Bundesregierung, größter Oppositionspartei und oberstem Gericht verhalf dem hegemonialen Projekt zur Durchsetzung. Dennoch war die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie kurz nach Gründung der BRD nicht unumstritten. Sie setzte sich gegen andere Vorstellungen, wie bspw. einer antifaschistischen, sozialistischen Ausgestaltung der politischen Ordnung, durch. Diese andere Vorstellung wurde noch im März 1950 von der SPD vertreten, wie aus einem Gesetzesentwurf und der zugehörigen Begründung hervorgeht (5.1). 5.1

Die antifaschistische, sozialistische Demokratie – ein anderer Ansatz

Es war kein Zufall, dass die SPD-Bundestagsfraktion ihren Entwurf eines Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie am 15. Februar 1950, dem Tag des Freispruchs für Wolfgang Hedler, vorlegte. Hedler war wegen Verunglimpfung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus angeklagt und vom Kieler Landgericht freigesprochen worden. Da zwei der drei Richter vor 1945 der NSDAP angehörten, entfachte das Urteil eine Diskussion um die Demokratiereife der BRD und ihrer Institutionen (Schiffers 1989: 94–95; Rigoll 2013: 58–61). Während die Bundesregierung bereits seit Anfang 1950 an einem ähnlichen Gesetz arbeitete (Schiffers

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5.1 Die antifaschistische, sozialistische Demokratie – ein anderer Ansatz

1989: 102–103), ging die SPD mit ihren Vorstellungen in die Offensive.69 Eine Aussprache über den Gesetzesentwurf fand am 16. März 1950 im Bundestag statt, in der der Abgeordneten Otto Heinrich Greve70 die Demokratievorstellung der SPD-Fraktion darlegte. Greve beleuchtet in seiner Rede vor allem den größeren politischen Kontext in dem er den Gesetzesentwurf eingebettet sieht und geht nur punktuell auf dessen konkrete Inhalte ein. Die Notwendigkeit des Gesetzesvorhabens leitet er aus dem Scheitern der Weimarer Republik ab, legt den Fokus der weiteren Rede aber auf die Benennung der aktuellen Gefahren der Demokratie und die Ursachen für ihre Stärke. Diese sieht er in der mangelnden sozialen Absicherung der Bevölkerung und dem Nachleben bzw. Wiedererstarken des Nationalsozialismus (Greve 1950). Aspekte der Wehrhaftigkeit71 Zweifelsohne stellt der Gesetzentwurf der SPD ein Element einer wehrhaften Demokratie dar. Darin werden Maßnahmen gefordert, die politische Positionen unter Strafe stellen, bevor Gewalt angewendet wird. Die einzelnen Vorschriften verweisen auf Bestandteile der Demokratie, die unter besonderen Schutz gestellt werden sollen.72 In der hier rekonstruierten Begründung wird einem Ausbau der Wehrhaftigkeit jedoch keine sonderlich große Bedeutung für die Ausgestaltung der politischen Ordnung beigemessen. ____________________ 69 70

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72

Die erste Initiative zum politischen Strafrecht ging mit dem Gesetzesentwurf zum Schutz der Bundesfarben und der Bundesflagge bereits am 22. September 1949 von der Zentrumspartei aus (Schiffers 1989: 89–94; Gutfleisch 2014: 52). Greve war ab 1945 am Aufbau der FDP beteiligt, die er wegen ihrer rechten Tendenzen im April 1948 verließ und in die SPD eintrat. Er war Mitglied des Parlamentarischen Rats und somit an der Ausarbeitung des Grundgesetztes beteiligt. Die Darstellung orientiert sich an den drei für diese Arbeit leitenden Fragen (Kapitel 2.3). Als Aspekte der Wehrhaftigkeit wird diskutiert, welche Maßnahmen zum Schutz der Demokratie gefordert werden und welcher gesellschaftlich-politischen Kraft zugeschrieben wird, diese Maßnahmen umzusetzen. So bspw. in den Abschnitten zur Missachtung der Bundesfarben § 8, Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen § 10 oder Ehrverletzung § 11 (Fraktion SPD 1950).

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5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

Es deutet sich hingegen an, dass Greve einer Verschärfung des Strafrechts, welches die Gesetzesvorlage bedeutet, skeptisch gegenüber steht. Er argumentiert, die aktuelle Gefahr sei kein »juristisches, sondern ein eminent politisches Problem« (Greve 1950: 1596C), weswegen die Lösung auch weniger in Gesetzesänderungen als in der Veränderung der politischen Kultur liege. Stellenweise mutet Greves Begründung paradox an, da er einen Gesetzesentwurf präsentiert und dessen Notwendigkeit betont, aber mehrfach auch dessen Unzulänglichkeit hervorhebt. Etwa durch den Hinweis, »daß wir [...] gezwungen sind uns mit Gesetzesvorlagen [gegen die Feinde der Demokratie, M. F.] zu befassen, mit denen meine Freunde und ich uns am liebsten überhaupt nicht befassen würden« (Greve 1950: 1593B fast wortgleich 1594A). Dies deutet darauf hin, dass der Fokus der SPD nicht auf dem Feld des politischen Strafrechts lag. Außerdem hegt Greve Zweifel an der politischen Zuverlässigkeit der Richterschaft, die die Gesetze auslegt, und fordert Maßnahmen, die verhindern, dass diese Gesetze gegen Demokrat_innen angewendet würden (Greve 1950: 1597A). Diese Halbherzigkeit, mit der Greve für eine wehrhafte Demokratie eintritt, erklärt sich durch mehrere Passagen in denen er argumentiert, eine Änderung der Sozial- und Wirtschaftspolitik sei der bessere Schutz der Demokratie: Wir glauben, wir brauchten dann ein Gesetz zum Schutze der Republik und gegen die Feinde der Demokratie nicht, weil der beste Schutz gegen die Feinde der Demokratie die Sicherung der breiten Massen unseres Volkes in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ist. (Greve 1950: 1594A). [Oder:] Deswegen ist auch die Frage der Sicherung unseres Staates für uns ein soziales Problem. (Greve 1950: 1594B).

Diese Position korrespondiert mit der Analyse des linken Flügels der SPD zum Scheitern der Weimarer Republik (Kapitel 4.2). Sie fügt sich auch in den Beobachtungen von Sebastian Ullrich ein, der für die Beratungen im Parlamentarischen Rat anmerkt, dass die SPD ihre Forderungen nach einer sozialistischen Demokratie zurücksteckte, um sich mit der Union auf das Grundgesetz einigen zu können und darauf aufbauend für den Sozialismus zu streiten (Ullrich 2009: 296–299). Die Demokratie könne sich nur stabilisieren, wenn die sozial- und wirtschaftspolitischen Weichen hierfür gestellt seien, so Greves Argumentation. Er verknüpft damit die Diskussion um die politische Ordnung in der Bundesrepublik mit wirtschaftspolitischen Forderungen. Hier kommt ein diskursives Strategem zum Tragen, dass in Kapitel 2.3 als Strategem der superdifferenziellen Grenzziehung vorgestellt wurde. Es beschreibt die Verschiebung, Ziehung oder Auflösung der Grenze zwischen zwei oder mehreren Diskursräumen. Anstatt den Diskurs auf die politische Ordnung zu beschränken, reißt Greve die 108

5.1 Die antifaschistische, sozialistische Demokratie – ein anderer Ansatz

Grenzen zum wirtschaftspolitischen Diskurs ein. Der Fokus auf die Ausgestaltung der politischen Ordnung im engeren Sinne war nicht das Hauptabliegen der SPD. Ihr ging es um die Durchsetzung einer sozialistischen Demokratie, die nicht nur im Raum der politischen Ordnung durchzusetzen war. Die Verknüpfung mit wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen wird auch im Kern der Demokratie deutlich. Kern der Demokratie Der Gesetzesentwurf, der Greves Begründung zugrunde liegt, richtet sich gegen die sogenannten Feinde der Demokratie. Mehrfach unterstreicht er die Notwendigkeit des Gesetzesentwurfs und verknüpft ihn mit Elementen, zu deren Schutz der Entwurf beiträgt. Denn dieser sei »aus der ernsten Sorge um das Leben unseres jungen Staates und die Freiheit seiner Bürger geboren« (Greve 1950: 1594D) und Demokratieschutz trage dazu bei, »unser Leben und das Leben unserer Kinder in einer freiheitlichen Demokratie [...] zu sichern« (Greve 1950: 1597B). Aus diesen wenigen Passagen, in denen Greve Elemente als zentrale Bestandteile der Demokratie artikuliert, werden der Staat, die Freiheit und das Leben der Bürger_innen nahe an den Kern der Demokratie gerückt. Um aber die Demokratie zu erhalten, bedürfe es einer bestimmten Wirtschafts- und Sozialpolitik. So betont Greve, »daß die Demokratie [...] im Raume der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung aber nur dann bestehen kann, wenn diese Ordnung eine gerechte ist« (Greve 1950: 1596D). Der Demokratie müsse also eine gerechte Ordnung unterliegen, damit sie bestehen könne. Diese wiederholte Forderung nach Fortschritten in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, um eine stabile Demokratie zu verwirklichen, zeigt, dass die Vorstellung über die eigentliche Bedeutung von Demokratie für Greve eine sozialistische Demokratie sein muss. Ansonsten bleiben seine Ausführungen über die genaueren Vorstellungen von Demokratie und deren zentralen Elementen relativ unkonkret. Auf die vom Grundgesetz vorgeschlagene Bezeichnung für den Kern, die fdGO, geht Greve in seiner Rede nicht ein. Ausführlicher benennt er hingegen, was er bzw. die SPD-Fraktion als antidemokratisch ansehen.

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5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

Gefahren für die Demokratie Als konkrete Gruppen, die eine Gefahr für die Demokratie darstellen, macht Greve ausschließlich Strömungen der politischen Rechten aus. Dies sind beispielsweise »reaktionäre, nationalistische, neofaschistische und in ihrer Gesamtheit antidemokratische Bestrebungen« (Greve 1950: 1594A), »ideologische Restbestände aus der Zeit des Nationalsozialismus« (Greve 1950: 1594D) oder »neofaschistischen Gruppen, Parteien, Bruderschaften« (Greve 1950: 1595A). Bemerkenswert ist, dass er die Feinde der Demokratie auch in den Organen unseres Staates selbst sitzen [sieht,] als Repräsentanten der Demokratie [...] ohne daß sie den ehrlichen Willen haben, überhaupt Diener des demokratischen Staates zu sein (Greve 1950: 1595A).

Konkret nennt er den persönlichen Assistenten des damaligen Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, Ernst Kutscher, und zitiert aus dessen antisemitischen Reden in der Zeit vor 1945. Zudem verweist er auf einen Bericht des US-amerikanischen Hohen Kommissars, aus dem hervorgeht, dass zentrale Stellen der bundesrepublikanischen Institutionen von ehemaligen Nationalsozialisten besetzt seien, von denen sich viele nicht von dieser Ideologie gelöst hätten (Greve 1950: 1596B). Die Gründe für die Stärke dieser Gruppe bezeichnet er zunächst als »vollkommen gleichgültig« (Greve 1950: 1594A), um dann aber darauf hinzuweisen, dass alle Fehler gemacht hätten, vor allem die Alliierten, durch falsche wirtschaftspolitische Entscheidungen. Denn »das Aufkommen der Feinde der Demokratie ist insbesondere sichtbar geworden nach der Währungsreform« (Greve 1950: 1594B). Diese hätte zu »mangelnder Fundierung des Lebens der breiten Massen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht« geführt (Greve 1950: 1594B). Obwohl er diesen Punkt nicht weiter vertieft, wird deutlich, dass er die Ursache für das Erstarken rechter Kräfte in der fehlerhaften Wirtschaftspolitik sieht. In Greves Rede wird deutlich, dass er die Gefahren für die Demokratie im Nachwirken des Nationalsozialismus sieht. Dies umfasst nicht nur aktive Nationalsozialist_innen, sondern auch ehemalige, die in den Institutionen der Demokratie sitzen, ohne sich von ihrer Ideologie gelöst zu haben. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass er weder die Sowjetunion, noch die Deutsche Demokratische Republik (DDR) oder Kommunist_innen in der BRD als Gefahr für die Demokratie benennt. Stattdessen skizziert Greve eine antifaschistische Abgrenzung.

110

5.1 Die antifaschistische, sozialistische Demokratie – ein anderer Ansatz

Eigentliche Bedeutung und eigentlicher Verfechter der Demokratie Dem Ringen um die politische Ordnung war durch die Vorgabe der Alliierten, dass es sich um eine demokratische Ordnung handeln müsse, ein Rahmen gesetzt. Die beteiligten Akteur_innen stritten also lediglich darüber, welche Form der Demokratie durchgesetzt werden sollte. In Kapitel 2.3 habe ich dies als einen Konflikt um Hegemonie zweiter Ebene beschrieben, der sich vor allem darin ausdrückt, dass um die eigentliche Bedeutung von Demokratie gestritten wird und darüber, welche gesellschaftlich-politische Kraft am besten dafür geeignet ist, Demokratie zu verwirklichen. Hinsichtlich der Vorstellung der SPD-Fraktion über die eigentliche Bedeutung von Demokratie sind vor allem zwei Aspekte in Greves Rede wichtig. Erstens spricht er sich in seiner Begründung des Gesetzesentwurfs deutlich für eine antifaschistische Abgrenzung aus, die gegen Nationalsozialist_innen und ihre Ideologie konsequent vorgeht. Dabei schließt er das Fortleben des Nationalsozialismus in den Organen der Demokratie explizit mit ein. Betrachtet man nur entsprechende Ausschnitte aus seiner Rede und stellt sie in den Kontext der im Entwurf vorgesehenen Gesetzesverschärfungen, ließe sich folgern, dass Greve hier das Modell einer antifaschistischen, wehrhaften Demokratie skizziert. Der zweite wichtige Aspekt gibt jedoch Anlass zum Zweifel an dieser Folgerung. Denn mehrfach relativiert Greve die Bedeutung des eingebrachten Gesetzes und ordnet den strafrechtlichen Demokratieschutz anderen Forderungen unter. Das wehrhafte Element, das zweifelsfrei im Gesetzesentwurf steckt, tritt in der Begründung hinter die sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen zurück. Somit ist die eigentliche Bedeutung von Demokratie, die Greve in seiner Rede skizziert, eine antifaschistische, sozialistische. Weniger deutlich wird in Greves Rede, welche Kraft die Rolle des eigentlichen Verfechters übernehmen soll. Seine Forderung nach einer sozialen Wirtschaftsordnung, als zentraler Bestandteil von Demokratie, bringt die Akteur_innen, denen in dieser Hinsicht Kompetenzen zugeschrieben werden, in eine gute Ausganslage, um als eigentlicher Verfechter anerkannt zu werden. Dies wären bspw. Gewerkschaften, die Arbeiter_innenklasse oder eben die SPD selbst. Jedoch bedürfte es der Analyse mehrerer Texte, die eine antifaschistische, sozialistische Demokratie fordern, um diese Frage beantworten zu können. Aber da der Fokus dieser Arbeit auf der Rekonstruktion des hegemonialen Projekts liegt, das sich durchgesetzt hat und dessen Sieg bis heute fortwirkt, verzichte ich darauf 111

5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

und fokussiere auf das hegemoniale Projekt der antitotalitären, wehrhaften Demokratie. Dieses war, so viel ist deutlich geworden, nicht unumstritten und musste sich gegen andere Vorstellung von Demokratie, wie der gerade rekonstruierten, durchsetzen. 5.2

Die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie – ein hegemoniales Projekt

Der Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion wurde nach einer kurzen Aussprache in die entsprechenden Ausschüsse verwiesen (Deutscher Bundestag 1950a: 1608D). Die Debatte über den Schutz der Demokratie fand am 12. September 1950, wenige Wochen nach Ausbruch des Koreakrieges, mit der ersten Lesung des 1. StÄG eine Fortsetzung. Hier legte der damalige Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP)73 die Vorstellung der Bundesregierung über den Schutz der Demokratie und der Identifikation ihrer Feind_innen dar und skizzierte das hegemoniale Projekt der antitotalitären, wehrhaften Demokratie.74 Aus dem umfangreichen Gesetzesentwurf fokussiert Dehler in seiner Begründung auf die Bereiche Landesverrat, Staatsgefährdung und Hochverrat. Ausführlich geht er auf die Gesetzesvorlage zu Staatsgefährdung und Sicherung der Rechtspflege ein, da vor allem diese von Seiten des Bundesrats und der Öffentlichkeit kritisiert wurden (Deutscher Bundesrat 1950; Schiffers 1989: 118–137). Die Notwendigkeit des Gesetzes begründet Dehler mit dem Scheitern der Weimarer Republik und den Gefahren, die der BRD von außen und innen drohten (Dehler 1950).

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Dehler war bis zu ihrer Selbstauflösung 1933 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und 1946 Mitbegründer der FDP in Bayern. Er gehört sowohl der verfassungsgebenden Versammlung in Bayern als auch dem Parlamentarischen Rat an. Diese Vorstellungen zeigen sich auch in den Ausführungen der anderen Redner der Regierungskoalition (Bausch 1950; Euler 1950), auf die ich punktuell eingehen werde. Manifest wurden sie im bereits erwähnten Adenauererlass, der sowohl eine antitotalitäre Abgrenzung vornimmt als auch ein Baustein der Vorverlagerung der Demokratiegrenze darstellt (Kapitel 3.1.1).

5.2 Die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie – ein hegemoniales Projekt

Aspekte der Wehrhaftigkeit Der von den Regierungsfraktionen eingebrachte Gesetzesentwurf stellt ein Instrument der wehrhaften Demokratie auf dem Gebiet des Strafrechts dar. Die Vorverlagerung des Demokratieschutzes durch Strafandrohung für nicht gewaltvolle Handlungen sowie das präventive Vorgehen gegen bestimmte politische Strömungen, bevor diese Gewalt anwenden, spiegelt sich in mehreren Paragrafen wider (siehe ausführlich Kapitel 5.4). Vor allem in der Begründung des besonders umstrittenen Tatbestands der Staatsgefährdung betont Dehler die Notwendigkeit, bereits vor der Ausübung von Gewalt einzuschreiten: Ähnlich zeigt auch die Vergangenheit, und ich glaube, die Zukunft wird es noch stärker in Erscheinung treten lassen, daß der moderne Hochverrat gerade durch das Fehlen der Gewalt oder durch die Tarnung der Gewalt charakterisiert ist. In dem Augenblick, in dem die Gewalt schließlich in Erscheinung tritt, ist die Macht schon ergriffen. [...] Den Planern solcher kalten Revolutionen75 läßt sich die Absicht der Gewaltanwendung im Sinne einer Hochverratsbestimmung so gut wie niemals nachweisen. (Dehler 1950: 3107D).

Im Folgenden bezieht sich Dehler auf die ›legale Machtübernahme‹ Hitlers (Dehler 1950: 3107D) und leitet daraus die Notwendigkeit eines präventiven Demokratieschutzes ab.76 Mit dem Gesetz sollen Bestimmungen getroffen werden, um bereits gegen Entwicklungen vorzugehen, bevor Gewalt angewendet wird. So solle eine weitere ›legale Machtübernahme‹ verhindert werden. Ebenfalls mit dem Zusammenbruch der Weimarer Republik begründet er die Notwendigkeit, Freiheit einzuschränken: Das Schicksal der Weimarer Republik ist ein warnendes Beispiel dafür, daß eine Überdosierung der Freiheit, besonders eine zu weit getriebene Toleranz gegenüber den Feinden der Demokratie, zum Freitod der Freiheit führen kann. Wir müssen ein Freiheitsopfer bringen, um die Freiheit zu bewahren. (Dehler 1950: 3105D)

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Der Begriff der ›Kalten Revolution‹ beschreibt die Abkehr vom offenen Umsturz hin zu Methoden der Infiltration und Staatszersetzung (Schulz 2017: 150, FN 123). So auch der CDU-Abgeordnete Bausch (1950: 3111B, C) in derselben Plenardebatte: »Es ist nicht nur hierin, sondern auch in anderer Hinsicht nötig, aus der Vergangenheit und aus ihren bitteren Erfahrungen zu lernen. Wir stehen leider wiederum in einer Zeit, wie es die Zeit zwischen den Jahren 1928 und 1933 war [...]. Heute wird im politischen Kampf vielfach dieselbe Methode angewandt, die von den Nationalsozialisten angewandt wurde.«

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5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

Diese Ausführungen schließen sich an die konservative Interpretation vom Scheitern der Weimarer Republik, als zu demokratisch und zu wenig wehrhaft, an (Kapitel 4.2). Dehler plädiert für ein richtiges Maß an Freiheit und lässt keinen Zweifel daran, dass zu viel Freiheit nicht seiner Vorstellung von Demokratie entspricht. Dies ist nur konsequent, da die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen staatliche Eingriffsmöglichkeiten in die Freiheitsrechte der Bürger_innen implizieren.77 Im Unterschied zu Greve betont Dehler die Notwendigkeit eines vorverlagerten Demokratieschutzes und fügt seiner Begründung keinerlei Relativierung oder Durchbrechung der Grenze des Diskursraums an. Er erklärt die strafrechtlichen Möglichkeiten der wehrhaften Demokratie zur Schicksalsfrage: »Eine Demokratie, die nicht gewillt ist, sich zu verteidigen, kann nicht bestehen« (Dehler 1950: 3110B; siehe auch Euler 1950: 3113D). Kern der Demokratie Ein zentrales Element der Demokratie ist folglich ihre Fähigkeit sich gegen ihre Feind_innen zur Wehr zu setzen. Das 1. StÄG und seine jeweiligen Bestimmungen sind Forderungen, wie diese Fähigkeit hergestellt werden kann. Diese Forderungen verknüpft Dehler mit Elementen, die es zu schützen, zu bewahren oder (wieder) herzustellen gilt. So entwickelt sich eine Äquivalenzkette A, die ich aus seiner Rede rekonstruieren konnte. Die Elemente der Kette A geben Hinweise darauf, was die Bundesregierung als den Kern der Demokratie ausmacht. Dazu zählen unter anderem »Freiheit«, »Staat«, »Grundgesetz«, »freiheitliche Grundordnung«, »Ordnung«, »unverfälschter Ausdruck des Volkswillens«, »Befriedung des öffentlichen Lebens«, »rechtsstaatliche Demokratie«, »Unabhängigkeit der Gerichte«, »Frieden in der Welt« und die »Verteidigung der Heimat« (Dehler 1950). Eine hervorgehobene Rolle spielt dabei der Staat, da er in den Ausführungen Dehlers in der Lage ist, mehrere der genannten Forderungen zu erfüllen. Gleich zu Beginn seiner Rede führt die wichtige Rolle des Staates aus: ____________________ 77

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Auch hier argumentiert Bausch (1950: 3111C) ähnlich: »Es war ein Grundfehler der Weimarer Demokratie, daß sie sich ihrer Haut nicht gewehrt hat. Man darf die Freiheiten der Demokratie nicht denjenigen gewähren, die sie mißbrauchen, um die Freiheiten der Demokratie zu beseitigen.«

5.2 Die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie – ein hegemoniales Projekt Wir müssen mit aller Tatkraft daran arbeiten, daß das deutsche Staatsschiff, dem wir, ich möchte sagen, wie einer modernen Arche Noah in der Sturmflut dieser Zeit alles anvertraut haben, was wir noch an Hoffnungen haben und was uns heilig ist, ein seetüchtiges Schiff wird, stark genug, den Gefahren zu begegnen, die in so reichem Maße von innen und von außen drohen. Wir müssen auf strafrechtlichem Gebiete alle Vorkehrungen treffen, um die Freiheit, die wir gewählt haben und der wir uns verpflichtet fühlen, zu erhalten. Zu den Mitteln dieser Staatserhaltung gehört auch das Strafrecht. (Dehler 1950: 3105BC).

Dem ›deutschen Staatsschiff‹ sind alle Hoffnungen und alles Heilige anvertraut. Für den Fall einer Sturmflut – um in der Metapher zu bleiben – bedarf es eines stabilen Schiffes und mit ihm wird auch all das gerettet, was ihm anvertraut wurde. Die geplanten Gesetzesänderungen sind dabei die Maßnahmen, um das Schiff gegen die Gefahren zu wappnen. Solange der Staat sicher ist, seien auch seine Bürger_innen in Sicherheit. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Bestimmungen zur Staatsgefährdung, die »das Kernstück des Entwurfes« (Dehler 1950: 3108B) bilden. Im Gegensatz zur zentralen Stellung des Staates spielt die durch das Grundgesetz vorgeschlagene Benennung des Kerns der Demokratie, die fdGO, sowohl im Gesetzentwurf als auch in Dehlers Begründung nur eine untergeordnete Rolle. Gefahren für die Demokratie Als Begründung für die Notwendigkeit des Gesetzesentwurfs führt Dehler die »Gefahren [...] von innen und von außen« an (Dehler 1950: 3105B). Letztere drohten aus der »Ostzone« (Dehler 1950: 3108B) bzw. durch »autoritäre Systeme« (Dehler 1950: 3106D), wobei hier aus dem Kontext – dem Verweis auf die Volkskammerwahlen in der DDR78 – deutlich ____________________ 78

Am 15. Oktober fanden die ersten Volkskammerwahlen in der DDR statt. Die Wahlberechtigten konnten lediglich ihre Zustimmung oder Ablehnung zur Liste der Nationalen Front ausdrücken. Sie hatten keinen Einfluss auf das Kräfteverhältnis in der Volkskammer. Dieses wurde im Vorfeld festgelegt. Im Westen wurden diese Wahlen als weiterer Schritt zu Trennung Deutschlands gesehen. So verlas Adenauer (1950: 3184C, D) am 14. September 1950 eine Erklärung der Bundesregierung anlässlich der Wahlen in der es heißt: »Die Wahlen des 15. Oktober 1950 in der sowjetischen Besatzungszone sind ungesetzlich und nach demokratischem Recht null und nichtig. Die Bundesregierung unterstützt jederzeit und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Willen der Bevölkerung in der Sowjetzone nach Befreiung von dem kommunistischen

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5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

wird, dass er damit die kommunistisch regierten Staaten meint. Die erhöhte Bedrohung durch diese Gefahr unterstreicht er in folgender Passage: Aber zwei Tage später, meine Damen und Herren, war Korea! Ich meine, das müßte jedem Zauderer [gemeint ist der Bundesrat, der sich kritisch zum Gesetzesentwurf äußerte; M. F.] die Augen geöffnet haben. Wir brauchen ja nicht in koreanische Fernen zu schweifen, denn das Böse liegt so nah! Für uns genügt das, was in der Ostzone vorgeht. Von dort aus wird mit allen Mitteln der Propaganda, der Wühlarbeit, der Zersetzung der Bundesrepublik gearbeitet, um sie zu Fall zu bringen. Ich glaube, wir können da nicht tatenlos zusehen. Der Kampfruf ist ja nicht: Hannibal ante portas!, sondern das Trojanische Pferd ist in unserer Mitte, und wir müssen uns dagegen zur Wehr setzen. Die Bundesregierung ist der Meinung, daß diese strafrechtliche Bestimmung das Kernstück des Entwurfes ist. (Dehler 1950: 3108B).

Hier benennt Dehler mehrere Aspekte einer ›Gefahr von links‹. In außenpolitischer Hinsicht zentral ist der Koreakrieg, der die Welt fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Angst vor einer weiteren globalen Eskalation versetzte. Auch wenn die Gefahrenlage in Deutschland eine andere war, galt die BRD, ebenfalls entlang der ›Systemgrenze‹ geteilt, vielen zeitgenössischen Beobachter_innen als ähnlich gefährdet wie Korea (Schwarz 1981: 104–119; Schiffers 1989: 19, 139). Diese Gefahr aus dem fernen Korea sei, so Dehler, bereits unter uns, da aus der DDR ›Zersetzung und Wühlarbeit‹, sprich Spionagetätigkeit, unternommen würden. In der Bildsprache Dehlers sei das Trojanische Pferd mit den Agent_innen im Bauch in Mitten der BRD.79 Die Gefahr, dass diese Agent_innen aktiv würden, um die BRD von innen so zu schwächen, dass sie ihren Feind_innen aus dem Osten ausgeliefert wäre, sei akut.80 Dehler ____________________

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Joch der Sozialistischen Einheitspartei und nach einer wahrhaft demokratischen Vertretung.« Zwar benennt Dehler die KPD nicht direkt als Agentin der Ostzone, aber durch die Nennung dieser Partei im Adenauerlass vom 19. September 1950 wird deutlich, dass die KPD von der Bundesregierung als eine Gefahr für die Demokratie gesehen wird. Auch Adenauer bemüht in seiner Erklärung anlässlich der Volkskammerwahlen das Bild der »Wühlarbeit des Kommunismus in der Bundesrepublik« (Adenauer 1950: 3184D). Als in der anschließenden Aussprache die Abgeordnete der KPD spricht, verlassen fast alle anderen Abgeordneten den Plenarsaal (Deutscher Bundestag 1950b: 3188C). Bemerkenswert ist, dass er diese beiden inhaltlich wie metaphorisch gewichtigen Aspekte erst in der zweiten Hälfte seiner Rede anführt. Die zitierte Passage ist eine Entgegnung auf die Bedenken des Bundesrates gegen seine bisherige Bestimmung zu Staatsgefährdung – dem ›Kernstück des Entwurfs‹.

5.2 Die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie – ein hegemoniales Projekt

skizziert also eine doppelte kommunistische Gefahr, die sowohl von außen als auch von innen droht. Die ›Gefahren von rechts‹ sind seiner Meinung nach auf Innen beschränkt. Zu diesen Gefahren zählt er bspw. die »Restbestände des nationalsozialistischen Rassenwahns« oder »unbelehrbare Elemente« (Dehler 1950: 3107A, B). Die »nationalsozialistischen Überreste« bezeichnet er auch als »Keimzellen sehr bedrohlicher Entwicklungen« (Dehler 1950: 3107D, 3108A). Deuten die Bezeichnungen als ›Reste‹ auf eine abnehmende Entwicklung, sieht Dehler durchaus eine aufkeimende Bedrohung von rechts. Dieser wird aber vor allem Propagandadelikte wie »Hetze gegen Bevölkerungsgruppen, [...] Verleumdung des politischen Gegners« (Dehler 1950: 3107A) oder »politische Brunnenvergiftung« (Dehler 1950: 3107B) zugeschrieben. Eine Gefahr für den Bestand der Demokratie von rechts benennt Dehler nicht. Trotz dieser unterschiedlichen Gewichtung lässt sich feststellen, dass seine Vorstellungen von Demokratieschutz sowohl gegen links als auch rechts gerichtet sind. Damit vollzieht Dehler im Namen der Bundesregierung eine antitotalitäre Abgrenzung. Erfolgsbedingungen hegemonialer Projekte Dehler verknüpft in seiner Rede viele verschiedene Elemente als Bestandteile der Demokratie, was dem entspricht, was in Kapitel 2.2 als Herausbildung einer Äquivalenzkette A bezeichnet wurde. Konträr dazu artikuliert er Elemente, die als Gefahren für die Demokratie gelten, oder mit dem Gesetzesentwurf überwunden werden sollen. Dadurch bildet sich eine Äquivalenzkette M heraus und der Diskursraum wird antagonistisch geteilt. Die zwei Kernstrategeme kommen also in seiner Rede zum Tragen und konnten rekonstruiert werden. Die Chance, dass sich die Vorstellung von Demokratie durchsetzt, erhöht sich, wenn ergänzende Strategeme angewendet werden, die eine Ausweitung der Diskurskoalition ermöglichen. So stellt Dehler in seinem Projekt mehrere Subjektpositionen für politisch-gesellschaftliche Kräfte bereit,81 was den hegemonialen Anspruch ____________________ 81

Ziel dieses Strategems ist es, Subjektpositionen für besonders wirkmächtige Diskursakteur_innen, wie Parteien oder Verbände bereit zu stellen. Artikulieren diese Akteur_innen das Projekt mit, erhöht sich seine Chance auf Durchsetzung (Kapitel 2.2).

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5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

seines Projektes unterstreicht. Die SPD versucht er einzubinden, indem er begrüßt, daß die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei den Entwurf ihres Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie eingebracht hat. Sie können feststellen, daß mein Entwurf diese wertvollen Anregungen weitgehend übernommen hat (Dehler 1950: 3105C).

Damit deutet er an, dass eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen der SPD und der Regierungskoalition vorliegt und er sich »lediglich gegen die Form des Gesetzes gewandt« (Dehler 1950: 3105C) hatte.82 Zwar widerspricht der Redner der SPD in derselben Debatte dieser Aussage,83 doch bereitet Dehler in seiner Rede einen Platz für die SPD, sich dem hegemonialen Projekt anzuschließen. Eine ganz ähnliche Funktion erfüllen die Verweise auf das Ausland. So bezieht er sich an mehreren Stellen auf Gesetze anderer Länder, die als Vorbild dienen: »Ich darf bemerken, daß diese Vorschrift im wesentlichen einem Schweizer Entwurf nachgebildet ist.« (Dehler 1950: 3106B). An anderer Stelle bindet er »das Vorbild des contempt of court in England« (Dehler 1950: 3109C) ein und betont, dass es »auch in Österreich« (Dehler 1950: 3109C) ähnliche Vorschriften wie die geplanten gebe. Die Betonung, dass sich das geplante Gesetz mit Strafvorschriften anderer demokratischer Länder in Einklang befände, sollte die Bedenken der Alliierten gegen das Gesetz zerstreuen (Čopić 1967: 11, FN 29; Schiffers 1989: 80– 89, 150–154). Eigentliche Bedeutung und eigentlicher Verfechter der Demokratie In der rekonstruierten Rede begründet der damalige Justizminister Dehler die von der Regierung vorgesehenen Änderungen des Strafgesetzbuchs. Die Ausführungen skizzieren also die Vorstellungen der Regierung darüber, welche Strömungen als Gefahren für die Demokratie und welche ____________________ 82 83

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Fast wortgleich argumentiert der FDP-Abgeordnete Euler (1950: 3112B) in der selben Plenarsitzung: »Wir haben schon seinerzeit, als die Sozialdemokratie die begrüßenswerte Initiative entwickelte [...]«. Wörtlich meint der SPD-Abgeordnete Arndt (1950: 3117D): »Ich kann auch dem Herrn Bundesjustizminister nicht darin zustimmen, daß der sozialdemokratische Entwurf eines Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie gewissermaßen eine Art von Pate oder Vorfahr dieses eigentümlichen Gesetzes gewesen sei«.

5.2 Die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie – ein hegemoniales Projekt

Elemente als deren Kern gesehen werden. Es wird die eigentliche Bedeutung dessen skizziert, was die Bundesregierung unter Demokratie versteht. Als effektivsten Schutz sieht Dehler eine Verschärfung des Strafrechts und die damit einhergehende Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Unter Strafe sollen demnach nicht nur gewalttätige Handlungen stehen, sondern bereits die Vorbereitung staatsgefährdender Handlungen. Dies erfordere eine Einschränkung der politischen Freiheit der Bürger_innen, da die Weimarer Republik ihren Feind_innen zu viel Freiheit gewährt habe, so Dehler. Mit seinem mehrfachen Verweis auf das Scheitern der Weimarer Republik schreibt er die Verknüpfung von wehrhafter Demokratie als die richte Lehre aus Weimar fort. Im Gegensatz zu Greve durchbricht Dehler nicht die Grenze des Diskursraums, sondern sieht eine erfolgreiche Entgegnung der Gefahren durch eine wehrhafte Demokratie gegeben. Auch Zweifel, dass deren Instrumente missbraucht werden könnten, bspw. durch die Richterschaft, sind seiner Rede nicht zu entnehmen. Der von Dehler skizzierte Demokratieschutz besteht also ausschließlich aus Instrumenten der sogenannten Wehrhaftigkeit nach unten. Ein weiterer erheblicher Unterschied zu Greve wird hinsichtlich der Gefahren für die Demokratie, die Dehler sowohl rechts als auch links verortet, deutlich. Während Greve auf das Weiterleben des Nationalsozialismus innerhalb und außerhalb der Demokratie aufmerksam macht, sieht Dehler lediglich ›Restbestände‹. Entscheidend ist, dass er neben den rechten auch linke Gefahren für die Demokratie benennt. Die ›kommunistische Gefahr‹ erscheint als existenzieller und gegenwärtiger, was durch den Koreakrieg und die Entwicklungen in der DDR begründet wird. Die von Dehler vorgenommene Abgrenzung zu ›früher‹ und nach ›drüben‹, entspricht einer antitotalitären Grenzziehung. Neben der klaren Artikulation einer antitotalitären, wehrhaften Demokratie als eigentliche Bedeutung von Demokratie lassen Dehlers Ausführungen auch Rückschlüsse darauf zu, welcher gesellschaftlich-politischen Kraft die Rolle des eigentlichen Verfechters der Demokratie zugeschrieben wird. Den Teil des Gesetzes zu Staatsgefährdung bezeichnete Dehler als Kern des Vorhabens. In diesem Teil wird auch der Kern der Demokratie konkretisiert. Darüber hinaus stilisiert Dehler den Staat als eine Arche Noah, den es deswegen besonders zu schützen gelte, da er viele andere Elemente, die nahe am Kern der Demokratie artikuliert wurden, erst ermöglichen bzw. bewahren könne. Auch das Fehlen von Forderungen nach einer Wehrhaftigkeit nach oben, also einer Kontrolle der Bevölkerung über die Staatsgewalt jenseits von Wahlen, sind weitere Indizien für den Staat als Kandidaten des eigentlichen Verfechters der Demokratie. 119

5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

Diese obrigkeitsstaatliche Schlagseite, welche nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern den Staat schütze und durch unkonkrete Formulierungen richterlicher Willkür Tür und Tor öffne, kritisiert der Redner der SPD in der ersten Lesung scharf (Arndt 1950). Eine Kritik an der antitotalitären Ausrichtung war aber auch im September 1950 von der SPD nicht zu vernehmen. Der Weg zum Eintritt in die Diskurskoalition des hegemonialen Projekts deutete sich im September 1950 an und wurde im Juli 1951 vollzogen. 5.3

Eintritt der SPD in die Diskurskoalition

Nach der dritten Lesung des 1. StÄG am 11. Juli 1951 stimmte die SPD dem Gesetz zu, das dann am 1. September desselben Jahres in Kraft trat. Zwar konnte die Opposition einige Änderungen im Laufe des Gesetzgebungsprozesses erreichen, in den wichtigen Fragen setzte sich aber die Bundesregierung durch (Schiffers 1989: 167–262; Gutfleisch 2014: 55– 58). Dass die größte Oppositionsfraktion nicht nur dem Gesetz der Regierung zustimmte, sondern sich dieser auch in der politischen Begründung annäherte, zeigt sich in der Rekonstruktion der Rede von Adolf Arndt (SPD)84 anlässlich der dritten Lesung. Im Gegensatz zu den bisher analysierten Reden ist die von Arndt vergleichsweise kurz, da er nur noch auf die bis zuletzt strittigen Aspekte des Gesetzes eingeht. Dies sind vor allem die zentralen Paragrafen des Abschnitts zu Staatsgefährdung (§ 88) und zum Landesverrat (§ 100). Neben kleinen Bedenken drückt er in seiner Rede die Zustimmung zum Gesetz aus und benennt verschiedene Bedrohungen für die Demokratie (Arndt 1951). Aspekte der Wehrhaftigkeit Auf die Notwendigkeit einer wehrhaften Demokratie geht Arndt in seiner Rede nicht explizit ein. Durch die Zustimmung zum Gesetz zeigen aber er und die Fraktion der SPD ihr Einverständnis mit dieser Form der Demo____________________ 84

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Der Jurist legte 1933 sein Richteramt nieder und wurde gegen Ende des Krieges inhaftiert. Er trat der SPD 1946 bei und war von 1949 bis 1957 stellvertretender Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht.

5.3 Eintritt der SPD in die Diskurskoalition

kratie. Eine Relativierung der Wehrhaftigkeit oder eine Verknüpfung des Demokratieschutzes mit sozialpolitischen Forderungen, wie von Greve vorgenommen, sind bei Arndt nicht mehr zu erkennen. Kern der Demokratie Ausführungen darüber, welche Aspekte Arndt als zentrale Bestandteile einer Demokratie sieht, sind der Rede nicht zu entnehmen. Auch hier kann nur auf das verabschiedete Gesetz verwiesen werden, das er in seiner aktuellen Form »begrüßt« und für »erforderlich« erachtet (Arndt 1951: 6479D, 6480A). Konkretisierungen über den Kern der Demokratie sind im Gesetz selbst enthalten (Kapitel 5.4). Ihnen stimmen Arndt und die SPDFraktion zu. Gefahren für die Demokratie Ein klareres Bild ergibt sich hingegen aus Arndts Bestimmungen zu den Gefahren für die Demokratie. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zur Rede seines Parteigenossen Greve. Arndt benennt mehrere Elemente des Mangels, gegen die sich das Gesetz richtet. Das sind das Regime der Konzentrationslager [...], mögen nun diese Konzentrationslager nationalsozialistische oder sowjetkommunistische sein (Arndt 1951: 6479D), [oder] eine Unordnung [...], in der die Unmenschlichkeit zum System und zur Struktur gehört, wie dies beim Nationalsozialismus der Fall war und wie es auch für die Sowjetzone beweisbar ist (Arndt 1951: 6479D).

Jenseits der Demokratie befinden sich in den Vorstellungen Arndts sowohl der Nationalsozialismus als auch die Sowjetunion. Auffallend ist, dass er in seiner Rede stets beide Phänomene benennt. In einem anderen Abschnitt droht er in Richtung Sowjetzone und ergänzt: »In gleicher Weise mögen sich auch die Neufaschisten, insbesondere die SRP, gesagt sein lassen: Sie finden in uns keine Weimaraner!« (Arndt 1951: 6480D). Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass er wortwörtlich den Feinde der Demokratie rechts und links ›in gleicher Weise‹ droht. Damit nimmt er, wie Dehler zuvor, eine antitotalitäre Abgrenzung vor. Daneben weist er darauf hin, »daß es außer der Diktatur, die uns von den Rechtsextremisten und von den Linksextremisten droht, [...] auch noch die Diktatur der Gewinnsucht gibt« (Arndt 1951: 6480C). Hier deuten sich Ähnlichkeiten zur Argumentation von Greve an, der die Notwendigkeit sozialpolitischer 121

5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

Maßnahmen für eine funktionierende Demokratie betont. Allerdings ist die zitierte Passage nicht an eine Forderung geknüpft, sondern lediglich mit dem Nachsatz, »das wollen wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen« (Arndt 1951: 6480C), versehen. Arndt erwähnt zwar die Gefahr der Gewinnsucht, verknüpft sie aber nicht mit den Elementen, die er als Gefahr für die Demokratie vorstellt. Er bindet sie also nicht in die Äquivalenzkette M ein. Eigentliche Bedeutung und eigentlicher Verfechter der Demokratie Begreift man die Rede Arndts stellvertretend für die Position der SPDFraktion, die im Anschluss der Aussprache seinem Votum für eine Zustimmung zum 1. StÄG folgt, zeigen sich hinsichtlich der eigentlichen Bedeutung von Demokratie deutliche Verschiebungen im Vergleich zur Position vom März 1950. Während Greve damals als Gefahr für die Demokratie ausschließlich alte und neue Nazis nannte, folgt Arndt einer antitotalitären Feindbestimmung, indem er den Nationalsozialismus bzw. Faschismus und Kommunismus stets in einem Atemzug nennt. Auch die Benennung von Feinde der Demokratie in demokratischen Institutionen, wie Greve sie vornimmt, unterbleibt bei Arndt. Die antifaschistische Abgrenzung von Greve verschiebt sich zu einer antitotalitären.85 Auch Greves Forderung nach einer sozialistischen Demokratie verblasst. Zwar deutet Arndt an, dass es mit der ›Diktatur der Gewinnsucht‹ eine Gefahr für die Demokratie gäbe, die auf dem wirtschaftspolitischen Feld zu bekämpfen wäre, verzichtet aber auf eine Verknüpfung mit dem Diskurs über die politische Ordnung. Greves Fokus auf sozial- und wirtschaftspolitische Aspekte des Demokratieschutzes taucht in den Ausfüh____________________ 85

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Die antitotalitäre Stoßrichtung der Sozialdemokratie war bereits zuvor präsent, wie in der Debatte um die Volkskammerwahlen in der DDR, die am 14. September 1950 im Bundestag stattfand, deutlich wurde. Auch der sozialdemokratisch dominierte Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vertrat diese Position. Er veröffentlichte im Oktober 1950 die Broschüre Feinde der Gewerkschaften - Feinde der Demokratie (Deutscher Gewerkschaftsbund 1950), die detailliert die Aktivitäten der KPD in den Betrieben zeigte. Das Ziel der Broschüre beschreibt der DGB-Vorsitzenden Böckler (1950: 5) wie folgt: »Die Sammlung von Tatsachen und Dokumenten soll den Agenten Moskaus, die von gewerkschaftlicher Solidarität und Demokratie reden, in Wahrheit aber die Zerschlagung der Gewerkschaften und den Totalitarismus meinen, die Maske vom Gesicht reißen.«

5.4 Verfassungsgrundsätze im ersten Strafrechtsänderungsgesetz

rungen von Arndt nicht mehr auf. Die Grenzen des Diskurses werden nicht infrage gestellt. Stattdessen tritt die SPD mit Zustimmung zum 1. StÄG in die Diskurskoalition des hegemonialen Projekts der antitotalitären, wehrhaften Demokratie ein und macht sich deren eigentliche Bedeutung von Demokratie zu eigen. 5.4

Verfassungsgrundsätze im ersten Strafrechtsänderungsgesetz

Das 1. StÄG86 trat am 1. September 1951 in Kraft. Dieses in acht Artikel gegliederte Gesetzespaket enthält unter anderem Änderungen der Strafprozessordnung, Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und weitere Änderungen des Strafgesetzbuches. Kernstück sind die neuen Strafvorschriften zu Hochverrat, Staatsgefährdung und Landesverrat,87 welchen in der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Rezeption die größte Aufmerksamkeit zufiel. Diese Abschnitte sind auch für die zentralen Fragen der vorliegenden Analyse bedeutend, da sie Instrumente der wehrhaften Demokratie ebenso beinhalten, wie Konkretisierungen über den Kern der Demokratie. Ausführungen zu den Gefahren für die Demokratie enthält das Gesetz hingegen nicht. Aspekte der Wehrhaftigkeit Mit Blick auf das 1. StÄG schreibt Alexander von Brünneck (1978: 74): »Die gesamte Struktur des neuen politischen Strafrechts war darauf angelegt, den strafrechtlichen Schutz des Staates möglichst weit vorzuverlegen.« (siehe auch Čopić 1967: 10). Diese Vorverlegung geht aus mehreren Paragrafen hervor. So wird bspw. durch § 81, 1. StÄG die Vorbereitung eines »bestimmten hochverräterischen Unternehmens« mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft. Auch der Besitz von Medien, die eine solche Vorbereitung beinhalten, bringt laut § 84, 1. StÄG strafrechtliche Konsequenzen mit sich. Im Abschnitt zu Staatsgefährdung werden die Strafen ____________________ 86 87

Der Wortlaut des Gesetzes ist in voller Länge abgedruckt bei Schiffers (1989: 347–361). Während sich die Vorschriften zu Landes- und Hochverrat an den Vorläufern der Weimarer Reichsverfassung orientierten, ging der Abschnitt zu Staatsgefährdung weit über die Schutzbestimmungen Weimars hinaus (Rigoll 2013: 106; Gutfleisch 2014: 33–48).

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5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

für »Bestrebungen gegen den Bestand der Bundesrepublik Deutschland oder gegen einen der in § 88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze« geregelt. Dies betrifft nicht nur gewalttätiges Vorgehen, sondern auch Vorbereitung und Versuch den Bestand der BRD oder die Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu setzen, bspw. durch die Verbreitung von Schriften mit entsprechendem Inhalt, wie den § 89 bis 97, 1. StÄG zu entnehmen ist. Während Vorschriften zu Hochverrat und Landesverrat in ähnlicher Form auch in anderen westlichen Demokratien festgeschrieben sind und schon im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 existierten, bedeutet der Abschnitt zu Staatsgefährdung eine weitergehende Vorverlagerung des Demokratieschutzes, da nicht nur Bestand und Wohl der BRD Schutzgut sind, sondern auch die in § 88, 1. StÄG festgeschriebenen Verfassungsgrundsätze (Schwagerl 1985: 31–32). Damit können schon Handlungen bzw. das Vertreten bestimmter Positionen, die einem Aspekt dieser Grundsätze entgegenstehen, strafrechtlich belangt werden. Die festgelegten Verfassungsgrundsätze sind dabei Ergebnis politischer Aushandlungen im Bundestag und den zuständigen Ausschüssen (Schulz 2017: 148–185). Sie geben Auskunft darüber, was von den Parteien, die diesem Gesetz zustimmten, als unabdingbarer Bestandsteil bzw. Kern der Demokratie angesehen wurde. Kern der Demokratie In den Verfassungsgrundsätzen sind also die Aspekte der Demokratie zusammengefasst, die einen so hohen Stellenwert besitzen, dass bereits eine Agitation gegen sie strafrechtlich belangt wird. In § 88, Abs. 2, 1. StÄG sind diese sechs Verfassungsgrundsätze festgehalten: 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, 3. das Recht auf die verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, 4. die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung, 5. die Unabhängigkeit der Gerichte, 6. der Ausschluß jeder Gewalt- und Willkürherrschaft.

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5.4 Verfassungsgrundsätze im ersten Strafrechtsänderungsgesetz

Die in den Abschnitten eins bis fünf genannten Grundsätze sind jene Elemente, die der Gesetzgeber als zentrale Bestandteile der Demokratie festgelegt hat. Bundesregierung und weite Teile der Opposition einigten sich darauf. Die Negativformulierung des sechsten Grundsatzes verweist auf die Elemente, die jenseits der Grenze verortet werden, bleibt aber relativ unspezifisch. Im Kontext des Gesetzgebungsprozesses ist ›Ausschluß jeder Gewalt- und Willkürherrschaft‹ als Abgrenzung gegen den Nationalsozialismus und Stalinismus inhaltlich gefüllt (Schiffers 1989: 117; Schulz 2017: 168–175). Die Funktion dieser unspezifischen Negativbestimmung liegt, so Čopić (1967: 199), darin, dass diese »generalklauselförmige Wendung« es erlaubte sich »nicht festzulegen [...] aber die Zugriffsmöglichkeiten zur Disziplinierung herrschaftsschädlichen Fehlverhaltens offenzuhalten«. Im Entwurf des Rechtsausschusses vom Mai 1951 wurden die sechs Grundsätze noch mit freiheitlicher demokratischer Grundordnung überschrieben (Schiffers 1989: 179–180). Damit wäre der Bezug zu dem im Grundgesetz verwendeten Namen für den Kern der Demokratie hergestellt gewesen. Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsprozesses wurde von dieser Bezeichnung allerdings Abstand genommen, da eine Festlegung der fdGO dem Bundesverfassungsgericht vorenthalten war und der Gesetzgeber durch eine eventuell differierende Definition Rechtsunsicherheit fürchtete (Schiffers 1989: 181–182; Schulz 2017: 158–165). Eigentliche Bedeutung und eigentlicher Verfechter der Demokratie Durch das 1. StÄG wurden Aspekte der eigentlichen Bedeutung der Demokratie festgeschrieben. Zentral sind dabei die in § 88, Abs. 2, 1. StÄG festgelegten Verfassungsgrundsätze. Diese Grundsätze wurden vom Gesetzesgeber als Kern der Demokratie ausgemacht. Kritiker_innen wandten ein, dass diese Grundsätze in erster Linie Institutionen und formale Abläufe zum Kern rechnen, während individuelle politische oder soziale Grundrechte nicht aufgeführt sind (Čopić 1967: 195–199; Ernst 1973: 14; Preuß 1973: 28; Schulz 2017: 194–202). Damit korrespondiert, dass die Grundsätze im Abschnitt zu Staatsgefährdung angesiedelt sind. Der Staat und seine Institutionen werden somit zum maßgeblichen Schutzgut der politischen Ordnung. Dies wiederum festigt die Stellung des Staates als eigentlichen Verfechter, also als die gesellschaftlich-politische Kraft, die als Garant dafür gilt, Demokratie zu erhalten und zu erfüllen.

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5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des 1. StÄG war unklar, wie sich das Verhältnis der im Strafrecht festgelegten Verfassungsgrundsätze zu der verfassungsrechtlichen Bestimmung des Kerns der Demokratie verhalten wird. Diese Unklarheit löste das BVerfG bereits ein gutes Jahr später auf. Im Verfahren gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) vollzog das Gericht seinen grundgesetzlichen Auftrag und legte die verfassungsrechtliche Grenze fest, deren Überschreitung das Verbot einer Partei rechtfertigt. 5.5

Eintritt des Bundesverfassungsgerichts in die Diskurskoalition

Am 23. Oktober 1952 sprach der Erste Senat des BVerfG das erste Verbotsurteil gegen eine Partei in der BRD aus. Dieses Urteil war in dem Sinne wegweisend, als dass die fdGO höchstrichterlich definiert wurde und in dieser Form die »streitbare Demokratie der Bundesrepublik [...] langfristig geprägt« hat (Flümann 2015b: 177). Die Definition hat bis heute Gültigkeit, erhielt Einzug in zahlreiche Gesetze und ist Grundlage wissenschaftlicher Arbeiten und behördlichen Handelns (Kapitel 7 und 8). Im Gegensatz zu den bisherigen Akteur_innen, deren Texte ich analysiert habe, gilt das Bundesverfassungsgericht als neutral und überparteilich. Die zwölf zuständigen Richter_innen88 des Ersten Senats wurden von Bundestag und Bundesrat gewählt und entstammten verschiedener Parteien. Jedoch »ist gerade Verfassungsrecht politisches Recht und die Institution, die es auslegt, ebenso eine politische« (Schulz 2011: 2; siehe ausführlich Ooyen 2005).89 Dennoch ist die Urteilsbegründung kein primär politischer Text, da keine Forderungen aufgestellt wurden und das Gericht lediglich eine bereits getroffene Entscheidung begründet hat. Das Urteil ist für die politische Ordnung der BRD jedoch bis heute zentraler Bezugspunkt, weswegen ich Auszüge aus der Begründung analysiere. Die Urteilsbegründung gliedert sich in acht Teile. In den ersten deskriptiv gehaltenen Teilen wird die Geschichte der SRP beschrieben, die Ein____________________ 88

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Ab 1956 wurden die Anzahl der Verfassungsrichter_innen je Senat gesenkt und erreichte 1963 die bis heute geltende Stärke von acht. Durch die Berufung von Zweigert zum Präsidenten am Oberverwaltungsgericht Berlin 1952 waren an der Urteilsfindung nur elf Richter_innen beteiligt. Schulz (2011) betont, dass das Urteil und damit die Definition der fdGO nicht von seinem historischen Kontext und der politischen Biografie der Richter_innen abgekoppelt werden kann.

5.5 Eintritt des Bundesverfassungsgerichts in die Diskurskoalition

lassungen der Partei und der Bundesregierung an das Gericht wiedergegeben und der Verlauf der mündlichen Verhandlung dargelegt. Daran anschließend weist das Gericht den Vorwurf der SRP zurück, nicht ordnungsgemäß besetzt zu sein, erläutert die Stellung der Parteienverbote im bundesdeutschen Grundgesetz und gibt die Geschichte der Rechtsparteien in der Weimarer Republik wieder. Der vorletzte Teil des Urteils ist zugleich sein Kern und umfasst einen indizienreichen Nachweis des Gerichts hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit der SRP. Diese wird mit der personellen Zusammensetzung der Partei, ihres Programms, ihres inneren Aufbaus und dem Verhalten der Mitglieder begründet. Abschließend erläutert das Gericht die Folgen des Urteils im Hinblick auf das Parteivermögen und die Mandate. Ich verzichte auf eine Gesamtanalyse des umfangreichen Urteils und konzentriere mich auf die Textstellen, in denen das Gericht dem hegemonialen Projekt der antitotalitären, wehrhaften Demokratie entscheidende Stabilisierung verleiht. Kern der Demokratie Die folgende, zentrale Passage ist dem Abschnitt über die Stellung der Parteienverbote im Grundgesetz entnommen: Den Grundgedanken, auf denen diese Regelung [Art. 21 GG, M. F.] beruht, sind zugleich wichtige Hinweise für die Auslegung des Art. 21 GG im einzelnen zu entnehmen.90 Dies gilt vor allem für die nähere Bestimmung des Begriffs der ›freiheitlichen demokratischen Grundordnung‹. Die besondere Bedeutung der Parteien im demokratischen Staat rechtfertigt ihre Ausschaltung aus dem politischen Leben nicht schon dann, wenn sie einzelne Vorschriften, ja selbst ganze Institutionen der Verfassung mit legalen Mitteln bekämpfen, sondern erst dann, wenn sie oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates erschüt-

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Zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen sei hier noch einmal der Inhalt des Art. 21 GG genannt: »(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. (2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht. (3) Das Nähere regeln Bundesgesetze.«

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5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase tern wollen. Diese Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung der ›verfassungsmäßigen Ordnung‹ als fundamental ansieht. Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt. [...]. So läßt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. (BverfG 1952: 7–8)

Ziel und Aufgabe des BVerfG ist eine Interpretation des Art. 21 GG. Dies erfordert eine nähere Bestimmung der fdGO, um sie als Maßstab des Verbotsverfahrens anwendbar zu machen. Die konkretere Beschreibung ihrer Inhalte findet sich im letzten Abschnitt der zitierten Passage. Hier benennen die Richter_innen mit Rechtsstaat, Menschenrechten, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip und Recht auf Opposition mehrere Elemente, die nach ihrem Verständnis den Kern der Demokratie ausmachen. Mit Ausnahme der Menschenrechte91 sind diese Elemente nahezu deckungsgleich mit den Verfassungsgrundsätzen aus § 88, Abs. 2, 1. StÄG.92 Der letzte Verfassungsgrundsatz aus die____________________ 91 92

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Rigoll (2013: 116) führt, in Anlehnung an Abendroth (1975: 168), die Aufnahme der Menschenrechte darauf zurück, dass die meisten Verfassungsrichter_innen im Dritten Reich Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Mehrere Analyst_innen argumentieren, das BVerfG hätte sich direkt aus dem politischen Strafrecht bedient (Ridder 1966: 28; Lameyer 1978: 38; Schulz 2017: 188–189, 198–200). Andere wiederum führen aus, das BVerfG habe die Elemente der fdGO aus Art. 79, Abs. 3 GG abgeleitet (Rigoll 2013: 48; Flümann 2015b: 151). Da die Ähnlichkeit mit den Verfassungsgrundsätzen aus § 88, Abs. 2, 1. StÄG jedoch sehr deutlich ist und im Urteil kein Bezug zur Ewigkeitsklausel erkennbar ist, schließe ich mich der ersten Lesart an.

5.5 Eintritt des Bundesverfassungsgerichts in die Diskurskoalition

sem Gesetz, Gewalt- und Willkürherrschaft, ist der Aufzählung aller Grundsätze der fdGO als Generalklausel vorangestellt. In der Begründung wird die fdGO noch mit weiteren Elementen verknüpft. Sie leitet sich aus den Werten von Freiheit und Gleichheit sowie dem Wert des Menschen ab. Eine metaphysische Bedeutung kommt der fdGO durch den Bezug auf die Schöpfungsgeschichte zu, was an den Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes anknüpft. Die fdGO vereint die acht genannten grundlegenden Prinzipien. Diese wiederum basieren auf den Werten von Gleichheit, Freiheit und dem aus der Schöpfungsgeschichte hergeleiteten Wert des Menschen. Eigentliche Bedeutung und eigentlicher Verfechter der Demokratie Mit dem SRP-Urteil wurde der durch das Grundgesetz benannte Kern der Demokratie, die fdGO, erstmals und höchstrichterlich definiert. Die vorgenommene Definition zeigt die Schwelle an, ab der politische Haltungen als antidemokratisch gelten. Agitiert eine Partei gegen die in der fdGO festgelegten Grundsätze, kann sie als verfassungswidrig eingestuft und verboten werden. Die Elemente der fdGO als ›oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates‹ füllen den Kern der Demokratie. Sie sind weitgehend identisch mit dem Kern des hegemonialen Projekts der antitotalitären, wehrhaften Demokratie, der sich in den Verfassungsgrundsätzen § 88, Abs. 2, 1. StÄG sedimentierte. Das BVerfG tritt somit in die Diskurskoalition des Projekts ein, was sich auch hinsichtlich den Ausführungen zu den Gefahren der Demokratie zeigt. Diese sind zwar weitgehend spezifisch auf die SRP ausgerichtet, dennoch zeigt sich in der zitierten Passage, eine antitotalitäre Abgrenzung, sobald allgemein argumentiert wird. Die fdGO wird als ›Gegenteil des totalen Staates‹ vorgestellt, die ›jegliche Gewalt- und Willkürherrschaft‹ ausschließt. Der antitotalitäre Charakter des Urteils findet Bestätigung in seiner Vorgeschichte, in der das SRP-Verbot an einen Antrag für das Verbot der KPD geknüpft wurde (Kapitel 3.1.1). Aber auch die Positivbestimmung der fdGO fügt sich in eine antitotalitäre Gefahrenbeschreibung ein, da einige Elemente des § 88, Abs. 2, 1. StÄG eine deutliche Ausrichtung gegen die DDR bzw. den Kommunismus aufweisen (Čopić 1967: 195–199; Schulz 2017: 195–198). Die eigentliche Bedeutung von Demokratie, wie sie vom BVerfG vertreten wird, ist ebenfalls eine antitotalitäre, wehrhafte. Die Rolle des BVerfG, über die Verfassungswidrigkeit von Parteien zu entscheiden, bringt es als Kandidat des eigentlichen Verfechters der De129

5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

mokratie ins Spiel. Das Gericht soll festlegen, welche Partei oder Person aus dem politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen werden. Mit dem SRP-Urteil wird das Gericht dieser Aufgabe gerecht. Dennoch sind bezüglich der Rolle des BVerfG als eigentlicher Verfechter der Demokratie Einschränkungen vorzunehmen. Die Definition der Grenze, ab wann ein solcher Ausschluss erfolgt, korrespondiert mit jener, die bereits im politischen Strafrecht durch den Gesetzgeber gezogen wurde. Zudem kann das Gericht ein Verbot nicht von sich aus anstrengen, sondern wird gemäß § 43, Abs. 1 BVerfGG nur auf Antrag des Bundestags, des Bundesrats und der Bundesregierung aktiv. 5.6

Einordnung

Durch die Vorgaben der Alliierten und die Diskreditierung des Nationalsozialismus war gesetzt, dass sich die deutsche Gesellschaft in demokratischer Art und Weise organisieren wird. Es gab keine Möglichkeit sich gegen die Demokratie zu positionieren und gleichzeitig an der Konzeption der neuen politischen Ordnung mitzuwirken. Somit rangen die verschiedenen politischen Strömungen um die Frage, wie diese Demokratie ausgestaltet wird, also um die eigentliche Bedeutung und den eigentlichen Verfechter von Demokratie. Bereits mit dem Grundgesetz ist die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie gefallen. Diese Entscheidung wurde in den Jahren 1950 bis 1952 reartikuliert und weiter fortgeschrieben. Das 1. StÄG bedeutet die Wiedereinführung des politischen Strafrechts und enthält mehrere Instrumente, um gegen die Feinde der Demokratie vorzugehen. Es stellt eine weitere Vorverlagerung des Demokratieschutzes dar. Der Antrag der Bundesregierung, die Verfassungswidrigkeit der SRP zu prüfen, und das folgende Urteil des BVerfG stabilisieren die Wehrhaftigkeit der Demokratie in dem Sinne, dass die im Grundgesetz festgelegten Instrumente angewendet und eine Entscheidung diesbezüglich herbeigeführt wurde. Die Ausrichtung der Wehrhaftigkeit nach unten, schreibt sich auch im Kern der Demokratie, der sich bis 1952 herausbildete fest, da weniger politische und soziale Grundrechte der Bevölkerung, sondern Institutionen und Pfeiler des Staates als elementare Bestandteile von Demokratie artikuliert werden. Die Begründungen zum Ausbau der Wehrhaftigkeit schließen sich an die Ausführungen aus Kapitel 4 an. Denn sowohl Dehler als auch Arndt präsentieren das 1. StÄG als vermeintlich richtige Lehre aus Weimar. Schulz (2017: 191–194) arbeitet heraus, dass dem Urteil des BVerfG 130

5.6 Einordnung

eine Deutung über das Scheitern der Weimarer Republik zugrunde liegt, die der liberalen und konservativen Interpretation entspricht (Kapitel 4.1). Weitere Begründungen für den Ausbau der wehrhaften Demokratie entspringen einer antitotalitären Deutung des zeitgenössischen politischen Kontexts. 5.6.1 Zweites Sediment: Antitotalitärer Konsens Der Kalte Krieg, der sich seit 1947 anbahnte, spitzte sich durch die Berlinblockade 1948/49 und den Koreakrieg 1950 immer weiter zu. Begleiterscheinung war ein ausgeprägter Antikommunismus, der sich aus realen oder wahrgenommen Bedrohungen sowie Elementen einer tradierten Ideologie des Antikommunismus speiste (Kapitel 3.1.1). So entwickelten sich der Kommunismus und seine Anhänger_innen immer mehr zur Abgrenzungsfolie, die bislang in erster Linie der Nationalsozialismus war. Von immer mehr zentralen gesellschaftspolitischen Akteur_innen wurde eine Abgrenzung zu ›früher‹ und ›drüben‹ artikuliert, die nahezu konsensualen Charakter annahm. In diesem Kontext des antitotalitären Konsenses fielen die Entscheidungen zur weiteren Ausgestaltung der politischen Ordnung. Der Ausbau und die Anwendung der zentralen Instrumente der wehrhaften Demokratie verwoben sich in den Jahren 1950 bis 1952 mit einer antitotalitären Ausrichtung. Diese antitotalitäre Ausrichtung wirkte sich auch auf die Bestimmung des Kerns der Demokratie aus. Denn sowohl die Verfassungsgrundsätze in § 88, Abs. 2, 1. StÄG als auch die daran anknüpfende Bestimmung der fdGO im SRP-Urteil sind als Abgrenzung zum Totalitarismus, der zeitgenössisch in erster Linie im Kommunismus gesehen wurde, konzipiert. Der antitotalitäre Konsens schrieb sich also in den politische Ordnung ein. 5.6.2 Hegemonietheoretische Einordnung Wie in Kapitel 2.3 ausgeführt operieren hegemoniale Auseinandersetzungen zweiter Ebene ähnlich wie jene erster Ebene. So bilden sich auch im Ringen um die eigentliche Bedeutung von Demokratie hegemoniale Projekte aus, die nach Deutungsvorherrschaft streben. Dabei gelang es dem Projekt der antitotalitären, wehrhaften Demokratie viele differente Forderungen zu einer Äquivalenzkette A zu verknüpfen, wie sich vor allem in der Rede von Dehler, aber auch den Elementen der fdGO bzw. der Verfas131

5. Antitotalitarismus wird hegemonial – erste Analysephase

sungsgrundsätze von § 88, Abs. 2, 1. StÄG zeigt. Damit einher ging in den rekonstruierten Texten – mit Ausnahme des Gesetzestextes und eingeschränkt im SRP-Urteil – eine antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums. Diese Teilung gelang durch die Benennung von Gefahren für die Demokratie, die konträr zum Kern der Demokratie artikuliert wurden. Am prägnantesten zeigt sich dies in der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts: Die fdGO »ist das Gegenteil des totalen Staates« (BverfG 1952: 7). Die Ausbildung dieser beiden Äquivalenzketten ist in Abbildung 5 dargestellt. Dabei sind aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht alle Elemente der beiden Ketten und auch nicht alle Verknüpfungen eingezeichnet. Der Diskursraum ist entlang der antagonistischen Grenze geteilt. Innerhalb der Äquivalenzketten stehen die Elemente in einer Äquivalenzbeziehung zueinander, während über die antagonistische Grenze hinweg Relationen der Kontrarität bestehen.

Abbildung 5: Ausschnitt der Strukturierung des Diskurses um die politische Ordnung der BRD 1952, eigene Darstellung Zum Durchbruch verhalf dem hegemonialen Projekt die Erweiterung der Diskurskoalition. Vorbereitet wurde dies bspw. durch die Artikulation des ergänzenden Strategems Einrichtung/Fortschreibung von Subjektpositionen für politisch-gesellschaftliche Kräfte durch Dehler. Konkurrierende Vorstellungen zur Ausgestaltung der politischen Ordnung, wie bspw. die 132

5.6 Einordnung

antifaschistische, sozialistische Demokratie, konnten keine wichtigen (Gruppen-)Subjekte für sich gewinnen. Entscheidende Erweiterungen erfuhr die Diskurskoalition durch Eintritt der SPD als größter Oppositionspartei und des obersten Gerichts. Diese breite und stabile Koalition verhalf dem Projekt der antitotalitären, wehrhaften Demokratie zu einer hegemonialen Position im Diskurs der politischen Ordnung der BRD. Der Übergang von einem hegemonialen Projekt zu einer Hegemonie ist fließend. Ich sehe ihn durch die skizzierte Erweiterung der Diskurskoalition vollzogen. Die dadurch geprägte, eigentliche Bedeutung von Demokratie, gewann in den Folgejahren weiter an Bedeutung (Kapitel 6). Weniger eindeutig als die eigentliche Bedeutung von Demokratie, ist aus der Rekonstruktion herauszulesen, wer als eigentlicher Verfechter der Demokratie präsentiert wird. Es geht hierbei um die Frage, welcher gesellschaftlich-politischen Kraft zugetraut wird, Demokratie durchzusetzen und zu erhalten. Als zu schützen wird in erster Linie der Staat vorgestellt, was aus den Elementen des Schutzgutes, der fdGO, und ihrer ursprünglichen Verortung im Abschnitt zu Staatsgefährdung des 1. StÄG hervorgeht. Sebastian Cobler argumentiert, dass unabhängig vom konkreten Inhalt der fdGO, allein die in Art. 18 GG und Art. 21, Abs. 2 GG vorgenommene Konstruktion, eine Privilegierung des Staatsinteresses gegenüber individuellen Grundrechten impliziert. Der Staat gewährt Grundrechte und kann diese wieder entziehen (Cobler 2012; siehe auch Maus 1976: 13; Lautner 1978: 20; Schulz 2017: 194–202). Deutlich wird durch diese Instrumente der Wehrhaftigkeit nach unten, dass die Bevölkerung nicht als eigentlicher Verfechter der Demokratie vorgesehen ist. Die zentrale Aufgabe, die Grenze der Demokratie zu definieren, kam hingegen dem BVerfG zu. Um die Hinweise, wer als eigentlicher Verfechter der Demokratie gilt weiter zu verdichten, wird in den Folgejahren ein Blick auf die Frage gerichtet werden, wem die Auslegung der fdGO und die Durchsetzung der angedrohten Konsequenzen bei Überschreitung dieser Grenze zugeschrieben wird.

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

Im Diskurs um die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) gab es von 1952 bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre keine grundlegenden Verschiebungen. Die Hegemonie der antitotalitären, wehrhaften Demokratie, wie ich sie in Kapitel 5 rekonstruiert habe, konnte sich in diesem Zeitraum weiter stabilisieren und ihre Vorherrschaft aufrechterhalten. Eine Stabilisierung kann durch die Ausweitung auf weitere gesellschaftliche Bereiche und die Erweiterung der Diskurskoalition nachgezeichnet werden. Dies zeige ich aufgrund der Länge des Zeitraums nicht anhand von Detailanalysen. Ich möchte mich auf eine Betrachtung jener Einrichtungen beschränken, die Hans-Gerd Jaschke (1991: 112) »Institutionen politischer Kontrolle« nannte. Deren Aufgabe ist die Umsetzung bestimmter Orientierungssysteme »in politische und gesellschaftliche Praxis« (Jaschke 1991: 112). Als solche Institutionen nennt er die politische Justiz, den administrativen Verfassungsschutz und die staatliche politische Bildung.93 Ich möchte zeigen, dass das von allen drei Institutionen umgesetzte Orientierungssystem – angepasst in den jeweiligen Wirkungsbereich – der antitotalitären, wehrhaften Demokratie entspricht (6.1). Im zweiten Teil des Kapitels diskutiere ich verschiedene wissenschaftliche Ansätze die den Totalitarismusbegriff prägten und lege dar, inwieweit sie zu einer weiteren Stabilisierung der antitotalitären, wehrhaften Demokratie führten (6.2).

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Als eine vierte Institution nennt Jaschke die Parteien. Deren Positionen fließen in den Analysephasen hinreichend in die Arbeit ein, sodass ich hier auf eine gesonderte Darstellung verzichte. Zusammengefasst sind die verschiedenen Positionen der Parteien zur wehrhaften Demokratie bei Jaschke (1991: 179– 209).

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

6.1

Institutionen politischer Kontrolle

6.1.1 Politische Justiz94 Der Begriff politische Justiz ist umstritten, da er aus Sicht normativer Rechtswissenschaftler_innen eine Fehlentwicklung des Rechtssystems beschreibt. Recht sei überparteilich und von der Sphäre der Politik zu scheiden (Kalinowsky 1993: 14–18; Görlitz 1996: 9–10; Ooyen 2011: 201– 205). Ich möchte hingegen argumentieren, dass eine wehrhafte Demokratie, mit vorverlagertem Demokratieschutz, notwendigerweise einer politischen Justiz bedarf. Denn das Ziel wehrhafter Demokratie ist es, bestimmte politische Positionen mit rechtlichen Mitteln zu bekämpfen und auszuschließen, bevor es zur Anwendung von Gewalt kommt. Die Kriterien des Ausschlusses, also die Bestimmung der Grenze der Demokratie, basieren auf politischen Entscheidungen, die rechtlich abgesichert werden (Kapitel 5). Mit der gesetzlichen Festschreibung dieser Vorverlagerung des Demokratieschutzes geht auch ein Interpretationsspielraum für Gerichte einher, eigene politische Wertungen vorzunehmen. Richter_innen müssen im politischen Strafrecht politische Einschätzungen vornehmen (Lehmann 1966: 38–39; Brünneck 1978: 214–270; mit zahlreichen Beispielen Posser 2000).95 Wegweisende Arbeiten zu politischer Justiz hat der Staatsrechtler Otto Kirchheimer vorgelegt. In seinem »Klassiker« (Ooyen 2011: 200) Politische Justiz: Verfahren juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen ____________________ 94

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Die Literatur zu politischer Justiz in der BRD der1950er und 1960er Jahren ist großteils bis Mitte der 1990er Jahre erschienen. Aktuelle Literatur zu politischer Justiz setzt sich meist mit dem Nationalsozialismus oder der DDR auseinander. Čopić (1967: 199) beschreibt treffend die Interpretationsoffenheit des Verfassungsgrundsatzes zum Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft: »Als leere Formel vermittelt § 88 II Nr. 6 i. V. m. §§ 89 ff. weder dem Bürger eine klare Verhaltensanweisung noch dem Richter eine klare Entscheidungsdirektive. Mit dem politischen Schmähwort ›Gewalt- und Willkürherrschaft‹ läßt sich prinzipiell jede Staatsorganisation etikettieren. Jeder Staat ist als hoheitlicher Verband, der mit dem Monopol der Gewaltanwendung ausgestattet ist, eine Gewaltherrschaft, und jede unterlegene soziale Gruppe, die ihre Interessen im politischen Prozeß nicht durchzusetzen vermag, wird die Entscheidungen von Parlamentsmehrheit und Regierung stets der baren Willkür zeihen. [...] Es reicht also zur Bestrafung ein tatbestandsmäßiges Verhalten aus, das als Eintreten für eine ›Gewalt- und Willkürherrschaft‹ deutbar ist.«

6.1 Institutionen politischer Kontrolle

Zwecken (Kirchheimer 1965), der erstmals 1961 in englischer Sprache erschien, spricht er von politischer Justiz, wenn Gerichte für politische Zwecke in Anspruch genommen werden, so daß das Feld politischen Handelns ausgeweitet und abgesichert werden kann. Die Funktionsweise der politischen Justiz besteht darin, daß das politische Handeln von Gruppen und Individuen der gerichtlichen Überprüfung unterzogen wird. Eine solche gerichtliche Kontrolle des Handels strebt an, wer seine eigene Position festigen und die seiner politischen Gegner schwächen will. (Kirchheimer 1965: 606).96

Harry Kalinowsky (1993: 25) und Jaschke (1991: 144–145) merken ergänzend an, dass Gesetze bereits vor ihrer Anwendung wirken und dem Komplex der politischen Justiz hinzugefügt werden müssen. Dies aufgreifend fokussieren die folgenden Ausführungen sowohl auf die Anwendung der Instrumente der wehrhaften Demokratie als auch auf ihre weitere gesetzliche Festschreibung. Der Grundstein politischer Justiz ist mit den Artikeln 9, 18 und 21 GG, dem ersten Strafrechtsänderungsgesetz (1. StÄG) von 1951 und dem Bundesbeamtengesetz (BBG)97 von 1953 gelegt. Das 1. StÄG enthält verschiedene Möglichkeiten gegen die Feinde der Demokratie präventiv vorzugehen (vgl. Kapitel 5.4). Auf dieser Grundlage wurden bis 1968 gegen etwa 150.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, wobei der überwiegende Teil der Betroffenen Kommunist_innen, Liberale und andere links-oppositionelle Personen waren (Gössner 1994: 13; ausführlich Brünneck 1978; Posser 2000; Gutfleisch 2014: 73–126, 217–270).98 Nach dem Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) am 17. August 195699 konnten einfache Mitglieder wegen ihrer Betätigung in der Partei nach dem 1. September 1951, dem Tag des Inkrafttretens des ____________________ 96 97

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Eine Übersicht zu weiteren Definitionen gibt Görlitz (1996). Dieses Gesetz ist die Grundlage für den Radikalenerlass von 1972. Der Komplex ›Verfassungsfeinde als Beamte‹ rückt erst infolge dieses Erlasses in die öffentliche Diskussion (Jesse 1980: 57–61; Rudolf 2003: 210–211, 217–219). Ich gehe darauf in Kapitel 7 ausführlich ein. Genaue Zahlen zu Angeklagten und Verurteilten veröffentlichte das Bundesjustizministerium nie. Nur für das Jahr 1963 gab man gegenüber dem Magazin panorama Zahlen von 10.000 Verfahren an, von denen lediglich 177 gegen Rechtsradikale eingeleitet wurden (panorama 1964). Von Repression war die KPD schon früher betroffen. Der Bundesgerichtshof erklärte im November 1952 das Parteiprogramm der KPD für hochverräterisch, was verschiedene Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden ermöglichte (Schiffers 1989: 306–307; Posser 2000: 93–94, 144–146).

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

1. StÄG, rückwirkend verurteilt werden, auch wenn ihnen kein nach damaligen Maßstäben rechtswidriges Verhalten nachgewiesen wurde (Gössner 1994: 108–109; Posser 2000: 153–158). Neben Haft- oder Bewährungsstrafen war es möglich, den Verurteilten das aktive und passive Wahlrecht, den Reisepass, den Führerschein oder das Anrecht auf Entschädigung als Opfer des Nationalsozialismus zu entziehen (Brünneck 1978: 271–309; Posser 2000: 183–197).100 Obwohl die 1950er und 1960er Jahre von einer antikommunistischen Stimmung geprägt waren, wie der Generalbundesanwalt und CDU-Politiker Max Güde (1978: 22–27) einräumte, richtete sich die politische Justiz auch gegen rechts (Jaschke 1991: 146–158; Gutfleisch 2014: 127–143). Nach der antisemitisch motivierten Hakenkreuz-Schmierwelle 1959/60 beschloss der Bundestag im Zuge des sechsten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 30. Juni 1960 eine Reform des § 130 StGB, der Volksverhetzung unter Strafe stellt und gegen rechtsmotivierte Täter_innen angewendet wurde (Kalinowsky 1993: 199–204).101 Neben den Verbotsverfahren gegen die SRP und die KPD stellte die Bundesregierung am 1. September 1953, fünf Tage vor der Bundestagswahl, einen Verbotsantrag gegen die rechtsgerichtete Deutsche Reichspartei (DRP) (Bundeskabinett 1953; Dudek und Jaschke 1984: 243–244). Der Antrag wurde aber nicht weiter verfolgt, was vor allem mit dem schlechten Abschneiden der DRP bei den Wahlen 1953 begründet wurde (Bundeskabinett 1954).102 Bemerkenswert am Verbotsurteil gegen die KPD ist unter anderem die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, der Grundgesetzgeber habe eine Entscheidung für die streitbare Demokratie getroffen, die die Neutralität des Staates gegenüber den politischen Parteien aufgibt (Schulz 2017: 202–207). Ein Antrag auf Verwirkung der Grundrechte nach Art. 18 GG wurde in den 1950er und 1960er Jahren nur zweimal gestellt. Sowohl der Antrag der Bundesregierung gegen den zweiten Vorsitzenden der SRP, Otto Ernst ____________________ 100

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In § 6, 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) von 1953 heißt es: »Von der Entschädigung ausgeschlossen ist, [...] wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hat.« (siehe auch Brünneck 1978: 296–298). Weitere Bestimmungen, die sich nur gegen rechts richten, sind in § 86 und § 86a StGB sowie § 131 StGB festgehalten (Jaschke 1991: 153–154; Kalinowsky 1993: 373–382). Nach der Hakenkreuz-Schmierwelle wurde 1960 der Landesverband Rheinland-Pfalz, der den Einzug in den Landtag schaffte, als Nachfolgeorganisation der SRP verboten (Botsch u. a. 2013: 280).

6.1 Institutionen politischer Kontrolle

Remer, im April 1952 sowie der Antrag gegen den Verleger und späteren Gründer der Deutschen Volksunion (DVU), Gerhard Frey, im März 1969 blieben erfolglos (Gerlach 2012: 117–118). Im Gegensatz zu Parteiverboten und Grundrechtsverwirkung sind die Hürden für das Verbot von Vereinen niedriger, da sie nicht vom BVerfG ausgesprochen werden. Zwar garantiert Art. 9, Abs. 1 GG die Vereinigungsfreiheit, dieses wird jedoch durch Art. 9, Abs. 2 GG eingeschränkt: Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.

Bis zur Änderung des Vereinsgesetzes 1964 konnten auch Regierungspräsidien ein Verbot feststellen, während dies danach den Bundesinnenministern bzw. den Landesinnenministern vorbehalten war (Gerlach 2012: 137– 138; Botsch u. a. 2013: 275–277).103 Auf dieser Grundlage wurden in den 1950er und 1960er Jahren neben der SRP 35 weitere rechte Organisationen verboten (Botsch u. a. 2013: 277–281) ehe die Praxis »Ende der 1960er Jahre bis Anfang der 1980er Jahre [...] zum Stillstand« kam (Botsch u. a. 2013: 277). Auf linker Seite gab es zwischen 1949 und 1964 40 Organisationsverbote104 (Gerlach 2012: 138), was dazu führte, dass »abgesehen von der VVN alle maßgeblichen Organisationen verboten worden waren und auch keine Partei mehr links von der SPD existierte« (Rigoll 2013: 150). Als einschneidend für die politische Justiz in der BRD kann das Jahr 1968 gelten. Einerseits weckte die Verabschiedung der Notstandsgesetze, zusammen mit der Änderung des Art. 10 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis), Erinnerungen an einen autoritären Staat und führte zu breiten Protesten in der Bevölkerung. Andererseits wurde durch das achte Strafrechtsänderungsgesetz (8. StÄG) die bisherige Praxis erheblich liberalisiert. Der Art. 10 GG wurde dahingehend erweitert, dass eine Einschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bspw. durch den ____________________ 103

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Eine weitere wichtige Änderung war die Einführung des Verbotsprinzip, was bedeutet, dass Einzelpersonen nur für eine Tätigkeit in einer Organisation belangt werden konnten, wenn diese zuvor verboten und aufgelöst war (Posser 2000: 362). Zudem ersetzte das Opportunitätsprinzip das bis dahin geltende Legalitätsprinzip, was zu einer deutlichen Reduktion der Verbotsverfahren führte (Gerlach 2012: 130). Brünneck (1978: 113) spricht für den Zeitraum zwischen 1951 und 1958 von 80 Verboten, die teilweise gegen die gleichen Organisationen ausgesprochen wurden.

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

Verfassungsschutz legal ist, wenn die fdGO als gefährdet gilt.105 Diese Änderung wurde 1970 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt (Foschepoth 2012; Schulz 2017: 302–305). Auch durch die Notstandsverordnung zog die fdGO in weitere Grundgesetzartikel ein (Stuby 1977: 116) und stand dem hinzugefügten Widerstandsrecht Art. 20, Abs. 4 GG Pate. Sarah Schulz (2017: 306–309) argumentiert, dass dieses ursprünglich als Wehrhaftigkeit nach oben gedachte Recht nun als verpflichtender Einsatz der Bürger_innen zur Verteidigung der bestehenden Ordnung im Sinne der fdGO gewandelt wurde. Mit diesen rechtlichen Verschärfungen ging eine Liberalisierung durch das 8. StÄG einher. Das Unbehagen am politischen Strafrecht in der bestehenden Fassung wuchs, und Änderungen wurden bereits seit Anfang der 1960er Jahre vermehrt diskutiert (Gutfleisch 2014: 317–325; Schulz 2017: 286–296). Der Abschnitt zu ›Staatsgefährdung‹ wurde in ›Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats‹ umbenannt, wohingegen die Verfassungsgrundsätze aus § 88, Abs. 2, 1. StÄG nahezu unverändert blieben. Die zentrale Änderung besteht neben der Abschaffung einzelner Tatbestände in der Aufweichung des Legalitätsprinzips zu Gunsten des Opportunitätsprinzips (Brünneck 1978: 324–325; Schulz 2017: 298–301). So nahmen zwar die Strafverfahren rapide ab, das »Damoklesschwert« (Rigoll 2013: 207) der Repression schwebte aber nach wie vor über oppositionellen Strömungen. In der Gesamtschau der politischen Justiz in den 1950er und 1960er Jahren fällt auf, dass sich trotz einer antikommunistischen Schlagseite die Instrumente auch gegen die nationale Opposition richteten, wobei sich die Motivation deutlich unterschied. Kommunist_innen stellten die Westbindung und die Legitimität der Bundesrepublik infrage; zudem hatte der Antikommunismus eine stabilisierende innenpolitische Wirkung (Brünneck 1978: 134–151; Korte 2009). Die Maßnahmen gegen rechts waren einerseits ein Zeichen nach innen, die »nicht-tolerierbaren Verhaltensweisen« ____________________ 105

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Der durch den zweiten Absatz ergänzte Art. 10 GG im Wortlaut: »(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. (2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.«

6.1 Institutionen politischer Kontrolle

(Jaschke 1991: 148) aufzuzeigen, andererseits Mittel um die »negative Aufmerksamkeit der deutschen und internationalen Öffentlichkeit« (Botsch u. a. 2013: 276–277) zu entgegnen. Die fdGO als Kern der Demokratie erhielt Einzug in immer mehr Gesetze, wodurch dem BVerfG das Auslegungsmonopol über die fdGO entzogen wurde (Seifert 1977; Stuby 1977: 118). Durch die Einführung des Opportunitätsprinzips, wirkten die Gesetze vor allem präventiv. Eine andere Institution der politischen Kontrolle, die als sogenanntes Frühwarnsystem präventiv agiert und der eine zunehmende Bedeutung zuteil wurde, war der Verfassungsschutz. 6.1.2 Verfassungsschutz Der administrative Verfassungsschutz gliedert sich in das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit Sitz in Köln und 16 Landesämter für Verfassungsschutz (LfV). Das BfV wurde am 7. November 1950 auf Basis des sechs Wochen zuvor verabschiedeten Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes (Bundesverfassungsschutzgesetz - BVerfSchG) gegründet. Der Aufbau eines Geheimdienstes106 so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg weckte vielfältiges Unbehagen (u. a. Schwagerl 1985: 232–233; Goschler und Wala 2015: 21–32). Die Alliierten verfügten deshalb, dass dieser Dienst keine polizeilichen Befugnisse haben sollte und zogen auch durch die Namensgebung einen Trennstrich zur Gestapo (Goschler und Wala 2015: 27–31; Gusy 2016: 82–85). Von der Bundesregierung wurde die Notwendigkeit einer Besetzung »mit demokratisch unbedingt zuverlässigen« (zitiert nach Schwagerl 1985: 39) Kräften betont. Neuere Forschungen zeigen, dass dies nur bedingt gelang. So war der Anteil an belasteten Nationalsozialist_innen in der Nachkriegszeit im Vergleich zu anderen Organisationen zwar geringer, jedoch fanden viele Belastete eine Anstellung als freie Mi-

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Für die vorliegenden Ausführungen sind die Arbeitsgebiete der anderen Geheimdienste, dem Bundesnachrichtendienst BND und dem militärischen Abschirmdienst MAD, von geringerer Relevanz und bleiben daher unberücksichtigt. Auf die Geheimdienste als Leerstelle in geschichtswissenschaftlichen Handbüchern macht Jäger (2016) aufmerksam. Die relativ dünne Forschungslage über die Rolle der Geheimdienste in der Geschichte der BRD spiegelt sich auch in den vorliegenden Ausführungen wider.

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

tarbeiter_innen der Verfassungsschutzbehörden. (Rübner 2010: 26–34; Goschler und Wala 2015: 52–90, 211–237).107 Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat die Dienst- und Fachaufsicht über das BfV und ist diesem gegenüber weisungsbefugt. Eine entsprechende Struktur existiert in den Ländern (Schwagerl 1985: 36–45).108 Die Aufgaben der Ämter sind im Kern im bereits erwähnten Gesetz festgelegt und haben sich schrittweise erweitert. In § 3 Abs. 1 BVerfSchG heißt es, die Aufgaben der Ämter umfassen die Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen über Bestrebungen, die eine Aufhebung, Änderung oder Störung der verfassungsmäßigen Ordnung109 im Bund oder in einem Land [...] zum Ziele haben.

So war das BfV maßgeblich an der Vorbereitung der beiden Parteienverbotsverfahren der 1950er Jahre beteiligt, indem es Informationen über Aktivitäten von SRP und KPD sammelte (Bundeskabinett 1951a; Jaschke 1991: 123–124; Rübner 2010: 27). Bereits Ende der 1950er Jahre gab es eine Diskussion über einen sogenannten positiven Verfassungsschutz, um dem schlechten Image der Ämter und dem fehlenden Vertrauen in der Bevölkerung zu begegnen. Der Verfassungsschutz solle die Öffentlichkeit ausführlicher über seine Arbeit informieren und durch politische Bildung zum Schutz der Verfassung beitragen (Schwagerl 1985: 240–244). Bestandteil dieses Konzepts wurden bald die jährlich erscheinenden Berichte

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So wurde der Präsident des BfV, Schrübbers, 1972 wegen seiner NSVergangenheit in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Sein Vorgänger John wurde als einer der Verschwörer des 20. Juli gegen den Willen des Bundeskanzleramts ernannt (Rigoll 2013: 88; Goschler und Wala 2015: 47–52). Er löste eine innenpolitische Krise aus, nachdem er 1954 in die DDR ging und vor der »Restauration der Kräfte, die einst den Nationalsozialismus an die Macht gebracht und getragen haben«, warnte (John 1954: 7). Nachdem er zwei Jahre später in die BRD zurückkehrte, gab er an, entführt worden zu sein, was ihn nicht vor einer Verurteilung zu vier Jahren Zuchthaus bewahrte. Bis heute gibt es unterschiedliche Einschätzung über den Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen (Schiffers 1997: 77–316; Stöver 1999; Schaefer 2009; Leggewie und Meier 2012: 72–73). Zu den Möglichkeiten der Kontrolle des Verfassungsschutzes siehe die Ausführungen von Schwagerl (1985: 270–325) und Gusy (2011). Verfassungsmäßige Ordnung wird in der Anwendung des Gesetzes als deckungsgleich mit der fdGO verstanden (Schwagerl 1985: 13–14). Mit dem Verfassungsschutzgesetz 1972 erfolgt dann eine begriffliche Anpassung und die fdGO wird in den Gesetzestext aufgenommen (Kapitel 7.3.2).

6.1 Institutionen politischer Kontrolle

des BfV, in denen die Grenzziehung zwischen Demokratie und ihren Feind_innen deutlich wird.110 Anlass für den ersten Bericht dieser Art war die HakenkreuzSchmierwelle 1959/60 (Jesse 2007b: 13). 1960 erschien in englischer Sprache das White Paper über The Anti-Semitic and Nazi Incidents from 25 December 1959 until 28 January 1960 (Government of the Federal Republic of Germany 1960). Es richtete sich explizit an das Ausland und verfolgte das Ziel, vermeintlich übertriebene Darstellungen über die Schmierwelle richtigzustellen. Das gleiche Ziel lag auch dem ersten Bericht in deutscher Sprache, der sich dem Rechtsradikalismus in der BRD widmete, zugrunde.111 Darin entgegnete das BfV vermeintlich falscher Einschätzungen aus dem Ausland, kommunistischen Falschmeldungen und übertriebenen Angaben von Rechtsradikalen selbst (BfV 1962: 241). Ein Jahr später hieß es, man habe »irrige Vorstellungen über Ausmaß und Einfluß dieser [rechtsradikalen; M. F.] Kräfte« berichtigen können (BfV 1963: 3). Die Täter wurden großteils als »Affekt- und Rauschtäter«, »geisteskranke Sektierer« oder »strafunmündige Kinder« klassifiziert (BfV 1963: 14). In dieser Entpolitisierung der Tatmotive sieht Jaschke (1991: 137) »letztlich ein Akt der Verdrängung der Vergangenheit«. Erst 1965 erscheint auch ein Bericht über kommunistische Tätigkeiten in der BRD (BfV 1965b), ehe ab 1969 die Verfassungsschutzberichte als eigenständige Publikation veröffentlich wurden und eine Aufzählung sämtlicher verfassungsfeindlicher Bestrebungen umfassten (BMI 1969). Wie das BfV die Grenze zu jenen Strömungen, die als außerhalb der Demokratie stehend gelten, definiert, ist dem ersten Bericht zu Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik von 1962 zu entnehmen: ____________________ 110 111

Die LfV publizieren seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit Ausnahme des Saarlandes eigene Berichte. Nach der Wiedervereinigung folgten die ostdeutschen Länder diesem Beispiel (Jesse 2007b). Der Bericht umfasst Entwicklungen des Jahres 1961 und erschien in Aus Politik und Zeitgeschichte, einer Beilage der Wochenzeitung Das Parlament, herausgegeben von der Bundeszentrale für Heimatdienste (BfV 1962). Diesen Publikationsort behalten die nun jährlich erscheinenden Berichte bis 1968 bei, ehe sie als eigenständige Publikationen vom BMI herausgegeben werden. Der Publikationsort deckt sich mit dem Selbstverständnis des Amtes durch die Berichte einen »Beitrag für die politische Bildungsarbeit« (Schwagerl 1985: VII; siehe auch Jaschke 1991: 136) leisten zu wollen. Sowohl das BfV als auch die Bundeszentrale für Heimatdienste (ab 1963 Bundeszentrale für politische Bildung) sind dem BMI nachgeordnete Behörden.

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase Als rechtsradikal werden dabei nationalistische Gruppen und Personen angesehen, die ein glaubwürdiges Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik vermissen lassen, und bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß ihre Zielsetzung oder Tätigkeit gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet ist bzw. solche Bestrebungen fördert. (BfV 1962: 241).

Über die Auslegung der verfassungsmäßigen Ordnung bzw. der fdGO lässt der ehemalige Präsident des BfV Hubert Schrübbers keinen Zweifel. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes sei »die systematische Abwehr von politischen Angriffen, die sich gegen den Staat selbst richten« (zitiert nach Goschler und Wala 2015: 275). Verfassungsschutz wurde in den 1950er und 1960er Jahren vorrangig als Staatsschutz interpretiert und entsprechend vollzogen (Schwagerl 1973, 1985: 47–51; Goschler und Wala 2015: 275–279).112 Die Ämter des Verfassungsschutzes wirken als Institutionen politischer Kontrolle, da sie vor allem mittels ihrer Berichte in den politischen Diskurs eingreifen und die staatliche Vorstellung über die Grenze der Demokratie multiplizieren. Als Kern der Demokratie fungiert dabei die verfassungsmäßige Ordnung bzw. die fdGO. Die Interpretation der politisch Verantwortlichen zeigt eine auf den Staat zentrierte Auslegung. Eine antitotalitäre Ausrichtung der Dienste ist spätestens seit 1965 auch in ihren Berichten angelegt. Trotz einiger Skandale, die eine Rechtslastigkeit des Dienstes vermuten lassen, und der antikommunistische Fokus in den 1950er und 1960er Jahren (Leggewie und Meier 2012; Goschler und Wala 2015: 91–96) wirkt der Verfassungsschutz nach eigenem Verständnis gegen alle verfassungsfeindlichen Bestrebungen gleichermaßen. Er fügt sich damit in die Diskurskoalition der antitotalitären, wehrhaften Demokratie ein. Ein ähnliches Verständnis von Demokratie wird auch im Rahmen der staatlichen politischen Bildung verbreitet.

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So sah 1958 der damalige Innenminister Schröder die Aufgaben des Verfassungsschutzes in der Staatssicherheit und meinte: »Ich denke, daß wir eines Tages getrost zu diesem Namen zurückkehren können.« (zitiert nach Schwagerl 1988: 167).

6.1 Institutionen politischer Kontrolle

6.1.3 Staatliche politische Bildung Politische Bildung113 findet in einer Vielzahl von Institutionen statt (Reheis 2014: 41–50). Die zentralen Institutionen staatlicher politischer Bildung sind Schulen und Hochschulen. Aufgrund der föderalen Struktur des bundesdeutschen Bildungssektors und den verschiedenen Konzepten politischer Bildung in diesen Institutionen möchte ich mich im Folgenden auf eine einflussreiche und bundesweit wirkende Institution beschränken.114 Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) (bis 1963 Bundeszentrale für Heimatdienst, BfH)115 hat durch ihre zahlreichen, meist kostenfrei zur Verfügung gestellten, Publikationen, Handreichungen und Veranstaltungen großen Einfluss auf entsprechende Debatten in der BRD (Jaschke 1991: 226; Butterwegge 2013: 6). Die BfH wurde 1952 gegründet und dem BMI unterstellt. Der Beirat und das Kuratorium sollten einen überparteilichen Charakter garantieren (Lehr 1952; Widmaier 1987: 27–43; Hentges 2013: 436). Als Aufgabe der BfH war in ihrem Gründungserlass festgehalten, »den demokratischen und den europäischen Gedanken im deutschen Volke zu festigen und zu verbreiten« (Lehr 1952: o. S.). Dieses Ziel beinhalte »eine aufklärende Abwehr gegen Rechts- und Linksradikalismus«, wie aus dem Protokoll eines Treffens zwischen Ministeriumsvertretern und Vertretern der BfH hervorgeht (zitiert nach Hentges 2013: 238). Die BpB beschreibt in ihrer Internetpräsenz den Auftrag der ersten Jahre als positiven Verfassungsschutz: Zeitgemäße politische Bildung sollte die Bürgerinnen und Bürger mit der parlamentarischen Regierungsform und ihren Institutionen sowie den politischen Spielregeln der Demokratie vertraut machen. Totalitäre Bestrebungen aller Art, insbesondere der Kommunismus sollten bekämpft werden. (Bundeszentrale für politische Bildung 2011: o. S.).

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Zum Begriff der politischen Bildung siehe bspw. Reheis (2014), zur Geschichte der politischen Bildung in Deutschland Hellmuth und Klepp (2010). Einen breiten Überblick zur politischen Bildung in den 1950er und 1960er Jahren geben (Schmiederer 1972; Sander 1989: 86–107; Jaschke 1991: 212–217; Hentges 2013: 13–17). Die Bundeszentrale für Heimatdienst war bis vor wenigen Jahren unzureichend erforscht. Der Arbeit von Hentges ist es zu verdanken, dass diese Lücke aufgefüllt wurde. Wenn ich mich vergleichsweise viel auf ihre Arbeit beziehe, liegt dies in der dünnen Forschungslage einerseits und an Hentges materialreichem Werk andererseits begründet. Zu den Vorläufern der Bundeszentrale für Heimatdienst in der Weimarer Republik (Wippermann 1976; Musterle 2012; Hentges 2013: 13–17).

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

In den ersten Jahren warb sie durch Preisausschreiben, Plakate und Fahrradwimpel für die Identifikation der Bürger_innen mit dem Staat (Jaschke 1991: 227), unternahm zahlreiche Aktionen zur Steigerung der Wahlbeteiligung (Hentges 2013: 255–256) und strebte eine Aufklärung über die Zeit des Nationalsozialismus an (Hentges 2013: 442). Ab Mitte der 1950er Jahre nahm die Bekämpfung des Kommunismus eine bedeutendere Rolle, auch in finanzieller Hinsicht, ein (Thomas 2012; Hentges 2013: 246, 445).116 Am deutlichsten manifestierte sich die inhaltliche Neuausrichtung in der Gründung des Ostkollegs. So heißt es in einem Erlass des Innenministers Gerhard Schröder (CDU), vom 27. November 1957: Im Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern wird das ›Ostkolleg der Bundeszentrale für Heimatdienst‹ errichtet. Es soll durch Studientagungen zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem internationalen Kommunismus beitragen. (Schröder 1957: o. S.).

An den Schulungen, die unter anderem ›bolschewistische Infiltrationsund Zerstreuungsversuche‹ oder die ›Scheinwelt der kommunistischen Wissenschaftlichkeit‹ zum Thema hatten, nahmen mehrheitlich Lehrer_innen und Verwaltungsbeamte teil, weshalb Benedikt Widmaier (1987: 48) das Ostkolleg als »antikommunistische Schule des deutschen Beamtentums« bezeichnete (ähnlich Jaschke 1991: 228).117 Nach der Hakenkreuz-Schmierwelle schwächte sich der Fokus auf den Kommunismus zu Gunsten einer Auseinandersetzung mit Vorurteilen und der jüngeren Vergangenheit leicht ab, blieb aber vorerst bestehen (Widmaier 1987: 69– 71, 84). ____________________ 116

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Ende 1955 werden dazu im BMI drei Ziele zur Neuorientierung der BfH festgehalten: »I. Wissenschaftliche Auseinandersetzung und Widerlegung des Marxismus – Leninismus – Stalinismus (Forschung) II. Antikommunistische Unterrichtung und Schulung der geistigen Schlüsselpersönlichkeiten (Multiplikatoren) III. Antikommunistische Aufklärung und Werbung mit Massenwirkung (Breitenarbeit).« (zitiert nach Hentges 2013: 344–345). Weniger kritisch fallen die ausführlichen Darstellungen des Kollegs selbst über seine Geschichte aus (Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung 1991; Maibaum 2004). Klessmann (2016) problematisiert vor allem die vielen NS-Belasteten im Ostkolleg, sieht dieses aber auch als Raum differenzierter Auseinandersetzungen mit dem Kommunismus. Zur Vorgeschichte und der Rolle ehemaliger Nationalsozialist_innen beim Aufbau des Kollegs (Hentges 2013: 351–415).

6.1 Institutionen politischer Kontrolle

Wenige Jahre später kündigten sich auch im Hinblick auf das von der BfH vermittelte Demokratieverständnis erste Reformbemühungen an. Kritik, Konflikt und Machtverhältnisse sollten »das Harmonie- und Konsensbedürfnis der 50er Jahre« (Widmaier 1987: 77) in der politischen Bildung ablösen. Diese Reformbemühungen wurden jedoch durch Hans Strecken, der 1969 das Amt des Vorsitzenden übernahm, mehr gebremst denn gefördert (Widmaier 1987: 86–88). So kommt Gudrun Hentges (2013: 436– 437) für die 1950er und 1960er Jahre zu dem Schluss, dass durch die BfH/BpB ein Bild von Demokratie als Staatsform und nicht als Lebensform vermittelt wurde (ähnlich Widmaier 1987: 199; Jaschke 1991: 227– 229).118 Auch die Benennung der Gefahren für die Demokratie fügt sich in den hegemonialen Diskurs der politischen Ordnung ein, wie Jaschke (1991: 239) resümiert: »Insbesondere die BpB hat im Rahmen ihrer Loyalitätssicherungsaufgaben der Totalitarismustheorie über Jahrzehnte zur strukturellen Verankerung im Bildungssystem verholfen.«119 Mit einem staatszentrierten Bild von Demokratie und einer antitotalitären Abgrenzung gegen die Feinde der Demokratie reartikuliert die BfH/BpB die in Kapitel 5 rekonstruierte eigentliche Bedeutung von Demokratie. So erweitert sich die Diskurskoalition der antitotalitären, wehrhaften Demokratie um die zentrale Institution der staatlichen politischen Bildung.

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Sander macht dies unter anderem an dem ersten und einflussreichen Heft der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes von Litt (1954) fest. »Litt hat die antikommunistische Grundhaltung und das restaurative Staatsverständnis, die das politische Klima jener Zeit prägten, für die politische Bildung rezipiert.« (Sander 1989: 98). Ähnlich argumentiert Schmiederer (1972: 42–43): »Politische Bildung ist für ihn [Litt] ›Erziehung zum Staat‹ oder ›Erziehung zur Demokratie‹, wobei Demokratie nicht aus der Idee der Volksherrschaft hergeleitet, sondern als eine ›Staatsform‹ begriffen wird.« Eine systematische Analyse der Schriften der BfH/BpB auf das vermittelte Demokratieverständnis hin, steht nach wie vor aus. Auch andere Felder der politischen Bildung richteten sich am Totalitarismusansatz aus. Deutlich wurde dies bspw. in den 1962 von der Kultusministerkonferenz erlassenen Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht (Knütter 1988; Hafeneger 1989; Jaschke 1991: 217–226).

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

Passage Alle drei Institutionen der politischen Kontrolle waren bis Ende 1952 weitgehend installiert und erweiterten bald ihren Einfluss auf den Diskurs über die politische Ordnung. Während die politische Justiz vor allem repressiv vorging, versuchten Verfassungsschutz und BfH/BpB als positiver Verfassungsschutz mit Bereitstellung von Informationen über die Verfassungsfeind_innen und Maßnahmen der politischen Bildung in die Gesellschaft zu wirken. Die Verschränkung der beiden letztgenannten Institutionen zeigt sich auch in ihrer jeweiligen Anbindung an das BMI, durch die Veröffentlichung der ersten Verfassungsschutzberichte in Aus Politik und Zeitgeschichte, herausgegeben von der BpB und die Einflussnahme des BfV bei der Errichtung des Ostkollegs (Hentges 2013: 415–416, 443). Alle drei Institutionen bauen auf dem bereits hegemonial gewordenen Projekt der antitotalitären, wehrhaften Demokratie auf, stabilisieren und popularisieren es. Als Kern der Demokratie gilt sowohl in der politischen Justiz als auch in der Arbeit des Verfassungsschutzes die verfassungsmäßige Ordnung bzw. die fdGO. Damit verbunden ist ein staatszentriertes Demokratieverständnis, das auch die BfH/BpB verbreitet. Die Bestimmung der Gefahren für die Demokratie erfolgt mit Rückgriff auf antitotalitäre Deutungsmuster. Aufgrund der Bedeutung des Totalitarismusbegriffs für die Institutionen der politischen Kontrolle und für den gesamten Diskurs der politischen Ordnung bedarf es einer differenzierten Darstellung seiner wissenschaftlichen Ausarbeitungen. 6.2

Wissenschaft: Totalitarismusforschung

Neben anderen Bezeichnungen wird das 20. Jahrhundert auch als »das Jahrhundert des Totalitarismus« beschrieben (Bracher 1987: 14 Hervorh. im Original). Trotzdem oder vielleicht auch deswegen kann weder von der Existenz einer einheitlichen Totalitarismustheorie noch von einer übereinstimmenden Verwendung des Totalitarismusbegriffs gesprochen werden. Erschwerend kommt hinzu, dass als »Zwitterexistenz aus Ideologie und Wissenschaft« (Söllner 1997a: 11) die »Karriere des Totalitarismusbegriffs [...] eng mit politischen Entwicklungen verbunden gewesen« ist (Rudzio 2003: 48; siehe auch Kailitz 1997; Keßler 2008: 211–222) und er den Ballast des ›politischen Kampfbegriffs‹ mit sich trägt. Deswegen werden in einem ersten Schritt die teils grundlegend verschiedenen Totalitarismusansätze vorgestellt. Ich orientiere mich dabei an 148

6.2 Wissenschaft: Totalitarismusforschung

der Einteilung von Lars Rensmann (2011), der in einen herrschaftsstrukturellen und einen genealogischen Ansatz differenziert.120 Zusätzlich gehe ich noch auf einen weiteren Ansatz ein, der im Untersuchungszeitraum in der BRD größeren Einfluss hatte und hier reflexiver Ansatz genannt wird. Freilich wären auch andere Einteilungen begründbar und die hier vorgeschlagene kann nicht alle Begriffsverwendungen berücksichtigen.121 Für die vorliegende Arbeit zeigt sich die Aufteilung jedoch als produktiv, da die Grenze der Demokratie, deren Kern und Gefahren von Ansatz zu Ansatz differieren. Ich werde mich in der Darstellung der drei Ansätze auf die in den 1950er und 1960er Jahren vorherrschende Ausführung beschränken. Zusammenfassend werden die jeweiligen Ansätze in ihrem Bezug auf die Hegemonie der antitotalitären, wehrhaften Demokratie diskutiert und ihr Einfluss auf den politischen Diskurs in der BRD während der 1950er und 1960er Jahre skizziert. 6.2.1 Herrschaftsstruktureller Ansatz Der Begriff Totalitarismus geht auf die Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus der 1920er Jahre zurück (Jänicke 1971: 20–36; Petersen 1978; Möll 1998: 29–52), wurde aber schon bald in vergleichender Perspektive auf den Nationalsozialismus und Stalinismus angewandt. Bereits 1939 entwickelte Carlton Hayes (1968) in seinem Buch Der Totalitarismus als etwas Neues in der Geschichte der westlichen Kultur einen Katalog von Merkmalen, um totalitäre Regime zu klassifizieren. Der Angriff des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion führte zu einer Aussetzung dieser vergleichenden Perspektive, die dann in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt fand. Einen »zentralen Platz« (Jesse 1999a: 14) nahm dabei das von den Politikwissenschaftlern Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski entwickelte Sechs-Punkte-Modell ein, das »zum meistzitierten ____________________ 120

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Die von Rensmann vorgeschlagene Kategorie des demokratietheoretischen Totalitarismusansatzes vernachlässige ich in meinen Ausführungen. Rensmann fasst darunter vor allem neue Arbeiten aus Frankreich, die im Untersuchungszeitraum in der BRD keine Rolle spielten. Diese Theorien, allen voran jene von Claude Lefort und Marcel Gauchet, sind u. a. besprochen bei Bosshart (1992: 193–212) und Rensmann (2011: 394–397). Die verschiedenen Facetten der Totalitarismusforschung sind in mehreren Überblicksdarstellungen diskutiert (u. a. Seidel und Jenker 1968; Jänicke 1971; Möll 1998; Jesse 1999b)

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

Standard der Fachliteratur zählt« (Möll 1998: 123). Friedrich und Brzezinski vertreten die Auffassung, »daß die totalitäre Diktatur historisch einzigartig« sei und »daß faschistische und kommunistische totalitäre Diktaturen in ihren wesentlichen Zügen gleich sind« (Friedrich und Brzezinski 1957: 15). Diese grundsätzliche Gleichheit prüfen sie empirisch anhand der konstitutiven Merkmale totalitärer Systeme. Zu den sechs zentralen Merkmalen zählen eine allumfassende und allgemeinverbindliche Ideologie, eine die gesamte Macht innehabende Massenpartei, der ein Führer vorsteht, ein Terrorsystem, das nicht nur tatsächliche, sondern auch potenzielle Feind_innen bekämpft, ein staatliches Monopol der Massenkommunikationsmittel, ein staatliches Gewaltmonopol sowie eine zentrale Lenkung und Kontrolle der Wirtschaft (Friedrich und Brzezinski 1957: 19– 20). Im Zuge der Entstalinisierung geriet dieser Merkmalskatalog vor allem in der Kommunismusforschung in die Kritik und Forderungen nach einer Anpassung wurden laut (u. a. Drath 1958; Ludz 1961). Wenige Jahre später präsentierte Friedrich eine Modifikation: Terror galt nun nicht mehr als konstitutives Merkmal und die früheren Idealtypen Stalinismus und Nationalsozialismus waren nun extreme Ausnahmen totalitärer Systeme (Friedrich 1968). Diese Modifikation stieß auf entschiedenen Widerspruch. Martin Jänicke folgerte, dass es Friedrich darum ging, den Dualismus von Demokratie und Totalitarismus aufrecht zu erhalten und die Staaten des Ostblocks auch nach dem Stalinismus weiterhin unter das diskreditierende Label Totalitarismus zu subsummieren: Die politische Frontstellung ist die alte geblieben. Nur muß offenbar das begriffliche Waffenarsenal von Zeit zu Zeit den neuesten historischen Wandlungen des Feindes durch definitorische Umdeutungen angepaßt werden. (Jänicke 1971: 244; siehe auch Möll 1998: 140–141; Fritze 1999).122

Lothar Fritze (1999: 316) sieht in der Modifikation eine Immunisierungsstrategie – die im Friedrichschen Falle mit dem Ziel angewandt wird, eine bestehende Theorie durch Korrekturen an eine Realität zu adoptieren, bezüglich der man selbst spürt, daß sie sich der ursprünglichen Theorie nicht mehr fügen will.

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Jänicke (1971: 243) führt diese funktionale Modifikation auf »die handfeste antikommunistische Tendenz des Autors« zurück, der Mitte der 1960er Jahre seine wissenschaftliche Arbeit gegen den aktuellen Hauptfeind der USA, das sozialistische Kuba, münzte und dessen Verbrechen als »even exceeded what Stalin and Hitler did« (Friedrich 1968: 39) bezeichnete.

6.2 Wissenschaft: Totalitarismusforschung

Abgesehen von der nachträglichen Modifikation der Theorie, sind auch die grundsätzlichen Annahmen des herrschaftsstrukturellen Ansatzes Gegenstand kritischer Einwände. In den theoretischen Ausführungen stehen die wesensgleichen Diktaturen liberalen Demokratien gegenüber (Friedrich und Brzezinski 1957: 64, 113–114, 250), sodass »der Totalitarismus als Gegentypus zu spezifisch liberalen Wertpositionen erscheint« (Möll 1998: 131 Hervorh. im Original). Dadurch finde »eine ›reale‹ Verklärung der liberalen Demokratie« (Möll 1998: 132) statt, da deren freiheitseinschränkende Tendenzen durch die antithetische Annahme zum Totalitarismus einer kritischen Reflexion entzogen werden (siehe auch Jänicke 1971: 95–101; Wiegel und Erlinghagen 1999: 159–160). Rensmann (2011: 390–391) setzt mit seiner Kritik an der Aussagekraft zu den Arbeiten herrschaftsstrukturellen Ansatzes an, da diese keine deutenden oder erklärenden Aussagen machen über besondere historische Ursprünge und Prozesse, deren Deutung im Zentrum theoretischer Anstrengungen stehen müsste.

In den 1970er und 1980er Jahren verlor das »bis dahin vorherrschende Totalitarismusmodell« (Wippermann 1997b: 37) zunehmend an Einfluss. Nur wenige Wissenschaftler_innen hielten am Prinzip des herrschaftsstrukturellen Ansatzes fest123 oder gaben ihm neue Impulse, wie Peter Graf von Kielmansegg (1974) oder der deutsch-spanische Politikwissenschaftler Juan Linz (1975) mit seiner Unterscheidung zwischen autoritären und totalitären Regimen.124

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Wichtig für den bundesdeutschen Kontext ist Bracher, der sich mehrfach zum herrschaftsstrukturellen Totalitarismusansatz bekennt (u. a. Bracher 1976: 103–118, 1987: 7–10). Seine Ausführungen zu Totalitarismus beinhalten auch Aspekte des genealogischen Ansatzes (Bracher 1976: 33–61). Als weitere Vertreter des herrschaftsstrukturellen Totalitarismusansatzes gelten für manche Beobachter Backes und Jesse (Kailitz 1997: 225; Wiegel und Erlinghagen 1999: 161). Zwar befürworten sie in ihren Arbeiten diesen Ansatz (u. a. Backes und Jesse 1992; Jesse 1999a), beschränken sich aber auf Überblicksdarstellungen und Herausgeberschaften und geben ihm keine neuen Impulse. Ihre Hauptwerke sind der Extremismusforschung zuzurechnen (Kapitel 8.2). Eine aktuelle, aber weitgehend unkritische Zusammenfassung des herrschaftsstrukturellen Ansatzes findet sich bei Gräßler (2014: 40–91).

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

6.2.2 Genealogischer Ansatz Überlegungen, die dem genealogischen Ansatz zuzurechnen sind, fokussieren auf die Entstehung und Dynamiken totalitärer Bewegungen. Erste Ausarbeitungen dieses Ansatzes gingen aus der sogenannten RenegatenLiteratur hervor, die eine »Embryonalform der Totalitarismustheorie« (Kraushaar 1999: 495) ist. Ihre Protagonist_innen, Kommunist_innen, die sich durch die Erfahrungen im spanischen Bürgerkrieg vom Kommunismus (sowjetischer Prägung) abwandten, reflektieren über dessen Ähnlichkeiten zu faschistischen Regimen (Wippermann 1997b: 58–70; Kraushaar 1999: 494–496).125 Die herausragende Arbeit des genealogischen Ansatzes stammt von der eher liberalen Theoretikerin Hannah Arendt (2013), deren Werk The Origins of Totalitarianism 1951 veröffentlicht und vier Jahre später ins Deutsche übersetzt wurde.126 Im Gegensatz zum herrschaftsstrukturellen Ansatz liegt ihr Analysefokus auf den Dynamiken totalitärer Herrschaft, dem zugrunde liegenden Terror und der These, dass sich totalitäre Herrschaft vor allem durch seine Strukturlosigkeit auszeichne (Arendt 2013: 822–867). Ihre Basis fänden totalitäre Bewegungen in der modernen Massengesellschaft, die durch »den Wegfall der Klassenstruktur« eine »unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter Individuen« hervorbringt (Arendt 2013: 677 ausführlich 663–702). Eine entscheidende Stufe zum Aufstieg totalitärer Bewegungen bestehe aus dem »zeitweiligen Bündnis zwischen Mob und Elite«, was Arendt bspw. an jenem zwischen den »deutschen Stahlbaronen« und dem »Anstreicher Hitler« zeigt (Arendt 2013: 713). Zentral für das Verständnis totalitärer Herrschaft sind bei Arendt die totale Ideologie und der totale Terror. Erstere zeichnet sich dadurch aus, eine aus der Natur (Nationalsozialismus) oder Geschichte (Stalinismus) abgeleitete, objektive Gesetzmäßigkeit festzustellen, die zu »allumfassenden Bewegungsgesetzen« (Rensmann 2011: 392) erklärt werden. Sie beinhalten die Konstruktion eines ›objektiven Gegners‹, der beseitigt werden muss (Arendt 2013: 878–879). Dabei ist das konkrete Objekt nicht statisch, was dazu führt, dass potenziell jede_r Ziel der Ver____________________ 125 126

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Die Renegaten-Literatur ist nicht in Gänze diesem Ansatz zuzuordnen, wie der ausführlichen Rezeption bei Rohrwasser (1991) entnommen werden kann. Ich verwende hier die 16. Auflage der ungekürzten Taschenbuchausgabe von 2013, die alle drei Bände ihres Werks (Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft) umfasst.

6.2 Wissenschaft: Totalitarismusforschung

nichtungspolitik sein kann, wie Arendt vor allem anhand der stalinistischen Säuberungsprozesse zeigt. Der Endpunkt und die Essenz totalitärer Herrschaft sind die Konzentrations- und Vernichtungslager, die keinem ökonomischen Zweck dienten, sondern dazu »das Überflüssigwerden von Menschen herauszuexperimentieren« (Arendt 2013: 938). Aus diesen Überlegungen zu totalitärer Herrschaft folgt ein weiterer, politisch wichtiger Unterschied zu den meisten Ausführungen des herrschaftsstrukturellen Ansatzes. In ihrem Vorwort zur zweiten Ausgabe von 1966 schreibt Arendt, dass die Geschichte der totalitären Herrschaft mit Stalins Tod »zumindest ein vorläufiges Ende« (Arendt 2013: 656) fand. Sie beschränkt ihre Ausführungen zu totalitärer Herrschaft explizit auf das nationalsozialistische Regime und den Stalinismus, letzterer mit einer kurzen Unterbrechung von 1941 bis 1945 (Arendt 2013: 629–656). In die Kritik geriet Arendt vor allem aufgrund der empirischen Unterfütterung ihrer Thesen (u. a. Pfahl-Traughber 2004: 48–49). Jänicke verweist darauf, dass sich ihre Ausführungen über den Stalinismus aus Sekundärquellen speisen. Zudem seien die meisten Thesen am Nationalsozialismus erarbeitet und am Stalinismus nur leidlich aufgezeigt, um beide schließlich unter einen Begriff zu bringen (Jänicke 1971: 83–84). Steffen Kailitz kritisiert Arendts Fokus auf Terror und die daraus folgende Einschränkung totalitärer Herrschaft auf den Nationalsozialismus und Stalinismus. Ohne dies weiter zu begründen schließt er: »Ein so eng gefaßter Typusbegriff macht freilich wenig Sinn.« (Kailitz 1997: 225; siehe auch Jesse 1983: 460, 1999a: 20). Friedrich Pohlmann macht in seiner Rezeption auf die Widersprüche innerhalb des Werks aufmerksam. Er sieht Arendts Ausführungen in den ersten beiden Kapiteln zu Antisemitismus und Imperialismus nicht immer konsistent zu ihren Thesen im abschließenden Teil zu totaler Herrschaft. So sei weder der Antisemitismus konstitutiv für den Stalinismus, noch wäre Russland vor der Revolution eine moderne Massengesellschaft gewesen (Pohlmann 1998: 223–224). 6.2.3 Reflexiver Ansatz Unter dem reflexiven Totalitarismusansatz subsummiere ich alle die Arbeiten, die nicht totalitäre Bewegungen oder Herrschaftsstrukturen zu ihrem Ausgangspunkt machen, sondern den Blick auf liberal-demokratische Systeme und deren totalitäre Potenziale richten. Von manchen Beobachtern wurden diese in marxistischer Tradition stehenden Überlegungen auch als »linker Antitotalitarismus« (Kühnl 1972; Bosshart 1992) be153

6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

zeichnet. In der BRD haben dabei die Arbeiten der Kritischen Theorie, allen voran von Herbert Marcuse, größere Resonanz erfahren. Bereits 1934 sah Marcuse, trotz struktureller Unterschiede, die »einheitliche Grundlage« von Liberalismus und Faschismus durch »die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum und die staatliche-rechtlich garantierte Sicherheit dieser Verfügung« gegeben (Marcuse 1934: 165).127 Seine kulturkritischen Thesen, die er vor allem in Der eindimensionale Mensch128 ausgearbeitet hat, gehen noch einen Schritt weiter. Für ihn sind die fortgeschrittenen Industriegesellschaften bereits totalitär, da der Mensch zu einem Werkzeug des Produktionsprozesses degradiert werde und durch die Manipulation von Bedürfnissen sich in diesem sklavenartigen Verhältnis wohlfühle: Mit dem technischen Fortschritt als ihrem Instrument wird Unfreiheit - im Sinne der Unterwerfung des Menschen unter seinen Produktionsapparat – in Gestalt vieler Freiheiten und Bequemlichkeiten verewigt und intensiviert. (Marcuse 2004: 53).

In seine Kritik schließt er die modernen Industriegesellschaften sozialistischer Prägung explizit mit ein (Kühnl 1972: 107–113).129 Marcuses Ausführungen sind von weiten Teilen der Wissenschaft »eher ignoriert als kritisiert« worden (Jesse 2007a: 359). Der Ökonom Paul Mattick (1969) warf Marcuse vor, die ökonomischen und technischen Möglichkeiten des Kapitalismus zu überschätzen und seine Krisenhaftigkeit zu unterschätzen und damit auch die Möglichkeit kommender Klassenkämpfe. Eckhard Jesse hingegen problematisiert vor allem die Auflösung der Dichotomie zwischen Demokratie und Totalitarismus. Bezogen auf Marcuses frühere Schriften kritisiert er:

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Zu weiteren frühen Arbeiten des reflexiven Ansatzes siehe Jänicke (1971: 110–119). Das Buch erschien bereits 1964 in englischer Sprache und wurde drei Jahre später ins Deutsche übersetzt. Seine These bezüglich des totalitären Charakters moderner Industriegesellschaften vertrat Marcuse (1961) bereits einige Jahre früher, sodass sie schon vor dem Erscheinen von Der eindimensionale Mensch diskutiert wurden. Ausführlich ist die Kritik an der Sowjetunion bereits in der vergleichsweise wenig beachteten Schrift Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus (Marcuse 1964) dargelegt. Weitere Aspekte seiner Ausführungen, die für die vorliegende Fragestellung von untergeordnetem Interesse sind, sind bspw. diskutiert bei Möll (1998: 323–331).

6.2 Wissenschaft: Totalitarismusforschung Eine wesentliche Schwäche des Beitrags liegt in dem folgenden Umstand: Marcuse hat den fundamentalen Unterschied zwischen einer liberalen Demokratie und einer totalitären Diktatur verwischt (Jesse 2007a: 360).

Entwicklungen in demokratischen Staaten als totalitär zu bezeichnen, überdehne den Begriff und mache ihn zu einer »nichtssagenden verbalen ›Rundumwaffe‹« (Jesse 1983: 486, siehe auch 1999a: 23). Marcuses spätere Schriften, in denen er sich weder von Gewalt distanziert, noch zum demokratischen Verfassungsstaat bekennt, beinhalteten selbst totalitäre Züge, so Jesse: »Für eine differenzierte Totalitarismusforschung fällt Herbert Marcuse damit aus. Seine Konzeption wird eher zu ihrem Objekt.« (Jesse 2007a: 371). 6.2.4 Wissenschaft und antitotalitäre, wehrhaften Demokratie Die drei dargestellten Ansätze wurden maßgeblich von deutschen Wissenschaftler_innen, die in den USA wirkten, geprägt. Sie wurden nicht speziell für den bundesdeutschen Kontext entwickelt, fügen sich aber teilweise gut in die hegemoniale Bestimmung der politischen Ordnung der BRD ein. Am meisten Parallelen weist der herrschaftsstrukturelle Ansatz auf. Zentral ist die strickte Entgegensetzung von Demokratie und Totalitarismus. Diese »antithetische Totalitarismustheorie« (Möll 1998: 141) korreliert mit dem antagonistischen Verhältnis zwischen der Demokratie und ihren Feind_innen, wie sie bezüglich der antitotalitären, wehrhaften Demokratie in Kapitel 5 rekonstruiert wurde. Zudem zeigen sich Parallelen hinsichtlich der konkreten Feindbestimmung. Die Gefahren für die Demokratie würden sowohl von rechten wie von linken Diktaturen drohen. Für den bundesdeutschen Kontext war dabei vor allem eine Abgrenzung gegen die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und ihre Sympathisant_innen wichtig. Dem kommt der herrschaftsstrukturelle Ansatz von daher entgegen, als dass er auch die kommunistischen Regime nach dem Stalinismus unter einen Oberbegriff mit dem Nationalsozialismus bringt. Die Abgrenzung gegen ›früher‹ und ›drüben‹ gleichermaßen findet in den herrschaftsstrukturellen Ansätzen eine wissenschaftliche Entsprechung. Eine solche Abgrenzung war mit dem genealogischen Ansatz nicht begründbar. Er beinhaltet zwar gewisse Elemente einer gleichsamen Abgrenzung nach links und rechts, da Arendt sowohl den Nationalsozialismus als auch den Stalinismus unter den Begriff der totalen Herrschaft vereint. Einer Ausweitung auf die DDR und andere kommunistische Staaten nach Stalins Tod verwehrte sie sich aber. Darüber hinaus gehen Totalita155

6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

rismus und Demokratie bei Arendt kein antithetisches Verhältnis ein, da sich politische Herrschaftsformen nicht ausschließlich in diese beiden Kategorien unterteilen lassen. Totalitäre Herrschaft erscheint nicht als ›das ganz andere‹ von Demokratie. Arendt verortet Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft im Antisemitismus und Imperialismus. Diese Ideologien radikalisieren sich in den liberalen Demokratien Frankreichs (Antisemitismus) und Englands (Imperialismus). Für die Ausbildung totalitärer Herrschaft sind diese Entwicklungen wiederum konstitutiv, weswegen eine Externalisierung totalitärer Herrschaft aus liberalen Demokratien mit Arendts genealogischem Ansatz nicht begründbar wäre. Durch die Zusammenfassung von Stalinismus und Nationalsozialismus unter einem Begriff zeigt Arendts Ansatz auf den ersten Blick Parallelen zur antitotalitären, wehrhaften Demokratie, die sich bei genauerer Lektüre ihres Hauptwerks minimieren.130 Gänzlich ungeeignet, eine Diskurskoalition mit der Hegemonie der antitotalitären, wehrhaften Demokratie einzugehen, ist der reflexive Ansatz von Marcuse. Hier wird die Entgegensetzung von Demokratie und seinen (totalitären) Feind_innen offensiv gebrochen, indem totalitäre Aspekte liberaler Demokratien herausgearbeitet werden. Die antagonistische Zweiteilung wird aufgelöst (Jänicke 1971: 119). Liberale Demokratie erscheint nicht mehr als Antithese zum Totalitarismus, vielmehr gelten beide als in wesentlichen Teilen strukturgleich. Die drei vorgestellten Totalitarismusansätze stabilisieren bzw. destabilisieren die Hegemonie der antitotalitären, wehrhaften Demokratie auf sehr unterschiedliche Weise. Ihre Rezeptionsgeschichte in der BRD gibt Aufschluss darüber, wie umfassend diese Hegemonie wissenschaftlich gestützt wurde.

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Jänicke (1971: 85) hingegen sieht in ihrer Theorie eine Externalisierung des Nationalsozialismus, die »eine ideologische Formel zur antikommunistischen Freund-Feind-Gruppierung« bereitstellt. Im Gegensatz dazu bezeichnet der marxistische Politikwissenschaftler Kühnl (1995: 229) ihr Werk als »›linke‹ Variante« der Totalitarismustheorie. In dieser unterschiedlichen Einschätzung zeigt sich treffend die »politische ›Ortlosigkeit‹«, die Pohlmann (1998: 201) als ein Grund für die zaghafte Rezeption von Arendt anführt.

6.2 Wissenschaft: Totalitarismusforschung

6.2.5 Rezeption der Totalitarismusansätze in den 1950er und 1960er Jahren Der direkte Einfluss der verschiedenen Totalitarismusansätze auf den Diskurs über die politische Ordnung der BRD ist nicht einfach zu bestimmen. Eine Annäherung kann jedoch über die Unterschiede in der Rezeption der drei Ansätze erfolgen. In der Wissenschaft selbst stießen die Thesen Marcuses außerhalb marxistisch beeinflusster Kreise auf starke Ablehnung oder wurden weitgehend ignoriert (Jesse 2007a). Selbst zeitgenössische linke Wissenschaftler_innen nahmen sein Hauptwerk eher kritisch auf (u. a. Abendroth 1967; Holz 1968; Mattick 1969; Kühnl 1972). Hingegen haben seine Ideen »die antiautoritäre Bewegung stark beeinflußt und bestimmen noch heute das Weltbild und die politische Strategie linksradikaler Gruppen - keineswegs nur in der BRD« (Kühnl 1972: 113; siehe auch Bracher 1982: 310; Jesse 2007a: 356, 366). Dieser Einfluss blieb jedoch weitgehend auf die universitäre Protestbewegung der 1960er und 1970er Jahre beschränkt. In jüngeren Schriften herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Überlegungen Arendts über totalitäre Herrschaft in der frühen BRD kaum rezipiert wurden (Kühnl 1995; Heuer 1997). »Zwischen Arendt und den Deutschen herrschte seit 1933 und bis über ihren Tod hinaus eine dauerhafte Entfremdung«, merkt Wolfgang Heuer (1997: 21) in seiner Darstellung über die Arendt-Rezeption im deutschsprachigen Raum an. Auch über die Wissenschaften hinaus spielten ihre Thesen kaum eine Rolle in der bundesrepublikanischen Diskussion der 1950er und 1960er Jahre. Die Autorin selbst hielt sich weitgehend aus den politischen Entwicklungen in ihrem Herkunftsland heraus (Heuer 1997: 21–22). Hingegen erfreute sich der herrschaftsstrukturelle Ansatz ungleich intensiverer Rezeption (u. a. Wippermann 1997b: 21; Siegel 1999: 321). Er habe »im wissenschaftlichen Bereich wohl die größte Breitenwirkung erzielt« (Jesse 1983: 470). Dieser Ansatz fügte sich, wie gezeigt, gut in die außenpolitische Frontstellung ein und verschaffte ihr wiederum wissenschaftliche Legitimation. Starken Einfluss hatte der herrschaftsstrukturelle Ansatz auch über die staatliche politische Bildung. Am 5. Juli 1962 beschloss die Konferenz der Kultusminister die Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht. Als eine Form des Totalitarismus gilt darin auch die Sowjetunion unter Chruschtschow (Borcherding 1965: 99–100). Knütter (1988: 30) weist darauf hin, dass sich »diese Richtlinien in allen Lehrplänen der Bundesländer niedergeschlagen haben«. Wie bereits in Kapitel 6.1.3 angedeutet, stand der Totalitarismusansatz auch der 157

6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

BfH/BpB intellektueller Pate (u. a. Hentges 2013: 85, 291–292). Dennoch geht die Einschätzung von Gerhard Lozek (1995: 16) über die Einfluss des herrschaftsstrukturellen Totalitarismusansatzes zu weit: Durch Vereinfachung leichter handhabbar bestimmte sie [die herrschaftsstrukturelle Totalitarismustheorie; M. F.] in der Folgezeit das gesamte Bildungswesen und die öffentliche Meinung in der BRD und anderen westlichen Ländern.

Für die 1950er und 1960er Jahre kann festgehalten werden, dass der herrschaftsstrukturelle Totalitarismusansatz großen Einfluss in der Wissenschaft hatte und von dort aus auf die Politik und politische Bildung ausstrahlte. Dies änderte sich Ende der 1960er Jahre jedoch – zumindest für den Bereich der Wissenschaft – abrupt. Exkurs: Die kurze Renaissance der Totalitarismusforschung Die Hochphase der Totalitarismusforschung war Ende der 1960er Jahren vorbei. Als politisches Instrument war sie im Zuge der Entspannungspolitik der Regierung unter Willy Brandt (Kapitel 3.1.3) mehr Hindernis, denn wissenschaftlicher Begründungszusammenhang politischen Handelns. Durch die Reformen in der Sowjetunion nach Stalins Tod geriet vor allem der herrschaftsstrukturelle Ansatz empirisch immer weiter in die Defensive und an den Universitäten ersetzte die Faschismusforschung diese – als Instrument des Kalten Krieges diskreditierte – Konzeption (Kailitz 1997: 226; Kraushaar 1999: 493, 497–498). Karl Dietrich Bracher (1978: 105) sprach gar von einer »Verfemung oder Tabuisierung des Totalitarismusbegriffs«. 1983 fragte Jesse vorsichtig nach einer Renaissance der Totalitarismuskonzeption? und bezog sich vor allem auf zwei Sammelbände (Funke 1978b; Plum 1980) und die Arbeiten von Bracher (1976, 1978), in denen an der Konzeption festgehalten wird. Alfons Söllner (1997a: 14) hingegen sah Bracher in den 1980er Jahren als »einsamen Rufer in der Wüste«.131 Spätestens nach dem Ende des Kommunismus feierte die Totalitarismusforschung ihr »Comeback« (Rabinbach 2009: 7) und hatte »Hochkonjunk____________________ 131

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Von den wenigen Veröffentlichungen der 1970er und 1980er Jahre, die am Totalitarismusansatz festhielten, wurde ein Großteil von der Bundeszentrale (oder den Landeszentralen) für politische Bildung herausgegeben (Schlangen 1972; Funke 1978b; Löw 1988b). Auch in den 1990er Jahren gab es mehrere Herausgeberschaften der BpB (u. a. Jesse und Kailitz 1997; Jesse 1999b).

6.2 Wissenschaft: Totalitarismusforschung

tur« (Kailitz 1997: 220). Auch Backes und Jesse (1992: 23) sprachen nun von einer »jetzt mit Sicherheit einsetzenden Renaissance«. In der BRD schlug sich diese Renaissance in Form mehrerer Sammelbände nieder, die eine Aktualisierung bisheriger Ansätze diskutierten (Maier 1996; Jesse und Kailitz 1997; Maier 1997; Söllner 1997b; Siegel 1998; Jesse 1999b; Maier 2003). Zwar lag der Schwerpunkt weiterhin auf dem herrschaftsstrukturellen Ansatz (Miliopoulos 2009: 34), wobei auch eine »Arendt-Renaissance« (Ganzfried und Hefti 1997b: 7 Hervorh. im Original) in Form mehrerer Sammelbände zu ihrem Werk zu verzeichnen ist (u. a. Grunenberg und Probst 1995; Ganzfried und Hefti 1997a). Theoretische Weiterentwicklungen oder breit rezipierte Monografien erschienen jedoch nicht und Kritik an den Ansätzen gab es nach wie vor (Glaeßner 1995; Schöngarth 1996; Wippermann 1997b; Roth 1999). Bemerkenswert ist, dass sich auch eher links stehende Autor_innen des Begriffs wieder bedienten (Kraushaar 2001a). Hier sticht Lozek (1985) heraus, der noch vor dem Beitritt der DDR zur BRD das Buch Die TotalitarismusDoktrin im Antikommunismus für die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED verfasste. Zehn Jahre später fragte er Totalitarismus – (k)ein Thema für die Linke? (Lozek 1995) und kommt zu dem Schluss: »Die Totalitarismus- Problematik [sollte] ein wichtiges Thema für demokratische Linke sein« (Lozek 1995: 7). Er begründet dies mit den evidenten Ähnlichkeiten zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus. Söllner konstatiert daraufhin eine »wohltuende Unbefangenheit im Umgang mit diesem lange Zeit überpolitisierten Begriff« (Söllner 1997a: 16). Herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass zumindest Stalinismus und Nationalsozialismus als totalitär bezeichnet werden können, war die Einschätzung über den totalitären Charakter der DDR hoch umstritten. Wurde in den 1970er und 1980er Jahren eine solche Zuschreibung weitgehend zurückgewiesen, mehrten sich nach dem Zusammenbruch der DDR die Stimmen, diese als totalitär zu klassifizieren (Jesse 1994: 12– 13). Vor allem Vertreter_innen des herrschaftsstrukturellen Ansatzes untersuchten diese Frage und kamen zu dem zweideutigen Ergebnis, dass die DDR eine »autalitäre Diktatur« (Jesse 1994: 23) sei132 bzw. es sich um eine »(spät-)totalitäre Gesellschaft« (Schröder 1998) handelte. Gerd Wiegel und Robert Erlinghagen (1999: 186–187) sehen darin theoretisch und em____________________ 132

Jesse bezeichnet mit dieser Begriffsschöpfung eine Mischform aus autoritär und totalitär.

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6. Antitotalitarismus verfestigt sich weiter – erste Zwischenphase

pirisch nicht begründete Versuche, die DDR unter das Label zu subsumieren. Zwar setzte sich die Klassifizierung als totalitär nicht durch, jedoch war die Aufarbeitung der DDR von der totalitarismustheoretisch fundierten Figur der ›beiden deutschen Diktaturen‹ geleitet. Einen wichtigen Beitrag dazu leitete die Enquete-Kommission des Bundestags Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland (Jesse 1999a: 10–11). Im Mittelpunkt stand von Beginn an nicht die gemeinsame Geschichte und Interaktion der beiden deutschen Staaten nach 1945, sondern der Vergleich zwischen dem Nationalsozialismus und der DDR. Kritiker_innen befürchteten dadurch eine Nivellierung der Unterschiede zwischen beiden Regimen (u. a. Klotz 1999; Roth 1999; Wippermann 2009). Die totalitarismustheoretische Gegenüberstellung von der BRD zu den ›beiden deutschen Diktaturen‹ ist aktuell vor allem in der Geschichts- und Gedenkstättenpolitik virulent (Siebeck 2016; Siebeck und Wrochem 2016). Obwohl der Totalitarismusbegriff in den 1990er Jahren ohne Zweifel eine Renaissance erlebte und neben dem herrschaftsstrukturellen auch andere Ansätze wiederbelebt wurden (Wiegel und Erlinghagen 1999), flaute die Renaissance bald ab (Kraushaar 2001b) und »ist heute verebbt« (Rensmann 2011: 398).133 6.3

Einordnung

In den 1950er und 1960er Jahren verfestigte sich die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie, wie sie in Kapitel 5 rekonstruiert wurde. Maßgeblich trug dazu der Eintritt der Institutionen politischer Kontrolle in die hegemoniale Diskurskoalition bei. Sie speisten die eigentliche Bedeutung von Demokratie auf unterschiedliche Art und Weise in den politischen Diskurs ein. Dabei zeigten sich besonders enge Wechselwirkungen zwischen der staatlichen politischen Bildung und dem herrschaftsstrukturellen Totalitarismusansatz. Dieser Ansatz stellte die wissenschaftliche Legitimation für die staatliche Abgrenzungspolitik der 1950er und 1960er Jahre bereit. Sie betraf sowohl die außenpolitische Frontstellung als auch das Vorgehen ____________________ 133

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Kontinuierlich veröffentlicht das 1993 in Dresden gegründete Hannah Arendt Institut für Totalitarismusforschung zum Thema in der Schriftenreihe und gleichnamigen Zeitschrift Totalitarismus und Demokratie. Neuere Studien, die den Totalitarismusbegriff prominent verwenden, diskutieren meist den Bezug zum politischen Islam (u. a. Tibi 2004; Vollmer 2007; Wahdat-Hagh 2012).

6.3 Einordnung

gegen die sogenannten Feinde im Innern. Der herrschaftsstrukturelle Ansatz impliziert eine strikte Grenze zwischen Demokratie und Totalitarismus, sowie eine Begründung sich gegen die Gefahren von links und rechts gleichermaßen zur Wehr zu setzen, da ihre Ideologien jeweils in den Totalitarismus führten. So wurde der Ansatz im Kalten Krieg »direkt zur politischen Handlungsanweisung« (Söllner 1997a: 15). Obwohl in den meisten Schriften, Reden und Richtlinien von Antitotalitarismus die Rede ist, macht der Kommunismusforscher Gert-Joachim Glaeßner (1995: 14) richtigerweise darauf aufmerksam, dass dies in der Praxis Antikommunismus bedeutete: Die westlichen Demokratien bezogen einen nicht unerheblichen Teil ihrer Legitimation aus der Gegnerschaft gegenüber dem Totalitarismus - und das bedeutete nach 1945 im wesentlichen gegenüber dem Kommunismus.

Doch geriet die antitotalitäre Grenzziehung, die in den Institutionen der politischen Kontrolle und dem politischen Diskurs eine hegemoniale Position innehatte Ende der 1960er Jahre unter Druck. Die weltpolitischen Entwicklungen, die meist mit dem Jahr 1968 identifiziert werden, brachen die Struktur der politischen Ordnung in der BRD auf, was eine Neuformulierung der eigentlichen Bedeutung von Demokratie nach sich zog.

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7.

Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Das hegemoniale Projekt der antitotalitären, wehrhaften Demokratie bildete sich Anfang der 1950er Jahre heraus, erweiterte seine Diskurskoalition und galt bereits 1952 als vorherrschendes Deutungsmuster der politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Diese hegemoniale Position festigte sich in den Folgejahren durch die politische Justiz, den Eintritt des Verfassungsschutzes und der Bundeszentrale für Heimatdienste bzw. Bundeszentrale für politische Bildung in die Diskurskoalition. Diese Institutionen der politischen Kontrolle popularisierten und stabilisierten die Hegemonie. Über die Vorverlagerung des Demokratieschutzes, die restriktive Anwendung der Instrumente der wehrhaften Demokratie und die Abgrenzung gegen rechts und links gleichermaßen, bestand weitgehend Konsens zwischen den zentralen politischen Akteur_innen. In der zweiten Analysephase werde ich nun zeigen, wie die hegemoniale Diskursformation gegen Ende der 1960er Jahre zunehmend Brüche und Risse bekommt: Die Politik der Entspannung nach innen und nach außen, die Ausdifferenzierung der radikalen, linken und der nationalen Opposition sowie alternative Ideen zur Gestaltung der politischen Ordnung machten eine Anpassung bzw. eine ›Vernähung‹134 der Diskursstruktur notwendig (7.1). Dabei wurde die eigentliche Bedeutung der Demokratie nie grundlegend von einer größeren Bevölkerungsgruppe infrage gestellt. Innerhalb des großen Lagers derer, die anknüpfend an die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie die Risse in der hegemonialen Diskursformation zu vernähen versuchten, bildeten sich zwei verschiedene Strategien heraus. Eher konservative Akteur_innen setzten sich für eine nach wie vor restriktive Anwendung der Instrumentarien wehrhafter Demokratie ein, die sich gegen weite Teile der radikalen Opposition richten sollte (7.2). Diese Vernähungsstrategie stand in Konkurrenz zu der, die in erster Linie von sozial-liberalen Akteur_innen favorisiert wurde. Sie nimmt einige Forderungen der linksradikalen Opposition auf und verspricht, durch eine exakte ____________________ 134

Dass Diskurse konstitutiv unabgeschlossen sind und auf einem brüchigen Terrain operieren, was eine Vernähung notwendig macht, wurde in Kapitel 2.1 ausgeführt.

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Grenzziehung lediglich extremistische Positionen auszugrenzen (7.3). Diese beiden Vernähungsstrategien standen sich vor allem in den ersten Jahren der sozial-liberalen Koalition ab 1969 gegenüber, ehe sich bis 1975 die sozialliberale Strategie durchsetzen konnte. 7.1

Risse in der Hegemonie

Bis Ende der 1960er Jahre definierte sich die politische Ordnung der BRD vornehmlich in Abgrenzung zum Totalitarismus. Diese Abgrenzung bekam im Laufe der 1960er Jahre sowohl durch innen- als auch außenpolitische Entwicklungen Risse. War der politische Radikalismus bis »in die Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik eng begrenzt« (Sontheimer 1970: 23), änderte sich dies durch die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die sich zumindest oberflächlich vom historischen Nationalsozialismus abgrenzte und versuchte auch konservative Wähler_innen für sich zu gewinnen. Als Sammelbecken der nationalen Opposition konnte sie nicht ohne Weiteres als ›Nazi-Partei‹ abgestempelt und in das bisherige Abgrenzungsschema integriert werden. Sie zog bis 1968 in sieben Landesparlamente ein und versank nach dem verpassten Einzug in den Bundestag 1969 bald darauf für viele Jahre in der Bedeutungslosigkeit (Dudek und Jaschke 1984: 280–355; Botsch 2012: 46–51). Noch deutlicher und nachhaltiger differenzierte sich die radikale linke Opposition aus. Wichtig für die Entstehung und Entwicklung der linken außerparlamentarischen Opposition waren unter anderem die geplanten Notstandsgesetze, der Krieg in Vietnam und die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion. Viele Protagonist_innen dieser Protestbewegung wandten sich vom Kommunismus sowjetischer Prägung ab und maoistischen, trotzkistischen, rätedemokratischen oder anarchistischen Ideen zu. In Abgrenzung zur Alten Linken, bestehend aus KPD und anderen moskautreuen Organisationen, wurde diese heterogene Bewegung Neue Linke genannt. Die Neue Linke konnte nicht mehr ohne Weiteres mit dem Stalinismus oder der DDR identifiziert und dadurch ausgegrenzt werden. Ende der 1960er Jahre entstanden also politische Bewegungen, die von innen heraus die bestehende Ordnung der BRD infrage stellten, aber nicht mehr in das antitotalitäre Abgrenzungsschema integriert werden konnten. Die Entspannungspolitik gegenüber der DDR und anderen Ostblockstaaten führte zu einer Veränderungen der außenpolitisch begründeten Abgrenzungspolitik. Erste Zeichen der Entspannung setzte die große Koa164

7.1 Risse in der Hegemonie

lition mit der Liberalisierung der politischen Justiz, die sich vor allem gegen Kommunist_innen richtete und u. a. Kontakte in die DDR untersagte, und der Wiederzulassung einer kommunistischen Partei 1968 (Rigoll 2013: 204). Ein tiefgreifender außenpolitischer Wandel kündigt sich in der ersten Regierungserklärung von Willy Brandt (1969: 32C) an: Unser Land braucht die Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten. Aber auf diesem Hintergrund sage ich mit starker Betonung, daß das deutsche Volk Frieden braucht — den Frieden im vollen Sinne dieses Wortes — auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens.

Zu dieser Entspannungspolitik passten die alten Feindbilder und die strikte Abgrenzung gegenüber der DDR und ihren Sympathisant_innen im Innern nicht mehr. Dies führt zu einem Bedeutungsverlust der bis dahin vorherrschenden antitotalitären Abgrenzungspolitik (Jaschke 1991: 12; Glaeßner 1995: 26). Neben der bisher hegemonialen Feindbestimmung wurde die bestehende Ordnung insgesamt zunehmend infrage gestellt. Vor allem in der jungen Generation fand eine Diskussion über Alternativen zur liberalen Demokratie statt (Greven 2011: 180–234). Der von Rudi Dutschke 1967 proklamierte ›Marsch durch die Institutionen‹ befeuerte die Befürchtung, dass die Ideen der Protestbewegung in den Institutionen der Demokratie an Einfluss gewinnen und diese zerstören würden, wie Gert-Joachim Glaeßner (1995: 25) auf den Punkt bringt: Schien nach dem Verbot der KPD und ihrer Nachfolgeorganisationen durch das Bundesverfassungsgericht 1956 die ›kommunistische Bedrohung‹ ausschließlich von außen zu kommen, so signalisierte ›1968‹ für viele den Beginn einer neuen Bedrohung von innen, die noch viel ernster genommen werden mußte, weil sie nicht von einigen Unbelehrbaren ausging, sondern den (zukünftigen) intellektuellen und möglicherweise auch politischen Eliten.

Während die außenpolitische Bedrohung Ende der 1960er Jahre abnahm, intensivierte sich die Wahrnehmung einer Bedrohung von Innen. Vor allem das linksoppositionelle Spektrum erlebte eine inhaltliche Ausdifferenzierung durch die weitgehende Abkehr von orthodox-kommunistischen Positionen. Die skizzierten Entwicklungen stellten die Grenzziehung der antitotalitären, wehrhaften Demokratie infrage, was eine Anpassung an den veränderten gesellschaftlichen Kontext notwendig machte. Oder in anderen Worten: Durch die deutlich hervortretenden Brüche und Risse in der hegemonialen Diskusstruktur, bedurfte es einer Vernähung dieser Bruchstellen. Um den Modus der Vernähung konkurrierten zwei Strategien. Beide forderten eine wehrhafte Demokratie, die gegen ihre Feinde 165

7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

von links und rechts vorgeht und beide knüpften im Kern an die antitotalitäre, wehrhafte Demokratie an. Dennoch zeigen sich erhebliche Unterschiede im Umgang mit den gesellschaftlichen Herausforderungen. 7.2

Konservative Vernähungsstrategie

Die konservative Vernähungsstrategie wird nicht nur von parteipolitisch gebundenen Akteur_innen vertreten, sondern zeichnet sich durch mehrere inhaltliche Punkte aus. Erstens werden ein entschlossenes Vorgehen und eine frühe Anwendung der Instrumente wehrhafter Demokratie gegen jene Gruppen gefordert, die als Feinde der Demokratie gelten. Zweitens werden dieser Personenkreis und die von ihnen ausgehenden Gefahren für die Demokratie weit gefasst. Im Hinblick auf den Kern der Demokratie fällt auf, dass sich eine Ausweitung im Vergleich zu dem in der ersten Analysephase beschriebenen Verständnis andeutet und keine Orientierung an der fdGO stattfindet. Ich rekonstruiere diese Strategie anhand des einflussreichen Essays des Soziologen Helmut Schelsky (1973b), Die Strategie der ›Systemüberwindung‹, das erstmals am 10. Dezember 1971 in der FAZ erschien und eine wichtige Rolle im politischen Diskurs der Folgejahre spielte (7.2.1). Zudem wird die konservative Vernähungsstrategie in einem Antrag der CDU/CSU Bundestagsfraktion zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vom 21. Dezember 1973 vertreten. Dieser Antrag führte zu einer 15-stündigen Verfassungsdebatte im Bundestag, deren einleitende Rede von Alfred Dregger (CDU) auch Teil der Analyse ist (7.2.2). 7.2.1 Die Strategie der Systemüberwindung 1973 veröffentlichte Schelsky135 einen Sammelband mit mehreren Essays, der auch die Abhandlung Strategie der ›Systemüberwindung‹. Der lange ____________________ 135

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Schelsky lehrte bis zu seiner Emeritierung 1978 in Hamburg, Bielefeld und Münster. Bereits 1932 trat er in die SA ein, kurz darauf in den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund und 1937 auch in die NSDAP. Er studierte in der ›Leipziger Schule‹ bei Gehlen und Freyer und erhielt 1943 einen Ruf als außerordentlicher Professor an die Reichsuniversität Straßburg. Wie sein Lehrer Gehlen war Schelsky in der Schulungsarbeit der NSDAP aktiv (Laube 2006: 185–186; Kempf 2012: 23–65; Gallus 2013: 8–9; Rigoll 2013: 304–

7.2 Konservative Vernähungsstrategie

Marsch durch die Institutionen enthielt. In seinem Vorwort schätzt er die Verbreitung dieser Abhandlung auf mittlerweile »mehr als eineinhalb Millionen Exemplare«, übersetzt in mehrere Sprachen (Schelsky 1973b: 19). Das Verteidigungsministerium unter Helmut Schmidt (SPD) druckte das Essay in der Reihe Informationen an die Truppe in einer Auflage von 120.000 und auch das von Hans-Dietrich Genscher (FDP) geführte Innenministerium verteilte es durch den Pressedienst Innere Sicherheit. In Schleswig-Holstein waren alle Behördenmitarbeiter_innen angehalten das Essay zu lesen. Diese Verbreitungswege führten zu Diskussionen im Kieler Landtag und im Deutschen Bundestag und zeigen die politische Relevanz des Aufsatzes (Deutscher Bundestag 1972: 11359C–11360D; Der Spiegel 1973; Rigoll 2013: 304–305).136 Schelskys Essay gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil skizziert er eine Allianz der ›linken Radikalen‹, deren Ziel die Überwindung des Systems sei. Dieses Ziel sieht er in drei gesellschaftlichen Bereichen bereits weit fortgeschritten (Teil 2–4). Dem ersten Bereich ordnet Schelsky die Institutionen der Sozialisation und Kommunikation zu, wie Schulen, ____________________

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322). In der frühen BRD genoss Schelsky über die politischen Lager hinweg Anerkennung, galt aber schon bald als »Wortführer eines bürgerlichen Konservatismus« (Laube 2006: 187). Sein »Rechtsdrift ab den späten 1960er Jahren« (Gallus 2013: 8) isolierte ihn zunehmend und machte ihn zu einem »Ideologen der Neuen Rechten« (Dahrendorf 1975). Der Titel des Essays geht zurück auf die »Strategie der systemüberwindenden Reformen«, die die Jusos bereits 1968 diskutierten (Rigoll 2013: 305). Nach Schelskys Veröffentlichung wurde in politischen Debatten vermehrt Systemüberwindung thematisiert. In den Jahren 1970/71 wurde viermal von Systemüberwindung in Bundestagsdebatten gesprochen, jeweils mit Bezug auf die Strategie der Jusos. In den Folgejahren (1973 8x, 1974 5x und 1975 5x) taucht der Begriff deutlich häufiger in diesen Debatten auf, meist mit klarem Bezug zu Schelsky. Vor allem Vertreter_innen der Union verwendeten ihn, um auf die vermeintlich systemgefährdenden Elemente in den Regierungsparteien aufmerksam zu machen. Offensichtlich Kenntnis von dem Essay hatte bspw. der CDU-Abgeordnete Barzel (1972: 11793C), der in einer Diskussion zu den Ostverträgen am 22. September 1972 zu Protokoll gab: »Der Staat, von dem wir reden müssen, ist die Institution, welche die Freiheit sichert. Eine der Wurzeln der inneren Unsicherheit, die viele zu Recht veranlaßt, die Frage zu stellen, ob wohl unsere Staatsautorität zerbröckele, liegt doch in der ›Strategie der Systemüberwindung‹. Diese Strategie nutzt die Freiheiten und die Grundrechte, die unsere freiheitliche Verfassung allen Deutschen gewährt, um die demokratische Grundordnung unseres Gemeinwesens mitsamt seiner wirtschaftlichen Basis zu zerstören. Die Freiheitsrechte der Bürger werden zu Angriffswaffen gegen die rechtsstaatliche Ordnung umfunktioniert.«

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Hochschulen aber auch Kirchen und Parteien. Hier strebten die linken Radikalen mit großem Erfolg nach den Machtpositionen, um die ›Vermittlung von Sinn‹ entscheidend zu prägen. Der zweite Bereich, bestehend aus Außenpolitik, Verteidigung, Justiz, innere Sicherheit und Verwaltung, habe in der Strategie nur eine untergeordnete Relevanz und würde »nach ihrem Sieg [...] sowieso in [ihren] Schoß fallen« (Schelsky 1973b: 28). Der Bereich der Unternehmen, Gewerkschaften und Berufsverbände würde durch eine »Überbietung der Sozialansprüche ohne Rücksicht auf die Funktions- und Leistungsfähigkeit dieses institutionellen Systems« (Schelsky 1973b: 33) stückweise übernommen. Vor allem das Instrument der Mitbestimmung werde zur »Ersatzlösung für die politische Revolution« (Schelsky 1973b: 35) umfunktioniert. Im fünften und abschließenden Abschnitt stellt er fest, dass die Versuche der Systemüberwindung bereits weitgehend erfolgreich gewesen wären.137 Aspekte der Wehrhaftigkeit138 Durch die Strategie der Systemüberwindung sei die bestehende Ordnung in Gefahr. Der Staat sei zu einer Reaktion auf diese Strategie gezwungen, die, so Schelsky (1973b: 29), nur für zwei Möglichkeiten Raum biete: Diese systematische Diffamierung oder Hetze zwingt die Staatsorgane zu einer überpeinlich formalen Wahrung der Freiheitsrechte des einzelnen, obwohl ihnen klar ist, daß damit nur die Lahmlegung ihrer legitimen Aufgabenerfüllung erreicht werden soll. [...] Oder sie werden zu Maßnahmen gezwungen, die zwar den revolutionären Kern dieser Strategie treffen, aber legalistisch fragwürdig sind und damit dem diffamierenden Meinungsgeheul über den ›Obrigkeitsstaat‹ scheinbar begründeten Anlaß geben.

Er schränkt den Möglichkeitsraum des Staates auf die Optionen ein, entweder uneffektiv zu agieren oder legalistisch fragwürdig. Dies impliziert zwei mögliche Folgerungen: Entweder es ist legitim, wenn der Staat gegen ____________________ 137 138

168

Rigoll (2013: 308) merkt kritisch an, dass Schelsky in seinem Essay »fast ohne empirische Belege« auskommt, keine Studien, Umfragen oder offizielle Zahlen nennt und die »extreme Zerstrittenheit der linken Gruppen« nicht erwähnt. Die Darstellung orientiert sich, wie in Kapitel 5, an den drei für diese Arbeit leitenden Fragen. (Kapitel 2.3). Unter Aspekte der Wehrhaftigkeit wird diskutiert, welche Maßnahmen zum Schutz der Demokratie gefordert werden und welcher gesellschaftlich-politischen Kraft zugeschrieben wird, diese Maßnahmen umzusetzen.

7.2 Konservative Vernähungsstrategie

Gesetze handelt, da er sonst in Gefahr wäre, oder es ist notwendig die Gesetze so zu verändern, dass sich das effektive Vorgehen des Staates in deren Rahmen bewegt. Eine weitere Passage legt die zweite Option nahe und macht deutlich, dass Schelsky eine weitere Vorverlagerung des Demokratieschutzes befürwortet. Die entsprechende Passage überschrieb er in der ursprünglichen Fassung des Essays mit »Mißbrauch von Grundrechten« (Schelsky 1971: o. S.). Er problematisiert darin vor allem die »Diffamierung und Verunsicherung der militärischen Verteidigungskraft durch exzessive Inanspruchnahme des Grundrechts der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen« (Schelsky 1973b: 30) und die »exzessive Wahrnehmung der Demonstrationsfreiheit« (Schelsky 1973b: 31). Die Demonstrationsfreiheit diene lediglich der »Emotionalisierung der Öffentlichkeit« (Schelsky 1973b: 31) und schade den außenpolitischen Interessen der BRD. Diese missbräuchliche Verwendung von Grundrechten führe zu einer Destabilisierung und Gefährdung des Staates. Da die bisherigen »systemimmanenten Abwehrmechanismen« (Schelsky 1973b: 37) gegen diese legale Strategie nicht mehr ausreichten, liegt der Schluss nahe, dass es einer (weiteren) Einschränkung der Grundrechte bedürfe, um den Gefahren effektiv und legal begegnen zu können.139 Genau diesen Schluss zieht auch der Wehrbeauftragte des Bundes, der FDP-Politiker Fritz-Rudolf Schultz, in seinem Jahresbericht 1972. Er beklagt die zunehmende Zahl von Kriegsdienstverweigerern, die dabei von Gruppen unterstützt würden, die »offen die ›Systemüberwindung‹« (Deutscher Bundestag 1973: 11) propagierten. Man dürfe diese »erklärten Gegner der Verfassung und der Gesellschaftsordnung« (Deutscher Bundestag 1973: 11) nicht ungestört gewähren lassen. Schultz folgert: »Meines Erachtens werden zur Zeit die rechtlichen Möglichkeiten einer streitbaren Demokratie nicht ausreichend genutzt, diesen Angriffen zu begegnen.« (Deutscher Bundestag 1973: 11). An diesem Beispiel zeigt sich, wie gut die Analyse Schelskys in politische Forderungen zur Vorverlagerung des Demokratieschutzes umgesetzt werden konnte.

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Sehr viel deutlicher führt Schelsky (1973a) dieses Argument in dem Essay Mehr Demokratie oder mehr Freiheit? aus, in dem er scharfe Kritik an den Demokratisierungsbestrebungen der sozialliberalen Bundesregierung übt.

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Kern der Demokratie Nur an wenigen Stellen führt Schelsky aus, welches System denn überwunden werden soll und was genau in Gefahr sei. Im Vorwort des Essays sieht er eine »Gefährdung der liberalen und demokratischen Gesellschaftsordnungen westliche Typs« (Schelsky 1973b: 19). Im weiteren Verlauf wird er nicht viel konkreter oder ausführlicher, sondern sieht die Strategie der Systemüberwindung gerichtet gegen »die politischen Gemeinsamkeiten und Kennzeichen der westlichen Demokratie, ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen und die pluralistische Verteilung ihrer Herrschaftspositionen« (Schelsky 1973b: 20). Diese knappen Ausführungen sind darauf zurückzuführen, dass Schelsky nicht die Vorzüge der bestehenden Ordnung beschreibt, sondern den Fokus auf die Analyse der Gefahren für die Demokratie legt. Gefahren für die Demokratie Schelsky (1973b: 20) beginnt sein Essay mit dem Satz: »Die politische Strategie der linken Radikalen zielt auf ›Systemüberwindung‹.« Kurz darauf benennt er, wer für ihn Teil dieser Gruppe ist: In diesem Sinne reicht die strategische Einheit ›linker Radikalismus‹ von der Deutschen Kommunistischen Partei und ihrer universitären Unterorganisation ›Spartakus‹ über die verschiedensten anarchistischen Gruppen bis hin zur Führung der Jungsozialisten (›Jusos‹) und gewichtigen Teilen der Jungdemokraten (›Judos‹); daß ihr große Teile der westdeutschen Journalisten und der jüngeren Theologen beider Konfessionen, die meisten Studenten- und Assistentensprecher der Hochschulen sowie wesentliche Gruppen der jüngeren Lehrerschaft zuzurechnen sind, auch wenn keine organisatorische Bindung zu Linksorganisationen besteht, ist kaum zu bezweifeln. (Schelsky 1973b: 20).

Im weiteren Verlauf nennt er die »große Mehrheit der professionell Intellektuellen«, da diese Befürworter_innen der »›Systemüberwindung‹ und praktisch für eine Revolution gegen die Verfassung dieses Staates« seien (Schelsky 1973b: 20). Als Beispiel führt er die beiden sozialdemokratischen Kultusminister Ludwig von Friedeburg (Hessen) und Peter von Oertzen (Niedersachsen) auf. All diese Akteur_innen sieht er als Protagonist_innen der Strategie der sogenannten Systemüberwindung, die auf die Abschaffung der liberalen Demokratie hinauslaufe. Sie gelten ihm folglich als Gefahren für die Demokratie. Ihr Vorgehen bezeichnet er in der Einleitung bereits als moderne Strategie der Revolution. Im Kern versteht er darunter eine »Revolution [...] 170

7.2 Konservative Vernähungsstrategie

auf leisen Sohlen« (Schelsky 1973b: 22), deren »Grundsatz darin besteht, die tragenden Werte des ›Systems‹ zum Angriff auf es selbst umzufunktionieren« (Schelsky 1973b: 37 siehe auch 23). Dies geschehe bspw. durch die »exzessive Beanspruchung der individuellen Freiheits- und Grundrechte«, die zu »einem Angriffsinstrument auf die legitimen Aufgaben des Staates selbst ›umfunktioniert‹« würden (Schelsky 1973b: 28). Die Strategie der Systemüberwindung zeige sich modern und sei nicht mit einer herkömmlichen offen gewaltvollen Umsturzstrategie zu vergleichen. Diese Beschreibung entspricht dem, was Thomas Dehler mit kalter Revolution bezeichnet hat (Kapitel 5.2). Wie Dehler vergleicht auch Schelsky dieses Vorgehen mit dem Hitlers, »denn diese Strategen handeln ›legal‹, wenn auch ihre Legalität der Hitlers vor der Machtergreifung entspricht.« (Schelsky 1973b: 37). Schelskys Beschreibung der Gefahren für die Demokratie und die Forderungen, diesen Gefahren mit Härte zu begegnen, ähnelt der ausschweifenden Anwendung und weiten Auslegung der Instrumente wehrhafter Demokratie, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren gegen innenpolitische Gegner_innen erfolgte. Es zeigen sich deutliche Parallelen zur antitotalitären, wehrhaften Demokratie, für deren Beibehaltung er trotz des veränderten Kontextes eintritt. Eine ähnliche Form der eigentlichen Bedeutung von Demokratie zeigt sich auch in Forderungen der Unionsfraktionen. 7.2.2 Die Position von CDU und CSU Die Position der Unionsparteien in der ersten Hälfte der 1970er Jahre hinsichtlich der politischen Ordnung möchte ich an zwei Texten verdeutlichen. Am 21. Dezember 1973 stellte die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag einen Antrag zur Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Antrag enthält zehn knapp formulierte Forderungen, welche der Bundestag verabschieden solle. Die dadurch erzwungene Bundestagsdebatte vom 14. und 15. Februar 1974 war von der Unionsregie als Abrechnung mit der Regierung wegen angeblicher Mißachtung des Grundgesetzes und als einer der Höhepunkte der parlamentarischen Auseinandersetzung dieses Jahres geplant (Der Spiegel 1974: o. S.).

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Im Zentrum der Rekonstruktion der Position der Unionsfraktionen steht die Eröffnungsrede dieser Aussprache durch das Vorstandsmitglied der CDU/CSU-Fraktion Alfred Dregger140, die mit Ausschnitten aus dem Antrag ergänzt werden. Dregger zeichnet in seiner Rede das Bild einer gefährdeten Demokratie. Die Außenpolitik der Bundesregierung und ihre innenpolitische Schwäche führten gegenüber den 20 Jahren zuvor zu einem erheblichen Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Der Bestand des Staates sei vor allem durch die Schulpolitik und die Situation an den Universitäten gefährdet. Die Regierung sei dabei Teil des Problems, da sie sich nicht von radikalen Kräften inner- und außerhalb ihrer Parteien abgrenze. Dregger plädiert für eine wehrhafte Demokratie, die sich mit den Verfassungsfeind_innen inhaltlich auseinandersetzen solle, aber auch rechtsstaatliche Mittel anwenden müsse (Dregger 1974). Aspekte der Wehrhaftigkeit Dregger sieht in der wehrhaften Demokratie die Garantie für den Bestand der Bundesrepublik: Wie soll ein Staat Bestand haben, der auf Selbstverteidigung verzichtet, der das Gewaltmonopol mit anderen teilt (Dregger 1974: 5012B). Meine Damen und Herren, den demokratischen Staat intakt zu erhalten, die Grenze zu den Verfassungsfeinden deutlich zu ziehen und offensiv zu verteidigen, das ist [...] die Pflicht jedes demokratischen Politikers. (Dregger 1974: 5012C).

In beiden Passagen fordert er eine Demokratie, die sich gegen ihre Feind_innen verteidigt. Dabei geht es ihm in erster Linie um die Verteidigungsfähigkeit des Staates, worauf ich weiter unten noch einmal eingehe. Ebenso deutlich spricht er sich für die Anwendung der Instrumentarien wehrhafter Demokratie aus, was die SPD seiner Meinung nach vernachlässige. Er selbst befürwortet deren frühe Inanspruchnahme: Wer aus dieser Beurteilung allerdings den Schluß zieht, der demokratische Staat dürfe rechtsstaatliche Mittel erst einsetzen, wenn alle anderen Mittel versagen, unterliegt einer Fehlschätzung. (Dregger 1974: 5005D).

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Der promovierte Jurist war ab 1962 Mitglied des hessischen Landtags, ehe er von 1972 bis 1998 als Abgeordneter im Deutschen Bundestag saß. Dregger war ab 1940 Mitglied der NSDAP, was er lange erfolgreich geheim hielt, und gehörte dem nationalkonservativen Flügel der Union an (Klausch 2011).

7.2 Konservative Vernähungsstrategie

Eine konkrete Forderung ist die strikte Anwendung des Radikalenerlasses, dessen Auslegung 1974 stark umstritten war. Diese Forderung geht aus dem Antrag der Unionsfraktion (1973: 1) hervor: »Wer gegen den demokratischen Staat arbeitet, kann nicht in seinem Dienst stehen«, heißt es dort. Genau dieser Punkt fehle in der Vorstellung der Regierungskoalition, kritisiert Dregger (1974: 5007C).141 Indem sich Dregger für eine strikte Anwendung der Instrumente der wehrhaften Demokratie ausspricht, befürwortet er auch eine weitere Vorverlagerung des Demokratieschutzes, als dies die Regierung seines Erachtens praktizierte. Denn der Staat solle rechtsstaatliche Mittel nicht als Ultima Ratio einsetzen und bspw. den Radikalenerlass konsequenter anwenden. Diese Forderungen ähneln der Anwendung des politischen Strafrechts in den 1950er und 1960er Jahren, vor dessen Liberalisierung. Im Gegensatz zu dieser Zeit geht Dregger hinsichtlich der Beschreibung des Kerns der Demokratie über das hinaus, was bislang als dessen unbedingte Bestandteile galt. Kern der Demokratie Dregger verweist auf einen Konsens, der in der BRD bisher zwischen allen Parteien galt. Ohne ihn »kann eine Diktatur überleben, eine freiheitliche Demokratie nicht« (Dregger 1974: 5003B). Dieser Konsens umfasst die »Grundnormen der Verfassung«, »die Republik des Grundgesetzes« und keine »Zusammenarbeit mit Verfassungsfeinden von rechts und links« (Dregger 1974: 5003A; siehe auch Fraktion CDU/CSU 1973: 1). Weitere unabdingbare Elemente des Demokratiekerns sind »Rechtsstaatlichkeit, [...] Pluralismus in Staat und Gesellschaft und die Grundrechte des Menschen« (Dregger 1974: 5007A). Die bisher aufgezählten Punkte entsprechen in etwa jenen Elementen des Kerns der antitotalitären, wehrhaften Demokratie (Kapitel 5). Zwei Forderungen des Antrags, die auch von Dregger aufgegriffen werden, gehen darüber hinaus. Der achte Punkte des Antrags dringt darauf, »die soziale Marktwirtschaft [...] zu fördern« (Fraktion CDU/CSU 1973: 1). ____________________ 141

Dregger bezieht sich dabei auf den Antrag von SPD und FDP betr. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1974 (Fraktion FDP und Fraktion SPD 1974), der einen Tag vor der Debatte veröffentlicht und zur Abstimmung gestellt wurde.

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Punkt zehn sieht eine außenpolitische Westbindung als Garant, »die freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vor der Bedrohung von außen« (Fraktion CDU/CSU 1973: 2) zu schützen. »Was das Westbündnis für die Freiheitssicherung nach außen bedeutet, das bedeutet das System der sozialen Marktwirtschaft für die Freiheitssicherung nach innen«, so auch Dregger (1974: 5007D). Sowohl eine außenpolitische als auch eine wirtschaftspolitische Ausrichtung ist dem Kern der Demokratie, wie er in der ersten Analysephase herausgearbeitet wurde, nicht enthalten. Dregger geht also über diese Bestimmung hinaus. Folgerichtig ist weder im Antrag noch in der Rede die fdGO ein Bezugspunkt. Denn diese impliziert – trotz der Möglichkeit sie weit auszulegen – keine bestimmte außen- oder wirtschaftspolitische Orientierung. Dregger versucht eine solche aber festzuschreiben und als unabdingbaren Bestandteil der Demokratie zu präsentieren. Aus diesen Forderungen ergibt sich eine Beschreibung der Gefahren für die Demokratie, die nicht nur gegen die fdGO, sondern auch die beiden ergänzenden Aspekte gerichtet sind. Gefahren für die Demokratie Als aktuelle Gefahr sieht Dregger (1974: 5002B, C) einen »breiten Vertrauensschwund«, ausgelöst durch den Wortradikalismus der Systemveränderer, der hier und da in Gewalt umschlägt, durch die revolutionäre Situation an einigen Universitäten, durch die Umfunktionierung mancher Schulen, durch den Abbau bisher für sicher gehaltener Wertvorstellungen und Institutionen, wie er sich z. B. im Bummelstreik beamteter Fluglotsen ausdrückte, und durch die Unsicherheit und Schwäche, mit der die Regierung diesen Erscheinungen begegnet bzw. nicht begegnet.

Die Bereiche, in denen er Probleme ausmacht, sind ebenso vielfältig wie die dafür verantwortlichen Protagonist_innen. Diese bezeichnet er mal als »Systemveränderer« (Dregger 1974: 5002B, 5008C, 5009D, 5011D), als »Systemüberwinder« (Dregger 1974: 5011B), als »Radikale« (Dregger 1974: 5007A, 5009D, 5010C), als »Extremisten« (Dregger 1974: 5006D) oder als »Verfassungsfeinde« (Dregger 1974: 5003A, 5007C, 5011C, 5012C). Auch im Antrag der Unionsfraktionen werden die Protagonist_innen der Gefahren mal als »Systemveränderer«, »Verfassungsfeinde« oder »linksradikale Gruppen« bezeichnet (Fraktion CDU/CSU 1973: 1).

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7.2 Konservative Vernähungsstrategie

Diese verschiedenen Bezeichnungen werden ohne erkennbare Differenzierung verwendet und umfassen ein Spektrum, das bis in die Regierungsparteien hinein reicht. Denn als Beleg für die schwindende Stabilität der BRD führt Dregger den »Juso-Kongreß in München« (Dregger 1974: 5003B, C) und die Aussagen des stellvertretenden Vorsitzenden der SPDJugendorganisation, Johano Strasser, an. Diese würden das »Klassenkampfschema des 19. Jahrhunderts« (Dregger 1974: 5004A) verfolgen. Mangelnden Respekt gegenüber der Gerichtsbarkeit sieht er in Artikeln der SPD-Zeitung Vorwärts und den Aussagen des SPDBundestagsabgeordneten Karl-Heinz Hansen (Dregger 1974: 5011C, D). Sie äußerten »dieselben Argumente, die heute von Moskau und Ost-Berlin gegen die Bundesrepublik und ihre Rechtsposition ins Feld geführt werden« (Dregger 1974: 5011C). Auch die Position des »Godesberger Programms, die Demokratie werde erst durch den Sozialismus erfüllt, [sei] antipluralistisch, antidemokratisch und im Grunde totalitär« (Dregger 1974: 5005B). Vor allem in dieser Aussage schlägt sich seine erweitere Fassung des Kerns der Demokratie nieder, der eine bestimmte Wirtschaftsform umfasst. Bemerkenswert ist an der Gefahrenbeschreibung von Dregger zudem, dass er unabhängig vom direkten historischen Kontext auf die gleichsame Gefährlichkeit von links und rechts aufmerksam macht: »Rechts- und Linksextremismus sind gleich schlimm.« (Dregger 1974: 5006D). Und: »Wer Freiheit und Demokratie bewahren will [...], muß deshalb beide Radikalismen in gleicher Entschiedenheit ablehnen und bekämpfen.« (Dregger 1974: 5007B). Ihm geht es aber nicht darum, von der aktuell als größer wahrgenommenen ›Gefahr von links‹ abzulenken, sondern um einen Verweis auf die Weimarer Republik, die »zwischen beiden Radikalismen zerrieben worden ist, zwischen NSDAP und KPD« (Dregger 1974: 5007A). Im weiteren Verlauf der Rede baut er die historische Parallele aus, indem er die jeweilige Situation an den Hochschulen in Bezug setzt. So seien durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen, provoziert durch die ›Systemveränderer‹, »die Parallelen zu den Jahren vor 1933 [...] unverkennbar« (Dregger 1974: 5010A). Zudem klängen die Aussagen von NSStudentenbund wie »die Töne von SDS, SHD und anderen kommunistischen und sozialistischen Gruppen an unseren Universitäten« (Dregger 1974: 5010C). Durch die Parallelisierung der ›68er‹ mit dem aufkommenden Nationalsozialismus in den Jahren vor 1933 setzt er nicht nur die linken studentischen Gruppen mit Nationalsozialist_innen auf eine Stufe, sondern unterstreicht seine Forderung nach Anwendung rechtsstaatlicher Mittel, da ein 175

7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

zu zögerliches Vorgehen, ein weiteres Mal das Ende der Demokratie in Deutschland bedeuten könne. 7.2.3 Eigentliche Bedeutung von Demokratie Sowohl Schelsky als auch die Union fordern einen Ausbau bzw. eine striktere Anwendung der Instrumente wehrhafter Demokratie, um den Gefahren für die bestehende politische Ordnung zu begegnen. Schelsky plädiert darüber hinaus für eine Einschränkung von Freiheitsrechten, um deren vermeintlichen Missbrauch zu verhindern. Beide plädieren für eine sogenannte Wehrhaftigkeit nach unten, was sich auch darin verdeutlicht, dass als Schutzgut der Staat und seine Organe im Mittelpunkt stehen, wie Dregger (1974: 5011B, C) mit direktem Bezug auf Schelsky verdeutlicht: Es gehört dementsprechend zur Strategie der Systemüberwinder, den Staat und insbesondere die Staatsorgane, die diese Friedensordnung zu sichern haben, also Justiz und Polizei, funktionsunfähig zu machen.

Dies sind Hinweise darauf, dass, wie auch in der ersten Analysephase gezeigt, der Staat als eigentlicher Verfechter der Demokratie verstanden wird. Neben der Befürwortung einer wehrhaften Demokratie zeigt sich in allen Texten eine breite Fassung der Gefahren für die Demokratie. Die Gruppe der sogenannten Feinde der Demokratie reicht von der DKP, dem SDS bis hin zu den Jusos, bei Schelsky umfasst sie auch noch einen Großteil der jungen Lehrer_innen, Theolog_innen und Teile des Hochschulpersonals. Dregger bezeichnet das Godesberger Programm als antidemokratisch. Auffallend ist, dass es dieser Strategie nicht gelingt, die Gefahren auf einen Begriff zu bringen. Der von Schelsky maßgeblich geprägte Begriff der Systemveränderung sickert zwar in den politischen Diskurs ein, setzt sich aber letztlich nicht durch. In den rekonstruierten Texten zeigt sich folgendes Problem: Wie in den 1950er und 1960er Jahren gelten Protest und radikale Kritik als Gefahr für die Demokratie. Durch die Ausdifferenzierung vor allem der linksradikalen Strömungen und dem Anwachsen des Protestpotenzial bis hinein in die Regierungsparteien können Protest und radikale Kritik jedoch nicht mehr mit totalitären Regimen identifiziert und somit ausgegrenzt werden. Durch die Entspannungspolitik und die Ausdifferenzierung der radikalen Opposition zeigt sich der Totalitarismusbegriff zur Abgrenzung gegen die Feinde der Demokratie als unbrauchbar. Trotz des veränderten historischen Kontexts versucht die konservative Vernähungsstrategie die Abgrenzung der 176

7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie

1950 und frühen 1960er Jahre beizubehalten. Sie scheitert aber dabei den Kern der Demokratie und die Gefahren auf einen Begriff zu bringen, was für eine stabile Formation notwendig wäre. Dies gelingt der sozialliberalen Strategie mit der Gegenüberstellung von fdGO und Extremismus deutlich besser. 7.3

Sozialliberale Vernähungsstrategie

Die sozialliberale Vernähungsstrategie ist eng mit der Regierungskoalition aus SPD und FDP ab 1969 verknüpft, aber weder auf diese beschränkt, noch in dieser unumstritten. Dies zeigt etwa die Verbreitung der Schriften Schelskys durch Minister dieser Koalition (s. o.). Charakteristisch für die Strategie ist der Versuch, eine möglichst exakte Grenze zwischen der Demokratie und ihren Feind_innen zu ziehen, was auf eine Entgegensetzung von der fdGO als dem Kern der Demokratie und Extremismus, anfangs noch Radikalismus, hinausläuft. Eine ausufernde Verfolgung der Opposition wie bis in die 1960er Jahre hinein solle sich nicht wiederholen. Der SPD, aber auch der FDP gelang es, einen Teil des Protestpotenzials der ›68er‹ einzubinden und mit dem Versprechen, weitgehende Reformen umzusetzen, für sich zu gewinnen (Glaeßer u. a. 1984: 6; Scherer 1984: 73). Im Bereich Soziales und Bildung konnte die Koalition ab 1969 einige ihrer Vorhaben umsetzen, war dem Gegenwind der Opposition aber vor allem durch ihre Ostpolitik ausgesetzt (Kapitel 3.1.3). Dieser Gegenwind, die Nähe von Teilen der Regierungsparteien zu den Protestbewegungen und die Gewalt, die von einzelnen linken Gruppen ausging und erste terroristische Züge annahm, drängte die Regierung zu einer Abgrenzung nach links (Lehmann 1995: 229; Schultz 2011: 159–186). Der erste Baustein dieser Abgrenzung war der ›Anti-Aktionseinheitsbeschluss‹ des SPD-Bundesvorstands vom 14. November 1970. Er untersagte SPD-Mitgliedern gemeinsame Veranstaltungen, Publikationen, Aufrufe oder Flugblätter mit Mitgliedern der DKP oder der SDAJ (Vorstand der SPD 1973: 555). Der Beschluss basierte auf einem Diskussionspapier mit dem Titel Sozialdemokratie und Kommunismus, das Richard Löwenthal im Auftrag des SPD-Vorstands verfasste (abgedruckt in

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Schultz 2011: 213–216).142 Der zweite Baustein besteht aus den verschiedenen Bemühungen eine bundesweit einheitliche Regelung zu finden, um vermeintliche oder tatsächliche Verfassungsfeind_innen aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten (7.3.1). Diese Bemühungen, in deren Mittelpunkt der Radikalenerlass stand, führten zu den »intensivsten öffentlichen Debatten über die streitbare Demokratie in der Geschichte der Bundesrepublik« (Flümann 2015b: 250). Die Umsetzung dieser Regelungen bedurfte einer exakten Bestimmung der Grenze zu den Verfassungsfeind_innen. Verantwortlich dafür war in erster Linie der Verfassungsschutz. Im Vorwort des Verfassungsschutzberichts von 1975 geht der damalige Innenminister Werner Maihofer (FDP) auf diese Problematik der Grenzziehung ein. Die von ihm vorgenommene Bestimmung des Kerns der Demokratie und der Gefahren für die Demokratie bestehen mit leichten Veränderungen bis heute fort und sind der dritte Baustein der sozialliberalen Abgrenzung (7.3.2). 7.3.1 Diskussion um den Radikalenerlass Seit Mitte der 1950er Jahre enthielten die Beamtengesetze die Klausel, Beamt_innen sollen sich inner- und außerhalb ihres Dienstes für die fdGO einsetzen (Jesse 1980: 57–61; Rudolf 2003: 210–211, 217–219). Beachtung fanden diese Klauseln vermehrt infolge des angekündigten ›Marsches durch die Institutionen‹.143 Im Sommer 1971 wurde eine parteiübergreifende Arbeitsgruppe einberufen, um zu klären, wie eine »Infiltration des öffentlichen Dienstes durch verfassungsfeindliche Kräfte zu verhindern« sei, so Genscher in einem Brief an den Chef des Bundeskanzleramts Horst Ehmke (zitiert nach Rigoll 2013: 272). Ziel war es, über die Parteigrenzen hinweg eine einheitliche Regelung in den Bundesländern zu finden. Der Druck zu Handeln erhöhte sich durch die Entscheidung des Hamburger Senats vom 23. November 1971, »Aktivitäten des Bewerbers [für den öffentlichen Dienst, M. F.] in rechts- oder linksradikalen Gruppen [für] unzulässig« zu erklären (abgedruckt in Kuratorium für staatsbürgerliche Bil____________________ 142 143

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Da der Beschluss nur sehr knapp gehalten wird und vor allem durch außenpolitische Überlegungen begründet ist, eignet sich dieser erste Baustein der Abgrenzung nicht für die Detailanalyse. Über die Anwendungspraxis der Klauseln des Beamtenrechts gab es vor 1970 kaum öffentliche Debatten und es existieren auch keine Zahlen über die damit begründeten Ablehnungen von Bewerber_innen (Flümann 2015b: 254–255).

7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie

dung 1972: 21). Am 28. Januar 1972 veröffentlichten schließlich die Ministerpräsidenten der Länder und der Bundeskanzler eine Regelung zur Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst. Dieser Beschluss war in den Folgejahren als Radikalenerlass oder ›Extremistenbeschluss‹144 Gegenstand intensiver innenpolitischer Auseinandersetzungen. Eine einheitliche Regelung konnte er aber nicht herstellen, da die Auslegung und Anwendung des Erlasses in den Bundesländern, meist entlang der Parteigrenzen, stark differierte (Frisch 1976: 152–202). Strittig war, ob eine Regelanfrage zu den Bewerber_innen beim Verfassungsschutz zulässig sei145 und ob Mitglieder einer vom Verfassungsschutz als verfassungsfeindlich eingestuften, aber nicht verbotenen Partei automatisch der Zugang verwehrt werden solle (Maier 1977; Rudolf 2003: 219–220). 1975 sprach das BVerfG sein lange erwartetes Urteil bezüglich des Radikalenerlasses. Es bestätigte den Erlass und vermied es den Behörden vorzuschreiben, wie sie mit Mitgliedern verfassungsfeindlicher Organisationen verfahren sollten. Damit stellte das Gericht keine Klarheit über die umstrittene Praxis her. Das Urteil wurde von vielen Seiten kritisiert, unter anderem von den Verfassungsrichtern Rupp, Seuffert und Wand, die das Urteil nicht mittrugen und ein Sondervotum abgaben (Maier 1977: 68–78; Rudolf 2003: 224–238; Schulz 2017: 315–318). Im gleichen Jahr erklärte die SPD den Radikalenerlass für gescheitert (Vorstand der SPD 1977: 544–545).146 Brandt räumte 1976 ein: »Ich habe mich damals geirrt« (zitiert nach Maier 1977: 37). Ein entsprechender Gesetzesentwurf scheiterte am Widerstand des Bundesrats, sodass lediglich Bundesländer unter sozialliberaler Führung die Bestimmung lockerten und 1979 die Regelanfrage explizit untersagten (Jesse 1980: 63). Zuletzt nahm 1991 Bayern von der Regelanfrage Abstand (Flümann 2015b: 249). Die Bedeutung von und die Diskussion über den Radikalenerlass verstummten weitgehend (Rudolf 2003: 221; Flümann 2015b: 254), obwohl bis heute ____________________ 144 145

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Teilweise setzte sich in den Folgejahren die Bezeichnung ›Extremistenbeschluss‹ durch. Ich verwende hier und im Folgenden den zeitgenössischen Begriff Radikalenerlass. Diese Regelanfrage wurde durch einen weiteren Beschluss der Innenminister im April 1972 eingeführt. Vor der Einstellung einer Kandidatin wurde beim zuständigen Amt für Verfassungsschutz angefragt, ob Informationen gespeichert sind, die einer Einstellung entgegenstünden (Rigoll 2013: 343–344; Flümann 2015b: 248–249). Auch in der FDP wurde der Radikalenerlass kritisiert und auf dem Parteitag 1978 als »Anfang eines Irrwegs« (zitiert nach Jaschke 1991: 199) bezeichnet.

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Fälle von Berufsverboten öffentlich werden (Kapitel 8.1.1). Aus der Diskussion um den Radikalenerlass, die sich über mehrere Jahre erstreckte, ist der Erlass selbst, aufgrund seiner Bedeutung als zeithistorisches Dokument, Gegenstand der Analyse. Zudem rekonstruiere ich in einem zweiten Teil die Begründung, mit welcher führende Sozialdemokraten ihre Parteinahme für den Beschluss gegenüber der kritischen Basis erklärten. 7.3.1.1 Analyse des Radikalenerlasses In dem von den Ministerpräsidenten der Länder und dem Bundeskanzler am 28. Januar 1972 verabschiedeten Erlass Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst heißt es:147 Nach den Beamtengesetzen in Bund und Ländern darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt, sind Beamte verpflichtet, sich aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen. Es handelt sich hierbei um zwingende Vorschriften. Jeder Einzelfall muß für sich geprüft und entschieden werden. Von folgenden Grundsätzen ist dabei auszugehen: Bewerber: Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Anstellungsantrages. Beamter: Erfüllt ein Beamter durch Handlungen oder wegen seiner Mitgliedschaft in einer Organisation verfassungsfeindlicher Zielsetzung die Anforderungen des Paragraphen 35 Beamtenrechtsrahmengesetz nicht, aufgrund derer er verpflichtet ist, sich durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des GG zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten, so hat der Dienstherr aufgrund des jeweils ermittelten Sachverhaltes die gebotenen Konsequenzen zu ziehen und insbesondere zu prüfen, ob die Entfernung des Beamten aus dem Dienst anzustreben ist. Für Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst gelten entsprechend den jeweiligen tarifvertraglichen Bestimmungen dieselben Grundsätze. (zitiert nach Bethge und Rossmann 1973: 362–363)

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Aufgrund der Kürze des Textes und seiner Bedeutung für den Diskurs um die politische Ordnung, ist er hier in voller Länge wiedergegeben.

7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie

Aspekte der Wehrhaftigkeit Der Erlass ist ein Element zur Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Er schafft zwar kein neues Recht, bekräftigt aber die Regelungen der Beamtengesetze, die ein Eintreten für die fdGO als Voraussetzung zur Einstellung in den Staatsdienst fordern. Damit wird in den Kampf um politische Meinungen in dem Sinne eingegriffen, dass die Parteinahme für bestimmte politische Inhalte erhebliche berufliche Nachteile nach sich ziehen kann.148 Kritiker_innen des Erlasses betonen die disziplinierende Wirkung auf Anwärter_innen für den Öffentlichen Dienst (Rigoll 2013: 366). Der Erlass hat auch dahingehend eine große Reichweite, da er für den gesamten Beamtenapparat, damit auch für Lehrkräfte, Postbeamt_innen oder Lokführer_innen angewendet wurde.149 Kern der Demokratie Der Radikalenerlass bestätigt, was bereits in den Beamtengesetzen geregelt ist. Damit gilt als unverrückbarer Kern der Demokratie die fdGO. Mit dem Zusatz ›im Sinne des Grundgesetzes‹ wird verdeutlicht, dass man sich auf die Definition des BVerfG von 1952 bezieht. Dieser Zusatz ist streng genommen überflüssig, da es keine anderen, konkurrierenden Definitionen gibt. Damit bekräftigt der Erlass den Kern der Demokratie, wie er bereits in der ersten Analysephase herausgearbeitet wurde. Wer gegen ihn opponiert, gilt als Gefahr für die Demokratie und kann somit nicht in den Staatsdienst eintreten.

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Deutlich wird dies bspw. in einem Urteil des Oberlandesgerichts Lüneburg gegen einen Bewerber für den staatlichen Vorbereitungsdienst: »Die Bundesrepublik Deutschland ist im Gegensatz zur Weimarer Republik eine Demokratie, die einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes nicht hinnimmt, vielmehr von ihren Bürgern eine Verteidigung dieser Ordnung erwartet (BVerfGE 28, 48) und Feinde dieser Grundordnung, auch wenn sie sich formal im Rahmen der Legalität bewegen, nicht toleriert (BVerfGE 30, 119f).« (zitiert nach Preuß 1973: 9). Im internationalen Vergleich ist diese Reichweite eine Ausnahme. In den USA bspw. werden nur Anwärter_innen für sicherheitsrelevante Positionen einer Überprüfung auf politische Zuverlässigkeit unterzogen (Flümann 2015b: 259– 263).

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Gefahren für die Demokratie Die Ausführungen zu den Gefahren der Demokratie sind im Erlass sehr knapp gehalten. Im Gegensatz zum Adenauererlass, in dem mehrere Gruppen konkret benannt sind (Kapitel 3.1.1), die als Feinde der Demokratie gelten, verzichten die Ministerpräsidenten der Länder und der Bundeskanzler auf eine genaue Festlegung. Als Gefahren für die Demokratie werden neben ›rechts- und linksradikalen Personen‹, ›verfassungsfeindliche Aktivitäten‹ und ›verfassungsfeindliche Ziele‹ benannt. Welche Personen, Aktivitäten und Ziele dies genau umfasst, war in den Jahren nach Verabschiedung des Erlasses Gegenstand heftiger innenpolitischer Diskussionen. 7.3.1.2 Begründung des Radikalenerlasses durch führende Sozialdemokraten Bald nach dem Inkrafttreten des Erlasses schlossen sich die Jusos den Aktivitäten gegen die Berufsverbote an und forderten 1973 dessen Abschaffung (Vorstand der SPD 1975: 276, 283). Auf dem Parteitag vom 10. bis 14. April 1973 beschloss die SPD eine Präzisierung des Beschlusses, konnte sich aber noch nicht zu einer Abkehr durchringen. Die Antragskommission unter Leitung des Hamburger Innensenators Heinz Ruhnau fasste die 22 im Vorfeld eingereichten Anträge zu einem zusammen, der mit kleinen Veränderungen angenommen wurde.150 Auf und im Vorfeld des Parteitages gab es kontroverse Diskussionen um den Erlass. Dabei setzten sich mehrere prominente Sozialdemokrat_innen aus verschiedenen Parteiflügeln für den Erlass ein. Kern der folgenden Analyse bildet ein Artikel des Niedersächsischen Kultusministers Peter von Oertzen,151 den er am 8. März 1973 im Parteiorgan vorwärts unter dem Titel Das Gerede von ____________________ 150

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Von der Grundidee des Erlasses rückt der Antrag nicht ab, da es unter 1. heißt: »Entsprechend den Vorschriften des Grundgesetzes, der Beamtengesetze und Tarifverträge ist Voraussetzung für die Tätigkeit im öffentlichen Dienst das Bekenntnis und der aktive Einsatz für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes.« (Vorstand der SPD o. J.: 1128). Jedoch wurde für eine Präzisierung plädiert unter Wahrung des Parteienprivilegs und der Einzelfallprüfung (Vorstand der SPD o. J.: 1128–1129). Von Oertzen kann dem linken Flügel der SPD zugeordnet werden, weswegen seiner Befürwortung des Erlasses großes Gewicht zukam.

7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie

der Spaltung veröffentlichte. Ergänzt wird die Analyse durch Auszüge aus der Rede des Hamburger Bürgermeisters Peter Schulz152 auf dem Parteitag 1973 und durch Passagen aus einem Artikel von Richard Löwenthal153 in Die Zeit vom 23. Juni 1972, der die Frage stellt Wer ist ein Verfassungsfeind? Zur Diskussion, ob Beamte im öffentlichen Dienst Kommunisten sein dürfen. Die drei Beiträge decken Positionen verschiedener sozialdemokratischer Strömungen ab. Ihnen gemein ist, dass sie den Radikalenerlass befürworten.154 Zudem zeigen sich Überschneidungen in der Frage, wie die Grenze zu antidemokratischen Positionen von links gezogen werden soll, sodass die Beiträge wichtige Hinweise auf die sozialliberale Vernähungsstrategie geben. Aspekte der Wehrhaftigkeit Von Oertzen spricht sich in seinem Artikel für den Radikalenerlass als einen »legitimen Selbstschutz« (Oertzen 1973: 5) der Demokratie aus. Damit befürwortet er ein zentrales Instrument der wehrhaften Demokratie. Eine weitere Parteinahme für dieses Prinzip oder Forderungen für eine weitere Vorverlagerung des Demokratieschutzes gehen aus seinem Artikel nicht hervor. Im Gegenteil: indem er einräumt, die »Grenzlinie zu Willkür und Gesinnungsterror [sei] sehr fein«, weswegen »alle denkbaren rechts____________________ 152

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Schulz, der dem rechten Flügel der SPD zugeordnete werden kann, war seit 1971 Erster Bürgermeister Hamburgs. In Hamburg wurde bereits vor der Verabschiedung des Radikalenerlasses Gohl, Mitglied der SDAJ, der Zugang zum Öffentlichen Dienst verwehrt. Durch diese Entscheidung wurde einer einheitlichen Regelung vorgegriffen (Rigoll 2013: 298–300). Löwenthal war von 1926 bis 1929 Mitglied der Kommunisten Partei und danach in mehreren linken Organisationen aktiv. Bereits 1935 verließ er Deutschland und engagierte sich ab 1939 von London aus in der Opposition gegen den Nationalsozialismus. 1945 trat er in die SPD ein und arbeitete als Journalist, ehe er 1961 einen Ruf an die Freie Universität Berlin für Politikwissenschaft und Geschichte erhielt. 1970 war er Mitbegründer des Bundes Freiheit der Wissenschaft, dem vornehmlich konservative Wissenschaftler_innen angehörten und der sich als Reaktion auf die Studentenbewegung an mehreren Universitäten formierte (Schultz 2011: 108–159). Der Rückgriff auf drei Texte ermöglicht es, mehrere Positionen innerhalb der Sozialdemokratie abzudecken, ist aber auch notwendig, da es keinen Text gibt, der die Position der SPD zum Radikalerlass ausführlich begründet. Dies ist damit zu erklären, dass dieser Erlass innerparteilich nie unumstritten war und sich die Partei damit nie anfreunden konnte.

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7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

staatlichen Sicherungen beachtet werden« (Oertzen 1973: 5) müssten, macht er auf die Kehrseite solcher Instrumente aufmerksam. Damit unterscheidet er sich von den beiden Vertretern des rechten Parteiflügels, aus deren Äußerungen diese nachdenklichen Töne nicht zu entnehmen sind. Hamburgs Bürgermeister Schulz bekennt sich deutlich zum Prinzip der Wehrhaftigkeit und begründet dies mit der richtigen Lehre aus Weimar. Er führt aus: Dieser zweite Versuch der Demokratie in Deutschland ist nach den Erfahrungen Weimars konzipiert als kämpferische Demokratie, in der die Verantwortlichen nicht nur das Recht, sondern die Pflicht haben, die Grundwerte zu verteidigen. [...] Dies und nichts anderes ist die Motivation für die bestehenden Beamtengesetze, und dies und nichts anderes ist auch die Motivation für die Vereinbarung der Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler. (Schulz o. J.: 892).

Einen Bezug zu Weimar stellt auch Löwenthal in seiner Rechtfertigung des Radikalenerlasses her: Sie haben nicht vergessen, wie die Widerstandsfähigkeit der Weimarer Republik lange vor ihrer Endkrise, lange vor dem Auftreten einer nationalsozialistischen Massenbewegung untergraben wurde durch Beamte, Richter und Lehrer, die als erklärte Gegner der Demokratie von ›rechts‹ ihre Ämter mißbrauchten, um den Widerstand gegen die ›Novemberrepublik‹ zu propagieren und zu begünstigen. Heute sehen die Regierenden und die Parteien die Gegner der Bundesrepublik von ›links‹ am Werk – bemüht, von den Hochschulen aus in Scharen den organisierten ›langen Marsch durch die Institutionen‹ des Staates anzutreten. (Löwenthal 1972: o. S.).

Während Schulz recht unspezifisch auf die richtige Lehre aus Weimar verweist, verknüpft Löwenthal die sozialdemokratische Lesart vom Niedergang Weimars (Kapitel 4.2) mit dem Radikalenerlass. Dieses Instrument der Wehrhaftigkeit bedarf es nicht aufgrund der Legalitätstaktik der Nationalsozialist_innen oder weil die Republik von ihren Feind_innen von links und rechts zerstört wurde, sondern weil sie aufgrund einer undemokratischen Beamtenschaft zugrunde gegangen ist. Dies dürfe sich durch die Zulassung linker Antidemokrat_innen in den Staatsdienst nicht wiederholen. Mit dieser Übersetzung der Lesart von Weimar auf den Kontext der 1970er Jahre rückt Löwenthal die Protestbewegung der ›68er‹ in die Nähe des Nationalsozialismus – zumindest, was ihre Gefährlichkeit für den Kern der Demokratie angeht.

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7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie

Kern der Demokratie Ausführungen dazu finden sich vor allem in den Texten Löwenthals und von Oertzens. Sie artikulieren als unverrückbaren Kern der Demokratie, der von jeder Veränderung ausgenommen werden soll, »unser freiheitliches politisches System« (Löwenthal 1972: o. S. Hervorh. im Original) bzw. »die freiheitliche demokratische Grundordnung« (Oertzen 1973: 5). Damit reartikulieren sie den Kern der Demokratie, wie er im hegemonialen Diskurs der 1950er und 1960er Jahre gefasst ist (Kapitel 5, 6). An mehreren anderen Stellen gehen sie aber darüber hinaus: Sie argumentieren, dass dieser Kern nicht mit den Status Quo gleichzusetzen ist, sondern Veränderungen zulässt. Am Anfang seines Aufsatzes macht von Oertzen (1973: 5) deutlich: »Die SPD ist angetreten, um dieses gegenwärtige Gesellschaftssystem zu verändern» (ebenso Schulz o. J.: 893). Damit wendet er den Vorwurf der Systemveränderung ins Positive. Mit Verweis auf das Godesberger Programm fordert er eine Veränderung hin zum demokratischen Sozialismus, wobei »Rechtsstaat und politische Demokratie [...] unverzichtbare Grundlagen« (Oertzen 1973: 5; ebenso Schulz o. J.: 891) einer solchen veränderten Gesellschaft seien. Damit verweist er wieder auf den unverrückbaren Kern. Auch in der Vorstellung von Löwenthal ist radikale Gesellschaftsveränderung Teil der bestehenden Ordnung: »Eine Organisation mit gesellschaftsverändernder Zielsetzung, wie radikal sie immer sei, ist also keineswegs als solche verfassungsfeindlich.« (Löwenthal 1972: o. S.). Mit diesen Verknüpfungen von Demokratie und Gesellschaftsveränderung bzw. radikaler Kritik gehen die Sozialdemokraten über die bisherige Bestimmung hinaus und reagieren damit auf den gesellschaftspolitischen Kontext. Protest und Kritik soll nicht pauschal ausgegrenzt werden, sondern nur dann, wenn die fdGO gefährdet ist. Gefahren für die Demokratie Die Offenheit für Gesellschaftsveränderung und radikale Kritik wirft die Frage auf, warum dennoch Linke, Sozialist_innen oder Kommunist_innen mittels des Radikalenerlasses dem öffentlichen Dienst ferngehalten werden sollen. Von Oertzen, der sich für eine Gesellschaftsveränderung hin zu einem demokratischen Sozialismus einsetzt, differenziert in verschiedene Wege, die zu diesem Ziel führen. Der Weg der Veränderung verläuft für ihn schrittweise, denn die »SPD erstrebt keine schlagartige und totale Umwälzung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialordnung« (Oertzen 185

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1973: 5). Gesellschaftsveränderung bedeute auch »keinen totalen Umsturz aller bestehenden gesellschaftlichen Institutionen« (Oertzen 1973: 5). Seine Skepsis gegenüber solchen revolutionären Gesellschaftsveränderungsprozessen speist sich aus der Vermutung, diese gingen mit der Aussetzung von Demokratie und Rechtsstaat einher: Daher sind ›sozialistische‹ oder ›kommunistische‹ Organisationen, die – und sei es auch nur für eine Übergangszeit – demokratisch-rechtsstaatliche Formen verwerfen, keine Verbündeten, sondern Todfeinde des Sozialismus. (Oertzen 1973: 5).

Und trotz punktueller Gemeinsamkeiten mit solchen revolutionären Strömungen dürfen unter gar keinen Umständen [...] die prinzipiellen (und nicht bloß taktischen) Gegensätze von Rechtsstaatlichkeit und Willkür, von freiheitlicher Demokratie und Parteidiktatur verwischt werden (Oertzen 1973: 5; siehe auch Löwenthal 1972).

Von Oertzen versucht hier eine Grenze zwischen demokratischem Sozialismus und anderen Kommunismus- oder Sozialismus-Konzepten aufzuzeigen. Konzepte, die einen revolutionären Bruch mit den bestehenden Verhältnissen propagieren, würden sich nicht an demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien halten und, wie sich in anderen Ländern zeige, demokratische Sozialist_innen verfolgen. Indem er einen so verstandenen Sozialismus in Anführungszeichen setzt, macht er deutlich, dass dieser »prinzipiell mit Sozialismus überhaupt nichts zu tun« (Oertzen 1973: 5) habe. Während von Oertzen solchen Strömungen also abspricht, sozialistisch zu sein, hält Schulz (o. J.: 893) sie nicht für links: »Und wer Kommunisten für links, für fortschrittlich, für Weggefährten der Sozialdemokratie hält, der hat Anlaß, sein Demokratieverständnis zu überprüfen.« Die Grenze, die damit gezogen wird, verdeutlicht Löwenthal (1972: o. S.): »Der Unterschied zwischen freiheitlicher Demokratie und Parteidiktatur [ist] unvergleichlich bedeutsamer als der zwischen verschiedenen Eigentumsordnungen.«155 In den Ausführungen zum Kern der Demokratie und den Gefahren für die Demokratie zeigen sich die Versuche, die Grenze zwischen beiden möglichst exakt und differenziert zu bestimmen. Die Anwendung des Radikalenerlasses solle sich von der Kommunistenverfolgung der 1950er und ____________________ 155

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Daraus folgt für ihn auch die zentrale Gemeinsamkeit aller demokratischen Parteien: »Darum besteht eine schlechthin lebenswichtige Gemeinsamkeit zwischen allen Demokraten auch dann, wenn der demokratische Linkssozialist – oder der sozialistenfeindliche konservative Demokrat – es nicht weiß oder nicht wahrhaben will.« (Löwenthal 1972: o. S.).

7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie

1960er Jahre deutlich absetzen (Löwenthal 1972; Oertzen 1973: 5). Es komme »im Gegenteil darauf an, diese Grenzen schärfer als bisher zu ziehen« (Löwenthal 1972: o. S.). Die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus wurde betont. Damit unterscheiden sich die hier analysierten Texte auch von der konservativen Vernähungsstrategie, die weiterhin Protest und radikale Kritik als Gefahren für die Demokratie an sich erachtet. Diese Versuche einer exakten Grenzbestimmung können auch als Reaktion auf die heftige Kritik am Erlass und der Befürchtung durch die Regelanfrage beim Verfassungsschutz ›Duckmäusertum‹ zu fördern und Gesellschaftskritik zum Verstummen zu bringen, gewertet werden. Doch die Entscheidung darüber, wer als demokratisch und wer als verfassungsfeindlich gilt, treffen im Zuge des Radikalenerlasses zunehmend die Ämter für Verfassungsschutz, weswegen deren Vorgehen ein entscheidender Baustein der sozialliberalen Vernähungsstrategie ist. 7.3.2 Rolle des Verfassungsschutzes Schon bald nach Inkrafttreten des Radikalenerlasses beschlossen die Innenminister, dass vor jeder Einstellung beim zuständigen Amt für Verfassungsschutz nachgefragt werden solle, ob belastende Informationen gegenüber der Bewerberin vorlägen (Rigoll 2013: 343–344). Aufgrund dieser Regelanfrage war an die Einschätzung des Verfassungsschutzes nicht selten die berufliche Zukunft potenzieller Staatsbediensteter geknüpft.156Zudem zog die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrags nach sich. Da der Verfassungsschutz maßgeblich die Deutungshoheit darüber hatte, welche Organisationen verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgten, galten seine Berichte als Wegweiser, von welchen Gruppierungen sich potenzielle Staatsdiener_innen fernhalten sollten (Jaschke 1991: 139; Murswiek 2009: 60–61; Gusy 2016: 81). Das BVerfG bestätigte 1975 diesen Stellenwert des Verfassungsschutzes und hielt es für unbedenklich, wenn die Behörden »ihren jährlichen Bericht über die Entwicklung verfassungsfeindlicher Kräfte, Gruppen und Parteien dem Parlament und der Öffent____________________ 156

Ermöglicht wurden die Bewältigung der neuen Aufgaben durch die Umstellung auf das Computersystem NAIDS und eine Verdoppelung des Etats und der Anzahl der Mitarbeiter_innen innerhalb weniger Jahre (Jaschke 1991: 130; Rigoll 2013: 351).

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lichkeit vorlegt« (zitiert nach Schwagerl 1985: 67; siehe auch Rudolf 2003: 234–236; Schulz 2017: 315–318).157 Dadurch wurde, so Kritiker_innen des Urteils, das Parteienprivileg beschnitten, da Parteien durch die Nennung im Verfassungsschutzbericht und der damit verbundenen Klassifizierung als Verfassungsfeindin Nachteile bspw. bei der Mitgliederwerbung erführen, ohne dass sie vom BVerfG als verfassungswidrig eingestuft wurden (Rudolf 2003: 234–236). So »entledigte sich [das BVerfG, M. F.] selbst seines Entscheidungsmonopols, das es zum Teil auf die Exekutive übertrug« (Schulz 2017: 315; siehe auch Busch 1991: 80). Von zentraler Bedeutung, da mit erheblichen Konsequenzen verbunden, ist die Frage, wie die Behörden die Grenze zwischen Demokratie und Verfassungsfeindlichkeit festlegen. Dies ist nur in manchen der älteren Berichte angedeutet, durch einen Verweis auf das Schutzgut, entweder die fdGO oder die verfassungsmäßige Ordnung (Kapitel 6.1.2). Die Verfassungsfeind_innen werden mal als Radikale, mal als Extremist_innen bezeichnet (BMI 1971, 1972, 1973, 1974). Erst in seinem Vorwort zum Bericht über das Jahr 1974, der 1975 erschien, beendet der damalige Innenminister Maihofer diese begrifflichen Unschärfen, wie die folgende Analyse zeigt. Seine Sprachregelung wird in den Berichten bis heute beibehalten (BMI 2017) und auch die politikwissenschaftliche Extremismusforschung orientiert sich daran (Kapitel 8.2), weswegen dem Text eine große Bedeutung im Diskurs um die politische Ordnung zukommt. Während das Vorwort der Verfassungsschutzberichte bis dato maximal zwei Seiten umfassten und die wichtigsten Ergebnisse komprimiert darstellten, erstreckt sich das Vorwort von Maihofer im Bericht 1974 über sechs Seiten und geht ausführlich auf die definitorischen Grundlagen der Arbeit des Verfassungsschutzes ein. Sie enthielten sowohl Erläuterungen ____________________ 157

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Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit kein Rechtsbegriff ist, sich aber etabliert hat, um Bestrebungen gegen die fdGO zu bezeichnen, die nicht vom BVerfG als verfassungswidrig eingeschätzt werden (Michaelis 2000: 72–73). Das Gericht erklärte diesen Vorgang für zulässig. Verfassungsrichter Rupp kritisierte in, dies »fördere Rechtsunsicherheit und mögliche willkürliche Entscheidungen der Einstellungsbehörden« (Maier 1977: 69). Kritik zog der Begriff unter anderem wegen der Komponente ›Feind‹ auf sich, weswegen sich beim Verfassungsschutz und in der Öffentlichkeit die Verwendung des Extremismusbegriffs zur Kennzeichnung der Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes durchgesetzt hat. Verfassungsfeindlichkeit steht also synonym für politischen Extremismus (Schwagerl 1985: 65–68; Michaelis 2000: 74–75; Grumke und Hüllen 2016: 26).

7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie

zur fdGO, zur Grenze des Freiheitsraums wie ihn das Grundgesetz gewährt, als auch zu den Begriffen radikal und extremistisch. Im zweiten Teil beleuchtet Maihofer die Aufgabe und Rolle des Verfassungsschutzes und seiner Berichte, ehe eine kurze Zusammenfassung der Teilbereiche Rechtsextremismus, Terrorismus, ›Linksextremismus‹, Spionageabwehr und Ausländerextremismus folgt (Maihofer 1975). Aspekte der Wehrhaftigkeit Die gesamte Institution Verfassungsschutz repräsentiert die Vorverlagerung des Demokratieschutzes, da es ihre Aufgabe ist, verfassungsfeindliche Gruppen zu beobachten und in den Berichten zu benennen, ohne dass diese zwingend Gewalt anwenden. Folgerichtig sieht Maihofer (1975: 4 Hervorh. im Original) den Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes bereits im Vorfeld strafrechtlicher Vorkommnisse: Ihrem [gemeint ist die fdGO, M. F.] Schutz gegen Extremismus, aber auch gegen Terrorismus, schon im Vorfeld des strafrechtlichen Staatsschutzes, gilt neben der Bekämpfung der Spionage die Hauptanstrengung des Verfassungsschutzes.

Für die betroffenen Gruppen und deren Mitglieder sind mit der Nennung erhebliche negative Konsequenzen verbunden, weswegen die Berichte in die politische Willensbildung eingreifen (u. a. Jesse 2007b: 15–18; Grumke und Hüllen 2016: 26–35). Kern der Demokratie Bezüglich des Kerns der Demokratie bezieht sich Maihofer auf den gesetzlichen Auftrag, der den Schutz der fdGO vorsieht. »Mit diesem Begriff ist nicht die gesamte geschriebene Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz gemeint.« (Maihofer 1975: 3). Es stünde nur ein bestimmter Teil unter besonderem Schutz, wie das BVerfG 1952 festgelegt hätte. Er gibt im Wortlaut die Entscheidung des BVerfG von 1952 wieder, in der die fdGO definiert wird (Maihofer 1975: 3–4). Damit bezieht er sich auf den gleichen Kern der Demokratie, wie bereits in der ersten Analysephase für die Hegemonie der antitotalitären, wehrhaften Demokratie rekonstruiert wurde. Unterschiede zu dieser Demokratievorstellungen werden in der Beschreibung der Gefahren für die Demokratie deutlich.

189

7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

Gefahren für die Demokratie Den Fokus legt Maihofer dabei darauf, wie diese Gefahren benannt werden und welche Phänomene dazu gezählt werden können. An mehreren Stellen plädiert er für den Oberbegriff Extremismus zur Bezeichnung dieser Gefahren. Das geht vor allem aus seiner vielzitierten Unterscheidung zum Radikalismusbegriff hervor: In früheren Verfassungsschutzberichten wurden solche Bestrebungen als ›radikal‹ bezeichnet. Der Begriff ›extremistisch‹ trägt demgegenüber der Tatsache Rechnung, daß politische Aktivitäten oder Organisationen nicht schon deshalb verfassungsfeindlich sind, weil sie eine bestimmte nach allgemeinem Sprachgebrauch ›radikale‹, das heißt eine bis an die Wurzel einer Fragestellung gehende Zielsetzung haben. Sie sind ›extremistisch‹ und damit verfassungsfeindlich im Rechtssinne nur dann, wenn die sich gegen den oben umschriebenen Grundbestand unserer freiheitlich rechtsstaatlichen Verfassung richten. (Maihofer 1975: 4).

Maihofer macht hier den Extremismusbegriff als Synonym für den auf die behördliche Verwendung begrenzte Bezeichnung verfassungsfeindlich prominent. Als ›extremistisch und damit verfassungsfeindlich‹ sollen alle Aktivitäten, die nicht mit der fdGO im Einklang stehen, bezeichnet werden. Darüber hinaus verwirft er den Radikalismusbegriff zur Bezeichnung dieser Aktivitäten, da er dem Wortsinn nach missverständlich sei und eigentlich noch legitime Handlungen umfasse. An weiteren Stellen bietet er Extremismus als Oberbegriff an, wenn er unter »politischen Extremismus« Aktivitäten, die »ganz oder teilweise mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung in Widerspruch stehen«, fasst (Maihofer 1975: 3), oder den »politischen Extremist außerhalb des Grundbestandes unserer Verfassung« verortet (Maihofer 1975: 4). Aus dem Extremismusbegriff leitet er mehrere Phänomenbereiche ab, die Gefahren für die Demokratie darstellen. Zum Rechtsextremismus zählt er »Aktivitäten neonazistischer Kleinzirkel« und »rechtsextremistische Publikationen« (Maihofer 1975: 5). Als weitere Unterkategorie gilt ›Linksextremismus‹, der wiederum in die Bereiche Terrorismus, Alte Linke und Neue Linke aufgeteilt ist. Unter der Alten Linken fasst Maihofer den »orthodoxen Kommunismus« sowie »die DKP und ihre Hilfs- und Tarnorganisationen« (Maihofer 1975: 5–6). Bei der Neuen Linke hingegen stünden die militanten Aktionen im Vordergrund; deshalb seine Analyse, sie böten den »geistigen Nährboden für [...] systematischen Terror« (Maihofer 1975: 6). Zwei weitere Phänomenbereiche, die im politischen Diskurs weniger wahrgenommen werden, sind die Spionageabwehr und Sicherheitsgefährdende Aktivitäten von Ausländer_innen. Unter Spionageverdacht stehen 190

7.3 Sozialliberale Vernähungsstrategie

die »Staaten des Ostblocks« und die »Nachrichtendienste der DDR« (Maihofer 1975: 7). Unter den »extremistischen Ausländern« sind »Angehörige palästinensischer Organisationen« hervorgehoben (Maihofer 1975: 7). Für die Bezeichnung der Gefahren für die Demokratie ergibt sich aus dem Vorwort von Maihofer folgendes Bild: Als Oberbegriff dieser Gefahren wird der Begriff des politischen Extremismus eingeführt. Dieser umfasst die Unterkategorien Rechtsextremismus, ›Linksextremismus‹, Spionageabwehr und Aktivitäten extremistischer Ausländer_innen. Diesen Kategorien wiederum werden konkrete Gruppen und Strömungen zugeordnet. Allen in den Berichten aufgeführten Strömungen und Gruppen sei trotz erheblicher inhaltlicher Unterschiede gemein, so Maihofer, dass sie den Kern der Demokratie missachten würden. 7.3.3 Eigentliche Bedeutung von Demokratie In der sozialliberalen Vernähungsstrategie wird der Aspekt der Wehrhaftigkeit als eigentliche Bedeutung von Demokratie gefestigt. Der Radikalenerlass und die damit verbundene Kompetenzerweiterung der Verfassungsschutzämter sind Bausteine einer Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Diesseits der Grenze steht dabei die fdGO, die weiter als Kern der Demokratie gilt. Eine Differenz gegenüber der antitotalitären, wehrhaften Demokratie zeigt sich in der Benennung der Gefahren der Demokratie und ihren Protagonist_innen. Im Radikalenerlass und seiner Begründung ist noch weitgehend von Radikalen und Verfassungsfeind_innen die Rede. Eine einheitliche Bezeichnung dieser Gefahren setzt sich erst mit dem Vorwort des Verfassungsschutzberichts 1974 und der Unterscheidung zwischen Radikalismus und Extremismus durch. Extremismus gilt fortan als Gegenbegriff zu Demokratie, was eine Verschiebungen gegenüber der ersten Analysephase ist. Die eigentliche Bedeutung von Demokratie, die sich bis Mitte der 1970er Jahre durchsetzt und institutionell verankert, ist eine antiextremistische, wehrhafte. Hinsichtlich des eigentlichen Verfechters der Demokratie sind aus den rekonstruierten Texten keine entscheidenden Hinweise zu entnehmen. Jedoch geben die politischen Entwicklungen Anfang der 1970er Jahre Aufschluss darüber, welcher gesellschaftlich-politischen Kraft am ehesten zugetraut wird, Demokratie zu bewahren bzw. zur Entfaltung zu bringen. Die Anwendungspraxis des Radikalenerlasses ermöglicht es den Einstellungsbehörden, Feinde der Demokratie aus dem öffentlichen Dienst fern191

7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

zuhalten. Dabei beziehen sich diese meist auf die Informationen der Ämter des Verfassungsschutzes über verfassungsfeindliche Bestrebungen der Bewerber_innen. Diese Praxis wurde vom BVerfG ebenso bestätigt wie die Beschneidung des Parteienprivilegs. Zwar bleibt abgelehnten Bewerber_innen der Rechtsweg offen, allerdings zeigen diese Entwicklungen eine Verschiebung der Auslegungskompetenzen über die Grenze der Demokratie zur Exekutive hin. 7.4

Einordnung

Ab Mitte der 1960er Jahre treten die Brüche und Risse in der Diskursformation der antitotalitären, wehrhaften Demokratie deutlicher hervor. Vor dem Hintergrund der neu entstandenen Protestbewegungen, der Entspannungspolitik gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts und den ersten terroristischen Anschlägen fand eine Neuaushandlung über die eigentliche Bedeutung von Demokratie statt. Bei dieser Neuaushandlung knüpften beide hier diskutierten Vernähungsstrategien an bisherigen Prämissen an. Weder die Vorverlagerung des Demokratieschutzes noch eine Ausrichtung der Wehrhaftigkeit nach unten oder die Abgrenzung nach rechts und links waren infrage gestellt worden. Die konservative Strategie forderte eine weitergehende Vorverlagerung des Demokratieschutzes und sah große Teile der Protestbewegungen sowie Gliederungen der Regierungsparteien als Gefahr für die Demokratie an. Damit knüpfte sie an die illiberale Auslegung der wehrhaften Demokratie der 1950er und frühen 1960er Jahre an, durch die Protest und radikale Kritik prinzipiell in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit gerückt wurde. Jedoch hatte sich der gesellschaftspolitische Kontext verändert und Kritik wurde offen und deutlich geäußert, sodass sich diese Strategie nicht durchsetzen konnte. Erfolgreich war hingegen die sozialliberale Vernähungsstrategie, die gesellschaftliche Veränderungen besser integrieren konnte und ihre Vorstellung über die politische Ordnung der BRD letztlich durchsetzte. Damit einher gingen einige Verschiebungen in der Struktur der antitotalitären, wehrhaften Demokratie. 7.4.1 Drittes Sediment: Antiextremismus Am Prinzip der wehrhaften Demokratie und dem präventiven Vorgehen gegen die Feinde der Demokratie von links und rechts hielten die Protago192

7.4 Einordnung

nist_innen der sozialliberalen Strategie fest. Im Unterschied zu den 1950er und 1960er Jahren wurden nun radikale Kritik, gesellschaftliche Veränderung und Protest nicht mehr als Gefahr sondern als wichtiger Teil der Demokratie gesehen. Zwar galt die fdGO nach wie vor als ihr Kern, wurde aber vergleichsweise liberal ausgelegt, wodurch viele Forderungen der Protestbewegungen aufgenommen werden konnten. Zudem fiel es immer schwerer, die sogenannten Feinde im Innern mit den totalitären Regimen in Verbindung zu bringen. Vor allem rätedemokratische oder anarchistische Strömungen der Neuen Linken grenzten sich vehement von bisherigen orthodox-kommunistischen Vorstellungen ab. Die zunehmende Heterogenität im linken Spektrum wurde in der neu eingeführten Sammelkategorie ›Linksextremismus‹ zusammengefasst.158 Der Extremismusbegriff bezeichnet deutlich vielfältigere Phänomene als der Totalitarismusbegriff der 1950er und 1960er Jahre. Er definiert die Feinde der Demokratie negativ, über die Ablehnung der fdGO und nicht positiv über eine vermeintliche oder tatsächliche Nähe zu totalitären Regimen von ›früher‹ oder ›drüben‹. Im Zuge des gesellschaftlichen Klimas der frühen 1970er Jahre löste der Antiextremismus den Antitotalitarismus ab. Neben der Möglichkeit, so mehr politische Strömungen zu fassen, symbolisiert der Extremismusbegriff auch eine Eingrenzung der als Gefahren der Demokratie geltenden Phänomene. Im Gegensatz zu Alternativbegriffen wie Radikale oder Systemveränderer und auch im Gegensatz zur Praxis der 1950er und 1960er Jahre sollten mit diesem Begriff nur jene Strömungen bezeichnet werden, die gegen die fdGO, verstießen. Die Einführung des Extremismusbegriffs zur Bezeichnung der Feinde der Demokratie ermöglicht einerseits eine Erweiterung auf verschiedene radikale, linke Strömungen und andererseits eine Abkehr vom rigiden Antikommunismus der 1950er und 1960er Jahre. So konnte nach einer kurzen Phase des Umbruchs bis Mitte der 1970er Jahre ein Weg des Umgangs mit politischem Protest gefunden werden.

____________________ 158

Eine so ausgeprägte Heterogenisierung ist im rechten Spektrum nicht festzustellen, weswegen unter der Kategorie Rechtsextremismus vergleichsweise ähnliche soziale Phänomene gefasst sind (ausführlich dazu Kapitel 8.2.6)

193

7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

7.4.2 Hegemonietheoretische Einordnung Der Übergang von einer antitotalitären zu einer antiextremistischen Abgrenzung ist nicht als Ablösung einer hegemonialen Formation durch eine andere, sondern als Verschiebung in einer hegemonialen Formation, die sich dem geänderten Kontext anpasst, zu interpretieren. In den Äquivalenzketten A und M gab es einige Verschiebungen, die einen Bruch der Formation verhinderten. So gelang es die Äquivalenzkette A zu erweitern und mehrere oppositionelle Forderungen aufzunehmen. Im Gegensatz zu den 1950er und 1960er Jahren gelten Proteste, Gesellschaftskritik, Veränderungen und Reformen als Teil der politischen Ordnung. Die Aufnahme dieser Forderungen konnte eine Ausbildung konkurrierender hegemonialer Projekte verhindern. Ob die Umsetzung der konservativen Vernähungsstrategie zu einer Vereinigung der vielen oppositionellen Forderungen und zur Ausbildung eines konkurrierenden hegemonialen Projekts geführt hätte, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, da sich diese Strategie nicht durchsetzte. Ex post feststellbar ist, dass die sozialliberale Vernähungsstrategie durch die Erweiterung der Äquivalenzkette A, dies verhinderte. Auch eine Verschiebung in der Äquivalenzkette M ist für die Stabilität der hegemonialen Formation von großer Bedeutung. Denn mit der Bezeichnung Extremismus wird ein Begriff eingeführt, der als Sammelkategorie für alle Strömungen und Phänomene gilt, die als Teil des Mangels bzw. der Äquivalenzkette M artikuliert werden. Er nimmt die Funktion eines negativen Repräsentanten ein. Der Totalitarismus- und Radikalismusbegriff konnten diese Rolle nicht entsprechend ausfüllen und waren mit verschiedenen Bedeutungen belegt (Kapitel 5 und 6.2). Der Extremismusbegriff eignete sich hingegen »aufgrund seiner durch die relativ kurze Begriffsgeschichte bedingten Farblosigkeit« (Backes und Jesse 1993b: 39) besser als übergreifende Sammelkategorie. Er war lediglich darüber definiert, alle Strömungen zu umfassen, die gegen die fdGO opponieren. Die antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums der politischen Ordnung der BRD kann so auf den Gegensatz von Extremismus und Demokratie reduziert werden. So ergibt sich für die zweite Analysephase ein Bild der Diskursstruktur (Abbildung 6), das leichte Verschiebungen zur ersten Analysephase aufweist. Der abgebildete Ausschnitt zeigt die zentrale Stellung des Extremismusbegriffs und die zahlreichen Kontraritätsbeziehungen, die von der fdGO ausgehen.

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7.4 Einordnung

Abbildung 6: Ausschnitt der Strukturierung des Diskurses um die politische Ordnung der BRD 1975, eigene Darstellung In der Abbildung ist auch eine weitere Verschiebung verdeutlicht, die auf den eigentlichen Verfechter der Demokratie verweist. Da die Zahl der Gerichtsverfahren, in denen über die Grenze der Demokratie entschieden wurde, ab den 1960er Jahren annahm, verlagerte sich die Auslegungskompetenz darüber, wer denn nun antidemokratisch sei, spätestens mit dem Radikalenerlass von der Judikative immer mehr auf die Exekutive, allen voran auf den Verfassungsschutz. Für den politischen Diskurs wurde zunehmend entscheidend, welche Gruppe in die Berichte dieser Behörde aufgenommen wurde und somit als antidemokratisch galt. Die Verschiebung der eigentlichen Bedeutung von Demokratie hin zu einer antiextremistischen, wehrhaften Demokratie konnte sich zwar bis Mitte der 1970er Jahre durchsetzen, war aber nicht unumstritten. Als eine Fortsetzung der konservativen Vernähungsstrategie kann bspw. die Sympathisant_innendebatte im Kontext der Terrorismusbekämpfung Ende der 1970er Jahre gelesen werden. Diese erreichte ihren Höhepunkt während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF und gab vor allem linken Intellektuellen die Mitschuld am Terrorismus in der BRD (Jaschke 1991: 258–269). Dennoch wurde die antiextremistische Grenzziehung von der bürgerlichen Bundesregierung ab 1982 nicht rückgängig gemacht. Durch die Institutionen der politischen Kont195

7. Risse in der Hegemonie, Antiextremismus als Kitt – zweite Analysephase

rolle fand sie weitere Verbreitung und ist bis heute weitgehend unumstritten. In den Wissenschaften trug die normative Extremismusforschung ab Ende der 1980er Jahre erheblich zur Stabilisierung des Antiextremismus bei. Die Popularisierung und Verwissenschaftlichung der hier rekonstruierten eigentlichen Bedeutung von Demokratie wird im folgenden Kapitel ausführlich dargelegt.

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8.

Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Die sozialliberale Vernähungsstrategie mit ihrer antiextremistischen Abgrenzung setzte sich bis 1975 durch, wurde aber erst in den Folgejahren zum hegemonialen Deutungsmuster der politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und bestimmt diese bis heute. Als Kern der Demokratie wurde die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) weiter bestätigt und als Gefahren für die Demokratie gelten seit den 1970er Jahren extremistische Strömungen. Diese antiextremistische, wehrhafte Demokratie wurde, ähnlich wie die antitotalitäre Abgrenzung in den 1950er und 1960er Jahren (Kapitel 6), durch Institutionen der politischen Kontrolle und einer wissenschaftlichen Teildisziplin stabilisiert. Als Institutionen politischer Kontrolle popularisierten seit den 1970er Jahren die politische Justiz, der Verfassungsschutz und die staatliche politische Bildung die antiextremistische Abgrenzung. (8.1). Diese Institutionen weisen deutliche Überschneidungen mit der normativen Extremismusforschung auf. Im deutschsprachigen Raum ist sie der einzige Forschungszweig, der den Extremismusbegriff prominent verwendet. Dabei orientiert sich die normative Extremismusforschung sehr eng an der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie (8.2). Die Kongruenz zwischen Wissenschaft und politischem Diskurs ermöglicht es, durch eine detaillierte Rekonstruktion des Forschungszweigs, auch Brüche und Risse in der hegemonialen Formation zu identifizieren. Brüche, die im politischen Diskurs nicht zwingend deutlich sichtbar sind, erscheinen im wissenschaftlichen Korrelat, der Extremismusforschung, wie unter einem Brennglas. Ziel dieses Kapitels ist es also nicht nur zu zeigen, wie verschiedene gesellschaftliche Bereiche zur Stabilisierung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie beitragen. Ziel ist auch durch die ausführliche Diskussion der normativen Extremismusforschung Anknüpfungspunkte zu identifizieren, die möglicherweise zur Dekonstruktion der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie beitragen können.

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

8.1

Institutionen politischer Kontrolle

Institutionen politischer sind ein Scharnier zwischen politischen Systemen und gesellschaftlicher Praxis (Jaschke 1991: 112). Die Entstehung dieser Institutionen und ihre Funktion wurden bereits in Kapitel 6.1 dargestellt. Ich werde zunächst darauf eingehen, wie durch die politische Justiz die antiextremistische Abgrenzung stabilisiert wird. Dabei steht weniger der Extremismusbegriff als der Ausbau und die Anwendung verschiedener Instrumente wehrhafter Demokratie im Fokus. Hingegen popularisiert der Verfassungsschutz den Extremismusbegriff durch seine Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit erheblich. Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), die populärsten Einrichtung der staatlichen politischen Bildung, trägt dazu maßgeblich bei, indem sie die Schriften der normativen Extremismusforschung verbreitet. 8.1.1 Politische Justiz Die Aspekte der politischen Justiz, politisches Strafrecht, Treupflichtregelungen im öffentlichen Dienst und Verbote politischer Organisationen, kommen in unterschiedlicher Intensität zum Tragen. Das politische Strafrecht wurde durch das achte Strafrechtsänderungsgesetz von 1968 liberalisiert. Die Zahl der politischen Strafverfahren nahm durch das eingeführte Opportunitätsgesetz rapide ab (Kapitel 7.1). Als Reaktion auf den Linksterrorismus der 1970er und 1980er Jahre gab es vereinzelte Gesetzesverschärfungen. Das umstrittene Kontaktsperregesetz von 1977 ermöglichte die Unterbindung des Kontaktes von Gefangenen. Das ein Jahr zuvor verabschiedete Antiterrorismus-Gesetz erweitert mittels der §§ 129 und 129a StGB die Ermittlungskompetenzen gegen Terrorverdächtige. Vor allem die §§ 129 und 129a StGB werden nach wie vor regelmäßig angewendet.159 Als Reaktion auf die islamistisch motivierten Anschläge von New ____________________ 159

198

Zahlreiche Beispiele finden sich in einer Broschüre der Roten Hilfe e. V. (2009), die Rechtsbeistand für politisch links stehende Angeklagte gibt. Der Neonazi Worch (2012) zählt auf seiner Internetseite fünf Fälle der Anwendung des § 129 StGB gegen rechte Aktivist_innen. Gössner analysiert die eingeleiteten Fälle bis Mitte der 1990er Jahre und kommt auf etwa 30 mal so viele Fälle gegen links wie gegen rechts. Er resümiert, der Staat agiere gegen links schärfer, da sich deren Aktivitäten gegen den Staat richteten, während Rechte Minderheiten zum Ziel ihrer Angriffe hätten (Gössner 1996).

8.1 Institutionen politischer Kontrolle

York am 11. September 2001 erfolgte die Ergänzung durch den § 129b StGB, der das Vorgehen gegen terroristische Vereinigungen im Ausland regelt.160 Sehr viel mehr Aufmerksamkeit als dem politischen Strafrecht kam der Treupflichtregelung für den öffentlichen Dienst zu. Auslöser war der am 28. Januar 1972 verabschiedete Radikalenerlass (Kapitel 7.3.1). Schätzungen zufolge kam es bis 1987 zu 3,5 Millionen Überprüfungen von Bewerber_innen die in 2250 Fällen zu einer Ablehnung führten (Braunthal 1992: 117). Dabei wendeten »sich die Berufsverbote fast ausschließlich gegen Linke« (Rigoll 2013: 377). In den 1980er Jahren verlor der Radikalenerlass zunehmend an Bedeutung und 1991 stellte mit Bayern das letzte Bundesland die Praxis der Regelanfrage durch den Verfassungsschutz ein. Auch wenn dadurch die Diskussionen über die Verfassungstreue von Beamt_innen weitgehend verstummte, besteht die Möglichkeit, Menschen aufgrund ihrer politischen Tätigkeit aus dem öffentlichen Dienst fern zu halten bis heute fort. 2004 wurde dem nicht straffällig geworden AntifaAktivisten Michael Csaszkóczy der Zugang zum Schuldienst in BadenWürttemberg verwehrt. Erst nach einer mehrjährigen juristischen Auseinandersetzung wurde er zugelassen (Letsche o. J.). Die rigideste Regelung hat bis heute Bayern, wo Bewerber_innen nach ihrer Mitgliedschaft in extremistischen Organisationen gefragt werden. Auf der entsprechenden Liste werden auch Gliederungen der Partei die Linke aufgeführt (Zeit Online 2012; Flümann 2015b: 256–257).161 Vom Instrument der Parteienverbote wurde nach dem KPD-Verbot 1956 bis Anfang der 2000er Jahre kein Gebrauch gemacht.162 Am 30. Januar 2001 reichte die damalige Bundesregierung einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht ein, die Verfassungswidrigkeit der NPD zu prüfen. Dieser Antrag wurde vom Gericht jedoch abgelehnt, ____________________ 160 161 162

Zu weiteren Veränderungen des politischen Strafrechts infolge des 11. September 2001 siehe u. a. Abou-Taam (2011). Bis zum 1. Juni 2016 war die gesamte Partei aufgeführt (Kohnen 2016). Ein sogenanntes »kaltes Parteienverbot« (Ooyen 2002) wurde gegen die rechtsextreme Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) 1994 ausgesprochen. Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Verbotsantrag mit der Begründung ab, die FAP würde nicht regelmäßig an Wahlen teilnehmen und sei deswegen keine Partei im eigentlichen Sinne. Das Verbot konnte schließlich als Vereinsverbot über den Bundesinnenminister erfolgen (Bötticher und Mareš 2012: 46–47; Botsch u. a. 2013: 282–284).

199

8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase da eine qualifizierte Minderheit der Richter aufgrund der zahlreichen Verbindungspersonen (V-Leute) diverser Inlandsgeheimdienste (vor allem Bundesamt und verschiedene Landesämter für Verfassungsschutz) eine mangelnde ›Staatsferne‹ der NPD konstatierte (Botsch u. a. 2013: 273).

Auch das angestrengte Verbotsverfahren gegen diese Partei 2012 wurde im Januar 2017 vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zurückgewiesen. Es hieß, die Partei sei zwar klar verfassungsfeindlich, jedoch nicht so gefährlich, dass ein Verbot gerechtfertigt wäre (Lichdi 2017; Pilath 2017).163 Das Instrument der Vereinigungsverbote fand in den 1970er Jahren keine Anwendung, wurde in den 1980er Jahren moderat angewendet und führte in den 1990er Jahren, als Antwort auf die rassistischen Mobilisierungen, zu zahlreichen Verboten rechtsextremer Vereinigungen, ehe es nach der Jahrtausendwende wieder zu einer moderaten Verbotspraxis kam (Gerlach 2012: 142–145; Botsch u. a. 2013: 277, 281–282).164 Julia Gerlach analysierte zudem die Verbotspraxen gegen linksextreme und islamistische Vereinigungen. Betroffen waren vor allem kurdische und türkische Linksextremist_innen in den 1990er Jahren, während sich die Verbote gegen islamistische Vereinigungen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 häuften (Gerlach 2012: 142–145). Deutsche linksextreme Vereinigungen wurden mit Ausnahme des Heidelberger SDS 1970 und der Internetplattform linksunten.indymedia.org im Sommer 2017 nicht verboten (Gerlach 2012: 140; Gebauer und Langhammer 2017; Litschko 2017). ____________________ 163

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Seit 1970 gab es zwei Anträge, mit Hilfe des Art. 18 GG, bekannten Rechtsextremisten ihre politischen Grundrechte zu entziehen. Beide wurden vom BVerfG zurückgewiesen (Gerlach 2012: 118–119). Insgesamt wurden in der Geschichte BRD vier Anträge auf Entzug der Grundrechte gestellt, die alle vom BVerfG abgewiesen wurden. Eine Entscheidung in der Sache steht also noch aus (Flümann 2015b: 224–234). Selbst Befürworter des Prinzips der wehrhaften Demokratie halten diesen Artikel für wirkungslos und fordern seine Abschaffung (Kailitz 2004: 217; Jesse 2006: 510; Flümann 2015b: 280). Die Einschätzung über die Sinnhaftigkeit der Verbotspraxis geht in der Wissenschaft weit auseinander. So hält Gerlach (2012: 207) die Wirksamkeit der Verbot für fraglich und sieht eher eine Einigung der zersplitterten Szenen durch die Verbote in den 1990er Jahren. Dem widersprechen Botsch u. a. (2013: 291–292) entschieden: »Im Gegensatz dazu scheinen die Verbote rechtsextremer Organisationen insgesamt zu einer Mäßigung in Propaganda, Programmatik und Aktionen der organisierten extremen Rechten geführt und zugleich deren Isolierung innerhalb der politischen Kultur der Bundesrepublik mit befördert [sic!] haben.«

8.1 Institutionen politischer Kontrolle

Im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren fällt auf, dass linkspolitische Organisationen kaum von Verbotsmaßnahmen betroffen sind. Hingegen zeigt sich ein relativ konstantes Vorgehen gegen rechts mit einer Unterbrechung während der sozialliberalen Regierungszeit. In den letzten Jahren nahmen Verbotsmaßen gegen islamistische Strömungen zu. In der Anwendung des politischen Strafrechts ist eine Reduktion der Verfahren zu erkennen. Hingegen nehmen die Möglichkeiten zu, präventiv ins politische Geschehen einzugreifen. So entfalten bspw. die Zulassungspraxis für den Öffentlichen Dienst oder der Überwachungsmöglichkeiten durch die §§ 129 und 129a StGB ihre Wirkung, bevor es zu strafrechtlichen Maßnahmen kommt. Diese Möglichkeiten werden mehrheitlich gegen links angewendet und führten zu einem Ausbau der Kompetenzen und Bedeutung einer weiteren Institution politischer Kontrolle, dem Verfassungsschutz. 8.1.2 Verfassungsschutz Mit der im Verfassungsschutzbericht 1974 vorgenommenen Grenzziehung zwischen Demokratie und Extremismus trägt die Behörde erheblich zur Stabilisierung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie bei (Kapitel 7.3.2). Die Wichtigkeit dieses Beitrags zeigt sich vor allem in den Folgejahren, durch den Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit der Ämter für Verfassungsschutz, der zu einer Popularisierung dieser Grenzziehung führte. Zentrale Bestandteile sind dabei die Aufklärung über extremistisches Bedrohungspotenzial durch die Verfassungsschutzberichte und die Verbreitung der Annahmen des Verfassungsschutzes durch dessen Angebote der politischen Bildung. Die Berichte des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) erscheinen seit 1961 nahezu jährlich. Seit Mitte der 1970er Jahre veröffentlicht auch ein Großteil der Landesämter für Verfassungsschutz (LfV) einen eigenen Bericht, wobei dem Bundesbericht die größte öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird (Jesse 2007b: 18–28). Der Aufbau der Berichte hat sich seit Bestehen immer wieder geändert und umfasst aktuell die Bereiche Rechtsextremismus, Reichsbürger und Selbstverwalter, ›Linksextremismus‹, Islamismus, Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern (ohne Islamismus), Spionageabwehr und Scientology (BMI

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

2017).165 In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Verfassungsschutzberichte zunehmend umfangreicher und öffneten sich dem breiten Publikum der nicht fachkundigen Leser_innen (Spielberg 2012: 105). Kritisiert wird an den Berichten, dass dem Inlandsgeheimdienst dadurch de facto die Definitionshoheit über die Grenze der Demokratie zukommt, obwohl er intransparent arbeitet und den Vorgaben der Exekutive unterstellt ist (Kapitel 6.1.2). In den letzten Jahren klagten mehrere Organisationen wie die Republikaner, die antifaschistische Zeitschrift Lotta oder die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e. V. erfolgreich gegen ihre Nennung in den Berichten. Die Prozesse zogen sich teils über Jahre und gefährdeten die Existenz der jeweiligen Organisation, die einen Rückgang von Spenden oder Mitgliederverluste befürchteten (Wippermann 1999: 268–269; Burschel 2010; Kremers 2010; Fuhrmann und Hünemann 2013: 93–95). Diese Beispiele zeigen die Bedeutung der Berichte, da die Klassifizierung als extremistisch durch den Verfassungsschutz nicht nur einen delegitimierenden Charakter auf diskursiver Ebene hat, sondern die Existenz der so klassifizierten gefährden kann. Von Beginn an wurden die Berichte des BfV als Beitrag zur politischen Bildung und präventiven Auseinandersetzung mit antidemokratischen Strömungen verstanden (Kapitel 6.1.2). Seit einigen Jahren profilieren sich einzelne LfV mit eigenen pädagogischen Angeboten. So schaffte die Landesregierung in Niedersachsen Ende 2004 die Landeszentrale für politische Bildung ab und gründete Jahre später die beim LfV angesiedelte Niedersächsische Extremismus-Informationsstelle (NEIS), die Multiplikator_innenworkshops mit Lehrer_innen und Schüler_innen durchführt (Wiedemann 2013: 127). Kritisiert wird an dieser Praxis, die auch in Brandenburg166 und Nordrhein-Westfalen167 betrieben wird, dass der Ge____________________ 165

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Die Reihenfolge der Phänomenbereiche wechselte je nach politischer Lage. Der Bericht von 1982, öffentlich vorgestellt vom CDU-Innenminister Zimmermann, führte erstmals ›Linksextremismus‹ vor dem Rechtsextremismus auf (BMI 1983). Mit dem Antritt der rot-grünen Bundesregierung 1998 wurde dies rückgängig gemacht und bis heute so beibehalten (BMI 1999). Das LfV startete 2006 ein Planspiel für Schüler_innen. Das Ziel erläutert die Mitarbeiterin Schreiber (2010: 37) so: »Schüler sind eine Zielgruppe, die in der Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes eine besondere Rolle spielen. Ihnen den Unterschied von Demokratie und Extremismus zu vermitteln, ist in einer Demokratie, die sich als wehrhaft versteht, eine wichtige Aufgabe. Teilweise mehrmals in der Woche sind Mitarbeiter des Referates ›Verfassungsschutz durch Aufklärung‹ in Brandenburg deswegen unterwegs. Bei uns kön-

8.1 Institutionen politischer Kontrolle

heimdienst kein Akteur einer auf Vertrauen basierenden politischen Bildungsarbeit sein könne (u. a. DGB-Bundesjugendausschuss 2013; Kulturbüro Sachsen e.V. und Weiterdenken - Heinrich Böll Stiftung Sachsen 2013; Prengel 2013).168 Diese Möglichkeiten des Verfassungsschutzes in den politischen Diskurs zu wirken, gehen auf das Konzept Verfassungsschutz durch Aufklärung zurück, auf das sich die Teilnehmer_innen der Innenministerkonferenz bereits 1974 verständigten. Die zwei Jahre zuvor verabschiedeten Änderungen zum Verfassungsschutzgesetz (VerfSchutzÄndG) brachte eine weitere zentrale Änderung mit sich. So galt nach § 3, Abs. 1, VerfSchutzÄndG als Gut, welches der Verfassungsschutz schützen solle nicht mehr wie bis dato die verfassungsmäßige Ordnung, sondern die »freiheitliche demokratische Grundordnung« und der »Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes«. Der damalige Mitarbeiter des LfV Hessen, Hans-Joachim Schwagerl (1985: 47–52), sieht vor allem die Erweiterung auf die Sicherheit des Bundes eine Überdehnung des Verfassungsschutzgedankens hin zum Staatsschutz. Dieser Einschätzung liegt folgende Unterscheidung zugrunde: Die Verfassungslehre unterscheidet die Sicherung bzw. Erhaltung des Staatsbestandes als Existenz des Staates an sich (Staatsschutz) und in die besondere Staatsform mit der Gewähr ihrer politischen Grundlage (Verfassungsschutz). (Schwagerl 1985: 10).

Gegen Schwagerls Position argumentiert Lars Oliver Michaelis (2000: 76–77), der Sicherheitsbegriff sei bislang nur eingeschränkt ausgelegt und die Warnungen vor einem ausufernden Staatsschutz des Geheimdienstes nicht angebracht. Für Schwagerls Einschätzung spricht hingegen die Anbindung des Verfassungsschutzes an die Exekutive und die Auslegung der politischen Verantwortlichen in den 1950er und 1960er Jahren von Verfassungsschutz als Staatsschutz (Kapitel 6.1.2). Diese Nähe wird durch ____________________

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nen Schülerinnen und Schüler unter pädagogischer Begleitung im Rahmen von Projekttagen selbst in die Rolle eines Verfassungsschützers schlüpfen.« Das LfV Nordrhein-Westfalen wurde bundesweit durch die sogenannten AndiComics bekannt. In den drei Ausgaben verhindert Andi das Abdriften eines Freundes in die rechtsextreme, islamistische oder linksextreme Szene. Einen kritischen Sammelband dazu gab der Arbeitskreis Extremismusbegriff (2012) heraus. Als einen weiteren Bereich, in dem der Verfassungsschutz zunehmend versucht Einfluss zu nehmen, nennt der Mitarbeiter des LfV Baden-Württemberg, Spielberg (2012: 106), die »Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs«.

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

das Schutzgut fdGO, das eben keine politischen Rechte, sondern in erster Linie staatliche Institutionen und Verfahrensweisen umfasst (Kapitel 5.4 und 5.5), verstärkt. Gössner (1996) sieht diese These dadurch bestätigt, dass der Verfassungsschutz rigide gegen ›staatsfeindliche Linke‹ und eher zurückhaltend gegen ›demokratiefeindliche Rechte‹ vorgehe. Vor allem der letzte Aspekt fand durch die rechtsterroristische Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), nach Ansicht vieler Beobachter_innen Bestätigung. Aufgrund der bislang nicht gänzlich rekonstruierten, aber nicht von der Hand zu weisenden Verstrickungen der Sicherheitsbehörden in den »NSU-Komplex« (Karakayalı u. a. 2017) war allen voran der Verfassungsschutz fundamentaler Kritik ausgesetzt (u. a. Ramelow 2013; Aust und Laabs 2014; Prantl 2015; Funke 2015). Diskutiert wurde die Zusammenlegung mehrerer LfV, bis hin zur kompletten Abschaffung und Auflösung der Geheimdienste, um sie durch eine Bürgerstiftung und eine finanziell geförderte Zivilgesellschaft zu ersetzen (Leggewie und Meier 2012: 160–166). Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags übte parteiübergreifend harsche Kritik am Verfassungsschutz und forderte einen »Kulturwechsel« (Deutscher Bundestag 2013: 864) in den Behörden.169 Die seit 2011 angestrebten Reformen führten jedoch eher zu einem Kompetenzzuwachs, sodass der Verfassungsschutz aus einer seiner größten Krisen gestärkt hervorging (Busch 2017). Mit dem Ausbau der Kompetenzen und Öffentlichkeitsarbeit der Ämter für Verfassungsschutz verbreitet sich auch ihr Verständnis der eigentlichen Bedeutung von Demokratie. Vor allem die jährlich erscheinenden Berichte gelten als Bezugspunkte, welche Gruppen als extremistisch und welche als demokratisch anzusehen seien. Damit wird einerseits die antiextremistische, wehrhafte Demokratie stabilisiert und gleichzeitig sehr wirkmächtig angewendet. Ähnliche Effekte hat auch das Agieren der staatlichen politischen Bildung.

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Die abweichenden Voten der Linkspartei und Bündnis 90/Die Grünen beinhalteten weitergehende Forderungen bis hin zur Abschaffung des Verfassungsschutzes (Deutscher Bundestag 2013: 983, 1038). Weitere Reformvorschläge an andere Sicherheitseinrichtungen führt Ooyen (2014: 13–23) auf.

8.1 Institutionen politischer Kontrolle

8.1.3 Staatliche politische Bildung Die von Jaschke (1991: 231) getroffene Feststellung, die BpB sei die »institutionalisierte pädagogische Hüterin der ›streitbaren Demokratie‹« hat bis heute nicht an Gültigkeit verloren. Wie in den 1950er und 1960er Jahren (Kapitel 6.1.3) arbeitete sie an der Popularisierung der vorherrschenden eigentlichen Bedeutung von Demokratie aktiv mit, was sich unter anderem bei ihren Herausgeberschaften zeigt. So hielt sie über die Hochphase des Totalitarismusparadigmas hinaus an diesem fest (Knütter 1988) und veröffentlichte entgegen der wissenschaftlichen Debatte der 1970er und 1980er Jahre verhältnismäßige viele Schriften mit positivem Bezug zum herrschaftsstrukturellen Totalitarismusansatz (Schlangen 1972; Funke 1978b; Löw 1988b). Vor allem aber hatte die BpB maßgeblichen Anteil an der Verbreitung der normativen Extremismusforschung. Bereits früh brachte sie zwei Sammelbände zu dem Thema heraus (Funke 1978a; Bundeszentrale für Politische Bildung 1984a) und legte das Grundlagenwerk von Uwe Backes und Eckhard Jesse Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland viermal auf. Der erste gemeinsame Aufsatz dieser beiden Extremismusforscher erschien in Aus Politik und Zeitgeschichte (Backes und Jesse 1983), herausgegeben von der BpB. Bis heute schreiben Backes, Jesse und andere Vertreter_innen der normativen Extremismus regelmäßig in den Schriftenreihen der BpB.170 Mittlerweile hat sich die Publikationspraxis der BpB ausdifferenziert. Während in den 1980er Jahren ›einseitige‹ Publikationen kaum möglich schienen,171 gibt sie seit dem Wechsel zur rot-grünen Bundesregierung 1998 vermehrt Schriften heraus, die sich nur dem Rechtsextremismus zuwenden (u. a. Schubarth und Stöss 2000; Salzborn 2015). Vereinzelt wurden auch dezidiert kritische Beiträge zum Ansatz der normativen Extremismusforschung veröffentlicht (Neugebauer 2000, 2010). Eine stärkere Akzentuierung auf ____________________ 170

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Alleine 21 selbstständige Publikationen von Jesse wurden von der Bundeszentrale oder einer Landeszentrale für politische Bildung herausgegeben. Seine zahlreichen Artikel und Beiträge in Sammelbänden der Zentralen sind dabei nicht berücksichtigt. Die gesamte Publikationsliste ist einsehbar bei Jesse (2015b). Im Nachgang einer Tagung zu Neonazistische, rassistische und kriegsverherrlichende Medien brachte die BpB (1984b) den Band Extremistische Medien heraus. Die 13 Tagungsbeiträge wurden extra mit einem Beitrag zu linksextremen Medien, der nicht auf der Tagung gehalten wurde, ergänzt (Jaschke 1991: 231–232).

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

›Linksextremismus‹ ist seit dem Regierungswechsel 2009 feststellbar. Dies zeigt sich in mehreren Konferenzen zu dem Thema und zwei einschlägigen Veröffentlichungen (Dovermann 2011; Pfahl-Traughber 2015b). Diese Entwicklung geht einher mit der Ausrichtung staatlich geförderter Extremismusprävention, wie in Kapitel 9 ausgeführt wird. Passage Die diskutierten Institutionen politischer Kontrolle tragen seit den 1970er Jahren erheblich zur Hegemonialisierung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie bei. Während der repressive Aspekt der politischen Justiz etwas an Bedeutung verliert, kommt dem Verfassungsschutz eine erheblich größere Bedeutung zu als in den ersten zwei Jahrzehnten der BRD, da sich die Auseinandersetzung mit den Feinde der Demokratie aus den Gerichtssälen zunehmend in den präventiven Bereich verschob. Der Verfassungsschutz und die BpB (vor allem in den 1980er und 1990er Jahren) orientierten sich in ihrer Arbeit eng an der eigentlichen Bedeutung von Demokratie, wie sie in Kapitel 7 rekonstruiert wurde. Dabei ist eine gewisse Verwissenschaftlichung durch Rückgriff auf die normative Extremismusforschung erkennbar. Deren Beitrag zur Stabilisierung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie bedarf einer ausführlichen Würdigung. 8.2

Wissenschaft: normative Extremismusforschung172

Die Extremismusforschung stellt den wissenschaftlichen Rahmen für das Vorgehen der eben analysierten Institutionen bereit und liefert eine Erklä____________________ 172

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Die Bezeichnungen für diesen Ansatz variieren. Jaschke (1991: 43) spricht von der »konventionellen Extremismusforschung«, Bötticher und Mareš (2012: 73–74) vom »verfassungspolitischen Ansatz«. Die Begründer der normativen Extremismusforschung selbst nennen ihren Ansatz auch »vergleichende Extremismusforschung« (Backes und Jesse 2005b). Da es in der BRD keine anderen Ansätze gibt, die den Extremismusbegriff ins Zentrum ihrer theoretischen und empirischen Arbeiten stellen, und im Folgenden nur dieser Ansatz diskutiert wird, verzichte ich in diesem Kapitel auf den Zusatz ›normativ‹. Der stark normative Charakter des Forschungszweigs wird in den folgenden Ausführungen verdeutlicht.

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

rung für deren Handeln. Zugleich fügt sich die Extremismusforschung in die Diskursstruktur der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie ein und stabilisiert diese, wie im Folgenden gezeigt wird. Die Extremismusforschung fußt auf Annahmen, die sich in den wissenschaftlichen Debatten der 1960er, 1970er und 1980er Jahre durchsetzten. In der Auseinandersetzung um das Erstarken der NPD ab Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich vor allem um den Soziologen Erwin Scheuch ein wissenschaftlicher Ansatz, der in seiner groben Struktur der Extremismusforschung entspricht (8.2.1). In einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Radikalenerlass in den 1970er Jahren mehrten sich in der Wissenschaft Stimmen, die das Konzept der wehrhaften Demokratie infrage stellten. Vertreter_innen der Extremismusforschung hingegen verteidigen das Konzept (8.2.2). Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre setzte sich im wissenschaftlichen Diskurs der Extremismusbegriff zur Bezeichnung der Gefahren für die Demokratie durch und wurde vom Radikalismusbegriff abgegrenzt. Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zu der in Kapitel 7.3 rekonstruierten Begriffsunterscheidung (8.2.3). Auf diesen drei Entwicklungen baute die Extremismusforschung Ende der 1980er Jahre auf. Ihre Prämissen und Definitionen werden in einem ersten Schritt vorgestellt (8.2.4). Anschließend möchte ich auf drei Bereiche eingehen, in denen die Setzungen der Extremismusforschung infrage gestellt werden. Die teils ausführliche und detaillierte Rekonstruktion dieser Konfliktfelder im Bereich der Wissenschaft ist notwendig, da hier Risse und Brüche in der hegemonialen Diskursformation sichtbar werden, die potentiell auf den politischen Diskurs übertragen werden können. Die drei Konfliktfelder betreffen das antithetische Verhältnis von Demokratie und Extremismus (8.2.5), das Postulat der Äquidistanz (8.2.6) und den Extremismus der Mitte (8.2.7). 8.2.1 Radikalismusforschung Bis Mitte der 1960er Jahre galt die politische Ordnung der BRD vor allem durch Bedrohungen von außen gefährdet. Wahrgenommene Gefahren im Innern waren lediglich jene Strömungen, die im Verdacht standen mit der Sowjetunion zu kooperieren (u. a. Sontheimer 1970: 23; Klingemann und Pappi 1972: 9). Diese Wahrnehmung in der Gefahrenlage spiegelte sich auch in der Wissenschaft wider, die sich in der Totalitarismusforschung in erster Linie mit kommunistischen Strömungen auseinandersetzte. Eine ›Gefahr von rechts‹ wurde weniger als abgrenzbares Phänomen, sondern 207

8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

als gesellschaftliches Potenzial innerhalb der Demokratie begriffen. Hier sind vor allem die Arbeiten um das Frankfurter Institut für Sozialforschung zu nennen, das mit Bezug auf das Konzept der autoritären Persönlichkeit, das Nachleben des Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Demokratie erforschte (Adorno u. a. 1950; Schönbach 1961; Adorno 1970a; Freyhold 1971).173 Mit der Diskussion um einen neuen Nationalismus und den Wahlerfolgen der NPD ab 1965 nahmen wissenschaftliche Analysen zu, die eine Erklärung für das Erstarken einer ›Gefahr von rechts‹ suchten (Backes 1989: 42; Kaase 1995).174 Dabei bestanden sowohl in der Bezeichnung der Gefahr als auch in der Einschätzung zu deren Ausmaß und Entstehungskontexten starke Differenzen. Der Fokus dieses Kapitels erlaubt – trotz aller Binnenunterschiede – eine Unterscheidung in zwei Positionen, die jeweils durch zwei zeitgenössisch einflussreiche Arbeiten veranschaulicht werden. Der Kritik von Kurt Sontheimer am erstarkten Nationalismus und von Reinhard Kühnl an der Wiederbelebung faschistischer Tendenzen stehen die Ausführungen von Lorenz Bessel-Lorck und Scheuch zum Rechtsradikalismus in der BRD entgegen. Mit ihrer Verwendung des Radikalismusbegriffs175 geht eine Grenzziehung zwischen der Demokratie und ihren Gefahren einher, die mit der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie einhergeht.

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Diesen Forschungsansatz bringt Adorno (1970b: 10 Hervorh. im Original) mit seinem oft bemühten Zitat auf den Punkt: »Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.« Verstärkt wurde diese Diskussion durch Bundeskanzler Erhard (1965: 17D), der in seiner Regierungserklärung verkündete: »Die Nachkriegszeit ist zu Ende!«, und den damaligen Bundespräsidenten Gerstenmeier (1965), der ein neues nationales Selbstbewusstsein forderte (Rytlewski 1966; Fetscher 1967: 15–25; Holzer 1979: 13–14). Zur Geschichte des Radikalismusbegriffs im politischen Diskurs Deutschlands siehe Backes (1989: 55–69) und Bötticher (2015: 62–95). Zwischen 1945 und 1965 fand er kaum prominente Verwendung in den Sozialwissenschaften. Ausnahmen bilden die Monografien Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland (Büsch und Furth 1957), Verschwörung von rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945 (Jenke 1961), Ideologien des Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland (Knütter 1961) und einige wissenschaftliche Aufsätze. Eine Definition von Rechtsradikalismus formuliert lediglich Knütter (s. u.).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Fließende Übergänge nach Rechtsaußen Sontheimer setzte sich 1966 in seinem Essay Die Wiederkehr des Nationalismus kritisch mit dem neuen Nationalismus in der BRD auseinander. Er kritisiert nationalistische Positionen konservativer Politiker_innen, denen konservative, und später der Neuen Rechten zugeordnete Intellektuelle wie Armin Mohler sekundierten (Sontheimer 1966: 7–21). Sontheimer vermisst dabei eine Begründung, warum es diesen neuen Nationalismus brauche, wofür oder wogegen er helfe und was ihn genau ausmache. Darin sieht er eine Wiederkehr des antidemokratischen Nationalismus der Weimarer Zeit, der »sich solchen Fragen verweigerte. Opfer, Hingabe, Gemeinschaftssinn galten eben der Nation, dem Vaterland. Weitere Fragen zu stellen, war ungehörig.« (Sontheimer 1966: 29). Diesen Nationalismus verortet er außerhalb des Demokratischen: »Ein nationales Gedankengut jedoch, das sich der kritischen Diskussion entzieht und seine Kritiker verfemt, hat in der Demokratie keinen Anspruch auf Respektierung« (Sontheimer 1966: 30). Obwohl sich Sontheimer (1966: 32) einen weniger problematischen Bezug auf die Nation vorstellen kann, sofern sich dieser der Demokratie unterordnet, ist sein Ziel nicht, die Scheidung zwischen gutem und schlechtem Nationalismus vorzunehmen. Im Gegenteil betont er Wechselwirkungen zwischen dem Nationalismus der Radikalen und dem der Konservativen: Die Rechtsradikalen gewinnen an Zulauf, weil führende Politiker der Bundesrepublik, die gewiß allen Radikalismus ablehnen, grünes Licht für einen neuen ›gereinigten‹ Nationalismus geben. Die Erfolge des Rechtsradikalismus wiederum geben den gemäßigten Nationalisten Veranlassung, das Feld des Nationalen selbst zu beackern, um es nicht den extremeren und emotionaleren politischen Parolen der Radikalen preiszugeben. [...] Man kann einen radikalen Nationalismus nicht durch einen gemäßigten neutralisieren und unschädlich machen. (Sontheimer 1966: 25).

Zwar bezeichnet Sontheimer die NPD auch als rechtsradikal, legt den Problemfokus aber auf den Nationalismus, der seines Erachtens die Ursache für deren Erstarken und damit für die Gefahr für die Demokratie darstelle. Damit verweist er auf ein ideologisches Kontinuum zwischen Konservatismus und Rechtsradikalismus. Kühnl bezieht sich in seiner Untersuchung von 1967 Die NPD. Struktur, Programm und Ideologie einer neofaschistischen Partei positiv auf die Ausführungen Sontheimers und dessen Warnung vor den Überschneidungen des radikalen und konservativen Nationalismus. Für Kühnl ist der Erfolg der NPD jedoch vor allem Ausdruck eines erstarkten NeoFaschismus, den er durch einen Vergleich mit der NSDAP nachweisen 209

8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

möchte.176 Dabei bezieht er sich auf den US-amerikanischen Soziologen Seymour Lipset (1959), der den Faschismus als Extremismus der Mitte bezeichnete. Lipset analysierte die sozialstrukturellen Trägerschichten des historischen und aktuellen Faschismus und macht diese im Mittelstand aus. Dieser neige in besonderem Maße zum Faschismus und sei, so Kühnl (1967b: 47–78), auch Basis der NPD. Neben der ökonomischen Mitte sei nach Lipset auch die politische Mitte, der Liberalismus, für den Faschismus anfällig, da dieser dieselben Schichten anspreche wie der klassische Faschismus (dazu ausführlich Kapitel 8.2.7). Dies sieht Kühnl durch den »Niedergang der FDP und Aufstieg der NPD in der Bundesrepublik bestätigt« (Kühnl 1967b: 83).177 Die Hauptgefahr eines weiteren Erstarkens des Faschismus liegt für ihn in der erfolgreichen Mobilisierung des Mittelstands in Zeiten ökonomischer Krisen. Deshalb schlägt er vor, die sozialstaatlichen Versprechen im Grundgesetz einzulösen und Sozialisierungsmaßnahmen nach Art. 15 GG durchzuführen (Kühnl 1967b: 215–218). Mit seinem analytischen Fokus auf die ökonomische Struktur und den Faschismusbegriff unterscheidet er sich von Sontheimer, wobei er mit diesem die Einschätzung teilt, dass die Gefahren für die Demokratie einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung geschuldet sind. Beide Autoren legen in ihren Analysen keine vergleichbare Entwicklung oder Gefahr von links nahe. Klare Grenze zwischen Demokratie und Radikalismus Eine klare Grenze zwischen demokratischen und radikalen Positionen zu ziehen, fordert hingegen der Leiter der Abteilung Rechtsradikalismus beim BfV, Bessel-Lorck. Sein Beitrag erschien 1966 in einem Sammelband der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, der die Frage national oder radikal? als Titel trug und im Untertitel Der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland bereits eine Antwort anbot. Bessel-Lorck beruft sich mehrfach auf die bis dato erschienenen Verfassungsschutzberichte; auch ähnelt sein Aufsatz in Aufbau, Ausdruck und ____________________ 176 177

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Kühnl (1967b: 2) setzt seiner Untersuchung die nicht unumstrittene These voraus, dass »die NSDAP als Muster einer faschistischen Partei dient«. Zwar verlor die FDP bei der Bundestagswahl 1965 und einigen Landtagswahlen Mitte der 1960er Jahre an Stimmen, rutschte aber in keinem Bundesland unter die Fünf-Prozent-Hürde. Von einem Niedergang zu sprechen scheint vor diesem Hintergrund nicht gerechtfertigt.

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

inhaltlicher Ausrichtung stark diesen Berichten.178 Ziel seines Beitrags ist es eine realistische Einschätzung über den Umfang und die Gefahren des Rechtsradikalismus179 in der BRD zu treffen, als Gegengewicht zu den einseitigen Berichten »deutschenfeindlicher Publizisten«, »Agitationen der Kommunisten« und »deutscher Rechtsextremisten« (Bessel-Lorck 1966: 9–10; siehe auch BfV 1962: 261, 1963: 4). Er listet die bisherigen neonazistischen und antisemitischen Straftaten auf und kommt zu dem Schluss, dass »relativ wenige von ihnen [...] den Eindruck gezielter politischer Aktionen« erwecken und »viele Taten [...] Ausdruck eines unpolitischen Rowdytums« seien (Bessel-Lorck 1966: 13–14; siehe auch BfV 1963: 14, 1964: 16, 1966: 32). Die Täter_innen werden als kaum organisiert, geltungssüchtig und charakterschwach beschrieben (Bessel-Lorck 1966: 29; siehe auch BfV 1963: 14, 1964: 16, 1966: 34). Auf der anderen Seite räumt der Autor ein, dass die NS-Ideologie noch nicht überwunden sei und etwa 3000 »Unbelehrbare« (Bessel-Lorck 1966: 30) im Bundesgebiet ihr Unwesen trieben. Die Ursachen der Straftaten seien also entweder unpolitischer Natur und/oder in den charakterlichen Schwächen der Täter_innen zu suchen bzw. durch ideologische Restbestände des Nationalsozialismus erklärbar. Verknüpfungen mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen oder eine Problematisierung aktueller Diskurse, wie Kühnl und Sontheimer sie vornehmen, thematisiert Bessel-Lorck nicht. Dafür fordert er, um den Straftaten sinnvoll begegnen zu können, »die Grenzlinie zwischen legalem Konservatismus der demokratischen Rechten und dem Rechtsradikalismus in der politischen Auseinandersetzung noch klarer als bisher« (Bessel-Lorck 1966: 34) zu ziehen. Eine ähnliche Grenzziehung legten auch die empirisch und theoretisch angereicherten Überlegungen einer Forschungsgruppe um den Kölner So____________________ 178

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Ich werde durch Verweise auf die Verfassungsschutzberichte angeben, an welchen Stellen sich Bessel-Lorcks wissenschaftliche Ausführungen mit diesen gleichen. Auf die engen Verflechtungen zwischen Sicherheitsbehörden und Extremismus- bzw. Radikalismusforschung gehe ich weiter unten ausführlicher ein. Seinen Ausführungen liegt die Radikalismusdefinition der Sicherheitsbehörden zugrunde, auf die er abschließend verweist: »Die Staatsschutzorgane bezeichnen seit jeher als Rechtsradikale nur diejenigen nationalistischen Gruppen und Personen, die ein glaubhaftes Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Staats- und Rechtsordnung vermissen lassen und bei denen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß ihre Zielsetzung oder Tätigkeit gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet ist.« (Bessel-Lorck 1966: 34; siehe auch BfV 1965a: 12–13).

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

ziologen Erwin Scheuch nahe. Die Wahlerfolge der NPD ab 1965 veranlassten die Gruppe zu mehreren Erhebungen, die in den Folgejahren viel beachtete empirische Ergebnisse über die Partei und ihre Wähler_innenschaft lieferten.180 Die Bedingungen, unter denen sich Menschen für die NPD entscheiden, versuchte Scheuch zusammen mit Hans-Dieter Klingemann 1967 in der Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften darzulegen. In diesem zentralen Aufsatz grenzen sich die Autoren einleitend von bisherigen Erklärungsmustern ab. Sie verstehen Rechtsradikalismus weder als eine Besonderheit der deutschen Gesellschaft, wie in vielen Analysen des Nationalsozialismus impliziert, noch als eine Übersteigerung des Konservatismus (Scheuch und Klingemann 1967: 11–12). Ihre Erklärung von Rechtsradikalismus als eine »normale Pathologie westlicher Industriegesellschaften« (Scheuch und Klingemann 1967: 15)181 leiten sie aus den erlebten Spannungen der Individuen in westlichen Industriegesellschaften ab, welche vermehrt zur Übernahme rigider Denk- und Orientierungssysteme führen würden. Dadurch bestehe eine gewisse Anfälligkeit für politischen Radikalismus. Ob sich dieses Potenzial jedoch in den Erfolg rechtsradikaler Bewegungen übersetzt, hängt a) von der Verfügbarkeit politischer (extremistischer) Philosophien, b) vom Zustand des politischen Systems und c) von der Fähigkeit politischer Institutionen, Extremismus zu begegnen, ab. Durch die Analyse dieser ›funktionalen Äquivalente‹ erhoffen sich die Autoren, Prognosen über den Erfolg rechtsradikaler Bewegungen treffen zu können (Scheuch und Klingemann 1967: 15–21). Obwohl sich der Aufsatz im Titel explizit auf Rechtsradikalismus bezieht, bleibt dieser Begriff unbestimmt. Stattdessen legen Scheuch und Klingemann eine Definition des Extremismusbegriffs, der im Verlauf des Aufsatzes ohne erkennbare Unterscheidung zum Radikalismusbegriff häufig verwendet wird, vor: Hier sei angenommen, Extremismus bedeute die grundsätzliche Ablehnung der gegenwärtigen Gesellschaftsform und ihrer politischen Organisation als untragbar, ja als böse unter Verweis auf einen alternativen und effizienteren Organisationstyp der Gesellschaft. (Scheuch und Klingemann 1967: 22).

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Aus dieser Forschungsgruppe wurde eine größere Anzahl an Arbeiten veröffentlicht. Backes (1989: 43–44, FN 35) hat sie zusammengetragen. In dieser Annahme sieht Salzborn (2015: 97) eine »politische Entlastungsmöglichkeit« für die bundesdeutsche Gesellschaft (siehe auch Oppenhäuser 2011: 49).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Linke Extremist_innen würden ihre Ziele auf einen zukünftigen Idealzustand richten, Rechte hingegen auf die Vergangenheit. Zwar benennen die Autoren Unterschiede zwischen Rechts- und ›Linksextremismus‹, reklamieren aber eine Erklärung für Radikalismus bzw. Extremismus an sich zu liefern, der sich je nach Gelegenheitsstruktur in eine rechte oder linke Variante entwickeln kann (Scheuch und Klingemann 1967: 22–23). Trotz der verschiedenen Blickwinkel des Verfassungsschützers und der beiden Soziologen auf Radikalismus zeigen sie in wichtigen Fragen Übereinstimmung. Beide Ansätze nehmen eine stabile Grenze zwischen Demokratie und Radikalismus an und schließen Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen aus. Zusammenfassung Die Unterschiede der vorgestellten Ansätze sind deutlich. Sontheimer und Kühnl betonen die fließenden Übergänge und wechselseitige Bedingtheit zwischen Konservatismus und radikalem Nationalismus bzw. zwischen Liberalismus und Faschismus. Für sie hat das Aufkommen der NPD gesamtgesellschaftliche Ursachen: der verbreitete Nationalismus bzw. die ökonomischen Strukturen. Auch wenn sie stellenweise von Rechtsradikalismus sprechen (u. a. Kühnl 1967a, 1967c), implizieren ihre Ausführungen kein linkes Pendant, das in einem ähnlich negativen Verhältnis zur Demokratie steht. Dem gegenüber plädiert Bessel-Lorck für eine Stärkung der Grenze zwischen Konservatismus und Rechtsradikalismus, ohne dies weiter zu begründen. Scheuch und Klingemann betonen diese Grenze ebenfalls, was sie mit einem Potenzial an Radikalismus erklären, der als ›normale Pathologie‹ jeder Industriegesellschaft immanent ist. Dieses Potenzial kann sich in eine linke oder rechte Variante entwickeln. Die von ihnen vorgenommene Trennung zwischen demokratisch und radikal impliziert eine daraus abgeleitet Unterscheidung in Links- und Rechtsradikalismus. Dabei geht die Unterscheidung zwischen radikal und demokratisch der zwischen links und rechts voraus. Eine Prämisse die auch für die Extremismusforschung konstitutiv ist (Oppenhäuser 2011: 48; Salzborn 2015: 95) und mit der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie korrespondiert. Diese Prämisse öffnet den Weg für zahlreiche Vergleichsstudien, die in den Folgejahren zwischen der erstarkten Neuen Linken und Alten Rechten

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

durchgeführt wurden.182 Damit stabilisierte sich der Antiextremismus. Das Prinzip der Wehrhaftigkeit war hingegen kaum Thema wissenschaftlicher Debatten. Doch mit dem Erstarken der Neuen Linken und den Auseinandersetzungen um den Radikalenerlass entfaltet sich in den 1970er Jahren eine kritische Diskussion um dieses Prinzip, die die hegemoniale eigentliche Bedeutung der Demokratie infrage stellte. 8.2.2 Wehrhafte Demokratie in der Diskussion Während bis in die 1960er Jahre hinein kaum Diskussionen um die wehrhafte Demokratie und ihre Auswirkungen stattfand (Lameyer 1978: 82– 83; Backes und Jesse 1996: 15),183 gewann in den Folgejahren die »Fundamentalkritik an der streitbaren Demokratie deutlich an Boden« (Backes und Jesse 1990: 26 Hervorh. im Original). Auslöser waren vor allem die seit 1962 geführten Diskussionen um die Notstandsgesetze, die Änderungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, der Radikalerlass von 1972 samt seiner Folgen und die Bekämpfung des Terrorismus in den 1970er Jahren (u. a. Bulla 1973: 340–341; Flümann 2015b: 250). Ich möchte drei zentrale Kritikpunkte vorstellen: Erstens demokratietheoretische Einwände gegen das Konzept der wehrhaften Demokratie, zweitens Kritik an der Anwendung ihrer Instrumentarien in der BRD und drittens Kritik an der historischen Begründung des Konzepts. Erstens wenden Kritiker_innen der wehrhaften Demokratie ein, dass deren Prinzipien das demokratische Prinzip einschränkten.184 Gerd Lautner ____________________ 182

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Diese Studien hießen bspw. Hitlers und Maos Söhne: NPD und Neue Linke (Schmidt 1969) oder Der Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechts- und Linksradikalen (Ritter 1970). Weitere Vergleichsstudien siehe u. a. Klingemann und Pappi 1972; Scheuch 1970, 1974. Eine der wenigen Zeitgenoss_innen, die sich ausführlich und kritisch mit einer vergleichenden Perspektive beschäftigen, ist Grebing (1973) mit ihrem Buch Linksradikalismus gleich Rechtsradikalismus. Eine falsche Gleichung. Aufgrund der vorhandenen Literatur ist Backes (1989: 43) zu widersprechen, wenn er, bezogen auf die Jahre nach Erstarken der NPD und der Neuen Linken, schreibt, »daß für eine Erörterung möglicher Gemeinsamkeiten beider Richtungen wenig Raum blieb«. Die hier aufgeführten Arbeiten finden keine Erwähnung in seinem Literaturverzeichnis. Die wenigen Arbeiten, die sich früh dem Thema annahmen, sind bei Lameyer (1978: 83, FN 122) aufgelistet. Das räumen auch Befürworter_innen des Konzepts selbst ein. In Kapitel 5 wurde ausgeführt, wie der damalige Justizminister Dehler fordert, die Freiheit

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

(1978: 63) bspw. argumentiert, die Unveränderlichkeitsklausel des Art. 79, Abs. 3 GG stehe »mit dem Prinzip der Volkssouveränität im Widerspruch«, da dem Souverän die Möglichkeit genommen sei, bestimmte Artikel des Grundgesetzes auf legalem Wege zu ändern. Ulrich K. Preuß (1973) beschreibt die fdGO als ›Super-Legalität‹, die über den gesetzlichen Normen stünde. Er sieht sich durch ein Urteil des BVerfG vom 18. Februar 1970 darin bestätigt, dass mit der ›fdGO-Formel‹ politische Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können (Preuß 1973: 17–30).185 Die Befürchtung, dass mit diesem Instrument bereits frühzeitig in den politischen Willensbildungsprozess eingegriffen werden könne, sehen auch andere Politik- und Rechtswissenschaftler_innen (u. a. Maus 1976; Denninger 1977a, 1977b). Mit Bezug auf die Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung in Art. 18 GG argumentiert Sebastian Cobler (2012: 79) in seinem 1979 erstmals erschienen Aufsatz, dies zeige »die ausdrückliche Privilegierung der suggestiv ›Verfassungsordnung‹ genannten Staatssicherheit gegenüber den zur Gefahrenquelle deklarierten Grundrechten«. Zweitens steht die Anwendung der Instrumente wehrhafter Demokratie in der Kritik. Jaschke (1991: 23) stellt diesbezüglich die zentrale Frage: »Wer ist legitimiert, ›Verfassungsfeinde‹ zu definieren?« Während über die Verfassungswidrigkeit das BVerfG entscheiden muss, kommt infolge des Radikalenerlasses und der Regelanfrage zunehmend den Verfassungsschutzbehörden die Aufgabe zu, die Grenze zwischen Demokrat_innen und Verfassungsfeind_innen zu bestimmen (Kapitel 7.3). Dies kritisiert bspw. der Staatsrechtler Erhard Denninger (1977a: 8): Die weitgehende Überantwortung der Interpretations- und Verfügungsherrschaft über die ›fdGO‹-Formel an die Exekutive(n) gibt dieser nahezu kontrollfreie politische Machtmittel zur Ausschaltung oppositioneller Meinungsbildungen an die Hand.

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einzuschränken, um den demokratischen Staat zu schützen. Auch einige Wissenschaftler_innen, die die wehrhafte Demokratie verteidigen, sehen dadurch politische Freiheitsrechte beschränkt (u. a. Bracher 1978; Backes und Jesse 1996: 15–16; Flümann 2015b: 105). Als Negativbeispiel führt er ein Urteil an, mit dem die Entfernung eines Unteroffiziers aus dem Dienst begründet wurde, der sich kritisch zu den Notstandsgesetzen geäußert hatte. Im Urteil hieß es: »Mit der provozierenden Behauptung, in der Bundesrepublik könne man seine Meinung nicht frei äußern, diffamiert der Beschwerdeführer die freiheitliche Grundordnung.« (zitiert nach Müller 2009: 5).

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Andere Kritiker_innen der wehrhaften Demokratie, bezweifeln drittens ihre historische Begründung. So schreibt Lautner (1978: 10): Heute darf es als erwiesen gelten, daß die überwiegende Zahl der Grundgesetzväter bei ihrer Beurteilung des Niedergangs der Weimarer Verfassung und der Entstehung des Faschismus einer Fehleinschätzung unterlagen; nicht Konstruktionsmängel der Verfassung, sondern das politische Verhalten der deutschen Führungseliten bereitete den Weg zum Nationalsozialismus.186

An der bundesdeutschen Konzeption der wehrhaften Demokratie wurde kritisiert, dass sie staatszentriert sei, der Exekutive die Möglichkeit zum willkürlichen Agieren eröffne und historisch falsch hergeleitet sei. Diese Kritik erfuhr vor allem in den 1980er Jahren Widerspruch innerhalb der Politikwissenschaft. (u. a. Jesse 1980; Boventer 1985a, 1985b; Backes und Jesse 1990).187 Jesse, der sich mit dem Thema Streitbare Demokratie in der Bundesrepublik. Das Beispiel des Extremistenbeschlusses von 1972188 habilitierte, negiert die aufgeführten Kritikpunkte. So seien die Einwände haltlos, die Instrumente der streitbaren Demokratie wirkten disziplinierend auf den politischen Willensbildungsprozess und beförderten eine Kultur des ›Duckermäusertums‹. Er verweist auf die Erfahrungen mit dem Radikalenerlass, da hierdurch »nicht einmal 1000 Bürger wegen mangelnder Verfassungstreue abgelehnt worden sind« (Jesse 1980: 72). Ebenso sei der Vorwurf, die fdGO lasse einen großen Spielraum zu, um auch missliebige politische Akteur_innen zu bekämpfen nicht korrekt, da die Begriffsbestimmung ein so hohes Maß an Genauigkeit und Klarheit auf[weist], daß sich Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung – folgt man der Interpretation [des BVerfG, M. F.] – leicht ausmachen lassen (Jesse 1980: 18).189

Auch die Kritik, die Exekutive könne nahezu nach Belieben Personen des Extremismus bezichtigen, sei nicht haltbar, da sich die Verfahren »durch ein Höchstmaß an Rechtsstaatlichkeit« (Jesse 1980: 66) auszeichneten. ____________________ 186 187 188 189

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Zeitgenössisch führt auch Eckart Bulla (1973: 341–346) dieses Argument aus. Die kritischen Einwände zu der Entscheidung für die wehrhafte Demokratie als Lehre aus Weimar sind in Kapitel 4.5 ausgeführt. Nicht alle Befürworter_innen bekennen sich so deutlich wie Jesse (1980: 8) zur wehrhaften Demokratie: »Der Autor weiß sich keiner parteipolitischen Richtung verpflichtet, wohl aber dem Prinzip der streitbaren Demokratie.« Diese Schrift wurde Ende der 1980er Jahre erstellt, aber bislang nicht veröffentlicht. Auf die einzelnen Bestandteile der fdGO und ihren weiten Interpretationsspielraum geht Lautner (1978) ausführlich ein.

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Auch die Feststellung, das Grundgesetz sei als Lehre aus Weimar entstanden, spielt in der Verteidigung der wehrhaften Demokratie immer wieder eine Rolle, ohne jedoch das Scheiterns Weimar zu diskutieren. In frühen Ausführungen dazu zeichnet Jesse (1980: 10–14) noch ein relativ vielschichtiges Bild über das Ende der Weimarer Republik. Er erwähnt die Republikschutzgesetze, deren unzureichende Anwendung und die antidemokratischen Positionen der Weimarer Eliten, spricht aber auch von der Legalitätstaktik der Nationalsozialist_innen. In späteren Schriften der Extremismusforschung wird auf die vielschichtigen Gründe für das Scheitern von Weimar nicht weiter eingegangen, sondern lediglich die Entscheidung für die Wehrhaftigkeit als nicht hinterfragte Lehre aus Weimar vorgestellt (u. a. Backes und Jesse 1990: 11, 1996: 17–18; Jesse 2016: 13).190 Nicht zufällig sind die Verteidiger der wehrhaften Demokratie auch Begründer der Extremismusforschung. Den Zusammenhang stellen sie erstens darüber her, dass das Prinzip der Wehrhaftigkeit beinhalte, nicht ›einseitig‹ antikommunistisch oder antifaschistisch vorzugehen, sondern stets eine antiextremistische Politik zu verfolgen. Zweitens kommt in einer wehrhaften Demokratie der Identifikation jener Feinde der Demokratie, die noch keine Gewalt anwenden, eine zentrale Rolle zu. Genau diese Aufgabe verspricht die Extremismusforschung zu leisten (Jesse 1980; Backes und Jesse 1983, 1996, 2000a). In den letzten 30 Jahren verstummte die Diskussion um die wehrhafte Demokratie weitgehend, mit wenigen Ausnahmen in den 1990er Jahren (Jaschke 1991; Leggewie und Meier 1995). Sarah Schulz (2017: 16) führt dies darauf zurück, dass »die politischen Auseinandersetzungen um das Demokratieverständnis in der Bundesrepublik hegemonial entschieden sind«. Selten werde in demokratietheoretischen Debatten auf die Kritiken der 1970er und 1980er Jahre Bezug genommen. Erst in den letzten Jahren erschienen mehrere Arbeiten, die einen kritischen Blick auf die Geschichte der wehrhaften Demokratie in der BRD werfen (Foschepoth 2012; Ri____________________ 190

Bei Backes und Jesse (1991: 21) heißt es bspw.: »Die junge Republik verzichtete im demokratischen Überschwang auf jegliche Schutzvorkehrungen. [...] So stand der demokratische Staat der Legalitätstaktik von Extremisten hilflos gegenüber.« Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit neueren Forschungsergebnissen dazu. Zur Arbeit von Gusy (1991), der ausführlich Abwehrinstrumente der Weimarer Republik vorstellt, schreiben sie in einer Fußnote: »In einer neueren Studie versucht Christoph Gusy die Abwehrschwäche Weimars zu relativieren.« (Backes und Jesse 1993b: 409, FN 5). Eine Auseinandersetzung mit seinen Argumenten findet nicht statt.

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

goll 2013; Foschepoth 2017; Schulz 2017). Diese erreichen aber bei Weitem nicht die Breitenwirkung wie die Diskussionen der 1970er Jahre, sodass das Prinzip der wehrhaften Demokratie nach wie vor weitgehend unhinterfragt bleibt. Die Diskussionen der 1970er Jahre bergen jedoch Anknüpfungspunkte, diese Stellung in Zweifel zu ziehen. 8.2.3 Radikalismus oder Extremismus? Die bisher diskutierten Arbeiten wurden meist unter dem Schlagwort des politischen Radikalismus publiziert. In den Texten war immer wieder auch die Rede von politischem Extremismus, ohne eine erkennbare differente Verwendung der Begriffe. Dies wurde bis weit in die 1980er Jahre kritisch festgestellt und mit der unzureichenden Definition der jeweiligen Begriffe erklärt (u. a. Infratest 1978: 9; Hohlbein 1985: 7; Backes 1989: 38–48). Erste Definitionen in der bundesdeutschen Diskussion finden sich zu Radikalismus bei Knütter (1961: 16–17) und zu Extremismus bei Scheuch und Klingemann (1967: 22), ohne dass eine Abgrenzung zum jeweils anderen Begriff vorgenommen wird. Eine explizite Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen führen Hans-Dieter Klingemann und Franz Pappi in ihrer »einflußreichen Arbeit« (Backes 1989: 44)191 aus dem Jahr 1972 ein. Ziel ihrer empirischen Untersuchung ist es, anlässlich der Landtagswahlen 1970 in Hessen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Wähler_innen zu analysieren, »die man als Radikale bzw. als extreme Linke [DKP, M. F.] und extreme Rechte [NPD, M. F.] bezeichnen kann« (Klingemann und Pappi 1972: 10).192 Dafür entwickeln sie ein zweidimensionales Modell. Auf der einen Achse stehen sich radikale und demokratische Positionen, im Sinne des Eintretens für demokratische Normen (Mittelebene), gegenüber, durch die zweite Achse werden die Positionen nach ihrem Verhältnis zu demokratischen Grundrechten (Zielebene) verortet. Hier führen sie den Extremismusbegriff ein, indem eine hohe Befürwortung der Grundrechte als linksextrem ____________________ 191

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Vor allem empirische Arbeiten der 1980er Jahre nehmen Bezug auf Klingemann und Pappi (Infratest 1980; Noelle-Neumann und Ring 1984). Seitdem sind der Ansatz und die damit einhergehende Begriffsverwendung weitgehend in Vergessenheit geraten. Die Studie wurde vom Bundesinnenministerium gefördert und entstand aus dem bereits oben erwähnten Forschungszusammenhang um Scheuch an der Universität Köln (Klingemann und Pappi 1972: 7).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

und eine starke Ablehnung als rechtsextrem bezeichnet wird (Klingemann und Pappi 1972: 72–75). Die Ergebnisse erlauben es, die DKP als radikal und als linksextrem einzuordnen.193 Wobei letztere Bezeichnung nicht negativ konnotiert ist, sondern ›extrem‹ hohe Zustimmungswerte zu demokratischen Grundwerten bedeutet. Damit unterscheidet sich die Bedeutung des Extremismusbegriffs stark von der der Extremismusforschung. Die Begriffsdifferenzierung von Klingemann und Pappi setzte sich in den Folgejahren nicht durch. Vielmehr ist ab Mitte der 1970er Jahre eine Unterscheidung zwischen Radikalismus und Extremismus erkennbar, die jener von Maihofer aus dem Vorwort des Verfassungsschutzberichts 1975 gleicht (Kapitel 7.3.2). So fordern Backes und Jesse (1983: 8): Die sozialwissenschaftliche Forschung hätte sich zweckmäßigerweise am bereits vorhandenen juristischen Sprachgebrauch orientieren können. Die Unterschiede zwischen juristischer und sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung sind konstruiert und entbehren jeder Grundlage.

Dabei beziehen sich die Autoren kritisch auf Klingemann und Pappi und verweisen positiv auf einen Artikel von Maihofer (1978), der inhaltlich dem Vorwort des Verfassungsschutzberichts von 1975 entspricht. Mit dem Verweis auf die juristische Begriffsbestimmung wird die fdGO als Kern der Demokratie und Antithese zu Extremismus eingeführt (Backes und Jesse 1983: 5–6, 1987: 19). Ohne direkten Bezug auf Maihofer, aber dem Prinzip seiner Unterscheidung folgend, baut Ossip Flechtheimer seinen erstmals 1976 erschienen Aufsatz Extremismus und Radikalismus. Eine Kontrastudie auf. Im Hinblick auf die zeitgenössische Diskussion unterscheidet er zwischen radikaler und extremer Umsetzung utopischer Vorstellungen durch die Neue Linke: Im Gegensatz zum Extremismus bleibt aber der humane und demokratische Radikalismus auch in seiner sozialistischen Spielart sich stets dessen bewußt, daß es zwar nötig sein mag, an die Stelle der bestehenden Gesellschaftsordnung eine radikal neue zu setzen, daß aber auch diese neue Gesellschaft nur in einigen wichti-

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Fälschlicherweise behauptet Backes (1989: 45) in seiner Rezeption von Klingemann und Pappi: »Nach diesem Verständnis sind die DKP-Wähler also radikal, jedoch nicht extremistisch«. Klingemann und Pappi (1972: 74) schreiben jedoch, es sei »angemessener, die Extrempositionen auf dem Links-Rechts Kontinuum als Links- bzw. Rechtsextremismus zu bezeichnen«. Eine korrekte Wiedergabe des Ansatzes findet sich u. a. bei Winkler (2000b: 43–44).

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase gen Aspekten neu sein kann, in anderen dagegen der Tradition der Geschichte verhaftet bleiben muß. (Flechtheim 1978: 59).194

Zwar bleiben die Kriterien zur Abgrenzung des Extremismus vage, doch spricht er sich für die Verwendung des Extremismusbegriffs mit negativer Konnotation und dem Radikalismusbegriff mit positiver Konnotation aus (Flechtheim 1978: 47–48). Dieser Wertung folgten zahlreiche Wissenschaftler_innen (u. a. Holzer 1979; Funke 1983: 133; Hohlbein 1985: 8). Die begriffliche Differenzierung, wie sie 1975 von Maihofer vorgenommen wurde, setzt sich spätestens in den 1980er Jahren mit der gleichen Konnotation in den Sozialwissenschaften durch. Auf die Schwierigkeit des Radikalismusbegriffs, der mit einer langen Begriffsgeschichte belegt ist und auch zur Klassifizierung von Liberalen und Sozialdemokrat_innen verwendet wurde, verwies Sontheimer (1970: 14) schon Jahre zuvor. Der Extremismusbegriff gilt hingegen als weniger vorbelastet und eignet sich somit besser als Abgrenzungsbegriff zur fdGO (Backes und Jesse 1993b: 39). Die Extremismusforschung, die im Folgenden ausführlich diskutiert wird, macht sich diese Begriffsunterscheidung zu eigen. Ebenso fließen die Positionen aus der Verteidigung der wehrhaften Demokratie in diesen Forschungszweig ein. So auch die Priorisierung der Grenze zwischen Demokratie und Radikalismus/Extremismus gegenüber der von links und rechts, wie sie bereits in der Radikalismusforschung der ausgehenden 1960er Jahre vollzogen wurde. 8.2.4 Prämissen der normativen Extremismusforschung Ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die Extremismusforschung ist die Totalitarismusforschung der 1950er und 1960er Jahre. Für Backes und Jesse stellt sie einen Teilbereich der Extremismusforschung dar. Extremismus gilt ihnen als Obergriff für »Bestrebungen gegen demokratische Normen und Werte – sei es, daß diese Aktivitäten innerhalb der Demokratie vonstatten gehen, sei es, daß Extremisten selber Macht ausüben« (Backes und Jesse 1987: 20). Gleichzeitig plädiert Backes (1989: 40–41) da____________________ 194

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Ähnlich argumentierte bereits 1931 der Theologe Franz Keller im katholischen Staatslexikon. Radikalismus bezeichnet hier eine grundlegende, aber schrittweise Veränderung der Gesellschaft, während Extremismus sich davon entbunden fühlt und »zerstört, ohne aufzubauen« (zitiert nach Backes 1989: 60). Außer Backes verweisen aber keine der hier rezipierten Arbeiten auf diese sehr frühe Begriffsunterscheidung.

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

für, »sorgfältiger als bisher zwischen Extremisten an und jenseits der Macht zu differenzieren«. Sie selber wenden sich in ihren Arbeiten vor allem Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten zu und behalten in Bezug auf diktatorische Regime die Bezeichnung des Totalitarismus und der Totalitarismusforschung bei (u. a. Backes und Jesse 1992; Jesse 1999a). Deshalb werde ich in dieser Arbeit von Extremismusforschung in Bezug auf als extremistisch deklarierte Phänomene in demokratischen Verfassungsstaaten sprechen, um sie von der in Kapitel 6.2 vorgestellten Totalitarismusforschung abzugrenzen. Auf Parallelen beider Forschungsbereiche gehe ich in Kapitel 8.2.8 gesondert ein. Backes und Jesse gelten aufgrund ihrer einschlägigen Publikationen als Begründer der Extremismusforschung. Wegweisend ist ihr 1989 erschienenes dreibändiges Werk Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von der BpB.195 Im gleichen Jahr veröffentliche Backes seine Dissertation mit dem Titel Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie. Beide Schriften enthalten Herleitungen, Prämissen und Definitionen der Extremismusforschung. In dem von Backes und Jesse seit 1989 herausgegebenen Jahrbuch Extremismus & Demokratie196 kommen diese Grundlagen zur Anwendung, wobei die konzeptionellen Setzungen aus den genannten Grundlagenwerken weitgehend unverändert geblieben sind. Eine normative Verankerung des Forschungsansatzes kündigt Backes bereits im Titel seines Buches von 1989 an. Die Extremismusforschung sieht sich verpflichtet, die Werte und Verfahrensregeln demokratischer Verfassungsstaaten, als »erfolgreichste Institutionalisierung politischer Freiheit in der Geschichte der Menschheit«, zu bewahren, wie Backes (2010: 31) in Anlehnung an Peter Graf Kielmansegg (1988: 43) schreibt. Aus dieser normativen Setzungen leitet sich die Negativdefinition von Extremismus ab.

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Ich beziehe mich in den folgenden Ausführungen auf die dritte, völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage aus dem Jahr 1993. Seit dem Jahr 2009 ergänzen Alexander Gallus und seit 2018 Tom Thieme das Herausgeberteam.

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Negativdefinition von Extremismus Spätestens seit Ende der 1970er hat sich Extremismus als Gegenbegriff zu Demokratie durchgesetzt. Ein kritischer Einwand gegen diesen Begriff war, er fungiere als »Kampfbegriff« (Narr 1980), der missliebige politische Positionen diskreditieren könne. Dieser Missbrauch sollte durch die normative Verankerung des Begriffs behoben werden (u. a. Backes 1989: 88, 2010: 17).197 Zunächst wird der Extremismusbegriff ohne eigene Merkmale bestimmt, sondern darüber, was er nicht ist bzw. darüber, was Extremist_innen ablehnen. Diese Negativdefinition leitet sich aus dem Bekenntnis zum demokratischen Verfassungsstaat ab. Wer eine seiner Grundlagen, bestehend aus Pluralismus, Gewaltenkontrolle und Menschenrechten, ablehnt, gilt als Extremist_in (Backes 1989: 94–103, 2010: 22). Während Backes und Jesse in den Jahren zuvor noch die fdGO als geeignete Beschreibung demokratischer Minimalbedingungen nannten (Backes und Jesse 1983: 5–6, 1987: 19), sollte mit dieser Bestimmung eine Erweiterung des Forschungsfokus über den bundesdeutschen Kontext hinaus möglich sein und die Unabhängigkeit von den Einschätzungen der Sicherheitsbehörden deutlich werden, so die Interpretation des Extremismusforschers Armin Pfahl-Traughber (1992: 70). Backes (1989: 88) räumt ein, dass diese definitio ex negativo »zirkulär [ist], da sie sich um eine Achse dreht: die Minimalbedingungen von ›Demokratie‹«. Sie klärt zwar die Frage der Grenzziehung, der Extremismusbegriff selbst bleibt jedoch inhaltsleer (Backes 1989: 89). Dieser Mangel sollte mit einer Positivdefinition behoben werden, deren Ausgangspunkt wiederum die Negativdefinition ist. Positivdefinition von Extremismus Der Negativbestimmung folgend, gelten all jene Strömungen als extremistisch, die einen der Grundsätze demokratischer Verfassungsstaaten abschaffen wollen. Nach Backes sind dies sowohl extremistische Gruppen in demokratischen Verfassungsstaaten als auch autoritäre oder totalitäre Diktaturen bzw. ›Extremismus an der Macht‹. Aus den Positionen dieser ____________________ 197

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An älteren Definitionen, wie der oben genannten von Scheuch und Klingemann (1967: 22), kritisiert Backes (1989: 44), dass dadurch auch die HitlerAttentäter des 20. Juli zu Extremisten erklärt werden könnten.

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Strömungen arbeitet Backes mehrere Gemeinsamkeiten heraus. Die so gewonnenen Strukturen extremistischer Doktrinen sind Absolutheitsansprüche – offensiv und defensiv, Dogmatismus, Utopismus/Kategorischer Utopieverzicht, Freund-Feind-Denken, Verschwörungstheorien sowie Fanatismus/Aktivismus (Backes 1989: 294–314). Nach der Herleitung bezeichnet Backes (1989: 316) diese Elemente noch als »Grundlage einer ›definitio ex positivo‹«. Wenige Seiten später gelten sie bereits als die Positivdefinition des politischen Extremismus (Backes 1989: 328). Auf diese Definition verweisen Autor_innen der Extremismusforschung nach wie vor (u. a. Neu 2009; Jesse 2011: 17). Rechts- und ›Linksextremismus‹ Aus der Negativdefinition wurden die Unterkategorien Rechts- und ›Linksextremismus‹ abgeleitet.198 Ihnen gemein sei, dass sie mindestens eine Grundlage demokratischer Verfassungsstaaten ablehnen. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrem Verhältnis zum Prinzip fundamentaler Menschengleichheit. Während diese von Rechtsextremist_innen kategorisch abgelehnt würde, sei sie Teil eines linken Politikverständnisses (Backes und Jesse 1993b: 51–54, 474–475; Pfahl-Traughber 2015b: 21–22). Eine Ablehnung ist somit charakteristischer Bestandteil der zweistufigen Rechtsextremismusdefinition. Sie setzt sich zusammen aus: 1. [der] Menge der Definitionsmerkmale, die das betreffende Phänomen als ›extremistisch‹ im Sinne der Negation unverzichtbarer Werte, Verfahrensregeln und Institutionen demokratischer Verfassungsstaaten ausweisen; 2. [der] Ablehnung des Ethos fundamentaler Menschengleichheit zur Unterscheidung jener Extremismen, die im Sinne eines radikalen Antiegalitarismus als ›rechts‹ zu qualifizieren sind. (Backes 2003: 49).199

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Mit der Jahrtausendwende wurde Islamismus bzw. islamistischer Extremismus/Fundamentalismus als eigenständige, dritte Unterkategorie von Extremismus eingeführt. Die Definition erfolgt dabei ebenfalls in Abgrenzung zu den Grundbestandteilen demokratischer Verfassungsstaaten (u. a. Backes 2010: 27–28; Pfahl-Traughber 2015a: 75–76). Eine ähnliche Definitionen erarbeitet auch Pfahl-Traughber (1993: 14–30), wobei er die zweite Komponente mit den Elementen Nationalismus, Antipluralismus und Autoritarismus konkreter fasst. Auch die Arbeitsdefinition der Ämter für Verfassungsschutz beinhaltet diese beiden Komponenten, orientiert sich aber an die für den bundesdeutschen Kontext spezifische fdGO-Definition als Maßstab der ersten Komponente (BMI 2017: 40).

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Rechtsextremismus ist somit als »eine Teilmenge« (Backes 2003: 32) extremistischer Strömungen definiert. Die »andere Variante des politischen Extremismus« (Jesse 2004b: 13) ist demnach der ›Linksextremismus‹. In einer der bislang ausführlichsten Überblickdarstellung zu ›Linksextremismus‹200 leitet Pfahl-Traughber seine Begriffsdefinition aus dem Bezug zum Ideal der Gleichheit her. Trotz aller Differenzen zwischen den so bezeichneten Phänomenen sieht er ›Linksextremismus‹ als eine Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und Bestrebungen, die im Namen der Forderung nach einer von sozialer Gleichheit geprägten Gesellschaftsordnung die Normen und Regeln eines modernen demokratischen Verfassungsstaates ablehnen (Pfahl-Traughber 2015b: 23).201

Zwar gibt es innerhalb der Extremismusforschung keine einheitliche Definition von ›Linksextremismus‹, doch ist die Ablehnung der Grundelemente demokratischer Verfassungsstaaten zwingender Bestandteil aller Definitionen (u. a. Backes 2010: 27; Jesse 2011: 29). Beide Unterkategorien werden also aus der Negativdefinition von Extremismus abgeleitet. Diese negative Komponente wird jeweils mit einer positiven ergänzt. Im Falle des Rechtsextremismus ist dies die Befürwortung antiegalitärer Ideologien wie bspw. Rassismus, Nationalismus oder Antisemitismus; beim ›Linksextremismus‹ das Streben nach dem Ideal der Gleichheit. Diese zweistufige Definition zeigt sich auch in der wohl bekanntesten Darstellungsform des Extremismuskonzepts, dem Hufeisen-Schema.

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Bisherige Monografien stammen ausnahmslos von Autor_innen, die der Extremismusforschung zugeordnet werden können (Moreau und Lang 1996; Hüllen 1997; Knütter 2002; Bergsdorf und Hüllen 2011; Schroeder und DeutzSchroeder 2015). Positiv sticht ein differenzierter Sammelband, herausgegeben von der BpB, hervor (Dovermann 2011). Ebenfalls der Extremismusforschung können mehrere Werke zu linksextremen Parteien (u. a. Moreau und Neu 1994; Neu 2004; Müller-Enbergs 2008), autonomen und antifaschistischen Strömungen (Blank 2014) oder linksextremen Einstellungen (Neu 2012; Schroeder und Deutz-Schroeder 2016) zugerechnet werden. Kritiken an den Ansätzen der Linksextremismusforschung sind in dem Sammelband von Feustel, Stange und Strohschneider (2012) diskutiert. Wie bereits beim Rechtsextremismus ähnelt sich die Linksextremismusdefinition der Sicherheitsbehörden jener der Extremismusforschung.(BMI 2017: 64).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Abbildung 7: Hufeisen-Schema, eigene Darstellung nach Backes (1989: 252) Dieses ist zwar linear aufgebaut, aber in einem zweidimensionalen Raum verortet. Dadurch soll symbolisiert werden, dass sich die extremistischen Enden des politischen Spektrums einander annähern. Aus Sicht der Autoren wird darin, trotz aller Unterschiede zwischen den Extremismen, deren gemeinsame Gegnerschaft zur Demokratie sichtbar (Backes 1989: 250– 265; Jesse 2015a). Das Postulat der Äquidistanz Die Priorisierung der Unterscheidung zwischen Demokratie und Extremismus gegenüber der von links und rechts ist grundlegend für das »Postulat der Äquidistanz« (Backes und Jesse 2000a: 15). Dieses Postulat bedeutet, gegen alle Extremismen gleichermaßen vorzugehen: »Die normative Extremismusforschung wendet sich gegen die unterschiedliche Wahrnehmung von Rechts- und Linksextremismus. Das Äquidistanzgebot ist für sie kennzeichnend.« (Jesse 2015a: o. S.). Gleichbedeutend mit diesem Postulat ist die Einforderung eines antiextremistischen Konsenses. Dieser sei in Gefahr bzw. nicht gegeben, wenn einseitig antifaschistisch oder antikommunistisch vorgegangen werde. Eine längerfristige Abkehr stelle eine Gefahr für die Demokratie dar (Backes und Jesse 2000a). Bevor ich die Begründung wiedergebe, mit welcher Backes und Jesse der Unterscheidung zwischen demokratisch und extremistisch einen höheren Stellenwert beimessen als der zwischen links und rechts, möchte ich 225

8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

die politischen Richtungsbegriffe klären. Backes und Jesse (1997) beziehen sich dabei, ebenso wie Kritiker der Extremismusforschung (Hüttmann 2011; Salzborn 2015: 18), auf den italienischen Rechtsphilosophen Noberto Bobbio. Bobbio (1994) kritisiert, dass die Begriffskonnotation, die sich an der Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung von 1789 orientierte, nicht mehr angemessen sei. Damals galten die Rechten als konservativ, als Bewahrer_innen, und die Linken als progressiv, als Veränderer_innen. Wurden die Liberalen bis Mitte des 19. Jahrhunderts deswegen als links eingestuft, rückten sie im Laufe der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in die Mitte, während die Sozialist_innen ihren Platz linksaußen einnahmen. Die Nationalsozialist_innen, die im Weimarer Parlament äußerst rechts platziert waren, können schwerlich als bewahrende Kraft – zumindest hinsichtlich der politischen Strukturen – gesehen werden. So wurde immer wieder konstatiert, dieser Bezug der Links-RechtsUnterscheidung sei überholt und der Komplexität politischer Realitäten gegenüber nicht entsprechend (Bobbio 1994: 11–30, 71).202 Bobbio schlägt vor, die Links-Rechts-Unterscheidung an konkrete Inhalte zu knüpfen. Entscheidend sei, dass die Linken der Gleichheit der Menschen eine größere Bedeutung beimessen, während die Rechten von einer Ungleichheit der Menschen ausgehen: Die Antithese könnte nicht radikaler sein: im Namen der natürlichen Gleichheit verdammt der Egalitarier die gesellschaftlichen Ungleichheiten; im Namen der natürlichen Ungleichheit verdammt der Nicht-Egalitarier die gesellschaftliche Gleichheit. (Bobbio 1994: 80).

Diese inhaltlichen Verknüpfungen der Richtungsbegriffe rechts und links macht sich die Extremismusforschung zu eigen (Backes und Jesse 1997). Bobbio (1994: 31–43, 76–86) führt in seiner Arbeit eine weitere grundlegende Unterscheidung ein, die das Verhältnis der politischen Strömungen zum Ideal der Freiheit beschreibt, was zu folgendem Schaubild führt.

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Diese Position werde vor allem von konservativer Seite vorgetragen, da seit dem Scheitern der extremen Form rechter Politik, dem Faschismus und Nationalsozialismus, auch der Richtungsbegriff diskreditiert sei (Bobbio 1994: 26; Lenk 1994: 12; Backes und Jesse 1997: 30).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Abbildung 8: Koordinaten des politischen Raums, eigene Darstellung nach Bobbio (1994)203 Bezüglich der Frage, welche Unterscheidung nun zu priorisieren sei, weicht die Extremismusforschung von der Einschätzung Bobbios ab. Während Backes und Jesse die Gegenüberstellung von rechts und links als sekundär erachten, versteht Bobbio sie als ein antithetisches Verhältnis. Demzufolge schätzt er die Zusammenarbeit von Faschismus und Kommunismus als »historische Absurdität [...] von kurzer Dauer« (Bobbio 1994: 42–43) ein. Backes und Jesse begründen die Priorisierung der Freiheitsachse empirisch. Bspw. entziehe sich das wichtige Thema Ökologie der LinksRechts-Unterscheidung; es werde sowohl von linken wie von rechten Extremist_innen propagiert (Backes und Jesse 1997: 28). Weitere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Extremismen versuchen sie anhand verschiedener Vergleiche aufzuzeigen (u. a. Backes und Jesse 2005b; Jesse ____________________ 203

Bobbio (1994: 31) bezeichnet die beiden Pole der Freiheitsachse als »gemäßigt« bzw. »extrem«. Eysenck (1954: 111), dessen Modell im deutschsprachigen Raum breit rezipiert wurde, bevorzugt die Bezeichnungen »democratic« und »authoritarian«, während Backes und Jesse (1997: 22) von »demokratisch« und »extremistisch« sprechen. Aufgrund der potenziell verwirrenden, unterschiedlichen Bezeichnungen wird im vorliegenden Schaubild nur der Inhalt der Achsen beschrieben.

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

2009, 2011). Besonders heben sie das Argument der historischen Erfahrung mit dem ›Extremismus an der Macht‹ hervor: Mögen solche ideologischen Konzeptionen [Unterschiede zwischen rechts und links, M. F.] für Extremisten in freiheitlichen Demokratien noch eine gewichtige Rolle für den Gruppenzusammenhalt, das Selbstverständnis von Gruppe und Mitgliedern, die Mobilisation neuer Anhänger spielen, so gewinnen Machterwerb und Machterhalt in diktatorischen Regimen an Eigendynamik. Die Methode der Herrschaftsausübung weisen auch zwischen ideologisch stark divergierenden Machthabern zahlreiche Parallelen auf. [...] Für die im nationalsozialistischen Deutschland und im stalinistischen Rußland lebenden Menschen konnte es kein Trost sein, von einem Regime geknechtet und unterdrückt zu werden, das ein Himmelreich auf Erden bzw. die Weltherrschaft einer Herrenrasse anstrebte. (Backes und Jesse 1985: 23).

Sie behaupten, die Geschichte hätte gezeigt, dass an beiden Enden des politischen Spektrums das Ideal der Gleichheit aufgegeben werde: »Die Gleichmacherei führt in der Praxis zu größter Ungleichheit.« (Backes und Jesse 1997: 33).204 Mit dieser Begründung des Postulats der Äquidistanz ziehen die Autoren eine direkte Linie zum Totalitarismusansatz. Prämissen der normativen Extremismusforschung und die antiextremistische, wehrhafte Demokratie Die vorgestellten Prämissen der Extremismusforschung fügen sich bruchlos in die Diskursstruktur der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie ein. Die Autoren bekennen sich zur wehrhaften Demokratie mit einer Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Da die Gefahren der Demokratie nicht erst bei Anwendung von Gewalt bekämpft werden sollen, bedarf es einer genauen Bestimmung jener Positionen, die als antidemokratisch gelten. Dieser Aufgabe nimmt sich die Extremismusforschung an und greift auf den Extremismusbegriff zur Bezeichnung der Gefahren für die Demokratie zurück. Auch im Hinblick des Kerns der Demokratie gibt es mit der fdGO bzw., etwas allgemeiner gefasst, den Grundlagen demokratischer ____________________ 204

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In einem frühen Aufsatz sind vorsichtige Zweifel an dieser These formuliert, da die in extremistischen Gruppen »schlummernden Potentiale [...] nur schwer absehbar [sind], solange sie nicht über die Mittel zur Umsetzung der von ihnen propagierten Politik verfügen« (Backes und Jesse 1987: 21). Meist zeigen sich die Autoren jedoch gewiss: »Schließlich handelt es sich bei extremistischen Kräften um solche, die ein totalitäres oder ein autoritäres System errichten würden, kämen sie an die Macht.« (Jesse 2013a: 522).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Verfassungsstaaten Übereinstimmung zwischen der hegemonialen Diskursformation der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie und der Extremismusforschung. Im Folgenden soll kritisch geprüft werden, inwieweit diese Prämissen haltbar sind und wie sie in der Wissenschaft diskutiert werden. Mögliche Zweifel an den vorgestellten Prämissen können auf den politischen Diskurs ausstrahlen und Anknüpfungspunkte zur Dekonstruktion der hegemonialen Diskursformation geben. Zur Diskussion stehen im Folgenden die Annahme, Demokratie und Extremismus stünden in einem antithetischen Verhältnis, das Postulat der Äquidistanz und die Annahme, Rechtsextremismus sei ein Phänomen am Rand der Gesellschaft. 8.2.5 Demokratie und Extremismus – ein antithetisches Begriffspaar? Ihren ersten gemeinsamen Aufsatz von 1983 überschrieben Backes und Jesse mit Demokratie und Extremismus. Anmerkungen zu einem antithetischen Begriffspaar. In den Folgejahren wird die Prämisse des antithetischen Verhältnisses dahingehend spezifiziert, dass Extremismus ein solches Verhältnis zu demokratischen Verfassungsstaaten eingehe (u. a. Backes und Jesse 2000a: 14, 2004: 20). Jesse (2004a: 21–22) führt dazu aus: Der Extremismusbegriff ist der Gegenbegriff zum demokratischen Verfassungsstaat. Insofern handelt es sich um ein antithetisches Begriffspaar. Extremismus und Demokratie verhalten sich im Prinzip wie Feuer und Wasser.

Hier macht er die Spezifizierung rückgängig und der demokratische Verfassungsstaat wird mit Demokratie gleichgesetzt. In einem aktuellen Aufsatz schreibt Jesse (2015c: 11) von einem »antithetischen Verhältnis von Extremismus und Demokratie«. Diese Sichtweise verengt den Demokratiebegriff auf den demokratischen Verfassungsstaat. An anderen Stellen räumen die Autoren ein, es gäbe »Schnittmengen von Extremismus und Demokratie« (Backes und Jesse 1996: 19) oder eine »Übergangszone« (Backes 2010: 26). Parallel dazu bleibt aber die Behauptung des antithetischen Verhältnisses bestehen. Diese Widersprüchlichkeit hinsichtlich der zentralen Kategorien der Extremismusforschung fordert einen kritischen Blick auf die definitorischen Sätze, mit welchen Extremismus von Demokratie geschieden wird.

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Anmerkungen zur Negativdefinition Mittels der Negativdefinition bestimmt die Extremismusforschung extremistische Positionen als solche, die einer der drei Säulen demokratischer Verfassungsstaaten (Menschenrechte, Gewaltenkontrolle und Pluralismus) ablehnen. Gegen diese Definition und ihre Anwendung möchte ich zwei Einwände vorbringen. Trotz der Koppelung der Negativdefinition an die Grundlagen demokratischer Verfassungsstaaten ist die Kritik, es handele sich um einen ›Kampfbegriff‹ oder ›Kautschukbegriff‹ mit dem theoretisch alles unter Extremismusverdacht gestellt werden kann, nicht gebannt. Dies erkannte bereits früh Pfahl-Traughber (1993: 15), der in Bezug auf das Problem der Grenzziehung schrieb: Hierbei handelt es sich zweifellos um eines der wichtigsten Defizite bisheriger Extremismusforschung, die trotz der damit zusammenhängenden Schwierigkeiten trennscharfe Kriterien zu Meßbarkeit von politischem Extremismus entwickeln muß, um Bewertungen nicht als willkürliche Einschätzungen erscheinen zu lassen.

Backes und Jesse (1993b: 463) wenden ein, dass die Kriterien notwendigerweise abstrakt gehalten sein müssen, um neuere politische Entwicklungen mit einordnen zu können.205 Es sei dann die Aufgabe der Wissenschaftler_innen, den extremistischen Gehalt politischer Strömungen nachzuweisen. Dabei käme erschwerend hinzu, dass diese oftmals eine ›Legalitätstaktik‹ verfolgen würden. Aus Angst vor Repression geben sich extremistische Gruppen nicht immer als solche zu erkennen und stellen die Grundlagen demokratischer Verfassungsstaaten vordergründig nicht infrage. Sie können aber als extremistisch gelten, wenn diese »politische Mimikry« (Jesse 2003: 457) erkannt wurde.206 Diese Annahme schafft jedoch ____________________ 205

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Dieser Einwand wird von Gerlach (2012: 62) ausgeführt, die bezogen auf die fdGO schreibt: »Die Auslegung des Begriffs ist so weit gefasst, dass es zu seiner Anwendung weiterer Interpretation bedarf. Ob die Formel als abschließender Katalog zu begreifen ist, bleibt überdies offen. Dies zu kritisieren wäre jedoch voreilig. Der Mangel an Konkretem gewährleistet eine ungleich größere Flexibilität des Begriffs. In der politischen Praxis bewirken starre Leitsätze und sperrige Definitionen oftmals eine erstarrte Handhabung. Eine solche kann sich die streitbare Demokratie im Umgang mit ihren Gegnern nicht leisten. Ihre Langlebigkeit hängt von der Flexibilität ab, nicht durch das Raster des Zeitgeistes zu stürzen. Neuartige Formen des Extremismus, die den demokratischen Verfassungsstaat bedrohen, weisen den Weg.« Als Begründung für die Gefährlichkeit einer Legalitätstaktik und der Notwendigkeit, diese frühzeitig als im Kern antidemokratisch zu entlarven und zu be-

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

einen enormen Interpretationsspielraum für die Forscher_innen und erhöht die Gefahr willkürlicher oder politisch motivierter Einschätzungen. Bötticher und Mareš (2012: 69–72) sprechen deshalb von einem »blurryfactor«207, einem vernebelnden Moment in der Definition.208 Der zweite Einwand betrifft die bisherige Anwendungspraxis der Negativdefinition. Jens Zimmermann (2010: 267–268) kritisiert, dass die Kriterien nur anhand jener Strömungen empirisch überprüft würden, deren extremistischer Gehalt bereits im Vorfeld vermutet wird. Das als politische Mitte geltende Spektrum werde von der Untersuchung systematisch ausgeschlossen. Vereinzelte Analysen zeigen, dass die katholische Kirche, der Vordenker des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek, oder auch die Positionen Immanuel Kants Anlass dazu gäben, sie unter ›Extremismusverdacht‹ zu stellen (Steinhauer 2002; Biebricher 2014; Heim und Wöhrle 2015). Vor allem das Kriterium der Menschenrechte erlaubt es nahezu alle politischen Strömungen des Extremismus zu überführen. So heißt es bspw. in Art. 23, Abs. 2, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: »Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.« Folglich müssten die Verantwortlichen der Agenda 2010 als extremistisch gelten, da mit der Einführung von Leiharbeit verschiedene Entlohnungen an derselben Werkbank möglich wurden. Eine solch weite Auslegung der Kriterien ergibt freilich wenig Sinn, ist aber theoretisch möglich und zeigt die fehlende Trennschärfe der Negativdefinition. Die beiden genannten Kritikpunkte verweisen darauf, dass die Negativdefinition spätestens in der Anwendung an Trennschärfe verliert, was durch die Unterstellung einer ›Legalitätstaktik‹ verschärft wird. Wissenschaftstheoretisch wiegt schwer, dass die Negativdefinition, abgeleitet aus normativen Überlegungen, bislang noch nicht an der Grundgesamtheit aller politischen Strömungen geprüft wurde, eine Validierung somit noch ____________________

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kämpfen, dient die vermeintliche Legalitätstaktik der Nationalsozialist_innen (Backes 2010: 28; Jesse 2013a: 506). Siehe kritisch dazu Kapitel 4.5. Sie definieren blurry-factor als einen »Faktor, der letztlich verschwommen bleibt und so nicht zur Klarheit beiträgt, sondern aufgrund seiner offenen Bedeutung verschleiernd auf den Untersuchungsgegenstand einwirkt [...]. Die innere Struktur eines blurry-factors ist in einer Weise offen, die ein Konzept insgesamt hinfällig werden lassen kann.« (Bötticher und Mareš 2012: 72). Die Legalitätstaktik wird vor allem der Partei Die Linke unterstellt. Da diese sich von Gewalt distanziere und das Grundgesetz nicht offen bekämpfe, vertrete sie einen ›smarten‹ oder ›weichen‹ Extremismus, der jedoch nicht minder gefährlich sei, als der ›harte‹ Extremismus der NPD (Jesse 2009; Backes 2010: 25–27; kritisch dazu Stöss 2013).

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aussteht. Diese grundsätzlichen Einwände gelten auch für die Positivdefinition. Anmerkungen zur Positivdefinition Die Positivdefinition von Extremismus, zu der ich drei Anmerkungen vorbringen möchte, leitete Backes (1989: 298–318) aus den Strömungen her, die durch die – bereits problematisierte – Negativdefinition bestimmt wurden. Da er auch ›Extremismus an der Macht‹ mit in seine Analyse aufnimmt, stützen sich die Ausführungen im Bereich ›Linksextremismus‹ vor allem auf Zitate Lenins aus dem Jahre 1902. Dessen Relevanz und Repräsentativität für jene, heute als linksextrem klassifizierte Phänomene ist fraglich.209 Insgesamt ist die empirische Grundlage, auf der die Positivdefinition hergeleitet wurde, – so die erste Anmerkung – mit 20 Seiten und wenig verschiedenen Beispielen relativ dünn. In der Anwendung der Positivdefinition zeigen sich weitere Defizite. So benennen weder Backes noch Jesse einen Schwellenwert bezüglich der sechs Strukturmerkmale. Es bleibt unklar, ob bereits beim Auftreten eines der Strukturmerkmale von politischem Extremismus gesprochen werden kann, oder ob vier oder alle sechs Merkmale auftreten müssen. Dieser fehlende Schwellenwert – so die zweite Anmerkung –schafft Unklarheit über die Identifikation extremistischer Strömungen nach der Positivdefinition. Die dritte Anmerkung betrifft die fehlende systematische Anwendung und empirische Überprüfung der Positivdefinition. Mir ist diesbezüglich nur die Studie Rechts- und Linksextremismus in Deutschland: Wahlverhalten und Einstellungen von Viola Neu (2009) bekannt. Sie versucht eine ›extremistische Gesamtskala‹ auf der Basis der hier diskutierten Positivdefinition zu entwickeln (Neu 2009: 5–6, 51–58). Ihre Ergebnisse können die These einer strukturellen Gleichheit im Denken von Links- und Rechtsextremist_innen auf Basis der Positivdefinition jedoch nicht bestätigen (Fuhrmann und Hünemann 2013: 95–97). Neu unterteilt ihre Proband_innen von vornherein in die Kategorien rechtsextrem, linksextrem und insgesamt und schließt damit die Frage aus, inwiefern Akteur_innen der politischen Mitte extremistische Einstellungen vertreten. Dieses Vor____________________ 209

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So verweisen mehrere Autoren darauf, dass der Marxismus-Leninismus heute kaum noch Einfluss in der politischen Linken der BRD hat (Pfahl-Traughber 2010a: 12; Stöss 2014: 21–22).

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gehen reproduziert das Problem in der Anwendung der Negativdefinition, da eine Validierung der Kriterien an der Grundgesamtheit ausbleibt. Auf die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Definition machte Pfahl-Traughber (1992: 73–74) früh aufmerksam: Die beschriebene Positiv-Definition von Extremismus liefert zwar ein theoretisches Raster für entsprechende Untersuchungen, dieses muß aber noch durch weitere theoretische Reflexionen und praktische Fallstudien ergänzt und erweitert werden. Nur dadurch kann sich die Tauglichkeit von Extremismustheorie im allgemeinen und der genannten Strukturmerkmale im besonderen erweisen.

Dies wurde aber weder von Backes noch von Jesse oder anderen Extremismusforscher_innen geleistet. Zwar gab es alternative Versuche zu einer positiven Bestimmung extremistischen Denkens (Pfahl-Traughber 2010b; Zehnpfennig 2013), diese blieben bislang aber weitgehend unbeachtet. So sind sie weder empirisch angewendet worden noch konnte ihr Verhältnis zur Negativdefinition von Extremismus geklärt werden. Verhältnis von Positiv- und Negativdefinition zueinander Aus den vorgestellten Einwänden, ergibt sich die Frage, wie sich die beiden Definitionen zueinander verhalten. Backes (2010: 22) schreibt dazu: »Positiv- und Negativdefinition [...] bilden gleichsam zwei Seiten einer Medaille.« Dies würde bedeuten, dass die Anwendung beider Definitionen den gleichen Gegenstand abbildet. Dafür fehlt bislang der empirische Nachweis und vieles spricht gegen diese Annahme. So räumt Backes (1989: 334) das Auftreten extremistischer Denkformen bei Vertreter_innen demokratischer Organisationen ein. Ob sämtlichen als extremistisch klassifizierten Strömungen wie bspw. undogmatisch-kommunistische Gruppen alle Strukturmerkmale nachgewiesen werden können, ist zweifelhaft.210 Dies führt zu dem begründeten Schluss, dass beide Definitionen ____________________ 210

So kann Backes selbst bei anarchistischen Gruppen nur schwerlich Absolutheitsansprüche erkennen, weswegen er die unklare Figur der ›defensiven Absolutheitsansprüche‹ einführt. Diese leitet er wie folgt her: »Daneben finden sich auch extremistische Doktrinen, die auf der Grundlage axiomatischer Setzungen eher defensiv agieren: Erinnert sei an die Theoriescheu des Anarchismus, sein - schwankendes - Mißtrauen gegenüber den machtpolitischen Implikationen politischer Ideologien - was seine Vertreter allerdings keineswegs daran hindert, die Realisierbarkeit und Notwendigkeit ›herrschaftsloser‹ Ordnung dogmatisch zu behaupten.« (Backes 1989: 300). Zu behaupten, die eigene

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zwar Schnittmengen aufweisen, jedoch nicht deckungsgleich sind, wie in folgender Abbildung dargestellt ist.

Abbildung 9: Verhältnis von Negativ- und Positivdefinition; eigene Darstellung Zudem ist die mangelnde Trennschärfe der beiden Definitionen abgebildet. Wie gezeigt, kann eine weite Auslegung der jeweiligen Definition den beschriebenen Gegenstandsbereich enorm erweitern. Sowohl die Negativals auch die Positivdefinition bilden keinen eindeutigen Gegenstandsbereich ab und auch ihr Verhältnis zueinander ist unklar. Deshalb kann das Verhältnis zwischen Extremismus und Demokratie nicht als gegensätzlich bzw. antithetisch bezeichnet werden. Dafür wäre ein klar umrissener Gegenstandsbereich Extremismus notwendig, der sich von Demokratie zweifelsfrei abgrenzen ließe. Oder im eingangs dieses Abschnitts bemühten Bild von Jesse gesprochen: Da in der Extremismusforschung weder die ____________________ Position wäre realisierbar und notwendig, ist sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal extremistischer Strömungen. Dass dies ausreicht, um Strömungen Absolutheitsansprüche und Dogmatismus nachzuweisen und auf eine Stufe zum Gedankengebäude des Marxismus-Leninismus und Nationalsozialismus zu stellen, kann nicht überzeugen.

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8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Beschaffenheit von Feuer noch von Wasser klar definiert ist, kann keine verlässliche Aussage über deren Verhältnis zueinander getroffen werden. 8.2.6 Das Postulat der Äquidistanz Das Postulat der Äquidistanz kann als Schnittstelle zwischen Extremismusforschung und Politik verstanden werden, da es politische Folgerungen nahelegt. Denn aus einer Perspektive, die fordert, zu allen Extremismen den gleichen Abstand zu wahren, ist eine Kooperationen mit linksextremen Parteien ebenso deutlich abzulehnen wie mit rechtsextremen. Politisch motivierte Gewalt von links muss demnach ebenso geächtet werden wie die von rechts. Daraus folgt auch, dass der Fokus pädagogischer Prävention allein gegen rechts, einen »Mangel an Äquidistanz« (Jesse 2015c: 25) zeige und den antiextremistischen Konsens in Gefahr bringe (u. a. Backes und Jesse 2000a; Jesse 2006, 2009: 29–31). Diese Folgerungen entfalten im politischen Diskurs große Wirkmacht, wie in Kapitel 9 beispielhaft gezeigt wird. Ich möchte das sogenannte Postulat der Äquidistanz durch zwei Fragen kritisch überprüfen. Erstens die Frage, gegen was genau sich abgegrenzt werden soll und zweitens, wie der Ort beschaffen ist, von dem aus die Abgrenzung stattfindet. Während Letzteres auf den zugrundeliegenden Demokratiebegriff verweist, werden zur Beantwortung der ersten Frage die Unterkategorien Links- und Rechtsextremismus diskutiert. Wie oben dargelegt, leitet die Extremismusforschung beide Kategorien aus der Negativdefinition von Extremismus ab. In der breiten sozialwissenschaftlichen Forschung und teilweise auch im politischen Diskurs werden die Begriffe jedoch sehr unterschiedlich gefasst. Ich werde in einem ersten Schritt zeigen, dass die Erforschung des Rechtsextremismus durch eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher Forschungsansätze anders geprägt ist als der bisher vorgestellte Begriff. In einem zweiten Schritt werde ich darlegen, dass der Begriff ›Linksextremismus‹ keinerlei solche Erforschung vorweisen kann und lediglich durch die Extremismusforschung (und die Sicherheitsbehörden) bestimmt ist. Schließlich wird der Ort skizziert von dem aus sich gegen Extremismus abgegrenzt werden soll, welches Verständnis von Demokratie dem Postulat der Äquidistanz also zugrunde liegt.

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Verschiedene Begriffe von Rechtsextremismus Bereits vor mehr als zwanzig Jahren machten Ulrich Druwe und Susanne Mantino (1996: 73) 37 verschiedene Bedeutungen aus, die dem Begriff Rechtsextremismus zugeordnet wurden. In der internationalen Debatte ermittelte Cas Mudde 26 Rechtsextremismus-Definitionen mit 58 verschiedenen Merkmalen (Backes 2003: 19). Ich werde dieses weite Forschungsfeld zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen in zwei Lager aufteilen. Während die Extremismusforschung Rechtsextremismus aus der Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat ableitet und dem Begriff dann verschiedene Phänomene zuordnet, entwickelt die sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung ihren Begriff aus dem Gegenstand heraus.211 Ihre Definitionen fokussieren auf die Einstellungsebene und beinhalten nicht zwingend die Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat. Nach Richard Stöss (2010: 19–21) besteht Rechtsextremismus aus verschiedenen Einstellungen wie Nationalismus, Ethnozentrismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Pro-Nazismus, Befürwortung einer Rechts-Diktatur und Sexismus. Als »Kurzformel zur inhaltlichen Charakterisierung des Rechtsextremismus« empfiehlt er »die Bezeichnung ›völkischer Nationalismus‹« (Stöss 2010: 19). Diese Kurzformel findet auch bei Samuel Salzborn (2015: 26–29) Verwendung, der jedoch einen stärkeren Akzent auf Antisemitismus, dessen Verknüpfung mit Antiamerikanismus und eine am Kollektiv orientierte Geschichtspolitik legt. Weitere einflussreiche Definition stammen von Wilhelm Heitmeyer (1987: 16, 1992: 13–14), der Rechtsextremismus bestehend aus Ideologien der Ungleichheit und Gewaltakzeptanz konzipiert, von Jaschke (1994: 31), der die Einstellungs- und Verhaltensebene zusammenführt, oder aus einem Kreis empirisch arbeitenden Sozialwissenschaftler_innen, die 2001 für den Bereich der Einstellungsforschung eine sogenannte Kon____________________ 211

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Die Gegenüberstellung von (normativer) Extremismusforschung und sozialwissenschaftlicher Rechtsextremismusforschung soll die beiden grundlegend verschiedenen Konzepte benennen. Dabei ist mir bewusst, dass erstere auch den Sozialwissenschaften zuzurechnen ist und zweitere auch normative Annahmen zugrunde legt. Da bei ersterer diese normativen Annahmen auch die Definitionen begründen, spielt dieser Aspekte eine zentrale Rolle. Die Bezeichnung der zweiten Forschungsrichtung soll darauf hinweisen, dass sich diese Bestimmung von Rechtsextremismus in vielen Bereichen der Sozialwissenschaften wiederfindet.

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

sensdefinition erarbeiteten (Decker u. a. 2006: 20).212 Trotz der verschiedenen Definitionen weist der Gegenstandsbereich der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung eine große »unumstrittene Schnittmenge« (Salzborn 2015: 10) auf.213 Viele Rechtsextremismusforscher_innen äußern Unbehagen mit dem Begriff Rechtsextremismus. Dieser werde aus »pragmatischen Gründen« (Virchow 2017: 16) verwendet, »weil er sich eingebürgert hat« (Stöss 2011: 297), »in Ermangelung eines angemesseneren Begriffs« (Neugebauer 2000: 33, FN 17) oder aufgrund einer »Kapitulation vor der Beständigkeit und Popularität des Rechtsextremismusbegriffs und vor dem (behaupteten) Mangel an gleichermaßen klaren Alternativen« (Dölemeyer und Mehrer 2011: 17). So gibt es zahlreiche Diskussionen um begriffliche Alternativen wie ›extreme Rechte‹, ›Rechtsradikalismus‹, ›Rechtspopulismus‹, ›Neue Rechte‹, ›(Neo-)Faschismus‹ oder ›(Neo-)Nationalsozialismus‹, die aber ihrerseits Probleme aufweisen.214 Das Unbehagen mit dem Begriff ist darauf zurückzuführen, dass die Analysen der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung nahelegen, eine ›Gefahr von rechts‹ sei nicht nur am extrem rechten Rand des politischen Spektrums vorfindbar, sondern rage bis in die politische Mitte hinein; Übergänge ins konservative Lager seien fließend. So wenden sich viele Wissenschaftler_innen explizit gegen das Begriffsverständnis der Extremismusforschung, der sie vorwerfen, ›Gefahren von rechts‹ aus der (politischen) Mitte der Gesellschaft heraus nicht zu erkennen und dadurch das Ausmaß ____________________ 212

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Eine ausführliche Dokumentation der Tagung mit der Auflistung der beteiligten Wissenschaftler_innen sowie der Dimensionen und Items, auf die sich die Teilnehmer_innen zur Messung von Rechtsextremismus einigten, ist abgedruckt bei Kreis (2007: 9–16). Dennoch besteht weder ein Konsens darüber, wo die Grenze zwischen legitimen rechten Positionen zum Rechtsextremismus verläuft, noch darüber, wie das Entstehen und Anwachsen dieser Strömungen zu erklären ist bzw. diesen begegnet werden kann (Stöss 1989: 17; Backes 2003: 9; Decker u. a. 2006: 12; Dölemeyer und Mehrer 2011: 14–15; Botsch 2012: 1; Fenske 2013: 23; Salzborn 2015: 10, 17). So decken die Begriffe ›Neue Rechte‹, ›(Neo-)Faschismus‹ und ›(Neo-)Nationalsozialismus‹ nur einen Teil des ansonsten unter Rechtsextremismus gefassten Phänomenbereichs ab. Rechtspopulismus bezeichnet in erster Linie eine Methode und die Bezeichnungen ›extreme Rechte‹ und ›Rechtsradikalismus‹ verorten die ›Gefahr von rechts‹ an den Rand des politischen Spektrums (siehe dazu ausführlich Stöss 1989; Jaschke 1994; Butterwegge 1996; Hüttmann 2011; Fenske 2013; Salzborn 2015; Virchow 2017).

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

dieser Gefahr zu verharmlosen.215 Backes und Jesse hingegen monieren, Rechtsextremismus würde oftmals aufgebauscht und überschätzt (u. a. Backes und Jesse 1996, 2000a). Diese unterschiedlichen Einschätzungen über das Ausmaß von Rechtsextremismus lassen sich auf die verschiedenen Definitionen zurückführen, deren Anwendung verschiedene Ergebnisse hervorbringt, wie ich an zwei Beispielen zeigen möchte. Deutlich werden die Unterschiede erstens durch empirische Studien zu Rechtsextremismus aus den 1980er Jahren. Die vom Bundeskanzleramt in Auftrag gegebene Studie der SINUS Marktund Sozialforschung GmbH von 1981 Fünf Millionen Deutsche: ›Wir sollten wieder einen Führer haben...‹, entwickelte eine Rechtsextremismusskala mit 23 Items (SINUS 1981: 63–73, 77–86), der zufolge 13 Prozent der Bundesbürger_innen als rechtsextrem einzustufen waren (SINUS 1981: 80).216 Drei Jahre später kam eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach über das Extremismus-Potential unter jungen Leuten in der Bundesrepublik Deutschland 1984 zu dem Ergebnis, dass 3,7 Prozent der Bundesbürger_innen dem aktiven und 2,5 Prozent dem passiven Rechtsextremismus zuzurechnen seien (Noelle-Neumann und Ring 1984: 50). Maßgeblich verantwortlich für diese Unterschiede war die jeweilige Operationalisierung von Rechtsextremismus. SINUS (1981: 63–73) entwickelte ihre Skala auf Basis einer lebensweltlichen Exploration rechtsextremer Szenen, während Allensbach, im Einklang mit ihrem Auftraggeber, dem Bundesministerium des Innern, Rechtsextremismus in Abgrenzung zur fdGO operationalisierte.217 So wird zur Itemfindung eine Kontraststudie mit Demokrat_innen durchgeführt, um nur solche Items auszuwählen, ____________________ 215

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Bemerkenswert ist, dass sich die meisten für diese Arbeit rezipierten Rechtsextremismusforscher_innen deutlich gegen die Extremismusforschung abgrenzen (Heitmeyer 1987: 15; Jaschke 1994: 29; Butterwegge 1996: 64–78; Wippermann 1999; Neugebauer 2000; Decker u. a. 2010: 10–20; Stöss 2010: 15–19; Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung 2011; Fenske 2013: 100– 120; Salzborn 2015: 98–105; Virchow 2017: 14–16) Hinzu kommen zwei Prozent, die dem ›rechtsextremen Ökopotenzial‹ zugerechnet werden, welches mit einer eigenen Skala erhoben wurde (SINUS 1981: 74, 96–97). Dies geht aus den Vorgaben des Auftraggeber hervor, die im Vorwort abgedruckt sind: »Die Fragekomplexe ›setzen als Grundlage eine Bestimmung des Extremismus-Begriffs voraus, die unter Zugrundelegung möglichst allgemein anerkannter Kriterien (z.B. oberstrichterliche Entscheidung zu Parteienverboten und zur Zulassung zum öffentlichen Dienst; Verfassungsschutzgesetz) ... abzustimmen ist.‹« (Noelle-Neumann und Ring 1984: 11).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

»die von Rechtsextremisten, aber nicht von rechten Demokraten vertreten werden« (Noelle-Neumann und Ring 1984: 19). Da Aussagen wie ›Homosexualität ist widernatürlich und sollte streng bestraft werden‹ oder ›Nicht nur unsere Umwelt, sondern auch unsere Rasse muß rein erhalten werden‹ in der Vorstudie auch von Demokrat_innen geteilt wurden, konnten diese dem Begriffsverständnis nach nicht rechtsextrem sein und fielen folglich – anderes als in der SINUS-Studie – aus der Skala raus (Noelle-Neumann und Ring 1984: 39).218 Unterschiedliche Einschätzungen über das Ausmaß von Rechtsextremismus werden zweitens auch in der demokratietheoretischen Verortung von Phänomenen wie der Alternative für Deutschland (AfD) deutlich. Einige Sozialwissenschaftler_innen arbeiten den Rassismus, den Antisemitismus, das völkische Denken und weitere antiegalitäre Positionen dieser Partei detailliert heraus und klassifizieren sie als antidemokratisch (u. a. Kellershohn und Kastrup 2016; Salzborn 2017). Extremismusforscher wie Werner Patzelt (2016: 130) hingegen erkennen zwar die flüchtlingsfeindlichen Positionen der AfD, kommen dennoch zu dem Schluss: »Insgesamt gibt es keinen Grund die AfD als ›außerhalb des demokratischen Spektrums‹ befindlich einzuschätzen.«219 Auch hier sind die unterschiedlichen Ergebnisse auf die verschiedenen Definitionen von Rechtsextremismus zurückzuführen. Diese Differenz tritt in der wissenschaftlichen Debatte selten deutlich hervor220 und geht im politischen Diskurs meist völlig un____________________ 218

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Die Unterschiede im Ausmaß von Rechtsextremismus sind neben der Itemauswahl auch auf das sogenannte Grenzwertdilemma zurückzuführen. Stöss (1991) fasst dieses Dilemma treffend mit der Frage zusammen »Wieviel Rechtsextremismus darf´s denn sein?« Denn je nachdem, wo die Wissenschaftlerin den Schwellenwert setzt, variiert der Anteil rechtsextrem Eingestellter, was Kreis (2007) detailliert nachzeichnet. Ähnlich argumentieren auch Decker (2016) und Oppelland (2016). Stattdessen werden diese unterschiedlichen Ergebnisse auf eine politische Agenda der jeweils anderen Wissenschaftler_innen zurückgeführt (u. a. Jesse 1996: 523–526; Kopke und Rensmann 2000; Jesse 2002; Wippermann 2010). Zwar kann der Entscheidung für die eine oder andere Begriffsbestimmung eine politische Motivation zugrunde liegen, was aber nicht die Unterschiede der Begriffsbestimmungen selbst in den Hintergrund treten lassen sollte. Widerspruch ist jedoch geboten, wenn das Ausmaß des Rechtsextremismus nicht aufgrund verschiedener Begriffsdefinitionen, sondern offensichtlich falscher Wahrnehmungen politischer Ergebnisse relativiert wird. Dies ist bspw. der Fall, wenn Backes und Jesse (1994: 34) bezogen auf die Täter_innen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda schreiben: »eine Anzahl nichtorganisierter Kinder und Jugendlicher und 50 Beifallklatscher aus der Bevölke-

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ter. Sie ist aber zentral, da die Forderung nach Äquidistanz – je nach Begriffsbestimmung – die Abgrenzung gegenüber sehr unterschiedlichen Phänomenen zur Folge haben kann. Die Kategorie ›Linksextremismus‹ Aus Sicht der Extremismusforschung unterscheidet sich die Kategorie ›Linksextremismus‹ nur geringfügig vom Rechtsextremismus: das Opponieren gegen den demokratischen Verfassungsstaat wird mit dem Streben nach sozialer Gleichheit anstatt eines radikalen Antiegalitarismus kombiniert. Jesse (2013a: 510) schreibt, dass »es nicht angängig [ist], unter dem Gesichtspunkt der Abwehrbereitschaft zwischen beiden eine Differenzierung vorzunehmen«. Zu einer anderen Einschätzung kommen jene Sozialwissenschaftler_innen, die Rechtsextremismus nicht aus dem Extremismuskonzept, sondern in Auseinandersetzung mit entsprechenden sozialen Phänomenen ableiten. Auf einem Symposium des Berliner LfV bekennt bspw. Stöss (2014: 13): »Ich gehöre zu den Sozialwissenschaftlern, die den Begriff ›Linksextremismus‹ nicht verwenden.« Viele andere Protagonist_innen der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung äußern sich nicht zu ›Linksextremismus‹. Es drängt sich die Frage auf, warum diese Kategorie so wenig Beachtung findet und es keine mit dem Rechtsextremismus vergleichbare sozialwissenschaftliche Linksextremismusforschung gibt. Ich möchte zwei Erklärungen anbieten, die sich aus der Beschaffenheit der Kategorie ableiten. Die sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung leitet Rechtsextremismus nicht aus der Ablehnung demokratischer Verfassungsstaaten ab, sondern entwickelt ihre Definitionen aus dem Gegenstand selbst. Ihre Definitionen decken sich in etwa mit der positiven Komponente der normativen Rechtsextremismusdefinition, dem Antiegalitarismus. Überträgt man dieses Vorgehen auf ›Linksextremismus‹, bleibt mit der positiven Komponente Streben nach sozialer Gleichheit eine sehr weite Umschreibung des Gegenstandsbereichs. Dieser müsste auch die traditionelle Sozi____________________ rung sind jedoch nicht genug, um von Manifestationen einer sozialen Bewegung zu sprechen«. Auch wenn man der These einer sozialen Bewegung von rechts Anfang der 1990er Jahre nicht zustimmt, rechtfertigt dies nicht, das Ausmaß der rassistischen Ausschreitungen in dieser Art zu verharmlosen.

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8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

aldemokratie und die sozialen Flügel der Kirchen einschließen. Diese Strömung und das Streben nach sozialer Gleichheit mit der stigmatisierenden Kategorie ›Linksextremismus‹ zu umschreiben, bringt erhebliche normative Probleme mit sich. Während der Rechtsextremismusbegriff also ohne eine Ableitung aus der Negativdefinition von Extremismus funktioniert, ist dies für ›Linksextremismus‹ nicht der Fall. Eine zweite Erklärung möchte ich aus der Heterogenität jener Phänomene ableiten, die durch Verfassungsschutz und Extremismusforschung unter die Kategorie ›Linksextremismus‹ subsummiert werden. Hierunter fallen bspw. marxistisch-leninistische, trotzkistische, anarchistische, antideutsche oder maoistische Gruppen (u. a. Pfahl-Traughber 2015b; BMI 2017: 129–152). Manche Verfassungsschutzämter oder Autor_innen schließen auch Gruppen mit dem Fokus auf Tierrechte, Ökologie oder Feminismus mit ein (Backes und Jesse 1998; Jesse 2004a: 8–9; Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport 2012: 188–190). Den Strömungen gemein sei, dass sie gegen den demokratischen Verfassungsstaat opponieren und dabei einen wie auch immer gearteten Bezug zu sozialer Gleichheit haben. Hinsichtlich vieler anderer Kriterien sind diese Phänomene jedoch höchst unterschiedlich, was mit die Sammelbezeichnung ›Linksextremismus‹ nicht abgebildet werden kann bzw. verschleiert wird. Diese Unterschiede werden vor allem in Bezug auf Freiheit deutlich. So umkämpft und heterogen dieser Begriff in den Politikwissenschaften ist, kann als unbestritten gelten, dass maoistische und stalinistische Gruppen einen anderen Freiheitsbezug haben als Autonome oder Anarchist_innen. Ordnet man nun die beiden Sammelkategorien in das bereits eingeführte Schema nach Bobbio ein, wird deutlich, dass der abgebildete Gegenstandsbereich der Kategorien Links- und Rechtsextremismus in ihrem Umfang stark variieren.

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Abbildung 10: Gegenstandsbereich von Rechts- und ›Linksextremismus‹ im politischen Raum; eigene Darstellung Zwar werden auch mit der Sammelbezeichnung Rechtsextremismus unterschiedliche Phänomene zusammengefasst. Diese weisen jedoch durch ihren positiven Bezug auf antiegalitäre Positionen und ideologisch begründeten Freiheitseinschränkung für große Teile der Bevölkerung erhebliche Schnittmengen auf. Eine solche Übereinstimmung ist für die als linksextrem klassifizierten Phänomene nicht zu erkennen. Ihre ideologische Heterogenität wird in den Versuchen deutlich, die Kategorie in sozialwissenschaftliche Forschung zu übersetzen. So waren sich Kritiker_innen und Befürworter_innen der Extremismusforschung bis vor Kurzem einig, dass ein linksextremes Einstellungsmuster bislang nicht ermittelt werden konnte (Stöss 2011: 299; PfahlTraughber 2015b: 11–12). In jüngster Zeit versuchten Klaus Schröder und Monika-Deutz Schröder (2015, 2016) im Auftrag des BMFSFJ, linksextreme Einstellungen in Deutschland zu messen. Ihre umfangreichen Werke lassen jedoch erhebliche Zweifel aufkommen, ob mit ihren Skalen auch wirklich ›Linksextremismus‹ gemessen wurde (Flümann 2015a). Ein weiteres Beispiel ist die gescheiterte Anwendung der Kategorie ›Linksextremismus‹ für den pädagogischen Präventionsbereich. Ebenso wie bei der Einstellungsforschung schlägt die Parallelisierung zu Rechtsextremismus 242

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

in der Praxis fehl (Fuhrmann und Hünemann 2017). Eine Erklärung für das Fehlen einer Linksextremismusforschung gab Gero Neugebauer (2000: 31): Der Rechts- ist im Vergleich zum Linksextremismus politisch und ideologisch wesentlich homogener und überdies – auch in seinem Selbstverständnis – antidemokratisch, was für eine kapitalismuskritische bzw. -feindliche Linke nur teilweise gilt. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass sich in der Bundesrepublik (und in vielen anderen Ländern) zwar eine sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung, aber keine Linksextremismusforschung entwickelt hat.221

Diese Feststellung hat erhebliche Auswirkungen auf die eingangs gestellte Frage, gegen was sich dem Postulat der Äquidistanz zufolge eigentlich genau abgegrenzt werden soll. Die Extremismusforschung würde als Antwort die Kategorien Rechts- und ›Linksextremismus‹ benennen. Richtet man den Blick jedoch auf die sozialen Phänomene und fragt bspw. gegen welche Ideologien und Einstellung eine Abgrenzung stattfinden soll, kann keine eindeutige Antwort gegeben werden. Zwar gibt es hinsichtlich der Abgrenzung zu Rechtsextremismus – unabhängig von der bevorzugten Begriffsdefinition – weitgehend einen gesellschaftlichen Konsens. Die Forderung nach einer ebensolchen Abgrenzung zu ›Linksextremismus‹ bringt jedoch Unbehagen mit sich und kann sich keiner entsprechenden Einigkeit gewiss sein. Dies liegt darin begründet, dass eine solche Abgrenzung gegen dogmatisch-autoritäre Positionen, aber auch gegen radikaldemokratische Positionen, die für Gleichheit und Freiheit eintreten, stattfinden würde. Demokratieschutz oder Staatsschutz? Die zweite eingangs gestellte Frage lautet, wie der Ort beschaffen ist, von dem aus Abstand gehalten werden soll. In unserem Fall muss also geklärt werden, welches Verständnis von Demokratie der Forderung nach Äquidistanz zugrunde liegt. Die Demokratie, von welcher der Extremismus abgegrenzt wird, ist durch die Grundprinzipien demokratischer Verfassungsstaaten festgelegt. Backes und Jesse (1993b: 463) setzen diese Prinzipien ____________________ 221

Weiter betont Neugebauer, dass dies nicht bedeutet, die Wissenschaft setze sich nicht mit den Phänomenen auseinander. Dies geschehe bspw. durch die Kommunismus-, Protest-, Parteien- oder Wahlforschung, die sich jedoch nicht mit dem Begriff ›Linksextremismus‹ ihrem Gegenstand zuwenden (Neugebauer 2000: 24–31).

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

mit der »Minimaldefinition von Demokratie« oder einem »demokratischen Minimalkonsens« (Backes 1989: 87) gleich. Andere Vorstellungen von Demokratie, die bspw. das Prozess- und Konflikthafte in den Vordergrund rücken, finden in ihren Ausführungen keine Beachtung oder stehen unter dem Verdacht extremistisch, sprich antidemokratisch zu sein.222 Das Verständnis der Extremismusforschung von Demokratie ist also ein spezifisches, auf demokratische Verfassungsstaaten ausgerichtetes. Kritiker_innen monieren, dass dies in der Praxis auf ein etatistisches Demokratieverständnis hinauslaufe, das dem Staatsschutzgedanken Vorrang gäbe (Jaschke 1991: 42–49; Wippermann 2010; Butterwegge 2011: 30–31). Dieser Vorwurf ist schwer zu belegen, da er eine Einigung auf eine der jeweils zahlreichen Konzeptionen von Demokratie und Staat voraussetzen würde. Ich möchte diesen Kritikpunkt dennoch aufgreifen und die Nähe der Extremismusforschung zu staatlichen Einrichtungen, in erster Linie zum Verfassungsschutz, herausarbeiten. Überschneidungen zwischen beiden gibt es sowohl in den konzeptionellen Grundlagen, den empirischen Analysen sowie personell und institutionell. Wie in Kapitel 5 gezeigt, ist die Definition der fdGO weitgehend den Bestimmungen zu Staatsgefährdung des ersten Strafrechtsänderungsgesetzes entnommen. In Kapitel 7 habe ich rekonstruiert, dass der Extremismusbegriff in seiner heutigen Fassung vor allem durch die Entscheidung der Sicherheitsbehörden, ihn der fdGO entgegenzustellen, geprägt wurde. Dieser Entgegensetzung folgen Backes und Jesse in ihren frühen Schriften. Sie leiten ihren Extremismusbegriff aus der fdGO ab und fordern für die Sozialwissenschaften, sich der juristischen Definition anzuschließen (Backes und Jesse 1983, 1987). Die ab 1989 vorgenommene Abstraktion der Negativbestimmung von Extremismus soll der Öffnung für historische und internationale Forschungsperspektiven dienen. Für die BRD bleibt die fdGO jedoch entscheidendes Kriterium: ____________________ 222

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So warnen Backes und Jesse (1983: 5) vor »der Forderung nach Demokratisierung aller Lebensbereiche«. Denn die damit einhergehende »Überdehnung des Demokratiebegriffs« (Backes und Jesse 1983: 5) habe zur Folge, dass die Feinde der Demokratie, also Extremist_innen schwieriger zu identifizieren wären und die Demokratie schutzlos ihren Feind_innen ausgeliefert sei. Diesem Gedanken folgend, sind alle Demokratiekonzepte, die nicht auf Feindbestimmung ausgerichtet sind oder einen unveränderlichen normativen Kern beinhalten, als Gefahr und potenziell als extremistisch zu werten (Kausch 2010; Butterwegge 2011).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung Extremismus ist der Begriff für die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaats. Darunter fallen alle Bestrebungen, die sich gegen den Kernbestand des Grundgesetzes beziehungsweise der freiheitlich-demokratischen Grundordnung insgesamt richten. (Jesse 2013a: 508).223

Demnach gelten für den bundesdeutschen Kontext die Grundprinzipien demokratischer Verfassungsstaaten und die fdGO als deckungsgleich. Verfassungsschutz und Extremismusforschung arbeiten also mit den gleichen Begriffsbestimmungen. Dies zeigt sich auch in den jeweiligen Analysen. Zwar sind die Kriterien zur Identifikation von Extremismus hinreichend flexibel (s. o.), was zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann, dennoch decken sich die Einschätzungen von Verfassungsschutz und Extremismusforschung weitgehend. Sie gehen zwischen den 17 verschiedenen Ämtern für Verfassungsschutz nicht weniger weit auseinander als zwischen den Ämtern und der Wissenschaft (Jesse 2007b; Fuhrmann und Hünemann 2013). Die Verfassungsschutzämter »prägen nicht unerheblich die öffentliche und in Teilbereichen auch die wissenschaftliche Diskussion über den politischen Extremismus« (Jaschke 2006: 25).224 Dies spiegelt sich auch in den personellen und institutionellen Verflechtungen zwischen Verfassungsschutz und Extremismusforschung wider. Ein prägnantes Beispiel dafür ist Bettina Blank, Mitarbeiterin der Abteilung ›Linksextremismus‹ des LfV Baden-Württemberg. Sie veröffentlichte in den von Backes und Jesse herausgegebenen Jahrbüchern Extremismus & Demokratie zwei Aufsätze über die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN– BdA) und hob deren extremistischen Charakter hervor (Blank 2000, 2010). Zur selben Zeit war Baden-Württemberg neben Bayern das einzige ____________________ 223

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Dieser Punkt ist innerhalb der Extremismusforschung umstritten bzw. widersprüchlich. Pfahl-Traughber (1993: 25 Hervorh. im Original) schreibt etwa: »Politischer Extremismus wird erstens nicht bezogen auf die Gegnerschaft zu einer bestimmten Verfassung (hier des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland) verstanden, sondern ganz allgemein im Sinne der Gegnerschaft zu den Prinzipien eines demokratischen Verfassungsstaates als einem auf den Menschenrechten gründendem Ordnungsprinzip. Der politikwissenschaftliche Extremismusbegriff ist somit allein von daher schon etwas weiter gefaßt.« So schreibt Weinrich (2014: 358–359), der bei Jesse über Verfassungsschutzberichte als Spielball politischer Macht? promoviert, über den Stellenwert der Einschätzungen der Verfassungsschutzämter: »Insofern gleiche die geistigpolitische Auseinandersetzung mit dem Extremismus ohne die Erkenntnisse der Nachrichtendienste einem Kampf im Dunkeln.«

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8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Bundesland, das die VVN–BdA in ihren Berichten als extremistisch aufführte und mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwachte (Jesse 2007b: 31). So konnte sich Blank für ihr geheimdienstliches Handeln selbst die wissenschaftliche Legitimation schreiben. Die Nähe der beiden Institutionen wurde auch im Zuge des NSUSkandals deutlich.225 Die wenigen Sozialwissenschaftler_innen, wie Backes (2014) und Flümann (2015b: 336–400), die das Vorgehen des Verfassungsschutzes verteidigten, können der Extremismusforschung zugeordnet werden. Andere Verteidigungsschriften stammen von Autoren wie Pfahl-Traughber (2015a) oder Thomas Grumke und Rudolf van Hüllen (2016), die selbst lange Jahre für den Verfassungsschutz tätig waren. Bemerkenswert ist, dass nicht nur die Extremismusforschung die Arbeit und das Vorgehen der Sicherheitsbehörden verteidigt, sondern diese wiederum gegen Kritik an der Extremismusforschung vorgehen. So erkannte das LfV Brandenburg die Kritik an der Extremismustheorie als ein Agitationsfeld des ›Linksextremismus‹ (Ministerium des Innern des Landes Brandenburg 2012: 142).226 ____________________ 225

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Pikant ist in diesem Zusammenhang die Rolle der beiden Verfassungsschützer Menhorn (Tarnname) und Thein. Beide waren im Bereich Rechtsextremismus beschäftigt und direkt mit zentralen Akteur_innen des NSU-Komplexes in Kontakt. Zeitgleich schrieben sie als Wissenschaftler über Rechtsextremismus mit bemerkenswerten Auslassungen, »die nicht anders als verharmlosend, wenn nicht als irreführend begriffen werden müssen« (Funke 2015: 278–307, hier 285). Während Menhorn im Jahrbuch Extremismus & Demokratie 2000 noch als Mitarbeiter des BfV aufgeführt wird (Backes und Jesse 2000b: 586), schreibt er später ohne Berufsbezeichnung (Backes und Jesse 2007: 532) oder tritt als freier Autor auf (Landesamt für Verfassungsschutz BadenWürttemberg 2012: 412). In dieser Funktion verteidigte er 2012 den Verfassungsschutz und argumentiert, der NSU sei ein singuläres Phänomen gewesen, das von den Sicherheitsbehörden nicht erfasst werden hätte können (Menhorn 2012: 367). Das Wissen über die direkten Verwicklungen des Verfassungsschützers Menhorn in den NSU-Komplex lassen das Urteil des ›freien Journalisten‹ Menhorn in einem anderen Licht erscheinen. Perinelli (2017) geht ausführlich auf den Zusammenhang von Extremismusforschung und bestimmten Deutungen des NSU-Komplexes ein. Hier der Eintrag in voller Länge: »Linksextremisten sind sich ihres Anhängerschwundes durchaus bewusst. Und sie kennen ihr Negativimage. Einige wollen nicht als Extremisten gesehen werden und betreiben die Kampagne ›Kritik der Extremismustheorie‹. Auf Vortragsveranstaltungen der autonomen Szenen in Cottbus und in Potsdam wurde die ›Extremismustheorie‹ thematisiert. Organisiert von der ›Roten Hilfe Potsdam‹ fand am 03.07.2011 im Buchladen ›Sputnik‹ eine Diskussion über den ›Kampfbegriff ›Extremismus‹‹ mit einem Refe-

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Darüber hinaus werden Backes und Jesse von den Behörden oft als Experten geladen oder publizieren für sie (u. a. Jesse 1990, 2004b; Backes 2013). Umgekehrt geben Verfassungsschützer_innen (mit oder ohne Verweis auf ihre berufliche Tätigkeit) regelmäßig ihre Einschätzungen zu politischen Entwicklungen im Jahrbuch Extremismus & Demokratie wieder.227 Narr (1993: 110) beschreibt die Jahrbücher bereits früh als eine »wissenschaftlich angestrichene Verdoppelung dessen, was man ohnehin weiß, wenn man die Berichte der Verfassungsschutzämter, ›Innere Sicherheit‹ und ähnliche Organe regelmäßig zur Kenntnis nimmt«. Rübner (2010: 126) spricht von einem »Rezensions- und Zitierkartell«. Weder was die Konzeption der zentralen Begriffe noch was die Analysen angeht, setzt sich die Extremismusforschung merklich vom Verfassungsschutz ab. Selbst bei den Schriften der Extremismusforschung ist in einigen Fällen nicht zweifelsfrei unterscheidbar, ob sie ein_e Geheimdienstler_in oder ein_e Wissenschaftler_in verfasst hat. Zwar sind beide Institutionen nicht deckungsgleich und auch ist Wolfgang Wippermann (2010: 5) zu widersprechen, wenn er Backes und Jesse als »inoffizielle Mitarbeiter« des Verfassungsschutzes bezeichnet, dennoch sind die Verschränkungen sehr deutlich. Nimmt man zudem die Förderung der Extremismusforschung durch das BMI und ihrer nachgeordneten Behörden zur Kenntnis,228 summieren sich Indizien, die den Schluss erlauben, dass es ____________________

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renten des ›Alternativen Kultur- und Bildungszentrums‹ aus Pirna (Sachsen) statt. Die Antifa Cottbus lud am 21.07.2011 ins ›Quasimono‹ ein.« (Ministerium des Innern des Landes Brandenburg 2012: 142). Institutionalisiert sind diese Verschränkungen im 1990 gegründeten Veldensteiner Kreis, der mit zeitweiliger Unterstützung der Bayrischen Landeszentrale für politische Bildung etwa zweimal im Jahr tagt und dem Backes und Jesse als Vorsitzende dien(t)en (Bayrischer Landtag 2012). In einer älteren Selbstdarstellung hieß es zu den Referent_innen: »Nicht wenige der Genannten sind Mitarbeiter von staatlichen Institutionen wie dem Bundesamt für Verfassungsschutz oder einzelnen Landesbehörden, der Gauck- bzw. Birthler-Behörde und verschiedenen Bundes- bzw. Landeszentralen für politische Bildung. Ihre Publikationen gelten meist als Standardwerke an Schulen und freien Bildungsträgern. Häufig sind die Mitglieder der Diskussionsrunde gleichzeitig auch Autoren des von Uwe Backes (Technische Universität Dresden) und Eckhard Jesse (Technische Universität Chemnitz) herausgegebenen Jahrbuch Extremismus & Demokratie.« (wikipedia.org 2016) Die Förderung umfasst bspw. die bereits in Kapitel 8.1.3 herausgearbeitete Verbreitung der Schriften der Extremismusforschung durch die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung. Zudem wurde durch eine Anfrage im Bundestag bekannt, dass das BMI über mehrere Jahre bis zu 1000

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sich bei der Extremismusforschung in erster Linie um eine Legitimationswissenschaft für das Vorgehen der Sicherheitsbehörden handelt. Sie gibt der Grenzziehung zwischen Demokratie und Extremismus, wie sie durch den Verfassungsschutz praktiziert wird, einen Anstrich von Wissenschaftlichkeit, worauf sich die Ämter in ihrer Arbeit wiederum berufen können. Damit stärkt die Extremismusforschung ein Demokratieverständnis, welches vor allem den Schutz des Staates als Ziel hat. Dieses Verständnis ist der Ort, von dem aus sich gegen alle Formen des Extremismus gleichermaßen abgegrenzt werden soll und liegt dem Postulat der Äquidistanz zugrunde. Folgerungen für das Postulat der Äquidistanz Die Forderung nach Äquidistanz bzw. das Einfordern des antiextremistischen Konsenses räumt der Unterscheidung zwischen Demokratie und Extremismus oberste Priorität ein und nivelliert die Unterschiede zwischen den Unterkategorien Rechts- und ›Linksextremismus‹. Begründet wird dieses Postulat durch zwei Punkte. Erstens sei eine Differenzierung zwischen Rechts- und ›Linksextremismus‹ aus Sicht demokratischer Verfassungsstaaten irrelevant, da er durch beide in seiner Existenz gefährdet sei. Zweitens würden alle extremistischen Strömungen, sobald sie an der Macht sind, zu totalitären Terrorregimen, wie die Vergangenheit gezeigt habe, weswegen es gerechtfertigt sei, sie gleichermaßen zu bekämpfen (siehe 8.2.4). Der erste Punkt, die Parteinahme für den demokratischen Verfassungsstaat, ist mehr eine normative Setzung denn ein Argument. Damit einher gehen zwei Annahmen, die aus einer wissenschaftlichen Perspektive diskussionswürdig sind. Erstens die Gefahr mangelnder Abgrenzung gegenüber den Prämissen und Einschätzungen der Sicherheitsbehörden und damit verbunden eine Reduktion auf die Funktion, deren Handeln eine wissenschaftliche Legitimation zu verleihen. Hier steht die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion zur Disposition. Zweitens die Aus____________________ Exemplaren des Jahrbuchs aufkaufte und »die Abgabe an einen Verteiler aus Wissenschaft, politischer Bildung, Medien und Administration veranlasste« (Bundesregierung 2010b: 2). Eine systematische Recherche über Förderung durch Vergabe von Forschungsaufträgen oder Einholen von Expertisen kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.

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8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

grenzung von Demokratiekonzepten, die dem ›demokratischen Minimalkonsens‹, der eben kein Konsens ist, entgegenstehen. Dass es andere Vorstellungen von Demokratie gibt, räumen punktuell auch Vertreter_innen der Extremismusforschung ein (Backes 2010: 26–27). Trotzdem wird der Demokratiebegriff auf die fdGO bzw. die Grundprinzipien demokratischer Verfassungsstaaten verengt. Diese Verengung wird spätestens dann problematisch, wenn andere Vorstellungen von Demokratie als antidemokratisch delegitimiert werden. Im Hinblick auf den zweiten Punkt kann als unstrittig gelten, dass alle als rechtsextrem deklarierten Phänomene menschenverachtend sind und gewaltvoll ihre Gegner_innen unterdrücken. Die These, dass alle Projekte der Beseitigung der Klassen und der sozialen Egalisierung der Gesellschaft [...] mit schöner Regelmäßigkeit in den Totalitarismus und die Unterdrückung weiter Teile der Bevölkerung (Backes und Jesse 1993a: 26)

münden, besitzt bezüglich des Stalinismus, Maoismus oder der Terrorherrschaft in Kambodscha eine historisch-empirische Plausibilität. Strittig wäre jedoch bspw., ob das kubanische Regime oder das kommunistische Vietnam als totalitär bezeichnet werden können. Aber vor allem die kritische Auseinandersetzung innerhalb der radikalen Linken mit dem Stalinismus und die Abkehr von marxistisch-leninistischen und anderen autoritären Formen des Kommunismus durch weite Teile der Neuen Linken lassen Zweifel an der These aufkommen. Gerd Wiegel und Robert Erlinghagen (1999: 182) bemerken in diesem Zusammenhang, dass »die wissenschaftlich ergiebigsten Analysen des Stalinismus, seiner Ursachen und Entstehungsbedingungen, [...] bislang von marxistischen Theoretikern entwickelt« wurden. Gerade postmarxistische Strömungen, die radikaldemokratische Positionen verfolgen, zeichnen sich durch ein hohes Maß an Reflexion bezüglich des Scheiterns bisheriger kommunistischer Versuche und deren autoritärer Entwicklungen aus.229 Auch vor dem Hintergrund, ____________________ 229

So schreibt die Kommunistin und Mitglied der als linksextrem klassifizierten Interventionistischen Linken, Adamczak (2011: 121) in ihren Reflexionen über das Scheitern der kommunistischen Revolution: »Ohne den Gang durch die Geschichte der revolutionären Versuche wird es keine revolutionäre Versuchung mehr geben. Trauer, Traum und Trauma, von denen das dritte sich um den zweiten schließt und nur durch die erste jemals sich wieder zu öffnen erweicht werden könnte. Auf der Möglichkeit kommunistischer Begierde lastet nicht nur das Ende der Geschichte, sondern vor allem das Ende der Revolution. Nicht nur 1989, sondern auch, mehr noch, 1939, 1938 und folgende bis 1924, bis 1917.«

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dass viele undogmatische oder anarchistisch orientierte Linke Opfer des Stalinismus waren, erscheint deren Ausgrenzung aus dem Bereich des Demokratischen durch den Verweis, ihre Politikkonzepte liefen auf eine Form des Stalinismus hinaus, zynisch. Eine stichhaltige Begründung, warum ihre Positionen in eine totalitäre Terrorherrschaft münden, ist die Extremismusforschung bislang schuldig geblieben. Beide Punkte, die für die Forderungen nach Äquidistanz hervorgebracht werden, können begründet zurückgewiesen werden. Nach der Annahme eines antithetischen Verhältnisses zwischen Demokratie und Extremismus kann auch die zweite Prämisse der Extremismusforschung nicht überzeugen. Beide Prämissen stabilisieren die in Kapitel 7 herausgearbeitete Diskursformation der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie. Die Gründe ihrer Zurückweisung bergen wiederum das Potenzial diese Formation zu destabilisieren. Davon wird im politischen Diskurs, wie ich in Kapitel 9 zeigen werde, kaum Gebrauch gemacht. Hingegen spielen dort die Diskussionen um den sogenannten Extremismus der Mitte eine weit größere Rolle. Diese Diskussion wird auch im Rahmen der Extremismusforschung und einer Kritik an ihr geführt. 8.2.7 Extremismus der Mitte Die Begriff des Extremismus der Mitte irritiert nicht nur das etymologische Verständnis von Extremismus als »das Äußerste« (Bötticher 2015: 96), sondern auch die Prämissen der Extremismusforschung, Demokratie und Extremismus seien klar voneinander zu scheiden und Extremismus sei an den politischen Rändern angesiedelt. Der Ansatz der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung hat hingegen Ergebnisse zur Folge, die eine gesamtgesellschaftliche Verbreitung rechtsextremer Einstellungsmuster oder -fragmente zeigen (s. o.). Dies steht in einem gewissen Widerspruch zur Bezeichnung rechtsextrem. Der Begriff des Extremismus der Mitte versucht diesen Widerspruch aufzulösen und die Forschungsergebnisse begrifflich besser zum Ausdruck zu bringen. Fabian Virchow (2017: 19) bemerkt, dass es genau genommen darum geht, auf die Verbreitung von Rechtsextremismus in der Mitte aufmerksam zu ma-

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8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

chen.230 Neben dieser eher funktionalen Verwendung kann der Begriff auch auf eine wissenschaftliche Tradition zurückblicken. Bedeutungen des Begriffs Extremismus der Mitte Seine wissenschaftliche Prägung erhielt Extremismus der Mitte durch die Faschismustheorie des US-amerikanischen Soziologen Seymour Lipset. Dessen frühe Rezeption in der BRD geht auf den Artikel Der ›Faschismus‹, die Linke, die Rechte und die Mitte (Lipset 1959) zurück. Seine Theorie besagt, daß in jeder größeren sozialen Schicht sowohl demokratische als auch extremistische politische Tendenzen sich äußern. Die extremistischen Bewegungen der Linken, der Rechten und der Mitte (Kommunismus und Peronismus, traditioneller Autoritarismus und Faschismus) wurzeln der Reihe nach in der Arbeiter-, der Ober- und der Mittelklasse. (Lipset 1959: 401).

In seiner Arbeit konzentriert er sich vor allem auf den Extremismus der Mitte, den er in den faschistischen Bewegungen ausmacht. Ideologisch korrespondiere dieser mit dem Liberalismus, da beide nicht nur die gleichen Trägerschichten, den Mittelstand, sondern »auch den Inhalt ihres jeweiligen Appells gemeinsam« (Lipset 1959: 402) hätten. Durch die zunehmende Industrialisierung käme der Mittelstand in die Defensive und erhebliche Teile wendeten sich dem Faschismus zu, ohne einige ihrer liberalen Positionen (gegen Großindustrie, Gewerkschaften, Sozialismus und Religion) aufzugeben. Aus der ›liberalen‹ Ideologie einer revolutionären Klasse – welche für die individuellen Rechte und gegen die in den Händen weniger Leute geballte Macht kämpfte – [wird] die Ideologie einer reaktionären Klasse (Lipset 1959: 405).

Inwiefern sich Lipsets Theorie empirisch bestätigen lässt oder aktuelle Bezüge erlaubt, ist an dieser Stelle weniger relevant.231 Wichtig ist jedoch ____________________ 230

Dies zeigt bspw. folgende Passage aus der Einleitung des Sammelbandes Extremismus der Mitte von Lohmann (1994b: 18 Hervorh. im Original): »Der Titel des vorliegenden Buches, Extremismus der Mitte, ist mit Bedacht gewählt. Es läßt sich mit Händen greifen, daß die jungrechten Theoretiker der Nation [...] keineswegs isoliert sind. Bis weit in die bürgerliche Mitte, bis weit in die Parteien und Institutionen, bis weit in die liberalen Medien hinein finden die nationalen Botschaften der Neuen Rechten wenn nicht explizite Billigung und Zustimmung, so doch zumindest Duldung.«

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festzuhalten, dass sich Lipset sowohl auf die sozioökonomische Mitte (Mittelklasse) als auch auf die politische Mitte (Liberalismus) bezieht. Konjunktur hatte der Begriff in der BRD Anfang der 1990er Jahre vor dem Hintergrund rassistischer Ausschreitungen mit mehreren Todesopfern, der Änderung der Asylgesetzgebung und der gestiegenen Popularität nationalistischer Positionen (Kraushaar 1994b: 10–13). Gemein ist den zeitgenössischen Debattenbeiträgen, dass sie sich kaum an bisherigen wissenschaftlichen Überlegungen zu diesem Terminus orientieren,232 sondern die Aufmerksamkeit auf die Zusammenhänge zwischen den ›Gefahren von rechts‹ und der gesellschaftlichen und politischen Mitte richten möchten (Kraushaar 1994b: 10; Backes und Jesse 1995a: 13). Nachdem die Diskussion um den Extremismus der Mitte nach der Jahrtausendwende abflaute, bekam sie in den letzten Jahren durch die von der Friedrich-EbertStiftung in Auftrag gegebenen Mitte-Studien erneuten Auftrieb.233 Die Titel der jeweiligen Studien enthalten durchgehend eine Anspielung auf die Mitte und aus dem Untertitel geht jeweils hervor, dass rechtsextreme Einstellungen in der BRD gemessen werden.234 Explizit wird die Problematik des Rechtsextremismusbegriffs betont, da der darin enthaltende Extremismusbegriff »vermittelt, dass eine ›Mitte‹ der Gesellschaft existiert, die sich von diesen Extremen klar abgrenzen lässt« (Decker u. a. 2006: 12). Zudem ist in den Studien ein direkter Bezug auf Lipset enthalten, auch ____________________ 231

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Einwände sind allerdings mehrfach formuliert worden (Winkler 1972; Falter 1991; Kraushaar 1994a) und führten – unter Bezug auf die gleichen Quellen – bei manchen Autor_innen dazu, die Hauptthese Lipsets zu verwerfen (Backes und Jesse 1995a: 19), oder daran festzuhalten (Kraushaar 1994c: 91). Narr (1992, 1993) distanziert sich bewusst von der Lipset´schen Bedeutung, während andere Autor_innen ganz auf einen Verweis auf den USamerikanischen Soziologen verzichten, um den Extremismus in bzw. aus der Mitte der Gesellschaft anzuprangern (u. a. Hennig 1992; Jäger und Jäger 1992; Trittin 1993; Lohmann 1994a). Die Studien wurden von 2006 bis 2012 von einer Forscher_innengruppe um die Leipziger Sozialpsychologen Decker und Brähler durchgeführt. 2014 lösten Zick und Küpper, die vorher maßgeblich an den Bielefelder Studien zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unter Heitmeyer beteiligt waren, die Leipziger Gruppe ab. Die Titel der Studien lauten bspw. Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland(Decker u. a. 2006), Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010(Decker u. a. 2010) oder Gespaltene Mitte - feindselige Zustände: rechtextreme Einstellungen in Deutschland 2016 (Zick u. a. 2016).

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

wenn seinem Ansatz nicht gänzlich gefolgt wird (u. a. Decker und Brähler 2008: 6–7; Decker u. a. 2010: 15, 41–57). Diskussionen um den (Rechts-)Extremismus der Mitte Backes und Jesse (1995a: 13) bemerken richtigerweise, dass das Konzept »eine polemische Spitze gegen die Verortung der ›rechten Gefahr‹ am Rand der Gesellschaft« und damit gegen die Extremismusforschung enthält, deren Prämissen genau das nahelegen (u. a. Kopke und Rensmann 2000; Prüwer 2011). Wenig verwunderlich ist, dass der Extremismus der Mitte von Vertreter_innen der Extremismusforschung zurückgewiesen wird. Aus ihrer Sicht sei es »eine contradictio in adjecto« (Backes und Jesse 2005a: 9). Ein häufig wiederholter Vorwurf gegen diesen Begriff lautet, er »entgrenzt den Extremismusbegriff und macht ihn unbrauchbar« (Jesse 2004a: 20). Dies führe »zur Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates« (Backes und Jesse 1995a: 26).235 Denn wenn der Extremismusbegriff über Gebühr strapaziert würde, könne der demokratische Verfassungsstaat seine Gegner_innen schlechter identifizieren und sich nicht angemessen gegen sie wehren. Darin liege die Gefahr der Konzeption eines Extremismus der Mitte. Sie »würde zur geistigen Waffe derjenigen Kräfte, gegen den sich der Begriff [Extremismus, M. F.] ursprünglich richtete« (Backes und Jesse 1995a: 26). Mit dieser Einschätzung geht die Unterstellung einher, der Begriff sei vor allem von »Autoren der (extremen) Linken« geprägt (Backes und Jesse 1995a: 19).236 Auf die Kritik, die aus diesem Begriff entspringt, gehen Backes und Jesse nur am Rande ein. So sehen sie bspw. die Asylrechtsverschärfung von 1993 nicht als Ausdruck einer Verschiebung der politischen Kultur nach rechts, sondern als ange____________________ 235

236

Diesen Vorwurf wiederholen Backes und Jesse an mehreren Stellen (Jesse 1993: 21, 2004a: 20, 2004b: 17, 2013b: 18). Bemerkenswerterweise steht auch im Brockhaus von 1997 unter der Abhandlung des Extremismusbegriffs: »Der Begriff des E. der Mitte ist ein Widerspruch in sich. Er dient zur Delegitimierung des demokrat. Verfassungsstaates.« (zitiert nach Oppenhäuser 2011: 50 Hervorh. im Original). Diese Unterstellung, Kritiker_innen der Extremismusforschung seien selbst dem Extremismus nicht fern, wiederholt sich in den Schriften der beiden Autoren (Backes und Jesse 2001: 25–27, 2005a: 8).

253

8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

messene Reaktion, die »rechten und rechtsextremen Parteien das Wasser abgegraben« (Backes und Jesse 1995a: 23) habe. Auch die genannten Mitte-Studien werden von Vertreter_innen der Extremismusforschung kritisiert. Der Vorwurf, die Extremismusforschung verschiebe das Problem des Extremismus an die gesellschaftlichen Ränder, weisen sie zurück, da ihr Forschungsansatz auch die Mitte der Gesellschaft im Blick habe. Dabei beziehen sie sich zwar auf Lipset, verkennen aber einen wichtigen Aspekt seiner Theorie: Lipsets Position ist so ausführlich referiert worden, um den Beweis dafür anzutreten, dass die These vom ›Extremismus der Mitte‹ sich berechtigterweise nur dann auf den amerikanischen Soziologen berufen darf, wenn sich ›Mitte‹ ausschließlich auf die soziale Schicht (Mittelstand, Mittelklasse) bezieht. (Jesse 2013b: 17).

Auf den eigentlichen Vorwurf, die Extremismusforschung klammere die politische Mitte aus und problematisiere diese nicht, gehen sie in ihren Ausführungen nicht ein.237 Dennoch bezweifeln Backes und Jesse die Ergebnisse der Einstellungsforschung. Sie argumentieren mit Verweis auf die Mitglieder rechtsextremer Parteien und militanten Strömungen, Wahlverhalten und Gewaltstatistiken, dass von einem Einsickern des Rechtsextremismus in die gesellschaftliche Mitte nicht die Rede sein könne (Backes 2013; Jesse 2013b).238 Diese Einschätzung ist vor dem Hintergrund der Begriffsdefinition der Extremismusforschung nachvollziehbar. Legt man den Fokus jedoch auf die ____________________ 237

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254

Jesses Lesart von Lipset wiederholt sich in mehreren Ausführungen der Extremismusforschung zum ›Extremismus der Mitte‹ (Brodkorb 2010; Backes 2010: 30, 2013: 36–38). Lediglich Pfahl-Traughber (2010c: 65–66) geht auf die Problematik der politischen Mitte ein: »Die Rede von der ›politischen Mitte‹ bezieht sich auf die dominierenden politischen Tendenzen in einer Gesellschaft, also gegenwärtig auf die Anhängerschaft der beiden großen Volksparteien. Da diese demokratisch ausgerichtet sind, steht auch die ›politische Mitte‹ für demokratische Positionen. [...] Auch wenn man von ebendort mitunter kritikwürdige Auffassungen zur Ausländer- oder Bevölkerungspolitik hören kann, dürfen doch oberflächliche Ähnlichkeiten nicht zu inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit Rechtsextremisten fehlgedeutet werden.« Mit der Frage, ob es sich um oberflächliche Ähnlichkeiten oder inhaltliche Gemeinsamkeiten handelt, spricht er den Kern des Dissenses an. Leider gibt Pfahl-Traughber keine Begründung für seine Position, es handele sich um oberflächliche Ähnlichkeiten. Jesse (2013b: 23–24) formuliert auch Zweifel an der Aussagekraft der Items: »Und wer der Auffassung überwiegend zustimmt, die Bundesrepublik sei ›durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet‹, ist nicht zwangsläufig ›ausländerfeindlich‹.« Er gibt jedoch keine Alternativvorschläge zur Messung von Ausländerfeindlichkeit.

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

Einstellungsebene, wie dies in den Mitte-Studien der Fall ist, zeigt sich, dass auch viele Anhänger_innen der Parteien der Mitte (CDU/CSU und SPD) rechtsextreme Einstellungen bis hin zu einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild vertreten (Decker u. a. 2012: 44).239 Backes (2013: 38) ignoriert diesen Befund zwar nicht, argumentiert aber, dass von der Einstellungsebene nicht auf politisches Verhalten geschlossen werden könne. Dies sehen die Autor_innen der Mitte-Studien nicht anders (Decker u. a. 2006: 12–13), sprechen jedoch von Rechtsextremismus, bevor sich entsprechende Positionen in eine Handlung übersetzt haben. Zusammenfassung Die Frage, ob Rechtsextremismus als gesamtgesellschaftliches Problem der Mitte oder als Problem der Ränder wahrgenommen wird, ist von erheblicher politischer Bedeutung und hängt, wie gezeigt, vom jeweiligen Begriffsverständnis ab. Backes und Jesse legen ihrer Kritik ein Rechtsextremismusverständnis zugrunde, das vor allem auf die Handlungsebene (Wahl von als rechtsextrem eingeschätzten Parteien, behördlich dokumentierten rechtsextremen Straftaten etc.) blickt. Eine Zunahme rechtsextremer bzw. antiegalitärer Einstellungen oder eine Verschiebung der politischen Kultur nach rechts sind hingegen Entwicklungen, die mit dem Begriffsverständnis der Extremismusforschung kaum oder gar nicht zu fassen sind. Stattdessen betont sie eine deutliche Grenze zwischen Rechtsextremismus und rechten Demokrat_innen. Die sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung sieht hingegen fließende Übergänge. Sie ist jedoch mit dem Dilemma konfrontiert, diese Übergänge mit dem Rechtsextremismusbegriff nicht angemessen beschreiben zu können und, greift deshalb auf den Begriff des Extremismus der Mitte zurück. Meist wird der Begriff aber ohne weitere Spezifizierung oder wissenschaftlicher Fundierung verwendet. Er dient vielmehr einer Kritik an den Annahmen der Extremismusforschung und stellt die Prämisse des antithetischen Verhältnisses von Demokratie und Extremismus infrage. ____________________ 239

Ähnliche Ergebnisse zeigen auch die Studien über Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die immer wieder betonen, dass sich viele derjenigen, die Ideologien der Ungleichheit vertreten, selbst der politischen Mitte zuordnen (Heitmeyer 2005: 20; Zick und Küpper 2006).

255

8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

8.2.8 Totalitarismus- und Extremismusforschung In den bisherigen Ausführungen sind einige Parallelen zwischen Totalitarismus- und Extremismusforschung angeklungen, die ich in wenigen Punkten zusammenfassen möchte. Dabei beziehen sich die folgenden Ausführungen in erster Linie auf den herrschaftsstrukturellen Totalitarismusansatz (Kapitel 6.2.1). Parallelen zur Extremismusforschung zeigen sich vor allem in der konzeptionellen Anlage der beiden Ansätze, in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion und im Umgang mit Kritik. Der Ausgangspunkt beider Forschungsansätze ist eine Parteinahme für die liberale Demokratie und das Ziel, deren Feind_innen zu identifizieren. Dies sind entweder totalitäre Regime, die von außen die Demokratie gefährden oder extremistische Bestrebungen innerhalb demokratischer Staaten. In beiden Fällen gehen sie ein antithetisches Verhältnis zur Demokratie ein (Backes und Jesse 1992: 18). Die Annahme dieses Verhältnisses kann in beiden Fällen einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Wurde dem herrschaftsstrukturellen Totalitarismusansatz vorgeworfen seine Kategorien politischen Entwicklungen anzupassen, um auf politisch gewünschte Ergebnisse zu kommen, kann gegen die Extremismusforschung eingewendet werden, sie operiere mit so weit auslegbaren Kategorien, dass sehr viele Strömungen darunter gefasst werden könnten. Dies eröffnet die Möglichkeit für politisch willkürliche Klassifizierungen. Für beide Forschungsansätze spielt dabei die Erklärung der klassifizierten Phänomene selbst nur eine untergeordnete Rolle. Die Fragen nach Entstehungsbedingungen und Interaktionen mit der politischen Mitte bzw. demokratischen Ländern der als extremistisch bzw. totalitär klassifizierten Phänomene werden von der Extremismus- bzw. herrschaftsstrukturellen Totalitarismusforschung kaum erörtert (Backes und Jesse 1985: 98; Backes 1989: 20; Wiegel und Erlinghagen 1999: 157–158). In ihrem historischen Kontext haben beide Forschungsansätze ähnliche gesellschaftspolitische Funktionen. In den 1950er und 1960er Jahren diente die Totalitarismusforschung zur Legitimation der außenpolitischen Abgrenzung gegenüber den als totalitär klassifizierten Regimen, vor allem gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Sowohl der Nationalsozialismus als auch die Ostblockstaaten wirkten als Abgrenzungsfolien stabilisierend auf das Selbstverständnis der jungen BRD. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der herrschaftsstrukturelle Totalitarismusansatz weder in der BRD entstanden ist noch ursprünglich für die beschriebene Funktion entwickelt wurde. Diese Einschränkung gilt nicht für die Extremismusforschung. Sie entstand in der BRD und ist sowohl kon256

8.2 Wissenschaft: normative Extremismusforschung

zeptionell als auch institutionell sehr eng mit den Sicherheitsbehörden verwoben. So liegt ihre Funktion in erster Linie darin, der Abgrenzung, wie sie staatlicherseits seit den 1970er Jahren gegen die sogenannten Feinde der Demokratie vorgenommen wird, wissenschaftliche Legitimation zu verleihen. Beide Forschungsrichtungen bringen die Gegner_innen der bestehenden Ordnung von rechts und links unter einen Begriff. Dies hat zwar nicht eine generelle Gleichsetzung zur Folge, bedeutet jedoch die Annahme einer partiellen Gleichheit und einem gleichen Gefährdungspotenzial. Bemerkenswerte Ähnlichkeiten zeigen sich auch im jeweiligen Umgang mit Kritik. Da die Antithese zwischen Demokratie und Totalitarismus bzw. Extremismus für beide Forschungsrichtungen konstitutiv ist, werden Überlegungen, die auf totalitäre bzw. extremistische Potenziale innerhalb von Demokratien aufmerksam machen, zurückgewiesen. Neben der bereits ausgeführten Einwände am Extremismus der Mitte kritisiert Jesse (2007a) auch den sogenannten Totalitarismus der Mitte, wie er seiner Meinung nach aus den Schriften von Herbert Marcuse hervorgeht, als unbrauchbar. Solche Konzeptionen seien selbst eine Gefahr für die Demokratie, da die ›eigentlichen‹ Gefahren durch die Verwischung der Grenze zwischen Demokratie und ihren Feind_innen nicht mehr identifiziert werden könnten (Jesse 1999a: 23). Diese Schwächung würde von den Kritiker_innen dieser Forschungsansätze bewusst in Kauf genommen, da sie selbst totalitären oder extremistischen Ideen näher stünden als der Demokratie.240 Die Parallele zur Diskussion um den Extremismus der Mitte liegt auf der Hand. Eine letzte Ähnlichkeit, die ich aufführen möchte, ist die Behauptung einer vermeintlichen Tabuisierung des Totalitarismus- bzw. des Extremismusbegriffs.241 Konnte man Anfang der 1970er tatsächlich eine relativ abrupte Abkehr von Totalitarismusansätzen in der Wissenschaft ausmachen und die Wahrnehmung einzelner Wissenschaftler_innen als Tabuisierung des Begriffs in Ansätzen nachvollziehen, kann das wiederholte Lamento über eine Tabuisierung des Extremismusbegriffs, bei gleichzeitiger ____________________ 240 241

Für die Totalitarismusforschung behaupten dies Jesse (2007a: 371) und mehrfach Bracher (1978: 110, 1988: 25). Beispiele aus der Extremismusforschung sind oben bereits benannt. Diese Behauptung wird für den Totalitarismusbegriff mehrfach aufgestellt (Bracher 1988: 23; Backes und Jesse 1992: 13; Bracher 2003: 41), ebenso wie für den Extremismusbegriff (Backes und Jesse 1987: 10–11, 1993a: 8; Jesse 2013a: 526).

257

8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

Dauerpräsenz in der politischen Öffentlichkeit und den Sozialwissenschaften, nicht einmal im Ansatz eine tragfähige empirische Begründung aufweisen. 8.3

Einordung

Die antiextremistische, wehrhafte Demokratie, die sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre als Deutungsmuster der politischen Ordnung der BRD durchsetzte, erlangte in den Folgejahren eine hegemoniale Stellung. Dazu trug entscheidend bei, dass die Institutionen politischer Kontrolle dieses Muster übernahmen und verbreiteten, das zudem von einer politikwissenschaftlichen Subdisziplin weiter ausgearbeitet wurde. Hier zeigen sich parallele Entwicklungen zur Stabilisierung des Antitotalitarismus in den 1950er und 1960er Jahren. Die Rolle der Extremismusforschung ist jedoch von daher hervorzuheben, da sie nicht unabhängig von der antiextremistischen Grenzziehung entstanden ist, sondern angetreten ist, diese zu legitimieren. So überlappen sich der politische und der wissenschaftliche Diskurs. Die Prämissen der Extremismusforschung stabilisieren die antiextremistische, wehrhafte Demokratie. Durch ihre detaillierte Rekonstruktion zeigen sich aber auch Brüche und Risse, die wiederum destabilisierend auf die hegemoniale Formation wirken können. Das vorliegende Kapitel trägt also einerseits dazu bei, das Werden der hegemonialen politischen Ordnung zu rekonstruieren und andererseits Anknüpfungspunkt für ihre Dekonstruktion zu identifizieren. 8.3.1 (De-)Stabilisierung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie Die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie wurde seit Beginn der BRD nie ernsthaft infrage gestellt. Die kritische Debatte in den 1970er Jahren verebbte bald. Die antiextremistische Abgrenzung ist vergleichsweise jung, kann aber an den Antitotalitarismus der 1950er und 1960er Jahre anknüpfen. Sie verspricht die Brüche und Risse, die Ende der 1960er Jahre entstanden sind, zu vernähen. Diese entstanden unter anderem durch die Ausdifferenzierung der radikalen Linken in totalitäre (orthodoxkommunistische) und nicht- bzw. antitotalitäre Strömungen der Neuen Linken. Diese unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Positionen werden in der Kategorie ›Linksextremismus‹ zusammengefasst. Diese Kategorie und ihre wissenschaftliche Ausarbeitung stabilisiert die hegemoniale Dis258

8.3 Einordung

kursformation, da die ›Gefahren von links‹ weiterhin unter einen Begriff gebracht werden können und radikal andere Vorstellungen von Demokratie aus dem Diskurs über die eigentliche Bedeutung von Demokratie ausgegrenzt werden. Eine Analyse der Kategorie ›Linksextremismus‹ zeigt jedoch, dass ihr kein konsistentes soziales Phänomen zugeordnet werden kann und ihre sozialwissenschaftliche Erforschung und definitorische Bestimmung unzureichend sind. Am Ende einer detaillierten Analyse dieser Kategorie steht ihre Dekonstruktion. Der Übergang von einer antitotalitären zu einer antiextremistischen Abgrenzung geht also nicht bruchlos vonstatten. Weitere Brüche zeigen sich bei genauerer Analyse der beiden Hauptkategorien Demokratie und Extremismus. Sowohl im politischen Diskurs als auch durch die Institutionen der politischen Kontrolle wie auch durch die Extremismusforschung werden sie als gegensätzlich und einander ausschließend vorgestellt. Die Ausführungen der Extremismusforschung dazu erlauben es, dieses Verhältnis genauer zu analysieren. Dabei wird deutlich, dass die Definition von Extremismus höchst unscharf ist. So sind sowohl die Negativ- als auch die Positivdefinition sehr verschieden auslegbar und bislang nicht überzeugend validiert. Streng genommen ist völlig unklar, was Extremismus ausmacht und welche Phänomene ihm zuzuordnen sind. So kann die Annahme eines antithetischen Verhältnisses zwischen Demokratie und Extremismus durch die Analyse der wissenschaftlichen Grundlagen begründet zurückgewiesen werden. Dies wiederum könnte sich destabilisierend auf die hegemoniale Formation auswirken. So ist die breite Diskurskoalition, die sich in den 1970er Jahren herausbildet und auf die Institutionen politischer Kontrolle sowie die Extremismusforschung ausweitet, zugleich Segen und potenzieller Flucht für die antiextremistische, wehrhafte Demokratie. Denn einerseits erfährt sie durch die wissenschaftliche Legitimierung Stabilität, aber andererseits ermöglicht die detaillierte Analyse der Extremismusforschung Einblicke in die Prämissen der hegemonialen Formation. Diese Einblicke bergen, wie gezeigt, Potenziale, die antiextremistische, wehrhafte Demokratie in Zweifel zu ziehen bzw. zu dekonstruieren. 8.3.2 Hegemonietheoretische Einordnung Bezüglich der beiden Kernfragen von Hegemonien zweiter Ebene sind gegenüber Kapitel 7 keine Änderungen auszumachen. Die eigentliche Bedeutung von Demokratie als eine antiextremistische, wehrhafte wurde 259

8. Antiextremismus wird hegemonial – zweite Zwischenphase

weiter stabilisiert. Nach wie vor ist die Wehrhaftigkeit nach unten ausgerichtet, sodass dem Staat am ehesten zugetraut wird, eigentlicher Verfechter der Demokratie zu sein. Die Exekutive hat, vor allem durch die Kompetenzerweiterung des Verfassungsschutzes, zunehmend das Monopol über die Interpretation der fdGO als Kern der Demokratie und dadurch über die Grenze zu den Feinden der Demokratie. Eine Beobachtung, die aus hegemonietheoretischer Perspektive relevant ist, deutet sich in den Schriften der Extremismusforschung an mehreren Stellen an. Es sind erste Tendenzen zur Schließung des Diskurses um die eigentliche Bedeutung von Demokratie erkennbar. Dabei ist erst einmal unproblematisch, dass die fdGO als Kern der Demokratie vorgestellt wird. Problematisch ist jedoch ihre Auslegung dahingehend, dass andere Vorstellungen von Demokratie als potenziell extremistisch und damit antidemokratisch eingestuft werden. Deren Vertreter_innen werden somit nicht als Mangel zweiter Ebene, mit denen um die eigentliche Bedeutung der Demokratie gerungen wird, vorgestellt, sondern als Mangel erster Ebene, die eine Gefahr für die Demokratie seien und aus diesem Ringen ausgeschlossen werden. Diese Tendenz zeigt sich auch in der Unterstellung, dass Kritik an der Extremismusforschung in erster Linie von Wissenschaftler_innen vorgetragen wird, von denen »viele selbst Strömungen nahestehen, gegen die sich extremismustheoretische Betrachtungen wenden« (Backes und Jesse 2001: 26–27). Wird die eigentliche Bedeutung von Demokratie, hier die antiextremistische, wehrhafte, als einzig legitime artikuliert, indem andere Demokratievorstellungen oder Kritik an dieser Vorstellung als antidemokratisch und damit als Mangel erster Ebene bezeichnet werden, hätte dies eine Fixierung der eigentlichen Bedeutung zur Folge. Dies birgt die Gefahr, dass der Konflikt auf erster Ebene aufbricht, da der leere Signifikant, hier Demokratie, nicht mehr bedeutungsoffen und flexibel ist und so seine zentrale Eigenschaft verliert (Kapitel 2.3). Diese Tendenz der Schließung könnte sich bei weiterer Zuspitzung zu einer Gefahr für die Demokratie entwickeln. Die herausgearbeiteten Brüche in der hegemonialen Formation, die in der Extremismusforschung wie unter einer Lupe sichtbar werden, widersprechen der antagonistischen Zweiteilung des diskursiven Raums. Die Arbeiten der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung zeigen, dass Elemente wie Rassismus oder Antisemitismus, die im hegemonialen Diskurs klar der Äquivalenzkette M zugeordnet sind, nicht ausschließlich von als extremistisch klassifizierten Gruppen vertreten werden. Da antiegalitäre Positionen auch von als demokratisch klassifizierten 260

8.3 Einordung

Gruppen geäußert werden, zeigen sich Verbindungen über die antagonistische Grenze hinweg. Ebenso offenbart eine differenzierte Betrachtung der Kategorie ›Linksextremismus‹, dass manche als linksextrem bezeichneten Positionen demokratisch sind und damit schwerlich ein antagonistisches Verhältnis zu Demokratie einnehmen können. Darüber hinaus ist das antagonistische, bzw. von den Extremismustheoretikern als antithetisch bezeichnete Verhältnis von Extremismus und Demokratie zwar definiert, die Definitionen scheitern jedoch an ihrer empirischen Überprüfung. Diese ausgemachten Risse sind bislang lediglich durch eine Analyse der Extremismusforschung, die mit der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie weitgehend Hand in Hand geht, gewonnen worden. Inwieweit sie auch im politischen Diskurs zum Tragen kommen, ist Teil der dritten Analysephase.

261

9.

Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Kämpfe um die eigentliche Bedeutung von Demokratie rekonstruiert. Aus diesen Kämpfen ist eine stabile Formation hervorgegangen, die im Diskurs um die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) eine hegemoniale Stellung einnimmt. Ziel des folgenden Kapitels ist es aufzuzeigen, wie die antiextremistische, wehrhafte Demokratie ihre hegemoniale Position ausbaut bzw. dieser Ausbau behindert wird. Ich zeige dies anhand des Bereichs der Prävention von Gefahren für die Demokratie. Verstetigte Präventionsmaßnahmen gibt es seit dem Jahr 2000. In den ersten Jahren richteten sich diese Maßnahmen nicht an der hegemonialen Formation aus, sondern förderten lediglich Projekte gegen Rechtsextremismus. Die Forderung nach Prävention gegen alle Formen des Extremismus entspricht der hegemonialen Formation und drang erst später in den Präventionsbereich vor; das Ringen um Hegemonie dauert dort bis heute an. Deshalb können die Strategien der Expansion der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie rekonstruiert werden. Zudem kann anhand des Präventionsdiskurses untersucht werden, wie die in Kapitel 8 herausgearbeiteten Brüche und Risse in der hegemonialen Formation im politischen Diskurs zum Tragen kommen. Einführend werde ich einen kurzen Überblick zur Historie der pädagogischen Präventionsprogramme geben, wobei ich mich auf die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Programme beschränke (9.1). Diese sind finanziell mit Abstand am besten ausgestattet und werden weit mehr in der Öffentlichkeit diskutiert als die kleineren Programme des Bundesministeriums des Innern (BMI) und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Dem ab 2001 vom BMFSFJ aufgelegten Präventionsprogramm ging eine bis heute anhaltende Auseinandersetzung um die inhaltliche Ausrichtung voraus. Der Forderung nach Prävention gegen Rechtsextremismus stand die Forderung nach einem Programm gegen alle Formen des Extremismus gegenüber (9.2). Die Rechtsextremismusprävention setzte sich vorerst durch, war aber nie unumstritten und stand nach Ablauf des Programms 2006 zur Disposition. Die im Jahr darauf anlaufenden Programme behielten aufgrund verschiedener Kontextfaktoren den inhaltlichen Fokus auf Rechtsextremismus bei (9.3). 2010 setzte sich die Extremismusprävention 263

9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

in der Programmgestaltung weitgehend durch. (9.4). 2014 wiederum deutete sich eine Abkehr von der Extremismusprävention an, die aber weder konsequent vollzogen noch unumstritten ist. Eine Rückkehr zur Extremismusprävention ist nicht auszuschließen (9.5). Der Kampf um die Hegemonie im Präventionsbereich zwischen der Forderung nach Rechtsextremismusprävention und Extremismusprävention ist noch nicht entschieden. 9.1

Übersicht staatlich geförderter Präventionsprogramme

Überlegungen, antidemokratischen, autoritären oder faschistischen Einstellungen bzw. Charakterzügen pädagogisch zu begegnen, gab es bereits in der direkten Nachkriegszeit (Engelmann 1945; Adorno 1970a). Die staatlich geförderten Maßnahmen in Schulen oder durch die Zentralen der politischen Bildung orientierten sich dabei lange am herrschaftsstrukturellen Totalitarismusansatz oder der normativen Extremismusforschung (Kapitel 6.1.3 und 8.1.3). Ende der 1980er Jahre fanden vor dem Hintergrund des Anstiegs rechter Gewalt und Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien vermehrt Diskussionen statt, wie solchen Entwicklungen präventiv begegnet werden könnte (Heitmeyer 1987, 1989; Saurbier 1989). Infolge der nationalistischen und rassistischen Ausschreitungen und Brandanschläge nach dem Beitritt der DDR zur BRD legte die Bundesregierung 1992 erstmals ein Präventionsprogramm auf, welches durch pädagogische Maßnahmen gegen Rechtsextremismus wirken sollte. Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) endete 1997 und handelte sich durch den zugrunde liegenden Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen den Vorwurf der »Glatzenpflege auf Staatskosten« (Drieschner 1993) ein (Böhnisch u. a. 1997; Simon und Hanselmann 2003). Wenige Jahre später rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), als direkte Reaktion auf einen Brandanschlag gegen die Düsseldorfer Synagoge am 2. Oktober 2000, den ›Aufstand der Anständigen‹ aus. Neben öffentlichkeitswirksamen Aktionen von Bundesregierung und Zivilgesellschaft wurde 2001 das präventiv angelegte Bundesprogramm Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus (JfTD), ins Leben gerufen. Dieses glie-

264

9.1 Übersicht staatlich geförderter Präventionsprogramme

derte sich in die Teilprogramme Xenos,242 Entimon und Civitas, denen bis 2006 insgesamt etwa 192 Millionen Euro zur Verfügung standen, was die Arbeit gegen rechts professionalisierte und eine Szene aus Vereinen, Initiativen und Projekten entstehen ließ. Der Fokus der Programme lag auf pädagogischen Präventionsprojekten und der Stärkung der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland (Lynen von Berg und Roth 2003; Dovermann 2004; Möller 2014: 208–211). Diese Programme wurden zum 1. Januar 2007 durch das Bundesprogramm Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie (Vielfalt) abgelöst, welches lokale Aktionspläne243 und die pädagogischen Modellprojekte umfasste. Neun Monate später legte die Bundesregierung mit kompetent. für Demokratie (kfD) ein Programm auf, das lokale Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus förderte. Der Fokus auf Ostdeutschland entfiel (Regiestelle Vielfalt und Zentralstelle kompetent. für Demokratie 2011). Anfang 2011 ersetzte das zuständige BMFSFJ die beiden Programme durch das Bundesprogramm Toleranz fördern. Kompetenz stärken (TFKS). Wenige Monate zuvor startete die damals zuständige Ministerin Kristina Köhler (heute Schröder, CDU) mit der Initiative Demokratie stärken (IDS) ein Programm, das Projekte gegen islamistischen Extremismus und ›Linksextremismus‹ förderte, sodass erstmals Programme gegen alle Formen des Extremismus umgesetzt wurden (BMFSFJ 2011a). Vier Jahre später veränderte Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) die Ausrichtung der Präventionsbemühungen und vereinte sie im Bundesprogramm Demokratie leben!. Es umfasst neben einer strukturellen Verbesserung für die zivilgesellschaftlichen Träger und einer erheblichen Aufstockung der Fördermittel eine Programmsäule für Projekte zu »ausgewählten Phänomenen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« und eine zu »Radikalisierungsprävention« (BMFSFJ 2016c: o. S.). Die letzte Säule richtet sich gegen Rechtsextremismus, Ultranationalis-

____________________ 242 243

Das Teilprogramm Xenos wurde ab 2008 vom BMAS weitergeführt. Es richtet sich gegen Diskriminierung in Betrieben und verfolgt das Ziel, benachteiligte Jugendliche in den Arbeitsmarkt zu bringen (BMAS 2011). Die lokalen Aktionspläne sind bei den Landkreisen angesiedelt und sollen zivilgesellschaftliche Aktionen gegen rechtsextreme, fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen vor Ort fördern. Die Landkreise können sich um entsprechende Mittel aus dem Bundesprogramm bewerben.

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9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

mus, gewaltförmige islamistische Phänomene und Erscheinungsformen linker Militanz.244 Laufzeit

Name

Inhaltliche Ausrichtung

2001 bis 2006

Präventionsmaßnahmen gegen Rechtsextremismus

2007 bis 2010 2010 bis 2014

Jugend für Toleranz und Demokratie, mit Civitas, Entimon und Xenos Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie kompetent. für Demokratie Initiative Demokratie stärken

2011 bis 2014

Toleranz fördern – Kompetenz stärken

2015 bis 2019

Demokratie leben!

2007 bis 2010

Finanzielle Ausstattung 192 Mio. € insgesamt

Modellprojekte und Lokale Aktionspläne gegen Rechtsextremismus

19 Mio. € jährlich

Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus Modellprojekte gegen ›Linksextremismus‹ und islamischen Extremismus Modellprojekte, Lokale Aktionspläne und Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus Demokratiezentren Modellprojekte gegen GMF und Radikalisierungsprävention

5 Mio. € jährlich 5 Mio. € jährlich 24 Mio. € jährlich

104,5 Mio. € jährlich

Abbildung 11: Übersicht zu den aufgelegten Präventionsprogrammen im Verantwortungsbereich des BMFSFJ, eigene Darstellung In der folgenden Analyse berücksichtige ich die Plenardebatten im Bundestag und parlamentarische Initiativen, die die genannten Präventionsprogramme betreffen. Punktuell gehe ich auch auf die Förderrichtlinien ____________________ 244

266

Parallel zu diesen Programmen fördert das Bundesministerium des Innern seit 2010 durch das Programm Zusammenhalt durch Teilhabe (ZdT) regional verankerte Vereine und Verbände, in ihren Maßnahmen zur demokratischen Teilhabe und gegen Extremismus.

9.2 Rechtsextremismusprävention seit 2001

der Programme und Stellungnahmen von zivilgesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Akteur_innen die Programme betreffend ein. Aufgrund der Fülle an Material und des langen Analysezeitraums, weicht das Vorgehen und die Zusammenstellung des Korpus von den vorangegangenen Analysephasen ab (Kapitel 3.2.3). 9.2

Rechtsextremismusprävention seit 2001

Im Sommer des Jahres 2000 wurde in der bundesdeutschen Öffentlichkeit über die Zunahme rassistisch motivierter Straftaten diskutiert. Prominente Politiker_innen wie bspw. Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) warnten vor einem möglichen »braunen Terrorismus« (Däubler-Gmelin 2000: o. S.). Bereits am 23. Mai 2000 rief die Bundesregierung das Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt (BfDT) ins Leben, um zivilgesellschaftliche Aktivitäten zu bündeln. Die Bundestagsfraktionen stellten ihre Position zu dem Themenkomplex in Form von Anträgen vor, über die am 30. März 2001 debattiert und abgestimmt wurde. Dem Antrag der Unionsfraktionen vom 11. September 2000 stand ein gemeinsamer Antrag der anderen vier Fraktionen vom 6. März 2001 gegenüber, der schließlich angenommen wurde. Die Anträge und die Aussprache im Bundestag vom 30. März 2001 erlauben es, in Forderungen nach einer Extremismus- und nach einer Rechtsextremismusprävention zu unterscheiden. Dies macht sich in erster Linie durch die Bestimmung der Gefahren für die Demokratie bemerkbar, aber auch in den verschiedenen Vorschlägen zu Präventionsmaßnahmen. 9.2.1 Forderung nach Extremismusprävention Bereits der Titel des Antrags der Unionsfraktionen Nachhaltige Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit zeigt an, was als Gefahr für die Demokratie gesehen wird. Zwar gelten auch diesem Antrag als Anlass »abscheuliche Straftaten«, die »die Aufmerksamkeiten der Öffentlichkeit auf die rechtsextreme Gewalt gerichtet« (Fraktion CDU/CSU 2000: 1) haben. Daran anschließend werden die jüngsten Zahlen aus dem Verfassungsschutzbericht zitiert, um zu folgern: »Das zentrale Problem ist eine zunehmende Gewaltbereitschaft bei allen Extremisten« (Fraktion CDU/CSU 2000: 2). Einen ähnlichen Bogen, vom Anlass Rechtsextremismus zu einer Forderungen nach einem Vorgehen gegen alle Extremis267

9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

men, geht auch aus der Rede des CDU-Abgeordneten Wolfgang Schäuble (2001: 15806A) in der Debatte vom 30. März 2001 hervor: Im Augenblick macht uns der Rechtsextremismus sehr viel mehr Sorge als andere Erscheinungsformen; das ist gar keine Frage. Dennoch ist die Differenzierung zwischen rechts und links immer problematisch. Wir sollten dabei bleiben, dass wir Extremismus und Gewalttätigkeit in jeder Form mit aller Entschiedenheit bekämpfen.

Der Fokus auf Extremismus wird auch in der konkreteren Beschreibung der Problemgruppen im Antragstext deutlich, wenn von »radikalen Minderheiten – einmal die mit glattgeschorenen Köpfen, dann wieder die Vermummten« oder »rechts- wie linksextremistischen Gruppen« (Fraktion CDU/CSU 2000: 1, 2) die Rede ist. An einigen Stellen wird auch nur von Rechtsextremismus als Problem gesprochen, meist bezüglich entsprechender Handlungen. Verwiesen wird dabei auf die behördlichen Statistiken zu politisch motivierter Kriminalität (PMK) oder den Wähler_innenzuspruch für die NPD (Fraktion CDU/CSU 2000: 8, 11). Sobald in dem Antrag die Einstellungsebene thematisiert wird, ist die Rede von »extremistischem Gedankengut«, »extremistischen Ideen« oder »extremistischen [...] Einstellungen« (Fraktion CDU/CSU 2000: 6, 7). Der im Antrag der Union aufgeführte Maßnahmenkatalog umfasst etwa zu gleichen Teilen präventive und repressive Maßnahmen. Die präventiven Maßnahmen sollten bei den Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung oder »im Zukunftsfonds der Stiftung ›Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‹« (Fraktion CDU/CSU 2000: 6, 7) angesiedelt werden. Auch im Bereich Schule müsse eine Verstärkung der politischen Bildung, insbesondere mit dem Ziel von mehr Verständnis für die Verfahren der parlamentarischen Demokratie und für marktwirtschaftliche Prozesse; Aufklärungsarbeit gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit (Fraktion CDU/CSU 2000: 4)

angestrengt werden. Die Umsetzung der angestrebten Maßnahmen soll also in der Hand von staatlichen oder staatsnahen Einrichtungen bleiben. Die Zivilgesellschaft findet in diesen Ausführungen keine Erwähnung. 9.2.2 Forderung nach Rechtsextremismusprävention Der gemeinsame Antrag der anderen vier Bundestagsfraktionen zeigt ebenfalls bereits mit dem Titel Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt an, wo die Gefahr für die Demokratie 268

9.2 Rechtsextremismusprävention seit 2001

gesehen wird. Diese Gefahren spiegeln sich auch in der Beschreibung des Anlasses für den Antrag wider: Nach amtlichen Erkenntnissen wurden allein von Januar bis September 2000 rund 10 000 rechtsextrem motivierte Straftaten registriert – so viele wie im gesamten Jahr 1999. In der Zeit von 1990 bis 2000 kamen nach Medienberichten 93 Menschen durch rechtsextremistische Gewalttaten ums Leben. [...] Die Schändung jüdischer Friedhöfe sowie Übergriffe auf und Einschüchterung von Minderheiten und Menschen anderer Herkunft sind Besorgnis erregend und erfordern entschlossenes politisches Handeln. [...] Niemand darf wegen seiner Behinderung, Herkunft, Hautfarbe, Sprache, seines Glaubens, seiner ethnischen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Diese Diskriminierung von Minderheiten, ob offen oder verdeckt, muss entschieden bekämpft werden. (Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS 2001: 1).

Der Antrag behält durchgehend eine auf Rechtsextremismus beschränkte Gefahrenbeschreibung bei; andere Formen von Extremismus werden nicht thematisiert. Stattdessen wird das Problem des Rechtsextremismus facettenreich beschrieben. Neben verschiedenen Aspekten der Handlungsebene (Straftaten, Friedhofsschändungen, Einschüchterungen) wird auch die Einstellungsebene thematisiert. Verschiedenen Formen der Diskriminierung, Vorurteilen und antiegalitären Ideologieelementen soll entgegengewirkt werden. Die Einsicht, dass Rechtsextremismus jenseits eines wie auch immer gearteten Randes verbreitet ist, zeigt sich in den Reden vor dem Bundestag. Der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy (2001: 15801D) sagt bspw.: »Zunehmend wurde wahrgenommen, dass Rechtsextremismus kein Randproblem ist, sondern eine zentrale Herausforderung unserer Demokratie.« Ähnlich auch Annelie Buntenbach (2001: 15808A) für Bündnis 90/Die Grünen (Grüne): Die Rahmenbedingungen für Rechtsextremismus entstehen in der Mitte der Gesellschaft. Rechtsextreme setzen in Gewalt um, was an den Stammtischen – aber leider nicht nur dort – geredet wird.245

Die vorgeschlagenen Maßnahmen richten sich entsprechend der Problembeschreibung ausnahmslos gegen Rechtsextremismus. Präventive Maßnahmen, auf denen der Fokus des Antrags und der Reden liegt, sollen vor allem von zivilgesellschaftlichen Trägern umgesetzt werden (Buntenbach ____________________ 245

Umfragen zu Einstellungen zitiert die SPD-Abgeordnete Harnewinckel (2001: 15813B): »Wir kennen die Zahlen. Sie erschrecken; denn es ist zum Beispiel kaum vorstellbar, dass 20 Prozent der Ostdeutschen eine rechtsextreme Einstellung haben und 40 Prozent generell fremdenfeindlich sind.«

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9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

2001: 15808C; Edathy 2001: 15802C; Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS 2001: 3–4). 9.2.3 Zusammenfassung In der Gegenüberstellung beider Forderungen zeigen sich deutliche Unterschiede. Der Antrag der Union und die entsprechenden Begründungen fügen sich dabei in den hegemonialen Diskurs der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie ein. Sie fordern ein Vorgehen gegen alle Extremismen und stellen sie der Demokratie gegenüber. Die Verantwortung für die Präventionsarbeit soll in die Hände staatlicher bzw. staatsnaher Akteure gelegt werden. Eine Förderung der Zivilgesellschaft ist nicht vorgesehen. Dem gegenüber setzen sich die anderen vier Fraktionen für die Stärkung der Zivilgesellschaft ein, benennen in ihrem Antrag nur Rechtsextremismus als Gefahr für die Demokratie und sehen diesen nicht als auf den Rand der Gesellschaft beschränkt. Dieses Verständnis von Rechtsextremismus, das dem der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung gleicht (Kapitel 8.2.6), setzte sich auch in den Förderrichtlinien der 2001 aufgesetzten Bundesprogramme durch (BMFSFJ 2003; Roth und Benack 2003: 5, 18–21). Damit etabliert sich für den Bereich der staatlich geförderten pädagogischen Prävention ein Ansatz, der von der hegemonialen Diskursformation abweicht, zumindest was die Beschreibung der Gefahren für die Demokratie angeht.246 Die Forderung nach einer gegen Rechtsextremismus ausgerichteten Prävention setzte sich vorerst durch. Die Gründe dafür liegen in der besonderen historischen Situation: Wahlerfolge rechtsextremer Parteien, Todesopfer rechter Gewalt, militant auftretende rechte Jugendgruppen und ein Anstieg der Zahlen zu PMK.247 Zudem war erstmals in der Geschichte der BRD eine rot-grüne Bundesre____________________ 246

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Eine Vorstellung über den Kern der Demokratie geht weder aus den Anträgen noch den Reden hervor, sodass keine Aussage darüber getroffen werden kann, ob mit der Abweichung bezüglich der Gefahren für die Demokratie auch eine Abweichung hinsichtlich des Kerns einhergeht. Interessanterweise argumentieren beide Positionen mit den behördlichen Zahlen zu PMK, ziehen aber unterschiedliche Schlüsse. Eine Kritik an den Zahlen der Exekutivbehörden und deren Verwendung formuliert Feustel (2011, 2012). Sie verweist aus zweifelhafte Erhebungsmethoden und kritisiert den großen Einfluss, den die Behörden durch die Verwendung ihrer Zahlen und Definitionen erlangen.

9.3 Umstrittene Weiterführung der Rechtsextremismusprävention 2006/2007

gierung in der Verantwortung. Die Anbindung der Programme an das BMFSFJ zeigtt, dass die Diskussion unter den Vorzeichen der Prävention und nicht in erster Linie der Inneren Sicherheit geführt wurde. Dies beförderte eine Entkoppelung der Programme vom Diskurs um die politische Ordnung und erleichterte eine Ausrichtung, die von der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie abwich. Die Ausführungen zeigen aber auch, dass die Rechtsextremismusprävention seit ihrer Einführung 2001 umstritten war, was in der Diskussion um ihre Weiterförderung 2006/2007 noch deutlicher wird. 9.3

Umstrittene Weiterführung der Rechtsextremismusprävention 2006/2007

Es war von Beginn an das Ziel der Union, Programme gegen alle Formen des Extremismus und nicht nur gegen Rechtsextremismus aufzulegen. Diese Forderung wurde in der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Bundesregierung (2002 bis 2005) durch Anfragen und in Plenardebatten bekräftigt (Fraktion CDU/CSU 2001; Hohmann 2003: 1834D). Schließlich schien sich die Union nach der gewonnen Bundestagswahl 2005 mit dieser Forderung in den Koalitionsverhandlungen gegen die SPD durchgesetzt zu haben. Bezogen auf die Präventionsprogramme heißt es im Koalitionsvertrag: »Es ist unser erklärtes Ziel [...] jede Form von Extremismus, auch von links, zu bekämpfen« (CDU, CSU und SPD 2005: 106). In der Ausgestaltung des Bundesprogramms Vielfalt, das zum 1. Januar 2007 unter Federführung der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) eingesetzt wurde und die bisherigen Programme weiterführte, blieb der Fokus auf Rechtsextremismus jedoch enthalten. Auch das neun Monate später aufgelegte Programm kfD, das lokale Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus förderte, behielt diesen thematischen Schwerpunkt. Die Gründe hierfür vermutet Roland Roth in aktuellen politischen Ereignissen. Er schreibt, eine Ausrichtung als Präventionsprogramme gegen Extremismus »haben vor allem die zahlreichen NPD-Wähler in Mecklenburg-Vorpommern und die gewalttätige Kameradschaftsszene von Pretzien und anderswo verhindert« (Roth 2006b: 6). Dieser Kontext floss auch in die politischen Debatten um die Weiterführung der Präventionsprogramme ein. Da es keine Aussprache über die Programme selbst gab, sind fünf Bundestagesdebatten zwischen März 2006 und September 2007,

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9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

die das Thema behandeln, Gegenstand der folgenden Ausführungen.248 Weiterhin ringen die Forderung nach Rechtsextremismusprävention und jene nach Extremismusprävention um Hegemonie. Ein Konflikt entzündet sich in dieser Phase vor allem um die Fragen, wie sinnvoll eine Ausweitung der Prävention auf weitere Extremismusbereiche ist welches Verständnis von Rechtsextremismus den Programmen zugrunde liegt.249 9.3.1 Diskussion um die Ausweitung auf weitere Extremismusformen Die Forderung nach Extremismusprävention wurde in allen fünf untersuchten Bundestagsdebatten von Vertreter_innen der Unionsfraktionen vorgebracht. So äußerste sich bspw. am 15. März 2006 Köhler (2006a: 1856D): Die CDU/CSU ist allerdings der Meinung, Projekte gegen Extremismus müssen Projekte der demokratischen Mitte sein. Deshalb wollen wir, dass man auch den Linksextremismus und den Islamismus nicht aus den Augen verliert. (siehe auch Köhler 2006b: 6224A; Rehberg 2006: 4877B; Bergner 2007: 10004C, D; Köhler 2007: 11958C).

Bemerkenswert ist dies vor allem deshalb, da die Anlässe sämtlicher Debatten Rechtsextremismus betrafen. Der Brückenschlag zur Forderung nach Extremismusbekämpfung wird im Debattenbeitrag des CSUAbgeordneten Alois Karl (2006: 1860C) deutlich: Das heute von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf die Tagesordnung gebrachte Thema ist von meinen Vorrednern schon weidlich behandelt worden. Selbstverständlich gibt es – wer wollte das bestreiten? – kein Zurückweichen vor

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Anlass für die von der Fraktion der Grünen beantragte aktuelle Stunde am 15. März 2006 war die Absage eines Konzerts gegen rechts nach Drohung der örtlichen NPD. Nach dem Einzug der NPD in den Landtag von MecklenburgVorpommern beantragte die Fraktion der Partei Die Linke (Linke) am 20. September 2006 eine aktuelle Stunde. Am 9. November 2006 fand anlässlich einer Großen Anfrage der Linksfraktion zu Maßnahmen gegen die extreme Rechte eine Diskussion statt. Die Debatte vom 11. Mai 2007 kam durch Anträge der Linksfraktion zur Bekämpfung des Rechtsextremismus auf die Tagesordnung und Anlass der Aussprache am 20. September 2007 war ein Antrag der Linksfraktion einen Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus betreffend. Die zentrale Rolle der Zivilgesellschaft wurde nicht infrage gestellt, wobei die stärkere kommunale Anbindung und die zunehmende Kontrolle der Beratungsteams einer ›Verstaatlichung der Programme‹ gleich käme, wie Kritiker_innen argumentieren (Botsch und Kopke 2006; Roth 2006b; Schickert 2010; Schubert 2013: 84–86).

9.3 Umstrittene Weiterführung der Rechtsextremismusprävention 2006/2007 dem Rechtsextremismus. Gleiches gilt übrigens auch für den Extremismus der linken Seite. Ich füge für meine Fraktion hinzu, dass es die wehrhafte Demokratie verlangt [...], beiden Extremismen, dem linken und dem rechten, in gleicher Weise entgegenzutreten.

Im Gegensatz zum Jahr 2001 wird die Forderung nach einer Linksextremismusprävention auch von Vertreter_innen der FDP vorgebracht. So der Abgeordnete Ernst Burgbacher (2006: 4869A): »Ich will deutlich machen, dass es nicht nur um die Bekämpfung des Extremismus von Rechts geht, sondern genauso um die Bekämpfung des Extremismus von Links.« Diesen Aussagen ist deutlich die Forderung nach einem antiextremistischen Vorgehen zu entnehmen, wodurch die FDP in dieser Hinsicht die Forderung der Union unterstützt. Bemerkenswert ist zudem der Verweis auf die wehrhafte Demokratie bzw. mehrfach auf die fdGO als Kern der Demokratie (u. a. Bergner 2007: 10004D; Köhler 2007: 11958C). Durch diese beiden Aspekte zeigt sich eine deutlich Nähe zur hegemonialen Formation der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie. Deren Prämissen sollen auf den Präventionsbereich ausgeweitet werden. Dagegen regte sich aus den Reihen von SPD, Grüne und Linke Widerstand. Sie forderten an der Rechtsextremismusprävention festzuhalten und begründeten dies vor allem mit zwei Argumenten. Das erste Argument kritisiert die vermutete Kürzung bei Projekten gegen Rechtsextremismus, sollte es eine thematische Ausweitung geben. So der SPD-Abgeordnete Andreas Stepphuhn (2006: 1855A): Uns ist bekannt, dass es im Familienministerium Pläne gibt, diese Programme auf Bereiche des Linksextremismus sowie radikale Islamisten auszuweiten und die Mittel für den Kampf gegen Rechtsextremismus zu kürzen. Deshalb sage ich an dieser Stelle für die SPD Bundestagsfraktion deutlich: Mit uns wird es bei diesen Programmen keine Abstriche und Kürzungen geben. (siehe auch Lazar 2006a: 1858C; Roth 2006a: 1851C).

Das zweite Argument bezieht sich auf die Gefahren, die von den jeweiligen Extremismusformen ausgehen. Mit Verweis auf die offiziellen Statistiken zu PMK wird eine Gleichsetzung von Rechts- und ›Linksextremismus‹ zurückgewiesen. Diese Gleichsetzung wird in der Forderung nach Extremismusprävention gesehen. So argumentiert Gabriele Fograscher (2006: 6220A) von der SPD: Immer wieder wird behauptet, Linksextremismus und islamistischer Extremismus würden unsere Demokratie und unser Land in gleichem Maße gefährden. Doch diese Aussage ist falsch. Denn die Zahlen, die die Grundlage für unsere Politik bilden, sprechen eine eindeutige Sprache: 15 361 rechtsextremistisch motivierten Straftaten stehen 2 305 linksextremistisch und 644 islamistisch motivierte Straftaten gegenüber. Damit ist für mich eindeutig, dass der Rechtsextremismus das

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9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase größte Problem darstellt, dem wir uns stellen müssen. (siehe auch Lazar 2006a: 1858D; Gerster 2007: 10016A)

Mit Verweis auf politisch motivierte Gewalttaten entgegnet Köhler (2006b: 6223B) in der gleichen Debatte: Wenn Sie vergleichen, müssen Sie schon das Gleiche miteinander vergleichen, zum Beispiel die Gewalttaten selbst. Dann finden Sie: 958 rechtsextremen Gewalttaten im Jahr 2005 standen 896 linksextreme Gewalttaten gegenüber. [Zwischenruf] Da können Sie doch nicht zu der Conclusio kommen, dass der Rechtsextremismus das deutlich gefährlichere Phänomen ist. Beide Phänomene sind gefährlich, beide widersprechen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, gegen beide müssen wir vorgehen!

Dieser Einwand von Köhler zeigt, dass sich der Bezug auf die PMK nur bedingt eignet, um gegen die Ausweitung auf andere Extremismusbereiche zu argumentieren. Fograscher greift auf Analysen aus dem Bereich der Inneren Sicherheit zurück, der wiederum durch die antiextremistische, wehrhafte Demokratie geprägt ist. Mit den so gewonnen Zahlen zu argumentieren greift zu kurz. Denn aus den Zahlen könnte bspw. abgeleitet werden, anteilig zu den Straftaten Gelder für die Prävention zur Verfügung zu stellen; also auch Gelder für die ›Linksextremismus‹- und Islamismus-Prävention. Auch müssen mit einer Ausweitung nicht zwingend die Kürzungen für die Rechtsextremismusprävention einhergehen, sofern zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Beide Argumente beinhalten also keine grundsätzlichen Einwände gegen die Extremismusprävention, die sich dennoch – vorerst – nicht durchsetzt. 9.3.2 Diskussion um Rechtsextremismus Mit den beiden konkurrierenden Forderungen gehen unterschiedliche Verständnisse von Rechtsextremismus einher. Dabei zeigen sich deutliche Parallelen zu Kapitel 8.2., wo nachgezeichnet wurde, wie die jeweiligen Begriffsbestimmungen der Extremismusforschung und der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung um Deutungshoheit ringen. Eine Bestimmung von Rechtsextremismus, die sich an der Extremismusforschung orientiert und mit der Forderung nach Extremismusprävention einhergeht, formuliert Köhler (2007: 11958D): Wir kämpfen gegen den Rechtsextremismus, nicht gegen ›Rechts‹. [...] Rechte und konservative Einstellungen sind Teil des demokratischen Spektrums, egal ob man sie mag oder nicht. Die Grenze zwischen rechten Einstellungen und rechtsextremistischen Einstellungen ist klar definiert: Es ist das Verhältnis zur freiheitlich-

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9.3 Umstrittene Weiterführung der Rechtsextremismusprävention 2006/2007 demokratischen Grundordnung und zur Menschenwürde. (siehe auch Karl 2006: 10013D–10014A; Köhler 2006b: 6223C, D).

Köhler sieht die Grenze zu Rechtsextremismus überschritten, wenn die fdGO oder die Menschenwürde in Frage gestellt werden. Antiegalitäre Positionen, die dieses Kriterium nicht erfüllen, sind hingegen Teil des demokratischen Spektrums. Dies sehen die Befürworter_innen der Rechtsextremismusprävention anders und beziehen sich in ihren Ausführungen teils explizit auf die sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung. Was alles unter Rechtsextremismus gefasst wird, verdeutlicht Fograscher (2006: 6219D–6220B): Rechtsextremismus unserer Zeit hat viele Erscheinungsformen. Neben den Parteien NPD, DVU und den Reps existiert eine Vielzahl von Organisationen, Zusammenschlüssen und Kameradschaften. [...] Was sie eint, sind eine Ideologie der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus, des Geschichtsrevisionismus und eine generelle Demokratiekritik. Ihr Ziel ist es, Demokratie zu überwinden. Dabei schrecken sie vor Gewalt nicht zurück. Das belegen die aktuellen Zahlen, die heute schon genannt worden sind: 15 361 rechtsextremistische Straftaten im Jahr 2005; das ist ein Anstieg um 27 Prozent. Aber nicht nur die Straftaten belegen ein Anwachsen des Rechtsextremismus. Es sind die fremdenfeindlichen Übergriffe, die Aufmärsche neonazistischer Organisationen, die Wahlerfolge der rechtsextremen Parteien, eine Vielzahl von Konzerten, Internetseiten, eine Flut von Schriften, CDs mit rechter Musik und Symbolen. All das sind sichtbare Aspekte dieses Phänomens. [...] Rechtsextremismus ist ein Problem in der Mitte der Gesellschaft. [...] Die gestern veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt, dass jeder zehnte Deutsche rechten Einstellungen und vor allem ausgesprochen ausländerfeindlichen und antisemitistischen Aussagen zustimmt. Das ist besorgniserregend.

Ihre Problembeschreibung von Rechtsextremismus ist vielfältig. Neben den Organisationen und Straftaten geht Fograscher auch auf rechtsextreme Einstellungen ein und sieht diese als Problem in der Mitte der Gesellschaft. Dabei kann sie auf aktuelle Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung zurückgreifen. Konkret bezieht sie sich auf die erste Mitte-Studie, die einen Tag vor der Bundestagsdebatte, also am 8. November 2006, veröffentlicht und stark medial rezipiert wurde. Auch Vertreter_innen der Opposition untermauern mit den Ergebnissen dieser Studie ihre Position (Jelpke 2006: 6215D–6216C; Lazar 2006c: 6221B).250 Dabei wird auch direkt aus der Studie zitiert: ____________________ 250

Bevor diese Studie verfasst wurde, verwiesen einige Redner_innen auf die ähnlich aufgebauten Untersuchungen von Heitmeyer zur Verbreitung von Ideologien der Ungleichwertigkeit (Lazar 2006b: 4871A; Thierse 2006: 4807B).

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9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase Wir haben festgestellt, dass der Begriff ›Rechtsextremismus‹ irreführend ist, weil er das Problem als ein Randphänomen beschreibt. Rechtsextremismus ist aber ein politisches Problem in der Mitte der Gesellschaft. (Decker u. a. 2006: 55; zitiert nach Jelpke 2006: 6216B).

Auch in späteren Debatten wird des Öfteren auf die Mitte-Studie von 2006 verwiesen (Jelpke 2007: 10004A; Lazar 2007: 10011C). Durch den Bezug auf die Studie und die weiteren Ausführungen zu Rechtsextremismus bestätigt sich ein Begriffsverständnis, wie es in Kapitel 8.2.6 bezüglich der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung herausgearbeitet wurde und wie es den Programmen seit 2001 zugrunde liegt. Hier wird Rechtsextremismus maßgeblich auf der Einstellungsebene bestimmt und gilt nicht als Randphänomen, sondern als Problem der Mitte der Gesellschaft. Dies steht in deutlichem Widerspruch zum eingangs zitierten Begriffsverständnis von Köhler, welches sich an der Extremismusforschung orientiert und eine klare Grenze zwischen rechten und rechtsextremen Einstellungen annimmt. 9.3.3 Zusammenfassung Aus der Rekonstruktion wird der Zusammenhang zwischen der Forderung nach einer Ausweitung der Präventionsprogramme auf alle Extremismen und einem Rechtsextremismusbegriff, der eine deutliche Grenze zu rechten Positionen zieht, deutlich. Dem gegenüber geht die Forderung nach einem Fokus auf Rechtsextremismus mit einer Bestimmung des Gegenstands einher, der rechtsextreme Einstellungen als Problem der Mitte der Gesellschaft fasst. Die Forderung nach einer Extremismusprävention gleicht der von 2001 und fügt sich bruchlos in Struktur der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie ein. Mit Verweis auf die Statistiken der PMK liegt es für deren Befürworter_innen nahe, auch im Präventionsbereich gegen alle Extremismen gleichermaßen vorzugehen. Die im Bereich der inneren Sicherheit gängige Gegenüberstellung von Demokratie und Extremismus soll auf den Präventionsbereich ausgeweitet werden. In der Forderung nach Beibehaltung der Rechtsextremismusprävention wurden leichte Verschiebungen deutlich. So scherte die FDP aus dieser Diskurskoalition aus. Zudem zeigte sich eine engere Anbindung an die Position der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung, indem vermehrt explizit auf deren Studien verwiesen wird. Die Kritik an der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie, die im Begriff des Extremismus der Mitte enthalten ist (Kapitel 8.2.7), findet sich in Aussagen 276

9.4 Durchbruch der Extremismusprävention 2010

wieder, Rechtsextremismus sei ein Problem der gesellschaftlichen Mitte. Damit wird die Annahme eines antithetischen Verhältnisses von Extremismus und Demokratie zumindest implizit zurückgewiesen. Andere in Kapitel 8 herausgearbeiteten Potenziale der Kritik an der hegemonialen Formation kommen in den Debatten 2006/2007 nicht zum Tragen. Der Forderung nach Extremismusprävention wird mit Bezug auf die Kriminalitätsstatistiken entgegnet, Rechtsextremismus sei gefährlicher als ›Linksextremismus‹ oder Islamismus. Es wird jedoch keine Differenzierung oder Dekonstruktion der Kategorie ›Linksextremismus‹ vorgenommen oder die Aussagekraft der Statistiken hinterfragt. Mit den Einschätzungen der Sicherheitsbehörden und der Übernahme ihrer Kategorien werden auch Grundannahmen der hegemonialen Formation übernommen. Die quantitativ begründete Zurückweisung der daraus abgeleiteten Forderung nach Extremismusprävention kann nicht überzeugen. Diese Spannung in der Argumentation führt in den Folgejahren dazu, dass dem Durchbruch der Extremismusprävention anfangs wenig entgegengesetzt werden kann. 9.4

Durchbruch der Extremismusprävention 2010

Gegen Ende der 2000er Jahre wurde die ›Gefahr von links‹ vermehrt zum Gegenstand politischer Debatten. Die oppositionelle FDP brachte das Thema durch kleine Anfragen auf die Tagesordnung (Fraktion FDP 2008a, 2008b) und beantragte gemeinsam mit der CDU eine Aktuelle Stunde zu den Demonstrationen am 1. Mai 2009 (Deutscher Bundestag 2009: 24008–24023). Es wurde jeweils die Frage aufgeworfen, warum es keine Präventionsmaßnahmen gegen ›Linksextremismus‹ gebe. Der Durchbruch der Extremismusprävention vollzog sich mit Hilfe der Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse durch die Bundestagswahl 2009. Die neue Koalition aus Union und FDP konnte nun ihre Vorstellungen umsetzen, wie bereits aus dem Koalitionsvertrag hervorgeht: »Extremismen jeder Art, seien es Links- oder Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Islamismus, treten wir entschlossen entgegen.« (CDU, CSU und FDP 2009: 99–100). Auch konkrete politische Maßnahmen sind im Vertrag festgehalten, wie eine Fortführung der vom Bund geförderten Programme gegen Rechtsextremismus als ›Extremismusbekämpfungsprogramme‹ unter Berücksichtigung der Bekämpfung linksextremistischer und islamistischer Bestrebungen(CDU, CSU und FDP 2009: 95), Aussteigerprogramme gegen Extremismus [sowie die Erweiterung des] Fonds für Opfer rechtsextremistischer Gewalt [...] auf jede Form extremistischer Gewalt (CDU, CSU und FDP 2009: 100).

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9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

9.4.1 Maßnahmen der Extremismusprävention Anders als infolge des Koalitionsvertrags von 2005 wurde die angekündigte Ausweitung auf alle Extremismusbereiche auch umgesetzt. Im Juni 2010 startete das Bundesprogramm IDS mit je zwei Projekten gegen ›Linksextremismus‹ und Islamismus.251 In den Programmleitlinien der IDS heißt es: Die Bundesregierung tritt jeglicher Form des politischen Extremismus entschlossen entgegen. Unter politischem Extremismus sind alle Bestrebungen zu verstehen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, einschließlich ihrer in der Verfassung verankerten Werte, sowie gegen den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, sowie die Verbindung dieser Positionen mit dem Einsatz bzw. der Befürwortung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele verknüpfen. (BMFSFJ 2011a: 3).

Damit orientierte sich erstmals ein von der Bundesregierung aufgelegtes Präventionsprogramm an einer Problembeschreibung, wie sie nahezu wortgleich auch von den Sicherheitsbehörden (BMI 2017: 16) und der normativen Extremismusforschung vorgenommen wird.252 Die aufgeführten Änderungen hatten eine deutliche Annäherung der Präventionsprogramme an die hegemoniale Diskursformation der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie zur Folge. Vor allem die inhaltliche Erweiterung durch die IDS sowie die Definition von Extremismus als Gegensatz der fdGO fügen sich bruchlos in die Diskursstruktur ein. Diese Neuausrichtung verteidigte die Bundesregierung (2010a: 6) in den Folgejahren mehrfach und wiederholte ihren Standpunkt, nach dem sich »Linkswie Rechtsextremismus [...] gegen die konstitutiven Werte unserer frei____________________ 251

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Die anderen eingeführten Maßnahmen fanden weit weniger öffentliche Beachtung. Laut einer Antwort der Bundesregierung (2014) auf eine Anfrage der Partei Die Linke wurde noch kein Entschädigungsfall für Opfer linker Gewalt genehmigt. Auch das Aussteigertelefon ›Linksextremismus‹ scheint wirkungslos, da die wenigen Anrufe, laut Auskunft der Bundesregierung (2012: 2), als »nicht ernst« einzustufen waren. Parallel zu diesem Programm wurden die auslaufenden Programme gegen Rechtsextremismus zum 1. Januar 2011 im Bundesprogramm TFKS zusammengefasst. Die inhaltliche Ausrichtung auf Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus blieb in diesem Programm enthalten. Eine Verengung des Rechtsextremismusbegriffs im Sinne der Extremismusforschung ist nicht zu erkennen (BMFSFJ 2011b). Ebenso erhalten blieb die finanzielle Ausstattung von 24 Millionen Euro jährlich.

9.4 Durchbruch der Extremismusprävention 2010

heitlichen demokratischen Grundordnung [richten] und [...] gleichermaßen bekämpft werden« müssten. Zu dieser wiederholten Verteidigung sieht sich die Bundesregierung gezwungen, da die Neuausrichtung der Programme von Beginn an stark in der Kritik stand. Ich werde auf die Kritikpunkte detailliert eingehen und dabei die Phase vor und nach der Implementierung der IDS unterscheiden. Dabei gehe ich der Fragen nach, wie Befürworter_innen einer Rechtsextremismusprävention auf die erwähnten Neuerungen reagierten und wie die Einwände im Verhältnis zur antiextremistischen, wehrhaften Demokratie stehen. 9.4.2 Kritik an der Extremismusprävention vor ihrer Implementierung Nach Bekanntwerden des Koalitionsvertrags 2009 wendeten sich zehn Wissenschaftler_innen, die sich in ihren Arbeiten am Begriffsverständnis der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung orientieren, in einem offenen Brief an die Bundesregierung, um gegen die geplanten Änderungen im Präventionsbereich zu protestieren (Hafeneger u. a. 2009). Im Kern wiederholten sie jene Argumente, die in den Jahren zuvor gegen die geplante Ausweitung der Rechtsextremismusprävention auf weitere Bereiche des Extremismus vorgebracht wurden. Durch diese Ausweitung befürchteten sie eine »Aufteilung der Mittel«, die »nicht akzeptabel« (Hafeneger u. a. 2009: 2) sei. Sie prognostizieren, dass sich »die Mittel für die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus erheblich reduzieren (ggf. halbieren)« (Hafeneger u. a. 2009: 5) würden. Inhaltlich argumentierten sie gegen die Ausweitung, dass »nicht erkennbar [sei], dass sich ein gewaltförmiger Linksextremismus ausbreitet und etabliert, der demokratische und menschenrechtliche Grundsätze ablehnt« (Hafeneger u. a. 2009: 3). Stattdessen warnten sie: Die Extremismen dürfen weder ›in einen Topfgeworfen werden‹ noch zur Instrumentalisierung und Verharmlosung beitragen; sie dürfen nicht aufgerechnet, missbraucht und gegeneinander ausgespielt werden. (Hafeneger u. a. 2009: 4).

Dieser offene Brief wurde am 10. November 2009 in der Frankfurter Rundschau abgedruckt und war Gegenstand einer kleinen Anfrage, die Programme betreffend (Fraktion Die Linke 2009: 2). Die aufgeführten Argumente wurden auch von Bundestagsabgeordneten während Haushaltsdebatten zu Beginn der Legislaturperiode vorgebracht (Rix 2009: 267D; Kühn 2010: 2875C, D). Ob diese Interventionen die Neuausrichtung der Programme beeinflussten, kann nicht nachvollzogen werden. Offensichtlich ist jedoch, dass die 279

9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

vorgebrachten Argumente gegen die umgesetzte Neuausrichtung der Präventionsprogramme ins Leere laufen. Denn erstens wurden keine Gelder von der Rechtsextremismusprävention abgezogen, sondern zusätzliche Mittel für das Programm gegen Islamismus und ›Linksextremismus‹ zur Verfügung gestellt. Zweitens sind für Projekte gegen die beiden zusätzlichen Phänomenbereiche nur etwa ein Fünftel der Mittel für die Rechtsextremismusprävention vorgesehen. Dem steht das Argument, Rechtsextremismus sei das dringlichere Problem, nicht entgegen. 9.4.3 Kritik an der Extremismusprävention nach ihrer Implementierung Nach der Implementierung der IDS im Frühsommer 2010 intensivierte sich die Debatte um die Neuausrichtung der Bundesprogramme. Zwischen Juni und November 2010 brachten alle Oppositionsfraktionen einen Antrag dazu ein, um ihre Position zu verdeutlichen. Die Neuausrichtung im Präventionsbereich war auch in mehreren, teils extra von der Opposition erwirkten Plenardebatten Thema.253 Die Bundesregierung forderte am 16. Juni 2010 sowie am 10. Oktober 2011 eine aktuelle Stunde zu linkextremer Gewalt und unterstrich damit die Notwendigkeit der Erweiterung der Programme. Während die Regierungsparteien die IDS nach wie vor mit dem Anstieg linker Gewalt begründeten, zeigten sich bei der Opposition nach der Implementierung der IDS Verschiebungen in der Argumentation. Anstatt die Ausweitung mit dem Verweis auf eine geringere Gefährdung von links zurückzuweisen, wird nun eine Differenzierung zwischen dem Feld der Inneren Sicherheit und der Prävention vorgenommen sowie ein stärkerer Fokus auf die Einstellungsebene gelegt. Trennung der Diskursbereiche Repression und Prävention Die Unterscheidung zwischen Innerer Sicherheit und Prävention geht bspw. aus der Rede von Fograscher (2010: 4917C, D) am 10. Juni 2010 hervor: ____________________ 253

280

So in den Haushaltsdebatten am 16. September 2010, der Aussprache über die Zukunft der Präventionsprogramme am 1. Oktober 2010, der Aussprache zu den Linksextremismusprojekten in der IDS am 27. Januar 2011, einer weiteren Aussprache über die Programme am 29. September 2011 und einer aktuellen Stunde zur Arbeit gegen Rechtsextremismus am 8. März 2012.

9.4 Durchbruch der Extremismusprävention 2010 Gewalttäter von links und rechts müssen verfolgt und konsequent bestraft werden. Aber Links- und Rechtsextremismus lassen sich nicht vergleichen und schon gar nicht mit denselben Instrumenten bekämpfen. [Beifall] Die Programme des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend richten sich an die Zivilgesellschaft, sich gegen Ausländerhass, Antisemitismus, Demokratiefeindlichkeit und Intoleranz zu wehren. Sie können nicht eins zu eins auf die Bekämpfung von Linksextremismus und Islamismus übertragen werden. [...] Deshalb täuschen die Ankündigungen von Ministerin Schröder, Programme gegen Linksextremismus und Islamismus aufzulegen oder die Programme gegen Rechtsextremismus auszuweiten, ohne dass sie sagt, was sie eigentlich tun will, einfach nur Aktionismus vor.

Ihre Rede schloss sie mit den Worten: »Extremismusbekämpfung und innere Sicherheit sind originäre Aufgabe des Bundesinnenministers und nicht der Familienministerin.« (Fograscher 2010: 4918A). Fograscher stellt nicht infrage, dass repressiv gegen Rechts- und ›Linksextremismus‹ vorgegangen werden müsse. Sie kritisiert aber, diese Phänomene auch im präventiven Bereich gleich zu behandeln. Was für die Ebene der Repression richtig sei, müsse nicht auch für die Prävention funktional sein. In ihren Ausführungen lässt sich die Ziehung einer Grenze zwischen den beiden Diskursbereichen rekonstruieren. Da nach Fograscher in den beiden Bereichen verschiedene Logiken vorherrschen, kann sie die Präventionsbemühungen gegen ›Linksextremismus‹ und Islamismus als Aktionismus kritisieren. Daran anknüpfend stellen auch andere Abgeordnete das Vorgehen gegen ›Linksextremismus‹ im Präventionsbereich infrage, ohne damit die antiextremistische Ausrichtung der Inneren Sicherheit verwerfen zu müssen. (Fraktion SPD 2010b; Kolbe 2010: 4923D–4924A; Rix 2011: 9802C, D).254 Die Bedenken der Opposition, dass sich die Kategorie ›Linksextremismus‹ für die Präventionsarbeit nicht eignet, findet Bestätigung im ersten Evaluationsbericht des Deutschen Jugendinstituts (DJI), das im Auftrag des BMFSFJ die Projekte der IDS wissenschaftlich begleitete. In ihrem ____________________ 254

Punktuell wird auch explizit die Geltung der normativen Extremismusforschung für den Präventionsbereich zurückgewiesen. Hier sind sich die Grünen mit der Linken einig. So stimmte Lazar (2010: 6700D) einem Antrag der Linksfraktion mit den Worten zu: »Zu Recht beanstandet sie darin, dass sich aus dieser Extremismustheorie keine Konzepte für präventive Arbeit ableiten lassen.« Kritisiert wird, dass die Extremismustheorie die Gefahren aus der Mitte der Gesellschaft nicht erkenne und völlig verschiedene Phänomene gleichsetze (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 2010: 2; Fraktion Die Linke 2010: 1).

281

9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

Bericht, der ohne Einverständnis des Ministeriums Anfang 2012 durch die tageszeitung veröffentlicht wurde, schreiben die Evaluator_innen: Es deutet sich jedoch an, dass mit dem Begriff ›Linksextremismus‹ so unterschiedliche Phänomene bezeichnet werden, dass zweifelhaft erscheint, inwieweit ›Linksextremismus‹ im sozialwissenschaftlichen und im pädagogischen Bereich (insbesondere mit Fokus auf der Jugendphase) einen geeigneten Oberbegriff darstellt (Fuhrmann u. a. 2011: 109).

Auf diese Zweifel an der Brauchbarkeit der Kategorie ›Linksextremismus‹ für den Präventionsbereich durch die Programmevaluation wird von den Oppositionsparteien mehrfach verwiesen (u. a. Fraktion Die Linke 2012; Lazar 2012: 19568A). Während die Opposition vor der Implementierung argumentierte, ›Linksextremismus‹ sei das kleinere Problem, wird nun bezweifelt, ob diese Kategorie für den Präventionsbereich überhaupt nutzbar gemacht werden könne. Voraussetzung dafür ist, zwischen Repression und Prävention zu differenzieren. Es wird versucht beide Diskursbereiche voneinander abzugrenzen, um einen Bereich zu schaffen, in dem die Annahmen der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie nicht nahezu unangefochten gelten. Mit der Strategie, die Deutung der normativen Extremismusforschung und der Sicherheitsbehörden für den Präventionsbereich zurückzuweisen, verknüpfen sich eigene Vorschläge für die Ausgestaltung dieses Bereichs. Hierfür können die Oppositionsparteien auf das bisherige und bestehende Verständnis von Rechtsextremismus in den Bundesprogrammen aufbauen, das dem der Sicherheitsbehörden entgegensteht. Weitere Fokussierung auf die Einstellungsebene Wie aus den Anträgen der Oppositionsparteien hervorgeht, behalten sie ihre Orientierung am Begriffsverständnis der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung bei. Rechtsextremismus sei als Problem der Mitte der Gesellschaft zu verstehen und nicht am politischen Rand zu verorten. Außerdem setze er sich aus verschiedenen Ideologieelementen wie bspw. Rassismus oder Antisemitismus zusammen. Eine erste Verschiebung bezüglich der Problembeschreibung besteht darin, dass eine stärkere Fokussierung auf die Einstellungsebene vorgenommen wurde. Im Gegensatz zu den Herleitungen in der Vergangenheit fanden sich in den Anträgen der Oppositionsfraktionen nach Implementierung der IDS keine Hinweise mehr auf Kriminalitätsstatistiken oder andere Einschätzungen der Sicherheitsbehörden (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 2010; Fraktion Die 282

9.4 Durchbruch der Extremismusprävention 2010

Linke 2010; Fraktion SPD 2010a). Diese Verschiebung ist eine logische Folge aus der eben beschriebenen Grenzziehung. Wenn die Bereiche Innere Sicherheit und Prävention nach unterschiedlichen Logiken funktionieren, eignen sich die Statistiken der Sicherheitsbehörden kaum zur Begründung der Präventionsprogramme. Zudem verzeichneten die offiziellen Statistiken einen temporären Anstieg links motivierter Gewalt, sodass mit Verweis auf diese Zahlen eine Forderung nach Linksextremismusprävention schwerlich zurückgewiesen werden könnte. Zudem gibt es Bestrebungen, den Rechtsextremismusbegriff, der in beiden Diskursbereichen bislang eine unterschiedliche Bestimmung erfuhr, zu vermeiden. Statt der bisherigen Aufzählung ›gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus‹ wird in dem Antrag der Grünen (2010: 2) gefordert anzuerkennen, dass Rassismus, Antisemitismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit weit bis in die ›Mitte‹ der Gesellschaft verbreitete Phänomene und kein Problem ›am rechten Rand‹ sind, und [...] Maßnahmen für eine Demokratieoffensive, die sich gegen alle Formen von Demokratiefeindlichkeit und Ideologien der Ungleichwertigkeit richtet, zu starten.

Mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) und Ideologien der Ungleichwertigkeit führen sie dabei zwei Konzepte ein, die vom Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer (u. a. 1992, 2005) geprägt wurden und mithilfe derer die gesamtgesellschaftliche Verbreitung menschenfeindlicher Einstellungen gemessen wurde. Zwar gab es in vergangenen Bundestagsdebatte anlässlich der Präventionsprogramme vereinzelt Verweise auf die Studien von Heitmeyer, doch waren die Mitte-Studien zur Verbreitung rechtsextremen Einstellungen vergleichsweise öfter rezipiert worden. Durch den Bezug auf GMF kann das Problem, dem präventiv begegnet werden soll, also rechtsextreme bzw. menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, jenseits politischer Richtungsbegriffe und des Extremismusbegriffs, bezeichnet werden. Durch die Vermeidung des mehrdeutigen Rechtsextremismusbegriffs und dem Verzicht auf Zahlen der Sicherheitsbehörden erfolgt eine weitere Distanzierung von den Deutungen der hegemonialen Formation. 9.4.4 Diskussionen um die Demokratieerklärung Neben der Implementierung der IDS führten die Debatten um die sogenannte Demokratieerklärung zu Diskussionen, die zeigen wie verschiedene Deutungsmuster um Hegemonie im Präventionsdiskurs ringen. Politi283

9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

ker_innen die sich für eine Extremismusprävention aussprachen vertreten ein Demokratieverständnis, das jenem der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie entspricht. Auslöser der Debatte war ein Vorstoß, den Kristina Schröder (2010: o. S.) (ehemals Köhler) am 6. Oktober 2010 via Twitter ankündigte: »In Zukunft werde ich von Initiativen gegen Rechtsextremismus, Linksextremismus oder Islamismus Bekenntnis [sic!] zu unserer Verfassung verlangen.« Die Forderungen nach einem solchen Bekenntnis mit der Begründung, »der Kampf gegen die einen Extremisten kann nicht zusammen mit anderen Extremisten geführt werden« (Köhler 2007: 11958C), wurde bereits in früheren Debatten und parlamentarischen Initiativen aus den Reihen der Unionsfraktion vorgebracht (u. a. Fraktion CDU/CSU 2004; Bergner 2007: 10005A, B). Die am 1. Januar 2011 in Kraft tretende Demokratieerklärung (von ihren Kritiker_innen Extremismusklausel genannt) enthielt zwei Aspekte. Neben der Bestätigung, dass »wir uns zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennen«, waren die Projektträger_innen aufgefordert sicherzustellen, dass sich ihre Partner_innen »ebenfalls zu den Zielen des Grundgesetzes verpflichten«.255 Ähnliche Vorgaben bestanden bereits seit 2007, geregelt in einem Begleitschreiben an den Projektträger. Dieses Schreiben erinnerte daran, dass keine extremistischen Organisationen direkt oder indirekt gefördert werden dürften (BMFSFJ 2007). Die Demokratieerklärung stand vor allem aufgrund der expliziten Aufforderung, die Projektpartner_innen zu überprüfen, in der Kritik. Am 1. Februar 2011 beteiligten sich nach Angaben der Organisator_innen mehr als 1500 Organisationen und Einzelpersonen an Protesten gegen die Erklärung. In einer gemeinsamen Stellungnahme nennen sie die Klausel ein Instrument, »die Deutungshoheit der staatlichen Akteure – Polizei, Verfassungsschutz und Justiz – in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus« (Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. u. a. 2011: 2) wieder herzustellen. Sie problematisieren, dass der Verfassungsschutz darüber entscheiden soll, ob ein Projektpartner als extremistisch gilt. Die Ämter für Verfassungsschutz jedoch seien »politische Akteure und keine neutralen Instanzen« (Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. u. a. 2011: 3). Die zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisierten ____________________ 255

284

Der Wortlaut der ›Demokratieerklärung‹ ist der ausführlichen Chronik über die Auseinandersetzungen um die Erklärung zu entnehmen. Sie wurde von Bochentin (2011) für die Amadeu-Antonio-Stiftung zusammengestellt.

9.4 Durchbruch der Extremismusprävention 2010

die Erklärung vor allem aufgrund des zweiten Teils, der Überprüfung der Projektpartner_innen, sahen aber »kein Problem darin [...] sich zum Grundgesetz zu bekennen« (Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. u. a. 2011: 1).256 Dieser erste Teil der Erklärung wurde nur von wenigen Akteur_innen problematisiert. Auf dem Internetportal Mut gegen rechte Gewalt, welches von der Amadeu-Antonio-Stiftung betreut wird, schreibt Nora Winter (2010: o. S.) in einem Artikel bezüglich der Demokratieerklärung: Wenn nun Initiativen, die für ihr Engagement gegen Rassismus von der Regierung gefördert werden, unterschreiben müssen, dass sie sich zur fdGO bekennen, heißt das erstmal – gar nichts. Die Androhung aber, ›Verfassungswidrigkeit‹ anhand der fdGO willkürlich zu bestimmen, bedeutet für Projekte eine ungewisse Zukunft.

Winter verweist in ihren Ausführungen auf den enormen Interpretationsspielraum, den die fdGO lässt. So wirke das Bekenntnis hohl, aber vor allem sei unklar, durch welche Handlungen und Aussagen die Schwelle zur Verfassungswidrigkeit überschritten werde, da sich darüber selbst die Ämter des Verfassungsschutzes uneins seien. Eine Kritik, die von den meisten zivilgesellschaftlichen Organisationen jedoch nicht aufgegriffen wurde. In der Diskussion wird versucht die Demokratieerklärung abzuwenden, indem eine Trennung der Diskursbereiche Innere Sicherheit und Prävention artikuliert wird. Die Deutungen der Sicherheitsbehörden, vor allem des Verfassungsschutzes, werden als unbrauchbar zurückgewiesen. Eine explizite Irritation der hegemonialen Formation findet hingegen nur punktuell statt, indem das Bekenntnis zur fdGO, als Kern der Demokratie infrage gestellt wird. Eine ähnliche Kritik wie die zivilgesellschaftlichen Organisationen formulierten auch die Oppositionsfraktionen im Bundestag. Sie forderten eine Abschaffung der Erklärung. Dabei stellten sie ein Bekenntnis zur fdGO nicht direkt infrage, sehen in einem solchen aber den Ausdruck eines unbegründeten Misstrauens gegenüber den Initiativen, die sich seit Jahren gegen Rechtsextremismus einsetzen (Fraktion Die Linke 2011; Fraktion SPD 2011).

____________________ 256

Auch das, von zivilgesellschaftlichen Trägern in Auftrag gegebene Gutachten des Verfassungsrechtlers Ulrich Battis (2010) erhebt gegen den zweiten Teil der Klausel verfassungsrechtliche Bedenken, während seiner Ansicht nach der erste Teil unbedenklich ist.

285

9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

9.4.5 Zusammenfassung CDU/CSU und FDP hatten ab 2009 die politische Mehrheit, um ihre Forderungen nach einer Extremismusprävention umzusetzen. Den Bereich Rechtsextremismus richteten sie jedoch weiterhin nach dem sozialwissenschaftlichen Begriffsverständnis aus. Auffallend ist, dass die Argumente gegen eine Ausweitung auf weitere Extremismusbereiche bis zu deren Implementierung nicht zwingend waren. Sowohl der Verweis auf mögliche Kürzungen der Gelder gegen rechts als auch auf die unterschiedliche Gefährdung durch Rechts- und ›Linksextremismus‹ konnten in die Neuausrichtung integriert werden. Diese Einwände standen einer Expansion der hegemonialen Formation in den Präventionsbereich nicht im Wege. Nach der Implementierung der IDS verschoben sich die Argumente der Kritiker_innen. Zentrale Voraussetzung für die Zurückweisung der Neuausrichtung war die Trennung zwischen den Diskursbereichen Innerer Sicherheit und Prävention. Die Hegemonie der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie wurde nicht generell, sondern für einen spezifischen Bereich zur Disposition gestellt. Daran schloss sich die Frage an, welche Deutung für den Präventionsbereich stattdessen gelten solle. Hier wurde moniert, dass zweifelhaft sei, ob ›Linksextremismus‹ als Kategorie für den Präventionsbereich eigne. Im Hinblick auf Rechtsextremismus konnten die Kritiker_innen an die bisherige Ausgestaltung der Präventionsprogramme anschließen. Vor allem die Grünen versuchten mit dem GMF-Konzept, einen anderen Sammelbegriff für die zu bekämpfenden Probleme einzuführen. Dies war ein Versuch, sich von der hegemonialen Formation weiter abzusetzen, da sowohl der Extremismusbegriff als auch der politische Richtungsbegriff, der die Frage nach ›der anderen Seite‹ nahelegt, vermieden wurden. Es bildete sich eine relativ breite Diskurskoalition aus Wissenschaftler_innen, den Oppositionsfraktionen und dem Großteil der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Für den Präventionsbereich artikulieren sie hinsichtlich der Gefahren für die Demokratie ein anderes Deutungsmuster als die hegemoniale Formation. Sie fordern eine Abgrenzung zum Rechtsextremismus. Es konnte hingegen nicht rekonstruiert werden, ob sie einen anderen Kern der Demokratie, der von der fdGO abweicht oder diese anders interpretiert, fordern. Dazu gab es keine Aussagen im Datenmaterial.

286

9.5 Abkehr von der Extremismusprävention?

9.5

Abkehr von der Extremismusprävention?

Gegen Ende der Legislaturperiode 2013 waren die Neuerungen im Präventionsbereich stark unter Druck. Die Oppositionsfraktionen im Bundestag, weite Teile der Zivilgesellschaft und die wissenschaftliche Begleitung bezweifelten die Sinnhaftigkeit der Linksextremismusprävention. Durch die Aufarbeitung des NSU-Komplexes büßten die Sicherheitsbehörden an Glaubwürdigkeit ein und der, von allen Fraktionen verabschiedete Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses forderte einen Ausbau der zivilgesellschaftlichen Demokratiearbeit mit dem Fokus auf Rechtsextremismus (Deutscher Bundestag 2013: 865–867). Die Demokratieerklärung wurde 2012 durch das Verwaltungsgericht Dresden als rechtswidrig zurückgewiesen. Alle drei Oppositionsparteien zogen mit der Forderung, die »groteske Extremismusklausel« (SPD-Parteivorstand 2013: 102) abzuschaffen und sich auf Rechtsextremismusprävention zu konzentrieren, in den Bundestagswahlkampf 2013 (Bündnis 90/Die Grünen 2013: 212–217; Die Linke 2013: 77–82; SPD-Parteivorstand 2013: 101–102). Die Chancen einer Kurskorrektur in der Präventionsarbeit erhöhten sich, als die Große Koalition ihre Arbeit aufnahm und sich abzeichnete, dass mit Schwesig eine Sozialdemokratin das BMFSFJ führen würde. Anfang 2014 wurde auf ihre Initiative hin die Demokratieerklärung zurückgenommen.257 Das Programm gegen ›Linksextremismus‹ der Vorgängerregierung kritisierte sie als wirkungslos (Hollstein 2014; Schwesig 2014). Das zum 1. Januar 2015 in Kraft tretende Bundesprogramm Demokratie leben! unterschied sich deutlich von den Vorgängerprogrammen. Neben der erheblich besseren finanziellen Ausstattung der Träger und Möglichkeiten einer dauerhaften Finanzierung änderte sich auch die inhaltliche Ausrichtung. Das Programm wird nicht mehr, wie die IDS, mit einer Definition von politischem Extremismus im Sinne der Sicherheitsbehörden eingeleitet. Die Herleitung der zu bekämpfenden Probleme knüpft an das GMF-Konzept und an die sozialwissenschaftliche Bestimmung von Rechtsextremismus an (Schwesig 2014; BMFSFJ 2016a). Es entfällt der Bezugspunkt fdGO und auch das Vokabular der Sicherheitsbehörden ____________________ 257

Hierbei handelt es sich jedoch nicht um die Abschaffung der damit verbundenen Konsequenzen für die Träger, da ähnliche Vorgaben in einem Begleitschreiben übermittelt werden und nicht mehr extra zu unterschreiben sind. Entsprechend kommentierte Die Zeit: »Die Extremismusklausel heißt jetzt Begleitschreiben« (Steffen 2014). Das Begleitschreiben ist auf der Internetseite des BMFSFJ einsehbar (BMFSFJ 2017).

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9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

bleibt bei der Programmbeschreibung außen vor. Statt der Modellprojekte gegen Rechtsextremismus, islamischen Extremismus und ›Linksextremismus‹ wurden nun Modellprojekte »zu ausgewählten Phänomenen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« und zur »De-Radikalisierung« gefördert (BMFSFJ 2016a, 2016b). In den Programmleitlinien heißt es zu Letzteren: Im Mittelpunkt der Förderung stehen Projekte zu Rechtsextremismus, Ultranationalismus, gewaltförmigen islamistischen Phänomenen bzw. Instrumentalisierungen ›des‹ Islam sowie gewaltförmigen und demokratiefeindlichen Manifestationen linker Militanz. (BMFSFJ 2016b: 4).

Der umstrittene Begriff ›Linksextremismus‹ kommt auch in der weiteren Beschreibung nicht mehr vor und wurde durch die vermeintlich gegenständlichere Beschreibung linke Militanz ersetzt. Eine Distanzierung von der Extremismusprävention ist also deutlich erkennbar. Dass der Begriff linke Militanz jedoch kaum ausgearbeitet ist und sich daher eignet die gleiche Funktion wie der Containerbegriff ›Linksextremismus‹ zu erfüllen, habe ich an anderer Stelle dargelegt (Fuhrmann 2016). In der Praxis hat sich durch die Umbenennung wenig geändert. Von den drei Projekten gegen linke Militanz, die bis Herbst 2017 gefördert wurden, erhielten zwei mit sehr ähnlichen Vorhaben bereits Gelder aus der IDS. Die Auseinandersetzungen um den Präventionsbereich halten auch während der Programmlaufzeit an. Wie prekär dabei die Abkehr von der Extremismusprävention ist, zeigte sich im Sommer 2017. Nach den Ausschreitungen anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg brach eine Debatte um ›Linksextremismus‹ und mögliche Gegenmaßnahmen aus. Obwohl weiterhin unklar ist, wie es zu dieser Eskalation kam und welche Akteur_innen diese befeuerten, wurde der Vorwurf laut, Schwesig sei durch die Streichung der Projekte gegen ›Linksextremismus‹ für diese Eskalation mitverantwortlich (Fraktion CDU/CSU 2017). Ihre Nachfolgerin im Amt, Katarina Barley (2017: o. S.) (SPD), kontert diesen Vorwurf via Twitter: »Unter SPD-Führung hat BMFSFJ [sic!] zweieinhalb mal soviel gegen Linksextremismus investiert wie unter schwarz-gelb. CDU auf linkem Auge blind?« Sie spielt dabei auf die Projekte gegen linke Militanz an. Es zeigt sich also ein ambivalentes Bild des Bundesprogramms Demokratie leben!. Nachdem die Linksextremismusprävention von der wissenschaftlichen Begleitung ein schlechtes Zeugnis ausgestellt bekam und viele Träger sich von der anfänglichen Idee gegen ›Linksextremismus‹ vorzugehen verabschiedeten (Fuhrmann und Hünemann 2017), grenzte sich das neue Bundesprogramm von diesem Ansatz ab und verzichtete durch288

9.6 Einordung

gehend auf den umstrittenen Begriff. Doch ob dies auch eine Abkehr vom Postulat der Äquidistanz bedeutet, ist zweifelhaft. So steht der Demokratie, statt Rechts- und ›Linksextremismus‹, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und linke Militanz gegenüber. Die Debatte nach dem G20Gipfel zeigt, wie schnell selbst diese Differenzierung aufgehoben werden kann. Auch die Grenze zwischen Innerer Sicherheit und Präventionsbereich zeigt sich als sehr durchlässig. Vor der Bundestagswahl am 20. September 2017 bekräftigten sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der Bundesinnenminister Thomas de Maizière (beide CDU) die Notwendigkeit Linksextremismusprävention auszubauen. In beiden Fällen geschah dies im Zuge eines Besuchs in der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen, die selbst Projekte gegen ›Linksextremismus‹ anbietet. Trotz des offensichtlichen Scheiterns dieses Ansatzes und dem nach wie vor ungeklärten Gegenstand ist nicht ausgeschlossen, dass ein neues Präventionsprogramm, nach Auslaufen von Demokratie leben! 2019, wieder stärker nach den Prämissen der Extremismusprävention ausgerichtet wird. Hingegen ist wahrscheinlich, dass sich auch zukünftige Präventionsprogramme zu Rechtsextremismus weiterhin an der Begriffsbestimmung der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung orientieren werden. Diese Begriffsbestimmung ist im Präventionsdiskurs hegemonial und wird auch von Vertreter_innen der Extremismusprävention nicht mehr offensiv in Frage gestellt. 9.6

Einordung

Als Reaktion auf eine Welle rechtsextrem motivierter Straftaten legte die Bundesregierung ab 2001 mehrere Programme zur Demokratieförderung, Extremismusprävention bzw. Rechtsextremismusprävention auf. Im Laufe der Jahre entwickelte sich ein eigener Diskursbereich, in dem verschiedene Akteur_innen aus Politik, Behörden, Wissenschaft und Zivilgesellschaft um eine Deutungshoheit kämpfen. Durch die Rekonstruktion ihrer Forderungen lassen sich zwei relativ stabile Diskursformationen ausmachen. Die Forderung, gegen alle Formen des Extremismus gleichermaßen präventiv vorzugehen, verbindet sich mit einer Herleitung des Problems über Zahlen und Einschätzungen der Sicherheitsbehörden. Die Bestimmungen der Phänomene gleichen jener der normativen Extremismusforschung und werden in Abgrenzung zur fdGO definiert. Bezüglich der Umsetzung der Präventionsmaßnahmen zeigt sich eine gewisse Skepsis gegenüber zivilgesellschaftlichen Trägern und die Bestrebung diese auf die 289

9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

fdGO zu verpflichten. Auf der anderen Seite geht die Forderung nach einer Rechtsextremismusprävention mit einer Orientierung an der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung einher. Die Annahmen der Sicherheitsbehörden und der normativen Extremismusforschung werden für den Bereich der Prävention zurückgewiesen. Betrachtet man die Ausgestaltung der Präventionsprogramme, fällt auf, dass sich keine Forderung gänzlich durchgesetzt hat. Zwar konnte das Deutungsmuster der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie zunehmend Einfluss auf die Programme nehmen, aber diese nicht gänzlich dominieren. 9.6.1 Der Streit geht weiter Das Vordringen der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie in den Präventionsbereich lässt sich anhand von drei Konfliktfeldern nachzeichnen, auf denen die hegemonialen Strategeme der eigentliche Bedeutung und des eigentlichen Verfechters mit verhandelt wurden. Während der Aspekt der Wehrhaftigkeit keine explizite Rolle spielt, stand die Frage einer Ausrichtung allein gegen Rechtsextremismus oder auch anderen Formen des Extremismus im Zentrum der Auseinandersetzungen. Bis 2010 lag der Fokus auf Rechtsextremismus, ehe eine Erweiterung um Islamismus und ›Linksextremismus‹ erfolgte. Diese Erweiterung, die dem Postulat der Äquidistanz folgte, ist durch die Verwendung alternativer Begriffe, wie linke Militanz oder GMF, nicht ganz zurückgenommen worden. Diese Alternativen können als ›Antiextremismus light‹ oder Antiextremismus mit Bezeichnungen, die dem Diskursbereich angemessen sind, beschrieben werden. Dass ein Rückgriff auf die Bezeichnungen der hegemonialen Formation schnell möglich, zeigte sich im Nachgang des G20-Gipfels, als oftmals wieder von Linksextremismusprävention die Rede war. Sehr viel konstanter ist die Orientierung der Programme an der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung. Rechtsextremismus wird als ein Zusammenspiel verschiedener Ideologieelemente verstanden, die ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellen. Dadurch wird zumindest implizit die antithetische Entgegensetzung von Demokratie und Extremismus zurückgewiesen. Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass sich der Antiextremismus als eigentliche Bedeutung für den Präventionsbereich durchgesetzt hätte. Keine Deutung hat sich verfestigt, sodass die Diskursstrukturen auch weiterhin anfällig für Erschütterungen, wie durch den NSU oder den G20-Gipfel, bleiben werden.

290

9.6 Einordung

Ebenso unentschieden ist, wer als eigentlicher Verfechter der Demokratie gilt. Denn zu Beginn der Programme 2001 wurden zivilgesellschaftliche Träger mit der Umsetzung der Präventionsmaßnahmen betraut. Diese sind mittlerweile ein stimmgewichtiger Diskursakteur, der zwar weitgehend von staatlicher Finanzierung abhängig ist, aber stellenweise auf Distanz zu staatlichen Akteur_innen geht. So kritisierten die Träger in der Auseinandersetzungen um die Demokratieerklärung, den Einfluss des Verfassungsschutzes und nahmen eigene Einschätzungen über die ›Gefahr von rechts‹ vor, die oftmals gegen die Deutungen des Geheimdienstes standen. Vor allem in den Jahren 2010 bis 2013, als die Träger eine breite Koalition mit den drei Oppositionsparteien und vielen Wissenschaftler_innen bildeten, kritisierten sie den Kurs der Bundesregierung harsch. Die halbherzige Rücknahme der kritisierten Demokratieerklärung durch die Große Koalition, stieß jedoch kaum auf wahrnehmbaren Unmut. Zwar kommt der Zivilgesellschaft eine bedeutende Rolle in der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen und auch in der Deutung von Gefahren für die Demokratie zu, aber sobald die staatliche Finanzierung auf dem Spiel steht, ist nicht auszuschließen, dass sie sich mit abweichenden Einschätzungen zurückhält. 9.6.2 Hegemonietheoretische Einordung Die Forderung nach Rechtsextremismusprävention wird von einer breiten Diskurskoalition artikuliert. SPD, Grüne und Linke sind die parlamentarischen Fürsprecherinnen dieser Forderung. Hinzu kommen Vertreter_innen der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung, die teilweise mit der Evaluation der Präventionsprogramme beauftragt sind, und zivilgesellschaftliche Organisationen, die maßgeblich die Umsetzung der Programme verantworten. Dem gegenüber steht eine Koalition aus den bürgerlichen Parteien, den Sicherheitsbehörden und weiteren Institutionen, die eine antiextremistische Abgrenzung artikulieren. Werden die Programme unter dem Sicherheitsaspekt gesehen, haben die entsprechenden Behörden und Gesetze großes diskursives Gewicht und ihre Deutungsvorherrschaft würde sich auf den Präventionsbereich übertragen. Deshalb kommt aus Sicht der erstgenannten Diskurskoalition der Abgrenzung des Diskursbereichs Prävention von dem der Inneren Sicherheit eine entscheidende Bedeutung zu. Die Ziehung einer superdifferenziellen Grenze ermöglicht es überhaupt erst, dass alternative Deutungen zum Tragen kommen. Dies ist auch ein Hinweis auf die hegemoniale Stellung, die die antiextremistische, 291

9. Umstrittene (Rechts-)Extremismusprävention – dritte Analysephase

wehrhafte Demokratie im Bereich der politischen Ordnung innehat. Sie wird dort nicht infrage gestellt, stattdessen wird versucht einen Diskursbereich davon abzugrenzen. Gelingt eine solche Abgrenzung haben die Positionen von Zivilgesellschaft und Wissenschaft eine größere Deutungsmacht. Wie gezeigt wurde, ist diese Grenzziehung jedoch prekär. Doch selbst wenn eine stabile Abgrenzung gelänge, kann kein stabiles hegemoniales Projekt Rechtsextremismusprävention rekonstruiert werden. Zwar zeigt sich mit der sozialwissenschaftlichen Bestimmung von Rechtsextremismus oder dem GMF-Konzept eine konsistente Beschreibung des Mangels, doch bleibt das Verständnis von Demokratie unterbestimmt. Trotz dieser Probleme in der Herausbildung eines gegenhegemonialen Projekts konnte sich die antiextremistische, wehrhafte Demokratie im Präventionsbereich bislang nicht eindeutig durchsetzen. Eine erfolgreiche Strategie, dies zu verhindern, war die partielle Dekonstruktion der Kategorie ›Linksextremismus‹. Zumindest wurde zurückgewiesen, dass sie für den Präventionsbereich nutzbar gemacht werden kann, da ihr Inhalt unklar sei. Damit wurde auch die Gültigkeit des Postulats der Äquidistanz verneint. Eine weitere Kritik an der hegemonialen Formation artikulierte sich in der Betonung, Rechtsextremismus oder GMF seien gesamtgesellschaftliche Probleme. Damit wird die andere Prämisse, Extremismus und Demokratie stünden in einem antithetischen, oder hegemonietheoretisch gesprochen, in einem antagonistischen Verhältnis verworfen. Diese Kritiken bleiben jedoch auf den abgegrenzten Diskursbereich der Prävention beschränkt und stellen die hegemoniale Position der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie für die politische Ordnung der BRD nicht infrage. Dennoch zeigt sich im Diskurs um Prävention zumindest in Ansätzen, dass die in Kapitel 8 herausgearbeiteten Brüche und Risse auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zum Tragen kommen können.

292

10.

Fazit

Dieser Arbeit liegt die Prämisse zugrunde, dass im politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland (BRD) ein Verständnis von Demokratie vorherrscht, wonach sich Demokratie gleichermaßen gegen verschiedene Extremismen abgrenzt und sich diesen gegenüber wehrhaft zeigt. Dieses Verständnis von Demokratie ist hegemonial und wird kaum infrage gestellt. So erntete die damalige nordrheinwestfälische Ministerpräsidentin, Hannelore Kraft, keinen Widerspruch, als sie 2012 nach gewaltsamen Ausschreitungen von Salafisten am Rande einer Demonstration der islamfeindlichen Partei PRO NRW forderte: »Null Toleranz gegenüber Rechts- und Linksextremismus, kriminellen Rockerclubs und fanatischen Salafisten« (zitiert nach stern.de 2012: o. S.). Dabei erläuterte sie nicht, wie die genannten Kategorien in Beziehung zueinander stehen oder was sie mit dem auslösenden Ereignis verbindet. Selbsterklärend ist ihre Forderung allerdings nur im Rahmen des hegemonialen Deutungsmusters der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie. Es wird von den Sicherheitsbehörden, der Extremismusforschung, der Bundeszentrale für politische Bildung, Gerichten, Parteien, politischen Stiftungen und vielen anderen bekräftigt. Ziel meiner Arbeit war es zu rekonstruieren, wie sich dieses Deutungsmuster durchgesetzt hat und worin seine Stabilität begründet liegt. Aus dieser Rekonstruktion können Ansätze abgeleitet werden, das hegemoniale Deutungsmuster zu dekonstruieren. Gegenstand der Untersuchung waren Diskurse um die politische Ordnung der BRD seit 1945. Neben Bundestagsdebatten, Anfragen und Anträgen der Bundestagsfraktionen, Parteitagsreden, Grundsatzpapieren und politischen Essays, habe ich auch analysiert, wie die politische Justiz, der Verfassungsschutz und die staatliche politische Bildung zur Durchsetzung und Stabilität der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie beitragen. Ebenso stabilisierend wirken Teile der Totalitarismusforschung und die Extremismusforschung. Auf dieser breiten empirischen Basis konnte ich zeigen, wie sich die beiden zentralen Aspekte, Wehrhaftigkeit und Anti-Extremismus, in politischen Auseinandersetzungen durchsetzten und zum kaum hinterfragten politischen Selbstverständnis der BRD wurden.

293

10. Fazit

Etablierung der Wehrhaftigkeit Eine Demokratie gilt als wehrhaft, wenn sie wertegebunden und abwehrbereit ist. Ein dritter Aspekt ist die Vorverlagerung des Demokratieschutzes, was meint, dass Mechanismen des Demokratieschutzes präventiv greifen, also bevor es zur Anwendung von Gewalt kommt. Die Entscheidung für eine Wehrhaftigkeit der bundesrepublikanischen Demokratie ist bereits mit dem Grundgesetz gefallen, wie ich in Kapitel 4 ausgeführt habe. In der Ewigkeitsklausel (Art. 79, Abs. 3 GG) sind Werte benannte, denen sich die Verfassung gebunden sieht und die als unveränderlich gelten. Die Abwehrbereitschaft zeigt sich vor allem durch die Möglichkeit der Parteien- und Vereinigungsverbote (Art. 9, Abs. 2 GG und Art. 21, Abs. 2 GG) sowie der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG). Da Parteien und Vereinigungen aufgrund ihrer politischen Ziele verboten werden können, auch wenn ihnen keine gewalttätigen Handlungen nachzuweisen sind, kann von einem vorverlagerten Demokratieschutz gesprochen werden. Die politische Ordnung der BRD war also von Beginn durch eine wehrhafte Demokratie geprägt. Die Spezifik dieser Wehrhaftigkeit besteht darin, dass sich die Vorkehrungen einzig gegen revolutionäre und verfassungsfeindliche Bestrebungen in der Bevölkerung richten. Der Staat gewährt Grundrechte, kann diese aber auch wieder entziehen. Umgekehrt fehlen Regelungen, die es der Bevölkerung ermöglichen würden, gegen einen antidemokratischen Umbau des Staates oder staatlichen Missbrauch seiner Kompetenzen vorzugehen. Es zeigt sich deutlich eine Wehrhaftigkeit, die sich ausschließlich nach unten, gegen die Bevölkerung, richtet. Am Prinzip der Wehrhaftigkeit nach unten hat sich in den letzten 70 Jahren nichts geändert. Veränderungen gab es hingegen im gesetzlichen Rahmen, sowie der Anwendungs- und Auslegungspraxis der Instrumente wehrhafter Demokratie. Wie aus der ersten Analysephase in Kapitel 5 hervorgeht, wurde das Prinzip der Wehrhaftigkeit nach unten durch das erste Strafrechtsänderungsgesetz auf das Gebiet des Strafrechts ausgeweitet. Zudem war das erste Parteiverbotsverfahren gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 richtungsweisend, da hier das Bundesverfassungsgericht das Schutzgut der wehrhaften Demokratie definiert hat. Dieses Schutzgut, die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO), umfasst in erster Linie staatliche Institutionen und Verfahrensweisen, wohingegen politische und soziale Grundrechte der Bürger_innen unberücksichtigt bleiben. Die Konstruktion des Demokratieschutzes in der frühen Bundesrepublik privilegiert den Schutz des Staates, was mit der Ausrichtung der Wehrhaftigkeit nach unten korrespondiert. 294

10. Fazit

In den 1950er und frühen 1960er Jahren wurden die Instrumente der wehrhaften Demokratie häufig angewendet und richteten sich fast ausschließlich gegen Kommunist_innen, Sozialist_innen, Liberale oder andere links-oppositionelle Kräfte, wie ich in Kapitel 6.1. gezeigt habe. Repressives Vorgehen gegen rechts war weniger intrinsisch motiviert, sondern erfolgte auf Druck des Auslands. Gegen Ende der 1960er Jahre kam diese illiberale Praxis zunehmend in die Kritik und vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Umbruchs, der eng mit dem Jahr 1968 verknüpft ist, wurde das politische Strafrecht liberalisiert (Kapitel 7.1). Diesen Wandel habe ich Kapitel 6.1 und 8.1 genauer nachgezeichnet: In vielen Bereichen ersetzte das Opportunitätsprinzip das Legalitätsprinzip, sodass Vereine oder Parteien bei Agitation gegen die fdGO nicht verboten werden mussten, sondern ein Verbot bzw. ein Verbotsantrag im Ermessen der zuständigen Behörden lag. Ich konnte zeigen, dass die repressive Anwendung der wehrhaften Demokratie weitgehend durch eine präventiv-sanktionierende ersetzt wurde. Schillernd, und deswegen in Kapitel 7.3 genauer untersucht, war dabei der Radikalenerlass, der Extremist_innen aus dem öffentlichen Dienst fernhalten sollte. Eine Anstellung wurde etwa 2250 Personen verwehrt. Gleichzeitig wurde von etwa 3,5 Millionen Menschen die Treue zur Verfassung, genauer zur fdGO, geprüft. Für diese Prüfung waren in erster Instanz die Einstellungsbehörden zuständig, die auf Einschätzungen der Ämter für Verfassungsschutz zurückgriffen. Die Entscheidungen konnten zwar gerichtlich angefochten werden, doch waren die Prozesse oft langwierig, kostspielig und gingen mit Unsicherheit über die berufliche Zukunft der Betroffenen einher. Einschätzungen des Verfassungsschutzes über die Grenze, was als legitime oder verfassungsfeindliche bzw. extremistische Position gilt, gewannen seit Anfang der 1970er Jahre zunehmend Gewicht im politischen Diskurs. Durch die Verschiebung von einer repressiven zu einer präventiv-sanktionierenden, wehrhaften Demokratie verschob sich die Hoheit über die Auslegung der Grenze der Demokratie von der Judikative hin zur Exekutive. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Vom Antifaschismus zum Antitotalitarismus zum Antiextremismus Während bereits im Vorfeld der Staatsgründung ein weitgehender Konsens darüber bestand, dass die bundesdeutsche Demokratie eine wehrhafte sein muss, war umstritten, gegen wen sich diese Wehrhaftigkeit richten sollte. Ende 1945 waren Faschismus und Nationalsozialismus offiziell 295

10. Fazit

diskreditiert und die alliierten Besatzungsmächte förderten einen antifaschistischen Wiederaufbau Deutschlands. In Kapitel 4.3 und 4.4 habe ich Bestrebungen aufgezeigt, diese antifaschistische Ausrichtung im Grundgesetz oder den Landesverfassungen verfassungsrechtlich zu verankern. Diese Versuche scheiterten. Dass sich bereits wenige Jahre später ein antitotalitärer Konsens durchgesetzt hat, ist mit der Zuspitzung des Kalten Krieges zu erklären, wie ich im Kontextkapitel 3.1 nachzeichne. Sowohl die Einführung des politischen Strafrechts als auch die Parteienverbote gegen SPR und KPD sind von einer antitotalitären Motivation geleitet, wie die Analysen in Kapitel 5 gezeigt haben. Bis 1952 bildete sich also ein politisches Selbstverständnis in der BRD heraus, das einer antitotalitären, wehrhaften Demokratie entspricht. Gegen Ende der 1960er Jahre geriet neben der repressiven Anwendung der wehrhaften Demokratie auch die antitotalitäre Abgrenzung zunehmend in die Defensive. Außenpolitisch galt diese Form der staatlichen Feinderklärung im Zuge der sozialliberalen Entspannungspolitik gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts als überholt. Auch die innenpolitischen Entwicklungen konnte der Antitotalitarismus nicht mehr erfassen, wie aus meinen Darstellungen in Kapitel 3.1 und 7.1 hervorgeht. Denn es entstanden radikal-linke und national-oppositionelle Strömungen, die sich teils offensiv gegenüber den totalitären Regimen von ›drüben‹ und ›früher‹ abgrenzten. Vor allem linksradikale Gruppierungen gingen spätestens in Folge der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 überwiegend auf Distanz zum sogenannten real existierenden Sozialismus. Vor diesem Hintergrund und im Rahmen eines relativ liberalen gesellschaftlichen Klimas, vollzog sich der Übergang von einer antitotalitären zu einer antiextremistischen Abgrenzung. Der Verfassungsschutz führte den Extremismusbegriff prominent in den politischen Diskurs ein. Da dieser Begriff wenig vorgeprägt war, eignete er sich für die Bezeichnung der sehr heterogenen, als verfassungsfeindlich angesehen Strömungen, wie die Rekonstruktion der politischen Debatten in Kapitel 7.3 zeigen. Als extremistisch und damit verfassungsfeindlich galten seit Mitte der 1970er Jahre nicht mehr nur Strömungen mit Sympathien zu totalitären Regimen, sondern auch rätedemokratische oder anarchistische Positionen, die in Abgrenzung zum orthodoxen Kommunismus entstanden. Damit einher ging eine Aufwertung der fdGO als Kern der Demokratie. Denn Verfassungsfeindlichkeit wurde nicht mehr über Sympathien für den Nationalsozialismus oder Kommunismus hergeleitet, sondern nur noch über die Gegnerschaft zur fdGO. Extremismus und seine Unterkategorien sind nicht positiv über politische Inhalte definiert, sondern negativ, über die Ablehnung der fdGO. 296

10. Fazit

Die Gegenüberstellung von fdGO und Extremismus bestimmt bis heute die politische Ordnung der BRD. Sie ist handlungsleitend für die Sicherheitsbehörden, wird von den zentralen politischen Akteur_innen vertreten und verfügt mit der Extremismusforschung über einen Wissenschaftszweig, der der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie zusätzliche Legitimation verleiht. Sowohl der Antiextremismus als auch das Prinzip der Wehrhaftigkeit sind tief im politischen Selbstverständnis der BRD verankert. Beide Aspekte sind stark aufeinander bezogen, aber nicht zwingend miteinander verknüpft, wie meine Rekonstruktionen kapitelübergreifend zeigen konnten. Seit Mitte der 1970er Jahre ist die antiextremistische, wehrhafte Demokratie hegemonial und an der Strukturierung des Diskurses der politischen Ordnung hat sich seitdem nichts grundlegend geändert. So hat die am Ende von Kapitel 7 eingeführte Grafik – mit kleineren Anpassungen – auch 2018 noch Gültigkeit. Abbildung 11 zeigt einen Ausschnitt, wie der Diskurs um die politische Ordnung der BRD gegenwärtig strukturiert ist.

Abbildung 12: Ausschnitt der Strukturierung des Diskurses um die politische Ordnung der BRD 2018, eigene Darstellung Diejenigen Elemente, die als Mangel oder Problem wahrgenommen werden, stehen oberhalb der dicken Linie und sind den Elementen, die geschützt oder durchgesetzt werden sollen, konträr gegenüber gestellt. Die 297

10. Fazit

Form der Abbildung geht auf die Methodologie der Hegemonieanalyse zurück, mit der ich den Diskurs untersucht habe (Kapitel 2). Durch die hegemonietheoretische Rahmung meiner Untersuchung lassen sich weitere Ergebnisse ableiten, die mit einem anderen Zugang zum Gegenstand wahrscheinlich nicht so deutlich hervorgetreten wären. Hegemonietheoretische Beiträge Die Hegemonieanalyse schließt an die hegemonietheoretischen Arbeiten von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau an. Mit ihr kann untersucht werden, wie sich im politischen Diskurs eine bestimmte Vorstellung, hier die antiextremistische, wehrhafte Demokratie, gegen andere durchgesetzt hat. Wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass diskursive Strategien erfolgreich angewendet werden. Zwei Kernstrategeme werden in Abbildung 11 deutlich. Damit eine bestimmte Vorstellung hegemonial werden kann, muss der Diskurs zweigeteilt werden, dargestellt durch die antagonistische Grenze. Ein weiteres Strategem ist die Verknüpfung von vielen verschiedenen Forderungen zu einer Äquivalenzkette. Äquivalent sind die Elemente in ihrem Verhältnis zu den Elementen der gegenüberliegenden Kette. Revolution, Extremismus und Gewalt stehen nur durch die gemeinsame Artikulation als Gefahren für die Demokratie in einer Äquivalenzbeziehung zueinander (Äquivalenzkette M). Gelingt es viele unterschiedliche Forderungen wie Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit und Frieden mit einer Vorstellung von Demokratie zu verknüpfen (Äquivalenzkette A), erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass viele Diskursakteur_innen dieser Vorstellung zustimmen. Es bildet sich eine breite Diskurskoalition, die diese Vorstellung vertritt und ihr zur Durchsetzung verhilft. Die entscheidenden Kämpfe um Hegemonie, die zur Ausbildung der in Abbildung 11 ausschnitthaft dargestellten Diskursstruktur führten, fanden Anfang der 1950 bzw. Anfang der 1970 Jahre statt. Ich habe sie in Kapitel 5 bzw. 7 rekonstruiert. Der Vorteil des rekonstruktiven Vorgehens ist, dass der politische Charakter der gegenwärtigen Struktur deutlich wird. Denn weder das Grundgesetz, noch das politische Strafrecht oder die Rolle der Sicherheitsbehörden waren gegeben, sondern sind das Ergebnis politischer Kämpfe, die in einem spezifischen historischen Kontext stattgefunden haben. Die Ergebnisse dieser Kämpfe haben sich in den gesellschaftlichen Strukturen verfestigt, können aber vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftspolitischer Realitäten wieder zur Disposition gestellt werden. Eine solche Debatte anzuregen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. 298

10. Fazit

Dass eine Debatte um die antiextremistische, wehrhafte Demokratie politisch notwendig ist, geht aus den zahlreichen Kritikpunkten hervor, die vor allem in den Kapiteln 6 und 8 herausgearbeitet wurden. Zudem ermöglicht der hegemonietheoretische Blick auf den Gegenstand weitere problematische Entwicklungen in der politischen Ordnung der BRD auszumachen. Da Deutschland nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus nicht souverän war und die alliierten Besatzungsmächte die Einführung einer demokratischen Ordnung forcierten, war dem Diskurs um die politische Ordnung in der BRD ein Rahmen gesetzt. Die Entscheidung für eine Demokratie war bereits gefallen, sodass sich die Auseinandersetzungen auf eine ›zweite Ebene‹ verlagerten. Es wurde nicht darum gestritten, ob eine demokratische Ordnung für die BRD gelten sollte, sondern über die eigentliche Bedeutung dieser Demokratie und die Frage welche gesellschaftlich-politische Kraft als eigentlicher Verfechter der Demokratie gelten soll. Also als die Kraft, die auch im Stande ist Demokratie durchzusetzen und zu bewahren. Diese Anpassungen der Hegemonieanalyse ergaben sich aus der Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstands und wurden in Kapitel 2.3 ausgeführt. Der Blick auf die ›zweite Ebene‹ verdeutlicht eine kritische Entwicklung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie. Denn die eigentliche Bedeutung der Demokratie, mit einer Wehrhaftigkeit nach unten und der fdGO als Schutzgut ist stark auf den Staat und seine Institutionen orientiert. Dieser Befund wird durch die Frage nach dem eigentlichen Verfechter der Demokratie weiter bekräftigt, wie vor allem die Analysen in den Kapiteln 5 und 7, aber auch 6.1 und 8.1 zeigen. Denn im Verlauf der Rekonstruktionen wurde deutlich, dass sich die Auslegungskompetenz darüber, welche Position als demokratisch und welche als antidemokratisch gilt, immer weiter zu Gunsten der Exekutive verschoben hat. Allen voran dominiert der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz den politischen Diskurs bezüglich der Frage, wer als Extremist_in gilt. Dieser aus demokratischer Perspektive problematische Befund wäre wohl nicht so deutlich ausgefallen, wenn die analysierten Texte nicht explizit nach dem eigentlichen Verfechter der Demokratie befragt worden wären. Eine Voraussetzung dafür, dass die eigentliche Bedeutung von Demokratie verhandelbar bleiben kann, ist, dass Demokratie bedeutungsoffen ist und sich verschiedene Vorstellungen über die politische Ordnung darin wiederfinden können. Ist das nicht der Fall und schließt sich der Diskurs um Demokratie, kann dies zu einer Gefahr für die Demokratie werden. Denn Demokratie würde ihre Integrationskraft verlieren und vermehrt in Frage gestellt. Ihre hegemoniale Stellung würde brüchig (Kapitel 2.3). In 299

10. Fazit

dieser Hinsicht ist erstmal unproblematisch, dass sich die antiextremistische, wehrhafte Demokratie gegen andere Vorstellungen durchgesetzt hat und hegemonial ist. Schließungstendenzen liegen dann vor, wenn andere Vorstellungen von Demokratie als antidemokratisch bezeichnet und aus den Debatten um die eigentliche Bedeutung der Demokratie ausgeschlossen werden. Solche Stimmen werden sowohl im politischen Bereich als auch in der wissenschaftlichen Debatte von Seiten der Extremismusforschung laut, wie Kapitel 8.2 zeigt. Bestrebungen, den Streit darüber was Demokratie bedeutet und wie Demokratie ausgestaltet werden kann zum Verstummen zu bringen, sind erkennbar. Diese Tendenzen können sich zu einer Gefahr für die Demokratie entwickeln, da sich immer mehr Menschen durch die Demokratie nicht mehr repräsentiert fühlen. Neben diesen hegemonietheoretischen Befunden, lassen sich durch meinen Analyserahmen Ansätze herausarbeiten, die zur Dekonstruktion der hegemonialen politischen Ordnung beitragen können und dabei sowohl theoretisch als auch empirisch unterfüttert sind. Ansätze zur Dekonstruktion der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie Es wurde bislang deutlich, dass das rekonstruktive Vorgehen mit einer hegemonieanalytischen Heuristik ermöglicht, die Strukturierung und Herausbildung des hegemonialen Diskurses nachzuzeichnen. Darüber hinaus ermöglicht es aber auch die Identifikation von Ansätzen zur Dekonstruktion der hegemonialen Diskursstruktur. Da ihre Stabilität darauf baut, den Diskursraum antagonistisch zu teilen und zwei möglichst stabile Äquivalenzketten auszubilden, kann genau bei diesen Verknüpfungen und Gegenüberstellung eine Dekonstruktion ansetzen. Werden Verknüpfungen über die antagonistische Grenze hinweg aufgezeigt, destabilisiert dies die Hegemonie. Werden Widersprüche innerhalb der Äquivalenzketten hervorgehoben, indem bspw. betont wird, dass Rechts- und ›Linksextremismus‹ nichts gemeinsam hätten, sondern konträr zueinander stünden, schwände die Stabilität der antiextremistische, wehrhaften Demokratie. Vorausgesetzt dieser Widerspruch auch von diskusmächtigen Akteur_innen artikuliert wird. Im Folgenden möchte ich sechs Ansätze zur Dekonstruktion der hegemonialen Formation näher ausführen. Sie sind in Abbildung 12 grafisch veranschaulicht.

300

10. Fazit

1.

Die Verknüpfung von Wehrhaftigkeit und der richtigen Lehre aus Weimar aufbrechen

Bereits Ende der 1940er Jahre setzte sich die Vorstellung durch, die bundesdeutsche Demokratie müsse sich wehrhaft zeigen. Die Entscheidung für eine wehrhafte Demokratie fiel in erster Linie mit dem Verweis auf das Scheitern der Weimarer Republik und wurde in den Folgejahren, mit einer Ausnahme Mitte der 1970er Jahre (Kapitel 8.2.2), nicht mehr infrage gestellt. Sie ist bis heute breit akzeptiert, kein Gegenstand kontroverser Debatten, und der politische Charakter ihrer Entstehung ist weitgehend verschüttet. Nach heutigem Kenntnisstand sollte jedoch in Zweifel gezogen werden, ob mit der wehrhaften Demokratie die richtige Lehre aus Weimar gezogen wurde. Wie ich in Kapitel 4.5 und 8.2.2 ausgeführt habe, ist dieser komplexe Sachverhalt zwar nach wie vor politisch und wissenschaftlich umstritten, aber inzwischen besser erforscht als dies Ende der 1940er Jahre der Fall war. So gilt, entgegen der damaligen Argumentation, die Weimarer Republik weder als wehrlos, noch die Machtübernahme der Nationalsozialist_innen als legal. Vielmehr wird die Einschätzung weit geteilt, dass die zahlreichen Antidemokrat_innen im Beamtenapparat und der Richterschaft dafür verantwortlich waren, die Weimarer Demokratie widerstandslos ihren Feind_innen ausgeliefert zu haben. Dieser letzte Aspekt ist in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Wehrhaftigkeit nicht enthalten. Die Schutzvorkehrungen richten sich gegen die Bevölkerung. Möglichkeiten, gegen einen autoritären Umbau der Gesellschaft durch staatliche Einrichtungen vorzugehen, sind im Sicherheitsgefüge nicht verankert. Somit wurde nur eine ›halbe Lehre‹ aus Weimar gezogen. Darüber hinaus wäre kritisch zu prüfen, ob das Misstrauen gegen die Bevölkerung und die geringen Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung jenseits von Wahlen noch zeitgemäß sind oder sich hemmend auf die Entfaltung eines demokratische Bewusstseins in der Bevölkerung auswirken. Ob also mit der Entscheidung, sich wehrhaft gegen die Bevölkerung zu zeigen, nicht nur die ›halbe Lehre‹, sondern die falsche Lehre aus Weimar gezogen wurde. Folgt man dieser Einschätzung, wäre eine wichtige Verknüpfung, die der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie Stabilität verleiht, aufgebrochen. Dieser Aspekt wird deutlicher, wenn man einen kritischen Blick auf die Rolle des Staates hinsichtlich des Demokratieschutzes der in BRD wirft.

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10. Fazit

2.

Den Staat als Garant für den Schutz der Demokratie infrage stellen

In allen empirischen Kapiteln wurde deutlich, dass die Rolle des Staates in den Demokratieschutzkonzepten der BRD problematisch ist. Übergreifend ergibt sich ein Bild, das ihn als eigentlichen Verfechter der Demokratie zeigt. Durch die Demokratieschutzinstrumente im Grundgesetz und im politischen Strafrecht ist bereits angelegt, dass der Bevölkerung Grundrechte lediglich gewährt werden, die durch den Staat eingeschränkt bzw. entzogen werden können. Zwar hat die Judikative im Falle repressiver Maßnahmen das letzte Wort, verlor aber an Einfluss, da viele Instrumente der wehrhaften Demokratie vor allem präventiv wirken. Damit einher ging eine Aufwertung der Exekutive, allen voran des Verfassungsschutzes als Hüterin der Grenze der Demokratie. Ein weiterer Baustein hinsichtlich der zentralen Rolle des Staates ist die fdGO, die als Schutzgut der Demokratie in erster Linie staatliche Institutionen und Verfahrensweisen benennt. Die Rekonstruktionen zeigen also deutlich eine obrigkeitsstaatliche Schlagseite des bundesdeutschen Demokratieschutzes, was aus mehreren Gründen problematisch ist. Zwei Gründe möchte ich genauer ausführen. Erstens wird mit dem Verfassungsschutz einer Behörde erheblicher Einfluss gegeben, die als Teil der Exekutive politisch nicht unabhängig ist, aufgrund ihres Charakters als Geheimdienst zwingend intransparent arbeitet und schwer demokratisch zu kontrollieren ist. Da sich die Existenz des Inlandsgeheimdienstes über die Gefahren für die Demokratie rechtfertigt, kann dies den Blick auf eine klare Einschätzung der Gefahrenlage verstellen. Zudem verhärteten sich im Zuge der Aufarbeitung der NSUMordserie Hinweise, dass die Behördenmitarbeiter_innen nicht frei von eigenen politischen Wertungen sind. So stellt sich der Verfassungsschutz aus mehreren Gründen als die falsche Institutionen heraus, um über die Grenze der Demokratie zu wachen. Zweitens sind in der gegenwärtigen Konstruktion des Demokratieschutzes einem autoritären Umbau der Demokratie von oben wenig Schranken gesetzt. Trotz einer stabilen Demokratie sind weitreichende Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bevölkerung weiterhin möglich. Die verfassungsrechtliche Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung in Art. 18 GG oder der Straftatbestand Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole § 90a StGB wirken besonders aus der Zeit gefallen. Darüber hinaus kann mit der fdGO-Formel einschränkend auf den demokratischen Diskurs eingewirkt werden, wie bspw. in der Diskussion um die sogenannte Demokratieerklärung in Kapitel 9.4 deutlich wurde. Zivilgesellschaftliche Organisationen wurden in ihrer politischen Autonomie beschränkt. Die Forderung des 302

10. Fazit

Rings Christlich-Demokratischer Studenten, Studierende an Universitäten sollen sich vor der Immatrikulation zur fdGO bekennen (Dorn 2017), zeigt ebenso das Potenzial in der gegenwärtigen Demokratieschutzkonzeption, abweichende politische Meinungen einzuschränken. Aus einer Verpflichtung auf die fdGO kann rasch eine Verpflichtung auf den Staat werden, v. a. da vornehmlich der Verfassungsschutz mit der Interpretation der fdGO betraut ist. Illiberale Eingriffsrechte des Staates bedürfen aber einer Rechtfertigung und sollten immer wieder vor dem Hintergrund eines sich verändernden politischen Kontextes kritisch geprüft werden. In diesem Sinne ist die Aufrechterhaltung der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie nicht mehr zeitgemäß und birgt antidemokratische Potenziale. Deshalb muss sie wieder Gegenstand einer politischen Debatte werden. Grundlage dafür ist das Aufzeigen der privilegierten Rolle des Staates und ihre Problematisierung. Beide Grundlagen wurden mit den vorliegenden Rekonstruktionen gelegt. 3.

Den Antagonismus von Demokratie und Extremismus infrage stellen

Die Entgegensetzung von Demokratie und Extremismus verleiht der hegemonialen Formation enorme Stabilität. Sowohl alle positiv konnotierten Forderungen als auch alle Gefahren können auf einen Begriff gebracht und der Diskursraum antagonistisch geteilt werden. Der präventive Demokratieschutz ist auf eine exakte Bestimmung dieser Grenze angewiesen, um den demokratischen Streit nicht willkürlich einzuschränken. Eine solche exakte Bestimmung versuchen die Sicherheitsbehörden und die normative Extremismusforschung vorzunehmen, was bis heute nicht gelungen ist, wie ich vor allem in Kapitel 8.2 gezeigt habe. Da die Bedeutung von Begriffen nicht endgültig fixiert werden kann, müssen die Kriterien der fdGO interpretiert werden, um zu bestimmen, wer als extremistisch gilt und wer nicht. Hierbei zeigt sich in der Praxis ein enormer Spielraum, der durch generalklauselförmige Formulierungen wie ›Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft‹ ausgedehnt wird. Dieser Interpretationsspielraum offenbart sich in den Einschätzungen des Verfassungsschutzes sowie in der Anwendung der wissenschaftlichen Definition von Extremismus. Eine weitere Ausdehnung wird durch die Unterstellung vollzogen, manche Feinde der Demokratie zeigten ihre Feindschaft aufgrund der zu erwartenden Sanktionen nicht offen, sondern strebten mit Hilfe einer 303

10. Fazit

›Legalitätstaktik‹ oder einer ›Kalten Revolution‹ den Umsturz an. Dies hat zur Konsequenz, dass auch politische Strömungen in den Verdacht des Extremismus geraten können, wenn sie sich an die Aspekte der fdGO halten. Diese Aspekte sind bereits sehr breit auslegbar und werden in der Praxis sehr unterschiedlich interpretiert. So offenbart sich spätestens in der Empirie die vermeintlich antagonistische Grenze zwischen Demokratie und Extremismus als überaus unscharf. 4.

Antiegalitäre Einstellungen auf beiden Seiten der antagonistischen Grenze aufzeigen

Das antagonistische Verhältnis von Extremismus und Demokratie wird nicht nur durch die unzureichende Abgrenzung dieser beiden Kategorien voneinander infrage gestellt, sondern auch wenn Elemente nicht eindeutig einer der beiden Kategorien zugeordnet sind. Deutlich wird dieser Ansatz für eine Dekonstruktion mit dem Begriff des Extremismus der Mitte und der damit verbundenen Kritik an der hegemonialen Formation (8.2.7). Diesem Begriff liegt das Argument zugrunde, dass Extremismus nicht nur an den Rändern der Gesellschaft zu finden sei, sondern auch in der politischen Mitte; eine antagonistische Grenze zu den extremistischen Ränder also nicht widerspruchsfrei gezogen werden kann. Es zeigt sich, dass die Untergrabung der antagonistischen Grenze über die Hervorhebung der Einstellungsebene möglich ist. Denn antiegalitäre Ideologien wie Rassismus, Antiziganismus oder Sexismus sind Bestandteil der Äquivalenzkette M. Zahlreiche Untersuchungen belegen aber, dass diese Ideologien auch von Repräsentant_innen oder Anhänger_innen demokratischer Parteien, also der sogenannten Mitte, vertreten werden, weswegen sie auch in der Äquivalenzkette A verortet werden müssten. Dadurch würden jedoch dieselben Elemente auf beiden Seite der Grenze auftauchen und die antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums infrage gestellt, was die hegemoniale Formation destabilisiert. Dies erklärt, warum Sicherheitsbehörden und normative Extremismusforschung erst von Rechtsextremismus sprechen, wenn sich die genannten Ideologien in Handlungen manifestieren. Doch spätestens, wenn der Schutz der Demokratie nicht mehr aus einer Sicherheitsperspektive, sondern unter Gesichtspunkten der Prävention diskutiert wird, ist die Vernachlässigung der Einstellungsebene nicht aufrecht zu halten, wie die Analysen in Kapitel 9 veranschaulicht haben.

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10. Fazit

5.

Differenzen innerhalb der Kategorie ›Linksextremismus‹ hervorheben

Wie ich in Kapitel 7 und 8.2.6 ausgeführt habe, ermöglichte maßgeblich die Kategorie ›Linkextremismus‹ einen bruchlosen Übergang von einer antitotalitären zu einer antiextremistischen Abgrenzung. Denn mithilfe dieser Kategorie konnte die ideologische Erneuerung der radikalen Linken ab Ende der 1960er Jahre in die hegemoniale Fassung von Demokratie integriert werden. Während linken totalitären Strömungen eine gemeinsame Nähe zu orthodox-kommunistischen Ideologien nachgewiesen werden kann, sind die als linksextrem klassifizierten Phänomene sehr viel diverser. So wurden neben Anhänger_innen des Stalinismus, auch Befürworter_innen einer Rätedemokratie, des Anarchismus oder des Maoismus in einer Kategorie zusammengefasst. Auch neu aufkommende Strömungen wie Antideutsche, Autonome und Radikalfeminist_innen gelten als linksextrem. Ein differenzierter Blick auf ›Linksextremismus‹ trägt in zweierlei Hinsicht zur Dekonstruktion der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie bei. Erstens wird deutlich, dass ›Linksextremismus‹ als Containerbegriff fungiert, der keine konsistente soziale Entsprechung hat und teils gegensätzliche Strömungen umfasst. Alle wissenschaftlichen Bemühungen den Gegenstand positiv, also nicht allein über die Ablehnung der fdGO zu bestimmen, scheiterten. So konnte bislang, im Gegensatz zu einem rechtsextremen, kein konsistentes linksextremes Einstellungsmuster nachgewiesen werden (Kapitel 8.2.6). Ein wichtiges Element der Äquivalenzkette M zeigt sich dadurch als unzureichend. Zweitens folgt einem differenzierten Blick auf ›Linksextremismus‹, dass einige der als linksextrem klassifizierten Strömungen zwar mit der fdGO in Konflikt stehen, aber durchaus als demokratisch gelten können. Ein Streben nach Freiheit und Gleichheit aller, also eine Fortführung der Forderungen der französischen Revolution, liegt anarchistischen und undogmatisch-kommunistischen Strömungen zugrunde. Diese als antidemokratisch zu klassifizieren, setzt eine Verengung des Demokratiebegriffs voraus. Eine weite Fassung dieses Begriffs, wie sie in Theorien der radikalen Demokratie vorgenommen wird (u. a. Laclau und Mouffe 2001; Mouffe 2007), ließ eine Verknüpfung von Demokratie zu Teilen der als linksextrem klassifizierten Strömungen zu und würde die antagonistische Grenze untergraben.

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10. Fazit

6.

Die Differenz zwischen den Formen von Extremismus betonen

Ein Grund warum die antiextremistische, wehrhafte Demokratie so gut funktioniert ist, dass die Kategorie Extremismus interpretationsoffen ist und gleichzeitig den Eindruck vermittelt, die so bezeichneten Phänomene würden starke Ähnlichkeiten aufweisen. Das Postulat der Äquidistanz, also die Maßgabe gegen alle Formen des Extremismus gleichermaßen vorzugehen, wird damit begründet, dass der Unterschied zwischen demokratisch und extremistisch schwerer wöge, als jener zwischen rechts und links. Als empirischer Beleg gelten die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus und der Verweis, dass alle Formen des Extremismus in den Totalitarismus führen, sobald sie an die Macht gelangen. Diese These ist nie stichhaltig für die aktuell als extremistisch klassifizierten Strömungen belegt worden und scheint vor dem Hintergrund ideologisch sehr heterogener Gruppen mehr als fraglich. Wieso anarchistische oder undogmatisch-kommunistische Positionen zwangsläufig zu einer totalitären Herrschaft führen sollten, ist schwer zu begründen. Zudem ist es bislang nicht gelungen, Gemeinsamkeiten der extremistischen Strömungen herauszuarbeiten. Dabei zeigt sich die Positivdefinition von Extremismus als nicht praktikabel. Sie ist weder theoretisch plausibel noch empirisch bestätigt worden, wie aus meinen Ausführungen in Kapitel 8.2.5 hervorgeht. Als einzige Klammer aller extremistischer Strömungen bleibt eine negative Herleitung von Gemeinsamkeiten über die Ablehnung der fdGO. Dieser Zusammenhang ist zwar nicht irrelevant, sagt aber wenig über die Beschaffenheit von Extremismus aus. Dies möchte ich durch ein Gedankenspiel veranschaulichen: Wie lässt sich bzw. die Farbe von Blättern, die noch nicht in den Welkungsprozess eingetreten sind, bestimmen? Eine negative Bestimmung entspricht der Aussage ›Blätter an den Bäumen sind nicht blau‹. Eine erfolgreiche Positivdefinition bildet sich in der Aussage ab, ›Blätter an Bäumen sind grün, dabei gibt es Abstufungen zwischen helleren und dunkleren Grüntönen‹. Die unterschiedliche Reichweite in der Aussagekraft beider Sätze liegt auf der Hand. Die rein negative Bestimmung von Extremismus erlaubt es höchst unterschiedliche Strömungen zu kategorisieren. Die Kategorie selbst bleibt jedoch blass. Die Klassifizierung als extremistisch sagt folglich sehr wenig über die Beschaffenheit der so bezeichneten politischen Strömung aus. Vielmehr übersteigen die enormen Differenzen zwischen den Phänomenen, auch bezüglich ihrer (anti-)demokratischen Potenziale, die Gemeinsamkeiten. Die Äquivalenzbeziehung begründet sich rein negativ, aus der gemeinsamen 306

10. Fazit

Ablehnung der fdGO und wird durch das Postulat der Äquidistanz gestützt. Kann dieses Postulat begründet zurückgewiesen werden, wie ich es in Kapitel 8.2.6 ausgeführt habe, können die erheblichen Differenzen zwischen den Elementen der Äquivalenzkette M zu einem Bruch der Kette führen. Damit wäre die antiextremistische, wehrhafte Demokratie dekonstruiert. Die sechs herausgearbeiteten Punkte setzen jeweils an unterschiedlichen Stellen der hegemonialen Formation an, wie in Abbildung 12 dargestellt wird. Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind dort nur jene Elemente und Verknüpfungen aufgeführt, die in den sechs angesprochenen Punkten thematisiert wurden. Die Grafik verdeutlicht Widersprüche innerhalb der Äquivalenzketten (dargestellt durch einen Doppelpfeil) und Verknüpfungen zwischen Elementen, die im hegemonialen Diskurs als konträr zueinander artikuliert werden (dargestellt durch einen Strich). Die eingefügten Ziffern entsprechen der Nummerierung der sechs Ansätze.

Abbildung 13: Anknüpfungspunkte zur Dekonstruktion der antiextremistischen, wehrhaften Demokratie, eigene Darstellung Mit dem ersten Ansatz können die Wehrhaftigkeit nach unten und die Lehre aus Weimar als konträr zueinander artikuliert werden. In der hegemonialen Diskursstruktur gehen sie hingegen eine Äquivalenzbeziehung ein. Der zweite Ansatz stellt die Rolle des Staates als eigentlicher Verfechter der Demokratie infrage. Mit dem dritten Ansatz kann die antago307

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nistische Grenze zwischen Demokratie und Extremismus dekonstruiert werden. Die Schwächung dieser Grenze geht auch mit dem vierten Ansatz einher, da hier Verknüpfungen über die antagonistische Grenze hinweg aufgezeigt werden. Das Gleiche passiert durch den differenzierten Blick auf die Kategorie ›Linksextremismus‹. Dieser fünfte Ansatz zeigt darüber hinaus Widersprüche innerhalb der Äquivalenzkette M auf. Das kann auch mit dem sechsten Ansatz verdeutlicht werden. Die dargestellten Kontraritäten und Verknüpfungen bergen von daher ein erhebliches Potenzial die hegemoniale Formation zu dekonstruieren, da sie an deren zentralen Relationen ansetzen. Nehmen die Widersprüche innerhalb der Äquivalenzketten zu oder werden Verknüpfungen über die antagonistische Grenze hinweg artikuliert, steht die gesamte Formation zur Disposition. Doch warum kommen die vorgestellten Anknüpfungspunkte im politischen Diskurs kaum zur Entfaltung? Dies möchte ich anhand einer Anekdote veranschaulichen. Gemeinsam mit einem Kollegen sollte ich für das Landesbüro einer Stiftung eine Abhandlung schreiben, die den Ansatz der Linksextremismusprävention kritisch reflektieren sollte. Wenige Monate später reichten wir das Manuskript ein, bekamen Veränderungsvorschläge zurück, die wir einarbeiteten. Wenige Tage später wurde mir telefonisch mitgeteilt, dass die Zentrale der Stiftung beschlossen hat, die Abhandlung nicht zu drucken. Als Begründung hieß es, die Stiftung möchte sich zu dem Thema nicht so explizit äußern, um sich nicht politisch angreifbar zu machen. Die Veröffentlichung platzte. Dieses Beispiel zeigt einen möglichen Effekt von Hegemonie. Die antiextremistische, wehrhafte Demokratie wirkt auf die wissenschaftliche Debatte präventiv einschränkend, ohne dass repressive Instrumente notwendig sind. Mögliche negative Folgen für die Stiftung wären nicht ausgeschlossen gewesen, da die Hegemonie von einer sehr breiten Diskurskoalition aus Parteien, Gerichten, Gesetzen, Behörden, Wissenschaftler_innen und vielen weiteren getragen wird. Die hegemoniale Diskursstruktur wird beständig reartikuliert, sodass die herausgearbeiteten Ansätze einer Dekonstruktion kaum durchdringend können. Allerdings könnten diese Ansätze deutlicher hervortreten, wenn sich ein oppositionelles hegemoniales Projekt herausbilden würde, das eine andere Vorstellung über die eigentliche Bedeutung der Demokratie artikuliert und auf breite Akzeptanz stößt. Dies ist gegenwärtig nicht der Fall. Warum es notwendig ist, Alternativen zur antiextremistischen, wehrhaften Demokratie zu entwickeln und offensiv in den Diskurs um die politische Ordnung einzuspeisen, möchte ich in einem kurzen Ausblick begründen.

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Ausblick: Mehr Demokratie wagen Die Forderung, Instrumente der wehrhaften Demokratie abzubauen und mehr Demokratie zu wagen, ist auch nach der Reformperiode unter Willy Brandt mehrfach wiederholt worden. Auf den Punkt brachte dies bspw. Horst Meier (1999: 1102): Nach fünfzig Jahren einer Verfassungsentwicklung von der man im Parlamentarischen Rat nicht zu träumen wagte, hat sich die Angst vor der Freiheit als unbegründet erwiesen: Der ängstlich-präventive Demokratieschutz galt dem Schutz einer in Wirklichkeit noch gar nicht existierenden Demokratie und ist mit deren wirklicher Existenz überflüssig geworden.

Fast 20 Jahre später scheint Skepsis an dieser positiven Einschätzung von Meier angebracht. Im Bundestag und sämtlichen Landtagen ist eine reaktionäre Partei vertreten, deren völkisch-nationalistische Positionen zwar nicht die gesamte Partei prägen, jedoch ein integraler Bestandteil sind. In vielen Regionen der BRD sind Bürger_innenbewegungen aktiv, die eine offene Ablehnung von Grund- und Menschenrechten zur Schau stellen. Rassistische und andere antiegalitäre Ideologien haben Einzug in den politischen Diskurs erhalten und Positionen, die vor Jahren nur an rechten Stammtischen geäußert werden konnten, sind inzwischen in den Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender zu hören. Es ließe sich also die Frage stellen, ob es in dieser Phase erstarkter antidemokratischer Bewegungen und reaktionärer Parteien nicht erst recht der Instrumente wehrhafter Demokratie bedarf? Diese Frage möchte ich mit zwei Argumenten verneinen. Erstens haben sich die Instrumente der wehrhaften Demokratie zur Abwehr der neuen, rechten Bewegungen bislang als wirkungslos erwiesen. Die AfD wird von keinem der Ämter für Verfassungsschutz beobachtet oder als Verdachtsfall geführt. Erst im Januar 2019 erklärte das Bundesamt für Verfassungsschutz die Junge Alternative und die Parteigliederung Der Flügel zum Verdachtsfall. Mittlerweile ist die Partei samt ihres völkischen Flügels jedoch etabliert, sodass diese späte Maßnahme die AfD kaum schwächen wird. Von der normativen Extremismusforschung wird der AfD bescheinigt, nicht extremistisch zu sein. Die Partei vertrete zwar rassistische oder homophobe Positionen, richte sich aber nicht gegen die Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, so das Argument (Kapitel 8.2.6). Diese Folgerung zeigt sehr deutlich, was nach der hegemonialen Vorstellung nicht als antidemokratisch gilt: Eine systematische Diffamierung der Presse, die Ausgrenzung und Abwehr von Minderheiten oder die Verbreitung eines völkischen Weltbilds reichen noch nicht für die 309

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Klassifizierung als extremistisch. Die Grenze zu Rechtsextremismus ist erst dann zweifelsfrei überschritten, wenn ein positiver Bezug zum Nationalsozialismus hergestellt wird. Die AfD scheint sich dieses Grenzgangs durchaus bewusst zu sein. Ob durch den Schweigemarsch in Chemnitz am 1. September 2018 der Bogen überspannt wurde, bleibt abzuwarten. Der Schulterschluss zwischen AfD, PEGIDA und Neonazis war dort zumindest offensichtlich. Die Instrumente der wehrhaften Demokratie wurden in den letzten 50 Jahren relativ liberal angewendet. Die Bevölkerung der BRD genießt ein hohes Maß an Freiheit und die bleierne Zeit der 1950er Jahre ist lange vorbei. Es mehren sich jedoch die Anzeichen, so mein zweites Argument, dass sich die Phase der liberalen Anwendung dem Ende zuneigt. Vor allem die AfD diffamiert ihre Kritiker_innen pauschal als linksextrem. Dies schließt zivilgesellschaftliche Organisationen wie bspw. die AmadeuAntonio-Stiftung ebenso ein wie Initiativen gegen rechts, denen Sozialdemokrat_innen und Vertreter_innen der Kirchen angehören. Ähnlich äußerte sich der ehemalige Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der kurz nach seiner Entlassung über linksradiale Kräfte in der SPD schwadronierte. Diese Angriffe sind bislang meist diskursiv und nur selten mit größeren Konsequenzen verbunden. Gerade in der Bekämpfung des ›Linksextremismus‹ gibt es aber einen Schulterschluss zwischen AfD und CDU, wie bspw. im Landtag von SachsenAnhalt, wo die CDU einen Antrag der AfD zur Einführung einer EnqueteKommission zur Untersuchung von ›Linksextremismus‹ unterstützte. Darüber hinaus ist bekannt, dass nicht wenige Richter_innen, Staatsanwält_innen, Polizist_innen und andere Beamt_innen, auch Mitarbeiter_innen von Verfassungsschutzbehörden, der AfD angehören. Gewinnen Sympathisant_innen der Partei weiter Einfluss in den Institutionen, die eine Deutungshoheit über die Auslegung der fdGO haben, könnten den Diffamierungen gegen die liberale und linke Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Wissenschaft bald noch sehr viel gravierendere Taten folgen. Die Instrumente für weitreichende Einschränkungen politischer Freiheiten sind vorhanden. Freilich steht deren massenhafte Anwendung nicht kurz bevor. Doch bei einer zunehmenden autoritären Formierung der Gesellschaft könnten sich die Instrumente der wehrhaften Demokratie selbst als Gefahr für die Demokratie entpuppen. Deshalb ist es angezeigt, mehr Demokratie zu wagen.

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