Uruguay: Unternehmer zwischen Diktatur und Demokratie Eine Studie zu Politik, Wirtschaft und der politischen Rolle der Unternehmerverbände 9783964563286

Über die Analyse der politischen Rolle der Unternehmer hinaus werden in dieser Arbeit die wesentlichen politischen und w

231 8 26MB

German Pages 348 Year 2019

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Tabellen, Schemata und Graphiken
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1. Analytischer Rahmen
2. Historischer Hintergrund: Ökonomisch-politische Entwicklung und Unternehmerschaft
3. Grundzüge der Volkswirtschaft
4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen unter besonderer Berücksichtigung des Agrar- und Industriesektors
5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984
6. Die „neue alte" Demokratie
7. Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit
Statistischer Anhang: Makroökonomische Eckdaten und Angaben zur politischen Entwicklung
Literaturverzeichnis
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Uruguay: Unternehmer zwischen Diktatur und Demokratie Eine Studie zu Politik, Wirtschaft und der politischen Rolle der Unternehmerverbände
 9783964563286

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Christoph Wagner Uruguay: Unternehmer zwischen Diktatur und Demokratie

M

Politik in der Gegenwart Band 2 Herausgegeben von Manfred Mols

Christoph Wagner

Uruguay: Unternehmer zwischen Diktatur und Demokratie Eine Studie zu Politik, Wirtschaft und der politischen Rolle der Unternehmerverbände

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1997

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 12 - Sozialwissenschaften - der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit dem Titel "Uruguay: Unternehmer und ihre Interessenorganisationen zwischen Diktatur und Demokratie. Eine Studie zu Politik, Wirtschaft und der politischen Rolle der Unternehmerverbände" im Jahr 1996 zur Erlangung des akademischen Grades eines Dr. Phil, angenommen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wagner, Christoph: Uruguay: Unternehmer zwischen Diktatur und Demokratie : eine Studie zu Politik, Wirtschaft und der politischen Rolle der Unternehmerverbände / Christoph Wagner. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1997 (Politik in der Gegenwart; Bd. 2) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1996, u.d.T.: Wagner, Christoph: Uruguay: Unternehmer und ihre Interessenorganisationen zwischen Diktatur und Demokratie ISBN 3-89354-482-8

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Stephan Schelenz Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany: Rosch-Druck, Scheßlitz

Für Manuela Befard, Philipp, Teresa und meine Eltern

Vorwort

7

Vorwort Jede Publikation hat ihre eigene Geschichte. Und es ist eine gute Tradition, denjenigen zu danken, die in solch einer Geschichte eine Rolle gespielt haben. Die Liste derer, denen ich „vor Ort" zu Dank verpflichtet bin, ist lang. Vor allen anderen aber zu nennen sind Amalia und Bernardo mit ihrer gesamten Familie sowie Maria del Carmen und ihre Eltern. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, daß ich mich in Montevideo so wohl fühlen konnte. Jaime Roos hat mir ohne es zu wissen - durch seine Musik viele schöne Erinnerungen nach Deutschland retten helfen. Unmittelbar für meine Arbeit waren die vielen Gespräche mit Fachleuten aus unterschiedlichen Bereichen eine wichtige Grundlage. Besonders geholfen haben mir die Diskussionen mit Silvana Bruera, Carlos Filgueira, Diego Piñeiro (alle CIESU), Gerardo Caetano, José Arocena, Romeo Pérez (alle CLAEH), Luis Stolovich, Juan Manuel Rodríguez (beide CUI), Nora Berretta, Martín Rama (beide CINVE), Juan Rial (Peithos), Geronimo de Sierra, Martin Buxedas (beide CIEDUR), Eduardo de León (IDES), Luis Eduardo González und Alfredo Errandonea. Außerdem gilt mein Dank allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von FESUR für ihre Unterstützung. Bei meinen Interviewpartnern aus Politik und Wirtschaft bedanke ich mich pauschal für die Zeit, die sie mir zur Verfügung gestanden haben. Hervorheben möchte ich lediglich Simón P. Berkowitz (Präsident der Cámara Mercantil de Productos del País), Carlos Enrique Gasparri (Präsident der Asociación Rural del Uruguay) und Ricardo Petrissans Aguilar (Unión de Exportadores del Uruguay), deren Bereitschaft zur Meinungsäußerung und Informationsweitergabe besonders groß war. Dank gebührt selbstverständlich meinem Doktorvater Manfred Mols. Bei ihm konnte ich nicht nur diese Arbeit schreiben, sondern er hat mir nach mehrjähriger Zusammenarbeit in unterschiedlichen Formen - angefangen von meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft bis zur gemeinsamen Herausgabe der Ergebnisse eines von uns beiden geleiteten Forschungsprojekts zu den deutschlateinamerikanischen Beziehungen - nun auch langfristig eine Perspektive am Mainzer Institut für Politikwissenschaft eröffnet. Danken möchte ich auch Ernesto Garzón Valdés, der sich als Zweitkorrektor meiner Dissertation annahm. Große Teile der Arbeit sind im Kontext eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts (Die politische Rolle der Unternehmerverbände im Cono Sur. Eine vergleichende Untersuchung) entstanden, deren finanzielle Unterstützung mir 1992 auch einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in Uruguay ermöglichte. Viele Diskussionen mit den

8

Vorwort

Kollegen Peter Birle und Peter Imbusch haben zur Differenzierung meiner Überlegungen beigetragen. Klaus Bodemer, der unser Forschungsprojekt von Anfang an begleitet hat - auch in seiner Funktion als Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in Montevideo - und Sandra Carreras waren mir nicht nur bei meinem Forschungsaufenthalt eine wichtige Hilfe, sondern besonders aufgrund ihrer eigenen Uruguay-Kenntnis auch bei der Erstellung der Endfassung des Textes. Hans-Joachim Lauth hat sich, wie bereits bei meiner Magisterarbeit, die Mühe gemacht, die Arbeit im Gesamtzusammenhang zu lesen. Gewohnt kritisch, aber ebenso gewohnt konstruktiv verdanke ich ihm viele Hinweise und Anregungen, die mir über die letzten Hürden hinweggeholfen haben. Claudia Hamann schließlich hat den kompletten Text noch einmal sorgfaltig durchgesehen. (Es bietet sich an, an dieser Stelle einzufügen, daß jegliche Fehler und Mängel der Arbeit natürlich von mir selbst zu veranworten sind.) Jede Publikation hat ihre eigene Geschichte. Einige der an dieser Geschichte unmittelbar oder mittelbar Beteiligten konnte ich hier erwähnen. Alle, die in irgendeiner Form eine Rolle gespielt haben, hier aber nicht genannt wurden, bitte ich um Nachsicht. Eine Hauptrolle in der Geschichte dieser Arbeit hat Manuela Befard gespielt. Ohne ihre Unterstützung hätte ich meine Dissertation unter den in den vergangenen Jahren gegebenen Umständen nicht zu Ende bringen können. Auch der Beitrag von Philipp ist nicht zu unterschätzen. Seine Existenz hat erheblich zur Effizienzsteigerung meiner Arbeit beigetragen. Teresa schließlich hat mir durch ihre damals bevorstehende Geburt den letzten Schub gegeben, um die Geschichte zu einem Ende zu bringen. Neben Manuela und unseren beiden Kindern danke ich auch meinen Eltern, Katharina und Karlheinz Wagner, die mir durch ihre Begleitung eine größere Stütze waren, als sie selbst es sicher ahnen.

Mainz, im Januar 1997

C.W.

Inhaltsverzeichnis

9

Inhaltsverzeichnis Verzeichnis der Tabellen, Schemata und Graphiken

13

Abkürzungsverzeichnis

15

Einleitung

19

1.

Analytischer Rahmen

25

1.1

Überlegungen zur Problematik politischer Stabilität und Präzisierung der erkenntnisleitenden Fragestellung

26

1.2

Konzeptionelle Annäherung an den Untersuchungsgegenstand und Thesenformulierung

36

1.2.1

Bestimmung der Analyseeinheit

36

1.2.2

Kontextbedingungen

39

1.2.3

Einfluß, Interessen, Ziele und Handlungsstrategien der Unternehmer

1.3

Literaturüberblick, Datenbasis, Materialerschließung und Anmerkungen zur Methodik

2.

44 58

Historischer Hintergrund: Ökonomisch-politische Entwicklung und Unternehmerschaft

65

2.1

Staatliche Unabhängigkeit und Herausbildung der Wirtschaftsstruktur im 19. Jahrhundert

65

2.2

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

71

2.3

Vom wirtschaftlichen Erfolg über die Stagnation zur Krise (1930-1971)

86

3.

Grundzüge der Volkswirtschaft

111

3.1

Agrarsektor

116

3.2

Industriesektor

120

3.3

Tertiärsektor

126

3.4

Zur Rolle und Struktur der grupos económicos und deren sektoriellen Verflechtungen

128

Inhaltsverzeichnis

10

4.

Panorama der organisierten Unternehmerinteressen unter besonderer Berücksichtigung des Agrar- und Industriesektors 133

4.1

Das Verbandsspektrum der Unternehmer

133

4.2

Asociación Rural del Uruguay und Federación Rural

141

4.3

Cámara de Industrias del Uruguay

145

4.4

Weitere relevante Unternehmerverbände im Überblick

147

4.5

Repräsentativität und Partizipation am Beispiel der Cámara de Industrias del Uruguay

151

5.

Die Militärdiktatur 1972/73-1984

153

5.1

Autoritarismus und Transition

15 3

5.2

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

162

5.3

Unternehmer/-verbände in der Diktatur: Kollaborateure, Profiteure, Opportunisten oder Oppositionelle?

176

5.3.1

Neue Spielregeln und Interessenkonstellationen

176

5.3.2

Der Versuch der diktatorischen Konsolidierung bis 1980

185

5.3.2.1

Die Sonderrolle des Agrarsektors und der Federación Rural

186

5.3.2.2

Die Stellung der anderen Unternehmerverbände zur Militärdiktatur

5.3.3

191

Die schrittweise Rückkehr zur Demokratie 1980-1984 und die Bedeutung der Unternehmer

195

6.

Die "neue alte" Demokratie

209

6.1

Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

209

6.1.1

Demokratische Restauration

209

6.1.2

Wirtschaftspolitik und -entwicklung

217

6.1.3

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

6.1.3.1

Das Dreiecksverhältnis Unternehmerverbände Gewerkschaften - Regierung

6.1.3.2

225 225

Federación Rural, Asociación Rural und die protagonistische Rolle der Cámara de Industrias

236

Inhaltsverzeichnis

6.2

11

Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

249

6.2.1

Politische Ausgangslage

249

6.2.2

Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen und Aktivitäten

252

6.2.3

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

261

6.2.3.1

Unternehmer und MERCOSUR

261

6.2.3.2

Trends und Entwicklungen: ein System in Bewegung

269

7.

Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

289

Statistischer Anhang: Makroökonomische Eckdaten und Angaben zur politischen Entwicklung Literaturverzeichnis

311 321

Verzeichnis der Tabellen, Schemata und Graphiken

13

Verzeichnis der Tabellen, Schemata und Graphiken Tabelle 1:

Struktur des Bruttoinlandsprodukts nach Sektoren

111

Tabelle 2:

Beschäftigte nach Wirtschaftssektoren

113

Tabelle 3:

Ackerbaubetriebe nach Größenklassen

119

Tabelle 4:

Viehzuchtbetriebe nach Größenklassen

120

Tabelle 5:

Betriebe und Beschäftigte in der Industrie (1987)

123

Tabelle 6:

Verteilung der 100 größten Industrieunternehmen

124

Tabelle 7:

Anteil der Großunternehmen mit Verbindung zu grupos económicos

128

Tabelle 8:

Anzahl der grupos económicos

129

Tabelle 9:

Bruttoinlandsprodukt 1968-1992

312

Tabelle 10:

Entwicklung von Preisen und Löhnen 1968-1992

313

Tabellell:

Handelsbilanz 1973-1992

314

Tabelle 12:

Privatkonsum pro Kopf 1970-1989

315

Tabelle 13:

Auslandsverschuldung 1955-1992

316

Tabelle 14:

Nationale Wahlen: Ergebnisse 1926-1994

318

Tabelle 15:

Präsidenten im 20. Jahrhundert

319

Schema 1:

Politische Stabilität

Schema 2:

Die Kontextbedingungen

35

für die Unternehmer und ihre Verbände

40

Schema 3:

Unternehmer/-verbände und Stabilität

45

Schema 4:

Die organisierten Unternehmerinteressen

Graphik 1:

Entwicklung der sektoriellen Anteile am Bruttoinlandsprodukt

113

Graphik 2:

Struktur der Exporte

115

Graphik 3:

Anteil des Agrarsektors am Bruttoinlandsprodukt 1991

116

Graphik 4:

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in der Landwirtschaft

141

116

Graphik 5:

Anteil des Industriesektors am Bruttoinlandsprodukt 1991

120

Graphik 6:

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in der Industrie

121

14

Verzeichnis der Tabellen, Schemata und Graphiken

Graphik 7:

Anteil des Tertiärsektors am Bruttoinlandsprodukt 1991

Graphik 8:

Graphik 13:

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Dienstleistungsbereich Entwicklung der Handelsbilanz 1978-1982 Entwicklung der Auslandsverschuldung während der Militärdiktatur Ausgewählte makroökonomische Eckdaten zur wirtschaftlichen Entwicklung während der Militärdiktatur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Agrarsektor während der Militärdiktatur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Industriesektor während der Militärdiktatur

201

Graphik 14:

Die Präsidentschaftswahlen 1971 und 1984 im Vergleich

211

Graphik 15:

Entwicklung der Auslandsverschuldung 1984-1989

219

Graphik 16:

Graphik 20: 19: Graphik

Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt, Konsum und Löhnen 1985-1989 Sektorielle Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts 1985-1989 Reallohnentwicklung im privaten und öffentlichen Sektor 1985-1989 Die Präsidentschaftswahlen 1971, 1984 und 1989 Wahlergebnis 1989 auf departementaler Ebene für Montevideo Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt

251

Graphik 21:

und Löhnen 1990-1992

259

Graphik 9: Graphik 10: Graphik 11: Graphik 12:

Graphik 17: Graphik 18:

126 127 170 173 174 198

221 222 234 250

Graphik 22:

Bruttoinlandsprodukt 1968-1992

312

Graphik 23:

Inflationsrate und Reallohnentwicklung 1968-1992

313

Graphik 24:

Handelsbilanz 1973-1992

314

Graphik 25:

Privatkonsum pro Kopf 1970-1989

315

Graphik26:

Entwicklung der Auslandsverschuldung 1955-1992

317

Graphik 27:

Entwicklungdernationalen Wahlergebnisse 1926-1994

318

Abkürzungsverzeichnis

15

Abkürzungsverzeichnisi ABU

Asociación de Bancos del Uruguay

ACDE

Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa

AEBU

Asociación de Empleados Bancarios del Uruguay

AFE

Administración de Ferrocarriles del Estado

AMDET

Administración Municipal de Transportes

ANCAP

Administración Nacional de Combustibles,

ANMYPE

Asociación Nacional de Micro y Pequeños Empresarios

ANP

Administración Nacional de Puertos

ANTEL

Administración Nacional de Telecomunicaciones

ARU

Asociación Rural del Uruguay

ASCEEP

Asociación Social y Cultural de Estudiantes

BCU

Banco Central del Uruguay

Alcohol y Portland

de la Enseñanza Pública BfAI

Bundesstelle für Aussenhandelsinformation

BHU

Banco Hipotecario del Uruguay

BID

Banco Interamericano de Desarrollo

BROU

Banco de la República Oriental del Uruguay

BSE

Banco de Seguros del Estado

CAF

Cooperativas Agrarias Federadas

CAUCE

Convenio Argentino-Uruguayo de Cooperación Económica

CEDU

Confederación Empresarial del Uruguay

CEP AL

Comisión Económica para América Latina (y el Caribe)

CERES

Centro de Estudios de la Realidad Económica y Social

CIDE

Comisión de Inversiones y Desarrollo Económico

CIEDLA

Centro Interdisciplinario de Estudios sobre el Desarrollo Latinoamericano

Im folgenden sind nur die in der Arbeit verwendeten Abkürzungen aufgelistet, die im deutschen Sprachraum nicht allgemein gebräuchlich sind.

Abkiirzungsverzeichnis

16

CIEDUR

Centro Interdisciplinario de Estudios sobre el Desarrollo, Uruguay

CIESU

Centro de Informaciones y Estudios del Uruguay

CINVE

Centro de Investigaciones Económicas

CIU

Cámara de Industrias del Uruguay

CLAEH

Centro Latinoamericano de Economía Humana

CLACSO

Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales

CMPP

Cámara Mercantil de Productos del País

CNC

Cámara Nacional de Comercio

CNT

Convención Nacional de Trabajadores

COMCORDE

Comisión Coordinadora para el Desarrollo Económico

CONAPRO

Concertación Nacional Programática

CONAPROLE

Cooperativa Nacional de Productores de Leche

COPRIN

Comisión de Productividad, Precios e Ingresos

COSENA

Consejo de Seguridad Nacional

COSUSAL

Consejo Superior de Salarios

CUI

Centro Uruguay Independiente

DATES

Departamento de Asesoramiento Técnico Económico y Social

DFG

Deutsche Forschungsgemeinschaft

DINACOPRIN

Dirección Nacional de Costos, Precios e Ingresos

EPPAL

Ediciones Populares para América Latina

FA

Frente Amplio

FES

Friedrich-Ebert-Stiftung

FESUR

Fundación Friedrich Ebert en el Uruguay

FFAA

Fuerzas Armadas

FMI

Fondo Monetario Internacional

FR

Federación Rural

FUCVAM

Federación Uruguaya de Cooperativas de Vivienda por Ayuda Mútua

IDES

Instituto Investigación y Desarrollo

ILPE

Industrias Loberas y Pesqueras (auch: Instituto Lobero y Pesquero del Estado) International Monetary Fund

IMF

Abkürzungsverzeichnis

INAC

Instituto Nacional de Carnes

IWF

Internationaler Währungsfonds

KAS

Konrad-Adenauer-Stiftung

MERCOSUR

Mercado Común del Sur

MNL

Movimiento de Liberación Nacional

MNL-T

Movimiento de Liberación Nacional-Tupamaros

NE

Nuevo Espacio

OIT

Oficina (Organización) Internacional del Trabajo

ONDA

Organización Nacional de Autobuses

OPP

Oficina de Planeamiento y Presupuesto

OSE PC

Obras Sanitarias del Estado (auch: Administración de las Obras Sanitarias del Estado) Partido Colorado

PDC

Partido Demócrata Cristiano

PEC

Protocolo de Expansión Comercial

PGP

Partido Por el Gobierno del Pueblo

PIT

Plenario Intersindical de Trabajadores

PIT-CNT

Plenario Intersindical de Trabajadores -

17

Convención Nacional de Trabajadores PLUNA

Primeras Líneas Uruguayas de Navegación Aérea

PN

Partido Nacional

PREALC

Programa Regional del Empleo

PVS RR SERPAJ UC UE UTE WR

para América Latina y el Caribe Politische Vierteljahresschrift Latin American Regional Reports: Southern Cone Report Servicio Paz y Justicia Unión Cívica Unión de Exportadores del Uruguay Usinas y Trasmisiones Eléctricas Administración Nacional de Usinas y Trasmisiones Eléctricas) Latin American Weekly Report

Einleitung

19

Einleitung „El Uruguay ya no es noticia. Las cárceles de la dictadura están vacías y las matracas solo se escuchan en carnaval. Con un producto por habitante estancado y un bajo nivel de inversión, no hay milagro. Los intereses de deuda externa se pagan puntualmente, la inflación se ubica en tomo al cien por ciento anual, el ingreso por habitante es de tres mil dólares anuales aproximadamente, no hay drama. La emigración del diez por ciento de la población contribuye significativamente a la descompresión social y su inserción exitosa en los diversos países de destino (desde Argentina hasta Nigeria) mantiene viva una esperanza: los uruguayos tenemos, en algún lugar del mundo, la casa de un amigo a donde ir." 1

Uruguay ist ein Land, das nur selten für internationale Schlagzeilen sorgt. Aber anders als für die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung ist für die politikwissenschaftliche Lateinamerikaforschung die República Oriental del Uruguay deshalb besonders interessant, weil ihr im lateinamerikanischen Kontext - z.T. auch darüber hinaus - in vielfacher Hinsicht eine Sonderrolle zukommt. Uruguay entspricht nicht dem lateinamerikanischen Klischee. Die abgedroschene Redewendung von der „Schweiz Südamerikas" hat in der Vergangenheit ihren Hintergrund nicht nur wegen Parallelen hinsichtlich des kollegialen Regierungssystems, das vorübergehend installiert worden war, sondern auch hinsichtlich politischer Stabilität, wirtschaftlicher Prosperität und hoher Lebensqualität. George Pendle gab seiner 1957 erschienenen Monographie über Uruguay nicht ohne Grund den Titel South America's First Weifare State. Bereits 1930 lag in Uruguay die Lebenserwartung bei 67 Jahren gegenüber einem lateinamerikanischen Durchschnitt von damals 35 Jahren; ein in fünfjährigem Rhythmus auf der Grundlage von Befragungen nordamerikanischer Lateinamerikaexperten erstellter Index wies für die Zeit von 1945 bis 1965 Uruguay durchgängig als demokratischstes Land des Subkontinents aus.2 Seymour Martin Lipset nannte Anfang der 60er Jahre Uruguay als einziges Land in Lateinamerika, welches „die Voraussetzungen für stabiles demokratisches Verhalten"3 erfülle. Aber obwohl sich Uruguay über Jahrzehnte als „demokratischstes Land Lateinamerikas" ausgezeichnet hatte, sah man sich dort in den 70er Jahren und der ersten Hälfte der 80er Jahre ähnlich wie in den Nachbarländern mit einer Militärdiktatur konfrontiert. Robert Dahl kommentierte dies folgendermaßen: „[...] Uruguay may be the only instance in which a relatively long-standing 1 2 3

Notaro 1991: 1. Vgl. Gillespie/González 1989: 207 und Nolte 1993: 9. Lipset 1962: 72.

20

Einleitung

democratic system has been replaced by an internally imposed authoritarian regime."4 Aufgrund der in der politischen Kultur des Landes verankerten demokratischen Tradition gelang es dann Mitte der 80er Jahre in Uruguay schneller und problemloser als in fast allen anderen lateinamerikanischen Ländern, wieder zum demokratischen Alltag zurückzukehren. Im Jahr 1992 rangierte Uruguay nicht nur bezüglich seiner politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten auf Platz eins in Südamerika,5 auch der sogenannte Human Development Index der Vereinten Nationen sah Uruguay in Lateinamerika an erster Stelle.6 Daten von 1994 weisen das Land als das mit der höchsten Lebenserwartung in Südamerika aus (72,4 Jahre).7 Der uruguayischen Hauptstadt Montevideo wiederum kommt bei einer Studie der Corporate Resources Group, die anhand von 45 Schlüsselkriterien die Lebensqualität in 120 Großstädten auf allen Erdteilen bewertete, der Status zu, die Stadt mit der höchsten Lebensqualität in Lateinamerika zu sein.8 Diese beeindruckende Bilanz ließe sich fortfuhren. Es soll hier aber kein rosarotes Bild einer heilen Welt gemalt werden, das - mit allen positiven Aspekten - den Blick auf vorhandene Defizite, Probleme und Widersprüche verstellt. In Uruguay selbst wird die jahrelange wirtschaftliche Stagnation von der Bevölkerungsmehrheit klar und deutlich wahrgenommen, auch deshalb, weil der Bezugspunkt für eine Einschätzung der aktuellen Lebenssituation weniger die Lage in anderen lateinamerikanischen Ländern als vielmehr die eigene nationale Vergangenheit ist. Viele junge Menschen verlassen Jahr für Jahr wegen fehlender beruflicher Perspektiven das Land, die Gesellschaft überaltert zusehends. Warum nun aber widmet man sich ausgerechnet den Unternehmern und ihren Verbänden in Uruguay? Im Mittelpunkt zahlreicher politikwissenschaftlicher Untersuchungen stehen gesellschaftspolitisch relevante Akteure und ihr Handlungs- und Einflußpotential, ihre Aktivitäten und Strategien, ihre Stellung und Bedeutung in unterschiedlichen politischen Systemen. Häufig behandelt werden dabei die politischen Parteien. Dies geschieht sicher deshalb, weil die 4

5

6

7

8

Dahl 1985: 40. Gillespie geht allerdings recht weit, wenn er Dahls Äußerungen dahingehend zusammenfaßt, dieser sei zu dem Schluß gekommen, daß Uruguay wohl die einzige konsolidierte Demokratie gewesen ist, die jemals zusammenbrach. (Vgl. Gillespie 1992: 179.) Vgl. Latin American Weekly Report WR-92-03 vom 23.1.1992 unter Berufung auf Ergebnisse einer Untersuchung der unabhängigen US-amerikanischen Organisation Freedom House. Auch im letzten Freedom House Survey für 1994/1995 liegt Uruguay an der Spitzenposition, mußte sich diese allerdings mit Chile und Guyana teilen. (Vgl. Freedom House 1995: 678/679.) Vgl. Uruguay en la Coyuntura N° 341 vom 20.4.1992. Vgl. Freedom House 1995: 681/682. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 18.1.1995.

Einleitung

21

Existenz und das Funktionieren politischer Parteien allgemein als konstitutive Elemente eines modernen demokratischen politischen Systems gelten. Auch anderen soziopolitischen Akteuren gilt das politikwissenschaftliche Interesse, wie z.B. dem Militär, sozialen Bewegungen oder Gewerkschaften. Gerade im Vergleich zu den Gewerkschaften als Interessenvertretung abhängig Beschäftigter ist es auffallig, daß deren „Gegenstücke", nämlich die Organisationen der Unternehmer, kaum Untersuchungsobjekte sind, wenngleich die Existenz eines freien und privaten Unternehmertums zentrales Wesensmerkmal marktwirtschaftlich-kapitalistischer Gesellschaften ist und demgemäß auch den kollektiven Zusammenschlüssen der Unternehmer eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommen müßte. Als konkreter Untersuchungsgegenstand erfuhren die Unternehmer und die Repräsentationsorgane ihrer aggregierten Interessen, die Unternehmerverbände, in der Vergangenheit allerdings relativ wenig Aufmerksamkeit. Detlef Nolte beklagte 1987 in einem Beitrag über die Unternehmerverbände Chiles, daß mit Blick auf Lateinamerika zu den Interessenorganisationen der Unternehmer sehr viel weniger Untersuchungen vorliegen würden als zu ihrem Pendant, den Gewerkschaften, und reklamierte in diesem Zusammenhang zu Recht: „Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Problemen politischen Wandels und politischer Stabilität in Lateinamerika muss die Politik der Unternehmerverbände einbeziehen."9 Tatsächlich ist auch für den Fall Uruguay trotz der Arbeit einer Reihe von angesehenen Forschungseinrichtungen und Sozialwissenschaftlern der Forschungsstand unbefriedigend; er weist sogar noch größere Defizite und weiße Flecken auf, als für die anderen Länder des Cono Sur. Selbstkritisch stellt so auch der uruguayische Historiker Gerardo Caetano fest: „El tema de las relaciones entre los partidos políticos, el estado y las cámaras empresariales ha despertado, por lo general, una atención sólo marginal en nuestras ciencias sociales, lo que poco se corresponde [...] con lo trascendente de su influencia para entender el itinerario global del sistema político uruguayo." 1 ^

Die vorliegende Studie will einen empirischen Beitrag leisten, um dieses Forschungsdefizit abzubauen, das angesichts des in Lateinamerika im allgemeinen und in Uruguay im besonderen bereits seit einigen Jahren feststellbaren neuen Protagonismus der Unternehmer11 immer eklatanter geworden ist. Das folgende Kapitel 1 liefert hierzu den analytischen Rahmen. Im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses steht die politische Rolle der Unternehmerverbände 9 !0 11

Nolte 1987b: 545. Caetano 1992b: 15. Vgl. Luna/Valdés 1990: 15; Payne/Bartell 1995: 257.

22

Einleitung

bzw. die Frage nach deren Beitrag zur Stabilität des politischen Systems. In Form einer theoretischen Annäherung wird deswegen zunächst das Thema Stabilität ausfuhrlicher diskutiert und die Ausgangsfrage präzisiert. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich direkt dem Untersuchungsgegenstand Unternehmer/-verbände, wobei Begriffe geklärt, die Analyseeinheit bestimmt und erste Prämissen formuliert werden. Hinsichtlich der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände wird dann auf relevante Kontextbedingungen eingegangen, und es werden die Möglichkeiten der Einflußnahme auf die politische Stabilität im Zusammenhang mit grundsätzlichen Festlegungen zu den unternehmerischen Interessen, Zielen und Handlungsstrategien erörtert. Vor diesem Hintergrund werden auch die Thesen vorgestellt, die es in der Untersuchung zu überprüfen gilt. Nach einem Überblick über die bislang existierenden themenrelevanten Forschungsarbeiten schließt das Kapitel mit Anmerkungen zum methodischen Vorgehen. Kapitel 2 liefert die historischen Informationen, die zum Verständnis der weiteren Analyse notwendig sind. Der behandelte Zeitraum erstreckt sich von der staatlichen Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch der Demokratie zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Chronologisch in drei große Phasen gegliedert, werden jeweils die grundlegenden sozioökonomischen und politischen Entwicklungslinien herausgearbeitet. Parallel dazu wird auf die Unternehmerschaft und die Unternehmerverbände eingegangen, um die Merkmale des uruguayischen Entwicklungsweges auch hinsichtlich der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände zu illustrieren. Es werden die Schlüsselereignisse des jeweiligen historischen Kontexts in ihren Grundzügen behandelt, um dann gegebenenfalls auf weiterfuhrende Literatur zu verweisen. Kapitel 3 weicht insofern von der Struktur und dem Aufbau der Arbeit ab, als darin die Unternehmerverbände praktisch nicht vorkommen. Um aber grundsätzlich Aufschluß über deren Machtressourcen und Einflußpotential zu gewinnen, wird ein Überblick über die Grundzüge der Volkswirtschaft gegeben und auf längerfristige strukturelle Veränderungen hingewiesen. Dies erschien in solch einer kompakten Form sinnvoller, als entsprechende Informationen in die beiden Hauptkapitel 5 und 6 einfließen zu lassen. Zum einen werden in der zusammenfassenden Darstellung mittel- und längerfristige Trends eher deutlich, zum anderen können so vorab Hinweise gegeben werden, die als Hintergrundwissen wichtig sind. Dies gilt auch für den letzten Teil des Kapitels, welches die grupos económicos behandelt, die nicht eigentliches Untersuchungsobjekt sind.

Einleitung

23

Kapitel 4 skizziert das Spektrum der organisierten Unternehmerinteressen inklusive der rechtlichen Rahmenbedingungen. Im Zentrum der Betrachtung stehen die wichtigsten Verbände des Agrar- und Industriesektors, die auch in der weiteren Analyse Hauptuntersuchungsgegenstand sind. Behandelt werden verbandsinterne Faktoren, wie organisationsstrukturelle Merkmale, Fragen der Repräsentativität und die ideologische Ausrichtung der einzelnen Verbände. Da im folgenden auch Verbände anderer Wirtschaftssektoren berücksichtigt werden, sofern dies einen Erkenntnisgewinn im Rahmen des Untersuchungsinteresses verspricht, wird auch auf diese eingegangen, ohne allerdings detaillierte Verbandsstudien durchfuhren zu wollen. Die Kapitel 5 und 6 bilden den Hauptteil der Arbeit. Aus analytischen Gründen sind diese analog des zuvor entwickelten Analyserahmens und damit präziser als der historische Teil gegliedert. Zunächst werden die politischen, dann die sozioökonomischen Entwicklungen und Rahmenbedingungen aufgearbeitet. Dies liefert die Basis, um anschließend die politische Rolle der Unternehmerverbände im jeweiligen Kontext angemessen untersuchen zu können. Das fünfte Kapitel umfaßt den Zeitraum von 1972/73 bis 1984. Es orientiert sich an der Frage, inwieweit die Unternehmer/-verbände während der Militärdiktatur als Kollaborateure, Profiteure, Opportunisten und/oder Oppositionelle systemstabilisierend bzw. -destabilisierend agierten und wie sich die politische Rolle der einzelnen Unternehmerverbände in den drei Phasen der diktatorischen Herrschaft (Einrichtung, Versuch der Konsolidierung und Scheitern der Diktatur) eventuell unterschieden hat. Das sechste Kapitel beginnt zeitlich mit der Wiedereinrichtung des demokratischen politischen Systems und hat die Präsidentschaft von Julio Maria Sanguinetti (1985 bis 1990) und die erste Hälfte der Amtszeit des Präsidenten Luis Alberto Lacalle (1990 bis 1992) zum Gegenstand. Besonderes Augenmerk gilt den zwei im Untersuchungskontext zentralen Politikfeldern, unter Sanguinetti dem Bereich der Arbeitsbeziehungen und unter Lacalle dem Prozeß der regionalen Integration. In Kapitel 7 werden in einem abschließenden Fazit die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefaßt. Dazu wird die anfangs formulierte erkenntnisleitende Fragestellung aufgegriffen, und es werden die Ausgangsthesen diskutiert.

Überlegungen zur Problematik politischer Stabilität

1.

25

Analytischer Rahmen

Die Unternehmer und ihre Interessenzusammenschlüsse spielen in unterschiedlichen theoretischen Ansätzen direkt oder indirekt eine wichtige Rolle. So werden sie z.B. im Rahmen von Modemisierungs- und Dependenztheorien zwar sehr unterschiedlich bewertet, aber jeweils als bedeutsamer, entwicklungsfördernder oder entwicklungshemmender Faktor berücksichtigt. Aus der einen entwicklungstheoretischen Perspektive verstanden als modernisierende change agents, aus der anderen als ein in internationalen Abhängigkeitsstrukturen verhafteter, von außen konditionierter „Brückenkopf', wurden sie aber trotz der ihnen zugeschriebenen Bedeutung empirisch kaum erforscht. Dies gilt ähnlich für marxistische Ansätze, die den Staat in kapitalistischen Gesellschaften in der Regel als Instrument der herrschenden Klasse bestimmen und damit den Unternehmern - bzw. der Bourgeoisie - die Macht zuschreiben, über den Staat ihre Interessen umsetzen zu können. Demgegenüber widmen die Theorien der Interessenvermittlung der gesellschaftlichen Stellung, Struktur und Funktionsweise von Interessengruppen und damit auch von Unternehmerverbänden besondere Aufmerksamkeit. Während Pluralismustheoretiker vor allem die Strategien, Methoden und Kanäle, die Verbände benutzen, um ihre Interessen durchzusetzen, sowie deren Ressourcen und wichtigsten Ansprechpartner untersuchen, rücken die Korporatismustheoretiker die Einbeziehung der Verbände in das politisch-administrative System in den Mittelpunkt. Gemeinsam ist fast allen theoretischen Ansätzen, die die Unternehmerschaft als Akteur begreifen, daß ihnen ein systemstabilisierendes bzw. ein systemdestabilisierendes Potential zugeschrieben wird. 12 Daraus ergibt sich für diese Untersuchung die noch zu präzisierende erkenntnisleitende Fragestellung, ob und gegebenenfalls inwiefern Unternehmer und ihre Interessenverbände zur Stabilisierung oder Destabilisierung des politischen Systems beitragen.

Zu dem Beitrag, den die hier angesprochenen theoretischen Ansätze für eine empirische Forschung über die politische Rolle der Unternehmer und ihrer Interessenorganisationen im einzelnen leisten, siehe Birle/Imbusch/Wagner 1992. Dort findet sich auch eine Vielzahl von Literaturhinweisen.

26

1.1

1. Analytischer Rahmen

Überlegungen zur Problematik politischer Stabilität und Präzisierung der erkenntnisleitenden Fragestellung

Die Frage nach der Stabilität politischer Systeme ist ein zentrales Thema zahlreicher politikwissenschaftlicher Untersuchungen. Beschäftigten sich z.B. in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg US-amerikanische Politologen im Committee on Comparative Politics13 und später in den 70er Jahren die sogenannte Breakdown-¥orschvmg14 mit Fragen der politischen Stabilität, so ist es heute vorwiegend die Transitions- und Konsolidierungsforschung, die sich angesichts der weltweiten Systemwechsel (Mitte der 70er Jahre in Südeuropa, in den 80er Jahren in Lateinamerika und seit 1989 in Mittel- und Osteuropa, aber auch in Afrika und Asien) mit dieser Thematik auseinandersetzt.15 Das Untersuchungsinteresse richtete sich in der Vergangenheit in der Regel weniger auf die Stabilität politischer Systeme allgemein als vielmehr auf die Bedingungen für den Erhalt demokratischer Ordnungen, womit dem Begriff Stabilität eine entsprechend positive Konnotation zukam. Auf der 5. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft zum Thema 'Bedingungen und Probleme politischer Stabilität' wies beispielsweise Kurt Sontheimer darauf hin, daß es bei der Idee der Stabilität um die Systemerhaltung der demokratischen Regierungsform gehe, welche Grund- und Menschenrechte sowie einen offenen und freien Prozeß der politischen Willensbildung im Rahmen einer Pluralität von sozialen Gruppen und Werten garantiere. „Stabilität ist wünschenswert nur für das Gute, das Gerechte, das Positive [...]".16 Mit der Frage, was demokratische Ordnungen konstituiert, haben sich bereits mehrere Generationen von Politikwissenschaftlern beschäftigt. Diese demokratietheoretische Diskussion kann und soll hier auch nicht ansatzweise aufgearbeitet werden. Trotzdem ist es im Rahmen der vorliegenden Arbeit not13

16

Das Committee on Comparative Politics des Social Science Research Council wurde 1954 unter dem Vorsitz von Gabriel A. Almond gegründet und wandte sich vor allem der Untersuchung der bis dahin in der Forschung weitgehend vernachlässigten politischen Systeme in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu. Zu einer Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte von Almonds Modell des politischen Systems siehe Birle/Wagner 1994: 110-115. Siehe hierzu exemplarisch Linz/Stepan 1978, die sich mit dem Zusammenbruch von Demokratien befaßt haben. Grundlegend für die Transitions- und Konsolidierungsforschung sind die 1986 von O'Donnell/Schmitter/Whitehead herausgegebenen vier Bände Transitions from Authoritarian Rule. Prospects for Democracy. Siehe außerdem u.a. Baloyra 1987, Nohlen/ Solari 1988, Ethier 1990, Linz/Stepan 1991, Huntington 1991, Mainwaring/O'Donnell/ Valenzuela 1992, Higley/Gunther 1992 sowie Merkel 1994c. Sontheimer 1988: 38.

Überlegungen zur Problematik politischer Stabilität

27

wendig, festzulegen, welcher Vorstellungsinhalt dem Begriff Demokratie zugeordnet werden soll. Demokratie wird im folgenden immer als politische Demokratie, als Benennung eines Herrschafts- und Regierungssystems verstanden, das folgende Merkmale aufweist: 17 Basis der Regierungsbildung ist ein regelmäßiger, unter Ausschluß von Gewalt stattfindender Wettbewerb zwischen Individuen und organisierten Gruppen (in der Regel politische Parteien); die Auswahl des politischen Führungspersonals erfolgt auf der Basis breiter politischer Partizipation (freie und reguläre Wahlen als Minimalanforderung); die Integrität des politischen Wettbewerbs und der Partizipation wird durch gegebene zivile und politische Freiheiten, wie Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit zur Bildung von und zum Beitritt zu Organisationen, gesichert. Ähnlich wie bei Manfred Hättich 18 und Manfred Mols 19 enthält dieser Demokratiebegriff sowohl deskriptiv-prozessuale als auch normative Elemente; wirtschaftliche und soziale Aspekte hingegen bleiben als definitorische Kriterien für Demokratie ausgeklammert. Im Umkehrschluß erfüllen Diktaturen die genannten Bedingungen gerade nicht. Als politisches Prinzip impliziert Stabilität im allgemeinen eine zielorientierte und wertgebundene Setzung. 20 Denn wer von denjenigen, die ein existierendes System unterstützen, strebt nicht nach Stabilität und würde diese nicht positiv bewerten (wobei die Wertmaßstäbe von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein können)? Andere, systemkritische Akteure sehen aber gleichzeitig die vorhandene oder von den Machthabern und den sie unterstützenden Gruppen angestrebte Stabilität des zeitgenössischen Systems negativ und machen sich vielleicht sogar die Destabilisierung zum politischen Prinzip. Jenseits aller normativen Festlegungen im konkreten Einzelfall bleibt aber auf der streng begrifflichen Ebene Stabilität ein rein deskriptiver, analytischer und wertneutraler Terminus. Stabilität ist nicht per se an einen bestimmten Systemtyp gebunden, sondern beschreibt vielmehr einen Systemzustand. Je nach politischem System sind allerdings die Bedingungsfaktoren für Stabilität z.T. unterschiedlich. So wichtig die Frage nach der Stabilität politischer Systeme in vielen wissenschaftlichen Abhandlungen ist, so diffus, vage und relativ ist häufig die Bestimmung des Stabilitätsbegriffs. Die Relativität des Stabilitätsbegriffs wird 17

18 19 20

Übernommen ist die folgende Definition, die bereits eine Operationalisierung enthält, von Diamond/ Linz/Lipset 1990: 6/7, die sich am Konzept der Polyarchie von Robert Dahl (1971 und 1989) orientiert haben. Vgl. Hättich 1967: 164. Vgl. Mols 1985: 27-37, besonders 35/36. Vgl. Forndran 1988: 181.

28

1. Analytischer Rahmen

allein schon durch dessen Zeitabhängigkeit deutlich. Über einen kurzen Untersuchungszeitraum von z.B. zehn Jahren werden sich die Systeme in vielen Ländern als stabil erweisen. Dieselben Länder können aber über einen zeitlichen Horizont von einem Jahrhundert betrachtet durchaus mehrere Systemwechsel aufweisen und damit als instabil gelten. Allgemein wird unter Stabilität nicht selten undifferenziert eine Kombination aus „Lebensfähigkeit, Recht und Ordnung, Wirksamkeit und Legitimität"21 verstanden. Stabilität im Sinne von Beständigkeit und Dauerhaftigkeit kann als Negativum schnell auch in die Nähe von Unbeweglichkeit und Starrheit gebracht werden. Stabil bedeutet aber auch, ein Gleichgewicht zu halten. Dies impliziert gerade die Möglichkeit der Anpassung und der angemessenen, d.h. gleichgewichtssichernden Reaktion auf Veränderungen. Dieses dem Stabilitätsbegriff inhärente, widersprüchlich anmutende Ineinander von dauerhafter Beständigkeit und anpassender Veränderung läßt sich schlüssig miteinander vereinbaren. Eberhard Sandschneider grenzt hierzu den globalen Stabilitätsbegriff im Sinne der Stabilität des gesamten politischen Systems (•» MakroStabilität) von der Stabilität der einzelnen Komplementärsysteme (•» Mikrostabilität) ab. 22 Hinsichtlich der MikroStabilität unterscheidet er noch einmal zwischen institutioneller Mikrostabilität, bei der der institutionell-organisatorische Entscheidungsrahmen eines Komplementärsystems in einem gewählten Untersuchungszeitraum konstant bleibt, und funktionaler Mikrostabilität, bei der die strukturellen Grundlagen, in denen Systementscheidungen ablaufen, unverändert und in ihnen latente und manifeste Funktionsleistungen zur Lösung anstehender Probleme erhalten bleiben. Die Stabilität eines Gesamtsystems (MakroStabilität) kann unter bestimmten Bedingungen trotz Instabilität auf der Mikroebene bewahrt werden. 23 In der Wirtschaft lassen sich beispielsweise schwere, nicht auf dem üblichen Verhandlungsweg lösbare Konflikte zwischen den Tarifpartnern mit neuen Arten der Konzertierung zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und eventuell staatlichen Instanzen begegnen. Anstelle von heftigen, im Falle einer Eskalation die Makrostabilität beeinträchtigenden Arbeitskämpfen würden so möglicherweise die in dem Komplementärsystem bestehenden Instabilitäten kompensiert und Differenzen kanalisiert. 21 22 23

Sontheimer 1988: 37. Wie schwierig eine Defintion des häufig gebrauchten Begriffs Stabilität ist, zeigt u.a. Forndran 1988: 179-181. Vgl. Sandschneider 1995: 110-134. „Fehlende Mikrostabilität in einem oder mehreren Komplementärsystemen muß nicht zwangsläufig zu Systemwechsel oder gar zum Zusammenbruch eines Gesamtsystems fuhren - zumindest dann, und solange nicht, wie es dem betroffenen System gelingt, die durch fehlende Mikrostabilität entstehenden Kosten auf Makroebene zu decken." (Sandschneider 1995: 120.)

Überlegungen zur Problematik politischer Stabilität

29

Bereits die frühe systemtheoretische Diskussion ging davon aus, daß sich soziale Systeme im wesentlichen durch Anpassung selbst erhalten. Nicht zufallig stand in Talcott Parsons sogenanntem AGIL-Schema zur Funktionsbestimmung sozialer Systeme der Buchstabe „A" für adaptation, also für die Anpassung eines Systems an seine Umwelt. 24 Wenngleich systemtheoretischen Ansätzen, die auf den Konzepten von Parsons u.a. basierten, immer wieder vorgeworfen wurde, von zu strukturfixierten und zu statischen Modellen auszugehen, ist mit dem Stichwort 'Anpassung' ein Begriff genannt worden, der auch in der hier geführten Diskussion um die Stabilitätsproblematik von Bedeutung ist. Denn gerade wenn es gelingt, sich an neue Entwicklungen anzupassen, erscheinen Beständigkeit und Veränderung nicht länger als Gegensatz, sondern im Sinne von Stabilität und Evolution als - so Sandschneider - siamesische Zwillinge einer jeden Systementwicklung. Nach diesem Verständnis ist Stabilität ein Fließgleichgewicht, das aufgrund von Veränderungen im Innern und in der Umwelt des Systems ständig neu geschaffen und wiedererlangt werden muß. „Die Voraussetzungen für die Stabilität eines Systems sind folglich nicht mehr so sehr in bestimmten Strukturmerkmalen, die auch gegen wachsende Widerstände und bei steigenden Kosten aufrechterhalten werden, sondern in der Fähigkeit eines Systems zu sehen, sich immer wieder auf neue, innere und äußere Bedingungen einzustellen und dabei die eigene Identität zu bewahren und weiterzuentwickeln. Mit anderen Worten bedeutet dies, daß nicht die Fähigkeit sozialer Systeme, sich strukturell stabil zu halten, sondern die Fähigkeit sich adaptiv und koevolutiv zu verändern und gleichzeitig die eigene Identität zu bewahren, als zentrale Voraussetzungen für ihre Stabilisierungsfahigkeit anzusehen sind."25

Der grundsätzlich wertneutrale Terminus Stabilität, wie er hier bislang erörtert wurde, erhält erst in Verbindung mit der Dimension der Legitimität einen normativen Charakter, wobei zwischen Stabilität und Legitimität allerdings kein direkter Kausalzusammenhang besteht. Anders formuliert: Stabile politische Systeme besitzen nicht zwangsläufig Legitimität, und Legitimität ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Stabilität eines politischen Systems. Viele Diktaturen bewahren sich über Jahrzehnte politische Stabilität, ohne daß ihnen damit Legitimität zukommen würde. Häufig synonym zu Legitimität wird der Terminus Legitimation verwendet. Ernesto Garzon 24 25

Vgl. Parsons 1951. An die Überlegungen von Parsons, der als der Pionier der soziologischen Systemtheorie gilt, knüpften in der Politikwissenschaft neben anderen auch David Easton und Gabriel A. Almond an. Sandschneider 1995: 129. Ganz ähnlich definiert auch Garzón Valdés Stabilität als „[...] die Disposition eines politischen Systems, so zu reagieren, daß es seine Identität bewahrt [...]." (Garzón Valdés 1988: 31.)

30

1. Analytischer Rahmen

Valdes, an dessen Argumentation sich die hier getroffene begriffliche Unterscheidung zwischen Stabilität, Legitimität und Legitimation orientiert, weist darauf hin, wie problematisch diese mangelnde begriffliche Trennschärfe ist. Denn wären Legitimation und Legitimität bedeutungsgleiche Begriffe, „[...] so besäße - da jede Herrschaftsform irgendeine Art von Legitimation besitzt - jedes existierende politische System Legitimität, was offensichtlich falsch ist." 26 Legitimation ist ebenso wie Stabilität als deskriptiver Begriff zu verstehen. Legitimation bezeichnet im Sinne von Niklas Luhmann die Anerkennung der Verfahrensregeln, mit denen z.B. eine Regierung bestimmt oder auch ein politisches System installiert wird. In repräsentativen Demokratien geschieht dies in der Regel durch allgemeine, freie, gleiche, geheime und kompetitive Wahlen; autoritäre Regime können durch einen Staatsstreich eingerichtet werden, der die Unterstützung wichtiger gesellschaftspolitischer Gruppen findet. Nach Luhmann handelt es sich bei der Legitimation durch Verfahren nicht um eine normative Sinnbeziehung, sondern um reales Geschehen. 27 Legitimation verstanden als Akzeptanz der Verfahren hängt demnach mit deskriptiv-prozessualen Kriterien zusammen, ohne automatisch Legitimität im Sinne einer moralischen Rechtfertigung als normatives Kriterium zu implizieren. Allgemein ist für die Stabilität eines politischen Systems die vorhandene Legitimation eine notwendige Bedingung, nicht aber Legitimität. Im speziellen Fall der Demokratie jedoch ist politische Stabilität ohne Legitimität nicht denkbar. Denn der Demokratiebegriff westlicher Provenienz bezieht sich sowohl auf deskriptiv-prozessuale Anforderungen (•» Legitimation) als auch auf normative Anforderungen (-» Legitimität). Legitimität ist die normative Komponente der Stabilität eines demokratischen Systems. Nach westlich geprägten Kategorien hat ein politisches System dann Legitimität, wenn es demokratischen Ansprüchen, wie sie bereits formuliert worden sind, genügt. Abzugrenzen von der Legitimität ist der Legitimitätsg/awAe. Denn anders als der Begriff der Legitimität ist der Legitimitätsglaube in einem wertneutralen Sinne zu verstehen und kann unter dem Begriff der Legitimation subsumiert werden. Beeinflußt wird die einem System zugeschriebene Legitimität (-» Legitimitätsglaube) durch die jeweilige politische Sozialisation und die politische Kultur. 28 Generell wird 26 27 28

Garzön Valdes 1988: 24. Vgl. Luhmann 1975: 37. Sidney Verba definiert politische Kultur als „[...] the system of empirical beliefs, expressive symbols, and values which defines the Situation in which political action takes place". (Verba 1965: 513.) Demnach bezieht sich politische Kultur auf die Gesamtheit der politischen Einstellungen und ergibt sich aus der Verteilung der in einer

Überlegungen zur Problematik politischer Stabilität

31

z.B. der Glaube an die Legitimität der Demokratie dort begünstigt, wo eine demokratische Tradition vorhanden und die Erinnerung daran positiv besetzt ist. Ohne zwischen Legitimität und Legitimitätsglaube zu unterscheiden,29 weisen Diamond/Linz/Lipset auf eine weitere, allerdings nicht demokratiespezifische Komponente der Stabilität hin: die erzielten Erfolge. „All governments rest on some mixture of coercion and consent, but democracies are unique in the degree to which their stability depends on the consent of a majority of those governed. [...] democratic stability requires a widespread belief among elites and masses in the legitimacy of the democratic system [...]. Democratic legitimacy derives, when it is most stable and secure, from an instrinsic value commitment rooted in the political culture at all levels of society, but it is also shaped (particularly in the early years of a democracy) by the performance of the democratic regime, both economically and politically [...]. Historically, the more successful a regime has been in providing what people want, the greater and more deeply rooted tends to be its legitimacy [...]."3®

Stabilität gründet sich auch auf eine erfolgreiche Politik bzw., wie Mols es formuliert hat: „Ein politisches System wird so lange als legitim angesehen und stabil bleiben, wie es seine elementaren Probleme in geordneten Verfahren effektiv löst."31 Auch Juan Linz als Vertreter der Breakdown-Forschung identifiziert in seinem Modell politischer Stabilität Erfolg und Effizienz als wichtige Bestimmungsfaktoren. Er unterscheidet dabei zwischen efficacy und effectiveness, die in einer engen und direkten Beziehung zueinander stehen. 32 Efficacy bezieht sich auf die Fähigkeit eines Regimes, drängende Probleme zu erkennen und Lösungen zu formulieren (Problemwahrnehmung und allgemeine Problemlösungsfahigkeit). Effectiveness meint demgegenüber die Fähigkeit, Entscheidungen umzusetzen und damit die gewünschten Resultate zu erzielen (Durchsetzungsfahigkeit und tatsächlich erbrachte Leistungen). Auch ein demokratisches politisches System kann auf Dauer ohne Erfolge und hier vor allem auch wirtschaftliche Erfolge 33 - nur schwer seine Stabilität

30 31 32 33

Gesellschaft vorhandenen Kenntnisse, Gefühle und Bewertungen gegenüber dem politischen System. (Vgl. Birle/Wagner 1994: 126.) Diese fehlende Unterscheidung ist an dieser Stelle deswegen relativ unproblematisch, da sich Diamond/Linz/Lipset konkret auf den speziellen Regimetyp der Demokratie beziehen, bei dem, anders als in autoritären Regimen, Legitimität und Legitimitätsglaube die zwei Seiten derselben Medaille sein können. Insofern stehen die Autoren, auch wenn es vordergründig so scheinen mag, nicht im Gegensatz zu der strengen begrifflichen Differenzierung von Garzón Valdés (1988); denn dieser negiert einen generellen Kausalzusammenhang zwischen der Legitimität und der Stabilität politischer Systeme allgemein. Diamond/Linz/Lipset 1990: 9. Mols 1985: 168. Vgl. Linz 1978: 19. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Prosperität und politischer Systemstabilität ist Gegenstand unzähliger politikwissenschaftlicher Werke, so z.B. auch in der

32

1. Analytischer Rahmen

bewahren. Der Erfolgsdruck, unter dem sich autoritäre Regime befinden, ist aus demokratietheoretischer Sicht langfristig aber ungleich größer. Denn, um die begriffliche Unterscheidung von David Easton zu benutzen, in einer Demokratie kann der eventuelle Mangel an spezifischer Zustimmung, die sich auf konkrete Ergebnisse bzw. Erfolge gründet, sehr viel eher durch eine diffuse, von Einzelmaßnahmen unabhängige Unterstützung des Gesamtsystems ausgeglichen werden. 34 Anders formuliert bedeutet dies: „Ein Mangel an Effizienz kann durch Legitimität kompensiert werden, ein Mangel an legitimitätsrelevanten demokratischen Orientierungen dagegen nur auf Dauer, wenn überhaupt, durch hohe Effizienz abgebaut werden." 35 Dabei kann die Perzeption unterschiedlicher Akteure bezüglich der efficacy und effectiveness ohne weiteres verschieden sein. Zusätzlich zu den „objektiv" erbrachten Leistungen gewinnen damit als weitere Dimension die „subjektiven" Wahrnehmungen, Einschätzungen und Überzeugungen eine, wenn nicht die zentrale Bedeutung. Ein legitimes demokratisches System muß immer zumindest als das kleinste Übel betrachtet werden. 36 Je weniger die Demokratie als Wert an sich geschätzt wird, desto mehr hängt ihre Überlebensfahigkeit von wirtschaftlichen Erfolgen ab. 37 Stabile demokratische Systeme zeichnen sich dadurch aus, daß Konflikte erfolgreich über demokratische Verfahren verarbeitet werden und eine Balance zwischen Konflikt und Konsens gehalten werden kann. 38 Die Basis für eine stabilitätserhaltende, erfolgreiche Konfliktverarbeitung im demokratischen System ist die breite gesellschaftliche Akzeptanz der vorhandenen Spielregeln, getragen durch eine allgemeine S y s t e m z u s t i m m u n g . 3 9 Demgegenüber werden

34

35 36 37 38

Pionierstudie zur politischen Kulturforschung von Almond/Verba 1963. „Schon seit Aristoteles wird die Frage gestellt, welche Auswirkungen wirtschaftliche Strukturen und Entwicklungen auf das politische System haben." (Imbusch/Lauth 1994: 246.) Easton erklärt den Unterschied zwischen spezifischer und diffuser Zustimmung folgendermaßen: „[...] specific support flows from the favorable attitudes and predisposition stimulated by outputs that are perceived by members to meet their demands as they arise or in anticipation. The specific rewards help to compensate for any dissatisfactions at failing to have all demands met. But simultaneously, members are capable of directing diffuse support toward the objects of a system. This forms a reservoir of favorable attitudes or good will that helps members to accept or tolerate outputs to which they are opposed or the effect of which they see as damaging to their wants." (Easton 1965: 273.) Kevenhörster 1978: 82. Vgl. Linz 1978: 18. Vgl. Gillespie 1985: 33. Vgl. Burton/Higley/Gunther 1992: 2 und Gillespie 1989: 93. in diesem Sinne kann demokratische Stabilität mit dem Terminus der demokratischen Konsolidierung bzw. konsolidierten Demokratie gleichgesetzt werden, wenn man folgende Definition übernimmt: „[...] a consolidated democracy is a regime that meets all the procedural criteria of democracy and also in which all political significant groups

Überlegungen zur Problematik politischer Stabilität

33

in diktatorischen Systemen zur Aufrechterhaltung der Stabilität aufkommende Konflikte eher durch autoritäre Maßnahmen eingedämmt oder verhindert. Auf diese Weise kann es gelingen, über einen bestimmten Zeitraum sehr effektiv Stabilität zu sichern (•» repressive Stabilität 40 ). Wenn Akteure bestrebt sind, die Stabilität eines Systems zu stützen, findet dies darin seinen Ausdruck, daß sie sich freiwillig dem Regime gegenüber loyal zeigen. An dieser Stelle zeigt es sich, wie wichtig es ist, die beiden Begriffe Regime und Regierung analytisch voneinander zu trennen. Denn Loyalität gegenüber dem Regime heißt nicht gleichzeitig unbedingt Loyalität gegenüber der Regierung. Es gehört z.B. geradezu zu den demokratischen Wesensmerkmalen, daß die Opposition auf eine Ablösung der Regierung hinarbeitet, indem sie die nächsten Wahlen gewinnen will. Ohne also loyal gegenüber der Regierung, also regierungstreu zu sein, wird damit aber nicht das Regime an sich in Frage gestellt und demzufolge auch nicht die Makrostabilität beeinträchtigt. Regime kann in Anlehnung an Robert Fishman verstanden werden als „[...] formelle und informelle Organisation der politischen Machtzentren und ihre jeweils besonders ausgeformten Beziehungen zur Gesellschaft. Das bedeutet, ein Regime definiert die Zugänge zur politischen Macht und bestimmt damit das Verhältnis zwischen den politischen Machthabern und jenen, die nicht über politische Macht verfügen [...]. Regime sind also dauerhaftere Formen politischer Herrschaftsorganisationen als es bestimmte Regierungen sein können. [...] Regime verkörpern die Normen, Prinzipien und Verfahrensweisen der politischen Organisation des Staates [...]." 41

Kommen wir nun noch einmal auf den Begriff der Stabilität im Sinne der Makrostabilität unabhängig vom Regimetyp zurück. Auch Adam Przeworski betont im Rahmen seines rational c/jo/ce-Ansatzes, daß die Frage nach der Legitimität eines politischen Systems allein zu kurz greift, um auf dessen Stabilität schließen zu können. Entscheidender Faktor für die Systemstabilität seien vielmehr vorhandene oder fehlende bessere Alternativen. 42 Wolfgang Merkel faßt diese Überlegungen so zusammen, daß sich der Kreis der Argumentation,

40

41 42

accept established political institutions and adhere to democratic rules of the game." (Burton/Higley/Gunther 1992: 3.) [Hervorhebung im Original, C.W.] Vgl. Welzel 1994: 68. Merkel 1994a: 10/11. Die Begriffe Regime und politisches System werden in der vorliegenden Arbeit weitgehend synonym verwendet. „What matters for the stability of any regime is not the legitimacy of this particular system of domination but the presence or absence of preferable alternatives." (Przeworski 1991: 51/52.)

34

1. Analytischer Rahmen

wie sie hier mit der begrifflichen Unterscheidung in Anlehnung an Garzön Valdés begonnen wurde, schließt: 43 „[...] der Mangel an und der Verfall von Legitimität bzw. des Legitimitätsglaubens (Max Weber) hat keineswegs automatisch den Zusammenbruch eines Regimes zur Folge. Gälte eine solche eherne Regel, dann müßte erklärt werden, warum so viele autoritäre Regime so lange Bestand hatten, obwohl es ihnen von Anfang an an Legitimität mangelte. Entscheidend für die Bestandsgefährdung oder Überlebensfähigkeit eines politischen Systems sei vielmehr, ob realistische, kalkulierbare und zu bevorzugende Systemalternativen bestehen, die die Bürger veranlassen könnten, dem Ancien Régime die aktive und passive Loyalität zu entziehen oder gar gegen es zu rebellieren. [...] Nicht der Zusammenbruch der Legitimität eines Regimes, sondern die Organisation kollektiver Projekte und das Abzeichnen einer Gegenhegemonie fur eine andere Zukunft, bedrohen erst die alte Herrschaftsordnung." 44

Inwieweit eine Systemalternative kein rein gedankliches und abstraktes Konstrukt bleibt, sondern tatsächlich realistische Dimensionen annimmt, hängt maßgeblich von dem Handlungs- und Durchsetzungspotential derjenigen Akteure ab, die aufgrund ihrer eigenen Wahrnehmungen dem bestehenden System ein anderes vorziehen. Deren Handlungsstrategien und deren Fähigkeit, mit anderen Akteuren Koalitionen gegen die bestehende Herrschaftsordnung zu bilden, entscheiden letztendlich darüber, ob die MakroStabilität soweit beinträchtigt wird, daß es zu einem Systemwechsel kommt. Gerade den Unternehmern als relativ exponierte Akteure - und mit ihnen ihren Interessenorganisationen - kann in diesem Kontext, wie im folgenden Kapitel ausführlicher zu erörtern ist, eine besondere Bedeutung zukommen. Zwar werden die Rahmenbedingungen für das Handeln von politisch relevanten Akteuren, wie den Unternehmern bzw. deren Interessenverbänden, durch strukturelle und systemische Gegebenheiten gesetzt. 45 Insofern ist auch deren (De-)Stabilisierungspotential und, allgemeiner formuliert, deren politische Rolle nur nach genauer Kenntnis der zeithistorischen Zusammenhänge angemessen zu analysieren. Dies läßt allerdings keine deterministischen Rückschlüsse auf die faktische Ausgestaltung der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände bzw. auf deren konkrete Haridlungsstrategien zu.

43

44 45

Der Genauigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß hierzu das, was im folgenden als „Legitimitätsglaube" in einem wertneutralen Sinn bezeichnet wird, wie bereits erörtert unter dem deskriptiven Begriff Legitimation zu subsumieren ist. Merkel 1994b: 315/316. Aufgrund dieser Prämisse werden anders als im akteurstheoretischen Ansatz von Przeworski (vgl. Bos 1994: 83) strukturelle Faktoren im folgenden nicht ausgeklammert.

35

Überlegungen zur Problematik politischer Stabilität

Die wesentlichen, hier erörterten Bedingungsfaktoren politischer Stabilität, die z.T. auch in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen, lassen sich wie folgt schematisch zusammenfassen: Schema 1: Politische Stabilität

t 4-

Makrostabilität

t

Mikrostabilität

t 4

Auf der Basis der bisherigen Überlegungen ist die anfangs formulierte erkenntnisleitende Fragestellung folgendermaßen zu präzisieren: Tragen die Unternehmer und ihre Interessenverbände im jeweiligen zeithistorischen Kontext auf der Makroebene bei a) zur politischen Destabilisierung, indem sie Systemalternativen vertreten und sich dann eventuell sogar an der Organisation kollektiver Projekte, die die Herrschaftsordnung bedrohen, beteiligen, oder b) zur politischen Stabilisierung, indem sie die Verfahren innerhalb eines Systems akzeptieren und dem Regime gegenüber Loyalität zeigen, oder c) weder zur Destabilisierung noch zur Stabilisierung aufgrund besonderer, gegebenenfalls noch zu bestimmender Umstände?

1. Analytischer Rahmen

36

1.2

Konzeptionelle Annäherung an den Untersuchungsgegenstand und Thesenformulierung

1.2.1

Bestimmung der Analyseeinheit

Bezüglich des hier mit dem Begriff Unternehmer benannten Untersuchungsobjekts gibt es im sozialwissenschaftlichen sowie im allgemeinen Sprachgebrauch eine Vielzahl von Bezeichnungen. Begriffe wie Arbeitgeber, privater Sektor, Wirtschaftselite, Kapitalist, in Grenzfallen auch Bourgeoisie und Bürgertum bezeichnen häufig ein und denselben Akteur, nicht ohne allerdings von völlig unterschiedlichen ideologischen Implikationen auszugehen. Einige der existierenden Studien zu diesem Akteur weisen den Mangel auf, daß sie durch die gewählte Begrifflichkeit gleichzeitig ein theoretisches Konstrukt übernehmen oder entwickeln, das eine kausale Vorbestimmtheit impliziert. Dieser Determinismus fuhrt dazu, daß nicht die Logiken des politischen Verhaltens des untersuchten Akteurs ergründet, sondern vielmehr selektiv lediglich den jeweiligen Paradigmen entsprechende Aktionen und Verhaltensweisen des Untersuchungsobjekts herausgestellt werden, um damit die eigenen theoretischen Vorgaben zu bestätigen. Im folgenden wird der Begriff Unternehmer in einem deskriptiven Sinn verwendet, ohne damit eine theoretisch-ideologische Konnotation verbinden zu wollen. Als Unternehmer werden die zentralen Akteure in marktwirtschaftlichkapitalistischen Wirtschaftsordnungen definiert, die für ein Unternehmen Leitungs- und Entscheidungsfunktionen wahrnehmen und Eigentum an dem Unternehmen personifizieren. 46 An dieser Stelle ist folgende Klärung notwendig: Wie in einigen anderen wissenschaftlichen Studien trennen auch Schubert/Tetzlaff/Vennewald in ihrem Konzept der strategischen und konfliktfahigen Gruppen die Landbesitzer von der Unternehmerschaft, behandeln also beide in einer eigenen Kategorie. 47 Ähnlich würden auch in Uruguay selbst die landwirtschaftlichen Grundbesitzer kaum als empresarios bezeichnet. In der hier vorliegenden Untersuchung aber werden diese analog den Unternehmern aus den Bereichen Industrie, Handel und Dienstleistungen als Agrarunternehmer benannt, also ebenfalls unter dem Begriff Unternehmer subsumiert, um eine einheitliche Bezeichnung für das Untersuchungsobjekt zu erhal46 47

Vgl. Anheier/Seibel 1987: 602. Vgl. Schubert/Tetzlaff/V ennewald 1994: 83-87. Auch Hartmann unterscheidet in seiner Untersuchung über Verbände in der westlichen Industriegesellschaft aus dem Jahre 1985 explizit zwischen Unternehmerverbänden und Bauernverbänden.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

37

ten. Wenn hier verallgemeinernd von „den Unternehmern" die Rede ist, soll dies allerdings keineswegs bedeuten, alle Unternehmer wären etwa pauschal als eine homogene Klasse zu betrachten. Vielmehr sind die im weiteren Verlauf der Arbeit genannten Differenzierungen immer mitzudenken. Offe/Wiesenthal haben darauf hingewiesen, daß sich die Machtbasis einzelner Unternehmer im wesentlichen auf ihr Unternehmen gründet. 48 Anders als Arbeitnehmer verfügen Unternehmer je nach Größe und volkswirtschaftlicher Bedeutung ihres Unternehmens über eine eigene, individuelle Verhandlungsmacht und verschiedene Artikulationsmöglichkeiten. Für bestimmte Unternehmer kann es sehr viel effektiver sein, Interessen individuell oder über einen grupo econömico49, dem sie angehören, als über einen Unternehmerverband, also der organisierten Interessenvertretung der Unternehmer, durchzusetzen. Allein deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, daß sich alle Unternehmer in Verbänden organisieren und daß in Unternehmerverbänden das Gesamtspektrum der Unternehmerinteressen repräsentiert ist. Wenn Offe/Wiesenthal allerdings das Machtpotential der Unternehmer darauf reduzieren, Investitionen verweigern zu können, und daraus die Schlußfolgerung ziehen, dem kollektiven politischen Handeln der Unternehmer und damit den Unternehmerverbänden komme nur eine nachgeordnete Bedeutung zu, erscheint dies doch zu pauschal. Denn nur wenigen Großunternehmern dürfte es tatsächlich gelingen, als einzelne oder Teil eines grupo econömico wirklich entscheidend Einfluß auf die politischen Entscheidungsträger auszuüben oder gar durch die Androhung einer Investitionsverweigerung eine Regierung so unter Druck zu setzen, daß

48 49

Vgl. Offe/Wiesenthal 1980: 83. Nach der Definition von Nathaniel H. Leff sind grupos económicos Unternehmen, die mit mehreren Gesellschaften auf unterschiedlichen Märkten operieren und dabei unternehmerisch und finanziell einer gemeinsamen Kontrolle unterworfen sind. (Vgl. Leff 1984: 210.) In diesem Sinne kommt dem spanischen Ausdruck grupo económico als Äquivalent im Deutschen wohl der Begriff Konzern am nächsten. Zu einer komplexeren Definition des Begriffs siehe Stolovich u.a. (1988: 33), die zwischen a) einer abstrakten und b) einer konkreten Ebene unterscheiden. Sie verstehen unter grupo económico: a) eine Einheit der Kapitalzentralisierung bzw. eine Wirtschaftseinheit der großen Kapitalmengen mit hohem Zentralisierungsgrad; eine Einheit der Kapitalakkumulation, die einer besonderen Logik der Akkumulation enspricht (Logik der Gruppe gegenüber der Logik eines einzelnen Unternehmens); eine der fortgeschrittensten Formen der Kapitalaufwertung; b) Kapital, das mit einer Einheit von Personen identifiziert werden kann (Familien, Gruppe von Familien, Gruppe von Personen), die dieses Kapital besitzt oder kontrolliert; Kapital, das sich in konkreter Form materialisiert als eine Einheit von Unternehmen oder eines großen, diversifizierten Unternehmens. Zur Operationalisierung des Begriffs siehe Stolovich u.a. 1988: 277-281.

38

1. Analytischer Rahmen

Entscheidungen zu ihren Gunsten ausfallen. 50 Aber selbst für diese kleine Gruppe von Unternehmern kann die verbandliche Organisation einen Vorteil bieten, nämlich „[...] daß sie ihre Interessen mit dem Anspruch der Repräsentativität für einen ganzen Wirtschaftszweig zu ummanteln vermögen." 5 ! Dies mag für manche Großunternehmer ein ausreichendes Kriterium sein, um sich einem Verband anzuschließen. Kleinere Unternehmen besitzen hingegen in der Regel kaum eine individuelle Verhandlungsmacht. Wenngleich für diese eine verbandliche Organisation dann an Anziehungskraft verliert, wenn große Unternehmen mit womöglich divergierender Interessenlage den Verband dominieren, können sie sich, ähnlich wie die Arbeiter, nur im Zusammenschluß mit anderen Gehör verschaffen. Im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses der vorliegenden Arbeit stehen die führenden nationalen Unternehmerverbände des Industrie- und des Agrarsektors: die Cámara de Industrias del Uruguay, die Asociación Rural del Uruguay und die Federación Rural. Ausschlaggebend für diese Auswahl war die Tatsache, daß die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Entwicklung Uruguays langfristig wesentlich durch die Gegenüberstellung von Industrie und Landwirtschaft geprägt worden ist, die mit der Konfliktlinie zwischen Stadt und Land gleichgesetzt werden kann ist. Dieser Gegensatz kommt durch ein geflügeltes Wort zum Ausdruck, welches besagt, daß Uruguay aus „zwei Ländern" besteht. Die eine Hälfte der Bevölkerung lebt im Landesinnern, während sich die andere Hälfte auf Montevideo konzentriert. Die Hauptstadt ist das Zentrum schlechthin, in politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht. Das Landesinnere liefert die Ressourcen, die das einstige wirtschaftliche Erfolgsmodell Uruguays begründeten: Fleisch und Wolle. Neben der Trennung zwischen Stadt und Land kommt anderen sogenannten cleavages kaum Relevanz zu; Konflikte, die sich in anderen Ländern aus ethnischen oder religiösen Problemen, aus der Rivalität verschiedener Machtzentren, aus regionalen Unterschieden, aus einem extremen sozialen Gefalle, aus Klassenpositionen und Aspekten der Schichtzugehörigkeit ergeben, sind in Uruguay vergleichsweise unbedeutend. 52

50

51 52

Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß es Fälle gibt, bei denen der Staat als entscheidender Wirtschaftsakteur in Erscheinung tritt. Hier dürfte sich das Sanktionspotential einzelner Unternehmer noch einmal erheblich relativieren. Hartmann 1992: 262. „Being a small, ethnically and linguistically homogeneous country, Uruguay's politics were not marked be the regional and communal rivalries that rent most of Latin America." (Gillespie/Gonzälez 1989: 210.)

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

39

Die Konzentration auf die genannten Verbände bedeutet nicht, daß weitere wichtige Verbände vollkommen ausgeblendet bleiben. Diese finden vor allem dann Berücksichtigung, wenn dadurch für die Untersuchung relevante Zusatzinformationen gewonnen werden können. Hinsichtlich der Bestimmung der Analyseeinheit sei abschließend daraufhingewiesen, daß im folgenden nicht unterschieden wird zwischen Wirtschaftsverbänden, die die wirtschaftlichen Interessen der Unternehmer eines Wirtschaftssektors gegenüber Dritten, wie z.B. staatlichen Einrichtungen, vertreten, und Arbeitgeberverbänden, die primär als Interessenvertretung der Unternehmer gegenüber Gewerkschaften agieren. Denn diese organisatorische Trennung ist nicht nur in Uruguay, sondern für viele lateinamerikanische Länder unüblich. 53 Beide Funktionsbereiche werden allerdings im Rahmen der Arbeit durchaus berücksichtigt.

1.2.2

Kontextbedingungen

Bei der Präzisierung der erkenntnisleitenden Fragestellung wurde darauf verwiesen, daß eine Analyse der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände nur möglich ist unter Berücksichtigung der zeithistorischen Zusammenhänge. Die Unternehmer und ihre Verbände agieren als politische Subjekte in einem bestimmten Kontext, der auch auf die Ausgestaltung ihrer politischen Rolle, ihr Potential zur Systemstabilisierung bzw. -destabilisierung, ihre Einflußmöglichkeiten und Verhandlungsmacht (bargaining power54) wirkt. Bezüglich dieser Kontextbedingungen wird im folgenden unterschieden zwischen einer politischen Dimension (-» Regimetyp) und einer sozioökonomischen Dimension (-» Entwicklungsstil).55 53

54

55

Vgl. Nolte 1987a: 613. Auch Estrada/Masi kamen in ihrer CIEDLA-Studie über die Spitzenverbände der Wirtschaft in elf lateinamerikanischen Ländern zu dem Ergebnis, daß wirtschaftspolitische Interessenvertretung und Arbeitgeberaufgaben in der Regel von ein und demselben Verband übernommen werden. (Vgl. Estrada/Masi 1983: 9.) Diese nicht vorhandene strikte Aufgabentrennung ist im übrigen kein rein lateinamerikanisches Phänomen, sondern auch in vielen europäischen Ländern verbreitet. (Vgl. Hartmann 1992: 262.) Siehe zu diesem Begriff auch die Arbeit von Hans-Joachim Lauth, der in seiner Analyse der mexikanischen Gewerkschaften zwischen politischer und ökonomischer bargaining power unterscheidet. (Vgl. Lauth 1991: 43-48.) Die weiteren Ausführungen basieren auf dem im Rahmen des genannten DFG-Projekts entworfenen, als „Leitfaden" gedachten Untersuchungskonzept von Birle/Imbusch/ Wagner 1992: 41-55, das hier für den Fall Uruguay entsprechend modifiziert und weiterentwickelt wurde. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Theorien unternehmerischen Handelns aus soziologischer Sicht, die nicht Gegenstand dieser Arbeit sind, siehe Oesterdiekhoff 1993.

1. Analytischer Rahmen

40

Schema 2: Die Kontextbedingungen für die Unternehmer und ihre Verbände

r

t

t

Politische Rolle d e r U n t e m e h m e r / - v e r b ä n d e

* V

4

J

Die Strukturen des politischen Kontexts, die den Rahmen abstecken, in dem die Unternehmer und ihre Verbände agieren, werden grundsätzlich durch den jeweiligen Regimetyp bestimmt. In einem Vergleich von 20 lateinamerikanischen Ländern im Zeitraum von 1960 bis 1980 haben Sloan/Tedin idealtypisch fünf Regimetypen unterschieden: 56 Demokratie, bürokratischer Autoritarismus, Kommunismus, traditioneller Autoritarismus und als Residualkategorie Übergangsregime. Für den Fall Uruguay sind davon nur zwei Regimetypen relevant: Demokratie und (bürokratischer) Autoritarismus.57 Je nach Regimetyp sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für die verbandliche Organisation und Aktion unterschiedlich. Während autoritäre Regime sehr viel leichter die Gesetzgebung in ihrem Sinne verändern bzw. sich auch über geltendes Recht hinwegsetzen können, ist bei demokratischen Regimen davon auszugehen, daß per definitionem den rechtlichen Grundlagen für z.B. Vgl. Sloan/Tedin 1987. Vergleichende Untersuchungen, die eine Typologisierung von Regierungssystemen zum Ziel haben, besitzen in der Politikwissenschaft eine lange Tradition. Bereits der griechische Philosoph Aristoteles legte mit seiner Analyse von 158 Verfassungen den Grundstein für die spätere politikwissenschaftliche Forschung, an die auch z.B. die „modernen Klassiker" der Vergleichenden Regierungslehre, wie Carl Joachim Friedrich (1937), Hermán Finer (1949) und Karl Loewenstein (1957) anknüpften. (Vgl. Birle/Wagner 1994: 104-106.) Auf eine tiefergehende Diskussion der Problematik von Typologien politischer Systeme wird hier verzichtet, da dies für die vorliegende Arbeit nicht relevant ist. (Siehe dazu die Ansätze bei Jesse 1991.) Auf das Konzept des bürokratischen Autoritarismus, mit dem Guillermo O'Donnell das Aufkommen der Militärdiktaturen in Lateinamerika seit Ende der 60er Jahre zu erklären versuchte, wird hier nicht weiter eingegangen. Siehe hierzu O'Donnell 1973 und 1979 sowie für eine Überprüfung der theorieimmanenten Stichhaltigkeit des Konzepts Lauth 1985.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

41

die Bildung von Verbänden oder hinsichtlich Vereinigungs- und Meinungsfreiheit eine völlig andere Qualität zukommt. Über diese eher formal-juristische Ebene hinaus sind das Zuordnungsverhältnis der relevanten Akteure (neben den Unternehmerverbänden z.B. die politischen Parteien, Gewerkschaften, Militär und vielleicht auch die Kirche), die Formen der politischen Auseinandersetzung und die Ausgestaltung des politischen Prozesses komplett verschieden. Der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände kommt in autoritären Regimen mit ausschließendem Charakter eine andere Bedeutung zu als in pluralistisch verfaßten Systemen, die nach demokratischen Prinzipien gestaltet sind und über rechtsstaatliche Garantien verfugen. Dies bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, daß einzelne Akteure in autoritären Regimen über schlechtere Zugangsmöglichkeiten zu den Machthabern verfugen müssen als in einer Demokratie. Generell kann bei der Analyse nicht nur von den Unternehmerverbänden als Akteuren die Rede sein, die von sich aus auf ein politisches System und dessen Stabilität wirken, sondern es ist auch zu berücksichtigen, welche politische Rolle ihnen von Seiten des Staates 58 je nach Regimetyp zugeordnet wird. In erster Linie für demokratische Systeme gilt das Ergebnis der Verbändeforschung, nach dem im Verhältnis zwischen Staat und Unternehmerverbänden keine „Einbahnstraße" besteht (wobei dies nicht nur auf die Interessenorganisationen der Unternehmer zutrifft, sondern sich auch auf andere Verbände übertragen läßt). Zwar versuchen die Verbände, die staatlichen Entscheidungen zu beeinflussen, zugleich aber ist auch der Staat „[...] daran interessiert, mit den wichtigsten Verbänden zu kooperieren, sie im Vorfeld politischer Entscheidungen zu konsultieren und sie damit in eine gesamtstaatliche Verantwortung einzubinden." 59 Die Struktur autoritärer Regime erlaubt demgegenüber sehr viel eher, Verbände vom politischen Prozeß auszugrenzen oder sie in autoritärkorporatistische Muster einzubinden, die staatlichen Instanzen größere Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten gewähren.

58

59

Staat wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit definiert als „[...] dauerhafte Herrschaftsstruktur, die in ihrem Kern die legitimen oder illegitimen Zwangsmittel einschließt, die notwendig sind, um eine Gesellschaft zu regieren und die dafür notwendigen Ressourcen aus dieser zu ziehen." (Merkel 1994a: 11.) Die Merkmale eines Staates aus der klassischen staatsrechtlichen Sicht sind, daß die Staatsgewa/i über ein Staatsvo/fc in einem bestimmten Staatsgebiet ausgeübt wird. Zu einer staatstheoretischen Annäherung siehe Thiery 1994: 207-211. Weber 1991: 728. (Hervorhebung C.W.)

1. Analytischer Rahmen

42

These 1: Das Interesse von staatlicher Seite, Unternehmer und ihre Verbände in den politischen Prozeß einzubinden und/oder sich entfalten zu lassen, ist je nach Regimetyp unterschiedlich ausgeprägt und betrifft die einzelnen Verbände in unterschiedlichem Maße. Der sozioökonomische Kontext, der für die politische Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände relevant ist, wird im wesentlichen durch den Entwicklungsstil bestimmt. Nohlen/Fernändez B. unterscheiden anhand der Rolle von Staat und Markt im Wirtschaftsprozeß grundsätzlich zwischen sozialistischen und kapitalistischen Entwicklungsstilen (Dominanz der Politik gegenüber der Ökonomie versus Dominanz der Ökonomie gegenüber der Politik). 60 Neben dem Verhältnis von Ökonomie und Politik (a) identifizieren sie drei weitere Grundvariablen, die eine Differenzierung in vier verschiedene Entwicklungsstile gemäß der folgenden Auflistung erlauben: a) Verhältnis von Ökonomie und Politik: kapitalistisch

gemäßigt kapitalistisch

gemäßigt sozialistisch

sozialistisch

regulierter „Markt"

Plan

direkte Verfolgung sozialer Ziele

soziale Ziele zwecks Bildung von Sozialkapital

b) wirtschaftliche Regelungsmuster: freier Markt

staatsinterventionierter Markt

c) soziale Wohlfahrt: subsidiäre soziale Maßnahmen

komplementäre Sozialpolitik

d) Verbindung mit dem kapitalistischen Weltmarkt, die über zwei Kriterien überprüft werden kann: Öffnung zum kapitalistischen Weltmarkt: freihandels-integriert

protektionistisch integriert

selektiv integriert

dissoziiert

Kapitalimport geregelt und beschränkt

Kapitalimport ausgeschlossen

Behandlung des Auslandskapitals: Kapitalimport frei

60

Kapitalimport gelenkt

Vgl. Nohlen/Fernândez B. 1988: 417/418.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

43

Erfahrungen mit sozialistischen Entwicklungsstilen liegen in Uruguay nicht vor, so daß dieser Bereich hier nicht weiter behandelt wird. Im Rahmen der Logik kapitalistischer Entwicklungsstile kommt der Unternehmerschaft gegenüber anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen eine privilegierte Stellung zu. 61 Die strukturelle Machtposition der Unternehmer ergibt sich u.a. aus ihrem Besitz bzw. ihrer Kontrolle über die Produktionsmittel, über die Arbeitskraft und den Arbeitsprozeß sowie aus den Erfordernissen der kapitalistischen Organisation der Ökonomie, die ihnen die Hauptrolle im Wirtschaftsleben zuschreibt. 62 Die Handlungsfreiheit des Staates gegenüber den Unternehmern wird insofern begrenzt, als der Staat als Garant und Reproduzent der generellen Bedingungen des Kapitalismus fungiert. 63 Es wäre allerdings eine deterministische Vereinfachung, die Regierung und staatliche Instanzen lediglich als Agent der Unternehmer bzw. Wirtschaftselite zu verstehen. Andererseits ist es ebenso eine kritiklose Vereinfachung, von einem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte auszugehen, in dem sich jeder gleichermaßen durchsetzen kann. Erst die differenzierte Analyse gibt Aufschluß über den Zusammenhang zwischen der privilegierten Situation der Unternehmer in kapitalistischen Wirtschaftssystemen und deren konkreter politischer Rolle, Ausmaß und Umfang ihres politischen Einflusses sowie der relativen Autonomie des Staates. 64 Dies gilt um so mehr, da die strukturelle Privilegierung der Unternehmerinteressen uneinheitlich ausfallt. Diese hängt u.a. ab von der Größe und der Position des Unternehmens in der Volkswirtschaft sowie von der Struktur, der Bedeutung und der internationalen Einbindung des Wirtschaftssektors, in dem ein Unternehmen angesiedelt ist. Wirtschaftlich potente grupos económicos beispielsweise haben aufgrund ihrer Marktstellung prinzipiell eine größere Verhandlungsmacht als mittelständische Unternehmen. Von entscheidender Bedeutung für das Ausmaß der strukturellen Privilegierung kann außerdem die Position des Staates in der Ökonomie sein. Wenn etwa dem Staat als eigenständigem Akteur im Wirtschaftsleben eine zentrale Rolle zukommt und in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen staatliche Betriebe eine Monopolstellung haben, ist der Stellenwert und die Stellung der Privatwirtschaft - besonders der Teile der Unternehmerschaft, die sich in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis befinden - grundsätzlich anders zu beurteilen, als wenn sich staatliche Wirt61 62 63 64

Vgl. u.a. Dahl/Lindblom 1976: XXXVI; Lindblom 1977: 175. Vgl. Przeworski/Wallerstein 1988: 11. Vgl. Luna/Valdes 1990: 10; Rueschemeyer/Evans 1985: 62. Ausführlicher zum Konzept der relativen Autonomie des Staates in Lateinamerika siehe etwa Anglade/Fortin 1990.

44

1. Analytischer Rahmen

schaftsaktivitäten darauf beschränken, einen mehr oder weniger verbindlichen Orientierungsrahmen festzulegen. These 2: Der Entwicklungsstil, der von einer Regierung gewählt wird, wirkt sich auf die Struktur der organisierten Unternehmerinteressen sowie die Machtressourcen und Handlungsstrategien der Unternehmerverbände als kollektive politische Akteure aus.

1.2.3

Einfluß, Interessen, Ziele und Handlungsstrategien der Unternehmer

Unter Beachtung der bisherigen Differenzierungen ist von der Prämisse auszugehen, daß Unternehmern - mit ihren Verbänden - als den zentralen Akteuren in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftssystemen auch eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Stabilität eines politischen Systems zukommt. Sie können wesentlich dazu beitragen, daß eine Demokratie gesamtgesellschaftlich an Legitimation verliert und ernsthaft Systemalternativen in Betracht gezogen werden, indem sie dem Regime ihre Unterstützung entziehen. Ebenso können sie durch ein grundsätzlich loyales Verhalten gegenüber dem Regime ihren Beitrag zur Makrostabilität leisten, ohne dabei generell auf der Mikroebene darauf verzichten zu müssen, für die eigenen Interessen einzutreten und dabei auch Konflikte mit der Regierung auszutragen. Indem die Unternehmer und ihre Verbände in den beiden genannten und weiteren denkbaren Formen die Mikrobzw. Makrostabilität eines Systems beeinflussen, können sie prinzipiell wiederum eine Veränderung von Entwicklungsstil und Regimetyp bewirken, also die Kontextbedingungen für ihre politische Rolle verändern.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

Schema 3: UnternehmeiV-verbände und Stabilität

45

46

1. Analytischer Rahmen

Wenn danach gefragt werden soll, wie über Unternehmerverbände die Stabilität eines politischen Systems beeinflußt wird, ist zunächst zu klären, was unter dem Begriff Einfluß überhaupt zu verstehen ist. Ruth Zimmerling identifiziert bei ihrer Diskussion des Einflußbegriffes zwei Einflußtypen, die in einer engen Beziehung zueinander stehen: zum einen das, was ein Akteur tun kann, und zum anderen das, was ein Akteur tun will. Es geht also um die Fakten im Sinne der Handlungsfähigkeiten eines Akteurs und die gegebenen Umwelt- bzw. Rahmenbedingungen sowie um die Präferenzen, die sich aus den eigenen Vorstellungen, Werthaltungen, Interessen und Zielen ergeben. 65 Zusammenfassend liegt Einfluß dann vor, „[...] wenn ein Akteur in einer gegebenen Situation eine Handlungsentscheidung fallt, die er in der gleichen Situation ohne einen Impuls, der von einem anderen Akteur ausgeht, so nicht gefallt hätte." 66 Ergänzend weist Peter Birle in seiner Untersuchung der politischen Rolle der argentinischen Unternehmerverbände darauf hin, daß bei einer Analyse des Verhältnisses zwischen Unternehmerverbänden und politischen Entscheidungsträgern zusätzlich Handlungen zu berücksichtigen sind, die nicht unbedingt auf einem Impuls eines anderen Akteurs beruhen, sondern sich aufgrund internalisierter Werthaltungen ergeben. Es seien daher „[...] sowohl die konkreten Einflußhandlungen von Unternehmern [zu] untersuchen als auch diejenigen Strukturen und Situationen, die solche Handlungen aus der Perspektive der Unternehmer überflüssig machen." 67 Dies kann an einem einfachen Beispiel schlüssig erläutert werden: Wenn eine den Industriesektor begünstigende Steuersenkung implementiert wird, ohne daß im Vorfeld aus der Industrieunternehmerschaft Forderungen in diese Richtung gekommen sind, muß dies keineswegs ein Indikator für mangelndes Einflußpotential oder eine unbedeutende Position dieser Unternehmer sein. Vielleicht ist den Industriellen eine Einflußnahme gar nicht notwendig erschienen, da die wirtschaftsideologischen Überzeugungen der Regierung und deren daraus abgeleitete Wirtschaftspolitik weitgehend mit den eigenen Interessen übereinstimmen. Die Unternehmer profitieren dann von dieser konkreten Maßnahme, ohne Einfluß ausgeübt zu haben. Direkte Einflußnahme und ein massives öffentliches Auftreten eines Unternehmerverbandes ist in diesem Fall nicht notwendig, könnte womöglich sogar kontraproduktiv wirken. Hier zeigt sich noch einmal deutlich folgendes: Zwar ist die konkrete Wirtschaftspolitik häufig der Bezugspunkt des Engage65 66 67

Vgl. Zimmerling 1991: 160/161. Zimmerling 1991: 201. Ausführlich zur theoretisch fundierten Erörterung des Einflußbegriffes siehe Zimmerling 1991: 159-219. Birle 1995a: 42.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

47

ments unternehmerischer Interessenvertretungen und es ist deswegen auch danach zu fragen, zugunsten welcher Sektoren bestimmte Maßnahmen implementiert werden; die Analyse der sozio-ökonomischen Dimension der Kontextbedingungen darf sich allerdings nicht nur auf einzelne wirtschaftspolitische Maßnahmen und deren Nutzen bzw. Kosten für die Unternehmer beschränken, sondern hat auf einer grundsätzlicheren Ebene auch die Problematik des vorherrschenden Entwicklungsstils zu thematisieren, um vorhandene oder auch fehlende Einflußhandlungen der Unternehmer angemessen einordnen zu können. Eine Operationalisierung von Einfluß, die zu belegbaren Aussagen jenseits eines ideologischen Determinismus fuhrt, ist schwierig. Gesellschaftliche und politische Strukturen sind in der Regel so komplex, daß z.B. zwar eine Übereinstimmung zwischen politischen Maßnahmen und den Interessen bestimmter Gruppen festgestellt, wohl aber nur in den wenigsten Fällen ein unmittelbarer kausaler Zusammenhang zwischen Interessenartikulation einer Gruppe und konkreter Politikimplementierung hergestellt werden kann. Da Einflußnahme oft auf informeller Basis und auf latente Weise geschieht - das Spektrum reicht dabei von Einflußmöglichkeiten aufgrund persönlicher Kontakte, verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen bis zu illegalen Maßnahmen wie Bestechung, Erpressung, Drohungen bleibt es schwierig, Einfluß zu messen. Dies gilt für den Fall Uruguay bezüglich der persönlichen Kontakte um so mehr. Denn als Konsequenz aus der geringen Bevölkerungszahl von gut drei Millionen Menschen, die auf einem für lateinamerikanische Verhältnisse kleinen, überschaubaren Territorium leben und sich auf das unumstrittene Zentrum Montevideo konzentrieren, ist das Phänomen des , jeder kennt jeden" sehr ausgeprägt; es gibt also ein relativ dichtes Elitennetzwerk, in dem informellen Kontakten eine besondere Bedeutung zukommt. 68 Trotzdem sind Operationalisierungsprobleme keine spezifische Erscheinung der vorliegenden Arbeit, sondern gehören zum alltäglichen Geschäft politikwissenschaftlicher Forschung. Gleichwohl können unter Berücksichtigung der hier genannten Variablen Aussagen über die politische Rolle der Unternehmerverbände und deren Einfluß annäherungsweise in einer Art getroffen werden, die den wissenschaftlichen Ansprüchen der Exaktheit und Nachvollziehbarkeit genügen. Die Möglichkeiten und das Ausmaß verbandlichen Einflusses gründen sich auf unterschiedliche Faktoren. Wenn die Unternehmerverbände als kollektive Dies ist, wie man sich unschwer vorstellen mag, häufig ein Merkmal kleinerer Länder. (Vgl. Schmid 1993: 182.)

48

1. Analytischer Rahmen

politische Akteure betrachtet werden, sind hinsichtlich der Machtressourcen zum einen verbandsinterne Faktoren von Bedeutung. Die Organisationsstruktur, die Repräsentativität und die materielle Ausstattung eines Verbandes geben Hinweise auf das nicht allein von externen Bedingungen abhängige kollektive Handlungspotential bzw. die Verhandlungsmacht, ohne daß damit allerdings von deterministischen Zusammenhängen zwischen Organisationskapazitäten und politischer Macht ausgegangen werden kann. 69 Des weiteren hängt die bargaining power auf einer ideologischen Ebene mit den ordnungspolitischen und politikbereichsbezogenen Zielvorstellungen zusammen, mit dem Selbstverständnis, der Realitätswahrnehmung sowie der Homogenität oder Heterogenität bzw. der Konfliktfahigkeit der vertretenen Interessen. Nach Claus Offe beruht die Konfliktfahigkeit „[...] auf der Fähigkeit einer Organisation bzw. der ihr entsprechenden Funktionsgruppe, kollektiv die Leistung zu verweigern bzw. eine systemrelevante Leistungsverweigerung glaubhaft anzudrohen." 70 Mit einer Leistungsverweigerung können gerade die Unternehmer Erfolg, Leistung und Effizienz als wichtige Bestimmungsfaktoren politischer Stabilität beeinträchtigen. „[...] they could refuse to save and make productive investments, send capital abroad, cut production, lay off workers, refuse to comply with legal regulations, and disrupt the economy in other ways." 71 Ziele, Selbstverständnis und Interessen der Unternehmerverbände lassen sich ebenso wie deren Perzeption der gesellschaftspolitischen Realität aus mündlichen und schriftlichen, allgemein gehaltenen und konkreten Äußerungen ableiten sowie an dem situationsspezifischen Verhalten und den Handlungen der Verbandsrepräsentanten überprüfen. Zum anderen wird die politische Rolle der Unternehmerverbände, ihr Einflußvermögen und damit auch ihr Potential, zu einer De-/Stabilisierung beitragen zu können, von deren - allgemein formuliert - Stellung im System, also von externen Faktoren bedingt. Neben Aspekten, wie der strukturellen Privilegierung und der relativen volkswirtschaftlichen Bedeutung des Sektors, der von einem Unternehmerverband repräsentiert wird, werden die Machtressourcen auch dadurch bestimmt, welche Rolle dem Verband als Akteur von staatlicher Seite zugeordnet wird, welche Koalitionen mit anderen Akteuren möglich sind, wie der gesellschaftliche Status und das Image eines Verbandes ausgeprägt 69

70 71

„Denn während strukturell schwache Interessen nur dann überhaupt eine Durchsetzungschance haben, wenn sie wenigstens gut organisiert auftreten, können strukturell privilegierte Interessen unter Umständen auf eine Organisation ganz verzichten oder mit geringen Organisationskapazitäten viel erreichen." (Birle/Imbusch/Wagner 1992: 49.) Offe 1972: 146. Payne/Bartell 1995: 272.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

49

sind, inwieweit die von einem Verband vertretenen Partikularinteressen mit dem vorherrschenden Entwicklungsstil kongruent und mit dem, was als das Gemeinwohl gilt, kompatibel sind, über welche persönlichen Kontakte die Verbandsführung zu den Regierenden verfugt und wie deren Ansehen und Reputation bewertet wird. Zu Recht unterscheiden deswegen auch Schmitter/Streeck 72 zwei sogenannte Austauschlogiken, nämlich neben der verbandsinterne Faktoren umfassenden logic of membership auch die staatsbezogene logic of influence. Der Regimetyp und damit die Organisation des politischen Systems sowie die Spielregeln, nach denen es funktioniert, definieren die Zugangsmöglichkeiten zu den politischen Entscheidungsträgern und wirken somit auch auf den Grad des Einflusses der Verbände auf den Prozeß der politischen Willensbildung, die Formulierung von Maßnahmen und die Durchsetzung von Entscheidungen. 73 Obwohl organisatorisch nicht voneinander getrennt, ist bei der Analyse der Unternehmerverbände zwischen deren Funktion als Arbeitgeber- und als Wirtschaftsverband zu unterscheiden. In ihrem Funktionsbereich als Arbeitgeberverbände ist für die Unternehmerorganisationen die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen das zentrale Politikfeld, auf das sich ihr Interesse richtet. Dem Verhältnis zwischen Unternehmerverbänden und ihrem „natürlichen" Gegenpart, den Gewerkschaften, kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Von der Stellung der Gewerkschaften im System sind auch Rückkopplungseffekte auf die politische Rolle der Unternehmerverbände zu erwarten. Eine starke, gesellschaftlich fest verankerte Gewerkschaftsbewegung stellt für Unternehmerverbände eine andere Herausforderung dar, als Gewerkschaften, deren bargaining power sehr eingeschränkt ist. Wenn zudem, wie im Falle Uruguay, die Tarifautonomie z.T. begrenzt ist, wird dieser Bereich um eine wichtige Dimension erweitert. Staatliche Instanzen treten dann als dritter Akteur unmittelbar in Erscheinung. Das Verhältnis Gewerkschaften - Unternehmerverbände wird zu einem Dreiecksverhältnis Gewerkschaften - Unternehmerverbände - Staat. Wenn Vertreter der Exekutive eine Art Schiedsrichterrolle einnehmen und für die ein oder andere Seite Partei ergreifen, birgt dies eine Menge Konfliktpotential. Als Extrembeispiel kann eine Allianz zwischen Staat und Gewerkschaften in der Tarifpolitik, die die Basisinteressen der Unternehmer gefährden würde, die MikroStabilität im Bereich der Arbeitsbeziehungen so sehr beeinträchtigen, daß sich dies auch auf die MakroStabilität auswirkt. 72 73

Vgl. Schmitter/Streeck 1981. Vgl. Estrada/Masi 1983:31.

50

1. Analytischer Rahmen

In ihrem Funktionsbereich als Wirtschaftsverbände, d.h. als Interessengruppe gegenüber dem Staat, sind für die Untersuchung vor allem die Einflußstrategien, Methoden, Kanäle und Adressaten der Einflußnahme, die die Unternehmer über ihre Verbände wählen, von Bedeutung. 74 Einflußnahme auf „die Politik" heißt dabei konkret gemäß der beinahe schon klassischen Differenzierung des Politikbegriffs, Einfluß zu nehmen auf die institutionelle, prozessuale und inhaltliche Dimension der Politik. Im einzelnen sind dies die formale Struktur der Politik, die durch einzelne Institutionen und deren Zuordnung zueinander ihre Ausprägung findet (polity), die spezifischen politischen Prozesse und Abläufe, die sich in einem politischen System vollziehen (politics), sowie die Inhalte der Politik, also staatliches Handeln, das auf einzelne Politikfelder ausgerichtet ist (policy). Schwerpunktmäßig widmet sich die Analyse dem öffentlichen Auftreten der Unternehmer, um deren Einfluß auf die politische Stabilität nachvollziehen zu können. Öffentliche Stellungnahmen, Forderungen, Kritiken und Positionsbeschreibungen geben wichtige Hinweise auf die politische Rolle eines Akteurs. Auch wenn zu bestimmten Sachverhalten und Ereignissen nicht Stellung bezogen wird oder wichtige Maßnahmen und Entwicklungen seitens der Unternehmer öffentlich unkommentiert bleiben, sind diesbezüglich Rückschlüsse möglich. Voraussetzung ist, daß zusätzlich Variablen, wie sie hier als Kontextbedingungen zusammengefaßt wurden, berücksichtigt werden. Erst dann sind fundierte und verläßliche Aussagen über den Einfluß der Unternehmer und ihrer Verbände auf die politische Stabilität möglich. Es ist davon auszugehen, daß der gesamte Bereich nicht-öffentlicher Interessenartikulation und Einflußnahme - sei es die legale Ebene, wie etwa in Form eines vertraulichen Gespräches zwischen einem Verbandsrepräsentanten und einem Regierungsmitglied, oder seien es illegale Mittel, wie Bestechung, Erpressung usw. einer politikwissenschaftlichen Analyse zu einem Großteil verschlossen bleibt. Die Tatsache aber, daß nicht jedes politische Handeln und nicht alle politischen Kontakte öffentlich werden, vieles also verdeckt und gleichsam hinter verschlossenen Türen abläuft, ist nicht „unternehmerspezifisch". Denn weder Parteien noch Gewerkschaften, die Streitkräfte oder die Regierung treten als Akteure öffentlich so in Erscheinung, daß von einer Transparenz ausgegangen werden kann, die ein auch nur einigermaßen vollständiges Bild ihrer politischen Rolle geben würde.

Die denkbaren Strategien, Methoden, Kanäle und Adressaten der Einflußnahme finden sich z.B. aufgearbeitet bei Beyme 1980: 134-241.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

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Konkret ist bei der Analyse danach zu fragen, wie über die Unternehmerverbände Interessen artikuliert werden, wie Unternehmer und Verbandsrepräsentanten Stellung zu konkreten Sachfragen und Ereignissen beziehen, wie sie öffentlich (re-)agieren, um ihre Interessen durchzusetzen, aber auch hinsichtlich welcher Themen zwischen Unternehmerverbänden und Regierung Konsens bzw. Dissens besteht und inwieweit den Unternehmerverbänden Möglichkeiten zur Partizipation im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß eingeräumt werden. Besonderes Augenmerk verdienen staatliche Einrichtungen und Repräsentanten als die häufig zentralen Adressaten der Forderungen aus den Reihen der Unternehmerschaft, wobei es darum geht, wie das Verhältnis Staat - Unternehmerverbände ausgestaltet ist, welches jeweils eigene Rollenverständnis, welche wechselseitigen Wahrnehmungen, Einschätzungen und Anforderungen bestehen. Zu beachten sind ebenfalls eventuelle personelle Verknüpfungen zwischen Wirtschaft und Politik, also ob etwa Unternehmer parteipolitisch aktiv sind oder politische Ämter in der Exekutive übernehmen. Relevante konjunkturelle politische Ereignisse, die auf die MikroStabilität wirken, innergesellschaftliche Konflikte womöglich ebenso wie beispielsweise der Ausgang von Wahlen, sind gegebenenfalls in die Analyse einzubeziehen, besonders wenn die Möglichkeit der Beeinträchtigung der MakroStabilität besteht und dies zu einem Wandel oder gar Wechsel eines Systems führen kann. Wie Unternehmer über ihre Interessenverbände Einfluß auf die Politik und staatliche Entscheidungsträger nehmen, hängt auch damit zusammen, welche Rolle den politischen Parteien in einem System zukommt. Für eine Demokratie gelten die Existenz und das Funktionieren politischer Parteien sowie der Wettbewerb unterschiedlicher Parteien um die Regierungsverantwortung als konstitutive Elemente. Besteht ein festgefügtes, gut funktionierendes Parteiensystem und gelten die Parteien als die zentralen politischen Akteure, so dürfte es den Unternehmerverbänden relativ schwer fallen, als eigenständige, wichtige politische Akteure in Konkurrenz zu den Parteien zu treten. Eventuell wird dies dann in Reihen der Unternehmerverbände auch gar nicht angestrebt, sondern es wird der Weg über die Parteien als Vermittlungsinstanz gesucht. Diese Variante der Interessenartikulation kann prinzipiell auch für autoritäre Herrschaftssysteme gelten, in denen z.B. einer Einheitspartei eine staatstragende Funktion zukommt. In autoritären Regimen allerdings, in denen, wie es in Uruguay in den 70er Jahren der Fall war, die Parteien komplett vom politischen Prozeß ausgeschlossen sind, scheiden diese zunächst als Vermittlungsinstanzen aus. Sie gewinnen aber spätestens dann wieder an Bedeutung, wenn sie in Transitionsprozessen als Akteure auftreten, die auf eine demokratische Systemalternative

52

1. Analytischer Rahmen

hinarbeiten. Dann wird wiederum die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der politischen Rolle der Parteien interessant, da davon auch Effekte auf das in der Untersuchung schwerpunktmäßig behandelte öffentliche Auftreten der Unternehmerverbände als kollektive politische Akteure zu erwarten sind. These 3: Wenn die politischen Parteien von der Exekutive als Verhandlungspartner bevorzugt werden, als wichtigste Kanäle der Interessenartikulation und politischen Repräsentation fungieren und im Rahmen der politischen Kultur auch als solche eingeschätzt werden, treten die Unternehmerverbände als politische Akteure öffentlich eher zurückhaltend in Erscheinung. Unternehmerverbände sind wirtschaftliche Interessenvertretungen, dienen also in erster Linie der Aggregation, Artikulation und Repräsentation wirtschaftlicher Interessen. Sie sind insofern von Entscheidungen der Exekutive abhängig, als diese die volkswirtschaftlichen und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen festlegt. Unternehmerverbände sind deshalb nicht „politikneutral". Die Ziele, die die Unternehmer über ihre Verbände verfolgen, definieren sich durch die jeweiligen Interessen, die an möglichst günstigen Verwertungsbedingungen und Gewinnmöglichkeiten ausgerichtet sind. Danach richten sie nicht nur Unwirtschaftliches, sondern auch ihr politisches Verhalten aus. Die Unternehmerverbände agieren als Interessenvertretungen auf der Grundlage eines gemeinsamen Basisinteresses bei gleichzeitig starken Partikularinteressen. Es ist davon auszugehen, daß die Unternehmerschaft über ein gemeinsames Grundinteresse zumindest insofern verfügt, als der Fortbestand der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gewährleistet und als Wesensmerkmal dieser Wirtschaftsordnung unbedingt das Privateigentum an den Produktionsmitteln und das freie Unternehmertum garantiert werden soll. Über diesen Basiskonsens hinausgehende Interessen der Unternehmerschaft sind allerdings nicht unbedingt homogen, es besteht damit eine Parallelität von Interessenhomogenität und Interessenheterogenität. Nicht zuletzt die Konkurrenzbeziehung, die - in den Worten von Offe - die einzelnen Unternehmen gegeneinander setzt, verhindert, daß partikulare Interessen die Qualität eines Klasseninteresses annnehmen. 75 „Obgleich prinzipiell an einer Verbesserung der allgemeinen Kapitalverwertungsbedingungen interessiert, ist die Unternehmerschaft in den wenigsten Fällen eine so homogene Gruppe, wie dies oftmals von klassen75

Vgl. Offe 1977: 69.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

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analytischen Studien angenommen wird [...]."76 Dies muß nicht ausschließlich für Unternehmer aus verschiedenen Wirtschaftssektoren gelten. Denn auch z.B. Gruppeninteressen, die von einer sektoriellen Organisation vertreten werden, können den individuellen Interessen einzelner Mitglieder widersprechen.77 Bezogen etwa auf bestimmte Politiken sind völlig unterschiedliche Interessenslagen vorstellbar. Je nach Größe des Unternehmens, technologischem Niveau, Arbeitsintensität, Orientierung auf Binnen- oder Weltmarkt, Nähe zum Auslandskapital, Verbindungen zum Staatsapparat etc. gibt es spezielle Interessen, die sich z.T. sogar diametral gegenüberstehen und in ganz unterschiedliche Forderungen bezüglich der wirtschaftspolitischen Implementierung münden können. Gemeinsam sind den Unternehmern allerdings die Forderungen hinsichtlich der Rolle des Staates in der Wirtschaft. Jürgen Hartmann unterscheidet diesbezüglich deren Positionen und Aktivitäten in zweierlei Hinsicht: „1. Sie arbeiten auf die Abwehr staatlicher Interventionen und Belastungen hin, wo diese den Unternehmern Kosten verursachen, wo sie Gewinnmöglichkeiten beschneiden und wo sie die unternehmerische Handlungsfreiheit weitergehenden als den bisherigen Regeln unterwerfen und insbesondere durch gewerkschaftliche und Beschäftigtenrechte einengen. 2. Sie plädieren für staatliches Eingreifen bzw. für staatliche Maßnahmen, um Kosten und Verluste auf die Öffentlichkeit abzuwälzen, Märkte zu erschließen, Forschungsund Entwicklungskosten mit dem Staat zu teilen und Unternehmensbelastungen aus geltenden sozial- und arbeitsrechtlichen sowie Verbraucher- und umweltpolitischen Verpflichtungen gering zu halten oder abzubauen."7®

Die Einstellungen der Unternehmer gegenüber der Rolle des Staates in der Wirtschaft erscheinen insofern paradox, als einmal mehr und ein anderes Mal weniger staatliche Intervention gefordert wird. Wenngleich damit keine eindeutige entwicklungsstrategische Linie der Unternehmer erkennbar ist, impliziert dies nicht, daß ein irrationales Verhalten vorliegen muß. Denn die Forderungen der Unternehmer sind insofern rational, als sie sich an dem jeweiligen konkreten Nutzen orientieren. Wenngleich aus Unternehmerkreisen der Ruf nach einem allgemeinen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft häufig besonders laut ist, werden im Einzelfall staatliche Eingriffe nicht immer abgelehnt: Je nachdem, ob Unternehmer davon profitieren, fordern sie staatliche Interventionen oder wehren sich dagegen. Unternehmer und ihre Interessenvertretungen zielen mit ihrem politischen Verhalten in erster Linie darauf, ihre wirtschaftlichen Interessen abzusichern bzw. durchzusetzen. Die Einstellung der Unternehmerschaft zu einem 76 77 78

Schubert/Tetzlaff/Vennewald 1994: 83. Vgl. dazu auch Acuña 1988: 40. Hartmann 1985: 77.

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1. Analytischer Rahmen

bestimmten politischen System, der Grad ihrer Unterstützung oder Ablehnung eines Regimes dürfte somit weniger von dessen demokratischem oder autoritärem Charakter abhängen; entscheidend ist vielmehr, inwieweit die Unternehmer ihre Interessen durchgesetzt sehen, inwieweit der Entwicklungsstil ihren grundsätzlichen Interessen entgegenkommt,79 wobei einzelne Unternehmergruppen zur gleichen Zeit durchaus unterschiedliche wirtschaftspolitische Orientierungen präferieren können. These 4: Regimetypen bleiben im Kalkül der Unternehmer relativ bedeutungslos, solange durch den Entwicklungsstil ihre Basisinteressen garantiert werden; kommt der Entwicklungsstil dem Streben der Unternehmer nach günstigen Verwertungsbedingungen und Gewinnmöglichkeiten entgegen, so verhalten sie sich dem politischen System gegenüber loyal und tragen damit auch über ihre Verbände zur Systemstabilisierung bei. So, wie nicht pauschal von einer exakt definierten Interessenlage der Unternehmer ausgegangen werden kann, ist ebenfalls nicht zu unterstellen, daß Unternehmer über eindeutige kollektive Identitäten verfugen. 80 Auch die Wahrnehmungen der Realität sind häufig unterschiedlich. Der jeweilige „Perzeptionsfilter" bezieht sich auf verschiedene Dimensionen, zunächst auf die Wahrnehmung bestimmter Situationen und veränderbarer Gegebenheiten, daraus ableitbar auf einen eventuellen Handlungsbedarf, der z.B. durch die Identifizierung eines Bedrohungspotentials entstehen kann. Wird eine Entwicklung oder ein Zustand als bedrohlich empfunden, so sind besondere Verhaltensweisen bzw. Aktionen zu erwarten, die sich auf der Ebene sowohl der Mikroals auch im Extremfall der MakroStabilität auswirken können. Um eine entstandene Bedrohung abzubauen, wird entweder versucht, den eventuell vormals gegebenen, nicht bedrohlichen gesellschaftspolitischen Gleichgewichtszustand wieder herzustellen, oder auf eine notwendig erscheinende Systemveränderung hingewirkt. Relevant ist außerdem die Perzeption der von außen gesetzten Grenzen der Handlungsmöglichkeiten, anders formuliert der vom Staat gewährten Aktionsspielräume. Wenn etwa die vorgegebenen Verfahrensregeln in einem politischen System von den Unternehmern so wahrge79

80

Mols spitzt dies folgendermaßen - wie er selbst zugesteht pauschal und plakativ - zu, wenn er schreibt: „Den meisten Unternehmern dürfte es gleichgültig sein, unter welchem Regime sie leben. Der Staat hat für »law and order«, hier zu übersetzen mit optimalen wirtschaftlichen Entfaltungsbedingungen, zu sorgen." (Mols 1985: 104.) Vgl. Kriesi 1986: 8.

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformuliemng

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nommen werden, daß keine Veranlassung gesehen wird, deren Anerkennung zu bezweifeln, ist dies ein wichtiges Element, welches zur Sicherung der politischen Stabilität dieses Systems beitragen kann. Eine weitere Dimension der Wahrnehmung wird durch das bestimmt, was als das vermutete Fremdbild bezeichnet werden kann, d.h. konkret die Einschätzung der Unternehmer, wie sie und ihre Interessenorganisationen von anderen als politischer Akteur eingeordnet werden, wie sie gesellschaftlich angesehen sind und welche Einstellungen ihnen gegenüber auch gemäß der politischen Kultur vorherrschen. Ein Beispiel: Unternehmer, die traditionell in einer Gesellschaft im Sinne von Joseph A. Schumpeter81 als dynamisch, risikobereit und innovativ gelten und die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben, genießen allgemein wohl auch entsprechende gesellschaftliche Anerkennung. Es ist sehr wahrscheinlich, daß eher gewünscht wird, solchen Unternehmern auch politisch mehr Bedeutung zuzumessen, als Unternehmern, deren Image darin besteht, es sich ohne Skrupel auf Kosten anderer gut gehen zu lassen und wie es der peruanische Romancier und ehemalige Präsidentschaftskandidat Mario Vargas Llosa formulierte - keine anderen Ziele zu haben, „[...] als Steuern zu hinterziehen, Arbeiter auszubeuten, Dollars nach Miami zu schaffen und zwielichtige Geschäfte mit dem Staat einzufädeln." 82 Die jeweils vorherrschende Sichtweise bildet einen wichtigen Referenzrahmen für die eigene Wahrnehmung und Strategiewahl der Unternehmer. Für den tatsächlichen Einfluß, der den Unternehmern zukommt, hat allerdings das gesellschaftliche Ansehen nur eine geringe Bedeutung. Auch Unternehmer mit negativem Image spielen eine politische Rolle, die für die Stabilität eines Regimes entscheidenden Charakter haben kann. Im Rahmen der Kontextbedingungen sind solche hier genannte Komponenten, die auf der Ebene von Wahrnehmung und Einschätzung angesiedelt sind, deshalb als intervenierende Variablen zu berücksichtigen, da sie die politische Rolle eines Akteurs beeinflussen und Ausgangspunkt für bestimmte Verhaltensweisen und Strategien sein können. Hinsichtlich der Kontextbedingungen und Handlungsstrategien ist es eine verkürzte Sichtweise, davon auszugehen, Unternehmer seien bei einer für sie wirtschaftlich ungünstigen Konjunktur politisch aktiver und vertreten ihre Forderungen massiver als zu Zeiten ökonomischer Prosperität. Dies ist nur eine denkbare Möglichkeit. Denn es ließe sich auch schlüssig argumentieren, daß gerade während einer Wirtschaftskrise die Handlungs- und Verteilungsspiel81 82

Siehe z.B. Schumpeter 1912. Vargas Llosa, so zitiert in DIE ZEIT vom 10.2.1989.

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1. Analytischer Rahmen

räume insgesamt sehr viel geringer und deswegen die Unternehmer mit ihren Aktivitäten zurückhaltender sind. Es geht für sie dann wohl eher darum, Besitzstände zu wahren, als Maximalforderungen zu vertreten, die in einer Aufschwungphase vielleicht akzeptiert, in einer Krisensituation gesellschaftlich aber auf breites Unverständnis stoßen würden. Wenn jedoch eine sektorübergreifende Bedrohungssituation vorliegt, haben Unternehmer eine grundsätzliche Sicherung ihrer Basisinteressen zum Ziel, und die unmittelbare Bedrohung wirkt kohäsionsstiftend, so daß ein geschlossenes Handeln möglich bzw. erforderlich wird. 83 Über Unternehmerverbände werden gleichwohl nicht nur dann in einem besonderen Ausmaß Aktivitäten entwickelt, wenn Unternehmer ihre Basisinteressen gefährdet sehen, sondern manchmal auch umgekehrt, wenn Wirtschaftspolitik und Entwicklungsstrategie ihnen entgegenkommen. Denn wenn die Unternehmer sich in einer entwicklungsstrategisch günstigen Position befinden, sind sie in der Lage, Maximalforderungen zu stellen. Es können dann allerdings eher auch Partikularinteressen zur Geltung kommen, so daß die Aktivitäten der kollektiven unternehmerischen Interessenorganisationen von internen Auseinandersetzungen begleitet werden. Zwar ist der Entwicklungsstil nach der hier formulierten These 4 ausschlaggebend dafür, ob Unternehmer sich dem Regime gegenüber loyal zeigen und zur Systemstabilisierung beitragen; dies impliziert aber keineswegs, daß Unternehmer immer nach einem Regimewechsel streben, wenn sie ihre Interessen nicht ausreichend verwirklicht sehen, sie Leistung, Erfolg und Effizienz der Regierung negativ bewerten und sie durch deren Politik mehr Nach- als Vorteile erfahren. Je größer aber die Bedrohung der eigenen Existenz wird und je geringer die Möglichkeiten der Veränderung innerhalb eines Regimes eingeschätzt wird, desto wahrscheinlicher dürfte das Streben danach sein, ein System über die Mikroebene hinaus ernsthaft zu destabilisieren. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Die konkreten Interessen und Ziele der Unternehmer sowie ihre Einfluß- und Handlungsstrategien, die sie über ihre Verbände verfolgen, hängen neben den vorhandenen Kontextbedingungen, den Machtressourcen und der Wahrnehmung der Performanz 84 des Regimes auch davon ab, ob sie im Sinne der Legitimation die existierenden Verfahren anerkennen, ob sie je nach Regimetyp die demokratische Legitimität bzw. die autoritäre Repression akzeptieren und, ganz entscheidend, ob aus ihrer Sicht realistische Systemalternativen bestehen. In Anknüpfung an die Diskussion der Bedingungsfaktoren 83 84

Vgl. Nolte 1987a: 614. Performanz bedeutet nach Mols „[...] die Art und Weise des Auftretens politischer Herrschaft, die Verrichtung der Leistung politischer Regime." (Mols 1985: 32.)

Konzeptionelle Annäherung und Thesenformulierung

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politischer Stabilität in Kapitel 1.1 läßt sich diese Frage nach einer Systemalternative als der letztendlich entscheidende Faktor für die Systemstabilität identifizieren. These 5: Unternehmer und ihre Verbände tragen erst dann massiv zur Beeinträchtigung der Makrostabilität eines politischen Systems bei, wenn nach ihrer Einschätzung kalkulierbare und zu bevorzugende Systemalternativen bestehen, die realistisch sind, also in einer Koalition mit anderen Akteuren durchgesetzt werden können. Aufgrund der zentralen Bedeutung existierender bzw. nicht existierender Systemalternativen für die Stabilität des politischen Systems folgt nun abschließend eine auf den konkreten Fall Uruguay zugespitzte These mit der Absicht, im Schlußkapitel dieser Arbeit perspektivisch die politische Rolle der Unternehmerverbände hinsichtlich der Stabilität der Demokratie zu erörtern. Es wurde bereits daraufhingewiesen, daß die einem System zugewiesene Legitimität durch die jeweilige politische Sozialisation und die politische Kultur beeinflußt wird. Insofern wird die Frage nach möglichen Systemalternativen immer auch von den Erfahrungen bestimmt, die die einzelnen Akteure in der Vergangenheit mit unterschiedlichen, gegebenenfalls autoritären und demokratischen Regimen gemacht haben. Für Uruguay ergibt sich daraus eine besondere Situation: Eine ausgeprägte demokratische Tradition in Verbindung mit überwiegend positiven Erinnerungen an die Zeiten demokratischer Herrschaft steht den enttäuschten Erwartungen gegenüber, die das autoritäre Regime vielen Unternehmern brachte. Vor diesem Hintergrund könnte man vermuten, daß sich in den Reihen der Unternehmerschaft während des Untersuchungszeitraumes ein Lernprozeß vollzogen hat, der aufgrund dieser besonderen historischen Konstellation auf eine Aufwertung der Regimetypvariablen gegenüber dem Entwicklungsstil hindeutet. These 6: Die Erfahrungen mit der Militärdiktatur haben in Uruguay dazu beigetragen, daß für die Unternehmer die Demokratie wieder zu einem „Wert an sich" geworden ist und so an Legitimität gewonnen hat, daß keine Systemalternativen in Betracht kommen, also keine Gefahrdung der Makrostabilität durch die Unternehmer und ihre Interessenverbände zu erwarten ist.

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1.3

1. Analytischer Rahmen

Literaturüberblick, Datenbasis, Materialerschließung und Anmerkungen zur Methodik

Eine Delegation der Organización Internacional del Trabajo kam 1987 nach einer Informationsreise zur Untersuchung der Arbeitsbeziehungen in Uruguay zu folgendem Ergebnis, das die Forschungslage zum Thema Unternehmerverbände charakterisiert: „Si se compara con los sindicatos de trabajadores, es poco lo que se ha escrito sobre lo que en Uruguay se conoce como 'gremiales patronales' [...]." 85 Dieses Forschungsdefizit stellten in den Folgejahren mehrere Autoren fest, ohne daß als Konsequenz die entsprechende Forschungslücke auch nur ansatzweise hätte geschlossen werden können. Zwar hatte bereits Carlos Real de Azúa in den 60er Jahren damit begonnen, Elitenforschung zu betreiben; diese basierte aber in erster Linie darauf, die verschiedenen Eliten zu identifizieren und war eher theoretisch ausgerichtet.86 An diesen Ansatz wurde nicht in der Form angeknüpft, daß die sogenannte Wirtschaftselite in der Folgezeit zu einem sozialwissenschaftlich relevanten Untersuchungsgegenstand wurde. Es ist bezeichnend, wenn die in den vergangenen 20 Jahren einzige (!) Übersichtsarbeit zur politischen Rolle der Unternehmerverbände in Uruguay in diesem Jahrhundert vom Historiker Gerardo Caetano verfaßt worden ist. 87 Dieser beklagte in der Einfuhrung zu seinem knapp 70 Seiten umfassenden Beitrag so auch zu Recht die marginale Aufmerksamkeit, die die uruguayische Sozialwissenschaft dieser Thematik entgegengebracht hätte: Es lägen weder historische Studien, die einen längeren Zeitraum behandeln, noch genuin politikwissenschaftliche Analysen vor. Als bisher einzige umfassende Monographie, die sich explizit und ausschließlich mit den Unternehmerverbänden Uruguays auseinandergesetzt hat, wird auch heute noch in der Literatur auf die Dissertation von William M. Berenson Bezug genommen. 88 Diese Arbeit ist nunmehr über 20 Jahre alt und weist zudem das Manko auf, daß sie so ein offizieller Vermerk im Original der Arbeit - zwar an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, als Doktorarbeit angenommen worden ist, formalen wissenschaftlichen Standards aber nicht immer genüge.

85 86

87 88

OIT 1987: 58. Siehe Real de Azüa 1969 und 1987, wobei es sich bei der letztgenannten Veröffentlichung um den Abdruck eines Kapitels aus einer Arbeit älteren Datums handelt. Ähnlich ausgerichtet wie bei Real de Azüa waren auch die aus der damaligen Zeit stammenden Arbeiten zu den uruguayischen Interessengruppen von Campiglia 1969 und Rama 1968. Siehe Caetano 1992b. Siehe Berenson 1975.

Literaturüberblick, Datenbasis, Materialerschließung, Methodik

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Insgesamt am gründlichsten erforscht ist die politische Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände für die 20er und erste Hälfte der 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Dies ist in erster Linie Verdienst des bereits erwähnten Caetano, der sich in mehreren Publikationen intensiv und fundiert mit dem damaligen zeithistorischen Kontext in den Jahren nach den beiden Präsidentschaften von José Batlle y Ordóñez auseinandergesetzt hat. 89 Für die Zeiten vor den 20er und nach den 30er Jahren liegen ähnlich detaillierte Studien nicht vor, wenngleich einige Wissenschaftlerinnen, die ebenso wie Caetano aus dem Umfeld der „großen" Historiker Uruguays, Benjamin Nahum und José Pedro Barrán, stammen, Einzelstudien durchgeführt haben. Während Barrán/Nahum mit ihren beiden sieben- bzw. achtbändigen geschichtswissenschaftlichen Standardwerken viele Hinweise zu der Rolle der Unternehmer in den Jahren von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben haben, 90 widmeten sich Ana Frega, Yvette Trochón und Monica Maronna Einzelaspekten, so der Position der Unternehmerverbände in der Debatte um die Schaffung der Staatsbetriebe in den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts und den Konflikten zwischen Agrarunternehmern und Industriellen, die sich Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre mit unterschiedlichen Interessen gegenübergestanden haben. 91 Aus eben dieser Schule um Barrán/Nahum finden sich auch zwei den Zeitraum von 1930 bis 1973 umfassende Werke, die u.a. auf die Unternehmer eingehen. 92 Für diese gilt aber ebenso wie für die Arbeiten von Francisco Panizza, Danilo Astori, Geronimo de Sierra und Germán W. Rama, daß sich die Darstellung dessen, was im Rahmen der vorliegenden Untersuchung von Interesse ist, insgesamt jeweils auf nur einige wenige themenrelevante Informationen beschränkt.93 Ausführlicher, allerdings zeitlich auch begrenzter, widmet sich Juan Oddone den Unternehmern speziell in den 30er Jahren und der ersten Hälfte der 40er Jahre, während Rosa Alonso Eloy und

89

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91 92 93

Siehe vor allem Caetano 1982a, 1982b, 1983, 1985, 1992a, 1993 sowie Balbis/Caetano 1981 und die drei Bände von Caetano/Jacob 1989-1991. Für die Jahre 1903-1916 siehe Rilla 1990. Siehe Bairän/Nahum 1967-1978 bzw. 1979-1987. Die Unternehmer im 19. Jahrhundert werden außerdem im Kontext einer zeithistorischen Gesamtdarstellung mehr oder weniger intensiv behandelt von Winn 1975, Jacob 1981 und Finch 1981, wobei sich Jacob und Finch auch mit dem 20. Jahrhundert beschäftigen. Zu nennen sind des weiteren Aufsätze, die sich nur am Rande mit den Unternehmern beschäftigen, oder kleinere Studien, die nur in Form von Arbeitspapieren erschienen sind. (Siehe Galain/Riet/ Vernazza/Weinberger 1972; Jacob 1985.) Siehe Frega/Trochön 1991; Frega/Maronna/Trochön 1987; Frega 1987. Siehe Nahum/Cocchi/Frega/Trochön 1988; Nahum/Frega/Maronna/Trochön 1990. Siehe Panizza 1988, 1990a und 1990b; Astori 1979, 1981, 1982 und 1990; De Sierra 1977a; Rama 1987.

60

1. Analytischer Rahmen

Carlos Demasi die Positionen der Unternehmerverbände zum wirtschaftsliberalen Kurs der Ende der 50er Jahre gewählten Ä/anco-Regierung beschreiben. 94 Andere Einzelstudien betrachten nur die Entwicklung eines Wirtschaftssektors und die dazugehörigen Unternehmerverbände.95 Mit den Unternehmerverbänden während der Militärdiktatur haben sich schwerpunktmäßig Howard Handelman und Henry Finch beschäftigt, wobei die Aufsätze von Handelman allerdings bereits 1981 erschienen sind und deswegen nur die erste Hälfte der Militärdiktatur behandeln. 96 In weiteren Untersuchungen neben den bereits weiter oben genannten sind die Unternehmer in der Diktatur nur ein Thema unter anderen. 97 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die von Martha Machado Ferrer und Carlos Fagúndez Ramos erstellte Chronologie der Ereignisse während der Militärdiktatur bis 1979, die zwar einige wichtige Hinweise zu den Unternehmerverbänden dokumentiert, insgesamt aber doch zeigt, wie wenig diesen Beachtung geschenkt wurde. Einzelne Studien sind eine eher theoretische Auseinandersetzung mit der Rolle der Unternehmer im Entwicklungsprozeß vor dem uruguayischen Hintergrund, wie bei Ricardo Peirano und Edgardo Favaro, oder vermitteln im Rahmen von vergleichenden Untersuchungen lediglich Basisinformationen, wie bei Francisco F. Estrada und Maria Laura Masi. 98 Erst Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre rückten die Unternehmerverbände mehr in das Forschungsinteresse der uruguayischen Sozialwissenschaften. Nachdem Carlos Filgueira sich in zwei Aufsätzen diesem Thema angenähert hatte, entstanden in dem von ihm geleiteten Forschungsinstitut CIESU (Centro de Informaciones y Estudios del Uruguay) diverse Arbeitspapiere überwiegend zu Detailfragen. 99 Initiativen in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung der Unternehmerverbände in der sozialwissenschaftlichen Forschung Uruguays gingen auch vom Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Montevideo und dessen 94 95

96 97

98 99

Siehe Oddone 1990; Alonso Eloy/Demasi 1986 und Alonso Eloy 1987. Siehe für den Industriesektor: Lamas/Piotti de Lamas 1981; Jacob 1981; Beretta Curi/Morón Jacoel 1989; Alonso Eloy 1982; für den Agrarsektor: Piñeiro 1984, 1985 und 1987; Latorre o.J. Der Aufsatz von Gustavo Vilaró Sanguinetti, Repräsentant der Cámara Nacional de Comercio, ist eher als Selbstdarstellung seines Verbandes zu verstehen. (Siehe Vilaró Sanguinetti 1976.) Siehe Handelman 1981a, 1981b und 1981c; Finch 1985. Siehe Rama 1987; Lerin/Torres 1987; Caetano/Rilla 1987; Notaro 1983, 1984a und 1984b; Martorelli 1982a und 1982b; Rial 1984a; Berretta 1989; Filgueira 1990; Rocca 1988. Siehe Machado Ferrer/Fagúndez Ramos 1987 und 1991; Peirano/Favaro 1986; Estrada/Masi 1983. Siehe Filgueira 1988 und 1990; Bertrand 1991; Bruera o.J., 1991a und 1991b; Bruera/Piñeiro/Riella 1993; Bruera/Riella 1991; Guerrini 1991; Piñeiro 1988 und 1991a; Riella 1989; Riella/Bruera o.J.

Literaturüberblick, Datenbasis, Materialerschließung, Methodik

61

damaligen Leiter Klaus Bodemer aus. Als Ergebnis eines im November 1991 veranstalteten Seminars konnte ein Sammelband veröffentlicht werden, der neben der bereits erwähnten Arbeit von Gerardo Caetano vier weitere Aufsätze zu den uruguayischen Unternehmerverbänden enthält. 100 Vergleichsweise gut erforscht ist für die Regierungszeit von Julio María Sanguinetti (1985-1990) der Bereich der Arbeitsbeziehungen (Dreiecksverhältnis Unternehmer - Gewerkschaften - Staat) 101 und für die erste Hälfte der Regierungszeit von Luis Alberto Lacalle (1990-1992) der Prozeß der regionalen Integration. 102 Die Menge der hier genannten Autoren und Arbeiten - immerhin weit über 100 - darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bis auf wenige Ausnahmen ganz überwiegend um Studien handelt, bei denen die Unternehmer und ihre Verbände nur am Rande behandelt werden. Besser erforscht sind die grupos económicos, zu denen sich durchaus Arbeiten in der Art finden, wie sie auch für Argentinien und Chile vorliegen. Nach der ersten systematischen Studie zur Identifizierung der grupos económicos von Vivián Trías vor 35 Jahren war es in den vergangenen Jahren vor allem Luis Stolovich und neben ihm Juan Manuel Rodríguez, beide aus dem Centro Uruguay Independiente, die diese Thematik umfassend und gründlich bearbeitet haben. 103 Unternehmerverbände wurden allerdings auch von diesen nur peripher behandelt, so daß diesbezüglich die Forschungslage sehr defizitär geblieben ist. Abschließend folgen noch einige Anmerkungen zur Untersuchungsdurchführung. Über die Schwierigkeiten hinaus, die sich aus der bislang nur unzureichenden wissenschaftlichen Behandlung der Unternehmerverbände im konkreten Fall Uruguay ergeben, wirft eine empirische Arbeit über ein lateinameri100 101

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103

Siehe FESUR/CIESU/Instituto de Ciencia Política 1992 und darin: Lanzaro 1992; Bruera 1992; Piñeiro 1992; Aguiar 1992. Siehe zu den Unternehmerverbänden und besonders zum Bereich der Arbeitsbeziehungen während der Regierung Sanguinetti neben der bereits erwähnten Literatur: Notaro 1989a, 1989b und 1991; OIT 1987; Alberti 1989; Brezzo/Vispo 1988; Frenkel/Damill 1990; Cancela/Notaro 1987 und 1989; De Sierra 1988 und o.J.; Landinelli/López Chirico 1990; Beisso 1989; Panizza 1989; Pucci 1989 und 1992; Berretta 1989; Arocena 1990; Rodríguez 1988 und 1990; Stolovich 1988a, 1988b und 1989a; Rodriguez/Stolovich 1990. Siehe zu den Unternehmerverbänden in der Zeit von 1990 bis 1992, soweit noch nicht vorher angegeben, die Informationen bei: Snoeck/Sutz/Vigorito 1994; Rodríguez 1992; Stolovich 1991b und 1992a; Nolte 1994; Arndt 1991; Schonebohm 1994; Bizzozero/ Luján 1993; Bruera/Piñeiro/Riella 1994; Bodemer 1993; Birle/Imbusch/Wagner 1993 und 1994b; Birle/Wagner 1993. Siehe Trias 1961; Stolovich/Rodríguez/Bértola 1988; Stolovich/Rodriguez 1987; Stolovich 1987, 1988a, 1990, 1993 und o.J. sowie zur Rolle ausländischer Unternehmen 1989b; Informationen zu den grupos económicos bzw. zu einzelnen fuhrenden Unternehmen bzw. Unternehmern finden sich auch in Mate Amargo 1991 sowie für die Jahre 1915 bis 1945 in Jacob 1991.

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1. Analytischer Rahmen

kanisches Land in der Regel erhebliche Probleme bei der Materialbeschaffung auf, die sich so bei vergleichbaren Studien über ein westeuropäisches oder nordamerikanisches Land nicht ergeben. Aus dieser Tatsache ergaben sich auch Implikationen bezüglich der methodischen Vorgehensweise im Rahmen der vorliegenden Studie. Die erste Hälfte des schwerpunktmäßig behandelten Untersuchungszeitraumes (Militärdiktatur) basiert im wesentlichen auf einer Auswertung der gesamten Sekundärliteratur. Hierzu wurden bei einem Forschungsaufenthalt vom September bis Dezember 1991 intensive Literaturrecherchen in allen sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituten in Montevideo betrieben. Ergänzt wurde dies durch viele Hinweise in einer Reihe von Gesprächen mit denjenigen Sozialwissenschaftlern in Uruguay, die sich wissenschaftlich mit dieser Thematik beschäftigt haben und als Zeitzeugen zusätzliche Informationen liefern konnten. Mit Hilfe von Interviews vor allem mit Repräsentanten der wichtigen Unternehmerverbände wurde versucht, das durch die Auswertung der Literatur gewonnene Bild abzurunden. 104 Ergänzend kamen Gespräche mit Gewerkschaftern und Politikern hinzu, um durch die Vermittlung möglichst vieler und auch unterschiedlicher Sichtweisen eine fundierte Analyse vornehmen zu können. Soweit dies möglich war, wurden auch Primärquellen erschlossen, Verbandspublikationen, Statuten, Dokumente und offizielle Verlautbarungen eingesehen. Für die Zeit der Militärdiktatur waren diese allerdings kaum verfügbar. Dies gilt ebenso für Artikel in der Presse, deren Analyse noch dazu deshalb wenige Ergebnisse bringen konnte, da durch Zensurmaßnahmen kaum Informationen vermittelt wurden, die für die vorliegende Arbeit einen Erkenntnisgewinn hätten bringen können. Dies ist ein wichtiger Unterschied zur Materiallage der Jahre 1985 bis 1992. Wenngleich sich die Auswertung der Berichterstattung für diese Jahre immer noch mühsam und zeitaufwendig gestaltete, spielt diese für die zweite Hälfte des Untersuchungszeitraumes ebenso wie die vor Ort geführten Interviews eine sehr viel wichtigere Rolle. Erkenntnisse aus teilnehmender Beobachtung konnten nicht nur während des Forschungsaufenthaltes 1991, sondern ebenso während eines Studienjahres von April 1989 bis März 1990 in Montevideo gewonnen werden. Methodisch wurde eine komparative Herangehensweise gewählt, da dies im Sinne des Untersuchungsinteresses den größten Erkenntnisgewinn versprach. 104 Grundlage für die Interviews, die in der Regel eineinhalb bis zwei Stunden dauerten, waren halbstrukturierte Frageraster, die flexibel benutzt und der jeweiligen Gesprächssituation angepaßt wurden. Um den Gesprächsverlauf nicht zu beeinträchtigen, wurden keine Mitschnitte angefertigt, sondern statt dessen handschriftlich Informationen festgehalten, die später zu einem Gedächtnisprotokoll erweitert wurden.

Literaturüberblick, Datenbasis, Materialerschließung, Methodik

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Dabei sind analytisch zwei Vergleichsebenen zu unterscheiden: Im Längsschnitt wird die politische Rolle der Unternehmerverbände in verschiedenen zeithistorischen Zusammenhängen vergleichend untersucht. Dabei ist nicht nur die Gegenüberstellung von Diktatur und Demokratie relevant, sondern darüber hinaus liefern auch die verschiedenen Phasen der diktatorischen Herrschaft (Einrichtung, Versuch der Konsolidierung und Scheitern der Diktatur) und die beiden demokratisch gewählten Regierungen jeweils einen Orientierungsrahmen für den Vergleich. In einer Querschnittanalyse wiederum werden die einzelnen Unternehmerverbände im selben zeithistorischen Kontext miteinander verglichen.

Staatliche Unabhängigkeit und Wirtschaftsstruktur im 19. Jahrhundert

2.

Historischer Hintergrund: Ökonomisch-politische Entwicklung und Unternehmerschaft

2.1

Staatliche Unabhängigkeit und Herausbildung der Wirtschaftsstruktur im 19. Jahrhundert

65

In der Kolonialzeit war das Territorium des heutigen Uruguay zeitweise von Spanien, zeitweise von Portugal besetzt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließlich beabsichtigte das britische Empire, das Vizekönigreich Rio de la Plata zu erobern. Zwar konnten britische Truppen 1806/07 Buenos Aires und Montevideo besetzen, doch letztendlich scheiterten die Invasionsversuche. Uruguay erlangte mit dem Frieden von Rio de Janeiro von 1828 und der ersten Verfassung von 1830 formal seine staatliche Unabhängigkeit. Im Gefolge der Unabhängigkeitskriege setzten die regionalen Machtzentren Buenos Aires und Rio de Janeiro den Streit der Kolonialmächte um das heutige Uruguay fort. Die britischen Hegemonialinteressen - u.a. motiviert durch die konkrete Aussicht, die Region als Absatzmarkt für in England gefertigte Produkte nutzen zu können - waren allerdings trotz der militärischen Niederlage keineswegs erloschen. Besonders den Zugang zum Rio de la Plata und damit den Schiffahrtsweg ins Innere des Kontinents wollte sich das Empire freihalten. Die Unabhängigkeit der Provincia Oriental sowohl von Buenos Aires als auch von Rio de Janeiro sollte für England die Gewähr liefern, daß Montevideo „als günstiger Zwischenhafen und Ausgangspunkt für die wirtschaftliche Penetration dieses Teils Lateinamerikas"1 dienen kann und daß Uruguay die Funktion des Pufferstaates zwischen den beiden Giganten Südamerikas übernimmt. Bereits die Staatsgründung Uruguays war also eng mit den hegemonialen Interessen Englands verknüpft. Nach dependenztheoretischem Sprachgebrauch ist der Fall Uruguay ein Paradebeispiel dafür, daß eine Zentrumsnation sich geradezu eine Peripherienation kreierte. Die Abhängigkeit Uruguays von England beschränkte sich nicht nur auf den historischen Zusammenhang des Erreichens der Eigenstaatlichkeit. Es erscheint vielmehr nur konsequent, wenn Finch die Erkenntnis formuliert, daß kaum eine andere Nation im 19. Jahrhundert so

1

Senghaas 1982: 160/161.

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2. Historischer Hintergrund

vollständig von der britischen Weltmacht absorbiert wurde. 2 Zwar geriet Uruguay in der Zeit nach den Bürgerkriegen von 1839-1852 (sogenannte Guerra Grande) zunächst in eine große wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit von Brasilien und ordnete sich seinem Nachbarn auch politisch völlig unter;3 doch im Laufe der Jahre wurde Brasilien als Hegemonialmacht in Uruguay immer mehr von England abgelöst. Der britische Einfluß, der ab Mitte der 60er Jahre stärker wurde, sollte ganz entscheidend die Wirtschaftsstruktur des Landes prägen. Weltmarktintegration und Agrarexportwirtschaft entwickelten sich langfristig zu den entscheidenden Bestimmungsfaktoren der uruguayischen Volkswirtschaft. Die natürlichen Ressourcen lieferten eine hervorragende Basis für die Viehzucht, für die Produktion von Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Rohstoffen. Die große internationale Nachfrage nach Agrargütern, verbunden mit der Existenz eines Hafens in Montevideo, der sich allein wegen der natürlichen und geographischen Bedingungen als Umschlagplatz für Waren sehr viel besser eignete als der Hafen von Buenos Aires, ermöglichte, daß sich Uruguay zu einer der dynamischsten Handelsregionen Lateinamerikas entwickelte. Im Sinne internationaler Arbeitsteilung war es für England interessant, Uruguay zum Handelspartner zu machen und zunehmend in den Weltmarkt zu integrieren. Das Land war besonders geeignet einerseits als Lieferant für agrarische Rohstoffe (vor allem Wolle zur Herstellung von Textilien in England) und andererseits als Absatzmarkt für britische Fertiggüter. England forcierte allerdings nicht nur den Handel mit Uruguay, sondern sah dort auch günstige, gewinnträchtige Investitionsmöglichkeiten. Handel und Investitionen ergänzten sich so sehr, daß um 1875 britische Unternehmen und britisches Kapital die wirtschaftliche Infrastruktur Uruguays bestimmten.4 Die britischen Aktivitäten konzentrierten sich auf den Eisenbahnbau, den Finanzsektor und die fleischverarbeitende Industrie.^ 2 3 4

5

Vgl. Finch 1981: 191. Vgl. Lynch 1985: 661. Vgl. Winn 1975: 42/43. Es ist symptomatisch, wenn Ende des 19. Jahrhunderts der damalige uruguayische Präsident Henera y Obes seine Rolle so beschrieben haben soll, daß er sich als Geschäftsführer eines großen Unternehmens fühle, dessen Direktorium sich in London befinde. (Julio Herrera y Obes, so zitiert nach De Torres Wilson 1990: 37.) Zu dieser Zeit war das Kommunikations-, Dienstleistungs-, Versicherungs- und Transportwesen (und hier die gesamte Eisenbahn) praktisch in britischen Händen; Engländer besetzten die entscheidenden Positionen in Banken, im Bereich der Viehzucht und der fleischverarbeitenden Industrie; die finanzielle Abhängigkeit äußerte sich u.a. dadurch, daß alle sieben internationalen Anleihen Uruguays der vergangenen vier Jahrzehnte in London ausgestellt worden waren, daß Uruguay gemessen an der Pro-Kopf-Verschuldung der größte

Staatliche Unabhängigkeit und Wirtschaftsstruktur im 19. Jahrhundert

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Allgemein kann aus einer historischen Perspektive der Entwicklungsstil Uruguays als kapitalistisch und ausländischen Interessen untergeordnet charakterisiert werden.6 Die britische Penetration Uruguays wurde jedoch erst durch das Verhalten und die Interessen der einheimischen Wirtschaftselite ermöglicht. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich besonders die Viehzüchter aus dem Landesinnern gegen eine Ausdehnung des britischen Einflusses gewandt, der sich nach ihrer Ansicht zu ihren Ungunsten vollziehen würde. Sie favorisierten demgegenüber einen nationalen Entwicklungsweg, kollidierten damit aber mit den Interessen der städtischen, auf den Handel ausgerichteten Elite. 7 Letztere verstand eine britische Vormachtstellung als Garant für wirtschaftliches Wachstum und politische Stabilität sowie als Schutz gegenüber der besonders von Buenos Aires ausgehenden Bedrohung, das Gebiet kontrollieren zu wollen. Bereits vor der Unabhängigkeit, nämlich 1824, strebte die städtische Handelselite eine Transformation der damaligen Banda Oriental in eine englische Kolonie an; zwischen 1838 und 1848 bot die Regierung in Montevideo England mehrmals Zugeständnisse an, die bei Realisierung faktisch der Errichtung eines britischen Protektorats gleichgekommen wären. Von britischer Seite wurden derartige Anliegen allerdings abgelehnt, zum einen wegen mangelnder politischer Stabilität in diesem Teil Südamerikas, zum anderen weil dort die Position der städtischen Handelselite insgesamt noch zu schwach war, um als verläßlicher Partner britischer Interessen agieren zu können.8 Die Bürgerkriege bis Mitte des 19. Jahrhunderts hinterließen ein wirtschaftlich stark angeschlagenes Uruguay. Zwar hatte dies keine Auswirkungen auf die vom Großgrundbesitz dominierte Agrarstruktur, wohl aber auf die traditionellen Agrarunternehmer. Diese wurden zu einem Großteil in den Ruin getrieben, so daß ihnen häufig kein anderer Ausweg blieb, als den Weg nach Montevideo zu suchen und ihren Landbesitz günstig zu veräußern. Käufer waren in erster Linie in Montevideo ansässige Kaufleute, Händler und Handwerker, die schon 1853 zu drei Viertel aus dem Ausland kamen.9 Bis 1870 war das Gros der traditionellen Agrarunternehmer durch Familien ersetzt worden, die erst wenige Jahre in Uruguay ansässig waren und einer Integration Uruguays in den Welt-

6 7

8 9

Schuldner Englands in Südamerika war, daß ein Großteil des Umlaufgeldes englische Banknoten waren und englische Banken nationale Spareinlagen kontrollierten. (Vgl. Winn 1975:45.) Vgl. Astori 1990: 11. Vgl. Senghaas 1982: 161. Vgl. Winn 1975: 15-25. Vgl. Lynch 1985: 660/661.

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2. Historischer Hintergrund

markt und damit einem Ausbau der britischen Vormachtstellung positiv gegenüberstanden.10 Deren Bereitschaft zur „Kollaboration"!1 m j t England war ähnlich wie bei der städtischen Handelselite in der Vergangenheit - nicht nur durch wirtschaftliche Interessen, sondern auch durch den Wunsch nach politischer Stabilität motiviert. In diesem historischen Kontext entstanden auch die ersten wichtigen Unternehmerverbände, die z.T. bis heute existieren. Als erstes zu nennen ist die 1871 gegründete Asociación Rural, die als Interessenverband der Agrarunternehmer primär auf die technologische Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen Produktion ausgerichtet und um eine Verbesserung der Züchtung bemüht war. 12 Ihr folgten noch in den 70er Jahren Unternehmerverbände des Handels- und Industriesektors: die Cámara Nacional de Comercio und die Vorläuferorganisation der Cámara de Industrias, die Liga Industrial.13 Die nunmehr verstärkt konvergierenden Interessen der einheimischen Unternehmerschaft und der Hegemonialmacht England hatten zum Ergebnis, daß die bestehenden Wirtschaftsstrukturen verfestigt wurden. In diesem Sinne trug die britische Penetration langfristig auch zu einer Verstärkung bestehender struktureller Defizite bei. 14 Denn wirtschaftliche Aktivitäten liefen darauf hinaus, nicht etwa eine Diversifizierung der nationalen Ökonomie voranzutreiben, sondern vielmehr die weltmarktorientierte Spezialisierung auf Produktion und Ausfuhr agrarischer Rohstoffe auszubauen. Protektionistische Maßnahmen und erste Industrialisierungsversuche ab 1875 aufgrund der Wirtschaftskrise in Europa brachten kaum neue Impulse. Sie trugen weder zu einer substantiellen Veränderung der Wirtschaftsstruktur noch zu einer entscheidenden Verringerung der Abhängigkeit bei. 15 Effektive Strategien der importsubstituierenden Industrialisierung wurden nicht verfolgt. Um die Jahrhundertwende wurden nicht nur beinahe alle im Land konsumierten Fertigwaren und Konsumgüter 10 11 12

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15

Vgl. Solan 1964: 117-119. Winn 1975: 48. Vgl. Astori 1979: 265, Astori 1990: 19 und Handelman 1981a: 240. Zu den Unternehmerverbänden im 19. Jahrhundert, einschließlich der 1898 gegründeten Unión Industrial Uruguaya, die später in Cámara de Industrias del Uruguay umbenannt wurde, siehe Jacob 1981: 43-79 und Jacob 1985. Ausführlich behandelt wird die damalige Zeit in dem sieben Bände umfassenden Standardwerk uruguayischer Geschichtswissenschaft von Barrán/Nahum, die in den Jahren von 1967 bis 1978 erschienen sind. Zum folgenden vgl. Winn 1975: 55-83. Auch Senghaas hat die langfristigen Auswirkungen britischer Aktivitäten auf die uruguayische Wirtschaft analysiert. (Vgl. Senghaas 1982: 160-177.) Durch einen Vergleich der Entwicklungswege von Dänemark und Uruguay ist es ihm gelungen, den letztendlich entwicklungshemmenden britischen Einfluß herauszuarbeiten. Vgl. Galain u.a. 1972.

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importiert, sondern sogar Textilien. Zwar zählte Wolle zu den wichtigsten Produkten Uruguays, aber noch 1910 wurden nur 0,01% der gesamten Wollproduktion im Land verarbeitet.16 Industrielle Aktivitäten beschränkten sich auf eine Kleinindustrie handwerklichen Charakters. Entsprechend gering war das wirtschaftliche und politische Gewicht der „Industrieunternehmerschaft".17 Die Präferenz der Kapitalanleger, englische Banken eingeschlossen, lag zugunsten von kurzfristigen Import-/Exportgeschäften, Landkauf und Spekulation; langfristige Investitionen waren zweitrangig. Zwar wurde der Infrastruktur- und Dienstleistungssektor ausgebaut (vor allem bezogen auf die Bereiche Eisenbahn, Handel, Banken und Versicherungen), insgesamt aber entwickelte sich die Wirtschaft völlig nach den Maßgaben und Erfordernissen des Agrarexportmodells. Dies gilt auch für die als langfristig zu verstehenden Investitionsmaßnahmen im Rahmen des Eisenbahnbaus, die vor dem Hintergrund des Transportes von Agrargütern aus dem Landesinnern zur Verschiffung zum Hafen nach Montevideo erfolgten. Die intensivierte Integration in den Weltmarkt auf der Basis einer Agrarstruktur, die durch extensive Viehwirtschaft und Großgrundbesitz geprägt war, führte zu einer totalen Abhängigkeit vom Weltmarkt. Zwar verstärkte die britische Penetration bzw. die Weltmarktintegration bestehende volkswirtschaftliche Strukturdefizite; aufgrund der damaligen Weltmarktsituation und der komparativen Kostenvorteile der uruguayischen Monoexportwirtschaft wurde damit aber gleichzeitig die Grundlage für zukünftige wirtschaftliche Prosperität und politische Stabilität geliefert. Resümierend charakterisiert Nohlen die besondere Situation der Abhängigkeit Uruguays von Beginn seiner Geschichte an: „Sie besteht nicht in der Überlagerung und Deformierung existenter ökonomischer und soziopolitischer Strukturen durch die europäische Expansion, sondern im Aufbau einer Gesellschaft in Funktion der ausländischen Nachfrage." 18 Mangel an Kapital und Arbeitskräften sowie unzureichende Nachfrage auf einem sehr begrenzten Binnenmarkt ließen kaum einen anderen Weg, als sich am damaligen britischen Weltreich zu orientieren, wenn eine Anbindung an Buenos Aires vermieden werden sollte. Als Grundmerkmal der Gesellschaft entwickelte sich eine Asymmetrie analog den beiden Säulen des Wirtschaftsmodells (extensive Landwirtschaft auf der Basis komparativer Kostenvorteile und ein günstig gelegener städtischer Hafen). Quelle des wirtschaftlichen Fortschritts war die Landwirtschaft; gleichzeitig begann zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Urbanisierungsprozeß, 16 17 18

Vgl. Winn 1975: 66. Vgl. Lamas/Piotti de Lamas 1981: 129. Nohlen 1992: 479/480.

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2. Historischer Hintergrund

was mit einem Bedeutungszuwachs der städtischen Region einherging. 19 Es entstand ein Antagonismus zwischen Stadt und Land, der eine für Lateinamerika atypische Entwicklung begünstigte: die tendenzielle Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht. Denn diejenigen, die die Wirtschaft (d.h. damals den Agrarsektor) dominierten und das Monopol über die Produktionsmittel besaßen, sollten kein Monopol über die politische Macht bekommen; den Großgrundbesitzern sollte es nicht gelingen, sich als hegemoniale politische Kraft zu konstituieren.20 Anders als im übrigen Lateinamerika konnte sich keine typische Oligarchie, die sich von einer ökonomisch dominierenden zu einer auch politisch herrschenden Gruppe entwickelte, herausbilden.21 Zu den Gründen gehörte u.a., daß sich - auch bedingt durch das im Vergleich zu Argentinien und Brasilien begrenzte ökonomische Potential des Landes 22 - die Wirtschaftselite Uruguays bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ihren ökonomisch sehr viel mächtigeren Pendants in Brasilien und Argentinien unterordnete, also selbst nur begrenzt die politischen Geschicke der Nation in die Hand nahm. Ungünstig auf die Möglichkeit der Herausbildung einer nationalen, Wirtschaft und Politik beherrschenden Oligarchie wirkte sich auch das im Vergleich zu den Verhältnissen in den Nachbarländern ausgeprägtere Angewiesensein der Großgrundbesitzer und Viehzüchter auf die ländliche Bevölkerung aus. Diese war in ihrer Anzahl begrenzt und relativ mobil, ihre Arbeitskraft konnte nicht durch Sklaven ersetzt werden, und sie stellte den 19

20

21 22

Vgl. u.a. Astori 1990: 12-16. Siehe hierzu neben vielen anderen Panizza 1990b: 24/25. In diesem Zusammenhang weist Finch darauf hin, daß entsprechend der Logik kapitalistischer Systeme auch in Uruguay der Staat nicht gänzlich unabhängig von den Interessen wirtschaftlicher Machtgruppen war (zu den Wesensmerkmalen des Kapitalismus gehört nach Finch, daß deijenigen Klasse, die Eigentümer der Produktionsmittel ist, auch ein besonderer Status als Kontrollinstanz über den Staatsapparat zukommt). Finch stellt aber zu Recht fest, daß im lateinamerikanischen Vergleich der Staat und das politische System Uruguays relativ autonom, also vergleichsweise unabhängig von den dominierenden ökonomischen Interessengruppen des Agrarsektors waren. (Vgl. Finch 1981: 2.) Auch unter uruguayischen Sozialwissenschaftlem unterschiedlicher ideologisch-politischer Couleur besteht weitgehender Konsens in dieser Frage. Hierzu nur zwei Beispiele: - „De esta manera, junto a la presencia de un Estado intervencionista con un perfil ideológico predominantemente urbano, se gestó una contradicción que permanecería vigente después en toda la historia posterior del Uruguay: la clase generadora del excedente no monopolizaba el poder político, sino que tenía que compartirlo con el Estado, que a su vez representaba y se apoyaba en un acuerdo tácito entre los grupos urbanos [...]." (Astori 1990: 16.) - „La constante en el tiempo es que ningún grupo con poder económico fue capaz de constelar a los otros grupos de cúpula y ejercer la hegemonía y la dirección de la sociedad." (Rama 1987: 120.) Vgl. Rama 1987: 120-124. Vgl. Real de Azúa 1984: 43.

Staatliche Unabhängigkeit und Wirtschaftsstruktur im 19. Jahrhundert

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Absatzmarkt für die landwirtschaftlichen Produkte, also Nahrungsmittel, dar. Zudem existierte in Uruguay keine Allianz zwischen Militär, Kirche und Latifundisten, die als klassisches Beziehungsmuster in vielen lateinamerikanischen Ländern die Basis umfassender oligarchischer Macht lieferte.

2.2

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

Die frühe Urbanisierung trug zur Herausbildung einer städtischen politischen Elite bei, deren sozialstrukturelle Verankerung weitgehend unabhängig von der Agrarunternehmerschaft war. Entsprechend den Gegensätzen zwischen Stadt und Land verliefen die grundsätzlichen gesellschaftlichen cleavages; dies fand auch seinen Ausdruck in der Orientierung der beiden traditionellen Parteien Partido Colorado (Colorados) und Partido Nacional (Blancos). Obwohl beide poliklassistische Parteien waren, galten besonders seit den Bürgerkriegen von 1839-1852 die Colorados eher als progressive Kraft, die ihre Klientel vorrangig aus den Städten bezog und deren Vertreter überwiegend die Interessen des städtischen Großbürgertums und des Handelssektors repräsentierten; demgegenüber waren die Blancos konservativ orientiert, stärker in ländlichen Regionen vertreten und Interessenrepräsentant der Latifundisten. Waren beide Parteien bis etwa zur Jahrhundertwende noch vor allem das, was Max Weber als Honoratiorenparteien bezeichnete, so entwickelten sie sich danach immer mehr zu Massenparteien. Obwohl sie seitdem im Sinne von Otto Kirchheimer typologisch als catch ^//-Parteien einzuordnen sind, blieben die Blancos aber eher in der ländlichen Bevölkerung verankert und die Colorados stützten sich mehr auf städtische Mittelschichten und die Industriearbeiterschaft. Zu den dauerhaften Merkmalen der politischen Kultur zählte die Entwicklung einer stabilen politischen Klasse, deren Mitglieder sich bereits früh durch einen hohen Professionalisierungsgrad23 auszeichneten, sowie die Tatsache, daß staatliche Instanzen eindeutig die politischen Parteien als Gesprächs- und Verhandlungspartner bevorzugten und ihnen einen gegenüber Unternehmerverbänden und anderen korporativen Akteuren klar privilegierten Status einräumLandinelli/Löpez Chirico sprechen von überwiegend professionellen Politikern, die häufig aus dem universitären Umfeld kamen; bis auf einige Ausnahmen habe es sich um „in den autonomen Sphären des Staatsapparates gereifte" Politiker gehandelt, ohne direkte Verknüpfungen mit der ökonomischen Macht. (Vgl. Landinelli/Löpez Chirico 1990: 217.) Gillespie weist auf den - im positiven Sinne - Korpsgeist der politischen Klasse hin: „They normally practiced liberal professions, above all law, and were therefore often educated together." (Gillespie 1992: 181.)

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2. Historischer Hintergrund

ten. 24 Begünstigt durch das Wahlsystem, auf das im folgenden noch näher eingegangen wird, gelang es den beiden traditionellen Parteien, auf politischer Ebene eine Monopolstellung zu behalten. Die Untemehmerverbände ihrerseits suchten ebenso wie andere gesellschaftliche Gruppierungen überwiegend die Parteien als Vermittlungsinstanzen gegenüber staatlichen Einrichtungen. Nicht nur die Existenz einer eigenständigen politischen Elite und die deutliche Privilegierung der Parteien als entscheidender politischer Akteur, auch die Zusammensetzung innerhalb der dominierenden Wirtschaftskreise selbst machte es schwierig, daß diese sich zu einer homogenen, auch politisch herrschenden Klasse entwickeln konnten. Ende des 19. Jahrhunderts waren in Montevideo 80% des ImporWExportbereichs, der Industrie und des Bankenwesens sowie im Landesinneren 50% des Landbesitzes in ausländischen Händen. 25 Die ökonomisch dominierenden Unternehmer waren überwiegend Engländer, Franzosen, Italiener, Spanier und Brasilianer, die zwar an ökonomischem Profit interessiert waren, kaum aber am politischen Alltagsgeschäft. Ein Engagement in den politischen Parteien erschien ihnen nur wenig attraktiv, da sie diese überwiegend mit Bürgerkrieg, Anarchie und Chaos des 19. Jahrhunderts identifizierten und gleichzeitig deren Fähigkeit zur politischen Massenmobilisierung unterschätzten. Außerdem verfügten sie nicht über die nötigen familiären Verbindungen, so daß sie trotz ökonomischer Potenz für politische Ämter kaum in Frage kamen. 26 Neben dem Willen von Teilen der Wirtschaftselite, politisch zu agieren und unmittelbar zu intervenieren, fehlte auch die nötige interne Geschlossenheit, um sich ausgehend von der ökonomischen Potenz zu einem einheitlichen politischen Machtblock transformieren zu können. Gerade die Allianz mit England trug zu einer Konstellation divergierender Interessen bei; grundsätzlich verschiedene Entwicklungsvorstellungen in den Reihen der Unternehmer waren nicht miteinander zu vereinbaren.27 Die relative politische Schwäche der Wirtschaftselite und die Herausbildung einer weitgehenden Autonomie des politischen Systems ermöglichten die sozialreformerische Politik von José Batlle y Ordónez, der während seinen beiden Präsidentschaften (1903-1907 und 19111915) entscheidende Weichenstellungen für die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes vollzog.

24 25 26 27

Vgl. Caetano 1992b: 18/19. Vgl. Barran/Nahum 1982: 50. Vgl. Finch 1981: 9. Vgl. hierzu neben anderen besonders Rama 1987: 125/126 sowie Finch 1981: 9.

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

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„[...] the rise of Batlle must be understood in terms of the emergence of an unusually creative leader, located within a political system that had significant autonomy from immediate economic and social forces and aided by a broad vision of the direction of societal c h a n g e .

Das staatspolitische Reformkonzept des Colorado-Politikers Batlle y Ordóñez zielte auf die Umwandlung des Präsidialsystems in ein kollegiales Regierungssystem. Durch die Einrichtung eines direkt vom Volk zu wählenden Staatsrates sollte die aus der Machtfülle des Präsidenten resultierende Gefahr diktatorialer Tendenzen gebannt werden. Aufgegriffen wurde das Vorhaben von Batlle y Ordóñez in der Verfassung von 1917, mit der das Land seine demokratische Grundstruktur erhielt.29 in Form einer Kompromißlösung - dem Vorhaben von Batlle y Ordóñez wurde aus dem Agrarsektor massiver Widerstand entgegengebracht, worauf später noch eingegangen wird - wurde die Regierungsgewalt zwischen Präsident und Staatsrat (Consejo Nacional de Administración) aufgeteilt. Die Mitglieder des Staatsrates rekrutierten sich zu zwei Dritteln aus der stärksten und zu einem Drittel aus der zweitstärksten Partei. Diese so erreichte Einbindung der oppositionellen Blancos in die Regierungsverantwortung und die bestehenden Machtstrukturen sollte die von ihnen ausgehende Umsturzgefahr mindern. Und tatsächlich trug dieses Prinzip der coparticipación in der Folgezeit zu einer Stabilisierung des demokratischen politischen Systems bei. Den beiden traditionellen Parteien gelang es dadurch, die Macht untereinander aufzuteilen. Zusätzlich trug eine originelle Wahlgesetzgebung dazu bei, ein Zweiparteiensystem zu konsolidieren, das über Jahrzehnte Bestand haben sollte. Die Einführung des sogenannten Doble Voto Simultáneo im Jahr 1910 kam den Interessen der dominierenden Kräfte in den beiden traditionellen Parteien entgegen, ihre Vormachtstellung zu sichern. Mit dem Doble Voto Simultáneo wurde simultan eine politische Partei und untereinander konkurrierende Kandidaten (bzw. Listen von Kandidaten) dieser Partei gewählt. Mit einer Stimme entschied man sich also gleichzeitig für eine Partei (Lema), eine Parteifraktion (Sublema) und eine Personenliste. Die für einzelne Listen abgegebenen Stimmen konnten 28

Collier/Collier 1991: 126. u.a. wurde das freie, allgemeine, geheime und gleiche Männerstimmrecht ab einem Alter von 18 Jahren eingeführt. Zwar wurde damals auch eine gesetzliche Regelung verankert, mit der Frauen das Wahlrecht zugesprochen werden konnte; die Gewährung des Stimmrechts für Frauen sollte faktisch aber wegen Unklarheiten bei bestimmten Formulierungen (z.B. bezüglich der Staatsbürgerschaft) erst mit der Verfassungsreform von 1934 erfolgen. Jegliche Unterschiede zwischen Mann und Frau hinsichtlich der politischen Rechte wurden aufgehoben (vgl. Cisa/Franco 1977: 13, 19), immerhin einige Jahre früher als beispielsweise in Frankreich, Spanien, Portugal und Italien.

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2. Historischer Hintergrund

zu einem für die Mandatsvergabe entscheidenden Gesamtergebnis der Partei akkumuliert werden. Perfektioniert wurde diese Möglichkeit der Stimmenakkumulation durch die Wahlgesetze von 1925 und später in den 30er Jahren durch die Leyes de Lema. Da unterschiedliche Fraktionen mit eigenen Kandidaten unter dem Dach einer gemeinsamen Partei zu den Wahlen antreten konnten, gelang es nun Partido Colorado und Partido National als catch all-Parteien, ihre Einheit zu bewahren, die immer wieder durch interne Konflikte und Spaltungstendenzen gefährdet gewesen war. So verhinderte das Wahlsystem auf Dauer ein Auseinanderbrechen der beiden Parteien, begünstigte aber gleichzeitig den Prozeß einer internen Zersplitterung. Aufgrund der extrem fraktionellen Organisationsform und der starken ideologischen Fragmentierung von Partido Colorado und Partido National wird deswegen auch von einem „fragmentarischen Zweiparteiensystem" g e s p r o c h e n . 3 0 Als positiver Effekt des Wahlsystems wurde mit ihm eine Demokratisierung und Politisierung der Gesellschaft eingeleitet, indem das Ausmaß und die Möglichkeiten politischer Partizipation deutlich anstiegen. Die von der Wahlgesetzgebung ermöglichte Zersplitterung führte zu einer sehr viel pluralistischeren internen Struktur der traditionellen Parteien anstelle eines zentralistischen Parteiapparats, zu besseren Möglichkeiten von parteiinternen Minderheiten, sich zu artikulieren und zur Wahl anzutreten, zu einer größeren Auswahl bei der Bestimmung des politischen Führungspersonals und der Mandatsträger bzw. zu einem relativ großen Entscheidungsspielraum des Wählers innerhalb seiner Parteipräferenz. Durch diese Gegebenheiten wurde auch ein Mechanismus in Gang gesetzt, der zu sauberen Wahlen, d.h. zu Wahlen ohne Wahlbetrug, führte. 31 Der negative Effekt des Wahlsystems bestand in einer Institutionalisierung des Klientelismus.32 Durch die Aufspaltung der Parteien in Fraktionen mit verschiedenen Listen, die von politischen Klubs unterstützt wurden, entstand ein weitverzweigtes klientelistisches Netz, in dem individuelle Forderungen an das politische System kanalisiert werden konnten. Die daraus resultierenden Ansprüche sollten aber im Laufe der Zeit dermaßen ansteigen, daß es, nachdem der Zenit der wirtschaftlichen Entwicklung überschritten war, immer schwieriger wurde, sie zu befriedigen.

31 32

Eingeführt wurde der Begriff bipartidismo fragmentario zur Charakterisierung der Besonderheit des uruguayischen Parteiensystems von Aguiar 1983: 8ff. Zu über das folgende hinausgehenden Einzelheiten des hochkomplexen uruguayischen Wahlsystems und einer ausfuhrlicheren Analyse seiner politischen Auswirkungen siehe Wagner 1993. Vgl. González 1986: 45. Vgl. Bayce 1989: 20.

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

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Auf Batlle y Ordóñez als wichtigstem Reformer in der uruguayischen Geschichte geht auch die bis zum heutigen Tag in Uruguay im Vergleich zu vielen anderem lateinamerikanischen Ländern unbedeutende Rolle der Kirche zurück. Bezüglich seines Vorhabens, den einzelnen, den Staat und die gesellschaftlichen Gruppen aus den Bindungen der Kirche zu lösen, setzte er bereits 1912 mit der Einführung eines Scheidungsgesetzes ein klares Zeichen. 33 Als konsequenter Verfechter der Säkularisierung gelang es ihm, in der Verfassung von 1917 die vollständige Trennung von Kirche und Staat zu vollziehen. Anders als in den übrigen Ländern des Cono Sur war damit die Kirche als wichtiger gesellschaftspolitischer Akteur ausgeschaltet. Sie spielte in der Folgezeit politisch nie eine auch nur halbwegs bedeutsame Rolle und kam insofern auch nicht als ernsthafter gesellschaftspolitischer Bündnispartner für andere Akteure in Frage. Batlle y Ordóñez prägte mit seiner Politik ebenfalls die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Zu seinen wichtigsten wirtschaftsideologischen Grundsätzen gehörte die verstärkte Intervention des Staates in die Wirtschaft und die Protektion der einheimischen Industrie. 34 Sein Ziel war u.a., den Einfluß ausländischer Unternehmen zurückzudrängen, um die nationale Unabhängigkeit zu sichern und gleichzeitig den Kapitalabfluß ins Ausland einzudämmen. Sinn und Zweck öffentlicher Dienste sollte ihr Nutzen für das Gemeinwohl sein, nicht ihre Instrumentalisierung für Privatinteressen. Auf dieser Rechtfertigungsgrundlage forderte und etablierte er das Staatsmonopol für das Bank-, Versicherungs- und Energiewesen. Wichtige Daten sind die Verstaatlichung des Banco de la República im Jahre 1911 und des Banco Hipotecario im Jahre 1912. 1911 wurde außerdem die Monopolisierung des von englischen Unternehmen dominierten Versicherungswesens durchgeführt. Der Banco de Seguros del Estado wurde eingerichtet und bekam bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Lebensversicherungen) das Versicherungsmonopol. Mit der Transformation des Unternehmens Usina Eléctrica de Montevideo (von 18871898 privat, danach zunächst provisorisch und ab 1905 direkt vom Staat verwaltet) in Usina Eléctrica del Estado wurde die Energieerzeugung und -Verteilung nationalisiert und monopolisiert. 1912 wurde UTE (Administración Nacional de Usinas y Trasmisiones Eléctricas) gegründet und bekam 1915 per Gesetz das staatliche Monopol für den Dienstleistungsbereich Post/TeleMit diesem Gesetz wurde u.a. die Ehescheidung auch auf alleinigen Wunsch der Frau ermöglicht. (Vgl. Nahum 1988: 53/54.) Hierzu und zum folgenden siehe Nahum 1988: 25/26 und 34-43 sowie Solari/Franco 1983: 51 und 109-113.

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2. Historischer Hintergrund

grafen/Telefon zugesprochen, die Verstaatlichung der Telefonbetriebe wurde allerdings erst 1931 realisiert. Die 1909 gegründete Hafenverwaltung wurde 1916 in den Staatsbetrieb ANP (Administración Nacional de Puertos) transformiert. 35 Der Staat wurde unter Batlle y Ordóñez zum wirtschaftlichen Protagonisten, was der uruguayische Historiker Benjamin Nahum folgendermaßen kommentierte: „[...] se evitaría [...] la remesa de las enormes ganancias de las empresas inglesas al exterior. Las ventajas para el país eran obvias, pero el proyecto era revolucionario porque en ningún país del mundo, en la época, se había aplicado tal sistema." 36 Wenngleich 1913 britische Investitionen in Uruguay ihren Höchststand erreichten, hatten in den Jahren zuvor verschiedene Umstände dazu beigetragen, daß die Abhängigkeit von Großbritannien verringert und die gegen englische Interessen gerichtete Politik von Batlle y Ordóñez realisiert werden konnte. Die Handlungsspielräume gegenüber Großbritannien vergrößerten sich besonders dadurch, daß über Frankreich, Deutschland und den USA zunehmend alternative Möglichkeiten zur Kapitalbeschaffung und andere Importquellen zur Verfugung standen. Für Uruguay brachte die Existenz rivalisierender imperialistischer Mächte ein Ausmaß an Flexibilität in seinen Beziehungen mit Großbritannien, wie es im 19. Jahrhundert noch nicht möglich gewesen wäre. 37 Auch interne Faktoren, die zu Spannungen zwischen britischem Kapital und uruguayischen Interessen führten und damit gesellschaftsintern eine Distanzierung gegenüber der britischen Hegemonialmacht ermöglichten, trugen dazu bei, daß Batlle y Ordóñez seine Reformpolitik gegenüber englischen Widerständen durchsetzen konnte. 38 Das rasche Exportwachstum im Zuge des Ersten Weltkrieges ermöglichte eine „Politik der offenen Tür", so daß immer mehr Immigranten ins Land kamen. Diese fanden in erster Linie in den britischen Unternehmen Anstellung, die als größter Industriearbeitgeber - besonders im Bereich des Eisenbahnwesens - fungierten. Die sich radikalisierende Industriearbeiterschaft, in ihrer Position gestärkt aufgrund ihres gewachsenen Umfangs und ihrer größeren wirtschaftlichen Bedeutung, trat mit ihren Forderungen häufig massiv an die in vielen Fällen englische Unternehmensleitung heran. Neben der Opposition in den Reihen der Industriearbeiterschaft wendeten sich auch einheimische Unternehmerinteressen gegen die Dominanz Großbritanni35

36 37 38

Dieser Name entstand allerdings erst 1933, als ANP die Zuständigkeit für alle Häfen im Land übertragen bekam. Vorher hieß das nur fiir den Hafen von Montevideo zuständige Unternehmen Administración Nacional del Puerto de Montevideo. Nahum 1988: 39. Vgl. Finch 1981: 192. Vgl. Finch 1981: 192-195.

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

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ens. Wichtiges Konfliktfeld war hier der von Großbritannien gelenkte Finanzsektor. Die Schaffung der einheimischen Privatbank Banco de la República im Jahr 1896 (1911 von Batlle y Ordóñez verstaatlicht) hatte einen ersten Sieg des einheimischen Kapitals bedeutet. Die negative gesellschaftliche Grundstimmung gegenüber Großbritannien wurde genährt durch die Unzufriedenheit der Verbraucher mit überhöhten Preisen der importierten Konsumgüter und schlechtem Service in den meist englischen Dienstleistungsunternehmen. Batlle y Ordóñez wurde vor allem von einer städtischen Allianz unterstützt, die die Viehzüchter ausgrenzte. Deren politische Macht begrenzte er zwar, deren wirtschaftliche Vormachtstellung aber griff er nicht in entscheidendem Maße an. Die Politik gegen die Agrarinteressen beschränkte sich im wesentlichen auf verbale Attacken und auf die selektive Erhöhung von Steuern und Abgaben. 39 Mit diesen Maßnahmen konnten die Viehzüchter und Großgrundbesitzer leben. 40 Eine umfassende Reform zur Transformation der auf Großgrundbesitz ausgerichteten Agrarstruktur wurde von Seiten der Latifundisten zwar befürchtet, blieb im Endeffekt aber aus. Allerdings stand Batlle y Ordóñez mit seiner protektionistischen Politik, die den Industriesektor begünstigte und insofern auch von der Cámara de Industrias immer wieder gelobt wurde, 41 im Widerspruch zu den auf freien Außenhandel ausgerichteten Interessen der Agraruntemehmer. 42 In diesem historischen Kontext wurde Ende 1915 auch die Federación Rural als zweiter nationaler Verband der Agraruntemehmer neben der Asociación Rural gegründet. Es ging dabei nicht darum, einen zur Asociación Rural konkurrierenden Verband zu schaffen. Vielmehr kam die Initiative zur Gründung der Federación Rural aus dem Umfeld der Asociación Rural selbst, um mit einer zusätzlichen Interessenvertretung die eigenen verbandlichen Aktivitäten zu ergänzen. 43 Ein Anlaß zur Gründung der Federación Rural soll die Steuerpolitik der Regierung gewesen sein, gegen die man sich gemeinsam zur Wehr setzen wollte. 44 Die Federación Rural wurde bewußt als politische Interessenvertretung gegen den Batllismo kreiert und sollte auch als solche fungieren. Sie stellte damit eine neuartige Korporation dar, ein neues Modell 39 40

42 43 44

Vgl. Nahum 1988: 77. Zu der damaligen Steuerpolitik zu Lasten des Agrarsektors im einzelnen siehe Quijano 1972. Vgl. Quijano 1972: 53. Vgl. Barrán/Nahum 1986: 140. Sehr viel weniger Zustimmung in den Kreisen der Industrieunternehmerschaft fand Batlle y Ordóñez für seine fortschrittliche Sozialpolitik. (Vgl. Alonso Eloy 1982: 11.) Vgl. Jacob 1981: 82. Vgl. u.a. Asociación Rural del Uruguay 1971: 124. Vgl. Pifieiro 1988: 3 und Finch 1985: 100.

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2. Historischer Hintergrund

verbandlich-politischer Aktion. 45 In welcher Weise die Federación Rural im Unterschied zu den bislang existierenden Unternehmerverbänden agieren sollte, erklärte José Irureta Goyena, Gründer und über Jahre wichtigste Führungskraft der Federación Rural: „Los representantes de la producción tienen que hacerse oír por el Gobierno, pero en una forma menos académica, que la que produce la formulación de algún voto platónico o de algún pedido reverente, o de alguna protesta enfática; tienen que hacerse oír pero con la autoridad de los que mandan, y no con el encogimiento de los que suplican, y para eso es necesario que la Federación se frote aún con la vida, se mezcle en las luchas políticas y cargue los cañones, antes de dispararlos. [...] Al quitarle [a la Federación] la función política le quitáis simultáneamente la vida. La Federación [...] tiene que jugar un rol en el desarrollo de nuestras luchas democráticas, o la Federación no es orgánicamente otra cosa que una reproducción hiperbólica, inflamatoria, teratológica, de la Asociación Rural [...] Hagamos política [...] que ei país la necesita y los partidos también [...] no puede estar normalmente regida una sociedad en la que todos gobiernan, menos los que p r o d u c e n . " 4 ^

Dabei legte Irureta Goyena Wert darauf, daß es ihm bei einer in diesem Sinne politisch ausgerichteten Interessenvertretung nicht darum gehe, die Federación Rural zu einer politischen Partei zu machen oder gar die politischen Parteien zu ersetzen. Ziel sei nicht die Eroberung der politischen Macht, sondern die Einflußnahme auf die politische Entscheidungsfindung. Im Kontext der Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung {Asamblea Nacional Constituyente) Ende Juli 1916 deutete sich an, wie Irureta Goyena sein Konzept einer modernen Interessengruppe in die Praxis umzusetzen gedachte. In ihrer Opposition gegen den Batllismo wandte sich die Federación Rural gegen das staatspolitische Reformkonzept von Batlle y Ordóñez, ein kollegiales Regierungssystem einzurichten. Zwei Wochen vor den Wahlen rief die Federación Rural in einem Manifest die Bevölkerung dazu auf, antikollegial eingestellte Kandidaten zu wählen. Mit großem Aufwand wurde dieses Manifest dann zwei Tage vor der Wahl in einer Auflagenhöhe von 15.000 Exemplaren landesweit verteilt. Diese und ähnliche Aktionen waren allerdings auch in den Reihen der Agrarunternehmerschaft nicht unumstritten. Unterstützung fand der Kurs von Irureta Goyena bei Luis Alberto de Herrera, der - im damaligen Kontext einmalig - nicht nur einer der Führer der Federación Rural war, sondern gleichzeitig Caudillo des Partido Nacional. Demgegenüber veranlaßte die „politische Orientierung" der Federación Rural den Präsidenten der Asociación

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Vgl. Caetano 1992b: 29. Zur Entstehung der Federación Rural siehe besonders Bairán/Nahum 1986: 101-135. Irureta Goyena, so zitiert in Balbis/Caetano 1981: 54 und 62 unter Berufung auf: La Federación Rural. Su origen y desarrollo. Organización actual. Montevideo 1916.

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

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Rural, der bei der Gründung der Federación Rural eine wichtige Rolle gespielt hatte, Ende Juli 1916 sein Präsidentenamt niederzulegen.47 Jenseits aller Meinungsverschiedenheiten der Agrarunternehmer über die Ausrichtung der Federación Rural war mit ihr ein neuer Typ von Unternehmerverband entstanden: „Por primera vez aparecía como definitivamente posible [...] la presión política extrapartidaria de las fuerzas empresariales."48 Als sich im Vorfeld der Wahlen vom Januar 1917 unter dem Namen Coalición Popular ein parteiübergreifendes antikollegiales Bündnis von Oppositionskräften aus Partido Nacional, Partido Colorado und der kleinen Unión Cívica gegen den Batllismo zusammenschloß, durften so auch Vertreter der Federación Rural nicht fehlen. Der Coalición Popular gelang es allerdings nicht, die regierungstreuen Kräfte des Partido Colorado zu besiegen, die fast 50% der Stimmen auf sich vereinigen konnten. 49 Zwar hatte durch diese Niederlage die Federación Rural an Prestige verloren; dennoch prägte die neue Qualität verbandlich-politischer Aktion, wie sie die Federación Rural eingeführt hatte, in der Folgezeit das gesamte Spektrum der organisierten Unternehmerinteressen. Doch wenngleich sich auch die anderen Unternehmerverbände jetzt mehr als in der Vergangenheit dahingehend orientierten, politisch Druck auszuüben, nahm dies nicht die Formen an, wie sie von der Federación Rural gewählt worden waren. Die Cámara de Industrias beispielsweise enthielt sich jeglicher Wahlkampfaktivitäten und vermied es, sich mit parteipolitischen Gruppierungen zu identifizieren bzw. mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden.50 Vor dem Hintergrund einer qualitativ neuen politischen Rolle der Unternehmerverbände durch die Aktivitäten der Federación Rural gründeten im Jahr 1919 Unternehmer erstmals in der Geschichte des Landes eine eigene Partei, die zu den Wahlen antrat: die Unión Democrática. Mehrheitlich vertreten waren in der Unión Democrática Unternehmer aus dem Handelssektor, es beteiligten sich aber auch fuhrende Persönlichkeiten aus den Bereichen Industrie, Landwirtschaft und Bankenwesen. Zwar konnte die Unión Democrática José Irureta Goyena, die damalige Symbolfigur der verbandlich-politisierten Unterneh47 48

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Zu einer Chronologie der hier zusammengefaßten Ereignisse siehe Balbis/Caetano 1981 : 55-71. Caetano 1992a: 27. Detaillierte Informationen zu den Ereignissen des Jahres 1916 sowie eine ausführliche Analyse der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Zeit bis 1929 finden sich auf rund 400 Seiten aufgearbeitet in den beiden Bänden von Caetano 1992a und 1993. Vgl. Caetano 1992b: 66-76. Vgl. Caetano 1992a: 103.

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2. Historischer Hintergrund

merschaft, als Spitzenkandidaten gewinnen; trotzdem blieben viele Unternehmer skeptisch hinsichtlich Sinn und Zweck einer speziellen Unternehmerpartei. Selbst in der Federación Rural war die Unión Democrática umstritten. Auch in der parteipolitisch stark geprägten Presse stand man der Unión Democrática sehr kritisch gegenüber. Die dem Partido Nacional nahestehende Zeitimg El País beispielsweise titulierte die Unión Democrática als die „Partei der 50 Reichen", als Unión Plutocrática und sah durch ihre Schaffung den Klassenkampf eingeleitet.51 Bei den Wahlen 1919 schließlich scheiterte die Unión Democrática kläglich, und damit schlug auch der Versuch fehl, eine Unternehmerpartei zu konstituieren. Die Partei konnte lediglich 686 Stimmen erreichen, was bei einer Gesamtzahl von knapp 193.000 Stimmen einem Anteil von 0,35% entsprach. 52 Die Lektion, die die Unternehmer mit politischen Ambitionen aus diesem katastrophalen Ergebnis lernten, war, wie in der Vergangenheit auf eine eigene parteipolitische Organisation zu verzichten und statt dessen zu versuchen, über die Unternehmerverbände unter Wahrung parteipolitischer Neutralität die eigenen Interessen zu vertreten und gegebenenfalls als Einzelpersonen über die beiden traditionellen Parteien den Weg in die Politik zu finden. Tatsächlich begannen sich auf diese Weise vor allem in den 20er Jahren die Grenzen zwischen wirtschaftlicher und politischer Elite zu verwischen. 53 Die Reformvorhaben von Batlle y Ordóñez wirkten in vielen Bereichen, die auch die Unternehmer unmittelbar betrafen. Zu nennen wäre etwa die Durchsetzung einer neuen Politik im Bereich der Arbeitsbeziehungen. Bei den Konflikten zwischen Kapital und Arbeit spielte der Staat immer mehr eine Schiedsrichterrolle, seine Entscheidungen fielen nicht selten zugunsten der Interessen der Arbeiterschaft aus. 54 Dies bezog sich allerdings mehr auf die städtische Industriearbeiterschaft als auf die abhängig Beschäftigten im Agrarsektor. Im ländlichen Raum bestanden die traditionellen Machtstrukturen und Ausbeutungsmechanismen weitgehend unverändert fort. Zwar konnte Batlle y Ordóñez 5

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Vgl. Caetano 1992a: 135-163. Zu den wenigen Fürsprechern der Unión Democrática neben dem eigenen Organ El Siglo gehörte The Montevideo Times, das Sprachrohr des englischen Kapitals. Vgl. Caetano 1992a: 173. Zwar finden sich in der Literatur noch andere Angaben zur erreichten Stimmenzahl der Unión Democrática, diese variieren allerdings nur unerheblich. So verzeichnet Cocchi z.B. 655 Stimmen. (Vgl. Cocchi 1989b: 10.) Caetano zählt für den Zeitraum von 1919 bis 1925 eine Reihe von Unternehmern aus allen Wirtschaftssektoren auf - einschließlich führender Repräsentanten der Unternehmerverbände -, die politische Ämter in der Exekutive und der Legislative übernahmen. (Vgl. Caetano 1993: 38-45.) Vgl. Pucci 1992: 29.

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

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1923 einen Minimallohn für Landarbeiter durchsetzen, der über der üblichen Bezahlung lag; doch war dies nicht ausreichend, um ihre ökonomische Situation entscheidend zu verbessern. 5 5 D i e von Batlle y Ordóñez initiierte umfassende und fortschrittliche Arbeits- und Sozialgesetzgebung war dennoch beispiellos für ganz Amerika. Aufgrund eines breiten Maßnahmenkatalogs entwickelte sich Uruguay zum ersten mittelschichtorientierten

Wohlfahrtsstaat

Lateinameri-

kas.56 „La excepcional magnitud del excedente captado y la hegemonía política que relegó pero no destruyó - al grupo terrateniente, permitió un precoz Welfare State a nivel urbano y la configuración de condiciones sociales y culturales excepcionales para América Latina." 5 ' Insgesamt waren aufgrund der prosperierenden Wirtschaft die distributiven Spielräume der Regierung so groß, daß der Staat nicht nur als Estado estar, sondern auch als Estado

empresario58

de

bien-

fungieren konnte, der sowohl den

Interessen der Arbeitnehmer als auch der Unternehmer gerecht wurde. A l s wichtiger Wirtschaftsakteur übernahm er für erstere, besonders für Arbeitnehmer aus der städtischen Mittelschicht, verstärkt die Rolle des Arbeitgebers, für letztere wirkte er funktional in dem Sinne, daß er günstige Voraussetzungen für die lokale Kapitalakkumulation schaffte. Früher als etwa in Argentinien oder Chile gelang es in Uruguay bereits zu Beginn des Jahrhunderts, also am Anfang der Industrialisierungsphase, auch die

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Vgl. Nahum 1988: 108/109. Siehe hierzu ausfuhrlicher neben vielen anderen besonders Saidain 1990 und Pendle 1957. Wesentliche Errungenschaften der progressiven Politik von Batlle y Ordóñez während seiner zweiten Präsidentschaft waren im Jahr 1914 die Einführung von Arbeitsunfallversicherungen als Pflichtleistung des Arbeitgebers und Abfindungen im Kündigungsfall, ein Gesetzesprojekt zur Einrichtung einer allgemeinen Altersrente ab dem 65. Lebensjahr sowie im Jahr 1915 Gesetze zur Einführung des 8-Stunden-Tages, der 48-Stunden-Woche und eines obligatorischen Ruhetages mindestens alle sieben Arbeitstage. Weitere Projekte waren u.a.: Schutzbestimmungen für Frauen- und Kinderarbeit, Zahlung von Renten und Arbeitslosenunterstützung, kostenfreier Schul- und Universitätsbesuch, Schutz unehelicher Kinder, Bau staatlicher Eisenbahnen zur Vervollständigung des britischen Netzes, Staatsmonopol für Alkohol und Tabak, Mindestlöhne für Landarbeiter, vermehrter Schutz der einheimischen Industrie, Modifikation des Wahlrechts. Macadar 1992: 11. (Hervorhebung im Original) Detaillierte Informationen zur Entwicklung und Gestaltung des öffentlichen Sektors aus einer historischen Perspektive sowie zu den einzelnen staatlichen Unternehmen geben Solari/Franco 1983, Trylesinski 1987 und Nahum 1993. Zur Debatte um die Schaffung der staatlichen Unternehmen in den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts siehe die Analyse von Frega/Trochón 1991, die nicht nur - so der Titel ihres Aufsatzes - die Fundamente des Estado empresario untersuchen, sondern auch die damaligen Positionen der Unternehmerverbände aufarbeiten.

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2. Historischer Hintergrund

Unterschichten in das politische System zu integrieren.59 Nach dem Staatsverständnis des Batllismo sollten sich staatliche Instanzen aktiv darum bemühen, soziale Konflikte zu kanalisieren. Und tatsächlich trug Batlle y Ordóñez mit seiner Politik erheblich zur Befriedung eines Landes bei, in dem über Jahrzehnte die Gewalt als bevorzugtes Mittel der politischen Auseinandersetzung gegolten hatte. Sein Regierungsantritt im Jahr 1903 markiert das Ende langjähriger politischer Krisen, die nicht nur die Existenz des Staates, sondern immer wieder auch die Akkumulationsmöglichkeiten des lokalen Kapitals in Gefahr brachten. 60 Dementsprechend war auch die Wirtschaftselite an einer politischen Stabilisierung sehr interessiert. Wenngleich unter Batlle y Ordóñez die Mittelschicht politisch in großem Umfang an Bedeutung gewonnen hatte und der bereits erwähnte Antagonismus zwischen Stadt und Land zugunsten der Hauptstadt Montevideo entschieden wurde, 61 kam er mit seiner Politik doch auch den prinzipiellen Interessen von großen Teilen der Wirtschaftselite damals überwiegend die Agraroligarchie aus dem Landesinnern - entgegen. Dies gilt gleichfalls bezüglich der wachsenden Präponderanz des Staates, die in erster Linie den Dienstleistungssektor betraf und kaum in die traditionellen Bereiche der nationalen Unternehmerschaft vordrang, diese also kaum von ihren ökonomischen Positionen verdrängte. 62 Die Aktivitäten des Staates brachten Verbesserungen der infrastrukturellen Rahmenbedingungen - auch im Bereich des Finanzwesens und der Verwaltung -, die den Interessen der Unternehmer nach möglichst vorteilhaften Verwertungsbedingungen entgegenkamen. Gegenüber der Privatwirtschaft hatte der Staat als Wirtschaftsakteur vor allem komplementären Charakter. 63 „La transformación de la sociedad realizada por el grupo inovador batllista no enfrentó gran resistencia; el Estado - que por primera vez se estructuró - logró dominar al sector rural tradicional y al financiero y tenía legitimidad ante los empresarios ganaderos porque impuso el orden y las condiciones necesarias para el funcionamiento capitalista." 6 ^

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Vgl. De Riz 1992: 880/882. Nach De Riz geschah dies in Argentinien und Chile erst in den 40er bzw. 60er Jahren. Vgl. De Sierra 1977a: 427/428. Vgl. Gillespie 1992: 180. Zwar berührte die Einrichtung von staatlichen Unternehmen im konkreten Fall immer wieder die Interessen einheimischer Privatbetriebe; wie die Aufstellung bei Frega/Trochön 1991: 126/127 jedoch zeigt, waren ausländische Unternehmen häufiger davon betroffen. Vgl. Finch 1981: 208. Rama 1987: 119.

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

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Im industriellen Bereich fand die staatliche Intervention besonders ab 1912 ihren Ausdruck in einem gesteigerten Protektionismus durch Maßnahmen im Bereich der Zoll- und Steuerpolitik, weniger in der Errichtung staatlicher Industriebetriebe. Industrialisierungsprojekte zielten nicht darauf, bestehende einheimische private Industriebetriebe durch staatliche Betriebe zu verdrängen. Eine der wenigen Ausnahmen stellte die Absicht der Regierung im Jahre 1929 dar, eine staatliche Erdölraffinerie zu gründen, wogegen sich allerdings die Interessenvertretung der Industriellen, die Cámara de Industrias, wendete. Gleichwohl konnte diese nicht verhindern, daß 1931 das staatliche Unternehmen ANCAP (Administración Nacional de Combustibles, Alcoholes y Portland) gegründet wurde, obwohl bereits ein in diesem Industriezweig tätiger Privatbetrieb existierte.65 Von dieser Ausnahme abgesehen hatten die staatlichen Aktivitäten meist komplementären Charakter und schufen die Basis zur Entstehung bzw. Ausdehnung einer privaten Industrieunternehmerschaft; diese Unternehmen waren damit in ihrer Existenz in hohem Maße von staatlichen Einrichtungen abhängig. 66 Vordergründig zeigte sich der Erfolg der durch protektionistische Maßnahmen geleiteten Industrialisierungspolitik in der Entstehung einer Vielzahl von Industriebetrieben. Von den 1929 existierenden Industrieunternehmen wurden 60% in den Jahren seit 1921 gegründet. Allerdings sollten davon bis 1936 wieder ein Viertel verschwunden sein. 67 Die wichtigsten Erzeugnisse im Rahmen der gewerblichen Produktion, die in den zurückliegenden Dekaden an Bedeutung gewonnenen hatte, waren 1930 Nahrungsmittel, Getränke, Kleidung, Leder- und Wollprodukte.68 Die Gefrierfleischfabriken entwickelten sich zum wichtigsten Industriebereich und zum entscheidenden Zweig der Exportwirtschaft. Die Gefrierfleischindustrie wurde von ausländischen Unternehmen kontrolliert, allerdings nicht von englischen, sondern überwiegend von US-amerikanischen Unternehmen und hier besonders vom sogenannten Chicago Trustß9 Überhaupt wurde der gesamtwirtschaftliche Einfluß Großbritanniens zurückgedrängt, dafür übernahm die USA, ähnlich wie in anderen Ländern des Subkontinents, immer mehr die Rolle der Hegemonialmacht. 70 Die US-Investitionen beispielsweise wuchsen von 5,5 Millionen US-Dollar im Jahr 1914 auf über 80 Millionen im Jahr 1930.71 65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Jacob 1981: 96/97. Vgl. Rama 1987: 119. Vgl. Finch 1981: 164. Vgl. Finch 1981: 165. Vgl. Nahum 1988: 116-119. Vgl. hierzu u.a. Oddone 1990: 15-25. Vgl. Nohlen 1992: 481.

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2. Historischer Hintergrund

Mit der Gründung einer nationalen Gefrierfleischfabrik im Jahr 1928 - geleitet von Vertretern der Viehzüchter und des Staates - sollte versucht werden, die Dominanz ausländischer Firmen in diesem wirtschaftlichen Schlüsselbereich zu durchbrechen, was allerdings kaum gelang.?2 Dieses Faktum hat symptomatischen Charakter für die strukturelle Entwicklung der Volkswirtschaft. Obwohl es erklärtes Ziel von Batlle y Ordóñez war, durch Industrialisierung die Abhängigkeit vom Außenhandel bzw. vom Ausland zu verringern, führten die Industrialisierungsanstrengungen nicht zu einer Verringerung der externen Abhängigkeit, sondern im Gegenteil zu einer verstärkten Importabhängigkeit sowohl des Industrie- als auch des Agrarsektors. Der Industrialisierungsprozeß bewegte sich nämlich vollständig im Rahmen der traditionellen agrarexportorientierten Wirtschaft. Die einheimischen Industriebetriebe produzierten beinahe ausschließlich für den Binnenmarkt, mußten ihre Rohstoffe, wenn es keine Agrarprodukte waren, aber weiterhin überwiegend aus dem Ausland beziehen. Selbst die Modernisierungen im Agrarsektor liefen darauf hinaus, daß die Abhängigkeit vom Ausland verstärkt wurde; Treibstoff und Maschinen mußten importiert werden. 73 Trotz der externen Abhängigkeit war Uruguay mit Batlle y Ordóñez, dem fundador de la democracia74, zum fortschrittlichsten Land Lateinamerikas geworden. Die Orientierung an und Einbindung in den Weltmarkt, die auf dem Gebiet des heutigen Uruguay ab Ende des 17. Jahrhunderts rapide vorangeschritten war, zeitigte zunächst also sehr positive Effekte; auf Dauer führten aber die dadurch bedingten, nicht abgebauten volkswirtschaftlichen Strukturdefizite zu einem wirtschaftlichen Niedergang. Gleichzeitig liegen in dieser Zeit zwei von mehreren Faktoren begründet, die mitverantwortlich für den späteren Zusammenbruch der Demokratie sein sollten. Erstens hemmte der staatliche Paternalismus die Vertiefung des demokratischen Prozesses; zweitens belasteten die sozialen Errungenschaften, die zu Zeiten wirtschaftlicher Prosperität noch gut finanziert werden konnten, erheblich den staatlichen Haushalt und die Privatwirtschaft.75 Auch das Prinzip der coparticipación zeitigte neben seinem Beitrag zur politischen Stabilisierung auf Dauer negative Effekte. Denn 72 73 74

75

Vgl. Jacob 1981: 91/93. Vgl. Nahum 1988: 85/86 und 123/124. Diesen Titel wählte der schwedische Historiker Göran Lindahl nicht umsonst für sein 1971 in Montevideo erschienenes Buch über Batlle y Ordóñez. Dessen große Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes ist unstrittig; es soll an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen werden, daß im Lauf der Jahrzehnte die Person Batlle y Ordóñez immer wieder gerne mystifiziert und damit der Blick auf die Realitäten leicht verstellt wurde. (Vgl. dazu die kritischen Anmerkungen von Louis 1969: 123-127.) Vgl. Licio 1990: 14.

Die Phase der Modernisierung (1900-1930)

85

coparticipación hieß nicht nur Beteiligung an der Regierungsverantwortung in der bereits beschriebenen Form, sondern auch Besetzung der Stellen in der staatlichen Verwaltung durch die beiden traditionellen Parteien nach einem festen Verteilungsschlüssel. Der infolgedessen aufgeblähte öffentliche Sektor in den 20er Jahren wuchs die staatliche Bürokratie um 50% 76 - wurde, so sollte die Zukunft zeigen, zunehmend zur Pfründesicherung benutzt; der Verwaltungsapparat degenerierte zu einem Hort der Ämterpatronage und des Klientelismus. Am Ende seiner ersten Phase der industriellen Entwicklung (1875-1930) besaß Uruguay eine Wirtschaft, die zu den industrialisiertesten der Region gehörte, übertroffen nur von Argentinien und Mexiko. 77 Der gesamtökonomische Aufschwung in Uruguay hielt zunächst allerdings nur bis 1920 an. Die Entwicklungen im Gefolge des Ersten Weltkrieges zeigten, daß auch unter Batlle y Ordóñez die Abhängigkeit vom Weltmarkt nicht geringer geworden, sondern die Volkswirtschaft weiterhin in extremem Ausmaß den Schwankungen auf den internationalen Märkten ausgeliefert war. So wirkte sich zunächst die europäische Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg unmittelbar negativ auf die uruguayische Wirtschaft aus und ab 1924 die wirtschaftliche Erholung Europas entsprechend positiv. 78 In diesen Jahren nahm sich der Staat in seinen wirtschaftlichen Aktivitäten im Vergleich zu den ersten beiden Dekaden des Jahrhunderts etwas zurück. Der erneute wirtschaftliche Aufschwung fand sein Ende ebenfalls wie seinen Anfang durch ein externes Ereignis. Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 traten die Schwächen des bisher abgesehen von konjunkturellen Schwankungen erfolgreich funktionierenden Wirtschaftsmodells zutage, dessen Charakteristika trotz Industrialisierungsanstrengungen immer noch Monoexportorientierung und einseitige Weltmarktabhängigkeit waren. Die Grenzen der Prosperität des Landes deuteten sich an.

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Vgl. Calvert/Calvert 1990: 112. Vgl. Finch 1981: 171. Vgl. Nahum 1988: 112-127.

2. Historischer Hintergrund

86

2.3

Vom wirtschaftlichen Erfolg über die Stagnation zur Krise (1930-1971)

Mit verstärkter staatlicher Intervention wurde versucht, der sich abzeichnenden Krise des Agrarexportmodells entgegenzuwirken. Bis 1933 war es besonders der von der in der Tradition von Batlle y Ordóñez stehenden Batllista-Fraktion dominierte Staatsrat, der Bedingungen zur Zurückdrängung des Einflusses des ausländischen Kapitals bei gleichzeitiger Dynamisierung des Binnenmarktes schaffen wollte. 79 Es fand eine allgemeine Reorientierung an der Doktrin eines wirtschaftlich aktiven Staates im Sinne von Batlle y Ordóñez statt, die in den 20er Jahren an Bedeutung verloren hatte. 80 Die Wirtschaftspolitik zielte darauf, Handelsbilanzdefizite auszugleichen und Finanzspekulationen zu bekämpfen. Mit Hilfe verschiedener gesetzlicher Regelungen wurden Anfang der 30er Jahre verstärkt Schritte eingeleitet, die der Kontrolle des Finanzmarktes und der Protektion der einheimischen Industrie dienten. Zu den wichtigsten finanzpolitischen Maßnahmen, die vor allem zu Lasten der ausländischen Banken, der Exporteure und Viehzüchter gingen, zählte die Etablierung des Banco de la República als Kontrollinstanz für alle Transaktionen in ausländischen Währungen, um so Kapitalflucht zu verhindern. Parallel dazu fand eine Abwertung des Peso statt. Die dadurch erzielten protektionistischen Effekte begünstigten die einheimische Industrie, gleichzeitig verteuerten sich für die Bevölkerung die Aufwendungen für den Lebensunterhalt. Dies ging einher mit der Erhebung von neuen Steuern (z.B. für Brennstoffe) bzw. der Anhebung von bestehenden Steuern. Die Steuererhöhungen betrafen besonders ländlichen Grundbesitz und die Gehälter der öffentlichen Bediensteten. Zur sozialen Abfederung der steuerlichen Belastungen wurde eine 10%ige Senkung der städtischen Mieten festgelegt. Dies bedeutete gleichzeitig, daß sich - analog der finanziellen Einbußen für ländliche Eigentümer durch die Steuererhöhung die Einkünfte für städtische Eigentümer verringerten. Der Protektionismus vollzog sich ebenfalls zum Großteil über die Steuerpolitik, besonders durch diverse Besteuerungen von Importen, was eine Verteuerung ausländischer Erzeugnisse bedeutete und damit deren Wettbewerbsfähigkeit mit ähnlichen, im Inland produzierten Waren einschränkte.8!

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Vgl. De Sierra 1977a: 431. Vgl. Bértola 1990: 179. Vgl. Nahum u.a. 1988: 60-64; Jacob 1981: 102/103.

Vom wirtschaftlichen Erfolg über die Stagnation zur Krise (1930-1971)

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Mit der Schaffung des staatlichen Industriebetriebs ANCAP im Jahr 1931 nahm auch die Rolle des Staates als Wirtschaftsakteur eine neue Dimension an. Der Staat bekam das Alkoholmonopol, das Monopol fur den Import, die Raffination und den Verkauf von Erdöl und seinen Nebenprodukten sowie für die Fabrikation und den Vertrieb von Portland-Zement.82 Diese Maßnahme richtete sich in erster Linie gegen die ausländischen, den Welterdölmarkt beherrschenden Unternehmen; die Abhängigkeit von ihnen sollte verringert werden. So wurde festgelegt, daß ANCAP 50% des im Land konsumierten Benzins produziert. Gleichzeitig wurde ein Vertrag mit der Sowjetunion zum Kauf von Erdöl abgeschlossen, und zwar zu für Uruguay günstigeren Bedingungen als sie die marktbeherrschenden Unternehmen anboten. 83 Ebenfalls 1931 wurde ein Gesetz verabschiedet, welches die Enteignung in Privatbesitz befindlicher Telefonbetriebe gestattete und dem 1912 gegründeten öffentlichen Unternehmen UTE das Monopol in diesem Bereich übertrug. Die Wirtschaftspolitik konnte trotz wachsender Opposition vor allem aus den Reihen des Agrarsektors implementiert werden. Die Aktivitäten des Unternehmerverbandes Comité Nacional de Vigilancia Econômica, der 1929 von konservativen Gruppierungen, d.h. vor allem auch von Viehzüchtern zur Verteidigung ihrer Interessen gegen das politische und wirtschaftliche Programm des Batllismo gegründet worden war, blieben zunächst noch erfolglos. 84 Der Kritik an der Regierungspolitik schlössen sich Unternehmer des Handelssektors und Vertreter ausländischer Unternehmen an. Selbst in der Exekutive war diese Politik nicht unumstritten, was häufig gegenseitige Blockaden von Staatsrat und Präsident zur Folge hatte. Die wirtschaftlichen Probleme im Gefolge der Weltwirtschaftskrise und die eingeschränkte Handlungsfähigkeit der Exekutive durch das interne Blockieren führten Ende März 1933 zu einem Regimewechsel. Der knapp zweieinhalb Jahre zuvor gewählte Präsident Gabriel Terra (Partido Colorado) übernahm ohne Beteiligung der Militärs, aber mit Hilfe der Polizeikräfte von Montevideo, die alleinige Macht. Er schaltete den Staatsrat aus und etablierte ein diktatorisches System, das sich allerdings im Unterschied zu vielen anderen Diktaturen in Lateinamerika durch relative Liberalität und den Verzicht auf Repressionen auszeichnete. In Anlehnung an O'Donnell/Schmitter85 kann das diktatorische Regime Terras insofern auch ohne weiteres als dictablanda eingestuft werden, 82 83 84 85

Vgl. Solari/Franco 1983: 113/114. Vgl. Nahum u.a. 1988: 63. Vgl. Frega/Maronna/Trochón 1987: 69 und Jacob 1981: 97. Vgl. O'Donnell/Schmitter 1986: 13ff.

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2. Historischer Hintergrund

also als Zwischenstufe zwischen der dictadura und der democradura. Repression diente also nicht als Mittel zur Stabilitätssicherung des autoritären Regimes. Ungewöhnlich für uruguayische Verhältnisse war, daß Luis Alberto de Herrera, Führer der oppositionellen Blancos - also der Partei, die als Repräsentant der Agrarinteressen galt -, dem Vorhaben von Terra Beistand leistete. Luis Alberto de Herrera soll Terra mit den Worten „El cambio radical se impone: hay que hacerlo. Lo haces tú o lo hacemos nosotros" zum Staatsstreich aufgefordert haben. 86 Unterstützt wurde Terra auch von einer Allianz verschiedener Unternehmerverbände (Federación Rural, Federación de Industrias, Cámara de Comercio und Comité Nacional de Vigilancia Económica).87 Darüber hinaus verbanden Vertreter des Finanzsektors und ausländische Unternehmen positive Erwartungen mit dem Regimewechsel. Besonders erhofften sich britische Betriebe von Terra eine größere Sympathie als sie es von den Vertretern des Batllismo gewohnt waren. Nicht umsonst gratulierte die britische Regierung Terra zu seinem Putsch. 88 Die Federación Rural wiederum begrüßte nach erfolgtem Staatsstreich in einer in Inhalt und Ton für die Unternehmerverbände ungewöhnlichen Erklärung überschwenglich die „gesunde und intelligente Orientierung" des Präsidenten und bekundete ihre Unterstützung der neuen Regierung. Deutliche Worte der Zustimmung zum Staatsstreich bekam man auch vom Comité Nacional de Vigilancia Económica zu hören. Der Verband ging sogar noch einen Schritt weiter, da nun nach der Einrichtung des diktatorischen Regimes keine Veranlassung mehr gesehen wurde, weiter als Interessengruppe zu agieren. Mit der Begründung, seine Mission sei nunmehr erfüllt, gaben die Führer des erst vier Jahre zuvor gegründeten Comité Nacional de Vigilancia Económica dessen Auflösung bekannt. 89 In der Verfassungsreform von 1934, die in einem Plebiszit nur knapp die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen erreichte, wurde nun das bis 1933 existierende Regierungssystem des Staatsrates durch ein präsidentielles System mit parlamentarischen Zügen ersetzt. Basis dieser neuen Präsidialverfassung war eine Allianz zwischen Terra und Herrera. In einem politischen Pakt gelang es den beiden Führern der damals jeweils stärksten Gruppierung in Partido Colorado und Partido Nacional nicht nur den Batllismo, sondern auch alle anderen parteipolitischen Gruppen auszugrenzen. In einer Art Zwangskoalition 86 87 88 89

So zitiert nach Nahum u.a. 1988: 23. Vgl. Solari/Franco 1983: 54. Vgl. Finch 1991: 199. Vgl. Caetano 1983: 87-89.

Vom wirtschaftlichen Erfolg über die Stagnation zur Krise (1930-1971)

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wurden den Blancos um Herrera Ministerposten in der Colorado-Regierung Terras garantiert. Im Senat bekamen die beiden stärksten Gruppen der beiden stärksten Parteien jeweils die Hälfte der Sitze zugeteilt. 90 Mit dem Volksentscheid zur Verfassung von 1934 sowie Parlamentswahlen im selben Jahr hatte sich Terra nun auch die erforderliche Legitimation verschafft, um bis 1938 im Amt zu bleiben. Mit der neuen Verfassung war außerdem vom Prinzip her ein korporatives Element in das politische System aufgenommen worden. Als ein die Regierung beratendes Gremium war die Einrichtung des Consejo de la Economia National, an dem auch die Unternehmerverbände beteiligt werden sollten, vorgesehen. Umgesetzt wurde dieser korporative Ansatz aber nicht; der Consejo de la Economia National trat nie zusammen.91 Von den Maßnahmen der Regierung unter Terra profitierten z.T. der Agroexport- und der Handelssektor sowie ausländisches Kapital, ohne daß allerdings profunde Veränderungen des Entwicklungsstils eingeleitet wurden, die sich grundsätzlich auf den strukturellen Charakter der Volkswirtschaft ausgewirkt hätten. Denn zum einen war der Handlungsspielraum der Regierung durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise weiterhin begrenzt, so daß es nicht möglich war, allen Interessen entgegenzukommen, die den Staatsstreich unterstützt hatten. Zum anderen hatte die Existenz widerstreitender Interessen der unterschiedlichen Wirtschaftssektoren zur Folge, daß die Wirtschaftspolitik nicht immer kohärent war, häufig im Widerspruch zu der erklärten Politik zum Zeitpunkt des Staatsstreiches stand und in vielen Aspekten auf der Linie der vorhergehenden demokratischen Regierung lag. 92 Dazu gehörte die Fortführung der den Industriesektor begünstigenden protektionistischen Politik, obwohl die Machtbasis der Regierung Terra immerhin die landowning class darstellte.93 Auch bezüglich der wirtschaftlichen Aktivitäten staatlicher Unternehmen wurde keine generelle Umorientierung eingeleitet. Vielmehr kann in diesem Bereich insofern von einer Stagnation gesprochen werden, als Terra zwar nicht die Schaffung neuer Staatsbetriebe forcierte, aber auch keine Politik verfolgte, die auf deren Demontage zielte. 94 So wurde z.B. die insbesondere

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Vgl. Kerbusch 1970: 31-34, der von einem Machtverteilungskartell Terras und Herreras spricht. Vgl. Nahum u.a. 1988: 29-30. Eine detaillierte Aufstellung über die unterschiedlichen Interessen der Unternehmer und die implementierte Wirtschaftspolitik in tabellarischer Form geben Nahum u.a. 1988: 66. Vgl. Finch 1981: 173. Vgl. Jacob 1981: 109; Solari/Franco 1983: 54.

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von ausländischen Unternehmen gestellte Forderung, ANCAP zu demontieren, nicht erfüllt. 95 Zu einer Charakterisierung der Wirtschaftspolitik der Regierung Terra schreibt De Sierra, daß trotz der eher andere Wirtschaftssektoren begünstigenden Maßnahmen die Bedeutung des Industriesektors, die dieser in den zurückliegenden Jahren hatte gewinnen können, nicht entscheidend eingeschränkt wurde. 96 Während bis 1930 die Landwirtschaft - und hier besonders die Viehzucht - eindeutig als dynamischer Wirtschaftsfaktor dominierte und Basis der sozioökonomischen Prosperität war, setzte ab 1930 trotz der Diktatur eine Stagnation des Agrarsektors ein, und die verarbeitende Industrie übernahm bis Mitte der 50er Jahre die Rolle, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung anzutreiben. 97 Aufgrund des Anstieges der Weltmarktpreise vermehrten sich zwar die Einkünfte im Agroexportsektor, unter Produktivitätsgesichtspunkten aber stagnierte seit 1929 in diesem Bereich die Entwicklung. Ebensowenig, wie die Diktatur den Viehzüchtern und Großgrundbesitzern langfristig wirtschaftlichen Erfolg brachte, gelang es jenen, sich ideologisch und politisch durchzusetzen. 98 Die politischen Vorgänge im Zusammenhang mit der Etablierung des diktatorischen Regimes illustrieren, daß bei aller strukturellen Privilegierung der Wirtschaftselite im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen doch von einer (tendenziellen) Trennung politischer und wirtschaftlicher Macht ausgegangen werden kann. Die wirtschaftlich mächtigsten Gruppen - d.h. besonders die Agrarunternehmer - sahen damals die einzige Möglichkeit, sich auch zu einer das politische System und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bestimmenden Gruppe zu transformieren, in der Einrichtung eines autoritären Systems bzw. in der Unterstützung eines solchen. Denn unter demokratischen Verhältnissen war ihr Einflußpotential doch dergestalt eingeschränkt, daß sich die Regierungspolitik immer wieder auch gegen ihre Interessen richten konnte. Zwar erreichten die Unternehmer ihr Ziel, einen Systemwechsel durchzusetzen; die Einflußmöglichkeiten der den Staatsstreich unterstützenden Kräfte aus dem Unternehmerlager blieben aber weiterhin begrenzt. Ihnen gelang es nicht, über interne Interessendivergenzen hinweg einen einheitlichen Machtblock zu bilden. Insofern behielt die politische Klasse in Staat und Verwaltung die Verantwortung, so daß auch personell Kontinuität zu der Zeit vor dem Systemwechsel gewahrt werden konnte. Trotz Autoritarismus bestand also die relative 95 96 97 98

Vgl. Oddone 1990: 73-75. Vgl. De Sierra 1977a: 431/432. Vgl.Montado 1989: 5. Vgl. De Sierra 1977a: 433.

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Unabhängigkeit der politischen Führung von den wirtschaftlichen Machtgruppen f o r t . " Der Autoritarismus wurde zudem gesellschaftlich entsprechend der politischen Kultur als illegitime Herrschaftsform betrachtet und widersprach klar der demokratisch geprägten Nationalidentität. 1 00 Der Mangel an legitimitätsrelevanten demokratischen Orientierungen konnte nicht durch Erfolg, Leistung und Effizienz abgebaut werden. Mit dem fehlgeschlagenen Versuch, über ein autoritäres Regime die politische Dominanz zu gewinnen, hatte sich die Agrarbourgeoisie letztlich selbst gesellschaftspolitisch diskreditiert; die Überlebensdauer der von ihnen unterstützten Diktatur war entsprechend begrenzt: „El Estado no llegó a ser un instrumento de la clase económicamente dominante. El sistema político y la sociedad moderna recuperaron la democracia." 101 1919 waren die Unternehmer bereits mit ihrem Vorhaben gescheitert, eine eigene parteipolitische Kraft (Unión Democrática) zu etablieren; nun bot ihnen auch ein autoritäres Regime nicht die gewünschte Basis, um wirklich politische Dominanz zu erlangen. Zwar konnten gerade die Agrarunternehmer auch in Zukunft über ihre Interessengruppen immer wieder die Regierungspolitik beeinflussen, nicht aber eine politische Vormachtstellung erringen, wie es in vielen anderen Ländern Lateinamerikas der Fall war. 102 Mit den Wahlen von 1938 waren erstmals die vier Grundsätze eines allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts, wie sie noch heute für demokratische Wahlen gemeinhin gelten, erfüllt worden. Für die folgenden drei Jahrzehnte kehrte das Land zu demokratischen Regierungsformen zurück, lediglich unterbrochen durch einen Staatsstreich im Jahre 1942, mit dem der amtierende Präsident Alfredo Baldomir seine Amtszeit um ein Jahr „verlängerte". In diesem Zusammenhang wird allerdings von einem „guten" Staatsstreich gesprochen, weil damit kein autoritäres System installiert, sondern der Weg zu einer Verfassungsreform geebnet werden sollte. 103 In den Jahren zuvor war der Präsident in immer größeren Konflikt mit Herrera und den ß/a«co-Ministem in seiner Regierung geraten. 104 Mit dem Volksentscheid Ende 1942 gelang es Baldomir, die Bestimmungen der Verfassung von 1934, 99 100 101 102 103

104

Vgl. Nahum u.a. 1988: 32. Vgl. Rama 1987: 51 und 133. Rama 1987: 58. Vgl. dazu auch Handelman 1981 a: 241. Neben vielen anderen wird der Begriff el golpe bueno von Cocchi 1989b: 19 und Nahum u.a. 1988: 48 benutzt. Zur Diskussion der Problematik des golpe bueno vgl. Frega/Maronna/Trochón 1984. Zu Einzelheiten der Präsidentschaft Baldomir siehe Frega/Maronna/Trochón 1987. Vgl. Kerbusch 1970: 35.

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die den Blancos - d.h. dem Herrerismo - praktisch eine Regierungsbeteiligung garantierten, aufzuheben. So von den Schaltstellen der politischen Macht verdrängt, ging Herrera mit seinen Anhängern auf einen systematischen Oppositionskurs. 105 In der Unternehmerschaft kam es während der ersten Hälfte der Amtszeit Baldomirs in den Jahren 1938 bis 1941 verstärkt zu Auseinandersetzungen zwischen den traditionell sich mit unterschiedlichen Interessen gegenüberstehenden Agrarunternehmern und Industriellen. Vor allem die Federación Rural kritisierte häufig die Bevorzugung des Industriesektors durch die Wirtschaftspolitik der Regierung. Die Industriebetriebe - so der Grundtenor der Kritik würden durch protektionistische Maßnahmen begünstigt, während dem Agrarsektor immer weitere steuerliche Belastungen auferlegt würden. Die Erholung der Preise für landwirtschaftliche Produkte auf den internationalen Märkten Anfang der 40er Jahre führte zu einer Entschärfung des Konfliktes zwischen Agrarunternehmern und Industriellen. Von der wirtschaftlich günstigeren Konjunktur konnten die Unternehmer beider Sektoren profitieren, so daß man zu einem Modus vivendi der friedlichen Koexistenz zwischen Industrie und Landwirtschaft kam. 106 Die friedliche Reetablierung der Demokratie Ende der 30er Jahre hatte nicht nur die völlige Wiederherstellung der bürgerlichen Freiheiten gebracht, sondern auch die Rückkehr zu den wohlfahrtsstaatlichen Praktiken. Der sich mit der Weltwirtschaftskrise abzeichnende wirtschaftliche Niedergang konnte noch einmal unterbrochen bzw. verzögert werden. Denn zunächst der Zweite Weltkrieg und dann der Korea-Krieg (1950-1953) schafften für Uruguay und sein trotz (beschränkter) Importsubstitution und Industrieprotektionismus prinzipiell weitgehend unverändert gebliebenes Agrarexportmodell ein günstiges Wirtschaftsklima. Zwar fand noch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges das Wirtschaftswachstum insgesamt und das Wachstum des industriellen Sektors im besonderen auf nur relativ niedrigem Niveau statt, doch die Nachkriegszeit war durch eine florierende Wirtschaft und ein dynamisches Wachstum der Industrie gekennzeichnet.!07 i n diesem Sinne wird die Zeit von 1945 bis 1955 immer wieder als glorreiches Jahrzehnt bezeichnet. 108 Diese Jahre stehen in engem Zusammenhang mit dem Namen Luis Batlle Berres, Neffe von José Batlle y Ordóñez. Vgl. 106 vgl. 107 Vgl. 108 Vgl.

Frega/Maronna/Trochón 1987: 137. Frega/Maronna/Trochón 1987: 69-79. Finch 1981: 175-177. Rama 1987: 59.

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Bereits mit der Präsidentschaft von Juan José de Amézaga (1943-1947) deutete sich nach rund zehnjähriger Pause die Rückkehr des sich in der Tradition von Batlle y Ordóñez sehenden Batllismo in die Regierungsverantwortung an. Wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang ist die Schaffung der Consejos de Salarios Ende 1943, in denen Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Staat über die Höhe der zu zahlenden Minimallöhne für die einzelnen Industriezweige verhandelten. Während der Staat in der Epoche von Batlle y Ordóñez als informeller Schiedsrichter zwischen Unternehmern und Arbeitern fungierte, war nun seine Schiedsrichterrolle auch institutionalisiert. Das ursprüngliche Gesetzesprojekt, mit dem die Consejos de Salarios geschaffen werden sollten, war auf breiten Widerstand aus den Reihen der Unternehmerschaft gestoßen. 109 Die daraufhin durchgeführten Modifikationen an dem Gesetz konnten allerdings die Schaffung der Consejos de Salarios nicht verhindern, durch die die Entwicklung des Gewerkschaftswesens stimuliert und die Arbeiterbewegung gestärkt wurden. 110 Mit den Wahlen von 1946 kehrte der Batllismo (jetzt bezeichnet als NeoBatllismo) gleichsam auch in persona an die Schaltstellen der politischen Macht zurück. Luis Batlle Berres kandidierte als Vize-Präsidentschaftskandidat von Tomás Berreta für den Sektor des Batllismo innerhalb des Partido Colorado. Das Kandidatenpaar ging als Sieger aus den Wahlen hervor und ließ u.a. den ebenfalls für die Colorados kandidierenden Alfredo Baldomir weit hinter sich. Da Berreta nach nur wenigen Monaten im Amt des Präsidenten verstarb, rückte im August 1947 automatisch der Vize-Präsident Batlle Berres in das höchste politische Amt. Anders als seine Vorgänger führte Batlle Berres den Kurs der Nationalisierung privater Unternehmen konsequent weiter. Von den Verstaatlichungen waren besonders die in englischem Besitz befindlichen Dienstleistungsunternehmen betroffen. Wichtigste Rahmenbedingungen, die diese Politik möglich machten, waren einerseits die weitverbreitete Unzufriedenheit mit diesen Unternehmen! 11 u n d andererseits die erweiterten finanziellen Handlungsspiel109 Vgl. Pucci 1992: 29-32. Zur Vorgeschichte der Entstehung der Consejos de Salarios allgemein siehe Frega/Maronna/Trochön 1985. Vgl. Barbagelata 1973: 488. Zur Funktionsweise der Consejos de Salarios siehe neben der hier bereits genannten Literatur auch OIT 1987: 101-103. Auf die Consejos de Salarios wird in der späteren Analyse noch einmal ausführlicher eingegangen. 1 11 Genährt wurde diese Unzufriedenheit durch den Eindruck, daß diese Unternehmen ihre Aufgaben nur mangelhaft erfüllten und sie keine technischen Neuerungen umsetzten bzw. keine Investitionen in notwendige Modemisierungsmaßnahmen tätigten. Auch war die Beziehung der betroffenen Unternehmen zum Staat durch häufige Auseinandersetzungen geprägt, besonders wenn es um die Festsetzung der Tarife ging.

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räume des Staates aufgrund von Handelsbilanzüberschüssen. Zudem war der Widerstand der englischen Unternehmen gegen diese Maßnahmen nicht besonders stark, vor allem dann nicht, wenn ansehnliche Entschädigungen für marode Betriebe bezahlt wurden. So entstanden zwischen 1948 und 1952 folgende Staatsbetriebe: die Eisenbahngesellschaft AFE (Administración de Ferrocarriles del Estado), die für den öffentlichen Nahverkehr in Montevideo zuständige AMDET (Administración Municipal de Transportes), das Wasserwerk OSE (Administración de las Obras Sanitarias del Estado) und die Fluggesellschaft PLUNA (Primeras Líneas Uruguayas de Navegación Aérea).112 Von der Wirtschaftspolitik der Regierung Batlle profitierten besonders der Industrie- und der Agrarsektor. Während in dem Zeitraum von 1935 bis 1945 das durchschnittliche Jahreswachstum der industriellen Produktion bei 0,5% lag, stieg dieser Wert in den folgenden zehn Jahren (1945-1955) auf 8,5%; aber auch der Agrarsektor konnte höhere Wachstumsraten verzeichnen (jährlich durchschnittlich 0,77% für 1935-1945 und 3,9% für 1945-1955).H3 Die verstärkte staatliche Intervention zugunsten von Landwirtschaft und Industrie zeitigte allerdings auch Effekte für die volkswirtschaftliche Entwicklung, die sich negativ auswirken sollten: 1 ! 4 Der Industrialisierungsprozeß war weitgehend auf die Herstellung von Konsumgütern begrenzt, für die Rohmaterialien aus dem Ausland benötigt wurden, so daß die Abhängigkeit von internationalen Handelsbedingungen kaum verringert werden konnte, z.T. sogar noch verstärkt wurde. Die staatlichen Subventionen für den Agrarsektor, die zwischen 1940 und 1952 noch höher waren als die Subventionen für den Industriesektor, zielten vor allem auf eine Stützung der Preise. Die Expansion des Agrarsektors wurde von einer Stagnation des Viehbestandes begleitet; 1951 lagen die Zahlen für die Vieh- und Schafproduktion unter denen des Jahres 1908. Alles in allem kann die Politik der Regierung Batlle als Fortschreibung der Politik von Batlle y Ordóñez in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts verstanden werden. Die Restauration des Batllismo betraf nicht nur dessen wirtschafts- und sozialpolitische Ausrichtung, sondern auch das Projekt der Einrichtung eines Staatsrates als Exekutivorgan. Nach einer Volksabstimmung Ende 1951 wurde im Januar 1952 eine Verfassung eingesetzt, die als neues Regierungssystem den Colegiado „in Reinform" etablierte: Der Staatsrat {Consejo Nacional de Gobierno) bekam nun die alleinige Exekutivgewalt. Damit wurde das von Batlle y Ordóñez ins Leben gerufene Konzept ohne den 112 113 114

Vgl. Solari/Franco 1983: 54 und 114-117. Zu den Daten vgl. Buzzetti 1969: 255. Zum folgenden vgl. Panizza 1990a: 154/155.

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Kompromiß des ersten, „gemäßigten" Colegiado (Aufteilung der Regierungsgewalt zwischen Präsident und Consejo Nacional de Administración) umgesetzt. Der Staatsrat, bestehend aus neun Mitgliedern (sechs von der stärksten, drei von der zweitstärksten Partei, also auch hier wieder das Prinzip der coparticipación), sollte alle vier Jahre vom Volk gewählt werden. Es wurde ein Rotationsprinzip eingeführt, d.h. eines der Mitglieder der Mehrheitspartei übernahm immer für ein Jahr den Vorsitz und bekleidete damit das Amt des Staatspräsidenten, allerdings nur als primus inter pares. Diese - so Germán W. Rama 115 - „Imitation des eigenen Modells" durch die Regierung Batlle beinhaltete auch, daß sich der Staat seine relative Autonomie bewahren konnte. Wenngleich die Industrieunternehmerschaft politisch eine größere Rolle spielte als die Unternehmer anderer Wirtschaftssektoren, konnte keine Fraktion der Wirtschaftselite einen dominierenden Einfluß auf das politische System ausüben. Dies hängt auch damit zusammen, daß seit Beginn des Jahrhunderts die Kräftekonstellation innerhalb der Wirtschaftselite einer gewissen Pattsituation gleichkam. 116 Die zentralen Elemente und Charakteristika der damaligen Politik lassen sich wie folgt zusammenfassen: • die politische Unterordnung der Unternehmerinteressen aus dem Agrar- und Handelssektor (ohne daß damit allerdings gleichzeitig die Unternehmer des Industriesektors staatliches Handeln bestimmen konnten); • die Rolle des Staates als wichtiger Wirtschaftsakteur; • die feste Verankerung eines demokratischen politischen Systems; • die privilegierte Stellung der Parteien als Kanäle der politischen Repräsentation und deren Integration in den Staatsapparat; • das erhebliche soziale und politische Gewicht derjenigen Sektoren, deren Existenz vom öffentlichen Sektor abhängig war (d.h. insbesondere die städtische Mittelschicht). Wesentliches Element der Wirtschaftsideologie der Regierung Batlle war die ausgeprägte staatliche Intervention in die Wirtschaft, die sich allerdings kaum durch Investitionen oder ein direktes Engagement in neue Industrieaktivitäten auszeichnete. Entsprechend dem Entwicklungsstil, der sich an Maßstäben der sozialen Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Konsenses ausrichtete, kam dem Staat vor allem die Rolle des Arbeitgebers für die städtische Bevölkerung zu, und zwar besonders in Bereichen, die nicht von der einheimischen Privat115 116

Vgl. Rama 1987: 59-78. Hierzu und zum folgenden vgl. De Sierra 1977a: 435-437.

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Wirtschaft abgedeckt wurden. 117 Die wichtigsten staatlichen Maßnahmen, um eine über die Schaffung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor hinausgehende größere Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen, zielten auf eine ausgedehnte Kontrolle des Außenhandels und des Wechselkurses, die Stärkung der Währung, die Protektion der Industrie und eine großzügige Kreditpolitik zugunsten bestimmter Wirtschaftssektoren. 118 Tatsächlich konnten soziale Ungleichheiten abgebaut werden, die Politik kam hauptsächlich der Mittelschicht und der städtischen Arbeiterschaft zugute. Dies schlug sich nicht nur in einem Anstieg der Reallöhne im Industrie-, Handels- und Dienstleistungsbereich nieder, sondern auch in einer Arbeitsgesetzgebung und gesetzlichen Regelungen zur Sozialvorsorge, die ein für Lateinamerika außergewöhnlich hohes Niveau erreichten. 119 Die politische Kultur Uruguays ist traditionell eher vom Streben nach Konsens als von Konfliktaustragung gekennzeichnet. Die gesellschaftspolitische Leitidee von der Versöhnung zwischen den Klassen 120 konnte von der Regierung Batlle allerdings in erster Linie aufgrund der erweiterten distributiven Spielräume durch die günstige Weltmarktsituation umgesetzt werden. So positiv diese Idee, verbunden mit dem Bestreben, soziale Ungleichheiten abzubauen, zu bewerten ist: Für Uruguay liegen darin langfristig auch zentrale Entwicklungsprobleme begründet, die sich in der folgenden Charakterisierung des Staates andeuten: „The state was managed, not by an autonomous administrative cadre, but by a political bureaucracy completely dependent on the party system and its forms of political representation: a political bureaucracy not specialised in the administration of public affairs, but in the mediation, through clientelistic networks, of the particularistic demands of civil society. The pattern of state intervention, centered on the allocation of resources among different social groups, was consistent with the characteristics of the Uruguayan state: a set of bargains, compromises and equilibria between dominant and dominated classes, class fractions, and non-class social forces." 1 2 1

Die Grenzen der Vereinbarkeit von den Idealen der sozialen Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Konsenses im Sinne einer „Versöhnung zwischen den Klassen" können an einem Beispiel verdeutlicht werden: Die Regierung Batlle erkannte die Notwendigkeit agrarreformerischer Maßnahmen, und zwar nicht nur, um soziale Ungleichheiten abzubauen, sondern auch, um langfristig wirtschaftliche Prosperität sichern zu können. Denn die Stagnation des Agrarsektors 117

Vgl. Panizza 1990a: 156. Zu Einzelheiten siehe Nahum u.a. 1988: 135-140. Vgl. De Sien-a 1977a: 435. 120 vgl. Nahum u.a. 1988: 100. 121 Panizza 1990a: 157.

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- strukturell bedingt und damals lediglich vertuscht durch die günstige Weltmarktsituation - hatte ihre Ursachen in einer durch Großgrundbesitz und äußerst extensive Bewirtschaftung geprägten Agrarstruktur. Eine Agrarreform hätte entscheidend dazu beitragen können, die Produktion zu diversifizieren und die Produktivität zu erhöhen. Zwar wurde 1948 auch eine staatliche Einrichtung zur Förderung der Landverteilung (Instituto Nacional de Colonización) geschaffen, am Ende der Regierungsperiode allerdings war nur etwa 1% des landwirtschaftlich nutzbaren Landes neu verteilt. 122 Der heftige Widerstand von Asociación Rural und Federación Rural, die die Regierung anklagten, Agrarreformen nach kommunistischem Muster durchführen zu wollen, 123 hatte zwar nicht die Kreation des Instituto Nacional de Colonización verhindert; sehr wohl aber hatte man erreicht, daß diese Maßnahme ein eher symbolischer Akt blieb und die eigene wirtschaftliche Machtposition nicht nennenswert geschwächt wurde. Ab Mitte der 50er Jahre wirkte sich der Verfall der Weltmarktpreise für Agrarprodukte und damit der Rückgang der Exporterlöse deutlich negativ auf die sozioökonomische Entwicklung aus. Es sollte sich zeigen, daß die über Jahrzehnte vorherrschende, zunächst sehr erfolgreiche Entwicklungsstrategie auf Dauer keine Überwindung der volkswirtschaftlichen Strukturdefizite brachte. Gesteigerter Protektionismus und Importsubstitution im Bereich einfacher Gebrauchsartikel für den Binnenmarkt wurden beinahe durchgängig als Schlüssel zur Lösung der ökonomischen Probleme betrachtet. Doch der eigentlichen Verwundbarkeit der vom Weltmarkt abhängigen Wirtschaft, nämlich der Konzentration auf einige wenige Exportprodukte, wurde nicht begegnet, eine erforderliche Diversifizierung der Exportstruktur nicht eingeleitet. Fehlender gesellschaftspolitischer Konsens hinsichtlich notwendiger Reformen in einem System, das weitgehend auf dem Konsensprinzip beruhte, machte es praktisch unmöglich, neue Wege zu gehen, ohne damit die MakroStabilität des politischen Systems und damit die Demokratie zu gefährden. So wurden auch keine wirkungsvollen Maßnahmen ergriffen, die zu einer Umwandlung der traditionellen Agrarstruktur hätten führen können; eine Agrarreform, die zur Schaffung kaum existenter mittelgroßer Betriebe, zur Produktdiversifizierung und Produktivitätssteigerung hätte beitragen können, wurde nicht durchgeführt. Importsubstitution war überwiegend lediglich gedacht als Reaktion auf Zahlungsbilanzprobleme, war also darauf reduziert, bestimmte Konsumgüter für 122 vgl. Panizza 1990a: 157. 123 Vgl. Nahum u.a. 1988: 103.

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den Binnenmarkt nun im Land herzustellen, um damit Importausgaben zu sparen. Mit der Importsubstitution war weder das Bestreben verbunden, eine wirklich autozentrierte Entwicklung (self-reliance) einzuleiten, noch die Absicht, eine neue Basis für den internationalen Wettbewerb zu schaffen; Ergebnis der protektionistischen Maßnahmen im Industriesektor waren in vielen Fällen nicht wettbewerbsfähige Betriebe. 124 Die verstärkten staatlichen Wirtschaftsaktivitäten konzentrierten sich auf den tertiären Sektor und veränderten kaum die Struktur anderer, produktiver Wirtschaftssektoren. „Mitte der 50er Jahre stieß das auf binnenmarktorientierter Industrialisierung und Agrarexporten basierende Wirtschaftsmodell an seine Grenzen. Seitdem gehört Uruguay zu den am wenigsten dynamischen Volkswirtschaften Lateinamerikas." 125 Die wirtschaftliche Stagnation nahm in den folgenden Jahren solch krisenhafte Formen an, daß sie auch für den Sozialstaat nicht ohne Konsequenzen bleiben konnte. Dieser war nicht mehr in der Lage, seine distributiven Leistungen in der gewohnten Weise zu erbringen. Zunehmend belasteten Ineffizienz und nicht mehr finanzierbare Aufblähung des Verwaltungsapparates, Ämterpatronage und Klientelismus die öffentliche Hand. Infolge des wirtschaftlichen Niedergangs brachten die Wahlen von 1958 das Ende des von vielen als gescheitert betrachteten Batllismo. Aber nicht nur dem Batllismo, auch keinem anderen Sektor des Partido Colorado maß die Bevölkerungsmehrheit eine ausreichende Problemlösungskapazität zu, so daß der Partido Nacional als Gewinner aus den Wahlen hervorging. Die Blancos stellten die Mehrheit der Mitglieder des Staatsrates, d.h. der Regierung. Dies bedeutete, daß sie nach 93 Jahren erstmals die Führung der Regierungsgeschäfte übernahmen. Damit sollte auch der politische Einfluß der Agrarunternehmer wachsen 126 und die eher den Industriesektor begünstigende Wirtschaftspolitik der Colorados, die seit den 20er Jahren des Jahrhunderts fast durchgehend implementiert worden war, zugunsten der Landwirtschaft modifiziert werden. Bereits unter der ColoradoRegierung war es den Agrarunternehmern gelungen, offen und gemeinsam ihr aus ihrer strukturellen Machtposition resultierendes Gewicht so in die Waagschale zu werfen, daß sie mit ihrem Verhalten die Regierung zu einer bestimmten wirtschaftspolitischen Maßnahme zwingen konnten. Unzufrieden mit dem von der Regierung festgelegten Wechselkurs weigerten sie sich im September 1957, ihre für den Export bestimmten Wollprodukte zu verkaufen. 124 125 126

Vgl. Bdrtola 1990: 282. Messner 1990: 3. Vgl. Handelman 1991 a: 242.

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Innerhalb kurzer Zeit stellte sich aufgrund dieses „Unternehmerstreiks" ein derartiger Devisenmangel ein, daß sich die Regierung gezwungen sah, dem Drängen aus dem Agrarsektor nachzugeben und eine Abwertung der Währung vorzunehmen. Auch diese Konfrontation zwischen Agrarunternehmern und Regierung hat ihren Beitrag zur Wahlniederlage des Partido Colorado geleistet. 127 Der Regierungswechsel versprach größere wirtschaftsideologische Übereinstimmungen zwischen Exekutive und Agrarunternehmern. Als Konsequenz war zu vermuten, daß die Agrarunternehmer nun darauf verzichten können, ihre strukturell bedingte Macht über ähnliche Maßnahmen wie zu Zeiten der Colorado-Regierung zum Ausdruck zu bringen. In Übereinstimmung mit den traditionellen Forderungen aus Federación Rural und Asociación Rural orientierte sich die neue Regierung an einem liberalen Wirtschaftsmodell. Dieser Kurs fand auch die Unterstützung durch den IWF, der 1960 den ersten letter of intend mit der Regierung unterzeichnete.128 Wesentliches Element der Politik war das Zurückschrauben staatlicher Wirtschaftsinterventionen. Die damit verbundene Abkehr von protektionistischen Maßnahmen ging in erster Linie zu Lasten des Industriesektors, gleichzeitig wurde die landwirtschaftliche Produktion besonders gefordert. Der Cámara de Industrias als nationaler Interessenvertretung des Industriesektors gelang es kaum, sich auf die neue, widrige Situation einzustellen und so politischen Druck auszuüben wie die Federación Rural, die über Jahrzehnte ihre Interessen bedroht sah und dementsprechend ein völlig anderes Potential in diese Richtung entwickelt hatte. Die Cámara de Industrias hatte es zum einen unter den Co/orado-Regierungen kaum nötig, politisch besonders aktiv zu werden, da die beiderseitigen Interessen grundsätzlich - eine Ausnahme war die Sozialpolitik des Batllismo - konvergierten. Zum anderen hatten die Industrieunternehmer weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich eine solche Verankerung, die ihnen eine den landwirtschaftlichen Großunternehmern vergleichbare Position hätte zukommen lassen. ,,[...] favorable government action seems to have stemmed less from the political influence in the industrial elite than from the fact that the needs and interests of the manufacture» coincided closely with those of Uruguay's political leadership. Import substitution and industrialization not only conformed with the Colorado Party's ideological preference for greater Uruguayan economic self-sufficiency, but also provided jobs for the party's urban voter base. [...] the industrial elite have never had the con127

Vgl. Panizza 1988: 116/117. 128 vgl. Nahum u.a. 1990: 112-116. Ausführlich zum Einfluß des IWF auf die Wirtschaftspolitik der Blanco-Regierung sowie zur grundsätzlich positiven Haltung von Asociación Rural, Federación Rural, aber auch Cámara de Industrias gegenüber diesem liberalen Kurs siehe Alonso Eloy/Demasi 1986: 63-89.

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2. Historischer Hintergrund centrated wealth or economic power of their commercial and agricultural counterparts nor has the Chamber of Industry been as effective politically as the commercial and ranching groups [...]. The power of the industrial elite has been further weakened by the fact that most of them are of fairly recent immigrant stock and have moved up from the middle class only in the past generation or two." 129

Trotz der eingeleiteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen gelang es der neuen Regierung unter Führung des Partido Nacional nicht, der strukturell bedingten Wirtschaftskrise entgegenzuwirken. Zwar wurde 1959 der Versuch unternommen, mit der Schaffung einer staatlichen Planungsbehörde (Comisión de Inversiones y Desarrollo Económico, CIDE) ein Gremium zu institutionalisieren, welches unter der Leitung von Enrique Iglesias strukturelle Lösungsansätze erarbeiten sollte; konstruktive Umstrukturierungsmaßnahmen wurden allerdings nicht eingeleitet. 130 Strukturdefizite, die bislang durch günstige externe Faktoren immer wieder überdeckt worden waren, zogen nun bei ungünstigem internationalen Kontext (Verfall der Weltmarktpreise und damit einhergehende Verschlechterung der Terms of Trade) die gesamte wirtschaftliche Entwicklung in Mitleidenschaft. Die Stagnation des Agrarsektors (unter Aspekten sowohl der Produktivität als auch der technologischen Modernisierung) und die Grenzen einer ausschließlich auf den kleinen Binnenmarkt eines bevölkerungsarmen Landes ausgerichteten Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung deuteten sich bereits in der Vergangenheit an, wirkten sich aber erst jetzt mit aller Härte auf die Volkswirtschaft aus. Die anhaltende Stagnation des Agrarsektors übertrug sich nun auch auf den Industrie- und auf den Dienstleistungssektor. Die von wachsenden sozialen Spannungen begleitete Wirtschaftskrise äußerte sich konkret u.a. in einer Verminderung der Agrarexporte, einem Negativwachstum der Industrie, Haushaltsdefiziten und gesteigerten Inflationsraten. 13 ! Daran konnte auch eine Währungs- und 12

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130

Handelman 1981a: 245. Vgl. De Torres Wilson 1990: 59/60. Das Hauptverdienst von CIDE bestand darin, statistisches Basismaterial zu erarbeiten und zur Verfugung zu stellen, auf dessen Grundlage bestimmte Wirtschaftspolitiken hätten implementiert werden können. Das bestehende Defizit an volkswirtschaftlichen Daten wird daran deutlich, daß 1963 erstmals seit 1908 wieder eine Volkszählung durchgeführt wurde. Auf der Grundlage von Wirtschaftsdaten und sektoriellen Wirtschaftsstudien wurden Reformvorschläge erarbeitet, die von Regierungsseite allerdings fast vollständig ignoriert wurden. (Vgl. Finch 1981: 239.) Die konkreten von CIDE vorgeschlagenen Maßnahmen zu strukturellen Reformen dokumentiert schlagwortartig Puhle 1968: 16/17. Zum folgenden siehe, soweit nicht anders angegeben, Nahum u.a. 1990: 99-111. Zwar sank die Inflationsrate 1961/62 auf 11% bzw. 12%; Ursache dürfte aber in erster Linie das Phänomen gewesen sein, daß die Viehzüchter in Erwartung einer sie begünstigenden Politik der B/awco-Regierung mit ihren Gewinnen vorübergehend sehr viel weniger spekulierten als in den Jahren zuvor. (Vgl. Nahum u.a. 1990: 110/111.) Zu weiteren Wirtschaftsdaten siehe Finch 1981: 220-245.

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Wechselkursreform aus dem Jahre 1959 nichts ändern; im Gegenteil wirkten die Liberalisierungsmaßnahmen eher kontraproduktiv, so daß z.B. die Auslandsverschuldung anstieg. Die durch die Reform ermöglichte „ungehinderte Tätigkeit der Banken im Devisenbereich und Kapital verkehr"132 brachte eine Ausdehnung des Finanzsektors 133 und einen Anstieg der Spekulation. Investitionen in produktive Sektoren blieben weitgehend aus, vorhandenes Kapital floß statt dessen in gewinnversprechende Immobilien- und Devisengeschäfte, die Kapitalflucht stieg an. „Die Stagnation führte [...] ab Ende der 50er Jahre zu Verteilungskämpfen der unterschiedlichen sozialen Gruppen um ein tendenziell sinkendes Sozialprodukt. Die Unternehmer reagierten auf die Wachstumskrise mit Kapitalflucht sowie Spekulation und nutzten ihre Preissetzungsspielräume auf den oligopolitisch [gemeint ist wohl oligopolistisch, C.W.] strukturierten Märkten, um sich größere Teile des Volkseinkommens anzueignen, statt die Binnenmarktorientierung aufzubrechen und Wege in die Weltwirtschaft und damit zu neuen Wachstumsfeldern zu suchen. Die Gewerkschaften versuchten erfolglos, den sozialpolitischen Status quo der 30er und 40er Jahre zu stabilisieren, dessen reale Grundlagen zunehmend erodierten. Aus Furcht vor übermächtiger ausländischer Konkurrenz und Beschäftigungseinbußen im Falle einer Außenöfihung verteidigten sie weiterhin das alte Binnenmarktmodell. Der Staat geriet in Legitimationsprobleme, da er seine Distributionsfunktionen immer stärker reduzieren mußte." 1 3 4

Die krisenhafte Wirtschaftslage wurde durch die schweren Überschwemmungen des Jahres 1959 verschärft. Von den Folgen waren unmittelbar die Viehzüchter betroffen, deren anfangliche Unterstützung für die neue, dem Agrarsektor nahestehende Regierung nun immer mehr schwand. Die Spannungen zwischen Agrarunternehmern und Regierung gipfelten 1962 in der Entscheidung der Federación Rural, vorübergehend alle Zahlungen an die öffentliche Hand einzustellen. 135 Die Blanco-Regierung sah sich also einem ähnlichen Druck ausgesetzt wie die vorhergehende Regierung des Partido Colorado. Dies ist ein Indikator dafür, daß es den Agrarunternehmern - anders als sie wohl vermutet hatten - nicht gelungen war, einen solchen Einfluß auf „ihre" Regierung auszuüben, daß sie auf öffentliche Aktionen verzichten konnten. Sie zeigten sich nicht in der Lage, die Regierung zu einer Wirtschaftspolitik in Übereinstimmung mit den eigenen Interessen zu veranlassen; damit waren die Grenzen ihrer 132 133

134 135

Eßeru.a. 1983: 9. Recht anschaulich wird die gewachsene Bedeutung des Finanzsektors allein schon an der Anzahl der im Land operierenden Banken: 1963 existierten 62 Privatbanken mit rund 500 Filialen, was durchschnittlich in etwa einer Niederlassung pro 4.500 Einwohner entspricht; zum Vergleich dazu kam in Argentinien und Venezuela eine Bankfiliale auf 14.000 bzw. 16.000 Einwohner. (Vgl. Nahum u.a. 1990: 133.) Messner 1990: 8. Vgl. Nahum u.a. 1990: 15/16.

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2. Historischer Hintergrund

strukturellen Privilegierung deutlich erkennbar.! 36 T r o tz heftigem Widerstand aus der Unternehmerschaft wurde so auch 1961 die Einkommenssteuer eingeführt.^137 Nicht zuletzt die Konflikte der Blancos mit ihrer traditionellen Klientel führten dazu, daß die Partei bei den Wahlen 1962 Stimmeneinbußen hinnehmen mußte. Zwar blieb sie noch stärkste Partei, parteiintern aber unterlag der bislang dominierende Sektor (sogenannter Herrero-Ruralismo) anderen Sektoren der Partei, so daß trotz Wahlsieg des regierenden Partido Nacional personelle Veränderungen in der Exekutive nicht ausblieben. Trotzdem war auch die zweite Regierungsperiode unter Führung der Blancos (1963-1967) ähnlich wie die Jahre zuvor durch das Fehlen eines konkreten und realisierbaren Alternativprojektes bzw. durch mangelnden politischen Reformwillen gekennzeichnet. Z.B. scheiterte eine Initiative des damaligen Landwirtschaftsministers Wilson Ferreira Aldunate zur Transformation der agrarischen Strukturen. Fehlender politischer Rückhalt gepaart mit unzureichender Bereitschaft zu wirklichen Reformen machten es unmöglich, bestehende Ansätze zur Lösung der Krise in reale Politik umzusetzen. 138 Erfolglos blieben auch neue, korporative Arrangements, mit denen insbesondere die Unternehmerverbände an der Suche nach einem Ausweg aus der Wirtschaftskrise beteiligt werden sollten. 1 3 9 Nach dem Urteil von Hans-Jürgen Puhle aus dem Jahr 1968 habe die Regierung angesichts zunehmender schwerer ökonomischer Probleme und einer galoppierenden Inflation ein geradezu peinliches Bild von Schwäche, Unentschlossenheit und Durcheinander geboten. 140 Dementsprechend ist als drittes Charakteristikum der ökonomischen Entwicklung von 1963-1967 (neben der anhaltenden Spekulation und der Inflation, die 1967 einen historischen Höchstwert von 136% erreichte) die Orientierungslosigkeit der Wirtschaftspolitik zu nennen. 141 Sie schwankte zwischen liberalen und dirigistischen Maßnahmen, 136

Vgl. Panizza 1988: 115 und Panizza 1990b: 118/119. 137 Ygi Nahum u.a. 1990: 13/14. Im Rahmen einer Restrukturierung des Steuersystems sollten dafür rund 50 andere Abgaben (z.B. Verbrauchssteuer, bestimmte Gewinnertragssteuern und Steuern für Gesellschaften mit begrenzter Haftung) abgeschafft werden. 138 Vgl. De Torres Wilson 1990: 59/60. 139 Zu nennen wäre die im Februar 1963 gegründete Comisión Coordinadora para el Desarrollo Económico (COMCORDE), in der die wichtigsten Unternehmerverbände des Landes repräsentiert waren (vgl. Alonso Eloy 1987: 45), sowie der Versuch aus dem Jahre 1965, ein Consejo de Acuerdo Social mit Vertretern aus Regierung, UnternehmerVerbänden und Gewerkschaften einzurichten (vgl. Nahum u.a. 1990: 126). 140 Vgl. Puhle 1968: 33. Eine gründliche Analyse der Unfähigkeit des Colegiado zu strukturellen Reformen findet sich bei Kerbusch 1970: 144-168. 141 Vgl. Cancela/Melgar 1986: 26.

Vom wirtschaftlichen Erfolg über die Stagnation zur Krise (1930-1971)

103

zwischen Annäherung und Entfernung von den Forderungen des IWF, zwischen freien und kontrollierten Wechselkursen etc.; ein einigermaßen klarer Kurs war nicht erkennbar geworden. Anhaltende Spannungen zwischen Agrarunternehmern, deren Droh- und Druckpotential sich aufgrund des zunehmenden Devisenmangels erhöht hatte, und Regierung führten zu weiteren „Unternehmerstreiks".142 Dies hatte u.a. den Effekt, daß im Oktober 1965 eine der größten Währungsabwertungen in der Geschichte Uruguays vorgenommen wurde, an der besonders die landwirtschaftlichen Produzenten verdienten. Doch trotz einzelner Erfolge der Agrarunternehmer und insgesamt gewachsener Einflußmöglichkeiten zeigten sie sich auch in diesen Jahren nicht in der Lage, sich als hegemoniale, den politischen Prozeß dominierende Kraft zu etablieren. Hierzu fehlte ihnen nicht nur eine entsprechende soziale Basis, sondern auch die Fähigkeit und/oder der Wille, ihre Interessen gemeinsam mit anderen Gruppen aus der Unternehmerschaft zu vertreten. Auch die wirtschaftsideologischen Übereinstimmungen mit der Blanco-Regierung gingen nicht so weit, wie es hätte vermutet werden können. 1 43 Im Spannungsfeld von Inflation und Spekulation mußte die Bevölkerung starke Reallohneinbußen hinnehmen. Von 1963 bis 1968 sanken die Reallöhne um 17%, im Vergleich zu 1957 gar um 27%. 144 Gleichzeitig wuchs die Bedeutung des ausländischen Kapitals, und zwar nun auch im Industriesektor, wo es vorher kaum eine Rolle gespielt hatte. Ausländische Anleger versprachen sich besonders im Exportsektor hohe Gewinne und wurden entsprechend aktiv. So existierten z.B. 25 ausländische Unternehmen, die sich dem Wollexport widmeten. Dies machte zwar nur 27% der gesamten Unternehmen in diesem Bereich aus, die ausländischen Unternehmen deckten aber 60% des Marktes ab. Ähnliches galt für den Export von Rindfleisch: 14 ausländische Unternehmen exportierten 73% des Fleisches. Der Lederexport fiel zu 37% an ausländische Unternehmen. 145 Der öffentliche Sektor wurde von den Parteien immer mehr zur Versorgung ihrer Klientel und zur individuellen Pfründesicherung benutzt. Während sich in 14

2

Vgl. Panizza 1988: 117/118. Vgl. Panizza 1990b: 116/117. Vgl. Cancela/Melgar 1986: 36. 145 vgl. Cancela/Melgar 1986: 34. Im folgenden Jahrzehnt sollte sich der Außenhandel zu einer weniger lukrativen Einnahmequelle entwickeln. Dies hatte zur Folge, daß sich die ausländischen Unternehmen aus den genannten Bereichen fast vollständig zurückzogen und ihre Interessen auf den Finanzsektor konzentrierten. (Vgl. Cancela/Melgar 1986: 36.) 143

144

104

2. Historischer Hintergrund

den 60er Jahren die Anzahl der Beschäftigten im Agrar- und Industriesektor verringerte, stieg die Zahl der öffentlich Bediensteten von 193.800 auf 213.001, was mehr als 20% der ökonomisch aktiven Bevölkerung ausmachte. Die Zahl derer, die staatliche Pensionen bezogen, stieg von 278.000 auf 346.800, und dies bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 2,5 Millionen Menschen.! 46 Im Jahre 1965 bezahlten die staatlichen Unternehmen rund 40% aller Gehälter. 14 ? „The traditional parties, through their control of the state bureaucracies, saw their future political well-being tied to the clamor for jobs and the supposed security that went with public employment. The political elite of both parties turned government into an employment office as they maneuvered for votes and legitimacy in an economy gone s o u r . " ' 4 8

Die mangelnde Problemlösungskapazität der Regierung führte zu einem Wechsel des Regierungssystems. Mit einer durch ein Plebiszit sanktionierten Verfassungsreform wurde der Staatsrat abgeschafft und erneut die Präsidialrepublik installiert. 149 Bei den Wahlen 1966 gelang den Colorados die Rückkehr in die Regierungsverantwortung. Der gewählte Präsident Oscar D. Gestido verstarb allerdings Ende 1967 unerwartet. Dessen Amt übernahm nun verfassungsgemäß Vize-Präsident Jorge Pacheco Areco, ein politisch weitgehend unbeschriebenes Blatt, in der uruguayischen Bevölkerung kaum bekannt und als Vize-Kandidat nur dritte Wahl. 150 Mit ihm als Präsident begann der Weg in den Autoritarismus. Er regierte mit Notstandsgesetzen (Medidas Prontas de Seguridad) und permanentem Ausnahmezustand, seine Politik war gekennzeichnet durch repressive Maßnahmen. 151 Pacheco wurde nicht nur von zumindest Teilen der Unternehmerschaft getragen, sondern Unternehmer spielten - in diesem Ausmaß ein Novum in der Politik des Landes - auch eine aktive politische Rolle. Die historische Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht, die Existenz der Politik als von der wirtschaftlichen Machtstruktur relativ unabhängige Variable wurde aufgehoben. Bereits 1967 begann Pacheco, das politische Personal durch Unternehmer zu ersetzen, und in der Kabinettsumbildung vom Mai 1968 übernahmen exponierte 146 Vgl. Panizza 1990b: 108. 147 Vgl. Weinstein 1988: 35. 148 Weinstein 1988: 35. 149 Insgesamt konnte die Bevölkerung bei der Abstimmung zwischen der Beibehaltung der alten Verfassung und insgesamt vier Reformprojekten wählen. (Details hierzu siehe bei Puhle 1968: 47-55.) Die noch heute gültige Verfassung von 1967 ist die sechste seit der Unabhängigkeit. 150 Vgl. Finch 1991: 213. 151 Zu Einzelheiten siehe u.a. Zubillaga/Perez 1988: 3-5.

Vom wirtschaftlichen Erfolg über die Stagnation zur Krise (1930-1971)

105

Unternehmer die Posten der Politiker. Führende Persönlichkeiten aus dem Finanzsektor bestimmten im wesentlichen den wirtschaftspolitischen K u r s . 152 Die Entwicklungen Mitte des Jahres 1968, die in der Einrichtung des sogenannten Kabinetts der Großunternehmer 153 gipfelten, bedeuteten insgesamt einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Uruguays. „Die Verlagerung der wirtschaftlichen Macht vom Agrar- und Industriekapital auf das Finanzkapital war ein langwieriger Prozeß, der, jetzt an einen kritischen Punkt der Entwicklung angelangt, auch die politische Machtübernahme erforderlich machte. Der Stichtag für diese Wende war eben jene Kabinettsumbesetzung. In der Krise war die, wenn auch relative, aber doch bisher stets präsente Autonomie der Politik und der Politiker endgültig verschwunden." 154

Aufgabe des wenige Zeit zuvor geschaffenen Haushalts- und Planungsbüros (Oficina de Planeamiento y Presupuesto, OPP) 155 war nun die Implementierung einer monetaristisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik. Das oberste Ziel bestand in einer Stabilisierung der Preise, was durch staatliche Intervention erreicht werden sollte. 15(> Nach Ende 1967 wurde im April 1968 erneut die einheimische Währung abgewertet, wovon besonders Agrar- und Exportunternehmer profitieren konnten. 157 Diese Abwertung trug ebenso zu der bereits erwähnten Senkung des Reallohnniveaus bei wie das Einfrieren von Löhnen und Gehältern per Dekret vom 26. Juni 1968, das breite Zustimmung in der Unternehmerschaft fand. Asociación de Bancos, Asociación Rural, Cámara de Industrias, Cámara Mercantil de Productos del País, Cámara Nacional de Comercio, Federación Rural und andere, weniger bedeutende Unternehmerverbände erklärten in einem nur vier Tage später veröffentlichten gemeinsamen Dokument, daß sie diese Maßnahme der Regierung unterstützten. 158 Mit dem Dekret, das der Inflationsbekämpfung dienen sollte und als solches auch als eine Konzession gegenüber den Forderungen des IWF verstanden werden muß, waren die Funktionen und Mechanismen der Consejos de Salarios außer Kraft gesetzt. Statt dessen richtete die Regierung die Comisión de 152

Vgl. u.a. Rama 1987: 151/152; Notaro 1984b: 22. 153 Vgl. u.a. De Sierra 1988: 172. Im einzelnen übernahmen während der Regierungszeit Pachecos folgende Unternehmer Ministerämter: der Bankier J. C. Peirano Facio, der Industrielle Jorge Sapelli, der Bauunternehmer Walter Pintos Risso, die Agrarunternehmer Jaime Montaner, Carlos Frick Davies und Juan Maria Bordaberry sowie der für transnationale Unternehmen tätige Rechtsanwalt Eduardo Jiménez de Aréchaga. (Vgl. Rial 1984b: 26.) 154 Kroch 1991: 68. 155 Die Oficina de Planeamiento y Presupuesto ging 1967 aus der Comisión de Inversiones y Desarrollo Económico (CIDE) hervor. 15 6 Vgl. Notaro 1984b: 16. 157 Vgl. Finch 1981: 242/243. 158 Vgl. Machado Ferrer/Fagúndez Ramos 1987: 66.

106

2. Historischer Hintergrund

Productividad, Precios e Ingresos (COPRIN) ein. Zwar waren in ihr auch je zwei Repräsentanten von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite vertreten, die von der Exekutive designierten fünf Mitglieder behielten aber das Übergewicht. Löhne und Gehälter wurden nunmehr per Dekret festgelegt, ohne daß Arbeitern, Angestellten und Unternehmern ein wirkliches Mitspracherecht wie bei den Consejos de Salarios zukam. 159 Zur Vorbereitung dieser Maßnahmen waren einige Tage zuvor, nämlich am 13. Juni 1968, die bereits erwähnten Medidas Prontas de Seguridad verhängt worden, was eine massive Einschränkung persönlicher Freiheits- und Versammlungsrechte bedeutete. In diesem Sinne war die Regierung Pacheco unmittelbarer Wegbereiter der Diktatur. Während einzelne Minister als Reaktion auf diese Notstandsgesetze noch am selben Tag ihren Rücktritt erklärten und von Gewerkschaftsseite deren Aufhebung gefordert wurde, besuchte am 14. Juni eine Delegation verschiedener Unternehmerverbände Pacheco, um ihre Zustimmung zu dieser Politik zum Ausdruck zu bringen. 160 Als weitere wirtschaftspolitische Maßnahme, die stabilisierende Effekte haben sollte, gab es neben der Kontrolle von Löhnen und Preisen während der gesamten Regierungsperiode festgelegte Wechselkurse. Mit der Gewährung von sowohl kurz- als auch langfristigen Krediten wurde versucht, die Entwicklung im Agrarsektor zu stimulieren. Die auf den binnenmarktorientierten Industriesektor gerichtete Wirtschaftspolitik zielte auf die Beibehaltung protektionistischer Maßnahmen, besonders in Form von Zollschranken. Durch eine Konzentrationspolitik im Finanzsektor sollte die Sicherheit und Rentabilität des Systems gesteigert werden. Banken wurden fusioniert, so daß von den 52 Ende 1967 bestehenden Banken vier Jahre später nur noch 30 existierten, acht davon als ausländische Filialen. Der öffentliche Sektor erfuhr eine leichte Ausdehnung, allerdings nur insofern, als einige Privatunternehmen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Aktivitäten aufgaben, in staatliche Unternehmen umgewandelt wurden.161 Wenngleich sowohl Industrie- als auch Agrarunternehmer von der Stabilisierungspolitik der Regierung profitierten, standen einige von ihnen den Ent159

Vgl. hierzu Weinstein 1988: 38, Zubillaga/Pérez 1988: 4/5, Bruera 1991b: 3 sowie Pucci 1992: 86. Ausführlicher zur COPRIN siehe Plá Rodríguez 1971. Í60 u.a. handelte es sich dabei um: Asociación de Bancos, Asociación Rural, Cámara Mercantil de Productos del País, Cámara Nacional de Comercio und Federación Rural. (Vgl. Machado Ferrer/Fagúndez Ramos 1987: 63.) Nach Angaben von Stolovich soll auch die Cámara de Industrias beteiligt gewesen sein. (Vgl. Stolovich 1985: 5.) 161 Vgl. Notaro 1984b: 16-20.

Vom wirtschaftlichen Erfolg über die Stagnation zur Krise (1930-1971)

107

Wicklungen innerhalb der Exekutive mit Skepsis gegenüber. Anlaß war vor allem die Tatsache, daß sich das politische Führungspersonal bevorzugt aus den Reihen des Finanzsektors rekrutierte und mehr oder weniger direkt mit ausländischem Kapital - und hier besonders mit nordamerikanischen Unternehmen - in Verbindung stand. Dies weckte die Befürchtung, daß sich die Politik schnell auch gegen die eigenen Interessen wenden könnte. 162 Allerdings blieben diese Befürchtungen weitgehend ohne politische Konsequenzen. Vielmehr war mit der Integration von Großunternehmern in die Regierung ein Schritt vollzogen, durch den die traditionelle Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht offenkundig aufgehoben worden war. Insofern müssen zumindest Teile der Unternehmerschaft als politische Akteure begriffen werden, die nicht unwesentlich zur Stützung der autoritär geprägten Politik Pachecos beigetragen haben. „Para un empresariado acostumbrado a un 'perfil bajo' respecto a sus relaciones con el Estado, eso significó un cambio importante y sin duda contribuyó a acentuar su tendencia a apoyar el giro autoritario en el manejo político de la crisis, facilitando su posterior integración sin traumas al proceso m i l i t a r i s t a . " 1 6 3

Gerade in den ersten Jahren ihrer Amtszeit konnte die Regierung Pacheco Erfolge vorweisen, die auf eine wirtschaftliche Erholung hindeuteten. Aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen und einer günstigeren Gestaltung der Weltmarktpreise in den Jahren 1969/70 waren 1970 die Exporteinkünfte höher als in allen Jahren seit Anfang der 50er Jahre und um 47% höher als 1967. Die wirtschaftlichen Erfolge waren insgesamt allerdings nur punktuell und hatten vorübergehenden Charakter. Auch die von 1968 bis 1970 gestoppte Kapitalflucht setzte wieder ein. 164 So entsprach die Wirtschaftslage am Ende der Regierungszeit Pachecos 1971 weitgehend der schlechten ökonomischen Situation bei seinem Regierungsantritt. Über die Jahre verschärften sich die sozialen Probleme ebenso wie die innergesellschaftlichen Konflikte. 165 Im Zuge dieser Zuspitzungen entwickelte sich der Anfang der 60er Jahre gegründete Movimiento de Liberación Nacional (MLN) unter dem Namen Tupamaros zur Stadtguerilla. In den ersten Jahren ihrer Aktivitäten wurde den Tupamaros noch relativ viel Sympathie aus den Reihen der Bevölkerung entgegengebracht. Dies änderte sich, als Robin-Hood-Aktionen, wie etwa die Verteilung von gestohlenen Lebensmitteln in Armenvierteln, immer mehr in Attentate, Entführungen 162 16

3

164 165

Vgl. De Sierra 1977a: 442/443. De Sierra 1988: 172. Vgl. Eßer u.a. 1983: 10. Vgl. Finch 1981: 242-245 ; Notaro 1984b: 21 -23.

2. Historischer Hintergrund

108

u.ä. umschlugen. Zu den spektakulärsten Aktionen der Tupamaros

zählten die

kurzfristige Besetzung der Stadt Pando im Oktober 1969, bei der die maros

Tupa-

Waffen aus dem Polizeirevier und Geld aus drei Banken erbeuteten,

sowie die Entfuhrung und Ermordung des CIA-Agenten Dan Mitrione im August 1970, auf die die Regierung mit der Verhängung des Ausnahmezustandes reagierte. 1 6 6 D i e langjährige Wirtschaftskrise wurde sukzessive begleitet v o n einem institutionellen Verfall der Demokratie. Parallel zu den

Guerillaaktivitäten

nahm die politische Repression immer mehr zu, und den bis dahin apolitischen Militärs gelang es, ihren Einflußbereich auf Kosten des

demokratischen

Systems auszudehnen. Im Unterschied zu fast allen anderen Ländern Lateinamerikas waren in Uruguay die Streitkräfte bis dahin als politischer Akteur quasi nicht in Erscheinung getreten. 1 6 7 Sie waren ebensowenig w i e die gesellschaftspolitisch weiterhin bedeutungslose Kirche als ernsthafter Bündnispartner für die Unternehmerschaft in Frage gekommen, um eventuell gemeinsam gegen die demokratisch legitimierte Regierung oder die Parteien als die zentralen politischen Kräfte zu agieren. 1 6 8 Nun aber wurden die Militärs immer stärker von der Regierung zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit eingesetzt, und sie gewannen damit erheblich an Bedeutung. Gehörten den Streitkräften tradi-

166 y o n ,j e n zahlreichen Veröffentlichungen über die Tupamaros siehe z.B. Labrousse 1971, Porzecanski 1973, Costa Bonino 1985 und Weber 1989. 16 7 Selbst in den 30er Jahren, als in dem einzigen diktatorischen Intermezzo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der regulär gewählte Präsident Terra den Staatsrat ausschaltete und alleine die Macht übernahm, spielte das Militär keine wichtige Rolle. Die Streitkräfte waren weder an der Durchführung des Staatsstreiches noch an der eingesetzten Regierung unmittelbar beteiligt. Noch Ende der 60er Jahre charakterisierte Puhle die uruguayische Politik mit Blick auf die Rolle der Streitkräfte folgendermaßen: „In der neueren Geschichte des Landes hat es zu keiner Zeit eine ausgeprägte Gewaltherrschaft gegeben; das Militär spielt keine Rolle als eigenständiger Machtfaktor [...]." (Puhle 1968: 6.) Auch Handelman betont: „The militarization of Uruguayan politics represents a sharp break from a long armed forces tradition of nonintervention in the nation's political affairs." (Handelman 1981b: 216.) In diesem Zusammenhang weist er daraufhin, daß die Militärs aufgrund ihrer fehlenden politischen Relevanz auch für die Wissenschaft als Untersuchungsgegenstand lange Zeit nicht interessant waren: „During the 1960s, when Uruguay's leading scholars published the Enciclopedia Uruguaya, a series of monographs analyzing the country's political and economic structure, they failed to include a section on the armed forces. Carlos Real de Azua, the nation's foremost historian, noted that, owing to its traditionally minor role in national politics and society, virtually nothing had been written on the Uruguayan military." (Handelman 1981b: 216.) 168 In seiner Elitenstudie von Ende der 60er Jahre kam Carlos Real de Azüa so auch zu dem Ergebnis, daß zwischen der Unternehmerschaft und den Streitkräften keine direkten Beziehungen bestünden. (Vgl. Real de Azüa 1969: 41.)

Vom wirtschaftlichen Erfolg über die Stagnation zur Krise (1930-1971)

109

tionell nur um die 20.000 Mann an, so verdoppelte sich jetzt deren Zahl in nur wenigen Jahren. 169 Immer weniger wurden die Parteien - traditionell die entscheidenden politischen Akteure, denen über Jahrzehnte eine privilegierte Stellung als Kanäle der Interessenartikulation und politischen Repräsentation zukam - von der Exekutive als Ansprechpartner gesucht. Selbst die Konsultation und Abstimmung der Regierung mit den sie unterstützenden Fraktionen von Partido Colorado und Partido Nacional rückte in den Hintergrund. Kontakt bestand statt dessen zu Vertretern von Großunternehmen und Unternehmerverbänden. 170 Pacheco ignorierte nicht nur weitgehend die politischen Parteien bzw. deren Fraktionen, sondern verfolgte eine Politik, die einem weiteren traditionellen Element der politischen Kultur entgegenstand, nämlich dem Streben nach Konsens: „El Estado conciliador había muerto definitivamente [...]."171 Es war besonders die organisierte Arbeiterschaft, gegen die Pacheco - gestützt auf sein „Unternehmerkabinett" - einen Konfrontationskurs einschlug. 172 Als ein Ergebnis dieser Politik konnte sich im Vorfeld der Wahlen von 1971 ein linkes Parteienbündnis unter dem Namen Frente Amplio formieren, das sich neben den beiden traditionellen Parteien Partido Colorado und Partido Nacional zur dritten parteipolitischen Kraft entwickeln sollte. 173 Bei den Wahlen Ende 1971 erzielte der Frente Amplio auf Anhieb über 18% der Stimmen; das Ende des - in der Charakterisierung von César Aguiar 174 - fragmentarischen Zweiparteiensystems deutete sich an. Als Sieger aus den Wahlen, die in einem Klima starker politischer Polarisierung durchgeführt wurden, ging der Colorado-?oWXik&r Juan Maria Bordaberry hervor, der zwar als Präsidentschaftskandidat nicht die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte (Wilson Ferreira Aldunate vom Partido Nacional hatte einen Vorsprung von über 60.000 Stimmen), der aber aufgrund des eigentümlichen uruguayischen Wahlsystems zum Präsidenten gewählt w u r d e . 1 7 5 Während unter Pacheco der Weg 169

Vgl. Licio 1990: 15. Vgl. Zubillaga/Pérez 1988: 4. 171 Cancela/Melgar 1986: 40. 172 Vgl. Finch 1981: 245. 173 im Frente Amplio schlössen sich zusammen: Partido Demócrata Cristiano, Partido Comunista, Partido Socialista, Movimiento Blanco Popular y Progresista, Frente Izquierda de Liberación, jeweils eine Abspaltung aus den beiden traditionellen Parteien, nämlich Liste 58 des Partido Nacional und Liste 99 (später Partido Por el Gobierno de Pueblo) des Partido Colorado, sowie einige weitere kleinere Gruppierungen. 74 Vgl. Aguiar 1983: 8. !75 Zu den bereits angesprochenen Besonderheiten des Wahlsystems mit seinen Leyes de Lema, von denen in der Regel in der Vergangenheit nur die beiden traditionellen Parteien hatten profitieren können, zählt, daß die Parteien und deren einzelne Fraktionen 1

70

110

2. Historischer Hintergrund

zu einer „inoffiziellen" Diktatur eingeschlagen worden war, sollte nun unter Bordaberry der Involutionsprozeß gipfeln,

nachdem

(!)

die

in der Installierung der

Tupamaros

bereits

Militärdiktatur

niedergeschlagen

worden

waren.176

mehrere Präsidentschaftsbewerber nominieren können. Zum Präsident gewählt ist nun der Kandidat, der innerhalb der siegreichen Partei die meisten Stimmen erzielt. Dies kann wie 1971, aber auch schon wie in den Jahren 1930 und 1946 den Effekt haben, daß ein Kandidat mit dem größten Stimmenanteil nicht Präsident wird, weil die Bewerber der anderen Partei zusammen mehr Stimmen auf sich vereinigen konnten, als die Bewerber der Partei des „eigentlichen" Gewinners. 176 Di e s i s t deshalb zu betonen, weil damit die Argumentation von Befürwortern der Diktatur, die Machtübernahme durch die Militärs sei die einzige Möglichkeit gewesen, die Tupamaros zu besiegen, hinfällig wird (siehe dazu auch Kapitel 5.1).

111

Grundzüge der Volkswirtschaft

3.

Grundzüge der Volkswirtschaft

Grundmerkmal der volkswirtschaftlichen Entwicklung aus einer längerfristigen Perspektive ist die Tatsache, daß der Agrarsektor - anders als noch in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts - seine Schlüsselrolle als treibende Kraft des wirtschaftlichen Wachstums verloren hat. Von Beginn der 30er Jahre an übernahm diese Rolle die verarbeitende Industrie, bis Mitte der 50er Jahre eine allgemeine Rezession einsetzte. Bereits vor der Militärdiktatur, die Anfang der 70er Jahre installiert wurde, begann der Finanzsektor an Bedeutung zu gewinnen. Dies setzte sich während der Zeit des autoritären Regimes nach anfanglichen wirtschaftlichen Erfolgen und einem gesamtwirtschaftlichen Niedergang in den letzten Jahren der Diktatur noch fort, was im einzelnen in Kapitel 5.2 behandelt wird. Diese langfristigen strukturellen Veränderungen verstärkten das traditionelle Gefalle zwischen Montevideo und dem Landesinnern, das bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts trotz der ökonomischen Dominanz der Landwirtschaft existierte und zu den über rein wirtschaftliche Aspekte hinausgehenden, grundlegenden Merkmalen der uruguayischen Gesellschaft gehört. Tabelle 1: Struktur des Bruttoinlandsprodukts nach Sektoren CAnteile in %)

Agrarwirtschaft Industrie* Baugewerbe Tertiärsektor**

1960

1970

1975

1980

1985

1990

1991

14,3 24,8 6,1 54,4

14,6 25,0 3,1 57,3

12,6 25,6 3,7 58,1

11,5 26,2 5,2 57,1

13,0 23,0 2,5 61,4

10,9 30,9 3,5 54,6

10,1 25,6 3,3 61,0

* umfaßt auch Bergbau und Energiewirtschaft ** umfaßt soziale und private Dienstleistungen, den Finanzbereich (Immobilien, Banken und Versicherungen), Handel und Gaststättengewerbe sowie Transport und Kommunikation Quellen: zu 1960-1990 z.T. eigene Berechnungen auf Grundlage der Angaben in Nohlen 1992: 486; zu 1991 Uruguay en la Coyuntura N° 342 vom 27.4.1992.

Bezüglich der Entwicklung der einzelnen Wirtschaftssektoren lassen sich folgende Trends zusammenfassen:1 Der Anteil der Agrarwirtschaft an der Ent-

Aufgrund einer z.T. sehr dürftigen Datenlage konnten im folgenden nicht immer entsprechende Vergleichsdaten oder aktuellere Angaben ermittelt werden. Die in diesem Kapitel aufbereiteten Basisdaten sind in ihrer Aussagekraft aber ausreichend, um die für die eigentliche Untersuchung notwendigen Informationen über die Wirtschaftsstruktur

112

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

stehung des Bruttoinlandsprodukts verringerte sich in den 30 Jahren von 1960 bis 1990 um etwa 3,5%. Zu Beginn der 90er Jahre lag dieser in etwa auf dem Niveau wie durchschnittlich während der zweiten Hälfte der Militärdiktatur (1979-1984). Nachdem 1985 und 1986 der Anteil des Agrarsektors am Bruttoinlandsprodukt auf bis zu 13% gestiegen war, ist dieser seitdem allerdings rückläufig. Insgesamt günstiger sieht aufgrund der Daten die Entwicklung der Industrie aus. Nach einem Auf und Ab während der Präsidentschaft Sanguinettis in der zweiten Hälfte der 80er Jahre stieg die Quote 1990 sehr deutlich auf über 30%. Im Folgejahr 1991 ging der Anteil allerdings wieder um gut 5% zurück und erreichte damit in etwa einen Wert, wie in den in Tabelle 1 ausgewiesenen Jahren 1960, 1970, 1975 und 1980; er bewegte sich dabei noch auf einem etwas höheren Niveau als der Durchschnittswert von knapp über 24% in den Jahren der Militärdiktatur. Die Bauwirtschaft konnte seit 1985 stetig ihren Anteil am Bruttoinlandsprodukt steigern, allerdings nicht die relativ hohen Werte zu Zeiten der Militärdiktatur, geschweige denn die des Jahres 1960 erreichen. Den höchsten Wert der letzten 20 Jahre konnte die Bauwirtschaft in der Periode von 1979-1981 mit einem Jahresdurchschnitt von 5,3% erzielen. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung ist aber vergleichsweise gering; deswegen wird auf sie im folgenden nicht detaillierter eingegangen. Der mit Abstand größte Anteil an der Entstehung des Bruttoinlandsprodukts kommt weiterhin dem Dienstleistungssektor zu. Nach einem „Einbruch" im Jahr 1990, als ein ähnlicher Wert wie 30 Jahre zuvor erzielt wurde, lag dieser 1991 wieder auf dem gewohnt hohen Niveau. Auch unmittelbar vor und während der Militärdiktatur trug der Tertiärsektor zu rund 60% zum Bruttoinlandsprodukt bei, wobei für den Zeitraum von 1970-1981 der Durchschnittswert unter 60% und von 1982-1985 über 60% lag.

zu liefern. (Die folgenden Werte beruhen auf Angaben im statistischen Anhang von Macadar 1992 sowie in den in Tabelle 1 angegebenen Quellen.)

113

Grundzüge der Volkswirtschaft

Graphik 1: Entwicklung der sektoriellen Anteile am Bruttoinlandsprodukt (in %)

70

60 50

Tertläreektor

40

Industriesektor

30

Agrareektor Baugewerbe

20 10

:

0I 1960

l

l

1970

1980

l 1991

Quelle: Angaben in Tabelle 1.

Ein weiterer Indikator für volkswirtschaftliche Veränderungen ist die Entwicklung der Beschäftigungsstruktur. Wie die in der folgenden Tabelle angeführten Daten von drei Volkszählungen zeigen, veränderte sich die Beschäftigungsstruktur von 1963 bis 1985 in eine Richtung, die den historischen Bedeutungsverlust des Agrarsektors fortschreibt.2 In vergleichbarem Umfang ging im genannten Zeitraum aber ebenso der Anteil der in der Industrie Beschäftigten zurück. Eine Ausweitung erfuhr hingegen der unproduktive Dienstleistungssektor. Tabelle 2: Beschäftigte nach Wirtschaftssektoren

(in % der ökonomisch aktiven Bevölkerung) 1975 1963 1985

Agrarwirtschaft Industrie Baugewerbe Tertiärsektor andere*

18,3 21,4 4,9 49,2 6,2

15,8 19,2 5,4 50,7 8,9

15,3 18,2 5,4 52,7 8,4

* umfaßt nicht spezifizierte Tätigkeiten oder Beiragte, die keine Auskunft gaben Quelle: z.T. eigene Berechnungen auf Grundlage der Angaben in Errandonea 1989: 100.

Hinsichtlich der Beschäftigung ist auch die Unternehmensstruktur der uruguayischen Wirtschaft interessant. Sie ist durch einen hohen Anteil an kleinen und mittleren Unternehmen charakterisiert. Lediglich 0,7% aller Betriebe haben mehr als 100 Beschäftigte, d.h. 99,3% der Unternehmen sind zu den kleinen

Noch deutlicher wird dies, wenn man berücksichtigt, daß 1955 sogar über ein Viertel (26,4%) der Erwerbstätigen im Agrarsektor tätig gewesen war. (Vgl. Nohlen 1992: 486.)

114

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

und mittelständischen Betrieben zu rechnen. 3 Deren volkswirtschaftliche Bedeutung wurde lange Zeit unterschätzt. Erst die Daten der Volkszählung von 1988 haben die Relevanz der Kleinunternehmen verdeutlicht. Bei den nichtlandwirtschaftlichen Unternehmen des öffentlichen und privaten Sektors beläuft sich der Anteil mit weniger als 20 Beschäftigten auf 97%; diese Unternehmen repräsentieren 47% der beschäftigten Bevölkerung. 84% der Betriebe wiederum haben weniger als fünf Beschäftigte und stellen ein Viertel der beschäftigten Bevölkerung. 4 Für die Beschäftigung spielt auch der öffentliche Dienst eine wichtige Rolle. Denn staatliche Einrichtungen fungieren als Arbeitgeber von rund einem Viertel aller Erwerbstätigen. Von Ende der 60er bis Mitte der 80er Jahre stieg die Zahl der öffentlichen Bediensteten von 213.000 auf 249.000, um dann in der Folgezeit noch einmal auf 280.000 - bei insgesamt 1,2 Millionen Erwerbstätigen - anzuwachsen. 5 Der Anteil des öffentlichen Sektors am Bruttoinlandsprodukt liegt im Schnitt bei knapp über 20%ß Die staatlichen Betriebe arbeiten gemäß der Verfassung als autonome Einheiten unabhängig von der Exekutive (sogenannte Entes Autónomos). Insgesamt gab es Ende 1989 zwölf Entes Autónomos, davon vier staatliche Banken. 7 Das gesamtwirtschaftliche Gewicht des öffentlichen Sektors kommt weniger durch die relativ geringe Zahl staatlicher Unternehmen zum Ausdruck als vielmehr durch deren Dominanz in volkswirtschaftlichen Schlüsselbereichen. 8

3 4 5

6

7

8

Vgl. Frediani 1988: 19. Vgl. Arocena 1990: 9/10. Vgl. Trylesinski 1987: 23 und Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.2.1990. 1992 soll die Zahl der Staatsbediensteten bei rund 260.000 gelegen haben, wovon Schätzung zufolge etwa 90.000 Stellen überflüssig sind. (Vgl. Nolte 1993: 11.) Vgl. Pini Martínez 1989: 6-8. Im einzelnen: Usinas y Trasmisiones Eléctricas (UTE), Administración Nacional de Telecomunicaciones (ANTEL), Administración Nacional de Combustibles, Alcohol y Portland (ANCAP), Administración de Ferrocarriles del Estado (AFE), Primeras Líneas Uruguayas de Navegación Aérea (PLUNA), Administración Nacional de Puertos (ANP), Industrias Loberas y Pesqueras (ILPE), Administración de las Obras Sanitarias del Estado (OSE), Banco Central del Uruguay (BCU), Banco de la República Oriental del Uruguay (BROU), Banco Hipotecario del Uruguay (BHU) und Banco de Seguros del Estado (BSE). Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.2 zum Industriesektor.

Grundzüge der Volkswirtschaft

115

Graphik 2: Struktur der Exporte

(Anteil am Gesamtexport in %) 100

t

90

15,4

80

37,9

35,4

45,9

70

54,9

53,2

51,1

49,7

51,9

60 • Industriegüter

50 -• 40 30

• Primärgüter

1 HS

62J

64,6

; .'r ;

54'il

20

45.1

46;«

1987

1988

48.!

10

0 1970

1980

1965

1986

1989

1990

1991

Quelle: CEPAL 1993: 108/109.

Nicht nur die Beschäftigtenzahlen und die anteilsmäßige Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, auch die Veränderungen in der Exportstruktur weisen auf einen langfristigen Bedeutungsverlust des Agrarsektors hin. Wie die folgende Graphik zeigt, wird der Exportbereich sehr viel deutlicher als in der Vergangenheit durch Industrieprodukte bestimmt. Doch es wäre vorschnell und vordergründig, aufgrund dieser makroökonomischen Daten die Bedeutung des landwirtschaftlichen Sektors für die Volkswirtschaft als gering zu beurteilen und damit zu unterschätzen. Denn nach wie vor sind agrarische Rohstoffe häufig die Ausgangsbasis für die industrielle Produktion und den Export, worauf später noch einmal eingegangen wird.

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

116

3.1

Agrarsektor

Graphik 3: Anteil des Agrarsektoi am Bruttoinlandsprodukt 1991 (in % nach Angaben in Tabelle 1)

Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt lag in den zurückliegenden 30 Jahren in etwa zwischen 10 und 15%. Innerhalb des Sektors schwankte in den 70er Jahren und in der ersten Hälfte der 80er Jahre die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts recht stark und wies prozentuale jährliche Variationen auf, die z.T. deutlich in den Negativbereich hineinreichten. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre konnten positive Werte erreicht werden, allerdings auf einem immer niedriger werdenden Niveau. Die Wachstumsraten gingen stetig von 4,6% (1985) über 4,4% (1986), 3% (1987) und 1,7% (1988) auf 1% (1989) zurück,9 so daß von einer längerfristigen Stabilisierung kaum gesprochen werden konnte. Graphik 4: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in der Landwirtschaft (durchschnittliche jährliche Variation in %)

-4,2 1974-1978

1979-1981

1982-1984

Quelle: Macadar 1992: 145.

9

Vgl. Macadar 1992: 145.

Agrarsektor

117

In Uruguay ist fast die gesamte Fläche des Landes landwirtschaftlich nutzbar. Schätzungen zufolge sind über 90% des Bodens für Ackerbau und Viehzucht geeignet, wobei ca. 40% als Weideland, 20% für den Ackerbau und wiederum 40% für beide Arten der landwirtschaftlichen Produktion genutzt werden können. 10 Rund zwei Drittel der landwirtschaftlichen Produktion sind tierischen Ursprungs (Fleisch, Leder, Wolle, Milch, Geflügel, Eier), etwa ein Drittel entfallt auf den Ackerbau (Weizen, Reis, Früchte, etc.). 11 Rückgrat des Agrarsektors ist unverändert die Viehzucht. Auf 70% der für Viehzucht genutzten Fläche werden ausschließlich Rinder (rund 10 Millionen) und Schafe (rund 25 Millionen) gehalten. Im Vergleich zu den 70er Jahren ist der Bestand an Rindern tendenziell eher rückläufig, der Bestand an Schafen demgegenüber ansteigend. Die Viehzucht gestaltet sich als überwiegend extensiv, d.h. auf großen Weideflächen mit einem relativ geringen Einsatz von Maschinen, Produktivkapital und Arbeitskräften. Darüber hinaus ist hier der Grad der Besitzkonzentration sehr hoch, denn auf 3% der Viehzuchtbetriebe entfallen 30% des Bodens; umgekehrt verfügen 40% nur über 2% des Bodens. In den beiden vergangenen Jahrzehnten sind in der Viehwirtschaft zwei unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten: Während bei der noch immer relativ unbedeutenden intensiven Bewirtschaftung besonders aufgrund technologischer Neuerungen eine Dynamik einsetzte, stagnierte insgesamt die extensive Viehzucht, ohne daß diese allerdings damit entscheidend an gesamtwirtschaftlicher Bedeutung verlor. 12 Nicht zuletzt aufgrund der gegebenen Bedingungen und der verhältnismäßig großen Abhängigkeit der Volkswirtschaft vom Agrarsektor konnten sich die Agrarunternehmer im Bereich der extensiven Viehwirtschaft eine Stagnation leisten. „Spätestens seit den 30er Jahren stellte sich die Notwendigkeit von Investitionen in der Viehwirtschaft, die über die Züchtung hinausgingen. Die Agrarkapitalisten sahen jedoch in der Viehwirtschaft keine sie befriedigenden Profitmöglichkeiten und legten ihr Kapital in anderen Wirtschaftssektoren an (oder transferierten es ins Ausland: Kapitalflucht vor allem seit Mitte der 60er Jahre), so daß die Form der Bewirtschaftung der Vieh-eslancias seit Jahrzehnten unverändert und eine wesentliche Bedingung der Stagnation der viehwirtschaftlichen Produktion ist." 1 3

10 11

12

13

Vgl. hierzu und zu den folgenden Angaben, soweit nicht anders angegeben, CINVE 1990: 12 und 28-30. Diese Angabe gilt beinahe durchgängig für die 70er und 80er Jahre. Lediglich 1975 und 1976 stieg der landwirtschaftliche Produktionswert des Ackerbaus auf über 40%. (Vgl. Laens 1989: 60.) Vgl. Laens 1989: 60-62. Nohlen 1992: 491/492.

118

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

Gerade auch im internationalen Vergleich wird die anhaltend geringe Produktivität der uruguayischen Viehwirtschaft - und damit eines ihrer Grundprobleme - deutlich. Neben der insgesamt festzustellenden Stagnation der Landwirtschaft sind allerdings in Einzelbereichen positive Entwicklungen festzustellen. So stieg gegen Ende der 70er Jahre vor allem die Geflügelproduktion an (von durchschnittlich knapp 12.000 Tonnen jährlich Anfang der 70er Jahre auf knapp 22.000 Tonnen), in den 80er Jahren expandierte dann der Bereich der Milchproduktion (von durchschnittlich gut 700 Millionen Liter jährlich in den 70er Jahren auf rund 940 Millionen jährlich in der Periode von 1985-87). Eng verbunden mit dem Anstieg der Milchproduktion war die Expansion der milchverarbeitenden Industrie. Der Stagnation der extensiven Viehwirtschaft steht eine insgesamt dynamische Entwicklung des Ackerbaus gegenüber, wobei sich aber in den letzten 20 Jahren die Anbau- und Ertragsstruktur deutlich verändert hat. 14 Die Umstellung der ackerbaulichen Produktion wurde von zwei Phänomenen begleitet. Zum einen verminderte sich die Anbaufläche um mehr als 30%, zum anderen erhöhte sich parallel zum Rückgang der Fläche des kultivierten Bodens die Produktivität erheblich. Die Erträge stiegen innerhalb von zehn Jahren (Anfang der 60er Jahre bis Anfang der 70er) z.T. um ein Drittel, manchmal verdoppelten sie sich sogar im selben Zeitraum. 15 Ein Ergebnis dieses Strukturwandels im Bereich des Ackerbaus war die Verdrängung vieler kleinerer Produzenten. Investitionen in Mechanisierung und technologische Neuerungen waren diesen aufgrund fehlender finanzieller Mittel nur sehr begrenzt möglich, so daß ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Markt im Laufe der Zeit stark nachließ und sie schließlich dem verschärften Wettbewerb nicht mehr standhalten konnten. Unter dem Aspekt der Land- und Besitzverteilung lassen sich aus einer längerfristigen Perspektive (Anfang dieses Jahrhunderts bis 1980) die Entwicklungen für den gesamten Agrarsektor wie folgt zusammenfassen: 16 Die Anzahl 14

15 16

Vgl. Laens 1989: 62-64. Im Mittelpunkt der ackerbaulichen Produktion steht zwar unverändert das Getreide; der Anteil von Hafer und Mais aber ist stark zurückgegangen zugunsten von Reis, Gerste und Sorghum. Die produzierte Weizenmenge ist über die beiden vergangenen Dekaden relativ konstant geblieben; der Weizen als vor 20 Jahren noch absolut dominierendes Produkt hat aber an Bedeutung verloren, im Zeitraum von 1984-86 wurde sogar erstmals mehr Reis als Weizen produziert (Jahresdurchschnitt 384 gegenüber 256 Tausend Tonnen). Auch im zweitwichtigsten Bereich der ackerbaulichen Produktion, den Pflanzenölen, verschoben sich die Gewichte. Neben der Sonnenblume wurde die Sojapflanze zum wichtigsten Produkt, die - Ende der 60er Jahre kaum existent - die mit Abstand größte prozentuale Produktionssteigerung aufzuweisen hat; gleichzeitig verminderte sich deutlich die Produktion von Leinsamen. Vgl. hierzu und zu folgendem Laens 1989: 64/65. Vgl. Vasallo 1989: VII.

119

Agrarsektor

der für uruguayische Verhältnisse als Latifundien einzustufenden Landbesitztümer (mehr als 1.000 ha), die zwischen 56% und 61% der landwirtschaftlichen Fläche kontrollieren, variierte nur unerheblich. Die Anzahl der kleineren Betriebe mit weniger als 100 ha verdreifachte sich bis zum Jahr 1956, ohne daß sich allerdings die in ihrem Besitz befindliche Fläche insgesamt wesentlich vergrößerte. Dies bedeutet praktisch, daß die Kleinbetriebe durchschnittlich weniger Boden bewirtschaften konnten. Von 1956 bis 1980 ging die Zahl dieser Betriebe wieder um rund 20.000 zurück, die von ihnen bewirtschaftete Fläche um 400.000 ha, was 2,5% der gesamten landwirtschaftlichen Fläche entspricht. Als ein Fazit läßt sich feststellen: Die die Agrarstruktur prägenden landwirtschaftlichen Besitzverhältnisse sind über die Jahrzehnte vom Prinzip her unverändert geblieben; Latifundien und Minifundien, die beide aus volkswirtschaftlicher Perspektive in der Regel als unwirtschaftlich gelten, bestimmen weiterhin die Besitzstruktur. 17 In den 70er und 80er Jahren hat die Anzahl der Ackerbau- und Viehzuchtbetriebe insgesamt abgenommen. Von 1970 bis 1986 ging die Zahl der Ackerbaubetriebe um 27% zurück, von 1975 bis 1984 die Zahl der Viehzuchtbetriebe um 8%. Im Bereich des Ackerbaus wuchs lediglich die Zahl der mittelgroßen Betriebe mit einer Fläche von 500-2.500 ha, im Bereich der Viehzucht diejenigen mit einer Fläche von 500-5.000 ha. Im einzelnen ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 3: Ackerbaubetriebe nach Größenklassen Fläche von ... bis unter... ha

1970

Anzahl der Betriebe 1980 1986

unter 50 50-500 500-1.000 1.000-2.500 2.500-5.000 5.000-10.000 10.000 und mehr

48.312 21.264 3.626 2.784 869 253 55

39.502 21.173 3.792 2.810 830 217 38

28.802 19.721 4.084 2.984 835 180 17

Gesamt

77.163

68.362

56.623

Quelle: z.T. eigene Berechnungen auf Grundlage der Angaben in Statistisches Bundesamt 1990: 34.

Zu diesem Schluß kommt neben anderen auch Nohlen 1992: 492.

120

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

Tabelle 4: Viehzuchtbetriebe nach Größenklassen Fläche von... bis unter... ha

Anzahl der Betriebe 1982 1977

1975

1984

unter 50 50-100 100-500 500-1.000 1.000-2.500 2.500-5.000 5.000 und mehr

31.330 8.238 15.041 3.932 2.746 811 312

32.401 8.308 15.337 3.962 2.812 831 256

31.542 (50-500: 22.820) 3.890 2.800 770 279

27.261 7.820 14.720 3.964 2.918 813 235

Gesamt

62.410

63.907

62.101

57.731

Quelle-, Statistisches Bundesamt 1990: 34.

3.2

Industriesektor

Graphik 5: Anteil des Industriesektors am Bruttoinlandsprodukt I VVi (in % nach Angaben

in Tabelle

1)

Rund ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts entfiel in den zurückliegenden drei Jahrzehnten auf die Industrie. Die Gesamtentwicklung des Sektors stellt sich, ohne nach Branchen zu differen25,6 zieren, wie folgt dar: Nachdem in den 70er Jahren besonders durch steigende Industriegüterexporte noch Wachstumsraten verzeichnet worden waren, war die erste Hälfte der 80er Jahre durch eine tiefe Rezession gekennzeichnet, die sich erst 1985 mit einem Minus von 1,6% abschwächte. Zwar konnte sich der Industriesektor in den Jahren 1986/87 erholen und ein jährliches Wachstum von jeweils über 12% aufweisen, für 1988 und 1989 aber lagen die Werte wieder im negativen Bereich (-3,7% bzw. -2,1%). 18

18

Vgl. Macadar 1992: 145.

121

Industriesektor

Graphik 6: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in der Industrie (durchschnittliche jährliche Variation in %)

Quelle: Macadar 1992: 145.

Zu den wichtigsten Strukturmerkmalen des Industriesektors zählt, daß dieser nach wie vor auf den Agrarsektor angewiesen ist. Rohstoffe landwirtschaftlichen Ursprungs liefern, wie bereits angedeutet, die Grundlage für viele Bereiche der industriellen Verarbeitung und Produktion. Rund 40% der industriellen Produkte sind Nahrungsmittel, Getränke und Textilien. 19 Im Bereich der Nahrungsmittelproduktion ist die Gefrierfleischindustrie die wichtigste Branche geblieben; allerdings hat sie tendenziell an Bedeutung verloren, wohingegen Branchen wie die milch- und fischverarbeitende Industrie, Mühlenbetriebe und Mälzereien einen Bedeutungszuwachs verzeichnen konnten. Für die Textilindustrie ist die Verarbeitung der Wolle zu in erster Linie für den Export bestimmten tops (gewaschene und gekämmte Wolle) zunehmend wichtiger geworden. Gleiches gilt für die lederverarbeitende Industrie, die in den 70er Jahren von der Exportförderungspolitik profitieren und ihren Anteil an der industriellen Produktion in den letzten 20 Jahren von 3% auf 7% ausweiten konnte. Auch die Papierindustrie hat an Gewicht gewonnen, indem sie sich teilweise am argentinischen Markt orientierte. Diese Verschiebungen fanden zuungunsten traditioneller Branchen statt, die den Schwierigkeiten auf dem Binnenmarkt nicht mit einer stärkeren Exportorientierung begegneten, wie etwa Vgl. hierzu und zu folgendem CINVE 1990: 30-32. Ein Beispiel für die enge Verbindung zwischen Agrarsektor und weiterverarbeitender Industrie ist die Genossenschaft CONAPROLE. Als größtes Unternehmen in der milchverarbeitenden Industrie kauft CONAPROLE seine Vorprodukte direkt beim Erzeuger.

122

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

die Bereiche Speiseöl, Tabak und Spirituosen. Kaum von Bedeutung ist unverändert die Investitionsgüterindustrie; im Bereich des Maschinenbaus beispielsweise ist man immer noch vollständig auf Importe angewiesen. 20 Insgesamt bedeuten die beschriebenen strukturellen Veränderungen keine grundsätzlichen volkswirtschaftlichen Umorientierungen. Aus einer längerfristigen Perspektive fand innerhalb der Industrie „nur ein begrenzter Strukturwandel" 21 statt. Über die vergangenen Jahrzehnte sind sowohl der Anteil des Industriesektors am Bruttoinlandsprodukt (siehe Tabelle 1 und Graphik 1) als auch die Branchenstruktur der Industrie relativ konstant geblieben. 22 Die weitgehende Abhängigkeit der verarbeitenden Industrie von agrarischen Rohstoffen besteht fort, gleichzeitig sind viele Industriebetriebe wegen des sehr begrenzten Binnenmarktes verstärkt auf Exporte angewiesen. Die Struktur des Industriesektors kann exemplarisch an der Anzahl der Betriebe in den verschiedenen Bereichen und der Verteilung der Beschäftigten auf die Branchen im Jahr 1987 verdeutlicht werden.2^ Im Bereich Nahrungsmittel, Getränke und Tabak arbeiteten in 5.188 Betrieben 30,4% der im Industriesektor Beschäftigten. Die meisten Betriebe, nämlich 7.155, fanden sich im Bereich Textilien, Bekleidung und Leder, davon allerdings 5.657 Kleinbetriebe mit weniger als fünf Beschäftigten; dementsprechend fiel der Anteil der Beschäftigten mit 28,7% geringer aus als in der vorgenannten Branche. An dritter Stelle folgte der Bereich Metallverarbeitung/Maschinenbau mit 11,9% der Beschäftigten in 4.282 Betrieben. Die weiteren Daten lauten: nicht-metallische Mineralien - 1.620 Betriebe mit 5% der Beschäftigten; chemische Erzeugnisse - 1.092 Betriebe mit 10,7% der Beschäftigten; Papier, Druck - 1.003 Betriebe mit 5,8% der Beschäftigten. Auf 4.702 Betriebe, die nicht in die genannten Branchen eingegangen sind, entfielen 7,5% aller in Industrieunternehmen Beschäftigten. Auf die Industrie insgeamt bezogen gab es 1987 25.042 Betriebe mit 220.992 Beschäftigten. Schlüsselt man die Industriebetriebe nach ihrer Anzahl an Beschäftigten auf, ergibt sich folgendes Bild:

2

0

21

22

2

3

Vgl. Messner 1990: 23. Messner 1990: 22. Dies gilt für die globale Branchenstruktur. Zu detaillierten Informationen über die Entwicklung einzelner Industriezweige und vorhandene Umstrukturierungs- und Modernisierungsprozesse vgl. Messner 1990: 22ff.; er zeigt, daß innnerhalb der einzelnen Branchen durchaus qualitative Veränderungen festzustellen sind. Die folgenden Daten basieren auf Angaben in Cámara de Industrias del Uruguay 1991: Anhang, xii-xiii. Dort finden sich zusätzlich detaillierte Aufschlüsselungen der Branchen nach der Betriebsgröße, gemessen an der Anzahl der Beschäftigten.

123

Industriesektor T a b e l l e 5: B e t r i e b e u n d B e s c h ä f t i g t e in d e r I n d u s t r i e (1987)24 Beschäftigte von ... bis unter ...

Betriebe Anzahl %

Beschäftigte Anzahl %

1- 5 5-20 20-50 50-100 100-200 200 und mehr

18.110 5.277 964 352 205 134

72,3 21,1 3,8 1,4 0,8 0,5

30.806 46.512 29.089 24.166 27.983 62.436

13,9 21,0 13,2 10,9 12,7 28,3

25.042

100,0

220.992

100,0

Gesamt

Quelle: Cámara de Industrias del Uruguay 1991: 7. D i e s e Daten g e b e n zwar A u f s c h l u ß über die Struktur des bezüglich der an der Beschäftigtenzahl g e m e s s e n e n

Industriesektors

Betriebsgröße;

Rück-

schlüsse auf den Grad der Besitzkonzentration sind damit allerdings

nur

begrenzt möglich. Immerhin kann festgestellt werden, daß die 3 3 9 größten Betriebe (mit mehr als 100 Beschäftigten) 4 1 % aller Beschäftigten in der Industrie stellen, demgegenüber der Anteil in den 18.110 Betrieben mit w e n i g e r als fünf Beschäftigten nur 13,9% beträgt. Gleichzeitig entfallen auf die 155 größten Industrieunternehmen 55,5% aller Verkäufe der Industrie.25 In beinahe allen Z w e i g e n des Industriesektors sind e s w e n i g e größere Unternehmen, die j e w e i l s den Markt bestimmen; bezüglich der Wettbewerbssituation in den einzelnen Branchen kann v o n einer o l i g o p o l e n Strukturierung gesprochen werden. „En términos de la estructura del mercado de la industria manufacturera, se destaca el alto grado de concentración predominante en el mercado interno. [...] tan sólo 100 empresas generaban el 60% del valor agregado industrial. En este sentido, debe tenerse en cuenta que las reducidas dimensiones del mercado interno y las características que tuvo el proceso de industrialización por sustitución de importaciones contribuyeron a definir el carácter oligopólico de casi todas las ramas industriales. En 14 de ellas las cuatro mayores empresas representan más de un 70% de la ocupación total, mientras que en otras 15 ramas, las cuatro mayores empresas generan entre un 35 y un 70% del total respectivo. A lo largo del tiempo se percibe, además, una tendencia al aumento en la concentración."^

25

26

Vergleichsdaten 1968 (hier: prozentualer Anteil der Beschäftigten in bezug zur Betriebsgröße gemessen an der Zahl der Beschäftigten): In Betrieben mit 1-4 Beschäftigten arbeiteten 29,2% aller im Industriesektor Beschäftigten, in Betrieben mit 5-19 Beschäftigten 16,8%, in Betrieben mit 20-49 Beschäftigten 9,1%, in Betrieben mit 5099 Beschäftigten 8,6% und in Betrieben mit 100 und mehr Beschäftigten 36,3%. (Quelle: CEPAL 1991: 92/93.) Die Angaben der CEPAL zu 1987 variieren leicht zu denen der Cámara de Industrias. Hier lauten die CEPAL-Daten: 1-4: 13,0%; 5-19: 22,4%; 20-49: 14,0%; 50-99: 11,2%; 100-199: 12,6%; 200 und mehr: 26,8%. Vgl. Stolovich 1991a: 171. CINVE 1990: 32.

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

124

Im Jahr 1986 waren von den 100 größten Industrieunternehmen zwei in staatlichem Besitz, 68 waren nationale und 30 ausländische bzw. transnationale Unternehmen. 27 Aufgegliedert nach Wirtschaftszweigen ergibt sich folgende Verteilung der 100 größten Unternehmen: 65 davon konzentrieren sich in zwei Branchen, nämlich 35 im Bereich Nahrungsmittel, Getränke und Tabak, 30 im Textil- und Bekleidungssektor; fünf der größten Untenehmen sind in der Papierindustrie angesiedelt, 16 im Bereich chemischer Erzeugnisse, darunter die staatliche Erdölraffinerie ANCAP; weitere 14 verteilen sich auf unterschiedliche Industriezweige. Tabelle 6: Verteilung der 100 größten Industrieunternehmen Wirtschaftszweig

Anzahl der Unternehmen

Nahrungsmitlei, Getränke, Tabak 35 Fleisch 9 Milchprodukte 1 Fisch 2 Speiseöle, Speisefette 3 Mühlen 7 Bäckerei, Nudeln etc. 2 Zucker 3 Kakao 1 Verschiedenes 1 Brauereien, Mälzereien 3 Nicht-alkoholische Getränke 2 Tabak 1 Chemische Erzeugnisse aus Erdöl/Gummi 16 Basischemie 3 Kunstdünger, Pflanzenschutz 1 Farben 1 Arzneimittel 5 Seifen, Kosmetik 3 Erdfolraffinerie 1 Schläuche, Reifen 2

Wirtschaftszweig

Anzahl der Unternehmen

Textilien, Bekleidung tops teiidos de punto Kleidung Gerbereien Lederprodukte

30 17 1 4 7 1

Papier

5

Nicht-metallische Erzeugnisse Glas Zement andere

3

andere Erzeugnisse Basismetalle metallische Erzeugnisse Kommunikationsgeräte Elektrogeräte Fahrzeuge

11 2 2 1 3 3

1 1 1

Quelle-, Buxedas 1989: 49.

Aus einer langfristigen Perspektive fanden deutliche Veränderungen in der Zusammensetzung der wichtigsten Industriebetriebe statt.28 Von den 20 größten Unternehmen des Jahres 1936 verschwand bis 1986 die Hälfte, darunter - bis auf eine Ausnahme (der ehemalige Frigorífico Artigas) - diejenigen Gefrierfleischfabriken, die 1936 noch die Rangliste der größten Industriebetriebe anführten. Von den zehn verbliebenen Betrieben waren nach 50 Jahren nur noch vier unter den ersten 20 zu finden, darunter 1986 an erster Stelle das Staatsunternehmen ANCAP und an zweiter Stelle die genossenschaftlich 27 28

Vgl. Buxedas 1989: 44. Vgl. Buxedas 1989: 57/58.

Industriesektor

125

organisierte CONAPROLE. Trotz dieser Entwicklung - so weist Buxedas nach ist mittelfristig, d.h. in den 70er und 80er Jahren, der Konzentrationsprozeß im Industriesektor vorangeschritten. Die Großunternehmen befinden sich überwiegend im Besitz von nationalen Unternehmern bzw. sind gemischte Unternehmen (nationales plus ausländisches Kapital); der Anteil von a) Staatsunternehmen und b) rein ausländischen Filialen an den Großunternehmen ist demgegenüber gering. 29 zu a) Die industriellen Aktivitäten des Staates sind in Uruguay geringer als beispielsweise in Brasilien, Mexiko oder Argentinien. Sein Anteil an der Erzeugung des Industrieprodukts belief sich in den 80er Jahren in der Regel auf weniger als 4% gegenüber rund 8% noch zu Beginn der 70er Jahre. 30 Öffentliche Investitionen liegen meist unter einem Anteil von 10% an der Gesamtheit der Investitionen im Industriesektor. Die Bedeutung staatlicher Unternehmen für den Industriesektor kommt weniger durch unmittelbare Aktivitäten des Staates in der verarbeitenden Industrie zum Ausdruck, als vielmehr durch dessen Monopolstellung in bestimmten wirtschaftlichen Schlüsselbereichen. Hierzu gehören sowohl staatliche Industriebetriebe als auch Staatsunternehmen, die im Dienstleistungssektor angesiedelt und für die Industrie des Landes von großer Bedeutung sind. Solche Schlüsselbereiche sind Energie (Treibstoff, Elektrizität, Gas usw.), Wasserversorgung und Häfen. 31 Trotz der vergleichsweise geringen staatlichen Tätigkeit in der verarbeitenden Industrie ist die Erdölraffinerie ANCAP weiterhin der größte Industriebetrieb des Landes. Obwohl von 1973 bis 1983 die Zahl der dort Beschäftigten von 11.400 auf 6.300 zurückging, konzentriert sich in diesem staatlichen Unternehmen Kapital, welches die Kapitalmenge der größten Privatbetriebe um das acht- bis zehnfache übersteigt. Dies hat zur Folge, daß der Umfang der Investitionen eines Unternehmens wie ANCAP entscheidenden Einfluß auf die Gesamtinvestitionen im Industriesektor hat. So waren es Mitte der 70er Jahre vor allem Investitionen von ANCAP, die den Anteil öffentlicher Investitionen im Industriesektor ungewöhnlich hoch auf bis zu 20% steigen ließen. 32 zu b) Insgesamt sind ausländische bzw. transnationale Unternehmen in der uruguayischen Industrie weniger wichtig als in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas. Die Aktivitäten der rund 400 ausländischen Unternehmen in 29 30 31 32

Vgl. Buxedas 1989: 65. In der ersten Hälfte der 60er Jahre lag diese Quote sogar bei 11%. (Vgl. Trylesinski 1987:21.) Vgl. Cancela/Melgar 1989: 79 sowie Cancela 1991: 90. Vgl. Stolovich 1987: 43/44.

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

126

Uruguay im Jahre 1986 richteten sich an erster Stelle auf den Industriesektor, danach auf den Finanzsektor. 33 Auf ausländisches Kapital und ausländische Unternehmen entfielen 21,2% der industriellen Produktion, der Anteil der Auslandsinvestitionen im Industriesektor ist im lateinamerikanischen Vergleich relativ gering. 34

3.3

Tertiärsektor

Graphik 7: Anteil des Tertiärsektors am Bruttoinlandsprodukt 1991 (in % nach Angaben in Tabelle 1)

Der Tertiärsektor umfaßt öffentliche, soziale und private Dienstleistungen, den gesamten Finanzbereich (Immobilien, Banken und Versicherungen), den Bereich Handel, Hotels und Gaststättengewerbe sowie Transport, Lager und Kommunikation. 3 ^ In den letzten drei Jahrzehnten entfiel mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts auf diesen Sektor. Dabei hat über den genannten Zeitraum dessen Bedeutung sogar noch eher zu- als abgenommen. Bei der Betrachtung des Bruttoinlandsprodukts in den 80er Jahren wird deutlich, daß sich die jährliche Variation im Dienstleistungsbereich fast durchweg günstiger gestaltete als die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Lediglich die Zuwachsraten in den Jahren 1986 und 1987 liegen unter denen des gesamten Bruttoinlandsprodukts. 36 Innerhalb des Tertiärsektors kommt dem Finanzbereich die größte Bedeutung zu. Sein Anteil am gesamten Bruttoinlandsprodukt beträgt knapp ein Viertel. Damit liegt der Anteil des Finanzsektors am Bruttoinlandsprodukt in 33

34 3

5

36

Von ihren Vermögenswerten entfielen 48% auf die verarbeitende Industrie, 40% auf den Finanzsektor und 6,7% auf den Bereich Handel und Hôtellerie. Andere Sektoren blieben unbedeutend. (Vgl. CINVE 1990: 129.) Vgl. Stolovich 1989b: 224; zu Vergleichsdaten sowie ausführlicheren Informationen zu dieser Thematik vgl. Stolovich 1989b: 215-232. Der tertiäre Sektor interessiert im Rahmen dieser Arbeit aufgrund der Themenstellung nur am Rande, so daß hier lediglich einige Basisinformationen gegeben werden. Dies dürfte damit zusammenhängen, daß der Industriesektor in diesen beiden Jahren ungewöhnlich hohe Wachstumsraten erzielte. (Vgl. hierzu Macadar 1992: 145 bzw. zur Entwicklung des gesamten Bruttoinlandsprodukts die Vergleichsdaten in Tabelle 9 im Anhang.)

127

Tertiärsektor

etwa auf einem Niveau wie der des Industriesektors. 37 Allein auf die rein finanziellen Aktivitäten beschränkt, liegt der Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt bei ca. 8%. 3 8 Strukturelle Merkmale des Finanzsektors im Vergleich zu den anderen Sektoren sind der größere Anteil ausländischer Unternehmen sowie das überproportionale staatliche Engagement in diesem B e r e i c h . Graphik 8: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Dienstleistungsbereich (durchschnittliche

1970-1973

1974-1978

1979-1981

jährliche

Variation in %)

-4,5

1982-1984

1985-1987

1988-1989

Quelle: Macadar 1992: 145.

37

38 39

Vgl. dazu auch Moses 1992: 6. Vgl. CINVE 1990: 32. Zu den Hintergründen der fortgeschrittenen Transnationalisierung des Bankensystems sowie zu der gewachsenen Bedeutung des Staates im Finanzsektor besonders gegen Ende der Militärdiktatur siehe auch Kapitel 5.2. Von 1982 bis 1985 stieg der Anteil des öffentlichen Sektors am Finanzsektor von 41% auf 81%. (Vgl. Cancela/Melgar 1989: 79.) Mitte 1987 kontrollierte der Staat drei Viertel der Banken, auf ausländische Banken entfiel das verbliebene Viertel. (Vgl. Cancela/Notaro 1987: 7.)

128

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

3.4

Zur Rolle und Struktur der grupos económicos und deren sektoriellen Verflechtungen40

Die grupos económicos sind ein Phänomen, das nicht alle Großunternehmen zwangsläufig erfaßt und das nicht die dominierende Form in der Struktur des Großkapitals sein muß. Es ist denkbar, daß große Einzelunternehmen als quasi von den grupos económicos unabhängige Unternehmen operieren. Bezüglich Uruguay kann aus einer umfassenden Perspektive festgestellt werden, daß von den großen Industrie- und Agrarunternehmen (d.h. mit mehr als 3 Millionen US-Dollar an Aktiva) ca. knapp die Hälfte direkt mit grupos económicos verbunden ist. Dabei sind zwei Tendenzen auffallig, die zu einer ersten Differenzierung dieses Bildes beitragen: 1.) Bei Großunternehmen des Industriesektors bestehen sehr viel eher Verbindungen zu grupos económicos (67%) als bei Großunternehmen des Agrarsektors (23%). 2.) Je größer die Besitzakkumulation, desto eher besteht die Tendenz, in die Struktur einer grupo económico eingebunden zu sein, was folgende Tabelle deutlich zeigt. Tabelle 7: Anteil der Großunternehmen mit Verbindung zu grupos económicos Aktiva (in Mio. US-Dollar) mehr als 20 10 -20 5 -10 3 -5 *

Industriesektor (in %) 90 82 64 48

Agrarsektor* (in %) 67 63 21 16

Hierbei handelt es sich um Großgrundbesitzer.

Quelle: Stolovich u.a. 1988: 31.

Stolovich u.a. identifizieren insgesamt 111 grupos económicos, die sie aufgrund ihrer Größe bzw. ihres wirtschaftlichen Gewichts klassifizieren. Diese Klassifikation orientiert sich an zwei Kriterien: zum einen an der Anzahl der Unternehmen, die zusammengehören; zum anderen jeweils an dem Wert der akkumulierten Aktiva und dem Wert der Verkäufe. Die Kombination der letzten Die erste und bis 1987 einzige systematische Studie zur Identifizierung der grupos económicos stammt von Vivián Trias aus dem Jahr 1961 mit dem Titel Reforma Agraria en el Uruguay. Diese detaillierte Arbeit „stellt ein richtiggehendes Nachschlagwerk - Familie um Familie - der uruguayischen Oligarchie dar" (Galeano 1986: 137). 1987 erschien - z.T. als Fortschreibung der Untersuchung von Trias verstanden die umfassende Arbeit von Stolovich u.a. über die grupos económicos, deren vierte Auflage aus dem Jahr 1988 die Grundlage der folgenden Ausführungen ist.

129

grupos económicos

beiden Variablen ermöglicht eine der ökonomischen Potenz entsprechende skalenmäßige Rangfolge von 1 bis 5, wie sie in der folgenden Tabelle wiedergegeben ist. Die beiden größten grupos económicos sind verbunden mit den Namen Soler und Strauch 41 ; von den 14 ökonomisch potentesten Unternehmen (siehe in der Tabelle die Skala unter 1) sind sie die einzigen, die mehr als 20 Unternehmen, nämlich jeweils 24, vereinigen, Tabelle 8: Anzahl der grupos económicos Skala

mehr als 20

Anzahl der Unternehmen 10-19 5-9

weniger als 5

Gesamt

1 2 3 4 5

2 0 0 0 0

3 2 3 2 0

6 14 16 14 2

3 11 10 17 6

14 27 29 33 8

Gesamt

2

10

52

47

111

Quelle-. Stolovich u.a. 1988: 38.

Stolovich u.a. weisen auf den „provinziellen" Charakter der grupos económicos in Uruguay hin. 42 Hinsichtlich ihrer Dimensionen, ihrer Macht und dem Entwicklungsstand ihrer wirtschaftlichen Organisation kommen sie nicht in die Nähe ihrer Pendants in Argentinien und Chile. Es muß allerdings berücksichtigt werden, daß die uruguayische Volkswirtschaft deutlich kleiner ist als die argentinische oder chilenische. Wenngleich also die uruguayischen grupos económicos im internationalen Vergleich „provinzieller" sind, läßt dies noch keine Rückschlüsse auf ihre Position im Land selbst zu; für uruguayische Verhältnisse sind sie durchaus „groß". Provinziell sind sie sicher in dem Sinne, daß sie für transnationale Unternehmen - wie Uruguay überhaupt als Markt - nur von untergeordneter Bedeutung sind. Transnationale Unternehmen treten in Uruguay kaum als grupos económicos auf. Für diese war und ist das Zentrum der Region Buenos Aires. Von dort aus expandieren sie in die argentinischen Provinzen und nach Uruguay quasi als weiterer Provinz. In der Regel bleibt die Leitung und Verwaltung des Unternehmens in Buenos Aires angesiedelt. Von den in Argentinien ansässigen transnationalen Unternehmen sind 102 auch in Uruguay vertreten, 525 sind nicht nach Uruguay expandiert. Während diese 41 42

Die Familie Strauch gehört zu den ältesten deutschstämmigen Familien in Uruguay. (Vgl. Medina Pintado 1988b: 65/138.) Vgl. Stolovich u.a 1988: 37/38.

130

3. Grundzüge der Volkswirtschaft

transnationalen Unternehmen in Argentinien dazu tendieren, sich als grupo económico zu etablieren, beschränkt sich ihre Aktivität in Uruguay in der Regel auf ein, eventuell zwei Unternehmen. So besitzen die erwähnten 102 transnationalen Unternehmen in Argentinien im Durchschnitt 4,9 Unternehmen, in Uruguay nur 1,3. Betrachtet man sich die Struktur der grupos económicos in Uruguay, so ist des weiteren auffallig, daß 85,5% jeweils mit einer Familie zu identifizieren sind. 43 Von den 111 grupos económicos existieren 95 innerhalb einer Familie, 13 als Verbindung mehrerer Familien und drei in einer anderen Organisationsform. Des weiteren sind die Grenzen zwischen einzelnen Großunternehmen des Agrar- und Industriesektors in Uruguay relativ klar. So sind 88% der Großgrundbesitzer mit einem Besitz von mehr als 2.500 ha reine Großgrundbesitzer, d.h., daß sie womöglich zwar Kapital außerhalb des Agrarsektors anlegen, nicht aber in der Form organisierter Unternehmen, die von ihnen kontrolliert werden, sondern überwiegend in Form von Bankeinlagen. Im Industriesektor verfügen 36% der Großunternehmen über landwirtschaftlichen Besitz, bei den größten Industrieunternehmen (mit Vermögenswerten über 20 Millionen US-Dollar) steigt der Anteil allerdings auf 90%. Insgesamt gilt, daß die Verflechtungen zwischen Industrie- und Agrarsektor besonders auf der Ebene der größten Kapitaleigner bestehen. Die Interessen der grupos económicos konzentrieren sich auf den Industriesektor. Von den 111 grupos económicos sind 97 im Industriesektor aktiv, 64 im Agrarsektor und 76 im Handel und Dienstleistungsbereich. Innerhalb der grupos económicos verliert der Agrarsektor immer mehr an Bedeutung. Je größer die grupos económicos sind, desto eher verfügen sie über Landbesitz; gleichzeitig gilt aber folgende Tendenz: Je größer das Ausmaß der Kapitalakkumulation ist, desto unbedeutender ist der Anteil des landwirtschaftlichen Kapitals am Gesamtkapital. Zwar verfugen beinahe alle der größeren grupos económicos über Landbesitz, dieser macht im Durchschnitt aber nur ein Zehntel ihres Kapitals aus bzw. trägt nur zu 1,1% zu ihren Verkäufen bei. Zur sektoriellen Struktur der grupos económicos bleibt außerdem festzuhalten, daß ein Drittel von ihnen in allen drei Sektoren (Industrie, Landwirtschaft und Handel / Dienstleistungen) aktiv ist; darunter fallen auch beinahe ausnahmslos die größten grupos económicos. Wenngleich nur ein Fünftel der grupos económicos lediglich in einem der drei Sektoren verwurzelt ist, lassen sich doch 60% von diesen einem von ihnen bevorzugten Sektor bzw. einem Hierzu und zu den folgenden Angaben vgl. Stolovich u.a. 1988: 43-52.

grupos

económicos

131

bestimmten Typ von Wirtschaftsaktivitäten zuordnen. Meist gibt es in den grupos económicos ein zentrales Unternehmen, welches die Basis für die wirtschaftliche Potenz liefert. Nach Trias gab es Ende der 50er Jahre zwischen 55 und 60 grupos económicos (in seinem damaligen Sprachgebrauch sogenannte microconstelaciones). 30 Jahre später existierte davon noch etwa die Hälfte als grupo económico. Neben diesen grupos tradicionales, die bereits Ende der 50er Jahre als solche bestanden (z.B. Strauch, Aznares und die grupos económicos um die Fábrica Nacional de Papel), lassen sich grupos intermedios (solche, die Ende der 50er Jahre bereits Teil des Großkapitals waren, damals aber noch nicht als grupos económicos strukturiert waren, sondern erst in den 60er und 70er Jahren mit ihrer Diversifizierung begannen, wie z.B. Soler) und grupos nuevos (solche, die Ende der 50er Jahre weder als grupos económicos noch als Teil des Großkapitals existierten) unterscheiden. Von den von Stolovich u.a. identifizierten 111 grupos económicos können in diesem Sinne 34 als grupos tradicionales, 37 als grupos intermedios und 40 als grupos nuevos eingestuft w e r d e n . 4 4

44

Vgl. Stolovich u.a. 1988: 238-247.

Das Verbandsspektrum der Unternehmer

4.

133

Panorama der organisierten Unternehmerinteressen unter besonderer Berücksichtigung des Agrar- und Industriesektors

Die rechtlichen Grundlagen für die Bildung von Unternehmerverbänden werden in Uruguay im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des Artikels 39 der Verfassung zur Vereinigungsfreiheit gelegt.1 Vereinigungsfreiheit heißt einerseits die Freiheit von Personen, sich zu einer Organisation zusammenschließen zu können, andererseits aber ebenso die Freiheit, sich gegen den Beitritt zu einer Organisation zu entscheiden (d.h. folgerichtig, daß für keinen Verband eine Zwangsmitgliedschaft existiert). Weitergehende gesetzliche Regelungen speziell zur Bildung von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden, die allerdings nur wenige Jahre in Kraft waren, wurden 1981 zu Zeiten der Militärdiktatur getroffen (Ley de Asociaciones Profesionales 15.137 vom 12.5.1981 sowie Decreto 513/981 Asociaciones Profesionales vom 9.10.1981). Wenngleich sich diese Regelungen formal gleichermaßen auf Arbeitnehmer- wie Arbeitgebervereinigungen bezogen haben, wurden dadurch die Unternehmerverbände in der Praxis kaum berührt, sehr wohl aber die Gewerkschaften.2 Nach dem Ende der Militärdiktatur wurden das oben erwähnte Gesetz und Dekret zu den Asociaciones Profesionales mit der Ley 15.738 vom 13.3.1985 wieder außer Kraft gesetzt. Es gab vor diesen Regelungen von 1981 und gibt heute keine spezifische Gesetzgebung, die die Aufgaben, die Organisation, die Struktur und die Aktivitäten der Unternehmerverbände regelt. Sie sind jeweils ihren eigenen Statuten verpflichtet und unterliegen keinen über den Rahmen der Verfassung und des öffentlichen Rechts hinausgehenden Vorgaben oder Einschränkungen staatlicherseits.

4.1

Das Verbandsspektrum der Unternehmer

Das Verbandsspektrum der Unternehmer stellt sich traditionell als sehr heterogen dar. Bereits in seiner Studie aus dem Jahr 1975 stellte Berenson fest, daß „Todas las personas tienen derecho de asociarse, cualquiera sea el objeto que persigan, siempre que no constituyan una asociación ilícia para delinquir." (Constitución de la República Oriental del Uruguay. Reforma Constitucional de 1966. Artículo 39. Montevideo 1990: 15.) Näheres hierzu siehe in Kapitel 5.3.3.

134

4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen

über 300 Unternehmerorganisationen in Uruguay existieren.3 Darunter befinden sich sehr unterschiedliche Verbände, deren Organisationskriterien sich z.B. nach Wirtschaftsbereichen oder bestimmten Produktionsaktivitäten, nach der Größe der Betriebe oder auch ihrem regionalen Standort bestimmen. Jenseits dieser beinahe unüberschaubaren organisatorischen Vielfalt lassen sich allerdings einzelne Verbände identifizieren, die als Interessengruppen eindeutig die führende Rolle in dem Wirtschaftssektor, in dem sie angesiedelt sind, einnehmen. Sie sind es, die - überwiegend mit einer langen historischen Tradition als sektorielle Spitzenverbände - am ehesten als Interessenvertretungen der Unternehmer mit nationaler Reichweite in Erscheinung treten und über ein entsprechendes Aktions- und Machtpotential verfügen, um wirkungsvoll agieren zu können. Im einzelnen können hier genannt werden: für den Agrarsektor die Asociación Rural del Uruguay (ARU) sowie die Federación Rural (FR); Ahden Industriesektor die Cámara de Industrias del Uruguay (CIU); für den Bereich des Handels die Cámara Nacional de Comercio (CNC); für den Finanzsektor die Asociación de Bancos del Uruguay (ABU). Weniger eindeutig ist die Zuordnung zu einem der genannten Wirtschaftssektoren bei der Cámara Mercantil de Productos del País (CMPP), die Handelsunternehmen aus dem Agrarbereich vereinigt, also sowohl Interessen des Handels als auch der Landwirtschaft repräsentiert. Charakteristikum der Unión de Exportadores del Uruguay (UE) hingegen ist, daß mit ihr ein spezifischer Interessenverband exportorientierter Unternehmer geschaffen wurde. Von den genannten Verbänden zählen die Asociación de Bancos und die Unión de Exportadores nicht zu den „klassischen" Unternehmerorganisationen, die auf eine lange Geschichte zurückblicken können und überwiegend bereits im 19. Jahrhundert ins Leben gerufen wurden. Die Gründungsdaten der wichtigsten Unternehmerverbände im einzelnen lauten in chronologischer Reihenfolge:'» Vgl. Berenson 1975: 31. Eine exakte Zahlenangabe liegt nicht vor. Aktuellere Schätzungen gehen aber ebenfalls von einer Zahl um die 300 aus. (Vgl. z.B. Petrissans Aguilar 1993: 27.) Verläßliche Quellen - dies mußte auch eine Delegation der Organización Internacional de Trabajo (OIT) Ende 1986 in Uruguay erkennen -, die genauere Angaben erlauben, existieren nicht. Im offiziellen Register des Arbeits- und Sozialministeriums beispielsweise wurden damals nur 48 Unternehmerverbände geführt, also weniger Organisationen als etwa bereits allein der Cámara de Industrias angehören; die Eintragung in dieses Register erfolgt auf freiwilliger Basis, so daß keine verläßlichen statistischen Rückschlüsse möglich sind. (Vgl. OIT 1987: 58.) Die in der wissenschaftlichen Literatur angegebenen Gründungsjahre weichen z.T. voneinander ab. Dies hängt damit zusammen, daß sich einige Autoren darauf beziehen, wann die einzelnen Untemehmerverbände mit ihrem aktuellen Namen entstanden sind, andere aber auch Vorläuferorganisationen berücksichtigen. Die folgenden Angaben

Das Verbandsspektrum der Unternehmer

135

1871 Asociación Rural del Uruguay, 1875 Cámara Nacional de Comercio; 1891 Cámara Mercantil de Productos del País; 1898 Cámara de Industrias del Uruguay, 1915 Federación Rural, 1945 Asociación de Bancos del Uruguay; 1967 Unión de Exportadores del Uruguay. Neben diesen Unternehmerverbänden gibt es auch sektorübergreifende Unternehmerorganisationen, wie die Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa (ACDE), die Comisión Patronal del Uruguay de Asuntos Relacionados con la OIT sowie die Confederación Empresarial del Uruguay (CEDU), in der sich Unternehmer aus dem Landesinnern zusammengeschlossen haben. Diesen kommt insgesamt aber als Interessengruppen weniger Gewicht zu als den bereits genannten, weswegen sie im weiteren Verlauf der Arbeit auch keine gesonderte Berücksichtigung finden. Erwähnenswert im Untersuchungszusammenhang der vorliegenden Arbeit ist aber die Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa wegen der Besonderheit, daß sie wenigstens ansatzweise einen Teil der Funktionen wahrnimmt, die von den anderen, sektorspezifischen Untemehmerverbänden vernachlässigt werden. Hierzu gehört die Durchführung von Bildungsveranstaltung für Unternehmer sowie die Förderung des Erfahrungs- und Meinungsaustausches untereinander.5 Immer wieder bemüht sich die Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa auch, ein breites Forum zur Diskussion zwischen Unternehmern und Politikern aus Regierung und Opposition zu schaffen. Anlaß und Grundlage solcher Veranstaltungen sind nicht

beziehen sich auf das Entstehungsdatum des jeweiligen Verbandes, unabhängig davon, ob der Verband unter einem anderen Namen gegründet und später umbenannt worden ist. Z.B. wurde die Cámara de Industrias ursprünglich als Unión Industrial Uruguaya gegründet und erhielt ihren heutigen Namen erst 1914 (vgl. Jacob 1981: 96); die Unión Industrial Uruguaya löste als neu geschaffene Organisation die 1879 gegründete Liga Industrial als Interessenvertretung von Unternehmern des industriellen Sektors ab. Die Cámara Mercantil de Productos del País als Nachfolgerin des 1891 gegründeten Centro de Consignatarios de Frutos del País bekam ihren Namen 1908. (Vgl. Cámara Mercantil de Productos del País 1990: 12/28.) Zu Einzelheiten siehe die Jahresberichte der Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa oder La Mañana vom 4.4.1988. In welchem Umfang die Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa im Bereich der Aus- und Fortbildung tätig ist, wird allein dadurch deutlich, daß sie 1988 von der Interamerikanischen Entwicklungsbank rund eine halbe Million US-Dollar für Schulungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt bekam. (Vgl. La Mañana vom 8.4.1988.) Ein enger Kooperationspartner des Verbandes ist die Konrad-Adenauer-Stiftung.

136

4. Panorama der organisierten Untemehmerinteressen

selten von dem Verband in Auftrag gegebene Unternehmerumfragen zu bestimmten Themen. Während sich die uruguayische Arbeiterschaft nicht nur in Einzelgewerkschaften, sondern darüber hinaus auch über eine die Einzelgewerkschaften zusammenschließende Einheitsgewerkschaft organisiert,6 verfügen die Unternehmer über keinen sektorübergreifenden Dachverband. Insofern stellt sich in Uruguay das Verbandsspektrum der Unternehmer anders dar als z.B. in Chile und Mexiko, wo es die Confederación de la Producción y del Comercio bzw. den Consejo Coordinador Empresarial gibt. Mit der Comisión Intercameral Empresarial {Intercameral genannt) verfügen die uruguayischen Unternehmer lediglich über einen informellen, nicht-institutionalisierten Zusammenschluß der wichtigsten Unternehmerverbände. Gegründet wurde die Intercameral Ende 1985 von der Cámara de Industrias, der Cámara Nacional de Comercio und der Cámara Mercantil de Productos del País? Später schlössen sich ihr die Federación Rural, die Asociación Rural und schließlich auch die Asociación de Bancos an. In ihrer Organisationsform ist diese Intercameral allerdings offen, es gibt keine formale Mitgliedschaft. Insgesamt spielt sie als Organ der Interessenrepräsentation keine entscheidende Rolle. Sie tritt weder in der Öffentlichkeit regelmäßig als wichtiges Sprachrohr der Privatwirtschaft in Erscheinung, noch wird sie von den Unternehmern selbst als wichtiges Instrument zum Austausch, zur Absprache oder Koordinierung genutzt. Dieses Erscheinungsbild, wie es sich in der Öffentlichkeit darstellt,8 entspricht auch ihrem Selbstverständnis, wie es dem Verfasser in mehreren Interviews mit hochrangigen Verbandsrepräsentanten bestätigt wurde. So äußerten sich die Präsidenten der Cámara Mercantil de Productos del País, Simón Berkowitz, und der Asociación Rural, Carlos Enrique Gasparri, in Gesprächen am 8. Oktober 1991 bzw. 13. November 1991 in Montevideo sehr ähnlich: Die Intercameral tage nur, wenn ganz konkrete Probleme anstehen, wenn zu einem „nationalen Thema" eine gemeinsame Position des privaten Sektors gefunden und vertreten werden soll. Aber auch hier treffe sich die Intercameral nur selten, da zwischen den Präsidenten der wichti6

7 8

1966 war der gewerkschaftliche Dachverband CNT (Convención Nacional de Trabajadores) gegründet worden, der - wie viele Einzelgewerkschaften - zu Anfang der Militärdiktatur allerdings verboten wurde. Als Nachfolgeorganisation der CNT gründeten 1983 verschiedene, nach der 1981 erlassenen Ley de Asociaciones Profesionales entstandene berufsspezifische Gewerkschaften den PÍT (Plenario Intersindical de Trabajadores). Die neue bzw. alte Einheitsgewerkschaft trat dann ab 1984 unter dem Namen PIT-CNT auf. (Siehe u.a. Pucci 1992: 33/40 und Nolte 1994: 382-385.) Vgl. Filgueira 1990: 488; Guercini 1991: 11. Vgl. hierzu die Feststellungen der bereits erwähnten OIT-Delegation in OIT 1987: 61.

Das Verbandsspektrum der Unternehmer

137

gen Unternehmerverbände vielfaltige Kontakte auf privater Ebene bestünden; so sei die Intercameral in der Regel meist überflüssig. Als Fazit läßt sich feststellen: So selten die Intercameral zusammentritt, so gering ist auch deren Bedeutung. Faktisch existiert also weder ein zentraler Dachverband noch ein wirklich institutionalisiertes intersektorielles Koordinierungsorgan der Unternehmer.9 Die bestehenden informellen Austauschmechanismen zwischen den fuhrenden Persönlichkeiten in den Unternehmerverbänden sind ohne Zweifel vorhanden, aber überwiegend auf einer privaten Ebene angesiedelt und insofern von außen selten klar erkennbar. Die Organisationsstruktur der uruguayischen Unternehmerschaft ist des weiteren dadurch gekennzeichnet, daß keine etablierte Organisation existiert, die auf nationaler Ebene sektorübergreifend ausschließlich die Kleinunternehmer repräsentiert. Zu nennen wäre hier noch am ehesten die Confederación Empresarial del Uruguay, die eine Vielzahl von Kleinunternehmern aus dem Landesinnern (vor allem sogenannte Centros Comerciales) vereinigt; allerdings sind ihr keine Unternehmer aus Montevideo, also dem wirtschaftlichen und politischen Zentrum des Landes, angeschlossen.10 1989 wurde zwar mit der Schaffung von ANMYPE (Asociación Nacional de Micro y Pequeños Empresarios) ein Versuch unternommen, eine Organisation für Kleinunternehmer aufzubauen, die sich von ihrem eigenen Anspruch her auf die nationale Ebene erstrecken will. Ihr ist es aber in der Vergangenheit nicht gelungen, sich zusätzlich zu den bereits genannten Unternehmerverbänden als Interessenvertretung wirklich zu etablieren und an Einfluß zu gewinnen. Sofem es überhaupt Verbände speziell für Kleinunternehmer gibt, handelt es sich praktisch durchweg um sehr branchenspezifische Organisationen mit äußerst begrenzter Reichweite.11 Im Agrarsektor etwa sind aus einer historiAus einer historischen Perspektive war diesbezüglich der Comité Nacional de Vigilancia Económica eine Ausnahme, der 1929 auf Initiative der Federación Rural gegründet wurde und bis wenige Monate nach dem Staatsstreich von 1933 aktiv blieb. (Ausfuhrlicher hierzu siehe Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit sowie Caetano 1985, tomo II.) Am Rande sei bemerkt, daß im Vorfeld der nationalen Wahlen von 1994 die an der Intercameral beteiligten Unternehmerverbände beschlossen haben, eine Nachfolgeorganisation der Intercameral mit dem Namen Consejo Empresarial Superior ins Leben zu rufen. (Vgl. Búsqueda N° 744 vom 9.6.1994.) Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird darauf allerdings nicht weiter eingegangen werden, da der Untersuchungszeitraum vorher endet. Vgl. hierzu und zum folgenden Arocena 1990: 64/65. Zu erwähnen wären: Liga de la Construcción, Centro de Almaceneros, Minoristas, Baristas y Afines del Uruguay, Asociación de Baristas del Uruguay, Asociación Nacional de Carniceros, Sociedad Unión Vendedores de Carne, Unión de Rectificadores del Uruguay, Centro de Comerciantes en Neumáticos del Uruguay, Unión de Vendedores

138

4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen

sehen Perspektive zwar Verbände kleiner und mittlerer Unternehmer vorhanden; diese sind aber in der Regel nur regional organisiert, so daß sich ein sehr uneinheitliches Bild ergibt. 12 Die auf nationaler Ebene agierenden Agrarverbände Asociación Rural und Federación Rural sind zwar grundsätzlich offen für Unternehmer mit kleinen und mittleren Betrieben; es dominieren aber eindeutig die Interessen großer Viehzüchter und Großgrundbesitzer, so daß beide Organisationen mit guten Gründen als „gremios de los estancieros" 13 bezeichnet werden. Eine sehr viel geringere Bedeutung als die beiden großen, alten Unternehmerverbände des Agrarsektors hat die Mesa de Entidades Rurales. Deren Ursprünge liegen in dem Versuch, während der Militärdiktatur eine Vereinigung kleiner und mittlerer landwirtschaftlicher Produzenten zu schaffen, die sich teilweise zu Kooperativen zusammengeschlossen haben. 14 Vorübergehend gehörten der Mesa de Entidades Rurales auch die Federación Rural und die Asociación Rural an; beide verließen den Verband allerdings in der zweiten Jahreshälfte 1985, vor allem wegen unterschiedlicher Positionen bezüglich der Besteuerung des Agrarsektors. 1 5 Es ist allerdings ferner zu vermuten, daß die beiden großen Verbände des Agrarsektors durch die Etablierung eines separaten Verbandes für kleine und mittlere Agrarunternehmer ihren Alleinvertretungsanspruch gefährdet sahen. 16 Ahnliches, wie hier für den Agrarsektor angedeutet, gilt als Merkmal auch für andere Wirtschaftsbereiche. Ebenso wie die beiden großen Landwirtschaftsverbände zählen die Cámara de Industrias und die Cámara Nacional de Comercio Kleinunternehmer zu ihren Mitgliedern; deren spezifische Interessen werden dort allerdings nicht repräsentiert.

12

13

14

15 16

de Nafta, Sociedad de Patrones de Peluquerías, Asociación de Feriantes del Uruguay, Asociación de Kioscos, Salones y Subagencias de Quiniela. (Vgl. Stolovich 1988a: 35/36.) Vgl. Astori 1982: 115. Zur Geschichte einiger dieser Agrarverbände siehe Astori 1982: 115-165. Piñeiro 1985: 20. Ausführlicher hierzu siehe Piñeiro 1985. Die Mesa de Entidades Rurales besteht aus: Asociación de Colonos del Uruguay, Asociación de Cultivadores de Arroz, Cooperativas Agrarias Federadas, Asociación de Plantadores de Caña de Azúcar del Norte Uruguayo, Intergremial de Productores de Leche, Comisión de Fomento Rural, Confederación Granjera, Asociación de Remitentes de la Conaprole, Asociación de Productores de Soja, Asociación de Criadores de Cerdos y Remolacheros Organizados del Sur. (Vgl. Filgueira 1990: 515.) Hervorzuheben in diesem Zusammenhang sind die Cooperativas Agrarias Federadas (CAF). In diesem Verband sind die landwirtschaftlichen Kooperativen zusammengeschlossen, Mitte der 80er Jahre 58 an der Zahl. (Vgl. Latorre o.J.: 18.) Vgl. Berretta 1989: 19 und 85. Vgl. Filgueira 1985: 30.

Das Verbandsspektrum der Unternehmer

139

„Las organizaciones patronales de actividades urbanas (industria, comercio, servicios) presentan un fenómeno parecido al de las organizaciones rurales. Dada una composición social frecuentemente heterogénea, y normalmente bajo la hegemonía de los grandes capitales monopolistas, es muy diñcil detectar organizaciones específicas de los pequeños propietarios, ya sean éstos industriales o comerciantes."

Bezüglich der Mitgliedschaft der Unternehmer in einzelnen Verbänden sind keine eindeutigen Grenzen zu ziehen. Zum einen können Unternehmer aufgrund ihrer Aktivitäten in einem Wirtschaftszweig nicht unbedingt „automatisch" einem bestimmten Verband zugeordnet werden. Zum anderen ist die Mitgliedschaft in mehreren, auch unterschiedlichen Wirtschaftssektoren zuzuordnenden Vereinigungen durchaus üblich. Z.B. gibt es viele Industrieunternehmer, die nicht nur Mitglied in der Cámara de Industrias sind, sondern gleichzeitig auch in der Unión de Exportadores oder der Cámara Nacional de Comercio. Daß dies kein außergewöhnliches Phänomen ist, zeigt eine Ende 1991 durchgeführte Umfrage unter 150 Unternehmern aus dem Industriesektor. 44% der Befragten erklärten, sowohl in der Cámara de Industrias als auch in der Unión de Exportadores Mitglied zu sein; 39% waren zugleich in der Cámara de Industrias und der Cámara Nacional de Comercio organisiert. 18 Ähnliches gilt für den Agrarsektor, denn viele Unternehmer gehören hier gleichzeitig der Asociación Rural und der Federación Rural sowie kleineren, nach Sektoren oder Regionen ausgerichteten Verbänden an. Ebenso gibt es auf den Führungsebenen der Verbände Persönlichkeiten, deren Aktivitäten sich nicht nur auf einen Verband bzw. einen Wirtschaftssektor beschränken. 19 Auch zwischen den genannten Verbänden bestehen nach rein organisatorischen Kriterien nicht immer klare Trennlinien. Z.B. ist die Unión de Exportadores Mitglied der Cámara Nacional de Comercio.20 Laut Statuten der Unión de Exportadores wiederum gehören ihr als Mitglieder die wichtigsten Unternehmerverbände des Landes an, die z.T. sogar einen Sitz im elfköpfigen Direkto17 18 19

20

Stolovich 1988a: 33. Vgl. Bruera 1992: 87. Zum folgenden vgl. Filgueira 1988: 493. Ein Beispiel hierfür ist der Agrarunternehmer und in führenden Positionen im Finanzsektor tätige Enrique Braga, der mehrere exponierte Funktionen in Verbänden aus unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen wahrgenommen hat. Von 1976 bis 1978 gehörte er der Leitung der Asociación Rural an, von 1982 bis 1983 war er Präsident der Federación Rural, in den Jahren 1985 bis 1987 Mitglied im Leitungsgremium der Cámara Nacional de Comercio, und 1988 übernahm er die Vize-Präsidentschaft in der Cámara de Industrias. (Vgl. Perelli 1989c: 224/225.) Auch historisch sind solche, verschiedene Wirtschaftssektoren umfassende verbandliche Aktivitäten einzelner Unternehmer keine Seltenheit. Für die 20er Jahre dieses Jahrhunderts beispielsweise listet Caetano rund zwei Dutzend Unternehmer auf, die in Unternehmerverbänden unterschiedlicher Sektoren wichtige Ämter übernommen hatten. (Vgl. Caetano 1993: 116-118.) Vgl. CLAEH 1991: 116.

140

4. Panorama der organisierten Untemehmerinteressen

rium haben. Je ein Sitz im Direktorium entfallt auf die Cámara de Industrias, die Cámara Nacional de Comercio, die Cámara Mercantil de Productos del País, die Confederación Granjera. Asociación Rural del Uruguay und Federación Rural stellen gemeinsam einen Repräsentanten. Als weitere Unternehmerverbände gehören der Unión de Exportadores gemäß ihren Statuten außerdem die Asociación de Bancos del Uruguay, die Cámara de la Construcción del Uruguay sowie die Liga de la Construcción del Uruguay als Mitgliedsorganisationen an. 21 Als ein weiteres Beispiel für Überschneidungen zwischen den einzelnen Interessengruppen der Unternehmer ist die Federación Rural zu nennen, die zeitweise Mitglied der Mesa de Entidades Rurales war. 22 Auch Unternehmerverbände ersten Grades sind gleichzeitig Mitglied in unterschiedlichen Unternehmerverbänden zweiten Grades.23 Die Gremial de Molinos beispielsweise gehört sowohl der Cámara de Industrias als auch der Cámara Mercantil de Productos del País an. Aufgrund der Verflechtungen zwischen den Verbänden, wie sie hier grob umrissen wurden, ergibt sich ein recht unscharfes Bild der organisierten Unternehmerinteressen. Verbandsprofile lassen sich kaum eindeutig voneinander abgrenzen. Zudem scheinen die Unternehmerverbände für viele Unternehmer nicht ausreichend attraktiv, um sich ihnen anzuschließen. Darauf deuten auch die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahre 1987 hin, in der die 250 größten Unternehmen des Landes erfaßt wurden. Lediglich rund die Hälfte der befragten Unternehmer gab an, sich intensiver an den Aktivitäten ihrer Verbände zu beteiligen. 25% beteiligten sich nur gelegentlich; 18% erklärten, nicht verbandlich organisiert zu sein. 24 In einer weiteren Befragung von 150 Unternehmern aus dem Landesinnern im Jahr 1989 gaben weniger als zwei Drittel (61%) an, einem Unternehmerverband anzugehören.25

21 22 2

3

24

25

Vgl. Unión de Exportadores del Uruguay: Estatutos. Montevideo 1975, Artículo 4° sowie Artículo 10°. Vgl. Filgueira 1990: 488. Die Mitglieder von Verbänden ersten Grades sind physische und juristische Personen, also im Prinzip einzelne Unternehmen; Organisationen zweiten Grades hingegen sind Zusammenschlüsse von Verbänden ersten Grades. Zusätzlich werden in der Literatur Verbände dritten Grades identifiziert, die wiederum die Organisationen zweiten Grades vereinen. (Vgl. Estrada/Masi 1983: 19.) Zum folgenden vgl. Rodríguez 1988: 10. Bei der erwähnten Studie handelt es sich um Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa/Equipos Consultores: Percepción del empresario de la necesidad y contenidos de nuevas reglas para la inversión y el desarrollo. Montevideo 1987. Die oben erwähnten Ergebnisse aus dieser Befragung sind zusammengefaßt in Filgueira 1990: 500. Vgl. Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa: El empresario del interior y el Uruguay de los 90. Encuesta Empresarial. Montevideo 1989. (mimeo)

141

Das Verbandsspektrum der Unternehmer

Diese Daten müssen im Zusammenhang damit gesehen werden, daß für Unternehmer die verbandliche Organisation oft nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, ihre Interessen zu artikulieren. Dies gilt gemäß der Erörterungen in Kapitel 1.2.1 besonders für größere Unternehmer, die bei entsprechender Bedeutsamkeit ihres eigenen Unternehmens als individuelle Akteure auftreten können. Um ihre Interessen artikulieren und so Einfluß auf die nationale Politik nehmen zu können, sind demgegenüber Kleinunternehmer auf die Bündelung ihrer Interessen in kollektiven Zusammenschlüssen angewiesen. Die Tatsache, daß viele von diesen sich trotzdem nicht den bestehenden nationalen Verbänden anschließen, läßt darauf schließen, daß sie sich davon keinen unmittelbar positiven Effekt versprechen. Auch dies deutet darauf hin, daß deren spezifische Interessen in den wichtigen Untemehmerverbänden des Landes nicht oder nur in bescheidenem Umfang repräsentiert sind, zumindest aber daß dies von den Betroffenen so wahrgenommen wird. Schema 4: Die organisierten Unternehmerinteressen Asociación Rural

1

Federación Rural

andere Unternehmerverbände

Cámara de Industrias (lntercameral)^~

Cámara Mercantil de Productos del País Cámara Nacional de Comercio Asociación de Bancos Unión de Exportadores andere Unternehmerverbánde

j



"

und/oder einzelne Unternehmen bzw. Unternehmer

Erläuterung: Die Verbindungslinien bedeuten, daß eine formelle Mitgliedschaft bzw. eine informelle Zugehörigkeit besteht.

4.2

Asociación Rural del Uruguay und Federación Rural

Anders als im Industriesektor, wo die Cámara de Industrias die Funktion eines nationalen, branchenübergreifenden Dachverbandes wahrnimmt, gibt es im Agrarsektor mit der Asociación Rural und der Federación Rural zwei vergleichbare nationale Verbände. Die Existenz von gleichzeitig zwei Verbänden bedeutet aber nicht zwangsläufig, daß beide in Konkurrenz miteinander stehen oder gar gegensätzliche Interessen vertreten. Vielmehr ist das Gegenteil der

142

4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen

Fall: Asociación Rural und Federación Rural ergänzen sich in ihren Aufgaben gemäß ihrer historischen Arbeitsteilung. Der Asociación Rural gehören ca. 2.500 Mitglieder und etwa 30 Verbände 26 an. Sie wird verwaltet und geleitet von der Junta Directiva, die aus 18 Mitgliedern und 18 Stellvertretern besteht. Die Junta Directiva wird ebenso wie der Präsident von der Vollversammlung (Asamblea) gewählt. Der Präsident vertritt den Verband nach außen und fuhrt den Vorsitz bei den Asambleas und den Sitzungen der Junta Directiva. Die Asociación Rural repräsentiert zwar den ganzen landwirtschaftlichen Sektor, sie wird allerdings von den Viehzüchtern {ganaderos) dominiert. Die Asociación Rural ist traditionell eher technisch orientiert und widmet sich besonders den praktischen Anliegen ihrer Mitglieder. Sie versteht sich in erster Linie als Verband, der Dienstleistungen für die Agrarproduzenten erbringt, etwa durch die Organisation von landwirtschaftlichen Ausstellungen und durch Perfektionierung der Züchtung. So heißt es auch in den Statuten der Asociación Rural zu ihren Aufgaben u.a.: „[...] Propagar continua y activamente las ideas favorables al mejoramiento y selección de la ganadería, a la mejora de la tierra y de los cultivos, sistemas de crianzas, y de todo lo que sea tecniñcación de las explotaciones agropecuarias. [...] Celebrar congresos, exposiciones, ferias [...] Promover estudios técnicos de investigaciones científicas de utilidad para las industrias rurales y propender a su divulgación." 2 '

Deutlich zum Ausdruck kommt diese Orientierung auch in der monatlich erscheinenden Zeitschrift der Asociación Rural, die über Züchtungserfolge und Prämierungen von Rindern, Kühen, Schweinen, Schafen und Pferden berichtet, Hinweise zur Vermeidung von Tierkrankheiten gibt, auf neue Entwicklungen in der Landwirtschaft hinweist, Studien und wissenschaftliche Ergebnisse vorstellt usw. Wichtig für die Viehzüchter ist die Asociación Rural auch deshalb, weil sie die Stammbaumregister (Registros Genealógicos) führt, in denen die unterschiedlichen Rassen und Tiere, die im Land zu landwirtschaftlichen Zwecken gehalten werden, erfaßt sind. Die Federación Rural als eine Organisation zweiten Grades vereinigt ca. 100 Verbände landwirtschaftlicher Produzenten. 28 Formal oberstes Organ ist die Versammlung der Delegierten der angeschlossenen Verbände (sogenannter 26

27 28

Vgl. CLAEH 1991: 112 und Riella/Bruera o.J.: o.S. Zu den folgenden Regelungen im einzelnen vgl. Asociación Rural del Uruguay: Estatutos. Montevideo 1964, Artículo 12°, 19° 20° und 33°. Asociación Rural del Uruguay: Estatutos. Montevideo 1964, Artículo I o . Vgl. CLAEH 1991: 112.

Asociación Rural del Uruguay und Federación Rural

143

Congreso).^ Der Congreso wählt den aus 30 Personen bestehenden Consejo Directivo als Leitungsgremium. Dieses Gremium wiederum wählt einen Präsidenten zum Repräsentanten des Verbandes. Die Federación Rural wurde 1915 im Umfeld der Asociación Rural gegründet. Die damaligen Bestrebungen liefen in die Richtung, zusätzlich zur Asociación Rural, die weiterhin ihre typischen Aufgaben im Bereich der Dienstleistungen wahrnehmen sollte, eine Föderation zu etablieren; diese sollte als Verband zweiten Grades die neben der Asociación Rural existierenden sektoriellen und regionalen landwirtschaftlichen Organisationen vereinigen, um so die Interessen der Agrarunternehmer bündeln und wirkungsvoll auf der politischen Ebene gegenüber der Regierung vertreten zu können. 30 Die Federación Rural entwickelte sich dann auch, wie bereits ausfuhrlicher dargestellt, zu der ersten wirklich politischen Interessengruppe dieser Art in Uruguay. „Fue sin duda la Federación Rural la primera entidad que [...] se constituyó finalmente en un modelo de dispositivo corporativo de nuevo tipo, el que en mayor o menor medida sería imitada por las restantes entidades empresariales. Las pautas del nuevo modelo de acción político-gremial fueron simples y eficaces: una consistencia institucional considerable, pero dotada al mismo tiempo de la necesaria flexibilidad para operar con iniciativa propia en el terreno político; una vocación política no vergonzante, compatible con un marco de neutralidad y pluralismo relativos en su relación con los partidos; una calificada inserción de sus directivos en el seno de las dirigencias partidarias, canal de ingreso seguro a las estructuras de cargos electivos; una legitimidad gremial sólida, reforzada además por la contundencia y visibilidad de sus acciones públicas [...]."31

In den Statuten der Federación Rural wird die politische Aktion explizit als Aufgabe des Verbandes genannt. Auf einem Terrain, wo die anderen Unternehmerverbände - wenn überhaupt - über allgemeine und unverbindliche Formulierungen nicht hinausgehen, sind die Festlegungen der Federación Rural vergleichsweise viel ausfuhrlicher, konkreter und direkter. Demnach sollen die politischen Aktivitäten folgende Ziele haben:

29

30 31

Vgl. Federación Rural: Estatutos. Montevideo 1988, Artículo 19. Jeder Verband wird durch zwei Delegierte und zwei Stellvertreter repräsentiert. (Vgl. Artículo 21.) Bemerkenswert dabei ist, daß jeder Verband damit im Congreso zwar gleich stark vertreten ist, nicht jeder Verband bei Abstimmungen aber das gleiche Gewicht hat: „Las Asociaciones federadas tendrán distinto número de votos en el Congreso, de acuerdo con el criterio siguiente: las sociedades Departamentales, 3 votos; las sociedades con más de 5 años de constituidas, 2 votos; las sociedades con menos de 5 años de constituidas, 1 voto." (Artículo 22.) Zu den folgenden Regelungen im einzelnen vgl. Artículo 28, 30, 34. Vgl. Asociación Rural del Uruguay: Cien años de la Asociación Rural del Uruguay. Montevideo 1971: 123-125. Caetano 1992b: 29.

144

4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen ,,a) Propagar entre los afiliados a los partidos militantes las ideas y tendencias de la Federación, exhortándolos a prestigiar en los comicios, las listas de candidatos emanadas de dichos partidos, que mejor las encarnen y propender a que se confíen los puestos públicos a las personas más aptas para desempeñarlos. b) Recabar de los Poderes Públicos todas aquellas leyes y disposiciones que favorezcan el progreso de la campaña y repudiar y combatir las que lo entorpezcan. c) Apoyar moralmente a los gobiernos regulares que presten a los problemas de nuestra producción agropecuaria la delicada atención que merecen, mediante la aplicación de las doctrinas económicas y sociales que más convengan al pais. d) Interesar a los gobiernos y hombres dirigentes en las miras altruistas de la Federación, y ofrecércelas como una palestra a la juventud para que ejercite sus bríos y entusiasmos generosos. e) Exhortar a las masas rurales a ejercer el derecho del voto e inculcar a los productores la obligación moral en que la defensa de sus propios intereses los coloca, de dirigir la educación cívica de sus colaboradores, aconsejándoles el cumplimiento de los deberes ciudadanos."^

Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Federación Rural und Asociación Rural ist kein historischer Mythos weitab von realen Verhältnissen, sondern besitzt durchaus auch heute noch seine Gültigkeit. Die unterschiedliche Ausrichtung von Federación Rural und Asociación Rural spiegelt sich nicht nur in den verschiedenen Funktionen sowie dem jeweiligen öffentlichen Auftreten heutzutage wider; sie entspricht auch dem Selbstverständnis der beiden Verbände. Der Präsident der Asociación Rural, Carlos Enrique Gasparri, bestätigte, daß sein Verband auch heute noch klar durch „traditionelle" Aufgaben geprägt sei. 33 Zwar beziehe auch die Asociación Rural zu Themen, die ihre Klientel betreffen, politisch Stellung und vertrete die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Regierung; deutlich politischer sei aber die Federación Rural ausgerichtet. Nicht zuletzt da sie weitgehend frei von solchen technisch-organisatorischen Aufgaben sei, wie sie die Asociación Rural wahrnehme, könne sie auch stärker als politische Interessengruppe agieren. In den die beiden Verbände charakterisierenden Worten von Gasparri wendet sich der Agrarunternehmer an die Asociación Rural, wenn er Dienstleistungen in Anspruch nehmen will, und an die Federación Rural, wenn er ein politisches Anliegen hat. 34

32 33 34

Federación Rural: Estatutos. Montevideo 1988, Artículo 4 o . Gasparri in einem Gespräch am 13.11.1991 in Montevideo. Eine inhaltlich identische Sichtweise äußerte Ramón Simonet in seiner Funktion als Präsident der Federación Rural in einem Gespräch am 22.10.1991 in Montevideo.

Cámara de Industrias del Uruguay

4.3

145

Cámara de Industrias del Uruguay

Der Cámara de Industrias sind ca. 60 Verbände und 1.350 Unternehmen angeschlossen.35 Sie ist zwar eine Organisation zweiten Grades insofern, als ihr Einzelverbände als Mitglieder angehören; gleichzeitig können ihr auch direkt, ohne einem anderen Verband angeschlossen zu sein, Einzelunternehmen beitreten, was Merkmal einer Organisation ersten Grades ist. Letzteres, also die direkte Mitgliedschaft, trifft auf ca. ein Drittel der der Cámara de Industrias angehörenden Unternehmen zu. 36 Die Möglichkeit der direkten Mitgliedschaft erlaubt auch Unternehmen aus Sektoren ohne eigenen, sektorspezifischen Verband, sich in der Cámara de Industrias zu organisieren. Es gibt zudem Wirtschaftszweige, in denen die Unternehmer zwar verbandlich zusammengeschlossen sind, ihr Verband aber nicht der Cámara de Industrias angehört. Dies traf lange Zeit fur den Bereich der fleischverarbeitenden Industrie zu. Zwar waren hier die drei existierenden Unternehmerverbände nicht der Cámara de Industrias angeschlossen, 16 Einzelunternehmen waren aber direkt Mitglied der Cámara de Industrias}^ Als oberstes Organ der Cámara de Industrias gilt formal die Asamblea General, die einmal jährlich zusammentritt; verwaltet und geleitet wird die Cámara de Industrias gemäß den Statuten jedoch von dem Consejo Directivo,38 Der Consejo Directivo besteht aus 15 Personen, die fur drei Jahre gewählt werden, wobei jährlich ein Drittel der Mitglieder ersetzt wird. Aus seinen Reihen wählt der Consejo Directivo ebenfalls jährlich den Präsidenten der Cámara de Industrias, der als offizieller Repräsentant der Kammer fungiert. Im internen Meinungsbildungsprozeß und bei der Formulierung von Positionen kommt dem Departamento de Estudios Económicos eine wichtige Funktion zu. Diese Einrichtung nimmt fur die Entscheidungsträger eine unmittelbar beratende Funktion wahr, indem sie Informationsmaterial bereitstellt sowie Studien und Statistiken anfertigt. Der Departamento de Estudios Económicos und die 35

36

3

°

Vgl. CLAEH 1991: 112 und El Observador Económico vom 7.5.1992. Zu den wichtigsten und mitgliederstärksten Verbänden, die der Cámara de Industrias angehören, zählen: Cámara Industrial de Alimentos Envasados, Asociación de Industrias Textiles, Cámara de la Industria de la Vestimenta, Cámara Metalúrgica. (Vgl. Stolovich 1988a: 34.) Vgl. Rodríguez 1988: 22. Vgl. Rodríguez 1988: 8/9. 1990 schließlich trat die Asociación de la Industria Frigorífica del Uruguay der Cámara de Industrias bei. (Vgl. Cámara de Industrias del Uruguay: Memoria y balance - ejercicio 1990-1991. Montevideo 1991: 13.) Hierzu und zu folgendem vgl. die entsprechenden Artikel in Cámara de Industrias del Uruguay: Estatutos. Montevideo 1973.

146

4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen

als weitere die Verbandsftihrung beratende Einrichtungen existierenden, jeweils für bestimmte Bereiche zuständigen Comisiones Internas sind zusammen die eigentlichen verbandsinternen „fábricas de opinión". 39 Darüber hinaus erstellt die Cámara de Industrias immer wieder auch verbandsübergreifende Dokumente; mit ihrer vergleichsweise guten personellen und technischen Ausstattung ist sie zu einer Art offiziösem Sprachrohr der gesamten Privatwirtschaft geworden. 40 Die Cámara de Industrias trat lange Zeit vor allem als Interessenvertretung einer Gruppe der Industrieunternehmer auf, die in einer Tradition der importsubstituierenden Industrialisierung steht, also in erster Linie für den einheimischen Markt produziert sowie auf Protektion und Abschottung nach außen setzt. 41 Dies kommt ansatzweise auch in der offiziellen Ideologie der Cámara de Industrias zum Ausdruck. So heißt es in den Statuten zu den Zielen des Verbandes: „El objeto principal [...] es promover, en armonía con los más altos intereses de la República, los intereses de la industria nacional y, en relación con tal objeto: a) Ejercer la defensa de los derechos y legítimos intereses de la industria nacional, propendiendo a su adecuada protección legal."42

Die Einforderung protektionistischer Maßnahmen ist eine ideologische Konstante, die sich durch die gesamte Geschichte der Cámara de Industrias bzw. ihrer Vorläuferorganisation zieht. Aus dem Kreis derjenigen Industrieunternehmen, die auf den einheimischen Markt ausgerichtet sind, rekrutierte sich in

40 4

1

Braera/Piñeiro/Riella 1994: 143. Im einzelnen gibt es folgende Comisiones Internas, aus deren Namen sich auch die jeweilige Zuständigkeit ableitet: Asuntos Internos, Comercio Exterior, Asuntos Económicos y Fomento de la Inversión, Relaciones, Medio Ambiente und Ciencia y Tecnología. (Vgl. Cámara de Industrias del Uruguay: Memoria y balance -ejercicio 1990-1991. Montevideo 1991: 5.) Vgl. OIT 1987: 61. Vgl. hierzu u.a. auch Riella 1989: 26. Auch Messner kam nach Gesprächen vor Ort zu der Überzeugung, daß sich die eindeutig exportorientierten Unternehmer in der Cámara de Industrias eher in der Minderheit befinden. (Vgl. Messner 1993: 77.) Cámara de Industrias del Uruguay: Estatutos. Montevideo 1973; Artículo 4°. Die weiteren Ziele nach Artikel 4 lauten: ,,b) Estimular la organización gremial de todos los industriales por medio de su incorporación a esta Asociación y a los diferentes gremios afiliados a esta Asociación, que correspondan a los diversos sectores en que se divide la actividad industrial en todo el país. c) Estimular por todos los medios a su alcance el desarrollo de la actividad industrial y su creciente perfeccionamiento teniendo especialmente en consideración la necesidad de alcanzar índices crecientes de productividad y de mejorar progresivamente la condición de los trabajadores."

Cámara de Industrias del Uruguay

147

der Vergangenheit auch in der Regel die Führung des Verbandes: „[...] un grupo de dirigentes con una alta estabilidad en sus cargos [...]."43

4.4

Weitere relevante Unternehmerverbände im Überblick Unión de Exportadores del Uruguay

Da sich die Cámara de Industrias für eine Protektion der einheimischen Industrie einsetzte und damit in erster Linie im Sinne der Produzenten für den Binnenmarkt agierte, wurde Ende der 60er Jahre mit der Unión de Exportadores ein Unternehmerverband gegründet, mit dem das bisherige verbandliche Spektrum der Unternehmer eindeutig erweitert wurde. Die Unión de Exportadores, der rund 400 Unternehmen angeschlossen sind, 44 repräsentiert speziell die Interessen der auf den Export in erster Linie nicht-traditioneller Güter ausgerichteten Unternehmer. So ist auch in den Statuten der Unión de Exportadores als Ziel festgelegt: „[...] lograr la unión y el acercamiento de todas las personas naturales y jurídicas, privadas o públicas que directa o indirectamente estén interesadas en que la exportación para la mejor defensa, promoción y desarrollo de sus aspiraciones e intereses a cuyo efecto la representará procurando por todos los medios posibles incrementar las exportaciones, de modo de impulsar el desenvolvimiento económico del País. [...]"4^

Mit der Bildung der Unión de Exportadores sollte eine Interessenvertretung geschaffen werden, die spezifischere Interessen als im Kontext der Cámara de Industrias vertreten und so auch besser als Lobby funktionieren kann. Obwohl personelle und organisatorische Verflechtungen zwischen Cámara de Industrias und Unión de Exportadores bestehen, verwundert es aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage nicht, daß beide selten gemeinsam auftreten und sich eher kritisch, manchmal sogar feindlich gegenüberstehen.46 Die tra43 44

46

Bruera/Piñeiro/Riella 1994: 156/157. Vgl. CLAEH 1991: 112. Unión de Exportadores del Uruguay: Estatutos. Montevideo 1975; Artículo 2 o . Ricardo Petrissans Aguilar, Repräsentant der Unión de Exportadores, betonte in einem Gespräch am 15.11.1991 in Montevideo, daß es zwischen Unión de Exportadores und Cámara de Industrias keine Koordination und keine Zusammenarbeit gebe, sogar der Dialog nur selten gesucht werde. Grund hierfür sei, daß sich die Cámara de Industrias nicht an die Arbeitsteilung zwischen Unión de Exportadores und Cámara de Industrias halte. Die Cámara de Industrias habe sich um die Industriepolitik zu kümmern, nicht

148

4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen

ditionell protektionistische Grundhaltung der Cámara de Industrias kontrastiert deutlich mit der eher neoliberalen Orientierung der Unión de Exportadores. •

Cámara Mercantil de Productos del País

Wenngleich die Cámara Mercantil de Productos del País als Unternehmerverband gewöhnlich dem Handelssektor zugerechnet wird, weist sie auch enge Verbindungen zum Agrarsektor auf, denn in ihr sind diejenigen Unternehmen vereinigt, die mit Produkten aus dem Agrarsektor (Wolle, Leder u.a.) handeln. Als erstes Ziel des Verbandes wird in den Statuten genannt: „El estímulo y fomento de la producción agrícola y ganadera, su comercialización, industrialización y exportación." 47 Laut Information des Präsidenten der Cámara Mercantil de Productos del País, Simón Berkowitz, setzt sich seine Organisation als Unternehmerverband zweiten Grades aus 13 Verbänden zusammen. 48 Die Cámara Mercantil de Productos del País gehört zwar zu den alten, großen Unternehmerverbänden des Landes, in der Öffentlichkeit tritt sie aber weniger in Erscheinung als die anderen im vergangenen Jahrhundert gegründeten, traditionsreichen Unternehmerverbände.49

47 48

49

um die Handelspolitik, die in den Zuständigkeitsbereich der Unión de Exportadores falle. Cámara Mercantil de Productos del País: Estatutos. Montevideo 1973; Artículo 2°a). Berkowitz in einem Gespräch am 8.10.1991 in Montevideo. Die einzelnen Präsidenten dieser Verbände bilden den Rat (Consejo) der Cámara Mercantil de Productos del País, der 14-tägig zusammentritt. Der Präsident der Cámara Mercantil de Productos del País fungiert zugleich als Vorsitzender des Consejos. Ausfuhrlicher zur Cámara Mercantil de Productos del País siehe Bertrand 1991 sowie die anläßlich des 100. Gründungstages erschienene Selbstdarstellung Cámara Mercantil de Productos del País: Los primeros 100 años. 1891 - 23 de enero -1991. Montevideo 1990. Vgl. Bertrand 1991: 3 und 40.

Weitere relevante Unternehmerverbände im Überblick



149

Cámara Nacional de Comercio

Der Cámara Nacional de Comercio kommt der Status eines Dachverbandes für den Handelssektor zu. Ihr sind ca. 40 Verbände angeschlossen, 50 in denen vor allem die Unternehmer aus dem Bereich des Groß- und Einzelhandels organisiert sind. Satzungsgemäß besteht die Hauptaufgabe der Cámara Nacional de Comercio darin: „[...] estudiar las cuestiones económicas, financieras, sociales y jurídicas, nacionales o internacionales, que puedan influir en el desarrollo económico y comercial del país y adoptar todas las medidas que considere necesarias al respecto [...]."51

Die Cámara Nacional de Comercio ist mit der Börse {Bolsa de Comercio), die bereits 1867 gegründet wurde, assoziiert. Zwar sind beide formal juristische Personen, die eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzen; de facto aber gehören sie zusammen, d.h. sie besitzen gemeinsame Statuten, haben denselben Präsidenten, Vize-Präsidenten usw. In seiner Funktion als Geschäftsführer der Cámara Nacional de Comercio/Bolsa de Comercio charakterisierte der noch Anfang der 90er Jahre in diesem Amt befindliche Gustavo Vilaró Sanguinetti 1976 das Verhältnis von Bolsa und Cámara Nacional de Comercio folgendermaßen: „La [...] Bolsa de Comercio [...] se expresa - en cuanto a la problemática empresarial - a través de la Cámara Nacional de Comercio, que actúa como cuerpo colegiado representativo de la misma." 52 •

Asociación de Bancos del Uruguay

Im Gesamtspektrum der organisierten Unternehmerinteressen nimmt die Asociación de Bancos eine Sonderrolle ein. Ihr relativ spätes Gründungsdatum hängt damit zusammen, daß in den Jahren zuvor seitens der Banken keine Veranlassung gesehen wurde, eine gemeinsame Interessenvertretung zu schaffen. Im Unterschied zu anderen Unternehmerverbänden stellte so auch die 1945 erfolgte Gründung weniger eine Reaktion auf eine vermeintliche Interessengefahrdung staatlicherseits dar; die privaten Banken mußten weder in politischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht mit Einschränkungen rechnen. Sie konnten 50 5

1

52 5

3

Vgl. CLAEH 1991: 112 sowie Cámara Nacional de Comercio; Bolsa de Comercio: Informe anual correspondiente al año 1989. Montevideo 1990. Cámara Nacional de Comercio: Estatutos de la Bolsa de Comercio. Montevideo 1983, Artículo 16°. Vilaró Sanguinetti 1976: 231. Vgl. zum folgenden Guerrini 1991.

150

4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen

weitgehend frei von staatlichen Eingriffen agieren, und die Stabilität der Finanzmärkte garantierte ihnen positive ökonomische Bilanzen. Ein gemeinsamer Verband wurde nicht zuletzt deshalb gegründet, da ein Jahr zuvor eine Interessenvertretung der Bankangestellten AEBU (Asociación de Empleados Bancarios del Uruguay) etabliert worden war. Zu ihr wollte die Unternehmerseite nun ein Gegengewicht bzw. ein entsprechendes Verhandlungsorgan auch mit Blick auf die TarifVerhandlungen im Consejo de Salarios schaffen. Im Unterschied zu allen anderen Unternehmerverbänden zeichnete sich die Asociación de Bancos lange Zeit durch eine 100%ige Repräsentativität aus, d.h. alle privaten Banken gehören ihr an. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Zahl der einzelnen Unternehmen im Finanzsektor sehr viel geringer ist als in den anderen Wirtschaftssektoren. Der Asociación de Bancos gehören zudem ausschließlich Bankinstitute und keine anderen Finanzeinrichtungen, wie die in Montevideo weit verbreiteten Wechselstuben, an. 54 100%ige Repräsentativität hieß nach der konkreten Zahl der Mitglieder, daß der Asociación de Bancos in ihrem Gründungsjahr alle 15 Banken angeschlossen waren, Anfang der 90er Jahre 22. Mitte 1992 zog sich allerdings die Citibank, Gründungsmitglied der Asociación de Bancos, aus dem Verband zurück. 55 Ein weiterer Unterschied zu den anderen Unternehmerverbänden besteht darin, daß die Asociación de Bancos mit äußerster Zurückhaltung agiert und es weitgehend vermeidet, in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten, d.h. bis auf sehr wenige Ausnahmen weder durch Stellungnahmen in den Medien noch durch eigene Publikationen ihre Interessen öffentlich artikuliert. Nur selten sucht die Asociación de Bancos außerdem die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmerverbänden. Diese für eine Interessengruppe insgesamt ungewöhnliche Strategie läßt sich aufgrund der strukturellen Privilegierung des Finanzsektors auch gegenüber anderen Wirtschaftszweigen erklären: „Agrupando un sector decisivo en la conformación de los grupos económicos, y formando parte de una actividad clave para la potenciación de un modelo basado en la expansión de las exportaciones y los servicios, no se percibe en su accionar institucional un afán o una necesidad de protagonismo público, ni un propósito legitimador de posteriores decisiones favorables del sistema político (algo tan evidente con otras cámaras empresariales)." 5 "

54 55 56

Letztere sind der recht unbedeutenden Cámara de Entidades Financieras angeschlossen. Vgl. Búsqueda N° 640 vom 28.5.1992. Guerrini 1991: 20.

Repräsentativität und Partizipation

4.5

151

Repräsentativität und Partizipation am Beispiel der Cámara de Industrias del Uruguay

Zwar gehört die Cámara de Industrias als Spitzenverband des Industriesektors zu den einflußreichsten Unternehmerverbänden des Landes; trotzdem ist ihre Repräsentativität begrenzt. Nur ca. jedes sechste Industrieunternehmen ist in der Cámara de Industrias organisiert.57 Umgekehrt zählen nicht nur Unternehmer aus dem Industriesektor zu den Mitgliedern; 5,5% der Mitglieder kommen aus anderen Wirtschaftsbereichen, überwiegend aus dem Handels- und Finanzsektor. Die Asamblea General bietet für die Mitglieder die einzige zumindest formal existierende Möglichkeit, die Führung der Cámara de Industrias zu kontrollieren. Angesichts der äußerst geringen Beteiligung bei den Jahreshauptversammlungen aber fallt die Asamblea General als ernstzunehmendes Kontrollorgan in der Regel aus. In den Jahren von 1979 bis 1988 lag die Zahl der Teilnehmer zwischen 13 und 21. Dabei nahmen in diesem Zeitraum von zehn Jahren insgesamt nur 45 verschiedene Mitglieder an den Jahresversammlungen teil. 58 Von einer Partizipation der Mitglieder, geschweige einer Kontrolle des Consejo Directivo und des Präsidenten durch die Mitglieder kann also praktisch nicht die Rede sein. Die Entscheidungsstrukturen verlaufen nicht von unten nach oben: „[...] las demandas [...] surgen a partir de la dirección de la Cámara y luego son trasladadas a la base social mediadas por la difusión pública de sus reclamos al sistema político o a los aparatos estatales. En resumen, las demandas serian 'impuestas desde arriba' desestimulando la participación de los asociados."59

Die Repräsentativität der Cámara de Industrias ist nicht nur bezüglich der Anzahl der ihr angehörenden Industrieunternehmen sehr eingeschränkt, sondern auch mit Blick auf die Auswahl des Führungspersonals. Bei den Wahlen zum Consejo Directivo kandidierte lange Zeit nur eine Einheitsliste (lista única) mit vorgegebenen Kandidaten. Als eine Konsequenz daraus rekrutierte sich die Führung der Cámara de Industrias über Jahre aus einem kleinen Personenkreis großer und mittlerer Unternehmer, der sich ideologisch als sehr homogen darstellte. Die unternehmerische Ausrichtung dieser Gruppe auf den Binnenmarkt und die damit verbundenen Interessen korrespondierten mit der traditionellen 57 58 59

Vgl. Rodriguez 1988: 23-25. Zum folgenden vgl. Riella 1989: 2. Vgl. Riella 1989: 13/14. Bruera/Pifleiro/Riella 1994: 158.

152

4. Panorama der organisierten Unternehmerinteressen

Orientierung des Verbandes bzw. vice versa. Insgesamt deuten die geringe Repräsentativität, der niedrige Partizipationsgrad und damit einhergehend die mangelnde Kontrolle der Verbandsfuhrung sowie gleichzeitig das ausgeprägte Beharrungsvermögen einer Gruppe von Unternehmern in verantwortlichen Positionen auf eine oligarchische Struktur der Cámara de Industrias hin. Erst die Wahlen von 1992, bei denen turnusgemäß ein Teil der Posten im Consejo Directivo neu zu besetzen war, brachten diesbezüglich eine Wende. Denn erstmals seit mehr als 20 Jahren formierte sich neben der traditionellen lista única eine oppositionelle Liste. 60 Zwar versuchte der amtierende Consejo Directivo die Kandidatur einer zweiten Liste zu verhindern (u.a. trat der Consejo Directivo geschlossen zurück, um dem amtierenden Präsidenten Baridón größtmögliche Freiheiten bei der Zusammensetzung „seiner" Liste zu geben). Diese Bemühungen waren allerdings nicht erfolgreich, denn die verbandsinterne Opposition konnte die Wahlen für sich entscheiden. Wie positiv sich diese Konkurrenz zunächst einmal allein auf die Partizipation der Mitglieder und damit auch auf die innerverbandliche Demokratie auswirkte, zeigt sich daran, daß die Wahlbeteiligung mit einer Stimmenzahl von 653 bei knapp 50% lag und damit außergewöhnlich hoch war. Es spricht für sich, wenn bei den Wahlen in den Jahren zuvor in der Regel nur um die 50 (!) Stimmen abgegeben wurden.61

Vgl. u.a. Uruguay en la Coyuntura N° 345 vom 18.5.1992 Vgl. La República vom 14.5.1992. Zu den internen Kontroversen, die zur Kandidatur einer zweiten Liste führten und die auch in der Öffentlichkeit viel Aufsehen erregten, siehe Kapitel 6.2.3.2.

Autoritarismus und Transition

5.

Die Militärdiktatur 1972/73-1984

5.1

Autoritarismus und Transition

153

Unter der Präsidentschaft von Bordaberry übernahmen die Militärs erstmals in diesem Jahrhundert in Uruguay die Rolle des entscheidenden politischen Akteurs. Die Parteien, die - ganz anders als z.B. im Nachbarland Argentinien über Jahrzehnte alleine, ohne in Konkurrenz zu anderen gesellschaftlichen Gruppen (die Streitkräfte eingeschlossen) treten zu müssen, so das politische System dominierten, daß sogar von einer partidocracia gesprochen wird, wurden nun weitgehend ausgeschaltet.! Bordaberry selbst blieb zwar noch bis 1976 im Amt; allerdings hatten zu diesem Zeitpunkt faktisch die Militärs längst die Macht übernommen. In seiner Funktion als Präsident degenerierte Bordaberry bereits ab 1972/73 zu einer zivilen Marionette. Die Machtübernahme durch die Militärs erfolgte auf eine bis dahin für Lateinamerika einzigartige Art und Weise. Der Staatsstreich ereignete sich zum einen nicht durch einen einmaligen Akt, sondern schrittweise, so daß immer wieder von einem „Putsch in Zeitlupe" {golpe en cámara lenta) die Rede ist.2 Zum anderen betrieb Bordaberry den Putsch ähnlich wie fast genau 20 Jahre später Präsident Fujimori in Peru gleichsam gegen sich selbst (sogenannter autogolpe). Da im Unterschied zu den anderen Ländern des Cono Sur die Militärs nicht offen und direkt die Macht übernahmen, läßt sich kein exaktes Datum für den politischen Systemwechsel nennen. Einen entscheidenden Schritt zum institutionellen Bruch mit der Demokratie stellte allerdings die im Februar 1973 auf Initiative der Militärs erfolgte Einrichtung des militärisch dominierten Nationalen Sicherheitsrates (Consejo de Seguridad Nacional, COSENA) dar. Wenngleich COSENA formell nur eine die Regierung beratende Funktion zukam, war damit die institutionelle Einbindung der Streitkräfte in die Exekutive vollzogen. Die politische Strategie von Präsident Bordaberry gegenüber den Militärs bestand zunächst darin, sich mit diesen zu arrangieren. Von ihm selbst - Stich1

2

Als partidocracia wird zwar auch immer wieder das politische System Argentiniens bezeichnet, dem Begriff kommt dort aber ein anderer, in der Regel sehr negativer Vorstellungsinhalt zu. Huber Stephens charakterisiert die Ausnahmesituation Uruguays in Gegenüberstellung mit Argentinien treffend folgendermaßen: „After the 1910s, however, the patterns of political development in Argentina and Uruguay started to diverge. In Uruguay, civilian supremacy over the military was established and the two main political parties became virtually the exclusive channels of competition for political power, because they provided effective representation for all major interests in society." (Huber Stephens 1989: 306.) Diese Entwicklung wurde auch durch das eigentümliche uruguayische Wahlsystem ermöglicht bzw. begünstigt (vgl. hierzu Wagner 1993). Vgl. z.B. De Sierra 1977b: 567ff.

154

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

wort autogolpe - ging so auch der zweite entscheidende Schritt zur Unterordnung der zivilen unter die militärische Macht aus. Am 27. Juni 1973 verordnete er per Dekret die Auflösung von Senat und Abgeordnetenhaus; sie wurden durch ein mit legislativen Kompetenzen ausgestattetes Gremium (Consejo de Estado) ersetzt. Damit war auch nach außen hin der Wechsel von der Demokratie zur Militärdiktatur vollzogen. Die Machtverhältnisse hatten sich zu dieser Zeit bereits so deutlich zugunsten der Streitkräfte verschoben, daß es sich bei dem Regimetyp nicht mehr um eine vom Militär gestützte, zivile Regierung handelte. Vielmehr war eine Militärdiktatur installiert, die sich einen zivilen Präsidenten hielt, um in erster Linie eine einigermaßen demokratische Fassade und damit das internationale Image zu wahren sowie die Einheit in den Streitkräften nicht durch interne Grabenkämpfe um das Amt des Präsidenten zu gefährden.3 Generell war - im Unterschied etwa zur personalistisch ausgerichteten Diktatur unter General Pinochet in Chile - die Führung eher kollektiv strukturiert. Ähnlich wie in anderen lateinamerikanischen Diktaturen operierten die Militärs auf der Basis der sogenannten 'Doktrin der Nationalen Sicherheit'.4 Das damit implizierte Ziel, einen inneren Feind, also die Stadtguerilla, abwehren zu wollen, ist als Legitimationsgrundlage für die Machtübernahme durch die Militärs aber unglaubwürdig. Denn von den Tupamaros konnte kaum mehr eine ernsthafte Gefährdung der inneren Sicherheit ausgehen, da sie als Bewegung bereits 1972, spätestens Anfang 1973 zerschlagen worden waren.5 Trotzdem wurden die Presse- und Informationsfreiheit eingeschränkt; Streitkräfte und Polizei wurden ermächtigt, die „notwendigen Maßnahmen" zur Sicherung der öffentlichen Ordnung zu ergreifen. Nicht nur das Parlament, sondern auch die Gewerkschaften - Einzelgewerkschaften ebenso wie der Dachverband CNT {Convención Nacional de Trabajadores) - wurden aufgelöst, die Parteien entweder verboten oder deren Befugnisse und Aktivitäten völlig beschnitten. Bereits im Jahr zuvor, 1972, erlebte das Land eine massive Repressionswelle der Streitkräfte, die in der Folgezeit kaum abebbte. Die ehemalige „Schweiz 3

4 5

Vgl. Latin America Bureau 1980: 34. Die Gefahr von Streitigkeiten in den Reihen des Militärs um das Präsidentenamt sieht Handelman auch darin begründet, daß sie auf eine volle Übernahme der politischen Verantwortung nicht vorbereitet waren, weil ihnen bislang jegliche Erfahrung auf politischer Ebene fehlte. Zudem seien sich die Militärs bewußt gewesen, daß das Land vor einer schwierigen und ungewissen wirtschaftlichen Zukunft stehe und daß es deshalb nicht opportun erschien, auch noch das Amt des Präsidenten mit einem Angehörigen der Streitkräfte zu besetzen: „Because unpopular decisions and unforeseen difficulties could only hurt its image and lower its legitimacy, the armed forces preferred civilian 'front men' to take the responsibility." (Handelman 1981b: 224.) Vgl. zur 'Doktrin der Nationalen Sicherheit' im Fall Uruguay Castagnola/Mieres 1989, zu einer grundsätzlicheren Diskussion Werz 1991. Vgl. González 1991: 42/43, Kroch 1991: 177 und Weber 1989: 99.

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Südamerikas" sollte in den kommenden Jahren zur „Folterkammer Nummer 1" des Subkontinents mutieren. Wenngleich in ihren Praktiken z.T. weniger „spektakulär" als die anderen diktatorischen Regime in den Nachbarländern, stand die uruguayische Militärdiktatur in bezug auf Menschenrechtsverletzungen diesen um nichts nach. In Relation zur Bevölkerungszahl hatte Uruguay während der Diktatur weltweit die höchste Anzahl politischer Gefangener. Nach amnesty international wurde einer von 61 uruguayischen Bürgern gefoltert, und eine Vielzahl von Menschen floh ins Exil. 6 „Einmal an der Macht, erwiesen sich die Militärs als die vielleicht zielstrebigsten und gründlichsten Anwender der Doktrin der Nationalen Sicherheit, die Südamerika bis dahin kannte. Das Land wurde mit einem Netz von Kontrollen überzogen, das sämtliche Bürger nach dem Grad ihrer 'Gefährlichkeit' klassifizierte. Die uruguayischen Militärs entschieden sich, anders als ihre Kollegen in Brasilien, Argentinien oder Chile, für die Inhaftierung als zentrale Methode der Unterdrückung."'

Nicht etwa aus diesen Gründen, sondern weil Bordaberry Ambitionen zur Festigung seiner Position erkennen ließ, kam es 1976 zum Bruch der zivil-militärischen Allianz. Seine Pläne liefen auf die Einsetzung einer neo-faschistischen Verfassung und eine institutionelle Neuordnung zugunsten des Präsidentenamtes hinaus.8 Dieses Vorhaben wurde von den Streitkräften abgelehnt. Indem sie als Konsequenz Bordaberry kurzerhand durch den Vizepräsidenten der Republik und Präsidenten des Consejo de Estado, Alberto Demichelli, ersetzten, demonstrierten sie, daß der demokratisch gewählte Präsident Bordaberry tatsächlich nicht sehr viel mehr als eine Marionette war und daß sie mit dem COSENA über das eigentliche Machtmonopol verfugten. Deshalb wird die Zeit der Präsidentschaft Bordaberrys auch als „kommissarische Diktatur" bezeichnet. 9 Nach diesem über Jahre gehenden Prozeß der Institutionalisierung der autoritären Herrschaft der Militärs, der mit der Absetzung von Bordaberry im

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Vgl. Burt 1989: 6. Burt spricht von über 500.000 Personen, die die Flucht ins Ausland ergriffen hätten, Heinz in seiner Untersuchung sogar von einem Massenexodus von etwa einem Viertel der Bevölkerung (vgl. Heinz 1986: 561). Beide Zahlen scheinen zwar doch eindeutig zu hoch gegriffen zu sein, was aber nichts an der Tatsache massenhafter politischer Verfolgung und Mißachtung der Menschenrechte durch die Machthaber ändert. Zu Einzelheiten der Menschenrechtssituation während der Militärdiktatur siehe den Bericht der Menschenrechtsorganisation Servicio Paz y Justicia 1989 sowie Santelices/Dinamarca 1989. Huhle 1991:78. Im einzelnen schlug er vor, daß der Präsident unabsetzbar sein sollte, die Militärs sich aus der aktiven Politik unter Beibehaltung ihrer Position als juristisch oberste Machtinstanz zurückziehen und die politischen Parteien als „Verursacher der Krise des Landes" vollständig eliminiert werden sollten. Die Gewaltenteilung sollte aufgehoben, Legislative und Judikative der Exekutive untergeordnet werden. (Vgl. hierzu die eigenen Aufzeichnungen von Bordaberry 1980: 43-49 sowie Lerin/Torres 1987: 62-65.) Vgl. Caetano/Rilla 1989: 37.

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5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

Juni 1976 sein „erfolgreiches" Ende fand, waren die folgenden Jahre bis 1980 durch den Versuch der Konsolidierung der Diktatur geprägt. Der nur für kurze Zeit amtierende Interimspräsident Demichelli suspendierte die verfassungsgemäß für Ende 1976 vorgesehenen Wahlen. Der unter seiner Präsidentschaft eingerichtete Rat der Nation {Consejo de la Nación), der aus von der Regierung ernannten Mitgliedern des Consejo de Estado sowie den 20 ranghöchsten Offizieren bestand, ernannte statt dessen Aparicio Méndez zum Präsidenten, der sein Amt im September 1976 antrat. Damit war dies der erste von den Streitkräften eingesetzte Staatspräsident. Es war offensichtlich, daß Méndez nur als Erfüllungsgehilfe der Militärs agierte. „Was man bei Bordaberry nur vermutet hatte, war bei Präsident Mendes [korrekt: Méndez, C.W.] unübersehbar: Er war nur noch Vollstrecker militärischer Befehle und diente ausschließlich dem Ziel, keinen General mit dem Amt des Präsidenten zu exponieren." 10 Jegliche Hoffnungen auf eine bevorstehende Liberalisierung (begründet wurde die Absetzung von Bordaberry u.a. mit dem undemokratischen Wesen seines Reformvorhabens) wurden zerschlagen, als die Militärs am 1. September 1976 eine Proskription fast aller Politiker, die bei den Wahlen von 1966 und 1971 eine Rolle gespielt hatten, erließen. Der neue Präsident Méndez verweigerte anders als sein Vorgänger Demichelli nicht mehr seine Unterschrift, mit der diese Proskription in Kraft trat. 1 ! Der Vorwurf von Bordaberry, die Parteien hätten die Krise des Landes verursacht, wurde nun dahingehend abgewandelt, daß nicht „die Parteien", sondern konkret deren Führungspersonal für die Krise, d.h. das Aufkommen subversiver Kräfte, verantwortlich sei. Infolgedessen wurde den Politikern für einen Zeitraum von 15 Jahren jede politische Aktivität untersagt. 12 Die Militärs - so wurde jetzt auch nach außen klar schienen sich also auf eine längere Regierungszeit eingestellt zu haben. Und tatsächlich verkündete General Julio César Vadora wenige Tage nach der Veröffentlichung des Dekrets den Führungsanspruch der Streitkräfte und ihre Absicht, weiterhin an der Macht bleiben zu wollen. Gleichzeitig stellte er für 1981 nationale Wahlen mit einem Einheitskandidaten in Aussicht. Die politischen Anstrengungen der Militärs in den Jahren 1977 und 1978 liefen darauf hinaus, ein Reformprojekt zu entwickeln, mit dem ihre Herrschaft konsolidiert werden sollte. Weder die erklärte Notwendigkeit, innere Feinde 10 11 12

Licio 1990: 16. Vgl. Caetano/Rilla 1989: 44 und Lerin/Torres 1987: 86, die an anderer Stelle nicht umsonst von „el presidente de los militares" (Lerin/Torres 1987: 79) sprechen. Der genaue Wortlaut des Dekrets findet sich bei Caetano/Rilla 1987: 68-71. Mit diesem Dekret sollte praktisch eine komplette Politikergeneration ausgeschaltet werden: 15.000 Politiker - also ca. 0,5% der Gesamtbevölkerung - waren davon betroffen. (Vgl. Finch 1981: 252 unter Berufung auf die in Mexiko erscheinende Zeitschrift Comercio Exterior.)

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abwehren zu müssen, noch die Schuldzuweisungen an die „alte" politische Elite waren eine taugliche Legitimationsgrundlage zur längerfristigen Stabilisierung ihres Herrschaftssystems. Eine zumindest im weitesten Sinne demokratische Legitimierung ihres Regimes schien sowohl aufgrund nationaler als auch internationaler Zwänge erforderlich. Denn das diktatorische Regime stand im Widerspruch zur traditionell demokratisch geprägten politischen Kultur des Landes, und vor allem die repressiven und menschenverachtenden Praktiken der Militärregierung sorgten für eine wachsende internationale Isolation. 13 Zu Legitimationszwecken wurde deswegen ein Zeitplan (sogenannter cronograma politico) vorgelegt, nach dem eine „begrenzte Demokratie" etabliert werden sollte. Dabei beabsichtigten die Streitkräfte, ihre dominierende Rolle in der weiteren politischen Entwicklung des Landes im Rahmen einer neuen Verfassung festzuschreiben. Dieser Verfassungsentwurf sollte durch ein Plebiszit von der Bevölkerung sanktioniert werden, womit die Militärdiktatur eine qualitativ neue Legitimationsbasis erreicht hätte. Der cronograma sah für 1980 den Volksentscheid vor. Nach den Planungen der Streitkräfte wären dann im Jahr darauf Präsidentschaftswahlen abzuhalten gewesen, wobei allerdings nur ein Einheitskandidat zur Wahl gestanden hätte. Für den nächsten Urnengang im Jahr 1986 wären dann, so war es vorgesehen, zwei Präsidentschaftskandidaten zugelassen worden. 14 Diese Pläne der Militärs ließen sich allerdings nicht verwirklichen. Ende November 1980 stimmte die Bevölkerung über den Verfassungsentwurf ab. Obwohl die Militärs kaum ernsthaft mit einer Niederlage rechneten 15 und trotz einer klar einseitigen Propaganda in den Medien für die angestrebte Verfassungsreform, wurde sie mehrheitlich abgelehnt. Bei einer Wahlbeteili-

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Diese Isolation stand auch in Zusammenhang mit der von US-Präsident Jimmy Carter eingeleiteten Menschenrechtspolitik. Schon vor dessen Wahl zum Präsidenten hatte im September 1976 der US-amerikanische Kongreß wegen der anhaltenden schweren Menschenrechtsverletzungen die Militärhilfe für Uruguay eingestellt. Nun unter Präsident Carter machte sich sogar die US-amerikanische Botschaft vor Ort, deren Rückhalt sich die Militärregierung bislang gewiß schien, für eine Wiederherstellung demokratischer Rechte stark. (Vgl. u.a. Handelmann 1981b: 232 sowie Caetano/Rilla 1989: 45.) Vgl. hierzu u.a. Lerin/Torres 1987: 98. Dies bestätigte rückblickend auch der letzte Oberbefehlshaber der Streitkräfte während der Militärdiktatur und spätere Verteidigungsminister, General Hugo Medina, in einem Interview Anfang März 1991. (Vgl. Búsqueda N° 578 vom 7.3.1991.) Auch außenstehende Beobachter und Kenner des Landes gingen von einem Sieg der Militärs aus. So schrieb der Uruguay-Experte Howard Handelman im März 1980 mit Blick auf das bevorstehende Plebiszit im November: „Assuming an affirmative vote in the constitutional referendum (a virtual certainty given the military's ability to manipulate the results and the reluctance of many citizens to endanger the return to civilian rule), a new electoral law will be issued, with presidential and congressional elections to be held in November 1981." (Handelman 1981c: 276.)

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5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

gung von 85% stimmten 58% gegen und 42% für die Verfassungsreform. 16 Damit war der Versuch der diktatorischen Konsolidierung per Volksabstimmung gescheitert. Die Militärs begingen anders als z.B. zwei Jahre zuvor bei einem Plebiszit in Chile keinen Wahlbetrug, sondern akzeptierten das Ergebnis. 17 Ein Projekt, das ihnen die Macht garantieren sollte, bedeutete nun der Anfang vom Ende des Autoritarismus. Diese Niederlage der Streitkräfte leitete als apertura inesperada18 die Transition zur Demokratie ein. Mitte 1981 suchten die Streitkräfte trotz der fünf Jahre zuvor erlassenen Proskription erste Kontakte zu führenden Politikern des Partido Colorado, des Partido Nacional und der Unión Cívica. Zwar bedeutete dies noch nicht die Aufnahme offizieller Verhandlungen zwischen den politischen Parteien und den Militärs; die Parteien erschienen damit aber wieder als Akteure auf der politischen Bühne, an denen nun die autoritären Machthaber nicht mehr vorbei konnten. Das Vorhaben, Präsidentschaftswahlen mit einem Einheitskandidaten durchzuführen, wurde aufgegeben und im September 1981 General Gregorio Alvarez als erster und einziger Nicht-Zivilist zum Präsidenten der Militärdiktatur ernannt. Das Regime behielt trotzdem seine zivile Fassade: Nur ein Angehöriger der Streitkräfte bekleidete damals ein Ministeramt und von den 25 Mitgliedern des Consejo de Estado kamen nur zwei aus den Reihen der Streitkräfte. 19 Auch der neue Präsident Alvarez konnte sich einer Demokratisierung nicht verweigern, in deren Rahmen die politischen Parteien ihren gewohnten Status wiedererlangen und zu den zentralen politischen Akteuren werden sollten. Bald nach seinem Amtsantritt wurden die beiden traditionellen Parteien Partido Colorado und Partido Nacional sowie die sehr viel kleinere Unión Cívica legalisiert, um Ende 1982 parteiinterne Wahlen zu ihren Führungsgremien durchführen zu können. Diese Wahlen sollten die Machtverhältnisse innerhalb der drei zugelassenen Parteien klären. Wenn in den Reihen der Militärs zu diesem Zeitpunkt Hoffnungen bestanden haben sollten, doch noch eine Legitimation ihrer Diktatur durch einen eventuellen Sieg regimefreundlicher Kräfte innerhalb der Parteien zu erreichen, so wurden auch diese enttäuscht. Denn die Regimekritiker bzw. Oppositionellen gingen aus den Wahlen als eindeutige Sieger hervor. Und, obwohl darüber nicht explizit abgestimmt wurde, es kamen rund drei Viertel der abgegebenen Stimmen einem Votum gegen die Militärdiktatur und für eine Fortführung des Transitionsprozesses in Richtung

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Vgl. Caetano/Rilla 1987: 63/64. Zu den wenigen Spitzenpolitikern, die den Verfassungsentwurf der Militärs unterstützten, gehörte Ex-Präsident Jorge Pacheco Areco, der damals als Botschafter Uruguays in Washington akkreditiert war. Vgl. González 1991: 53/54. Vgl. González 1984. Zum folgenden vgl. Caetano/Rilla 1987: 80 und Cocchi 1989a: 48. Vgl. Martorelli 1982a: 51.

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Demokratie gleich. 20 Bereits der den Wahlen vorausgehende Wahlkampf trug trotz aller systembedingten Einschränkungen dazu bei, die Diktatur weiter zu diskreditieren: „Más allá de los resultados puramente electorales, la campaña aumentó - en sus demandas por las libertades, las desproscripciones, las críticas a la conducción económica - el deterioro ineluctable de la imagen del gobierno." 21 Die Bevölkerung brachte nun den Militärs per Stimmzettel nach dem Plebiszit von 1980 eine zweite empfindliche, eindeutige und entscheidende Niederlage bei. Der offizielle zivil-militärische Dialog in Form von konkreten Verhandlungen zwischen den Parteien (mit Ausnahme des Linksbündnisses Frente Amplio) und den Militärs über den weiteren Verlauf des Redemokratisierungsprozesses begann am 13. Mai 1983. In diesen sogenannten Gesprächen vom Parque Hotel verhandelten nun auf der einen Seite die Parteiführer, die aufgrund der internen Wahlen von 1982 demokratisch legitimiert waren und die Anfang 1983 die Interpartidaria (auch Multipartidaria genannt) gebildet hatten, um sich gegenüber der Militärregierung in ihren Positionen untereinander abzustimmen. Auf der anderen Seite rückten z.T. Generäle in den Vordergrund, die sich gegenüber den „Hardlinern" in den Reihen der Militärs durchgesetzt zu haben schienen und die einen allmählichen Übergang zur Demokratie als strategisch sinnvoll erachteten. Denn so konnten sie wenigstens den Prozeß der Rückkehr zu einem zivilen Regime mitbestimmen und dabei die Bedingungen für die Redemokratisierung aushandeln, um einen geordneten Rückzug in die Kasernen antreten zu können. Doch die Verhandlungen gestalteten sich schwierig. Die Fronten blieben verhärtet, und gleichzeitig setzten erneut repressive Maßnahmen, wie Zensur und Verhaftungen, ein, obwohl die Stabilität des autoritären Systems dauerhaft nicht mehr gewahrt und ein Systemwechsel nicht verhindert werden konnte. Am 5. Juli 1983 wurde der Dialog zwischen Parteien und Militärs ausgesetzt. Wenige Wochen später, am 2. August, folgte ein Regierungsdekret, mit dem vorübergehend wieder jegliche politische Aktivitäten unterbunden wurden. 22 Begleitet wurde der Verhandlungsverlauf von massiven Protesten gegen die Diktatur und zahlreichen Massenmobilisierungen. Soziale Bewegungen, darunter die 1980 gegründete Studentenvereinigung ASCEEP {Asociación Social y Cultural de Estudiantes de la Enseñanza Pública), der Zentralverband der Wohnungsbaukooperativen FUCVAM (Federación Uruguaya de Cooperativas de Vivienda por Ayuda Mutua) und die Menschenrechtsorganisation SERPAJ 20

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Nach Angaben von Mieres waren dies knapp 70%. (Vgl. Mieres 1985b: 60.) Laut Licio waren die gewählten Parteiführungen „zu rund 80% gegen jeden militärischen Einfluß auf die Politik" (Licio 1990: 17). Caetano/Rilla 1987: 86/87. Vgl. Francös/Dieste 1985:212.

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5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

{Servicio Paz y Justicia), stimulierten und kanalisierten die immer stärker werdenden gesellschaftlichen Proteste; die Gewerkschaften - allen voran der neue Dachverband PIT (Plenario Intersindical de Trabajadores) - entwickelten sich zu einem wichtigen Akteur, der nun wieder öffentlich in Erscheinung trat und entscheidend dazu beitrug, den gesellschaftlichen Druck auf die Militärregierung zu verstärken. Zum 1. Mai 1983 wurde den Gewerkschaften, genauer den mit dem Gesetz von 1981 neu gegründeten Asociaciones Profesionales23 die Erlaubnis erteilt, den 'Tag der Arbeit' öffentlich zu begehen. 37 dieser Vereinigungen koordinierten unter dem Signum PIT (s.o.) ihre Arbeiten zur Vorbereitung der Kundgebung. Dies sollte nicht nur die erste gewerkschaftliche Veranstaltung zum 1. Mai seit zehn Jahren sein, sondern erstmals überhaupt in der Geschichte des Landes nahmen daran auch die Parteien, besser gesagt die bis dahin zugelassenen Parteien teil. 24 Damit war der erste Schritt zum gemeinsamen und koordinierten Vorgehen wichtiger gesellschaftlicher und politischer Kräfte gegen die Diktatur getan und die Bedrohung für die bestehende autoritäre Herrschaftsordnung offenkundig. Im August 1983 schlössen sich die Parteien der Interpartidaria (im einzelnen Partido Colorado, Partido Nacional, Unión Cívica, Frente Amplio und Partido Demócrata Cristiano), PIT, ASCEEP, FUCVAM und SERPAJ zur Intersectorial zusammen, um mit vereinten Kräften gegen die Militärregierung zu arbeiten. Die demokratische Systemalternative wurde nun deutlich als organisiertes, kollektives Gegenprojekt vertreten und nahm immer realistischere Gestalt an. Als Kulminationspunkt dieser Entwicklungen versammelten sich bei der größten Kundgebung aller Zeiten in Uruguay am 27. November 1983 dieses Datum wurde nicht zufällig gewählt, sondern ihm kommt symbolischer Charakter insofern zu, als die nationalen Wahlen immer am letzten Sonntag im November abgehalten werden - in der Hauptstadt 400.000 Menschen, 25 die gegen die Militärdiktatur demonstrierten. Diese Ereignisse zeigten deutlich, daß, wie es Caetano/Rilla formulierten, die soziale Verwaisung des Militär23 24

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Näheres zu den Asociaciones Profesionales siehe in Kapitel 5.3.3. Vgl. Berretta 1989: 14 und Francés/Dieste 1985: 211. Laut Kroch kamen 150.000 Menschen zu dieser Veranstaltung: „Die Kundgebung auf dem Vorplatz des Parlaments wurde zu einer Demonstration gegen die Militärdiktatur. Über der Tribüne prangte das Zeichen PIT [...] und jedermann las es wie CNT. Die unbesetzten Stühle auf der Rednertribüne - das verstand auch jedermann - symbolisierten die allen präsente Abwesenheit der Gewerkschaftsführer, die in Militärgefängnissen oder Kasernen saßen. 'Amnestie für alle gewerkschaftlichen und politischen Gefangenen' und 'Rückzug der Armee in die Kasernen' waren denn auch die Losungen, die von der Menge im Sprechchor gerufen und vom Rednerpult - durch die Blume - gesprochen wurden." (Kroch 1991: 136.) Vgl. Gillespie 1986: 187. Die Dimension dieser Zahl wird klar, wenn man bedenkt, daß sich die Gesamtbevölkerung auf nur rund drei Millionen Menschen beläuft. Francés/ Dieste sprechen deswegen auch vom dritten Plebiszit gegen die Regierung (nach der Volksabstimmung 1980 und den parteiinternen Wahlen 1982). (Vgl. Francés/Dieste 1985:213.)

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regimes bislang unbekannte Ausmaße erreicht hatte. 26 Welche Position die Gewerkschaften in diesem Zusammenhang wiedererlangten, deutet sich dadurch an, daß es ihnen am 18. Januar 1984 erstmals seit 1973 wieder gelang, einen Generalstreik zu realisieren. Die Militärs - vermutlich nicht zuletzt aufgrund des gesellschaftlichen Drucks - und die Parteien fanden an den Verhandlungstisch zurück. Bevor die Gespräche am 23. August 1984 mit dem Pacto del Club Naval abgeschlossen werden konnten, kam es immer wieder zu Drohungen seitens der Militärs und zu Verhandlungsunterbrechungen durch die Parteien, aber auch zu Differenzen zwischen den Parteien. Aus Anlaß des 11. Jahrestages des Staatsstreiches rief die gesamte Opposition zu ihrer letzten gemeinsamen Aktion auf und initiierte für den 27. Juni 1984 einen großangelegten 24-stündigen „Bürgerstreik" (paro cívico). Trotz erfolgreicher Durchfuhrung dieser Demonstration gegen das Militärregime kam es zu den ersten ernsteren Konflikten zwischen den Parteien. Denn bereits einen Tag zuvor einigten sich die Parteien der Interpartidaria gegen den heftigen Widerstand des Partido Nacional darauf, den Militärs die Wiederaufnahme der Verhandlungen anzubieten. Die Blancos lehnten jeglichen Dialog ab, solange ihr führender Repräsentant (und neben Ex-General Líber Seregni vom Frente Amplio eine der wichtigsten Symbolfiguren der demokratischen Opposition), Wilson Ferreira Aldunate, der unmittelbar nach seiner Rückkehr aus elljährigem Exil am 16. Juni 1984 von den Militärs verhaftet worden war, inhaftiert blieb. Die Verhandlungen mit den Streitkräften wurden nun von Vertretern des Partido Colorado, der Unión Cívica und des neu hinzugekommenen Linksbündnisses Frente Amplio weitergeführt und zu einem Abschluß gebracht. Zu den entscheidenden Vereinbarungen im Rahmen des Pacto del Club Naval zählten die Wiedereinsetzung der demokratischen Verfassung von 1967 im Februar 1985 sowie die Festsetzung eines Wahltermins auf den 25. November 1984. Als Kompromißformel einigten sich Militärs und Parteien darauf, daß zwar alle Parteien an diesen Wahlen teilnehmen könnten, einigen Spitzenpolitikern aber die Präsidentschaftskandidatur und der Zugang zu politischen Ämtern verwehrt bleiben würde. 27 Ausgeklammert wurde die Frage, ob Militärangehörige wegen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gestellt werden sollten. 28 26 27

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Vgl. Caetano/Rilla 1987: 94. Betroffen davon waren Wilson Ferreira Aldunate (Partido National), Liber Seregni (Frente Amplio) und Jorge Batlle (Partido Colorado), die bereits 1971 filr die Präsidentschaft kandidiert hatten. Über diese Kandidaturverbote hinaus hatten die Militärs allerdings kaum einen reglementierenden Einfluß auf die Wahlen von 1984 genommen. (Vgl. De Torres Wilson 1990: 83.) Vgl. Gillespie 1989: 99. Es gab im Laufe der Jahre immer wieder Spekulationen über geheime Absprachen zwischen Politikern und Militärs bezüglich dieser Problematik. Eindeutige Belege oder gar Beweise dafür konnten allerdings nicht geliefert werden. Die

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5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

Zur konkreten Vorbereitung der Rückkehr ziviler, demokratisch legitimierter Kräfte an die politische Macht wurde im August/September 1984 die Concertación Nacional Programática (CONAPRO) eingerichtet. Ihr Ziel bestand darin, einen allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Konsens herzustellen, der die erste postautoritäre Regierung stützen und der Demokratie eine breite Legitimationsbasis liefern sollte. Mitglieder der CONAPRO waren fuhrende Parteipolitiker sowie Vertreter anderer gesellschaftlich relevanter Gruppen (Gewerkschaften, Studentenverband, Unternehmerschaft und genossenschaftlicher Sektor). Diese erarbeiteten zusammen z.T. detaillierte Vorschläge, die einen auf breiter Basis stehenden Aktionsrahmen für die zukünftige Regierung abstecken sollten. Die Wahlen vom November 1984 sowie die im März 1985 folgende Regierungsübernahme durch den Sieger der Präsidentschaftswahlen, Julio María Sanguinetti, markieren formal die Rückkehr zur Demokratie.

5.2

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

Das Jahr 1972 stellte nicht nur hinsichtlich der Installierung der Militärdiktatur, sondern auch mit Blick auf die zukünftige wirtschaftliche Orientierung ein Übergangsjahr dar, in dem entscheidende Weichenstellungen hinsichtlich des Entwicklungsstiles vorbereitet wurden. 29 Im damals vom Oficina de Planeamiento y Presupuesto für den Zeitraum von 1973 bis 1977 ausgearbeiteten 'Nationalen Entwicklungsplan' (Plan Nacional de Desarrollo) wurde eine neue Wirtschaftsideologie formuliert, die als Grundausrichtung für die folgenden Jahre der Militärdiktatur Bestand haben sollte. Entgegen der bislang verfolgten Wirtschaftspolitik standen im Zentrum des jetzigen Konzepts neoliberalen Zuschnitts eine stärkere Außenorientierung der Wirtschaft, eine Förderung des privaten Unternehmertums und eine Einschränkung der Rolle des Staates. Im 'Nationalen Entwicklungsplan' wurde eine Abkehr von der auf den Binnenmarkt gerichteten Importsubstitutionspolitik gefordert. Statt dessen sollten im Sinne der postulierten Außenöffnung der Wirtschaft Import- und Exportzölle gesenkt

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Logik der Vereinbarungen läßt lediglich auf ein stillschweigendes Übereinkommen schließen, nach dem die Verantwortlichen für den Militärputsch, für die Menschenrechtsverletzungen und für administrativen bzw. finanziellen Mißbrauch nicht zur Rechenschaft gezogen würden. (Vgl. Rama 1987: 218/219.) Dies entspricht auch einer Sichtweise, wie sie vom späteren Präsidenten Sanguinetti wiedergegeben wurde. (Vgl. Búsqueda N° 593 vom 27.6.1991.) Auch der an den Gesprächen beteiligte General Hugo Medina bestätigte, diese Thematik sei nie Gegenstand der Verhandlungen gewesen. (Siehe hierzu das Interview mit Medina in Búsqueda N° 578 vom 7.3.1991.) Vgl. zum folgenden besonders Nahum u.a. 1990: 144ff.

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

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werden. Die angestrebte Intensivierung der Exporte stellte die traditionellen Agrarexportprodukte in den Mittelpunkt, da aufgrund der damaligen Weltmarktlage allein diesen komparative Kostenvorteile im internationalen Wettbewerb zukamen. Die einheimische Industrie sollte ebenfalls diesem Wettbewerb ausgesetzt werden. Was für den Agrarsektor als Chance gesehen wurde, wie in der fernen Vergangenheit wieder zum dynamischsten Sektor der Volkswirtschaft zu werden, bedeutete für viele Industriebetriebe, die jahrelang vom Staat nach außen abgeschottet, geschützt und gefördert worden waren, eine Bedrohung ihrer Existenz. International konkurrenzfähige private Unternehmen sollten nicht nur durch den Rückzug des Staates aus verschiedenen Wirtschaftsbereichen, den Abbau staatlicher Intervention und die Liberalisierung der Märkte stimuliert werden. Zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit galt es zudem, Produktionskosten niedrig zu halten, was konkret zu Lasten der Arbeitnehmer ging (Ziel: Wirtschaftswachstum durch Senkung der Reallöhne). Neben niedrigen Löhnen sollte eine Herabsetzung der zu leistenden Sozialversicherungsbeiträge die Unternehmer entlasten. Tatsächlich trugen diverse finanzpolitische Anpassungsmaßnahmen, wie die Abwertung der Währung und der Abbau von Preiskontrollen, dazu bei, daß 1972 die Reallohneinkommen um 17% unter das Niveau des Jahres 1968 sanken.30 Die Machtübernahme durch die Militärs wurde von z.T. dramatischen Veränderungen auf dem Weltmarkt begleitet, die unmittelbar die uruguayische Wirtschaft und hier besonders den Agrarsektor in Mitleidenschaft zogen. Zu nennen sind vor allem: • der rapide Verfall der Weltmarktpreise für die traditionellen uruguayischen Exportgüter Fleisch und Wolle (im Jahr 1975 um 35% bzw. 24%);31 • die geringere externe Nachfrage nach den traditionellen Exportgütern, u.a. aufgrund des Agrarprotektionismus der Europäischen Gemeinschaft, die - bis dahin wichtigster Abnehmer uruguayischen Fleisches - von Ende 1974 bis Anfang 1976 hohe Einfuhrschranken für Fleisch e r l i e ß ; 3 2 • der massive Anstieg der Preise für importiertes Rohöl, auf das Uruguay angewiesen war (Ende 1973 vervierfachten sich die Rohölpreise).33 Als ein Ergebnis dieser Entwicklungen verschlechterten sich 1974 die terms of trade um 50%, 1975 noch einmal um 28%. 34 Die Wirtschaftspolitik der Militärregierung zielte nun darauf, die sich drastisch verschärfenden Handelsbilanz-

30 31 32 33 34

Vgl. Nahum 1990: 144/145 sowie Cancela/Melgar 1986: 17. Vgl. Jaspersen 1981: 24. Vgl. Handelman 1981a: 268. Vgl. Noyau.a. 1984: 168. Vgl. Jaspersen 1981: 24.

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5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

Probleme abzubauen und die Handelsbilanz durch eine verstärkte Exportforderungspolitik neuer Prägung auszugleichen.35 Konzeptionelle Grundlage der Wirtschaftspolitik war der oben beschriebene 'Nationale Entwicklungsplan' des Jahres 1972 mit Liberalisierung, Außenöffnung, Stabilisierung und Rückzug des Staates als Säulen der neuen Wirtschaftspolitik. Dieser Entwicklungsstil wurde in erster Linie repräsentiert von dem Wirtschaftsminister in den ersten Jahren der Militärdiktatur (1974-76) und ehemaligen Direktor des Oficina de Planeamiento y Presupuesto unter der Regierung Pacheco, Alejandro Végh Villegas. 36 Er wies immer wieder explizit auf diese Säulen der neuen Wirtschaftspolitik hin, wie beispielsweise in einer Rede vor der Cámara de Industrias am 15. Mai 1976.37 Nicht zuletzt wegen der veränderten Weltmarktsituation verlagerte sich die im 'Nationalen Entwicklungsplan' vorgesehene Exportförderungspolitik von der Bevorzugung traditioneller, von externen Faktoren abhängiger Agrarerzeugnisse auf die Unterstützung nicht-agrarischer Exporte (sogenannte Industrias Manufactureras sin Origen Agropecuario y/o Importado). In diesem Zusammenhang spielte das Industrieforderungsgesetz vom März 1974 eine Rolle, das fiir Industrien bzw. Industrieprojekte „von nationalem Interesse" 38 Kxedithilfen und Steuererleichterungen vorsah. Die Wirkung des Gesetzes war allerdings eher gering: „Die Kriterien für die Förderung waren zu allgemein, um eine Verbesserung der Industriestruktur schaffen zu können. [...] Die Sektorziele des Entwicklungsplanes 197377 fanden bald keine Beachtung mehr. Großunternehmen wurden eher als spezialisierungsfähige mittlere Betriebe gefördert [...]. Insgesamt trugen die industriepolitischen Maßnahmen wenig zur Umstrukturierung der lange binnenorientierten Unternehmen auf den Export hin bei." 3 "

Zu den von der Militärdiktatur unter ihrem Wirtschafts- und Finanzminister Végh Villegas konkret eingeleiteten exportfördernden Maßnahmen zählten die Rückerstattung von Binnensteuern vor allem im Bereich nicht-traditioneller Exportaktivitäten (reintegros), Exportvorfinanzierungen, Exportabzüge für traditionelle Exportprodukte sowie bilaterale Handelsabkommen, besonders mit 35 36

37 3

°

39

Vgl. Barbato de Silva 1991: 10. Nicht umsonst wird der Zivilist und Colorado-Politiker auch als „el zar de la conducción económica uruguaya" (Astori 1989b: 121), „superministro" (Caetano/Rilla 1987: 22) und „dominant architect of Uruguayan economic policy" (Handelman 1981a: 250) bezeichnet. Auf ihn wird später noch einmal in Kapitel 5.3.1 ausfuhrlicher eingegangen. Der Originaltext der Rede findet sich abgedruckt in Végh Villegas 1977: 106. Unter nationalem Interesse wurde verstanden: Effizienzsteigerung bei Fertigung bzw. Vermarktung; Exportsteigerung und -diversifizierung; Ansiedlung neuer und Erweiterung bestehender Industriebetriebe bei Nutzung inländischer Rohstoffe und Arbeitskräfte; Durchführung technischer Forschungsprogramme, z.B. zum Abbau von Rohstoffvorkommen. (Vgl. Eßer u.a. 1983: 12.) Eßer u.a. 1983:39.

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

165

Argentinien im Jahr 1974 (Convenio Argentino-Uruguayo de Cooperación Económica, CAUCE) und Brasilien im Jahr 1975 {Protocolo de Expansion Comercial, PEC). Mit diesen beiden Verträgen, die hauptsächlich von uruguayischer Seite initiiert worden waren, wurde eine neue Handelspolitik in der Region auf der Basis bilateraler Präferenzabkommen eingeleitet. „Mit CAUCE und PEC [...] sollte ein institutioneller Rahmen geschaffen werden, um die Integration Uruguays mit den beiden Länder[n] zu beschleunigen und die ökonomische Entwicklung voranzutreiben. Gerade mit Blick auf Uruguay war man davon überzeugt, daß sich mittels der beiden Handelsverträge die nationale Wirtschaft fördern und stabilisieren ließe. Die Exporte nichttraditioneller Industriebranchen Kernpunkt der neuen uruguayischen Exportstrategie - wurden im wesentlichen durch CAUCE und PEC kanalisiert. Beide Abkommen ermöglichten den Übergang Uruguays von der Binnenmarkt- zur Exportorientierung. Die regionalen Märkte sollten Uruguay als Experimentierfeld und als Sprungbrett in den Weltmarkt dienen." 4 "

Aus heutiger Sicht stellt sich das Ergebnis der damaligen Politik regionaler Kooperation allerdings zum Großteil als Rückkehr zur alten Importsubstitutionspolitik dar, die lediglich im subregionalen Rahmen erweitert worden war. 41 Auch in einem weiteren Punkt entsprach das wirtschaftspolitische Credo der Militärregierung kaum der tatsächlich praktizierten Wirtschaftspolitik. So wurde durch die beschriebene Exportförderungspolitik durchaus eine Politik der Intervention des Staates in die Wirtschaft verfolgt, was mit den proklamierten neoliberalen Modellvorstellungen nur wenig in Übereinstimmung zu bringen ist. 42 Zudem stellte im Rahmen des „Investitionsbooms" von 1974 bis 1978 der öffentliche Sektor die treibende Kraft dar: Während sich die privaten Investitionen in diesem Zeitraum verdoppelten, stiegen die öffentlichen Investitionen sogar um 400%. 43 Die Exportförderung nicht-traditioneller Produkte 44 wurde unterstützt durch den Abbau von Importbeschränkungen und erste Ansätze zur finanziellen Öffnung. Gleichzeitig setzte die Regierung drastische Lohnsenkungen durch (auch diese Maßnahme sollte gewissermaßen der Exportförderung dienen, indem durch niedrigere Lohnkosten die für den Export bestimmten Produkte billiger und damit wettbewerbsfähiger würden), wobei die Widerstandsmöglichkeiten aus den Reihen der Arbeiterschaft gegen das Absinken der Reallöhne wegen des Verbots der Gewerkschaften und der allgemeinen repressiven Maß40 41

42 43 44

Arndt 1991: 300. Vgl. Messner 1990: VI. Richter spricht zu Recht von einem eklektischen Neoliberalismus. (Vgl. Richter 1985: 135.) Vgl. Hanson/De Melo 1985: 920. Hierbei handelte es sich hauptsächlich um Produkte, die zwar auch agrarischen Ursprungs waren, die aber nun nicht als Rohmaterialien, sondern als verarbeitete Güter (Stoffe, Textilien, Tops, Schuhe, Taschen, Lederwaren, Nahrungsmittel usw.) exportiert wurden. (Vgl. Kroch 1991: 110/111 sowie Jaspersen 1981: 27.)

166

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

nahmen gegen jegliche Opposition sehr begrenzt waren. In einem Klima der massiven Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte wurde 1974 die Lohnpolitik in den Händen der Exekutive zentralisiert. Aus der 1968 geschaffenen COPRIN wurden die ohnehin schon gegenüber der Exekutive in einer Minderheit befindlichen Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern nun ausgeschlossen.45 Während in den Jahren 1974/75 die Exportförderung nicht-traditioneller Produkte das wichtigste Element der Wirtschaftspolitik war, rückte besonders ab 1976 unter dem Nachfolger von Vegh Villegas im Amt des Wirtschafts- und Finanzministers, Valentin Arismendi, die Öffnung und Liberalisierung der Finanzmärkte in den Vordergrund. Bereits im September 1974 waren die freie Konvertierbarkeit des uruguayischen Peso wiederhergestellt und Devisenkontrollen weitgehend aufgehoben worden, d.h. Beschränkungen der privaten Kapitalflüsse und bezüglich der Kapitalanlage in ausländischen Devisen waren weitgehend eliminiert. 46 Ab 1976 orientierte sich die Entwicklungsstrategie an dem Ziel, einen funktionsfähigen Kapitalmarkt herzustellen, der insbesondere für ausländische Anleger attraktiv werden sollte. 1977 wurde die Einrichtung von casas bancarias erlaubt, deren Tätigkeit im Gegensatz zu Geschäftsbanken auf den Import und die Anlage ausländischen Kapitals beschränkt war und die sehr gewinnbringend arbeiten konnten. 47 Als Resultat dieser Politik konnte die Militärregierung wirtschaftliche Erfolge vorweisen, die mit durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten von 3,9% zunächst auf eine Überwindung der nimmehr rund 20 Jahre währenden Stagnation hindeuteten. Für den Zeitraum von 1971 bis 1978 waren in allen Wirtschaftszweigen Wachstumsraten zu verzeichnen, wobei allerdings im landwirtschaftlichen Sektor mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von nur 1% die negativen Entwicklungen der vorangegangenen Jahre nicht kompensiert werden konnten. Zwar stieg die externe Nachfrage insgesamt sehr viel deutlicher als die interne Nachfrage (14,2% gegenüber 2,6% pro Jahr), davon profitierten aber in erster Linie die nicht-traditionellen Exportprodukte. Ihre Wachstumsrate lag im Schnitt bei 38,5%, die traditioneller Exportgüter nur bei 1,1%.48 Wie bereits festgestellt, wurden die wirtschaftlichen Erfolge erzielt, ohne daß sich der Staat entscheidend als Akteur in der Wirtschaft zurücknahm:

45 46 47

4

°

Vgl. Bruera 1991b: 3. „Desde 1974 los movimientos internacionales de capital en Uruguay son totalmente íibres y sin ninguna tributación ni limitación de cualquier clase." (CINVE 1990: 125.) Hierzu im einzelnen vgl. Eßer u.a. 1983: 16-19 sowie Hanson/De Melo 1985: 919/920. Die Attraktivität der casas bancarias wird daran deutlich, daß im Jahr 1981 insgesamt 23 solcher Einrichtungen existierten. (Vgl. Hanson/De Melo 1985: 938.) Zu allen oben angeführten sowie weiteren Wirtschaftsdaten vgl. Notaro 1984b: 63-68 und 277-314 (statistischer Anhang).

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

167

„El Estado conservó su papel protagónico, con un alto grado de intervención que condicionó los niveles de rentabilidad relativa y la orientación de la asignación de recursos. Su acción sobre las actividades productivas no se redujo aunque cambió de modalidad, trasladando la protección desde las actividades sustitutivas de importaciones hacia las de exportación no tradicional, o más precisamente, promovió la reconversión de las primeras para dar paso a las segundas."^

Begleitet wurde die wirtschaftliche Expansion, die angeführt wurde von der verarbeitenden Industrie, der Bauwirtschaft und dem Handel, 50 von einer zunehmenden Einkommenskonzentration und permanenten Reallohneinbußen. Nach den faktischen Senkungen der Reallöhne in der Vergangenheit (von 1957 bis 1968 um 27% und von 1968 bis 1972 um 17%) lagen diese 1978 noch einmal um 28% unter dem Niveau des Jahres 1973.51 Für die abhängig Beschäftigten bedeutete dabei die gleichzeitige Inflation von im Schnitt über 60% jährlich eine besondere Belastung. 52 Es verwundert nicht, daß der Anteil von Löhnen und Gehältern am Nationaleinkommen im genannten Zeitraum von 35% auf 28% zurückging. Das Ausmaß der Einkommenskonzentration wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß zugleich die 5% der Bevölkerung mit den höchsten Einkommen ihren Anteil am Nationaleinkommen von 17% auf 31% steigern konnten. 53 Zur Festsetzung von Löhnen und Gehältern wurde als Nachfolgeorganisation der COPRIN Mitte 1978 per Dekret die DINACOPRIN (Dirección Nacional de Costos, Precios e Ingresos) gegründet. Was bereits seit 1974 praktiziert wurde, nämlich eine staatlich definierte Lohnpolitik ohne ein Mitspracherecht von Gewerkschaften und Unternehmern, bekam nun den entsprechenden institutionellen Rahmen. „On the whole, the effect of the [...] policies has been to intensify the concentration of wealth within a country that once had one of the more equitable income distributions in Latin America [...]. The president of one of Uruguay's largest textile firms, a strong government supporter, noted to me: 'With labor peace, lower wage scales and reduced corporate and personal income taxes we [industrialists] are doing much better now. 'But', he admitted, 'it is true that you see more poor people today digging things out of garbage cans.',, 54

Im August des Jahres 1978 setzte die Regierung ein Maßnahmenpaket durch, mit dem ein Liberalisierungsprozeß im Agrarsektor eingeleitet werden sollte. Zu den wichtigsten Maßnahmen zählten, daß die bislang staatlich festgelegten 49 50 51 52 53

54

Notaro 1984b: 68. Vgl. Panizza 1990a: 167. Vgl. hierzu Cancela/Melgar 1986: 36, Nahum 1990: 144/145 und Hopenhaym/Terra 1986:48. Vgl. Notaro 1984b: 69. Vgl. Hopenhaym/Terra 1986: 48. Weitere Daten hierzu finden sich u.a. bei Notaro (1984b: 77ff.), der in diesem Zusammenhang zu Recht von „una torta para pocos" spricht. Zum folgenden vgl. Pucci 1992: 86 und Bruera 1991b: 3. Handelman 1981a: 257/258.

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5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

Fleischpreise ebenso freigegeben wurden wie die Preise für Vieh, Weizen und Brot, daß die staatliche Gefrierfleischfabrik Frigorífico Nacional schließen mußte und daß restriktive Quotenregelungen beim Schlachten von Vieh und Konservieren von Fleisch aufgehoben wurden. Der Impuls, der von diesen Maßnahmen ausging - die übrigens jahrelang heftig von den Landwirtschaftsverbänden gefordert worden waren und nun einhellig begrüßt wurden -, zeitigte für den Agrarsektor allerdings nur kurzfristig positive Effekte. 55 Trotz dieser Initiative wurde schnell deutlich, was die Militärregierung selbst davon überzeugt, durch ihren wirtschaftspolitischen Kurs die ökonomische Krise des Landes überwunden zu haben 56 - ganz oben auf ihre wirtschaftspolitische Prioritätenliste setzte: die entschiedene Bekämpfung der Inflation. Die Preisstabilität sollte durch eine verstärkt monetaristische Wirtschaftspolitik garantiert werden. Wichtigstes Instrument stellte die im Oktober 1978 eingeführte sogenannte tablita, eine Form der antizipierten Abwertung, dar. Die periodische Abwertung des Peso wurde in einem Zeitplan festgelegt und der Wechselkurs des Dollars garantiert. Diese im voraus angekündigten Abwertungsschritte (sogenannter aktiver crawling-peg) waren kleiner als die zu erwartende „normale" Abwertung. Durch die tablita wurde also die Abwertung des Peso verlangsamt bzw. die nationale Währung überbewertet. Neben dem Ziel der Inflationsbekämpfung sollte mit der tablita das Wechselkursrisiko begrenzt werden.5? Begleitet wurde dies von einer weiteren Liberalisierung des Kapitalverkehrs und des Außenhandels, die exportstimulierenden Maßnahmen wurden immer mehr außer Kraft gesetzt und Importzölle gesenkt. 58 Folge war zunächst ein 55

56

57 58

Zu den Gründen für diese Kurzfristigkeit im einzelnen sowie ebenso zu den - allerdings auf einer rein spekulativen Ebene angesiedelten und deswegen hier wenig interessanten - Erklärungsversuchen, warum die Militärregierung 1978 ihre Wirtschaftspolitik zugunsten des Agrarsektors modifizierte, siehe Finch 1985: 105/106 bzw. 108/109. Carlos Quijano wies allerdings bereits 1977 (!) auf die Relativität dieser wirtschaftlichen Erfolge hin. So betonte er u.a. die Bescheidenheit des Wachstums im lateinamerikanischen Vergleich (z.B. gehörte Uruguay 1976 zu den Ländern des Subkontinents mit dem niedrigsten Wachstum des Bruttoinlandsprodukts) und die z.T. verschleiernde Aussagekraft statistischer Daten (z.B. blieb die Arbeitslosenquote auf einem relativ unverändert hohen Niveau; unter Berücksichtigung der starken Reallohneinbußen und der sehr hohen Emigrationsrate ist der fehlende Rückgang der Arbeitslosigkeit aber als eindeutiger Mißerfolg zu bewerten). (Vgl. Quijano 1989.) Die Zahl der Emigranten zwischen 1963 und 1985 wird auf etwa 300.000 (rund 10% der Gesamtbevölkerung!) geschätzt, wovon allerdings 160.000 während des relativ kurzen Zeitraumes von 1970 bis 1975 das Land verließen. Von 1963 bis 1975 verlor das Land 7,2% seiner Gesamtbevölkerung bzw. 18,7% der Bevölkerung zwischen 20 und 29 Jahren. (Aguiar/Cravotto, so zitiert nach Rama 1987: 189.) Vgl. Noya u.a. 1984: 178. Ende 1978 wurde ein Zollabbauprogramm angekündigt, mit dem in sechs Etappen bis 1985 ein Basiszoll von 35% auf alle Importe erwirkt werden sollte. Dieses Ziel wurde allerdings nicht erreicht, da das Programm im Zuge der Wirtschaftskrise des Jahres 1982 ausgesetzt wurde. (Vgl. Larrain 1988: 613 sowie Eßer u.a. 1983: 23.)

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

169

vor allem durch die großen Mengen von Fluchtkapital aus Argentinien ausgelöster Bauboom und „[...] ein noch nie erlebter Konsumrausch, getragen von dem billigen Zugang zum Dollar und den [fast, C.W.] unbeschränkten Importen von ausländischen Produkten [...]."59 Das Ziel der Militärregierung bestand darin, Uruguay in ein Finanzzentrum zu verwandeln. Diese Absicht bestimmte die Wirtschaftspolitik, so daß Uruguay tatsächlich als Finanzplatz zunehmend attraktiver wurde; spekulatives Kapital, bevorzugt für kurzfristige Anlagen, floß ins Land, und die Auslandsdarlehen nahmen zu. „Financial assets continued to grow rapidly during 1979-82 for three main reasons: (1) growing dollar deposits, especially by nonresidents (mostly Argentines [...]); (2) attraction of short-term capital because of the tablita policy in the presence of no restrictions on short-term capital flows; (3) further deregulation of the financial sector."60

Mit dem Anwachsen der Aktivitäten im Finanzsektor siedelten sich verstärkt ausländische Privatbanken in Uruguay an. Dies schwächte die nationale Bankenstruktur insofern, als mehr und mehr einheimische Banken von internationalen Kreditinstituten aufgekauft bzw. in diese integriert wurden. 61 Die Banken gewährten aufgrund der ihnen eingeräumten großen Spielräume großzügig Kredite, so daß sich die interne Verschuldung multiplizierte. Von Dezember 1979 bis März 1982 verdreifachte sich das Volumen der von der Privatwirtschaft und Einzelpersonen aufgenommenen Kredite. 62 Die Verschuldung geschah in zunehmendem Maße in US-Dollar, 63 was sich für viele Schuldner später im Zuge der Abwertung der einheimischen Währung ab Ende 1982 verhängnisvoll auswirken sollte, da sich dadurch die Verschuldung praktisch verdoppelte. „Deutlich wurde, daß der Kreditmarkt noch immer kein 'Markt' war, sondern ein Banken-Oligopol [...]. Bis 1979 hatten die Banken soviel (importiertes) Kapital zur Verfügung, daß sie es den Unternehmen förmlich aufdrängten. Die Industrie wiederum ließ sich aufgrund des Wachstums der Exporte und dann auch des Binnenabsatzes noch 1980 zu umfangreichen Investitionen verleiten, die aus den Umsätzen der Boom-Jahre und durch Kredite finanziert wurden [...]. Anfang 1981 gab es nur noch wenige schuldenfreie Unternehmen, die nicht der Schere rapide steigender Finanzierungskosten und reduzierter Preissetzungsspielräume ausgesetzt waren." 64

Schnell stellten sich die negativen Effekte dieser an einem monetaristischen Konzept orientierten Politik ein. Verteuerung interner Produktionskosten, nachlassende Investitionen und Verringerung der Konkurrenzfähigkeit auf dem 59 60 61 62 63 64

Licio 1990: 17. Hanson/De Melo 1985: 922. Vgl. Weinstein 1988: 62. Vgl. Astori 1989b: 132. 85% aller Betriebe verschuldeten sich in US-Dollar. (Vgl. Eßer u.a. 1983: 55.) Eßer u.a. 1983:21.

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

170

Weltmarkt führten zur Schließung zahlreicher einheimischer Unternehmen. 65 Im Industriesektor wurden viele, besonders kleine und mittelständische Betriebe in eine Verschuldung gedrängt, die ihre Wertschöpfung überstieg, was letztendlich die Vernichtung von 61.000 Arbeitsplätzen brachte. 66 Die Liberalisierung des Außenhandels trug damit entscheidend zur Zerstörung der Inlandsproduktion bei. Es ergaben sich beachtliche Handelsbilanzdefizite. Graphik 9: Entwicklung der Handelsbilanz 1978-1982 (in Millionen US-Dollar)

2000

-1000

1978

1979

1980

1981

1982

iSHSIExporte • • • I m p o r t e —•—Saldo Quelle: Tabelle 11 im Anhang; siehe dort auch die genauen Daten.

Die Folgen der Wirtschaftspolitik lassen sich wie folgt zusammenfassen: 67 • Schrumpfung der Industrieproduktion von 1981 bis 1982 um 17,1% (besonders davon betroffen die Bereiche Textilien mit -41,5%, Schuhe und Lederbekleidung mit -34,9%, Kautschukprodukte mit -55,5%, Metallwaren mit -23,4%, Maschinen und elektrische Apparate mit -30,9%); • Verringerung der Exporte und Importe im Jahr 1982 um 20% bzw. 34%; • rapide Zunahme der Vergleichs- und Konkursanträge (von 1965 bis 1980 im Jahresdurchschnitt 17 Vergleichsanträge, 1981 102 und 1982 1.940; zunächst waren davon besonders binnenorientierte Industrieunternehmen betroffen, später auch Exportunternehmen); • von 1982 bis 1983 erneuter Reallohnrückgang um 22,4% (damit sank die Kaufkraft der Lohnempfänger seit 1968 um 46%). Die immens wachsende Auslandsverschuldung - 1982 vervierfachte sich die Netto-Auslandsverschuldung nahezu (siehe Tabelle 13 im Anhang) - machte ebenfalls den Mißerfolg des eingeschlagenen Kurses deutlich. Nachdem bereits 1981 eine verstärkte Kapitalflucht eingesetzt hatte, wurde im November 1982 65 66

67

Vgl. Heindel 1985: 115. Vgl. Frediani 1988: 13. Vgl. zum folgenden Eßer u.a. 1983: 30/31.

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

171

das gescheiterte iaè/zta-Experiment beendet; Wirtschafts- und Finanzminister Arismendi trat zurück. Die Wechselkurse wurden im Rahmen einer nunmehr hochgradig „dollarisierten" Wirtschaft freigegeben. Dazu war die Regierung nicht nur aufgrund der tiefen Wirtschaftskrise gezwungen, sondern auch wegen „des wachsenden Drucks von Wirtschaftsverbänden und Unternehmen" 68 . „Die wirtschaftspolitische Umorientierung der Regierung trug nicht zur Stabilisierung des Wachstumskurses bei, sondern mündete in eine Diskriminierung der Exporte und in einen Importsog, der die nationale Akkumulationsdynamik hemmte und die Handelsbilanzprobleme verstärkte. Offenbar hatten die Wirtschaftstechnokraten des Regimes die Anpassungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft und insbesondere der Industrie überschätzt."®

Hauptsächlich die veränderten externen Rahmenbedingungen Anfang der 80er Jahre brachten die weiterhin stark außenabhängige Volkswirtschaft Uruguays in eine tiefe Krise: Weltweite Rezession, sinkende Auslandsnachfrage, protektionistische Maßnahmen in Europa und den USA sowie vor allem die Wirtschaftskrise in Argentinien (die argentinische Nachfrage bestimmte wesentlich das wirtschaftliche Wachstum der vergangenen Jahre) führten dazu, daß 1982 das Bruttoinlandsprodukt um fast 10% im Vergleich zum Vorjahr zurückging.^ Die tiefe Rezession brachte auch viele Kreditinstitute in Schwierigkeiten, da viele Schuldner nicht mehr in der Lage waren, Rück- bzw. Zinszahlungen zu tätigen. Diese immer stärker um sich greifende Insolvenz führte auch zu einigen Bankenzusammenbrüchen. Die Wirtschaftspolitik der Jahre 1982 bis 1984 bestand aufgrund der verheerenden ökonomischen Situation in erster Linie darin, ein einigermaßen wirkungsvolles Krisenmanagement durchzufuhren. Neben der oben erwähnten finanzpolitischen Korrektur wurden auf handelspolitischer Ebene die Exportvorfinanzierung und die Rückerstattung der Binnensteuern abgeschafft, wobei letzteres durch die Rückerstattung indirekter Steuern ersetzt wurde. 71 Die Hauptergebnisse dieser Politik, die ab Ende 1983 wieder von Végh Villegas als verantwortlichem Wirtschafts- und Finanzminister bestimmt wurde, waren eine anhaltende Rezession, ein Anstieg der Inflation, eine weitere Begünstigung des Finanzkapitals zu Lasten der Einkommen von Rentnern und Arbeitnehmern (anhaltende Reallohnverluste) und eine wachsende Verflechtung zwischen öffentlichem Sektor und privaten Geschäftsbanken als Überlebensstrategie des Finanzkapitals.72 Wenngleich für die produktiven Sektoren bzw. für die Gesamtwirtschaft Uruguays nicht von einer signifikanten Transnationalisierung gesprochen 68 69 70 71 72

Eßer u.a. 1983:23. Messner 1990: 14. Vgl. Weinstein 1988: 61 -63. Vgl. Astori 1989b: 137 sowie Noya u.a. 1984: 187. Vgl. Notaro 1984b: 222/223.

172

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

werden kann, 73 trifft dies für den Finanzsektor zweifelsohne zu. So waren am Ende der Diktatur nicht nur alle casas bancarias, sondern auch 20 der 22 Privatbanken in ausländischer Hand. Von 1973 bis 1982 stieg der Anteil der Bankeinlagen in ausländischer Währung von 13% auf 70% und der Anteil der in US-Dollar gewährten Kredite von 18% auf 73%. Der Anteil ausländischer Anleger (no residentes) an der Gesamtheit der Bankeinlagen bzw. an den Einlagen in ausländischer Währung stieg von 2% auf 15% bzw. von 33% auf 47%. 74 Parallel zur fortschreitenden Transnationalisierung des Bankensystems wurden die Kosten der anhaltenden Finanzkrise auf den Staat transferiert. 75 Die erwähnte Überlebensstrategie des Finanzkapitals bestand im Aufkaufen von Privatschulden durch die Staatsbank (Banco Central del Uruguay, BCU). Der BCU übernahm Kredite in Höhe von etwa 600 Millionen US-Dollar, die von den Gläubigerbanken als uneinbringlich betrachtet worden waren. 76 Infolgedessen stieg von 1982 bis 1985 der Anteil des öffentlichen Sektors am Finanzsektor von 41 % auf 81%. Gegen Ende der Militärdiktatur nahm auch die Kapitalflucht zu. 1983/84 sollen nach Angaben des Internationalen Währungsfonds im Zeitraum von eineinhalb Jahren nicht weniger als 1,5 Milliarden US-Dollar ins Ausland abgeflossen sein. 77 Die Militärdiktatur hinterließ der demokratischen Regierung bei ihrer Amtsübernahme am 1. März 1985 eine dramatische sozio-ökonomische Lage als Erbe, die den finanzpolitischen Handlungsspielraum der neuen Regierung begrenzte. Mit einer Brutto-Auslandsverschuldung in Höhe von 4,7 Milliarden US-Dollar für 1984 gegenüber 0,7 Milliarden zu Beginn der Militärdiktatur im Jahr 1973 gehörte Uruguay zu den Ländern mit der höchsten ProKopf-Verschuldung. Die Netto-Auslandsverschuldung, also die Verschuldung abzüglich der vorhandenen staatlichen Gold- und Devisenreserven, stieg im genannten Zeitraum um das Sechzehnfache.

73

74 75 76

77

Darauf weist neben anderen auch Rama hin (vgl. Rama 1987: 197). Astori sieht als Grund dieser wirtschaftsstrategisch zwar durchaus beabsichtigten, faktisch aber ausbleibenden volkswirtschaftlichen Transnationalisierung die mangelnde Attraktivität des uruguayischen Markts. (Vgl. Astori 1989b: 144.) Vgl. Astori 1989b: 133/144. Vgl. Rama 1987: 182. Vgl. Cancela/Melgar 1986: 62. Zunächst erwarb der BCU mit einem äußerst hohen Risiko verbundene Darlehen in Höhe von etwa 400 Millionen US-Dollar von den sechs Banken, deren Lage am kritischsten beurteilt wurde. Fünf dieser Banken wurden dann an ausländische Kreditunternehmen verkauft, die sechste wurde liquidiert. (Vgl. Larrain 1988: 615.) Zu den folgenden Prozentangaben vgl. Cancela/Melgar 1989: 79. Vgl. Heindel 1985: 114.

173

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

Graphik iO: Entwicklung der Auslandsverschuldung während der Militärdiktatur (in Millionen

US-Dollar)

5000 4000 3000 2000 1000

0 -1000 1973

1974

1975

1976

1977

1978

1979

1980

1981

1982

1983

1984

[ 13 Brutto-Auslandsverechuidung • Reserven in Gold und Devisen M Netto-Auslandsverschuldung j

Quelle: Tabelle 13 im Anhang; siehe dort auch die genauen Daten.

Bezüglich des Bruttoinlandsprodukts konnte die Militärregierung in den letzten drei Jahren ihrer Herrschaft nur eine negative Bilanz vorweisen. Im Vergleich zum Vorjahr ging 1982 das Bruttoinlandsprodukt um 9,4% zurück, und auch 1983 und 1984 konnte kein Wachstum erreicht werden; die entsprechenden Werte für 1983 und 1984 lauteten -5,0% und -1,1%. Von 1982 bis 1984 verringerte sich das Produktionsniveau insgesamt um 16%. In der verarbeitenden Industrie fiel zwischen 1981 und 1983 die Produktion in einem größeren Ausmaß als in allen anderen Ländern Lateinamerikas, nämlich um über 26%, in der Bauwirtschaft sogar um 35%. Im gleichen Zeitraum stieg die Arbeitslosemate von 6% auf 16,5%. 1984 lag die interne Nachfrage um 26% niedriger als noch 1981, die Investitionen gingen um 50% zurück, der Konsum um 14%. Die Reallöhne fielen bis 1984 auf die Hälfte des Niveaus gegen Ende der 60er Jahre. 78

Zu den obigen Daten siehe, soweit nicht anders angegeben, Tabelle 9 im Anhang und die Angaben bei Macadar 1992: 30/31.

174

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

Graphik 11: Ausgewählte makroökonomische Eckdaten zur wirtschaftlichen Entwicklung während der Militärdiktatur (jährliche Variation in %)

— • — Bruttoinlandsprodukt —•— Reallohnentwicklung Quelle: Tabellen 9 und 10 im Anhang; siehe dort auch die genauen Daten.

Unterschiedliche wirtschaftspolitische Orientierungen während der Militärdiktatur sollen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der Entwicklungsstil grundsätzlich nur in Nuancen veränderte. Als markantes Merkmal ist auf den durchgängigen Widerspruch zwischen liberalem Diskurs und interventionistischen Praktiken hinzuweisen. 79 Der zu Anfang der Militärdiktatur postulierte Rückzug des Staates aus der Wirtschaft fand nicht statt. Eingriffsmöglichkeiten und Regulierungsmechanismen wurden kaum abgebaut; eine ernsthafte, umfassende Privatisierung staatlicher Unternehmen führte die Regierung nicht einmal ansatzweise durch. Auch der aufgeblähte staatliche Verwaltungsapparat wurde keineswegs reduziert. Während 1969 noch 213.001 Bedienstete im öffentlichen Sektor beschäftigt waren, stieg deren Zahl bis 1985 sogar auf 249.152.80 Noch während der Militärdiktatur konstatierte Vegh Villegas in einer Rückschau auf seine Amtszeit als Wirtschafts- und Finanzminister Mitte der 70er Jahre, seine beiden größten Enttäuschungen seien gewesen, daß er aufgrund von Widerständen innerhalb der Militärregierung weder den angestrebten Privatisierungskurs hatte einschlagen noch die Zahl der öffentlichen Bediensteten reduzieren können.81 Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen - dies mußte bereits Vegh Villegas erfahren - waren nicht unbedingt im Sinne der Militärs. Warum sollten sie, wenn sie nun schon einmal an der Regierung 79

80

81

Vgl. Rama 1987: 182. Vgl. Tiylesinski 1987: 23. Snoeck/Sutz/Vigorito geben zwar eine Zahl von „nur" 245.693 Personen an, die der Staat beschäftigte; aber auch dies entsprach noch einem Anteil von über 20% der ökonomisch aktiven Bevölkerung. (Vgl. Snoeck/Sutz/Vigorito 1994: 205.) Noch immer galt also die schon vor der Militärdiktatur von dem Schriftsteller Mario Benedetti stammende, karikierende Zustandsbeschreibung, Uruguay sei das einzige Büro der Welt, das den Status einer Republik erreicht habe. Vegh Villegas in diesem Sinne zitiert von Handelman 1981b: 279.

Wirtschaftspolitik und wirtschaftlicher Strukturwandel

175

waren, freiwillig auf Macht verzichten und staatliche Regulierungsmechanismen abbauen? Warum sollten ausgerechnet sie sich durch Entlassungen unbeliebt machen, noch dazu, wenn eventuell damit verbundene Privatisierungen einen „nationalen Ausverkauf' nach sich ziehen würden? 82 Diese Bedenken der Militärs bezogen sich praktisch auf alle Wirtschaftsbereiche mit Ausnahme des Finanzsektors. Hier ließen sie Vegh Villegas nahezu uneingeschränkt nach seinen Vorstellungen agieren. 83 Er schuf die Grundlage für eine Wirtschaftspolitik der Militärdiktatur, die ab 1978 stark an monetaristischen Konzepten ausgerichtet war, wobei schwerpunktmäßig auf eine Bekämpfung der Inflation und eine Liberalisierung des Kapitalverkehrs gesetzt wurde. In den 70er Jahren waren es vor allem populistische Motive und Machtinteressen der Militärs, die eine über den Finanzsektor hinausgehende, umfassende Implementierung einer Wirtschaftspolitik nach den Rezepten der sogenannten Chicagoer Schule verhinderten.84 Nach dem verlorenen Plebiszit von 1980 schließlich konnte sich die Militärregierung unpopuläre Liberalisierungsmaßnahmen erst recht nicht mehr leisten, da diese die Destabilisierung und den Machtverfall wohl noch beschleunigt hätten. Insgesamt unterschied sich die uruguayische Militärdiktatur von der argentinischen und noch deutlicher von der chilenischen darin, daß den Chicago Boys - abgesehen vom Finanzsektor sehr viel weniger freie Hand gelassen wurde. Die Wirtschaftspolitik stand ganz anders als in Chile in einer gewissen Kontinuität zu der Politik in der Zeit vor der Machtübernahme durch die Militärs.

83 84

„Aún dentro de las Fuerzas Armadas hay sectores fuertemente nacionalistas que no miran con buenos ojos la enajenación del patrimonio comercial e industrial del Estado y que, tal vez, no verían tampoco benévolamente un incremento irrestricto de la penetración de las compañías transnacionales en áreas hoy día en manos de nacionales [...]." (Martorelli 1982a: 89.) Vgl. Handelman 1981 a: 253/254. „Ironically, the military populists were more concerned with maintaining some degree of popular legitimacy than was Vegh Villegas." (Handelman 1981b: 229.)

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

176

5.3

Unternehmer/-verbände in der Diktatur: Kollaborateure, Profiteure, Opportunisten oder Oppositionelle?

5.3.1

Neue Spielregeln und Interessenkonstellationen

Im Gegensatz zu den Unternehmerverbänden gehörten die Gewerkschaften zu denjenigen, die von Beginn an gegen die Diktatur klar Stellung bezogen. Noch am 27. Juni 1973, an dem Tag, an dem das Parlament aufgelöst wurde, mobilisierte der Gewerkschaftsdachverband CNT (Convención Nacional de Trabajadores) seine Mitglieder und organisierte einen Generalstreik gegen die Diktatur. 85 Nur drei Tage später wurden die Gewerkschaften verboten, und viele ihrer Mitglieder bekamen in der Folgezeit die Menschenverachtung des neuen Regimes am eigenen Leib zu spüren. Demgegenüber wurden die Unternehmerverbände nicht aufgelöst bzw. mußten deren Repräsentanten keine vergleichbaren Repressionen befürchten. Im Gegenteil gibt es Anzeichen dafür, daß die Machtübernahme der Militärs aus den Reihen der Unternehmerschaft durchaus befürwortet und unterstützt wurde. So soll ein Tag vor der Parlamentsauflösung eine Gruppe von Unternehmern und Auslandsinvestoren zu einem „Arbeitstreffen" mit Repräsentanten der Streitkräfte zusammengekommen sein, um die Notwendigkeit zu betonen, die Streiks zu beenden, die Arbeiter zu „entpolitisieren" und Privatisierungsmaßnahmen einzuleiten.86 Eindeutige Belege, in welchem Umfang Unternehmer tatsächlich in den Prozeß der Installierung der Militärdiktatur involviert waren, liegen nicht vor. Zumindest kann aber das überwiegende Schweigen der Unternehmer zu dem institutionellen Bruch mit der Demokratie im Jahr 1973 angesichts der gesamtgesellschaftlichen Polarisierung als Zustimmung zum Vorgehen der Streitkräfte interpretiert werden. 87 Anders als zuvor unter der Regierung von Pacheco Areco (der mit seiner autoritär geprägten Politik Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre als Wegbereiter der Diktatur bezeichnet werden kann), als Unternehmer in einem Ausmaß wie nie zuvor in der uruguayischen Geschichte des 20. Jahrhunderts politisch aktiv waren und auch Posten in der Regierung übernahmen, begegneten die Unternehmer und die Repräsentanten ihrer Verbände der Machtübernahme durch die Militärs in der Öffentlichkeit zwar mit Zurückhaltung. Daraus zu schließen, die Unternehmer hätten generell der Militärdiktatur kritisch gegenübergestanden, wäre allerdings eine Fehlinter-

85

86 87

Vgl. hierzu neben anderen Lerin/Torres 1987: 20-27. Vgl. Caetano/Rilla 1987: 17. Davon gehen z.B. auch Lerin/Torres (1987: 95) aus.

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

177

pretation. Vielmehr - darauf weist Germán Rama hin 88 - reagierten die Unternehmer wohl deshalb so vorsichtig, weil nicht nur die Gewerkschaftsbewegung, sondern auch fuhrende Politiker und angesehene Persönlichkeiten aus der Kultur entschieden gegen den Putsch Stellung bezogen. Das sicher nicht zuletzt durch das gesellschaftliche Klima bedingte Schweigen der Unternehmer wurde in manchen Fällen aber auch gebrochen, und man bezog recht eindeutig zugunsten der Militärs Stellung. So erklärte z.B. die Cámara Nacional de Comercio am 13. Juli 1973: „Ante la profunda crisis institucional que ha conmovido al país no se justificaría el silencio de la Cámara Nacional de Comercio. [...] Resulta innegable que la gestión del actual gobierno está centrada en el desarrollo económico y en la reconstrucción social, siendo justo reconocer que ya ha alcanzado algunas metas limitadas aunque apreciables que pueden interpretarse como el comienzo de la recuperación del país [...]. Pero toda medida económica será estéril si no se asegura el ordenamiento y la continuidad del trabajo. [...] Comparte la Cámara Nacional de Comercio en sus aspectos fundamentales, los planes de desarrollo estructurados por el Poder Ejecutivo." 89

Solche und ähnliche Erklärungen blieben allerdings die Ausnahme. Wenn viele Unternehmer auch nicht explizit die Militärdiktatur unterstützten, so begegneten sie dennoch der Militärregierung mit großem Wohlwollen und sahen sich als die eigentlichen Nutznießer dieser Entwicklung. Denn immerhin schalteten die Militärs ihre lästigen Widersacher und Hauptgegner, die Gewerkschaften, aus. Die für eine optimale Profitmaximierung hinderlichen Arbeitskämpfe und Streiks der vergangenen Jahre gehörten damit der Vergangenheit an. Unliebsame Gewerkschaftsaktivisten und sonstige „Querulanten" in den Reihen der Arbeiterschaft konnten nun recht problemlos gemaßregelt oder entlassen werden. Bereits am 4. Juli 1973 wurde ein Dekret erlassen, nach dem Streiks und Arbeitsniederlegungen, egal in welchem Ausmaß und ob in privaten oder öffentlichen Betrieben, zum Anlaß für Entlassungen aufgrund schlechten Verhaltens genommen werden konnten. Als ein Beispiel von vielen drohte schon vier Tage nach Inkrafttreten des Dekrets die Asociación de Bancos entsprechende Schritte an: „Todo aquel que no estuviese en su lugar de trabajo, a la orden de las empresas, en la fecha indicada, se considerará que ha hecho abandono del cargo [...]."90 Außerdem war nun mittels der „harten Hand" der Militärs das in den Augen vieler Unternehmer - wobei diese Sicht der Dinge sich nicht auf Unternehmer 88 89

Vgl. Rama 1987: 175. So zitiert in Machado Ferrer/Fagündez Ramos 1991: 24/25. So zitiert in Machado Ferrer/Fagündez Ramos 1991: 17. In diesem Buch findet sich auch eine detaillierte, chronologische Auflistung, in welchen Unternehmen in den ersten Jahren der Militärdiktatur Maßnahmen gegen Arbeiter und Angestellte ergriffen worden sind.

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5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

beschränkte - durch die Guerilla-Aktivitäten der Tupamaros ins Chaos gestürzte Land „befriedet" und vor dem „drohenden Kommunismus" bewahrt. Das Interesse der Unternehmer richtete sich in diesem Sinne also durchaus auf eine Stabilisierung. Dafür wurden nun auch Maßnahmen der Regierung in Kauf genommen, die im Widerspruch zu der demokratischen Tradition des Landes standen. Die Unternehmer hatten also offensichtlich keine größeren Schwierigkeiten damit, genau das zu akzeptieren, was in Kapitel 1.1 der vorliegenden Arbeit unter dem Stichwort repressive Stabilität zusammengefaßt wurde. „Düring the early years of militaiy control, many conservative businessmen, rightest civilian politicians, particularly within the Colorado Party, and certain portions of the general public accepted (or even welcomed) some of these authoritarian measures."91

Diese weit verbreiteten Auffassungen in den Reihen der Unternehmerschaft zur Machtübernahme durch die Militärs fand nicht nur Handelman in zahlreichen Gesprächen bestätigt. 92 Auch in den vom Verfasser Ende 1991 geführten Interviews mit verschiedenen Unternehmern in Montevideo wurde z.T. sehr offen eingeräumt, daß der Unternehmerschaft die Militärdiktatur vor allem unter den hier genannten Aspekten sehr gelegen kam. Der Präsident der Asociación Rural, Carlos Enrique Gasparri, vertrat die Ansicht, daß das Land angesichts des damals herrschenden Chaos' eine solche Regierung gebraucht habe. 93 Und Simón Berkowitz, seines Zeichens Präsident der Cámara Mercantil de Productos del País, bestätigte unumwunden, daß die Unternehmer nicht zuletzt durch die Unterdrückung der Gewerkschaftsbewegung eindeutig von der Militärdiktatur profitiert hätten und man im Vergleich zu anderen Gruppen mit den neuen Machthabern sehr gut zurechtgekommen sei. 94 Zunächst richtete sich die Repression der Militärdiktatur tatsächlich beinahe ausschließlich gegen die Gewerkschaften, gegen die im Frente Amplio zusammengeschlossenen Parteien sowie gegen oppositionelle Medien. Mit der Zeit sollte die Repression aber nicht auf linksorientierte Kräfte beschränkt bleiben, sondern fast das komplette Spektrum der politischen Parteien erfassen. Ansatzweise mußten sogar Unternehmer erfahren, welche unmittelbaren Konsequenzen es nach sich zog, wenn man einer Konfrontation mit den Machthabern nicht aus dem Weg ging. Dies nahm allerdings nicht annähernd die Dimensionen der Unterdrückung an, mit der die Gewerkschaften konfrontiert waren, die von Anfang an ihren Protest gegen die Militärdiktatur artikuliert hatten. Die Unternehmerverbände konnten sich ohne weiteres innerhalb des von 91 92 93 94

Handelman 1981c: 274. Vgl. Handelman 1981a: 250. Gasparri in einem Gespräch am 13.11.1991 in Montevideo. Berkowitz in einem Gespräch am 8.10.1991 in Montevideo.

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

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der autoritären Regierung abgesteckten Aktionsrahmens bewegen und hatten keinerlei Sanktionen zu befurchten, solange sie nicht in Opposition zur Militärregierung traten. „Sus locales, sus publicaciones, su funcionamiento administrativo, su capacidad de tomar contacto con la opinión pública a través de los medios de difusión ha sido, en general respetada por el Gobierno 'cívico-militar'. En ningún momento los militares parecen haberse fijado como meta la neutralización de las organizaciones patronales y mucho menos su destrucción, toda vez que las mismas no afectan los márgenes de seguridad establecidos por el poder.""

Wie sahen nun die neuen Interessenkonstellationen mit Blick auf die Unternehmer, differenziert nach Wirtschaftssektoren, aus? Mit dem Amtsantritt des Colorado-Politikers Bordaberry im Jahr 1972 glaubte zunächst noch eine andere Gruppe neben den Militärs, den Gipfel der politischen Macht erklommen zu haben. Bordaberry (ehemaliger Senator, Agrarunternehmer, Präsident der Liga Federal de Acción Ruralista und in den 50er/Anfang der 60er Jahre Mitglied im Leitungsgremium der Asociación Rural) galt als Vertreter der Agrarinteressen, entsprechend sah es nach einer Allianz von Agrarunternehmern und Militärs aus. 96 Auch der 'Nationale Entwicklungsplan' maß dem Agrarsektor im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eine besonders hervorgehobene Bedeutung zu. Wenngleich mit diesem Plan insgesamt das Fundament für die Wirtschaftspolitik der Militärdiktatur gelegt wurde, sollte sich diese in den kommenden Jahren paradoxerweise aufgrund der sich verändernden externen Rahmenbedingungen und der neuen Wirtschaftsideologie gerade gegen deren Interessen wenden: „El ciclo económico y político del Uruguay ganadero tradicional iniciaba su fin juntamente con haber logrado conquistar el poder." 97 Trotz des Rückhaltes und der Unterstützung seitens der Agrarunternehmer war die Machtbasis von Bordaberry so begrenzt, daß er den Streitkräften bei ernsthafteren Meinungsverschiedenheiten oder Auseinandersetzungen nicht gewachsen war. Aus praktisch allen Konfrontationen oder Kontroversen, die damals trotz der herrschenden Pressezensur bekannt wurden, gingen die Militärs als Sieger hervor.9** Dies gipfelte in der bereits beschriebenen Absetzung des Präsidenten im Juni 1976. Obwohl unter Präsident Bordaberry die meisten Minister Zivilisten waren, gab es insgesamt nur zwei Persönlichkeiten, die die Macht der Militärs herausfordern konnten. Dies war einerseits Bordaberry selbst, der sich dann aber doch sehr schnell dem Druck der Streitkräfte beugen mußte. Zum anderen war dies 95 96 97 98

Martorelli 1982a: 79. Vgl. Rama 1987: 145-147. „Any strains and tensions between the landowners and the military were not apparent at the time of the coup in 1973 [...]." (Finch 1985: 103.) Rama 1987: 147. Vgl. Handelman 1981 b: 227.

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Wirtschafts- und Finanzminister Alejandro Végh Villegas, dessen Ernennung zum Wirtschafts- und Finanzminister im Juli 1974 von den meisten Unternehmern sehr begrüßt wurde." Allerdings gab es auch Unternehmer, die der auf Liberalisierung und einen Rückzug des Staates ausgerichteten Entwicklungsstrategie von Végh Villegas mit Skepsis begegneten, was - so muß hinzugefügt werden - aber nicht gleichbedeutend damit sein mußte, daß sie die „Vorteile" der Militärdiktatur (z.B. Schwächung der Gewerkschaften, Einschränkung der Rechte der Arbeitnehmer, repressive Stabilität) nicht schätzten. Warum einige Unternehmer gegen die von Végh Villegas vertretene Wirtschaftsideologie, die sich von ihrer liberalen Konzeption her gegen staatlicherseits gewährte Schutzund Bevorzugungsmechanismen für die Unternehmer richtete, Bedenken hegten, kommt in der folgenden öffentlichen Äußerung von Végh Villegas zum Ausdruck: „[...] no resisto a la tentación de leerles un párrafo de una conferencia dictada no hace muchos meses por el Prof. Milton Friedman en Santiago de Chile; decía, y me solidarizo con el concepto aquí contenido: 'Quiero aclarar que cuando hablo a favor de la empresa privada no hablo a favor de los empresarios, muy por el contrario, pocos hombres de negocios creen realmente en la libre empresa y a menudo figuran entre sus peores enemigos. Todo hombre de negocios está a favor de la libre empresa para los demás, no para él; quiere concesiones especiales del gobierno, quiere que el gobierno le de crédito barato, que el gobierno establezca barreras aduaneras que lo protejan de la competencia, que el gobierno fije para él un precio de venta alto y que el precio al que debe comprar sea fijado en un punto bajo. No culpo a ese hombre de negocios, nosotros esperamos que la gente busque su propio interés; el hombre de negocios es inteligente y sensible y busca y trata de obtener estas ventajas; es el público el culpable que le permite que lo haga; que le permitimos que lo logre. En consecuencia depende de nosotros el gue esta política consiste específicamente en no poner obstáculos ni dar subsidios'."!""

Vor allem diejenigen Unternehmer, die von der jahrelangen Politik der importsubstituierenden Industrialisierung hatten profitieren können, fürchteten nun, stärker dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt zu werden. Nach der Durchsetzung von Liberalisierungsmaßnahmen, wie Zollsenkungen und günstigeren Zugangsmöglichkeiten für ausländische Unternehmen auf den uruguayischen Markt, wären sie kaum konkurrenzfähig. Besorgt zeigten sich außerdem Unternehmer aus dem Bereich der Gefrierfleischindustrie und der Gerbereien, da sie befürchteten, daß bestehende staatliche Preisgarantien, Marktkontroll99

„The industrialists and commercial spokesmen whom I interviewed generally indicated that Vegh had eliminated excessive government interference in the private sector, created a favorable climate for business (buttressed, of course, with the labor peace enforced by the military), lowered corporate Taxes and 'social expenditures' (i.e., contributions to social security and worker fringe benefits), facilitated the importation of raw materials, and cleared away price controls on many items. Bankers and merchants were pleased with policies facilitating credit and increasing the volume of both imports and exports." (Handelman 1981a: 252.) 100 végh Villegas 1977: 69/70.

Untemehmer/-verbände in der Diktatur

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mechanismen und andere für sie positive regulative Maßnahmen abgebaut würden. Diese Befürchtungen stellten sich aber als unbegründet heraus, da Végh Villegas keine entsprechenden Deregulierungen einleitete, die die genannten Industriebereiche betrafen. Unabhängig davon, wie ernst bestimmte Absichtserklärungen gemeint waren bzw. warum sich diese nicht realisieren ließen, bleibt der in vielen Bereichen bestehende Widerspruch zwischen Worten und Taten zu konstatieren. Végh Villegas war bekannt als erfahrener Wirtschaftsexperte mit ausgezeichneten internationalen Verbindungen. Neben seinen Tätigkeiten als Wirtschaftsberater der argentinischen und brasilianischen Militärdiktaturen der 60er Jahre stand er in Diensten von mehreren in Südamerika aktiven multinationalen Firmen. Als Angehöriger einer führenden uruguayischen Bankiersfamilie und Sohn eines ehemaligen Präsidenten der Cámara Nacional de Comercio war er besonders eng verbunden mit der nationalen unternehmerischen Elite aus dem Industrie-, Handels- und Finanzsektor. Zusätzliches Renommee in Uruguay erwarb er sich durch sein jahrelanges publizistisches Wirken als Autor der noch heute - bedeutendsten Wochenzeitung des Landes, Búsqueda. In dieser Zeitschrift, herausgegeben von einem seiner engsten Vertrauten, Ramón Díaz, trat er immer wieder als konsequenter Verfechter eines wirtschaftlichen Liberalismus und einer freien Marktwirtschaft auf. Seine Machtbasis, die ihm gegenüber den Militärs eine besondere Stellung einbrachte, baute sich auf sein nationales Ansehen in Verbindung mit seinen ausgeprägten internationalen Kontakten auf: „His close links with the Uruguayan banking Community, Argentine and Brazilian banks, multinational corporations, the International Monetaiy Fund (IMF), and the U.S. Embassy, made him the only civilian in the government capable of Standing up to the generáis." 102

Zu Auseinandersetzungen zwischen Végh Villegas und den Streitkräften kam es auf wirtschaftlichem Gebiet in erster Linie, weil vielen, eher populistisch ausgerichteten Militärs seine an der Wirtschaftsphilosophie der Chicagoer Schule um Milton Friedman ausgerichteten Pläne zu weit g i n g e n . 103 Auf politischem Gebiet geriet er in Konflikt mit den Hardlinern in den Reihen der Militärs, da er sich für einen „liberaleren" Kurs stark machte, d.h. konkret sich für eine begrenzte Demokratisierung bzw. gegen eine weitere Einschränkung der bürgerlichen Rechte einsetzte. So war sein Widerspruch gegen das Dekret aus 101 Vgl. hierzu und zum ersten Teil des folgenden Absatzes Handelman 1981a: 250-252. 102 Handelman 1981b: 228. 103 végh Villegas bezog sich auch gerne explizit auf Friedman. Vgl. als ein Beispiel von vielen seine Rede am 5. August 1975 vor dem Instituto Militar de Estudios Superiores, abgedruckt in Végh Villegas 1977: 65-75, dort 69.

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5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

dem Jahre 1976, das eine Proskription beinahe aller Politiker des Landes bedeutete, Auslöser dafür, daß er seinen Posten in der Regierung a u f g a b . War er in der Zeit zuvor mit seinen Rücktrittsdrohungen erfolgreich, wenn er bestimmte Maßnahmen gegen den Widerstand der Militärs durchsetzen wollte beispielsweise als er im August 1975 die Goldreserven des Landes als Sicherheit für einen Kredit des IWF benutzen wollte -, so wurde in diesem Fall sein Rücktrittsangebot angenommen. Daß Vegh Villegas einen größeren Einfluß und mehr Macht als Bordaberry besaß, zeigte sich nicht nur darin, daß er sich mit der Androhung seines Rücktritts nicht nur einmal gegen die Militärs durchsetzen konnte. Anders als Bordaberry verschwand er nach seinem Rücktritt nicht in der politischen Versenkung. Immerhin wurde Vegh Villegas sogar zum Mitglied des Consejo de Estado und zum Botschafter in den USA ernannt. 105 Weiterhin Einfluß auf die Wirtschaftspolitik behielt er über den neuen, ihm persönlich und ideologisch verbundenen Wirtschafts- und Finanzminister Valentin Arismendi, der bis Ende 1982 in diesem Amt verblieb. 106 Für die Wirtschaftspolitik unter Arismendi hatte Vegh Villegas in der vergleichsweise kurzen Amtszeit als Wirtschaftsund Finanzminister das Fundament gelegt. Arismendi stand in seiner Amtsführung in einer Kontinuität zu Vegh Villegas und wurde stark von ihm geprägt. Als Zivilist nahm Vegh Villegas während seiner ersten Amtszeit Mitte der 70er Jahre eine zentrale Rolle in der Militärregierung ein. Seine Machtposition gründete sich nicht nur auf die oben genannten Faktoren, sondern ergab sich zusätzlich aus der Tatsache, daß die Militärs über keinen auch nur annähernd so erfahrenen Wirtschaftsexperten aus den eigenen Reihen verfügten. Vegh Villegas konnte deswegen mit relativ großem Gestaltungsspielraum den wirtschaftspolitischen Kurs bestimmen. Es spricht für sich, daß Vegh Villegas das 1 0 4

104

Es muß in diesem Kontext allerdings hinzugefugt werden, daß Végh Villegas die Proskription von Politikern linksorientierter Parteien durchaus weiter unterstützte und er sich nur für die von dem Dekret betroffenen, z.T. mit ihm freundschaftlich verbundenen Politiker der beiden traditionellen Parteien einsetzte. Diese Tatsache läßt Rückschlüsse auf das Demokratieverständnis von Végh Villegas zu. So schrieb er auch in einem Brief an Bordaberry zu dessen Vorhaben, alle Parteien zu eliminieren: „El receso obligado de los partidos tradicionales es a mi jucio, un peligro para el futuro de la Nación porque, al crear un 'vacío político' en el país, deja el campo libre a la acción clandestina de los grupos marxistas y especialmente del Partido Comunista." (Text abgedruckt in in Caetano/Rilla 1987: 46-48.) Trotz dieser Einschränkungen bleibt es bemerkenswert, daß Végh Villegas als Galionsfigur der Militärdiktatur überhaupt den Kontakt zu oppositionellen Kräften suchte. Dies stellt sogar Oscar Bruschera in seinem kritischen, manchmal aber auch polemisch-verkürzenden Buch Las décadas infames fest. (Vgl. Bruschera 1986: 116.) Zum folgenden vgl. Handelman 1981a: 254 und Handelman 1981b: 230. 105 Vgl. Notaro 1984a: 160. 106 Vgl. Notaro 1984b: 187. Arismendi wurde abgelöst von Walter Lusiardo Aznarez. (Vgl. Latin America Regional Reports: Southern Cone Report. RS-82-10 vom 24.12.1982.) Nicht einmal ein Jahr später, nämlich im November 1983, übernahm dann wieder Végh Villegas das Wirtschafts- und Finanzministerium.

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

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einzige Kabinettsmitglied war, in dessen Ministerium an zweiter oder dritter Stelle kein Angehöriger der Streitkräfte plaziert war. 1 0 7 Die Machtposition von Végh Villegas machte ihn wiederum zu einer zentralen Person in der Wahrnehmung und im Kalkül der Unternehmer und ihrer Interessenorganisationen. Denn das alte System der Interessenrepräsentation war außer Kraft gesetzt. Da Senat und Abgeordnetenhaus aufgelöst sowie parteipolitische Aktivitäten weitgehend unterbunden worden waren, existierten die gewohnten Kanäle der Einflußnahme und über Jahrzehnte gültige Mechanismen der Interessenvermittlung nicht mehr. Die Wirtschaftspolitik war nun nicht mehr Ergebnis eines wie auch immer im einzelnen ausgestalteten demokratischen Prozesses, in dem unterschiedliche Interessen zur Geltung gebracht werden konnten, sondern wurde durch eine Person verkörpert. Diese Personifizierung der wirtschaftspolitischen Implementierung bedeutete, daß nur diejenigen, die über direkte Zugangsmöglichkeiten zum Wirtschafts- und Finanzminister, respektive zur Militärregierung verfügten, entsprechend Gehör fanden und damit ihre Interessen zumindest artikulieren konnten. Dieser Kreis blieb, wie sich zeigen sollte, sehr eingeschränkt. Auch korporatistische Repräsentationsformen wurden während der Militärdiktatur keineswegs aus-, sondern eher abgebaut. Dies gilt beispielsweise für den Bereich der Lohn- und Gehaltsverhandlungen. Während bereits unter der Präsidentschaft von Pacheco die Funktionen und Mechanismen der Consejos de Salarios, bei denen Arbeitnehmer und Unternehmer noch ein wirkliches Mitspracherecht hatten, eingeschränkt worden waren, wurde nun die damals eingerichtete Comisión de Productividad, Precios e Ingresos (COPRIN) zur Bedeutungslosigkeit verurteilt: Nach den Gewerkschaftsvertretern wurden auch die Repräsentanten der Cámara de Industrias und der Cámara Nacional de Comercio ausgeschlossen; COPRIN verkam vollständig zu einer Einrichtung, die lediglich pro forma die Entscheidungen des Wirtschafts- und Finanzministers abzusegnen hatte. 108 Die Unternehmer gehörten zu denjenigen, die im Vergleich zu anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen - besonders in Gegenüberstellung mit den völlig unterdrückten Gewerkschaften - klar privilegiert waren. Gleichzeitig mußten aber auch viele Unternehmer sehr bald erkennen, daß sie trotz der Vorteile, die ihnen die Militärdiktatur brachte, den Machthabern insofern ausgeliefert waren, als ihnen die Zugangsmöglichkeiten zur Regierung erschwert wurden. Végh Villegas agierte als Technokrat, der seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen durchsetzen wollte, ohne auf andere Interessen Rücksicht nehmen zu müssen. Hierzu lieferte ihm die Militärdiktatur den notwendigen 107 108

Vgl. Licio 1990: 16. Vgl. Handelman 1981a: 258.

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institutionellen Rahmen. In einer Rede aus dem Jahr 1975 betonte er so auch: „[...] creo que es un hecho saludable en la experiencia actual el que muchos empresarios y grupos de presión hayan comprendido que ya no vale la pena pedir, y que ya ni se presentan a pedir ciertas cosas que antes eran el pan de cada día." 1 0 9 Insofern grenzte er offenkundig und bewußt, so weit es ging, die offiziellen Interessenvertretungen der Unternehmerschaft aus, mit Ausnahme der ihm eng verbundenen Asociación de Bancos. „While Vegh Villegas was closely linked by bonds of family and friendship to the country's financial elite, he was an extremely inaccessible ñgure. Vegh had strong convictions about what measures were needed to cure Uruguay's economic ills. Consequently, he planned his programs in textbook-like fashion, and saw little need for consulting with affected interests. Indeed, he told me that the greatest advantage of military rule was that technically skilled decision-makers (such as himself) could dictate policy according to their own (allegedly more objective) criteria without the heavy interference of vested interest groups. Indeed, he indicated that he had little respect for the economic expertise of the major pressure groups (with the exception of the Bank Association) and met with their representatives only to explain his policies or as a courtesy. On those occasions when he did want intelligent input from the business sector, he felt it was much more useful to talk to selected officers of major corporations (particularly those of foreign corporations, who he felt were the most wellinformed) than to meet with CNC, CIU, or other interest group spokesmen."! 10 Auch innerhalb des Kabinetts verschoben sich die Gewichte deutlich zugunsten von V é g h Villegas. War bereits Ende Juni, w e n i g e Tage bevor er den Ministerposten übernahm, das Wirtschafts- und Finanzministerium mit zusätzlichen Funktionen und Kompetenzen ausgestattet w o r d e n , 1 1 1 so gelang es ihm in der Folgezeit, seine Position noch zu stärken. Industrie- und Landwirtschaftsminister, die immer wichtige Ansprechpartner der Unternehmerverbände der entsprechenden Wirtschaftssektoren waren, hatten im Vergleich zu V é g h Villegas kaum noch wirkliche Entscheidungskompetenzen. Unternehmer bzw. Vertreter von Unternehmerverbänden wußten, daß es sich kaum mehr lohnte, sich direkt an den Industrie- oder Landwirtschaftsminister zu wenden, um auf wirtschaftspolitische Entscheidungen Einfluß zu nehmen; denn ihnen quasi übergeordnet war „Superminister" V é g h V i l l e g a s . 1 1 2 Und wer über keine persönlichen

109 110 111 112

Végh Villegas 1977: 70. Handelman 1981a: 259/260. Vgl. Machado Ferrer/Fagúndez Ramos 1991: 57. „Manufactures whom I interviewed told me that they had ceased going to the Ministry of Industry with their problems and policy suggestions [...] because it was clear that fundamental decisions were being made at the Finance Ministry. Moreover, the Minister of Industry serving concurrently with Vegh Villegas was particularly ineffective in channeling inputs from his sector of the economy. Julio Aznárez, the Minister of Agriculture (through 1977), was a more effective spokesman for rural interests. Officers of the Asociación Rural and Federación Rural felt that he was generally sympathetic to their problems, but they too realized that ultimate decision-making power lay with Vegh Villegas." (Handelman 1981a: 259.)

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

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Kontakte zu diesem verfugte, war fast von vornherein von jeglicher Einflußnahme auf Regierungsentscheidungen ausgeschlossen. Für diesen Fall blieben lediglich noch die Zugangsmöglichkeiten der Unternehmer direkt zu den Militärs unter Umgehung von Vegh Villegas. Doch auch diese waren von Anfang an begrenzt, denn die Militärs waren nie Bestandteil der Elite des Landes. Anders als die Angehörigen der wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht, die sich in der Regel persönlich kannten - es wurde bereits anfangs darauf hingewiesen, daß die Berührungspunkte in einem kleinen Land wie Uruguay mit seiner Hauptstadt Montevideo als dem absoluten politischen und wirtschaftlichen Zentrum fast zwangsläufig gegeben sind -, waren die Angehörigen der Streitkräfte immer Außenseiter. Sie spielten in der Vergangenheit weder als politischer Akteur eine wichtige Rolle, noch hatten sie, die entweder aufgrund ihrer familiären Sozialisation (bereits der Vater, Großvater usw. gehörte den Streitkräften an) oder aufgrund ökonomischer Motive aus der ländlichen Mittelklasse zu den Streitkräften kamen, sozialen Kontakt zu den Eliten in der Hauptstadt. 113 Entsprechend schwierig war es nun fur die fuhrenden Unternehmen und dies gilt besonders, wie später noch einmal zu zeigen sein wird, für den Agrarsektor -, mit den neuen Entscheidungsträgern in Kontakt zu kommen. Die gewohnten und über Jahrzehnte gewachsenen Verbindungen und Kanäle der Einflußnahme konnten nicht mehr genutzt werden. „The suppression of political parties and open legislative bodies increased the importance of personal contacts with members of the regime, but the rural sector had no easy route; the military component of the regime has been reluctant to reveal internal division, and has no special sympathy for the estancieros, [...] while the conduct of economic affairs has been concentrated in the Ministry of the Economy." 1 1 4

5.3.2

Der Versuch der diktatorischen Konsolidierung bis 1980

Die von Vegh Villegas und seinem Nachfolger im Amt des Wirtschafts- und Finanzministers verfolgte Politik brachte fur die einzelnen Wirtschaftssektoren unterschiedliche Effekte; dementsprechend reagierten die Unternehmer und deren Interessenorganisationen nicht als Einheit, sondern in der Mehrheit ausgerichtet an den Resultaten der Wirtschaftspolitik. Dieser Logik entsprechend sahen diejenigen, die von dem eingeschlagenen Wirtschaftskurs profitierten, keine Veranlassung, sich gegen die verfolgte Politik zu wenden und dem Regime die Loyalität und Unterstützung zu entziehen. Diejenigen Unternehmer, die eher Nachteile erfahren mußten bzw. Beeinträchtigungen 113 114

Vgl. Handelman 1981a: 260. Finch 1985: 111.

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

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befürchteten, zeigten demgegenüber erwartungsgemäß größere Bereitschaft, ihre Interessen gegen die Machthaber zu vertreten. Es stellt sich die Frage, ob dies auch zu grundsätzlich oppositionellen Haltungen gegenüber der Militärdiktatur führte, die die MakroStabilität des Systems in Gefahr hätten bringen können.

5.3.2.1

Die Sonderrolle des Agrarsektors und der Federación Rural

Nach den anfanglichen Hoffnungen, die die Unternehmer des Agrarsektors in die Politik der Militärdiktatur gesetzt hatten, wurden ihre Erwartungen schnell enttäuscht. Auch Landwirtschaftsminister Benito Medero, der ein Vertrauensmann von Präsident Bordaberry war und über enge Verbindungen zu den Großgrundbesitzern verfügte, trat zurück. 115 Wie sich zeigte, war er kein Garant dafür gewesen, daß die Wirtschaftspolitik zugunsten des Agrarsektors verlief. So protestierten bereits Ende Februar 1973 Federación Rural und Asociación Rural gegen die Politik Mederos.11^ Auf der Jahresversammlung der Federación Rural im Mai 1973 (diese Versammlungen waren immer wieder ein wichtiges Stimmungsbarometer) hielt sich die Kritik gegenüber der Regierungspolitik allerdings noch sehr in Grenzen, auch in der Rede des Präsidenten des Verbandes, Alfredo Rodríguez Seré. Verstimmung löste lediglich die Tatsache aus, daß die Vertreter der Federación Rural aus der Kommission, die den Fleischhandel kontrollierte, ausgeschlossen worden waren. Bereits 1973 versäumten es die Repräsentanten der Federación Rural aber nicht, auf Liberalisierungsmaßnahmen zu ihren Gunsten zu drängen. Dazu gehörten die Freigabe der Preise, die sich an Angebot und Nachfrage orientieren und an den Weltmarktpreisen ausrichten sollten, und ein freier Wettbewerb zwischen den Gefrierfleischfabriken. Da sich allerdings zu diesem Zeitpunkt die Lage des Agrarsektors besonders aufgrund der günstigen externen Rahmenbedingungen noch sehr positiv gestaltete, schien keine unmittelbare Dringlichkeit zur Durchsetzung der angemahnten Maßnahmen zu bestehen. 1 ! 7 In der Folgezeit wuchs aber die Skepsis der Agrarunternehmer gegenüber der Militärdiktatur, analog der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation des Agrarsektors vor allem aufgrund des Verfalls der Weltmarktpreise für Fleisch. „No sector of the Uruguayan economic elite has voiced less enthusiasm for the current regime than the rural aristocracy. Their dissatisfaction stems not from any

115 116 117

Vgl. Lerin/Torres 1987: 53. Vgl. Machado Ferrer/Fagúndez Ramos 1987: 176. Vgl. Finch 1985: 103.

Untemehmer/-verbände in der Diktatur

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concrete actions taken by the government against their interests, but from the absence of government economic support and a lack of rapport with the military." 1 ^

Überhaupt war die Ausgangsbasis für konfliktfreie, gute Beziehungen zwischen Agrarbourgeoisie und Militärs trotz anfanglich positiver Erwartungen nicht besonders günstig, da die gegenseitigen Affinitäten bereits aufgrund des jeweils sehr unterschiedlichen sozialen Hintergrundes der beiden Gruppen begrenzt waren. Die Grundstimmung der Militärs gegenüber der Agrarelite war dahingehend geprägt, daß sie diese als - wie es Handelman formulierte 1 ! 9 . Snobs betrachteten, die mit dem silbernen Löffel im Mund geboren worden seien und nie erfahren hätten, was es heißt, hart zu arbeiten. Umgekehrt brachten wohlhabende Viehzüchter ihre Geringschätzung der Streitkräfte zum Ausdruck, indem sie abwertend auf die Herkunft vieler Militärs aus der ländlichen Mittelund Unterschicht und deren mangelnde Bildung verwiesen. „To them, the military were a caste of ill-bred and uncouth upstarts who had 'muscled in'." 120 Außerdem gestalteten sich die Beziehungen zwischen Agrarsektor und Militärregierung dadurch noch komplizierter, daß der führende Blanco-Politiker und ehemalige Landwirtschaftsminister Wilson Ferreira Aldunate, der für viele Viehzüchter und Großgrundbesitzer die politische Leitfigur war, sich zum schärfsten Kritiker der Militärdiktatur aus den Reihen der beiden traditionellen Parteien entwickelte. Die, vorsichtig formuliert, eher eingeschränkte Sympathie der Militärs gegenüber der Agrarbourgeoisie kam auch zum Ausdruck, als im Jahr 1975 der Vorsitzende des Instituto Nacional de Carnes (INAC) den Gefrierfleischfabriken die Weisung erteilte, ihr Fleisch bevorzugt von kleineren Produzenten zu beziehen. Präsident Bordaberry - nicht umsonst Hoffhungsträger der Agrarbourgeoisie - setzte zunächst seine Autorität durch und widerrief diese Anweisung. Dies veranlaßte wiederum die Militärs, in diese Angelegenheit einzugreifen und als übergeordnete Instanz die ursprüngliche Direktive des INAC wieder in Kraft zu setzen. 121 Ausschlaggebend für die Unzufriedenheit der Unternehmer des Agrarsektors mit der Militärdiktatur dürfte zunächst in erster Linie die wirtschaftliche Krise Mitte der 70er Jahre gewesen sein, die besonders die Landwirtschaft betraf. Dabei unterstellt Handelman, daß es den Vertretern der wichtigsten Interessenverbände der Agrarunternehmer, Federación Rural und Asociación Rural, durchaus bewußt gewesen sei, daß diese Wirtschaftskrise hauptsächlich durch externe Faktoren verursacht worden war; ihre Kritik habe sich nun aber dagegen U8 119

120 121

Handelman 1981a: 268. Vgl. Handelman 1981a: 268. Gillespie 1991: 107. Vgl. Finch 1985: 112/113.

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gerichtet, daß die Regierung keinerlei Maßnahmen ergriffen habe, um die negativen Auswirkungen der Krise auf den Landwirtschaftssektor a b z u f e d e r n . 1 2 2 Dies wäre z.B. durch Steuererleichterungen möglich gewesen. Nachdem 1973 aufgrund des damals noch florierenden Geschäftes mit dem Verkauf von Fleisch landwirtschaftliche Steuern angehoben worden waren, sah die Regierung nun trotz starker Einnahmerückgänge im Agrarsektor keine Veranlassung, die Steuern zu senken. Offen zum Ausbruch kam der Konflikt zwischen der Militärregierung und den Agrarunternehmern im Mai 1975 auf der Jahresversammlung der Federación Rural. Nachdem der Kongreß im Jahr zuvor noch ausgefallen war, 123 nutzte nun Walter Hugo Pagés, der Präsident des Unternehmerverbandes, die Gelegenheit, in seiner Rede die Regierung öffentlich angreifen und die Wirtschaftspolitik heftig kritisieren zu können. Pagés beklagte sich darüber, daß sich die Landwirtschaft in einer ihrer schwersten Krisen überhaupt befinde. Trotz einer offiziellen Rhetorik, die den wirtschaftlichen Liberalismus und das freie Unternehmertum in den Mittelpunkt stelle, werde im landwirtschaftlichen Bereich die interventionistische Politik eher intensiviert als abgebaut; man verordne weiterhin die Kosten und Preise auf eine rein bürokratische Art und Weise. Neben dieser eher allgemeinen Kritik an der Wirtschaftspolitik der Militärregierung attackierte Pagés die Machthaber auch direkter. Er warf ihnen zum einen vor, die traditionellen Kommunikationskanäle, über die die Federación Rural in der Vergangenheit als Interessengruppe hatte operieren können, geschlossen und keine angemessenen Dialogmöglichkeiten angeboten zu haben. Zum anderen bemängelte er, daß die gesamte Volkswirtschaft durch die hohen Kosten, die die Sicherheitskräfte verursachten, ebenso belastet werde wie durch die exzessive Bürokratie und die UnWirtschaftlichkeit des öffentlichen Dienstes, wogegen nichts unternommen werde. 124 Wenngleich diese von Pagés vorgebrachte Kritik sich nicht gegen das diktatorische System insgesamt richtete und ebensowenig dessen Legitimation hinterfragte, war sie in ihrer Schärfe und Deutlichkeit aus dem Munde eines offiziellen Repräsentanten der Unternehmerschaft bis zu diesem Zeitpunkt einmalig. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Der Präsident der Federación Rural sowie zwei weitere Personen

122

Vgl. Handelman 1981 a: 269. 1 2 3 Nach Angaben von Finch war der Federación Rural keine Genehmigung zur Durchführung ihrer Versammlung erteilt worden. (Vgl. Finch 1985: 110.) Laut Machado Ferrer/ Fagúndez Ramos allerdings hatte man sich im Verband selbst dazu entschlossen, auf den Jahreskongreß zu verzichten, da dieser nicht gemäß den Statuten auf die traditionelle Art und Weise hätte durchgeführt werden können. (Vgl. Machado Ferrer/ Fagúndez Ramos 1991:56.) 124 Vgl. Finch 1985: 104.

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

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wurden vorübergehend inhaftiert. 125 Weitere Konflikte zwischen Regierung und Federación Rural blieben in der Folgezeit nicht aus. Diese waren aber insofern Ausnahmen für das Verhältnis der Unternehmer zur Militärdiktatur, als die anderen wichtigen Unternehmerverbände unverändert an ihrem wohlwollenden Kurs festhielten. „[...] estos episodios no debilitaron mayormente el persistente apoyo al gobierno, y en especial a su política económica, por parte de los grupos de presión empresariales, como lo testimonian la memoria de la Cámara Nacional de Comercio, publicitada por la prensa en junio, o el enfático respaldo brindado por el consejo directivo de la Cámara de Industrias al Presidente Bordaberry, en entrevista personal mantenida en noviembre."126

Die Beziehungen zwischen Agrarsektor und Regierung blieben gespannt. 1976 traten viele Agrarunternehmer in einen „Steuer-Streik" und erklärten sich außerstande, die geforderten Steuern zu zahlen. 127 Zwar leugnete die Federación Rural, ihre Mitglieder zu dieser Maßnahme ermuntert zu haben; es ist aber kaum vorstellbar, daß der Verband nicht in irgendeiner Form an diesem Vorgehen beteiligt war, und sei es auch nur, daß er zusammen mit der Asociación Rural als informelles Kommunikationsinstrument zur Abstimmung zwischen den Mitgliedern genutzt wurde. 128 Nachdem die Militärregierung zunächst Haftstrafen für Zahlungsunwillige angekündigt hatte, wurde dann doch eine Kommission unter Beteiligung von Vertretern der Federación Rural und der Asociación Rural eingesetzt, die über Lösungsmöglichkeiten des Konflikts beraten sollte. Die Kommission schlug Steuererleichterungen für weniger wohlhabende Agrarunternehmer vor, was als Kompromiß auch von seiten der Regierung akzeptiert wurde. Damit waren die Unstimmigkeiten zwischen den Agrarunternehmern und der Regierung aber keineswegs aus der Welt geschafft. Besonders in den Reihen der Agrarbourgeoisie, die nicht von dieser Regelung profitierte, bestand die Unzufriedenheit fort. 129 Im April 1977 wurde auf Intervention des Landwirtschaftsministers verhindert, daß in den in Montevideo erscheinenden Zeitungen eine kritische Stel125

126 127 128

129

Dabei handelte es sich um den Präsidenten der Sociedad Agropecuaria de Rocha, Ariel Arrarte Amaral, und Eduardo J. Corso. (Vgl. Federación Rural: 75° Aniversario 19151990. Montevideo 1990: 24.) Caetano/Rilla 1987: 27. Handelman schätzt, daß sich 70% oder sogar mehr der Agrarunternehmer an dieser Aktion beteiligten. (Vgl. Handelman 1981a: 269.) Nach Handelman hat die Federación Rural ihre Mitglieder zu diesem Verhalten gedrängt: „When ranchers have considered export taxes too high or have felt 'unable' to pay their land taxes (during bad years), the Federación Rural has not hesitated to urge its members to smuggle their beef out of the country (in the 1960s) or to withhold land tax payments (in 1976, under the military regime)." (Handelman 1981c: 243/244.) Vgl. Handelman 1981 a: 269/270.

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190

lungnahme der Federación Rural zur Landwirtschaftspolitik veröffentlicht wurde. Bei den Jahresversammlungen der Federación Rural sowohl 1977 als auch 1978 wurde erneut die Politik der Militärregierung öffentlich kritisiert und der bevorstehende Zusammenbruch der Landwirtschaft beklagt. Man forderte die Ausrufung des nationalen Notstandes. Die Regierung war aber weder dazu, noch zu irgendwelchen Konzessionen bereit. Im Gegenteil stellte Colonel José Severo als Repräsentant des Landwirtschaftsministeriums auf der Jahresversammlung der Federación Rural 1977 mit Blick auf den Agrarsektor lapidar fest: Wenn jemand untergehe, Pech gehabt. 130 Sicher kommt in dieser Äußerung ein erhebliches Maß an Sarkasmus und Arroganz zum Ausdruck. Gleichzeitig ist aber zu berücksichtigen, daß diejenigen, die am lautesten nach staatlichem Entgegenkommen und Vergünstigungen riefen und die Chance hatten, sich überhaupt in diese Richtung zu artikulieren, wirtschaftlich nur begrenzt unter der Situation zu leiden hatten, da sie über genügend Ressourcen verfugten. Viele Agrarunternehmer mußten aufgrund der sich verschlechternden externen Rahmenbedingungen und dem Ausbleiben von unterstützenden Maßnahmen durch die Regierung große Einbußen hinnehmen, einige waren auch in ihrer Existenz bedroht. Handelman relativiert diesbezüglich mit Blick auf die Agrarbourgeoisie aber zu Recht: „[...] the plight of the rural elite is not as grave as they would have one believe. Even in bad years, the nation's largest ranchers have more than enough accumulated capital to maintain a quite luxurious lifestyle. Moreover, to the extent that their economic position has deteriorated in recent years, their problems are largely attributable not to government policy, but to their own long-standing failure to modernize production techniques and to remain competitive internationally. Finally, the ranchers do continue to wield enough political influence to protect their most vital interests. Though the Federación Rural may complain about low meat prices set by the government and the absence of state aid or tax relief, they concede that ranchers (and farmers) have not been subjected to new punitive legislation. Nor has their grip over the nation's most vital resource (pastureland) been reduced."! 31

Die oppositionellen Stimmen aus dem Unternehmerlager kamen in den ersten Jahren der Militärdiktatur praktisch ausschließlich aus dem Agrarsektor. Diese Opposition richtete sich allerdings gegen die Wirtschaftspolitik und weniger gegen das Regime an sich, geschweige denn, daß die bestehende Herrschaftsordnung destabilisierende Systemalternativen vertreten worden wären. Auf dieser Ebene ist der plötzliche Sinneswandel zu erklären, als Ende August 1978 Vertreter der Agrarverbände ihre Unterstützung fur die Wirtschaftspolitik signalisierten. Hintergrund war der lange Zeit heftig von den Verbänden geforderte Abbau der nach 1973 fortgeführten interventionistischen Agrarpolitik mit

130 13

1

Severo, so zitiert in Finch 1985: 113. Handelman 1981a: 270.

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

191

dem bereits beschriebenen Maßnahmenpaket. 132 Die von der Regierung getroffenen Entscheidungen wurden nun als „patriotisch" gelobt. 133 Daß die Agrarunternehmer nicht völlig ihre Einflußmöglichkeiten verloren hatten, deutet sich auch dadurch an, daß 2x1m Jahreswechsel 1978/79 Jorge León Otero, ehemaliger Präsident der Federación Rural, zum Landwirtschaftsminister ernannt wurde. Es ist aber offenkundig, daß die Agrarbourgeoisie im Vergleich zur Vergangenheit Machteinbußen in wirtschaftlicher wie auch in politischer Hinsicht hinnehmen mußte, wobei dies mit einem Bedeutungsverlust des Agrarsektors für die Volkswirtschaft einherging. Im Zentrum der Wirtschaftspolitik der Militärdiktatur stand der Finanzsektor; aber auch der Industriesektor fand größere Berücksichtigung als in früheren Zeiten. 134

5.3.2.2

Die Stellung der anderen Unternehmerverbände zur Militärdiktatur

Der Industriesektor, repräsentiert durch die Cámara de Industrias, hatte der Militärdiktatur Wohlwollen und Unterstützung entgegengebracht, und man verhielt sich konsequent loyal. Gelobt wurde die Wirtschaftspolitik, weil sie ein besseres Geschäftsklima geschaffen, bürokratische Regelungen abgebaut, den Import von Rohstoffen erleichtert und „Arbeitsfrieden" gebracht habe. 135 Abgesehen von diesen allgemeinen Lobreden auf die Wirtschaftspolitik von Végh Villegas - und später von Arismendi - ging ähnlich wie im Handelssektor ein Bruch durch die Industrieunternehmerschaft, und zwar zwischen denjenigen, die von der Wirtschaftspolitik profitierten (vor allem Exporteure nichttraditioneller Güter, wie Schuhe, Lederwaren und Kleidung), und denjenigen, gegen deren Interessen sich diese Politik richtete (in erster Linie auf den 132 Vgl. Notaro 1983: 8 und 10. „Las llamadas 'medidas de agosto' contaron con la aprobación de los sectores empresariales vinculados a la ganadería, y se sucedieron las declaraciones de dirigentes de la Asociación Rural y de la Federación Rural manifestando su apoyo a los principios liberales que inspiraban las mismas [...]" (Alonso 1984: 14.) Vgl. hierzu u.a. auch Piñeiro 1985: 23. 133 Vgl. Notaro 1984b: 175. 134 „Under the present regime the rural elite's political influence has diminished relative to that of both the banking and industrial sectors. That decline has been the result both of a changing economic and trade environment as well as of new government priorities." (Handelman 1981a: 271.) 135 Vgl. Handelman 1981a: 264. Mit Blick speziell auf die Cámara de Industrias - was sich aber auch für die Unternehmerverbände anderer Wirtschaftssektoren verallgemeinern läßt - stellt Stolovich fest, daß trotz des institutionellen Bruchs im Jahre 1973 Stillschweigen bewahrt wurde, gleichzeitig viele Unternehmer aber die Gunst der Stunde nutzten und auf der Basis der von der Militärregierung erlassenen Dekrete viele der in ihren Betrieben arbeitenden aktiven Gewerkschaftler entließen. (Vgl. Stolovich 1985: 5/6.)

192

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

Binnenmarkt ausgerichtete Produzenten). Darüber hinaus konnten sich größere Firmen besser an die neue Wirtschaftspolitik anpassen als kleinere Betriebe, d.h. erstgenannte besaßen sehr viel eher die Kapazitäten, die erforderlich waren, um sich vom Binnenmarkt weg in Richtung Export zu orientieren. Viele kleine Unternehmen mußten ihre Betriebe schließen. Deren Marktanteile konnten große Unternehmen, die eher in der Lage waren zu überleben, übernehmen. 136 Entsprechend den unterschiedlichen Interessenlagen in den Reihen der Industrieunternehmerschaft war ihr Verhalten gegenüber den für die Wirtschaftspolitik Verantwortlichen. Die exportorientierten Industriellen sahen kaum Veranlassung, ihre Interessen zu artikulieren, da sie mit dem Entwicklungsstil und der implementierten Wirtschaftspolitik im Prinzip sehr zufrieden waren und sich keine fundamentalen Modifikationen des wirtschaftlichen Kurses wünschten. Dies ist ein gutes Beispiel für eine Situation, wie sie in Kapitel 1.2.3 beschrieben wurde, die sich so gestaltete, daß Einflußhandlungen der Unternehmer überflüssig waren. Demgegenüber kämpften viele von der Politik negativ betroffene Binnenmarktproduzenten um ihr Überleben, gaben ihre Zurückhaltung auf und gingen in die Offensive gegen die Wirtschaftspolitik und konkrete wirtschaftspolitische Maßnahmen. Ihre Opposition richtete sich - und dies muß ausdrücklich betont werden - nicht gegen die Militärdiktatur an sich, im Gegenteil. Es war gerade diese Gruppe von Unternehmern, die, da sie bei Vegh Villegas und in Fortsetzung später bei Arismendi kein Gehör für ihre Anliegen fanden, sehr viel mehr als Unternehmer anderer Sektoren den direkten Kontakt zu den Militärs suchten. Den betroffenen Industriellen wurde dies dadurch erleichtert, daß gewisse Affinitäten hinsichtlich des persönlichen Hintergrundes und der wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu Teilen der Streitkräfte bestanden. „Both groups tend to be of middle class origin and, despite their upward mobility, remain outsiders to the agrarian-financial aristocracy. Populist military officers are committed to continued protection of import substitution industries, while many manufactures credit the armed forces with 'restoring law and order' and ending a long period of labor-management conflict. [...] manufactures producing for the local Uruguayan market told me that the military was their staunchest ally in putting a brake on 'excessively rapid liberalization of the economy'.

Daß Binnenmarktproduzenten diese Einflußkanäle zu nutzen wußten, sich aber gleichzeitig ihrer Sache nie absolut sicher sein konnten, zeigt sich am deut136 „For example, General Electric and TEM, the two largest producers of refrigerators, water heaters, and kitchen ranges for local consumption, have seen most of their competitors go bankrupt as the result of declining sales. Consequently, although the total sales volume of these products has declined, the two dominant firms have more than compensated by increasing their share of the domestic market." (Handelman 1981a: 265.) 137 Handelman 1981a: 266.

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

193

lichsten an einem Beispiel aus der Automobilindustrie, wo es ausnahmsweise sogar zu einer direkten Konfrontation zwischen Industrie und Regierung kam. Nachdem Ende der 60er Jahre der Import von Autos eingeschränkt worden war, erlebten die Montagebetriebe in Uruguay einen Aufschwung. Denn ausländische Automobilhersteller, die sich den uruguayischen Markt erschließen wollten, mußten die Einzelteile nach Uruguay importieren, wo sie dann zu Fahrzeugen zusammengesetzt wurden. Im Oktober 1975 jedoch gab Végh Villegas zum Mißfallen der einheimischen Automobilindustrie zu erkennen, daß in seinem Ministerium an einem Dekret für den Abbau der Einfuhrschranken fur Autos gearbeitet werde. Wie sich in den Monaten darauf zeigen sollte, ließ sich das geplante Dekret aber (zunächst) nicht in die Tat umsetzen: „Faced with the approaching demise of their industry, auto assembly executives joined with vehicle parts companies (particularly FUNSA, manufacturer of tires and auto batteries and Uruguay's largest private industrial employer) and CIU officers in approaching sympathetic military officials [...]. Arguing that the decree would result in the loss of 2,000 jobs in the assembly industry and 5,000 more in the auto parts and other related industries, they lined up strong military opposition to the prospective change. Six months after the first announced plans for import liberalization Vegh Villegas told the head of the Association of Automotive Assemblers that the issue was not important enough for him (Vegh) to become entangled with and that he was passing it on to the Ministry of Industry. The matter died there and the proposed auto decree was not issued." 8

Allerdings war dieses Vorhaben nicht komplett aufgegeben worden. Denn 1980, fiinf Jahre nachdem die Pläne von Végh Villegas bekannt geworden waren, wurde nun doch die zollfreie Einfuhr von fertig montierten Autos verfugt. Als Folge mußten die bestehenden Montagebetriebe schließen, und es gingen ca. 7.000 Arbeitsplätze verloren.! 39 Die anfanglich erfolgreichen Bemühungen der Industrie, diese Maßnahme der Regierung zu Lasten der einheimischen Industriebetriebe zu verhindern, waren damit gescheitert. Der Finanzsektor war derjenige, der am meisten von der Politik unter Végh Villegas profitierte. 140 Es war auch in erster Linie die Asociación de Bancos, die über besonders gute Zugangsmöglichkeiten zum Wirtschafts- und Finanzminister verfugte. Nicht umsonst kam dieser unmittelbar aus dem Bankwesen in das Regierungsamt, so daß sich viele Kontakte auf der Ebene der persönlichen Beziehungen abspielen konnten. Trotz dieser Verflechtungen vor allem zum Finanzsektor wäre es zu einfach und würde auch der Persönlichkeit von Végh Villegas nicht gerecht, wenn davon ausgegangen würde, die Banken hätten die Wirtschaftspolitik diktiert und Végh Villegas sei lediglich ein Werkzeug in deren Händen gewesen. Aber allein dadurch, daß die Wirtschaft aus derselben '38 Handelman 1981a: 267. 139 Vgl. Kroch 1991: 130. 140 vgl. u.a. Martorelli 1982a: 79.

194

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

ideologischen Perspektive betrachtet wurde, ergaben sich viele Übereinstimmungen in den wirtschaftspolitischen Vorstellungen. 141 Eine unmittelbare Einflußnahme war damit überflüssig. Wie nun in Einzelfällen konkret Einfluß genommen wurde, blieb der Öffentlichkeit in der Regel verborgen und läßt sich deswegen kaum nachvollziehen. Dabei ist dies nicht nur auf den Regimetyp und die von der Militärdiktatur gesetzten Rahmenbedingungen zurückzuführen, sondern generell auch auf die Handlungsstrategie der Asociación de Bancos. Denn sie agierte bevorzugt abseits der Öffentlichkeit, so daß sie im Bewußtsein von großen Teilen der uruguayischen Bevölkerung nicht als Interessengruppe wahrgenommen wurde bzw. vielen als Organisation überhaupt nicht bekannt war. Neben der Asociación de Bancos war es im Handelssektor die Cámara Nacional de Comercio, der es aufgrund der persönlichen Kontakte relativ leicht fiel, mit Végh Villegas in Verbindung zu bleiben. Es ist nicht verwunderlich, daß sie nachhaltig ihre Unterstützung der Regierung bekundete, so geschehen im Jahresbericht 1975 des Verbandes. 142 In der Cámara Nacional de Comercio dominierten die Interessen, die auf eine Liberalisierung des Finanzsektors im besonderen und der gesamten Volkswirtschaft im allgemeinen setzten. Damit lagen sie auf einer Linie mit Végh Villegas, repräsentierten als Interessengruppe aber nur einen Teil der in der Cámara Nacional de Comercio formal organisierten Unternehmerschaft, nämlich den Großhandelsbereich. Dies läßt sich an einem Beispiel verdeutlichen. 143 Der Einzelhandel wurde durch die zurückgehende Nachfrage aufgrund der Einbrüche in der Reallohnentwicklung Mitte der 70er Jahre 144 in Mitleidenschaft gezogen. Als dann nach der massiven Abwertung des Peso im benachbarten Argentinien Ende 1975/Anfang 1976 viele uruguayische Konsumenten auf den argentinischen Markt auswichen, bedeutete dies eine zusätzliche, in vielen Fällen existenzbedrohende Belastung des Einzelhandels. Ende 1976 sahen sich die Einzelhändler veranlaßt, durch eine Anzeigenkampagne die Regierung dazu zu drängen, von der Politik der Reallohnsenkungen Abstand zu nehmen, um die Kaufkraft nicht immer weiter einzuschränken. Dies war ebenso erfolglos wie das zuvor bei einem der wenigen Zusammenkünfte der Einzelhändler mit Végh Villegas Anfang des Jahres vorgebrachte Anliegen, durch schärfere Zollregelungen zu verhindern, daß viele Uruguayer sich in Argentinien versorgen und die Waren dann nach Uruguay einfuhren konnten. Beiden Aktionen war auch deshalb kein Erfolg beschieden, weil sie aufgrund der anders ausgerichteten Interessen nicht

141

Vgl. Handelman 1981a: 261/262. Vgl. Caetano/Rilla 1987: 27. Vgl. hierzu Handelman 1981a: 262-264. 144 1975 gingen die Reallöhne um 8,8% zurück. (Vgl. Tabelle 10 im Anhang.) 142

143

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

195

den Rückhalt des sektoriellen Dachverbandes Cámara Nacional de Comercio fanden.

5.3.3

Die schrittweise Rückkehr zur Demokratie 1980-1984 und die Bedeutung der Unternehmer

Ende 1979, vermutlich in der letztendlich falschen Gewißheit der Fortschreibung ihrer Macht durch das für das kommende Jahr geplante Verfassungsreferendum, tolerierte die Militärregierung erstmals seit der Machtübernahme 1973 zwei Streiks im Industriesektor; das generelle Streikrecht wurde allerdings weiterhin nicht zugestanden. 145 Die CNT blieb verboten, konnte sich deshalb auch nicht politisch artikulieren. In einer anderen Situation befanden sich die Unternehmerverbände, die prinzipiell dazu in der Lage waren, sich etwa zum Referendum des Jahres 1980 oder zu den parteiinternen Wahlen 1982 politisch zu äußern. Nach Angaben von Notaro geschah allerdings nichts dergleichen: „En ninguno de los dos casos existieron tomas de posición de las organizaciones gremiales [,..]." 146 Die generell unterschiedlichen Positionen von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden kamen auch zum Ausdruck, als im Mai 1981, wie bereits in Kapitel 4 erwähnt, eine gesetzliche Regelung zur Bildung von Arbeitnehmerund Arbeitgebervereinigungen erlassen wurde. Zunächst einmal war die Ausgangslage für beide verschieden, da erstere in den zurückliegenden Jahren nicht zugelassen waren, letztere demgegenüber keine formalen Einschränkungen hinnehmen mußten. Des weiteren sollte diese Ley de Asociaciones Profesionales zwar - was auf den ersten Blick als Fortschritt hätte gesehen werden können die Bildung von gewerkschaftsähnlichen Vereinigungen ermöglichen; auf den zweiten Blick aber wird deutlich, daß damit die Militärregierung eine starke und einheitliche Gewerkschaftsbewegung verhindern wollte, indem eine Vielzahl von kleinen Berufsvereinigungen geschaffen werden sollte, die als Interessenvertretungen einer „atomisierten" Arbeiterschaft nur über sehr begrenzte Möglichkeiten verfugt hätten. Entsprechend hart wurde das Gesetz von ehemaligen Gewerkschaftern kritisiert. 147 Demgegenüber kam es von Unternehmerseite zu 145 14

°

147

Vgl. Handelman 1981c: 275. Notaro 1983: 14. Notaro weist in diesem Zusammenhang aber darauf hin - jedoch ohne Beispiele zu nennen -, daß einige der Verbandsführer sehr wohl Stellung bezogen hätten, allerdings als Privatperson und nicht in ihrer Funktion als Repräsentant eines Verbandes. Zu denjenigen, die 1980 gegen den Verfassungsentwurf der Militärs waren, soll der damalige Präsident der Federación Rural, Gonzalo Chiarino Milans, gehört haben. (Vgl. Lerin/Torres 1987: 119.) Zu dem Gesetz und der Kritik daran im einzelnen sowie zum folgenden vgl. Martorelli 1982a: 83-87.

196

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keinen öffentlichen Protesten oder kritischen Stellungnahmen zu dem Gesetz, was vermuten läßt, daß sie es akzeptierten und durch die neuen Regelungen keine Beeinträchtigungen befürchteten. Die Beziehungen der Unternehmer zur Militärregierung schienen durch dieses Gesetz jedenfalls nicht belastet gewesen zu sein. Vielmehr waren es andere Entwicklungen, die das Verhältnis Unternehmer - Militärregierung störten, auf die im folgenden eingegangen wird. In den Ereignissen des Jahres 1980 manifestierte sich nicht nur wegen des verlorenen Plebiszites der Anfang vom Ende der Militärdiktatur. Im Verlauf des Jahres wurde deutlich, daß die Regierung langsam den Rückhalt der Unternehmer zu verlieren drohte. Noch Ende der 70er Jahre war der bis dahin praktisch einzige der großen traditionellen Unternehmerverbände, der den Entwicklungsstil kritisierte, die Federación Rural, aufgrund der modifizierten Wirtschaftspolitik des Regimes auf einen moderateren Kurs eingeschwenkt. Nun aber sollte nicht nur die Federación Rural zur ihrer alten Kritik an der Wirtschaftspolitik zurückkehren, sondern auch andere Unternehmerverbände distanzierten sich zunehmend. Die systemstabilisierende Loyalität, die die Unternehmer bis dahin gegenüber dem Regime gezeigt hatten, bekam erste Risse. Die Euphorie im Agrarsektor, die aufgrund der wirtschaftspolitischen Maßnahmen vom August 1978 eingesetzt hatte, war nur von kurzer Dauer. Nach dem damaligen unvermittelten Stimmungsumschwung zugunsten der Militärregierung mußten die Agrarunternehmer bereits Anfang 1980 erkennen, daß die von ihnen favorisierte Entwicklungsstrategie nicht zum Erfolg führte und die Krise der Landwirtschaft nicht überwunden war. In der Folgezeit spitzte sich für viele Unternehmer, die sich total überschuldet hatten, die Lage sogar dramatisch zu. Die so positiv bewerteten Schritte von 1978 sollten ungewollt z.T. verheerende Auswirkungen haben: „Im August 1978 hatte Feststimmung unter den Estancieros geherrscht: Valentin Arismendi hatte die Fleischpreise freigegeben. Auf dem Binnenmarkt stiegen sie in einer Woche um 45 Prozent. Es sollte der Ruin für viele Viehzüchter werden. Im Geldrausch nahmen sie große Bankkredite auf, um ihre Weiden zu vergrößern, ihre Rinderrassen durch Zuchtstiere zu verbessern. Nachdem sich die Tiere von 8 Millionen auf 11,5 Millionen vermehrt hatten, war die Konjunktur vorüber, die Fleischausfuhr an Zollmauern abgeprallt und die Preise auf dem Weltmarkt gefallen. Heute noch zahlen viele Estancieros an ihren Bankschulden." 148

Entsprechend der wirtschaftlichen Krisensituation nahmen die kritischen Stellungnahmen gegenüber der Militärregierung und die Forderungen nach staatlichen Unterstützungen wieder zu. Hauptkritikpunkte der Agrarunternehmen waren die mit der tablita im voraus angekündigten, unangemessenen Abwer148

Kroch 1991: 130/131. Allein zwischen 1977 und 1980 stieg die reale Verschuldung des Agrarsektors um 250%. (Vgl. Finch 1985: 110.) Vgl. hierzu auch Pineiro 1988: 10.

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

197

tungen der einheimischen Währung, das Verbot, lebendes Vieh auszuführen (diese Maßnahme hatte die Regierung ergriffen, um die Versorgung für den Binnenmarkt zu sichern und gleichzeitig die fleischverarbeitende inländische Industrie zu fördern), sowie die nicht eingehaltene Zusage vom August 1978, freie Zugangsmöglichkeiten zur fleischverarbeitenden Industrie zu schaffen. 149 Nachdem bereits 1980 wieder erste Forderungen von Federación Rural und Asociación Rural an die Regierung gerichtet worden waren, erklärte im folgenden Jahr die Federación Rural, die Wirtschaftsequipe habe nicht das Vertrauen der Agrarproduzenten. 150 Der Jahreskongreß der Federación Rural 1981 - die Versammlung wurde nach Durazno verlegt, da keine Genehmigung zur Durchführung der Veranstaltung in Montevideo erteilt worden war 151 - kann wieder als Gradmesser der Unzufriedenheit der Agrarunternehmer mit der Regierung verstanden werden. Trotz kleinerer Zugeständnisse der Regierung war die Lage gespannt, und Proteste auf dem Kongreß 1981 blieben nicht aus. So kam es zur härtesten Kritik an den Machthabern, die bislang auf einer öffentlichen Veranstaltung der Unternehmer geäußert worden war. 152 Nach dem Amtsantritt von General Gregorio Alvarez im September 1981 wurden wirtschaftspolitische Veränderungen zugunsten der Landwirtschaft eingeleitet. Alvarez, der sich vermutlich die Unterstützung des Agrarsektors für seine mögliche Präsidentschaftskandidatur bei den Wahlen 1984 sichern wollte, räumte mit der Durchsetzung von Schuldenrefinanzierungsmaßnahmen, Steuersenkungen und Subventionen den Agrarunternehmern größere Zugeständnisse ein. „The measures were estimated to entail financial transfers to the sector of US $60m. from the State and at least US $40m. from the private banks. [...] The willingness of the latter to accept so substantial a loss reflected the seriousness of the rural debt problem." 153 Aber diese Maßnahmen brachten keine entscheidende Entspannung der Lage. Auf dem Jahreskongreß wurde deutlich signalisiert, daß die Wirtschaftspolitik der Regierung keine Unterstützung fand, und es wurde sogar der Rücktritt der gesamten Wirtschaftsequipe gefordert. 154 Die Brisanz der damaligen Situation wird auch dadurch deutlich, 149

Vgl. Finch 1985: 106. Vgl. Notaro 1984a: 149 und Notaro 1989a: 5. Vgl. Finch 1985: 113. 152 Vgl. Piñeiro 1984: 178. Zentrales Thema auf dem Kongreß war die Verschuldung der Agraruntemehmen. Entsprechende Stellungnahmen sowie die Versprechungen des damals amtierenden Landwirtschaftsministers auf der Versammlung finden sich wiedergegeben in: Federación Rural: 75° Aniversario 1915-1990. Montevideo 1990: 4045. Dort werden auch weitere diesbezügliche Aktivitäten der Federación Rural, die z.T. zusammen mit der Asociación Rural durchgeführt wurden, erwähnt. U.a. widmete die Federación Rural 1981 auch eine Ausgabe ihrer Zeitschrift komplett dem Thema Verschuldung. 153 Finch 1985: 107. 154 Vgl. Piñeiro 1984: 178. 150 151

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daß im Zuge dieser Entwicklungen zeitgenössische Beobachter eine weitere Verschärfung des Konfliktes zwischen Federación Rural und Militärregierung befürchteten, die die Machthaber zu einem harten Durchgreifen gegen die Kritiker hätte provozieren können; Auseinandersetzungen, die sich bislang völlig auf die Mikroebene beschränkt hatten, drohten nun auf das Gesamtsystem überzugreifen und die MakroStabilität zu gefährden: „No podemos prever hasta cuando los militares tolerarán las manifestaciones hostiles de los dirigentes y órganos directivos de la Federación Rural. Con todo suponemos que la paciencia del Gobierno no es ilimitada puesto que el autoritarismo puede pretender éxito global en la medida en que no tolere fisuras irreductibles. Ningún otro enfrentamiento entre patrones y el Gobierno aparece tan grave como el indicado en el panorama político u r u g u a y o . " ^ 5

Die bereits angesprochene Kurzfristigkeit der positiven Folgen für den Agrarsektor durch die Maßnahmen vom August 1978 zeigt sich auch in der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts für den Sektor: Graphik 12: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Agrarsektor während der Militärdiktatur (durchschnittliche jährliche Variation in %)

8

6 4 2

0 -2

-4 -6 1974-1978

1979-1981

1982-1984

Quelle: Graphik 4 in Kapitel 3; siehe dort auch die genauen Daten.

Die wirtschaftliche Krise verschärfte sich im Laufe des Jahres 1982, und die durch Überschuldung verursachten Probleme der privaten Unternehmen nahmen nicht nur im Agrarsektor immer größere Ausmaße an. 156 Auch die lange von den Agrarunternehmern geforderte und im November 1982 erfolgte Aufhebung der antizipierten Abwertung durch die tablita und die Freigabe der Wechselkurse konnten das wirtschaftliche Desaster nicht verhindern. Im Gegenteil: Die weiter um sich greifende Zahlungsunfähigkeit vieler privater Schuldner 155

Martorelli 1982a: 87. 156 In die Klagen über Verschuldungen stimmte auch die Unión de Exportadores ein. (Vgl. Latin America Regional Reports: Southern Cone Report. RS-82-10 vom 24.12.1982.)

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

199

führte nun dazu, daß die wirtschaftliche Krise sogar auf den Finanzsektor übergriff. Die daraufhin von der Regierung eingeleiteten Maßnahmen (dazu zählte besonders die bereits beschriebene Übernahme von Krediten in Höhe von 600 Millionen US-Dollar, die von den Privatbanken als uneinbringlich betrachtet worden waren) kamen dem Finanzsektor zugute. Die Militärdiktatur zog damit den Unmut fast der gesamten Gesellschaft auf sich. Aus den Kreisen der Unternehmerschaft opponierte nicht mehr nur die Federación Rural gegen die Politik der Machthaber, wenngleich die Kritik der Agrarunternehmer insgesamt die schärfste aus dem Unternehmerlager insgesamt bleiben sollte. Im März 1982 wurde in der Zeitschrift der Federación Rural die Lage im Agrarsektor folgendermaßen zusammengefaßt: „Endeudamiento asfixiante; absoluta falta de rentabilidad en las explotaciones agropecuarias; tributación que en nombre de falsas expectativas finalistas, desnuda a diario su fin primordial de satisfacer la insaciable voracidad fiscal de un Estado sobredimensionado en su presupuesto; embargos, ejecuciones, crisis: Expresiones éstas que han constituido el lenguaje habitual de todas las jornadas ruralistas; conceptos que son el tema obligado de la rueda del mate, de las tertulias en las ferias, o de las reuniones de los dirigentes [ . . . ] . " ! "

Wurde noch in den 70er Jahren in erster Linie der landwirtschaftliche Sektor mit wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, so griff dies Anfang der 80er Jahre auf die Industrie, den Handel und den Dienstleistungsbereich über und gipfelte in einer gesamtwirtschaftlichen Krise. Viele Industriebetriebe und Geschäfte mußten schließen, die Verschuldung von Unternehmen nahm z.T. dramatische Ausmaße an, die Arbeitslosigkeit wuchs ebenso wie das Haushaltsdefizit. 158 Ohne Zweifel hat dieses ökonomische Desaster der Militärdiktatur dazu beigetragen, daß die Redemokratisierungswelle einen so breiten gesellschaftlichen Rückhalt fand. Auch die Unternehmerverbände, die trotz nach außen getragener Zurückhaltung gegenüber dem Putsch 1973 die soziale Basis des autoritären Regimes gebildet hatten, gingen nun deutlich auf Distanz zur Regierung. „Jetzt war es schon nicht mehr die Arbeiterschaft und der Mittelstand allein, die Widerstand leisteten. Die Militärs hatten es erreicht, alle Uruguayer, mit Ausnahme der Bankiers und der Finanzspekulanten gegen sich aufzubringen. [...] Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte die Militärregierung zugesehen, wie die Arbeitslosigkeit anstieg, eine Fabrik nach der anderen schloß, eine Estancia nach der anderen zwangsversteigert wurde. Erst als die Banken an der Kreislaufstörung selbst zu ersticken drohten, leitete man eine Umschuldungsoperation ein. Ein Drittel der Schulden der Industrie- und Handelsunternehmen wurde gestundet, wobei die Privatbanken entschieden, bei wem, wieviel und welche erforderlichen Garantien zu leisten waren. Die zweijährige Atempause kostete sie keinen Cent. Mit 160 Millionen sprang die Zentralbank ein und zahlte an die Privatbanken die ausfallenden Zinsen, die dann,

157 158

So zitiert nach Alonso 1984:16. Vgl. Rial 1984a: 200.

200

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984 dem Schuldkonto zugebucht, von den Schuldnern mit Zinseszinsen vom dritten Jahr an zurückgezahlt werden sollten."! 59

Anfang der 80er Jahre ging die Cámara de Industrias, von der bis dahin kaum kritische Stellungnahmen gegen die Militärdiktatur zu hören gewesen waren, in die Offensive. Zwar gab es damals noch Erklärungen, mit denen die Wirtschaftspolitik gelobt wurde, wie in einem im Januar 1981 veröffentlichten Dokument; 160 insgesamt aber setzte ein Stimmungsumschwung in den Führungsetagen der Cámara de Industrias ein. Im Dezember 1981 beklagte man sich in einem Brief an Präsident Alvarez über die kritische Lage im Industriesektor und mangelnde Konsequenz in der Umsetzung der Wirtschaftspolitik: 161 Anläßlich des Día de la Industria im vorhergehenden Monat - so im Text des Briefes - habe sich der Verband diesbezüglich bereits in einem Memorandum an den Präsidenten persönlich gewandt. Da nun aber Gespräche mit den beiden Ministern für Industrie und Energie sowie Wirtschaft und Finanzen „destimulierende Resultate" gebracht hätten, bleibe kein anderer Weg, als sich erneut an den Präsidenten zu wenden. Was sich im Grundtenor dieses Schreibens der Cámara de Industrias andeutet, gilt für die Art der aufkommenden Kritik aus dieser Richtung an der Regierung für die Jahre 1980 und 1981 insgesamt. Während in dieser Zeit noch vorsichtig und mit höflicher Zurückhaltung der Besorgnis über die Wirtschaftspolitik - schwerpunktmäßig mit Blick auf die Zollsenkungen und den Abbau der exportstimulierenden Maßnahmen - Ausdruck verliehen wurde, schlug man dann 1982 eine härtere Gangart an. 162 Der Präsident des Verbandes erklärte auf dem Día de la Industria: „[lo] que está en juego [...] no es la supervivencia de un determinado modelo económico, sino toda la actividad productiva del país, y con ella, el bienestar y la felicidad de la comunidad nacional [.,.]." 163 Die sich verschärfenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Industriesektor lassen sich u.a. anhand des massiven Einbruchs in der Entwicklung des sektoriellen Bruttoinlandsprodukts illustrieren:

159 160 161 162 163

Kroch 1991: 133/134. Vgl. Bruera 1991a: 9. Zum folgenden vgl. Carta de la Cámara de Industrias al Presidente de la República, abgedruckt in Martorelli 1982b: 98-101. Vgl. Notaro 1984a: 149/150. Filgueira 1990: 491.

201

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

Graphik 13: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im Industriesektor während der Militärdiktatur (durchschnittliche jährliche Variation in %)

6 4 2

0 -2

-4 -6

-8

1974-1978

1979-1981

1982-1984

Quelle-. Graphik 6 in Kapitel 3; siehe dort auch die genauen Daten.

Anfang 1982 rief die Cámara de Industrias ihre Mitglieder zu einer außerordentlichen Versammlung (der ersten außerordentlichen Versammlung überhaupt in der Geschichte der Cámara de Industrias164), auf der nun auch die Regierung direkt angegriffen wurde. In der von den Mitgliedern Mitte Februar 1982 verabschiedeten Erklärung bekundete man zunächst Übereinstimmung mit den auf „Stabilität" und der „Bewahrung des sozialen Friedens" ausgerichteten Zielen der Regierung im Rahmen einer Wirtschaftsordnung, die auf den Prinzipien der Privatinitiative und der Subsidiarität beruhe. Danach wurden allerdings kritischere und in dieser Form außergewöhnliche Töne laut, die darauf hindeuten, daß die Industrieunternehmerschaft mittlerweile immer mehr ihre Basisinteressen gefährdet und sich deswegen zum kollektiven Handeln veranlaßt sah. Der Regierung wurde explizit mangelnde Flexibilität in der Wirtschaftspolitik und unzureichende Konsequenz bei der Durchsetzung der von ihr angekündigten Maßnahmen vorgeworfen. Vor allem hätten die Forderungen nach Effizienz, die an den Privatsektor und besonders die Industrie gerichtet worden seien, nicht den öffentlichen Dienst erreicht. Der Consejo Directivo als leitendes Organ des Verbandes, die Mitgliedsorganisationen sowie Industrieunternehmen hätten alle zur Verfugung stehenden Mittel ausgeschöpft, um die Regierung auf den Niedergang der nationalen Industrie aufmerksam zu machen. Unzählige Studien und Untersuchungen, Stellungnahmen, Memoranden und Berichte seien auf allen Ebenen der Regierung übergeben worden, genau so wie mit dieser eine Vielzahl von Unterredungen stattgefunden hätte und „abwägende Erklärungen" in den Massenmedien abgegeben worden seien. Auf 164

Vgl. Rial 1984a: 221 und Rial 1984b: 63. Zum folgenden vgl. Declaración de la asamblea de empresarios integrantes de la Cámara de Industrias, abgedruckt in Martorelli 1982b: 102-106. Siehe hierzu auch Filgueira 1990: 491-493.

202

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

all dies habe es - so wörtlich - keine angemessene Antwort gegeben, und wenn es überhaupt eine Antwort gegeben habe, sei sie in vielen Fällen partiell und verspätet erfolgt. Deswegen müsse nun der „Notstand der nationalen Industrie" verkündet werden. All diese Äußerungen sind deutliche Indikatoren dafür, daß nunmehr in der Wahrnehmung der Unternehmer das Regime nicht länger die gewünschten Leistungen erbrachte, von Effizienz und Erfolg kaum noch die Rede sein konnte. Von der Versammlung wurde des weiteren ein Maßnahmenpaket erarbeitet, welches in dieser Erklärung vorgestellt wurde und dessen Umsetzung die Cámara de Industrias nun von der Regierung forderte. Zudem wurde auf eine stärkere Beteiligung des Verbandes bei den zu treffenden wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Regierung gedrängt. Die angespannte Lage zwischen der Cámara de Industrias und der Regierung führte bis hin zur offenen Konfrontation. Als Folge der in diesem Außmaß ungewohnten Kritik aus den Reihen der Industrie, die von der Regierung wegen ihres „politischen Charakters" zurückgewiesen wurde,! 65 weigerte sich einige Tage danach Innenminister General Trinidad, eine Delegation der Cámara de Industrias zu empfangen. 166 Zusammmenfassend charakterisieren Caetano/Rilla die Stimmung in der Unternehmerschaft gegenüber der Militärdiktatur im Jahr 1982 folgendermaßen: „[...] la dictadura perdía crédito entre las diversas fracciones de los sectores dominantes. Salvo la alta finanza alentada por la especulación, los demás grupos de la clase alta fueron restando su apoyo - o su silencio - de manera cada vez más explícita. En febrero lo hicieron los industriales - que hasta ese momento se habían mostrado mucho más oficialistas que los ganaderos -, mediante una fuerte crítica a la política económica. En junio lo hizo la Federación Rural (su presidente el Dr. Gonzalo Chiarino Milans había manifestado su adhesión personal al NO durante el año anterior): 'la orientación económica - decía la declaración de la gremial - no tiene ningún sustento en ningún sector de la actividad productiva y por lo tanto debe dejar su lugar•'. Era claro que para un gobierno que apostaba tanto a los triunfos en el frente económico para sustentar sus apoyos, oposiciones de este calibre le resultaban muy comprometedoras."' 6 ^

Die Aufnahme offizieller Verhandlungen zwischen Parteien und der Militärregierung im Mai 1983 wurde von der Federación Rural nachhaltig begrüßt. Im selben Monat auf der Jahresversammlung des Verbandes hieß es: „EL 66° CONGRESO ANUAL DE LA FEDERACION RURAL DECLARA: Su profunda satisfacción por el comienzo de las conversaciones entre Gobierno y Parti165

Vgl. Rial 1984a: 221. 166 vgl. Gillespie 1991: 108. „El Ministro del Interior consideró que la resolución indicaba un clima de 'presión, desafío y enfrentamiento', por lo que justificó la negativa del gobierno a recibir a una delegación de la gremial." (Notaro 1984a: 150.) 167 Caetano/Rilla 1987: 84. (Hervorhebung im Original)

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

203

dos Políticos, con las que se ha puesto definitivamente en marcha el proceso hacia la normalización institucional del País. La Federación Rural fiel a sus Estatutos y sin perder de vista su condición intrínseca de entidad estrictamente gremial, y por tanto, no comprometida en el quehacer partidario, expresa su exigencia de que el mantenimiento del diálogo devuelva urgentemente al País, al vigencia plena de una auténtica democracia representativa en la cual, todos los ciudadanos, sin ningún tipo de privilegios ni exclusiones, puedan gozar plenamente de sus libertades y derechos, con las garantías tradicionalmente establecidas en nuestros textos constitucionales."! 68

Bei aller Kritik der Federación Rural in den vergangenen Jahren war dies die erste Forderung des Verbandes, die direkt und explizit auf die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen zielte. 169 Damit wurde von sehen der Unternehmer nun erstmals ernsthaft eine realistische und zu bevorzugende Systemalternative vertreten, gemäß der Festlegungen in Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit also der entscheidende Schritt zur politischen Destabilisierung des Regimes vollzogen. Trotz der in der Vergangenheit z.T. harten Kritik an der Militärregierung war diese bis dahin - vielleicht mit Ausnahme der bereits erwähnten Parteinahme des Präsidenten der Federación Rural gegen das Verfassungsreferendum der Militärs im Jahr 1980, die aber eine Einzelaktion geblieben war - doch immer auf wirtschaftspolitische Aspekte und damit auf die Mikroebene reduziert gewesen und stellte nicht etwa das autoritäre System als solches in Frage. Dies sollte sich nun ändern. 1983 war die Federación Rural im übrigen sehr viel aktiver als die anderen großen Unternehmerverbände, sofern diese überhaupt Partei ergriffen - auch an den Massenmobilisierungen gegen die Militärdiktatur beteiligt. So veranstaltete sie den Día del Trabajador Agropecuario Nacional und erklärte am 15. Juni 1983 einen Landwirtschaftsstreik, woraufhin ihr Vorsitzender verhaftet wurde. 1 7 0 Aus den Reihen der politischen Parteien wurde verstärkt versucht, die Unternehmer als gesellschaftliche Gruppe in die Bewegung gegen die Militärdiktatur zu integrieren und in die Organisation kollektiver Projekte gegen die bestehende Herrschaftsordnung einzubeziehen. Mitte 1983 wurden Überlegungen laut, eine neue Intersectorial unter Beteiligung der offiziellen Interessenorgane der Unternehmerschaft zu etablieren. 171 Ende Mai nahmen Vertreter der Parteien diesbezüglich Gespräche mit den bislang der Intersectorial angehörenden Gruppen auf sowie zusätzlich mit der Cámara Nacional de Comercio, der Cámara de Industrias, der Asociación Rural und der Federación Rural.' 72 168 Federación Rural: 75° Aniversario 1915-1990. Montevideo 1990: 48. (Hervorhebung C.W.) 169 vgl. dazu auch Piñeiro 1984: 178. 170 Vgl. Caetano/Rilla 1987: 94 und Kroch 1991: 138. 171 Vgl. Berretta 1989: 14. 172 Vgl. Francés/Dieste 1985: 217.

204

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

Wenngleich sich die Unternehmerverbände nicht sofort an der Inter sectorial beteiligten, war damit ein wichtiger Schritt zu einem breiten Konzertierungsprozeß getan, der ein Vierteljahr später mit der CONAPRO einen entsprechenden Rahmen bekommen sollte. Die Rückkehr von Végh Villegas in das Amt des Wirtschafts- und Finanzministers Ende 1983 trug nicht dazu bei, alte Loyalitäten und die positive Grundstimmung der Unternehmer gegenüber dem autoritären Regime, wie sie noch während seiner ersten Amtszeit geherrscht hatte, wiederherzustellen. Zwar zeigten sich die Führer wichtiger Unternehmerverbände, wie Asociación de Bancos, Cámara de Industrias, Cámara Nacional de Comercio und Unión de Exportadores zunächst zufrieden, daß Végh Villegas wieder die Wirtschaftspolitik bestimmen sollte, da sie mit seiner Amtsführung aufgrund der Erfahrungen Mitte der 70er Jahre wirtschaftliche Prosperität verbanden. 173 Sehr schnell wurden die mit seiner Amtsübernahme verknüpften Hoffhungen der Unternehmer aber enttäuscht. Végh Villegas blieb angesichts der Wirtschaftskrise kaum Handlungsspielraum; die Möglichkeiten, über die er noch verfugte, nutzte er im Prinzip dazu, eine Politik zu implementieren, die das Überleben des bedrohten Finanzkapitals sicherte. Dementsprechend war ihm zwar weiterhin die Unterstützung der Asociación de Bancos gewiß, nicht länger aber die der anderen Unternehmerverbände. Die Federación Rural kritisierte auf ihrem Kongreß im Juni 1984, daß die Verschuldung des Agrarsektors weiterhin ein ungelöstes Problem sei, und auch Unión de Exportadores sowie Cámara de Industrias bezogen Stellung gegen die verfolgte Wirtschaftspolitik. 174 Végh Villegas wurde nun auch persönlich angegriffen. Ihn kritisierte im August 1984 der Präsident der Cámara de Industrias, José Villar: „No entendemos cómo un hombre tan sapiente, que estuvimos admirando como nuestro Ministro de Economía, pueda decir muy tranquilamente que no moverá un solo dedo para cambiar o hacer algo por la situación del país." 175 Nach der Einschätzung von Berretta haben Asociación Rural und Federación Rural in der Endphase der Diktatur eine wichtige Rolle in der Opposition gegen die Streitkräfte gespielt. 176 Dies trifft für die Federación Rural mehr zu als für die Asociación Rural. Es hat aber nicht in der Form Gültigkeit, daß diese Verbände - geschweige denn andere Unternehmerverbände eine Protagonistenrolle im Widerstand gegen die Diktatur eingenommen hätten. Die Bedeutung der über die genannten Verbände bezogenen Positionen der Unternehmerschaft ist in erster Linie darin zu sehen, daß den Militärs deutlich

173 174 175 176

Vgl. Notaro 1984b: 244. Vgl. Notaro 1984a: 155/156. Villar, so zitiert in Notaro 1984b: 244. Vgl. Berretta 1989: 20.

Unternehmer/-verbände in der Diktatur

205

vor Augen geführt wurde, wie allein sie inzwischen standen. In der Opposition zur Diktatur kamen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen gewisse „Solidarisierungseffekte" auch über ansonsten recht hohe, oft ideologisch begründete Schranken insofern auf, als man sich gemeinsam gegen die Militärdiktatur abgrenzte und diese immer mehr in die gesellschaftliche Isolation drängte. Diese Zusammenarbeit war aber besonders von Seiten der Unternehmerverbände sehr eingeschränkt, was sich u.a. darin äußerte, daß sie im Zuge von verstärkt wieder aufkommenden Streiks und Arbeitsniederlegungen an die Militärregierung appellierten, das Streikrecht einschränkend zu reglementieren. 177 Zudem blieben die Unternehmerverbände zurückhaltend, wenn es um die Teilnahme an Kundgebungen und gemeinsamen Aktionen gegen die Militärdiktatur ging. An dem großangelegten 24-stündigen „Bürgerstreik" (paro cívico), der aus Anlaß des 11. Jahrestages des Staatsstreiches am 27. Juni 1984 als letzte gemeinsame Aktivität gegen das Regime von der Opposition initiiert wurde, beteiligte sich von den traditionellen Unternehmerverbänden lediglich die Federación Rural.178 Die Cámara de Industrias etwa verweigerte eine Beteiligung an der breit angelegten Aktion. Die erstaunliche Begründung für dieses Verhalten lautete, daß es sich dabei um eine apolitische Veranstaltung handele. 1 7 9 Diese Vorgehensweise entsprach einer Strategie, wie sie zu dieser Zeit für die Unternehmerverbände insgesamt typisch war. Sie war davon geprägt, daß man sehr vorsichtig und defensiv agierte und es vermied, irgendwelche Verpflichtungen und Vereinbarungen einzugehen. Das Ziel war, verbandliche Aktivitäten und „politisches Geschäft" voneinander getrennt zu halten, um nicht in die Gefahr zu kommen, an Autonomie zu verlieren. 180 In ihrer Opposition zur Militärdiktatur war die Federación Rural den anderen Unternehmerverbänden hier wie im Prinzip auch in den Jahren zuvor meist einen Schritt voraus. Während sie von ihrer auf die Wirtschaftspolitik beschränkten Kritik in den 70er Jahren gegen Ende der Militärdiktatur dazu überging, sich gegen das autoritäre System an sich zu wenden, begannen nun andere Unternehmerverbände, sich gegen die implementierte Wirtschaftspolitik zu wenden, da große Teile der Unternehmerschaft die Performanz des Regimes immer negativer einschätzten. Deren Kritik implizierte aber nicht notwendigerweise eine Ablehnung der Militärdiktatur, beeinträchtigte also die Makrostabilität des Systems nicht in der Weise, daß das Militärregime selbst in Frage

177 178 179 180

Entsprechende Forderungen kamen beispielsweise von der Cámara de Industrias und der Cámara Nacional de Comercio. (Vgl. Filgueira 1990: 493.) Vgl. Notaro 1984a: 151. Vgl. Stolovich 1985: 6. Vgl. Filgueira 1990: 494.

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

206

gestellt und auf eine Systemalternative hingearbeitet wurde. Caetano/Rilla stellen hierzu fest: „El régimen no llegó a contagiar con su 'entusiasmo fundacional' a buena parte de la oligarquía y de la derecha política, [...] que a partir de 1980 comenzaron [...] a distanciarse de su política económica. Ello no fue por 'democratismo': sus críticas a la política económica no derivaron a su presencia en el frente opositor antidictatorial, como lo prueba la 'prescindencia' de los grupos de presión empresariales (con la excepción explicable de la Federación Rural) en ocasión del 'paro cívico' de junio de !984."181

Anders als an der Intersectorial beteiligten sich die Unternehmerverbände am Konzertierungsprozeß im Rahmen der CONAPRO, dessen Ziel es war, eine breite Legitimationsbasis für die Demokratisierung und die Politik der zukünftigen, demokratischen Regierung zu liefern. Zu den wichtigsten Gründen für diesen Stimmungswandel mag gezählt haben, daß die Unternehmerverbände nicht ins Abseits geraten und als Verlierer dieses Prozesses dastehen wollten. Nun, da das Ende der Militärdiktatur in greifbare Nähe gerückt war und die demokratische Systemalternative immer konkretere und realistischere Formen annahm, hätte eine Nichtbeteiligung an der CONAPRO in mindestens zwei Aspekten zu Nachteilen führen können. Erstens hätte die Gefahr bestanden, bei der eventuellen Einrichtung von die zukünftige demokratische Regierung beratenden Instanzen nicht berücksichtigt zu werden, womit man schnell gegenüber anderen Akteuren ins Hintertreffen hätte geraten können. Zweitens hätte eine Nichtbeteiligung aufgrund des gesamtgesellschaftlichen Klimas schnell zu einer Stigmatisierung der Unternehmerverbände führen können, da sie dann als vom Konzertierungsprozeß Ausgeschlossene mit dem Militärregime identifiziert worden wären und gleichzeitig der Eindruck naheliegend gewesen wäre, sie seien einer Demokratisierung gegenüber negativ eingestellt. Parallel dazu zeigten sich die Unternehmerverbände bestrebt, die Geschlossenheit untereinander zu stärken bzw. herzustellen, um so gemeinsam als kollektiver Akteur gegenüber anderen Akteuren auftreten zu können. Ein Ausdruck dieser Bestrebungen war ein Positionspapier {Acuerdo de Entidades Empresariales), welches die Unternehmerverbände im Juli 1984 vorlegten. 1 8 2 Am 15. August 1984 bekundeten die Mitglieder der Intersectorial ihre Übereinstimmung in dem angestrebten Ziel der gemeinsamen Arbeit, nämlich: „[...] instrumentar la concertación programática de partidos, fuerzas sociales y empresariales con el objeto de preparar las bases de un acuerdo nacional para la 181 182

Caetano/Rilla 1987: 150. Näheres hierzu siehe bei Filgueira 1990: 494/495.

Untemehmer/-verbände in der Diktatur

207

reconstrucción del país." 183 Am 31. August wurden die ersten gemeinsamen Kommissionen gegründet. Wenige Tage später, am 4. September, wurde die Mesa Ejecutiva de la Concertación Nacional Programática installiert. Sieben Arbeitsgruppen zu folgenden Bereichen wurden gebildet: Wirtschaftspolitik; Erziehung und Kultur; Gesundheit; Wohnen; soziale Sicherheit; Rechte, Freiheiten und Garantien; Gesetze und Dekrete des Regimes. In der CONAPRO waren nun vertreten: die vier Parteien Partido Colorado, Partido Nacional, Frente Amplio und Unión Cívica, die alten Mitglieder der Intersectorial (FUCVAM, SERPAJ, ASCEEP und der Gewerkschaftsdachverband unter dem neuen Signum PIT-CNT) sowie von Unternehmerseite Cámara de Industrias, Cámara Nacional de Comercio, Asociación Rural, Federación Rural und Cámara Mercantil de Productos del País.1^ Ausdrücklich ausgeschlossen von der Beteiligung an der CONAPRO wurde die Asociación de Bancos aufgrund ihrer engen Verbindungen zur Militärdiktatur, durch die sie als ernstzunehmender Akteur im Demokratisierungsprozeß diskreditiert war. 185 Die CONAPRO bestand nach den nationalen Wahlen vom November 1984 fort, veränderte allerdings ihren Charakter. Vorher waren die unterschiedlichen gesellschaftlich relevanten Gruppen relativ gleichberechtigt. Nun sollte der Partei, die aus den Wahlen als Sieger hervorgegangen war und demzufolge ab März 1985 für einen Zeitraum von fünf Jahren die Regierung stellen würde, deutlich mehr Gewicht zukommen als allen anderen Gruppierungen, die Unternehmerverbände eingeschlossen. Zusammenfassend läßt sich für die letzten Jahre der Militärdiktatur folgendes konstatieren: Offensichtlicher als in den Jahren zuvor stellte sich heraus, daß die Regierung alleine den Entwicklungsstil festlegte und die Wirtschaftspolitik implementierte, ohne in irgendeiner Form andere gesellschaftliche Gruppen in diesen Prozeß einzubeziehen. Wenngleich dies auch für die 70er Jahre galt, so wurde es gerade den Unternehmerverbänden in den Jahren der wirtschaftlichen Krise besonders bewußt, wie begrenzt in diesem Regime ihre 183

185

So zitiert nach Francés/Dieste 1985: 219. Die Angaben, welche Unternehmerverbände darüber hinaus an der CONAPRO beteiligt waren, weichen voneinander ab. Zusätzlich erwähnt werden in der Literatur neben den oben genannten: Confederación Empresarial del Uruguay, Unión de Exportadores, Cámara de la Construcción, Asociación de Colones, Asociación de Productores de Arroz und Asociación de Remitentes a CONAPROLE. (Vgl. u.a. Berretta 1989: 15, Cancela/Notaro 1989: 64, Francés/Dieste 1985: 220 und Muiño/Rossi Albert 1985: 261.) Selbst aus den offiziellen Dokumenten der CONAPRO geht nicht eindeutig hervor, welche Unternehmerverbände der CONAPRO angehörten, da - so auch in dem Organigramm - lediglich vom „sector empresarial" die Rede ist (siehe hierzu Documento de la Concertación Nacional Programática). Vgl. z.B. Berretta 1989: 15 und Guerrini 1991: 8.

208

5. Die Militärdiktatur 1972/73-1984

Zugangsmöglichkeiten zur Regierung und damit auch die Einflußmöglichkeiten auf deren Entscheidungen waren. War dies in Zeiten relativer wirtschaftlicher Prosperität kein Anlaß zu Mißstimmungen und Verdruß für das Gros der Unternehmer und ihre Interessenorganisationen, so führte nun die erlebte Machtlosigkeit, nichts Entscheidendes zugunsten der eigenen Interessen bewirken zu können, zu Ernüchterung und vielfaltigen Enttäuschungen. Auf diese Weise desillusioniert, versagten nunmehr die Unternehmer der Militärregierung die Gefolgschaft, auf die die Machthaber bislang weitgehend bauen konnten, ohne allerdings eine besonders aktiv-konstruktive Rolle bei der politischen Destabilisierung des autoritären Regimes bzw. im demokratischen Öffnungsprozeß zu übernehmen. „En realidad, las gremiales de empresarios no habían sido afectadas - como los sindicatos - por el régimen. Pero habían perdido la trama de relaciones y vinculaciones con la burocracia pública y los partidos políticos, desde donde se desenvolvieron tradicionalmente como agentes corporativos. El régimen militar no les ofreció una inserción alternativa, suspendiendo transitoriamente su campo de acción fundamental. Por otra parte, el sector empresarial, en tanto actor sociopolítico, no desempeño un rol importante en la apertura democrática, pero el creciente resentimiento con la política económica significó de alguna forma un derrumbamiento de los posibles soportes del régimen."!

186

Filgueira 1990: 493.

Demokratische Restauration

6.

Die „neue alte" Demokratie

6.1

Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

6.1.1

Demokratische Restauration

209

Die Rückkehr zur demokratischen Regierungsform war im Falle Uruguays weitgehend eine Rückkehr zur vordiktatorialen politischen Ordnung. Redemokratisierung bedeutete Restauration im Sinne einer getreuen und gewollten Wiederherstellung der „alten" Demokratie und der in der politischen Kultur verankerten zentralen demokratischen Werte. „[...] la experiencia uruguaya se diferencia de todos las demás por el hecho fundamental de ser un claro caso de redemocratización, el único en realidad, de restauración de todo un sistema social democrático muy bien establecido en la conciencia nacional uruguaya y nunca superado."!

Demokratische Transitions- und Konsolidierungsprozesse in Ländern der sogenannten Dritten Welt vollziehen sich häufig in Abgrenzung sowohl gegenüber dem zu überwindenden bzw. bereits überwundenen autoritären Regime als auch gegenüber der vorautoritären Politik.2 Vor allem aufgrund der demokratischen Tradition des Landes, derer sich die große Mehrheit der Bevölkerung bewußt war, wurde demgegenüber in Uruguay die vorautoritäre Politik geschätzt. So war man auch nach der Diktatur bereit, am ehesten denjenigen zu folgen, die unmittelbar an diese Politik anknüpfen wollten. Die legendäre „gute alte Zeit" war im kollektiven Bewußtsein fest verankert, und es wurden damit die ehemals ausgeprägten demokratischen Tugenden und wirtschaftliche Prosperität in Verbindung gebracht. Snoeck/Sutz/Vigorito stellen als gesamtgesellschaftliches Phänomen fest, daß nun nach der autoritären Herrschaft kaum Einstellungs- und Mentalitätsveränderungen im Vergleich zu den Jahrzehnten unter demokratischen Verhältnissen zu beobachten waren. Im Unterschied zu den anderen südamerikanischen Diktaturen hätten die Militärs in Uruguay ihr Destruktionswerk auf diesem Gebiet nicht vollendet.3 Diese mit dem demokratischen Regimetyp verknüpften positiven, über die Generationen vermittelten Erinnerungen gestalteten so - in all ihrer Verklärtheit - auch die zeitgenössische politische Kultur. Sie wirkten sich nicht nur auf den 1 2 3

Whitehead 1988: 309. Vgl. dazu auch Rial 1988c: 247 oder Gillespie 1991: 216, der hierzu schreibt: „There was no denying that Uruguay's transition had led to a restoration of the status quo ante in most respects." Nohlen bezeichnet dies als „doppelte Negation" (Nohlen 1988: 8). Vgl. Snoeck/Sutz/Vigorito 1994: 207.

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

210

doch sehr diffusen Bereich politischer Einstellungen und Werte aus, sondern nun nach der Diktatur auch unmittelbar auf die politischen Institutionen und die gesellschaftlichen Spielregeln. Die Wiederherstellung der Demokratie umfaßte das gesamte politische System mit seinen Parteien und den gewohnten Verfahrensregeln für den politischen Prozeß aus der vordiktatorialen Zeit, einschließlich der Verfassung von 1967 und der alten Wahlgesetzgebung. Diese unmittelbare Verklammerung mit der Vergangenheit führte dazu, daß die Militärdiktatur - so z.B. wörtlich Präsident Sanguinetti - als „Unfall" verstanden wurde, den es durch die historische demokratische Verankerung des politischen Systems nun zu überwinden gelte.4 Uruguay kann nach den theoretischen Erörterungen in Kapitel 1.1 dieser Arbeit geradezu als Paradebeispiel dafür gelten, daß der Glaube an die Legitimität der Demokratie begünstigt wird, wenn eine demokratische Tradition vorhanden und die Erinnerung daran positiv besetzt ist. Der Vergangenheitsbezug und die positive Erinnerung an erbrachte Leistungen beeinflussen die Erwartungen an die zukünftige Leistungsfähigkeit des demokratischen politischen Systems. Vom Parteiensystem her betrachtet brachten die Wahlen von 1984 eine Verfestigung des sogenannten Zweieinhalb-Parteiensystems, das bei den letzten vordiktatorialen Wahlen von 1971 das alte fragmentarische Zwei-Parteiensystem abgelöst hatte. Trotz der Erfahrungen unter der autoritären Herrschaft und trotz einer anderen Wählerschaft als 1971 - von den knapp zwei Millionen Wählern 1984 waren rund 630.000 Erstwähler,5 also fast ein Drittel aller Wahlberechtigten - lassen sich viele Kontinuitäten feststellen. Erneut konnten die beiden traditionellen Parteien über drei Viertel der Stimmen auf sich vereinen, wobei der Partido Colorado mit einem fast identischen Stimmenanteil wie 13 Jahre zuvor als stärkste parteipolitische Kraft den Vorsprung zum Partido National, der an Stimmen verloren hatte, deutlich ausbauen konnte. Die Linke, verkörpert durch den Frente Amplio, konnte stimmenmäßig zwar am meisten zulegen, ihr Zuwachs von 3% blieb aber so begrenzt, daß sie immer noch deutlich hinter den beiden traditionellen Parteien zurücklag.

4 5

Vgl. Rial 1989:9. Vgl. McDonald/Ruhl 1989: 107.

Demokratische Restauration

211

Graphik 14: Die Präsidentschaftswahlen 1971 und 1984 im Vergleich (in %) so 40 3020 10-

0-

Jenseits der bloßen Daten wiesen die Wahlen von 1984 wesentliche Unterschiede im Vergleich zu 1971 dahingehend auf, daß es 1984 zwar einen harten Wahlkampf, aber nicht annähernd eine solche ideologische Polarisierung und politische Radikalisierung wie bei den Wahlen vor der Diktatur gab. Übergeordnetes Interesse war die Rückkehr zur Demokratie, woran die Parteien bereits seit längerer Zeit gearbeitet hatten. Analog dazu war das politische Klima in der Öffentlichkeit geprägt, denn über Parteigrenzen und unterschiedliche Parteipräferenzen hinweg war es das einende Ziel, die Diktatur hinter sich zu lassen; wer nun als Sieger aus den Wahlen hervorgehen sollte, schien dabei aus der Sicht großer Teile der Wählerschaft beinahe zweitrangig.6 Zu erwähnen ist außerdem, daß es, abgesehen von der durch die Militärs erwirkten Proskription der Spitzenpolitiker Ferreira, Seregni und Batlle, keine Einschränkungen gab, die dem demokratischen Charakter der Wahlen widersprochen hätten. Als geradezu prädestiniert, den eingeleiteten Kurs der demokratischen Restauration fortzusetzen, empfahl sich der schließlich auch siegreiche Colorado-Kandidat Julio Maria Sanguinetti mit seinem Wahlkampf der nationalen Aussöhnung, Integration und friedlichen Redemokratisierung. Damit kam er dem „tief empfundene [n] Wunsch der Bevölkerung, das Militärregime loszuwerden und den Redemokratisierungsprozeß nicht durch zu starke Konfrontation zu gefährden" 7 , entgegen. Sanguinetti trat sein Amt als Präsident an, um einen, so seine Losung im Wahlkampf, cambio en paz zu erreichen. Sowohl vor als auch nach den Wahlen wies er immer wieder auf die Notwendigkeit hin, daß die demokratisch gewählte Regierung eine Regierung der nationalen Einheit 6

7

„El elector de 1984 prestaba más atención al voto que al candidato. Votar era el exorcismo que borraba la dictadura; el candidato venía en segundo lugar." (Carlos María Gutiérrez in Brecha N° 240 vom 6.7.1990.) Licio 1990: 18.

212

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

sein müsse.8 Die gobernabilidad war nicht nur ein Schlagwort, sondern auch ein zentrales politisches Problem. Denn ähnlich wie seine demokratischen Vorgänger im Amt des Präsidenten sah sich Sanguinetti mit der sich aus dem Wahlsystem ergebenden Strukturschwäche des politischen Prozesses konfrontiert: der institutionalisierten Erschwernis der Mehrheitsbildung.9 Ohne den Rückhalt einer parlamentarischen Mehrheit (im Senat und im Abgeordnetenhaus stellte die Fraktion des Präsidenten jeweils nur etwa ein Drittel der Parlamentarier 10 ) versuchte der Präsident, die Regierbarkeit gemäß der für die vordiktatoriale Politik so prägenden Strategie der coparticipación herzustellen. Doch weder Partido Nacional noch Frente Amplio erklärten sich bereit, in das Kabinett Sanguinettis einzutreten.11 Die Verfassung sieht zwar weiterhin die Möglichkeit der Durchsetzung von Maßnahmen durch Regierungsdekrete ohne parlamentarische Sanktionierung ebenso wie die des Vetos der Exekutive gegen parlamentarische Entscheidungen vor, eine solchermaßen geprägte Politik hätte aber auf Dauer die Aufhebung der eigentlichen Funktion der Legislative und damit die Aushöhlung des demokratischen Prinzips der Gewaltenteilung zur Folge. Sanguinetti war also zum einen auf die Unterstützung durch seine eigene Gesamtpartei (nicht nur seiner Fraktion) und zum anderen auf die Zusammenarbeit mit den Fraktionen anderer Parteien angewiesen. Die Ausgestaltung des Redemokratisierungsprozesses als Restauration bedeutete, daß neben den vielen positiven Elementen des über Jahrzehnte stabilen demokratischen Systems auch dessen Unzulänglichkeiten übernommen wurden. Bestes Beispiel ist das Wahlsystem mit seinen weithin bekannten, für den Niedergang der Demokratie Ende der 60 Jahre mitverantwortlichen Schwächen. Rial bringt die Problematik folgendermaßen auf den Punkt: „Un presidente electo con bajo porcentaje de votos, tenía que enfrentarse a un Parlamento donde su propio bloque era minoritario. La tentación a utilizar mecanismos excepcionales para sustituir la falta de apoyo parlamentario fuerte era una posibilidad que en manos de un presidente con no demasiado apego por el respeto al funcionamiento democrático podía deteriorar rápidamente la estructura del sistema de poderes y por ese camino comenzó a transitarse a fines de la década del 60. Cuando se reformó el Ejecutivo en 1966, en esa Constitución que hoy nuevamente reivindicamos

8 9 10 11

Vgl. Solari 1988: 223. Ausführlich zu den politischen Auswirkungen des Wahlsystems siehe Wagner 1993. Vgl. Rial/Klaczko 1989: 128 bzw. 131. Vgl. De Torres Wilson 1990: 84. Die Tatsache, daß mit Enrique Iglesias als Außenminister und Raúl Ugarte als Gesundheitsminister zwei Blancos Regierungsämter übernahmen, ist zwar durchaus ein politisches Signal, nicht aber Ausdruck einer offiziellen Beteiligung des Partido Nacional an der Regierung. Begründet wurde der Eintritt der beiden 5/anco-Politiker in das Kabinett Sanguinettis mit deren besonderen persönlichen Fähigkeiten und - im Falle von Iglesias - mit dessen internationaler Reputation.

Demokratische Restauration

213

(sin reformas), no se previö la forma de dotar al Poder Ejecutivo de un respaldo de mayorias parlamentarias adecuadas."'^

Bei aller Restauration sah sich die uruguayische Gesellschaft nach dem Ende der Militärdiktatur mit einem gesellschaftspolitischen Konflikt konfrontiert, der nicht nur in dieser Schwere, sondern überhaupt eine völlig neue Dimension darstellte: die Frage nach dem Umgang mit den durch die militärischen Machthaber begangenen massiven Menschenrechtsverletzungen. Diese Diskussion begleitete den demokratisch gewählten Präsidenten vom ersten Tag seiner Amtszeit an über einen Zeitraum von fast genau vier Jahren und prägte während dieser Zeit nachhaltig die gesellschaftspolitische Situation im Lande. Nachdem im Laufe des Jahres 1986 vor uruguayischen Gerichten mehrere Klagen eingereicht worden waren, in denen Mitglieder der Streitkräfte der Verletzung der Menschenrechte beschuldigt wurden, zeigte sich sehr schnell, daß das Kapitel 'Militärdiktatur' mit der Rückkehr zu einer demokratischen Regierungsform noch nicht abgeschlossen war. Gleichzeitig wurde in diesem Zusammenhang klar, daß die Militärs nicht zu ihrer traditionellen, relativ einflußlosen Rolle zurückgekehrt waren. Denn ihre hartnäckige Weigerung, für begangene Straftaten Verantwortung zu übernehmen, ließ Befürchtungen aufkommen, daß unter bestimmten Bedingungen die erst vor kurzem errungene Demokratie erneut in Gefahr gebracht werden könnte. Im Zuge einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung bezüglich der Menschenrechtsproblematik kam aus den Reihen der politischen Parteien die Initiative, diese Angelegenheit nicht den Gerichten zu überlassen, sondern nach einer politischen Lösung etwa analog zum sogenannten Schlußpunktgesetz in Argentinien - zu suchen. Nach intensiver öffentlicher Diskussion, heftigen parlamentarischen Auseinandersetzungen und massiven Protestaktionen wurde am 22. Dezember 1986 die Ley de Caducidad de la Pretensiön Punitiva del Estado verabschiedet. Mit diesem Hinfälligkeitsgesetz wurde den Militärangehörigen für während der Diktatur begangene Menschenrechtsverletzungen Straffreiheit gewährt. Als Antwort auf diese Entscheidung des Parlaments entstand vor allem auf Initiative des 'Komitees der Mütter und Verwandten der Festgenommenen-Verschwundenen' eine breite soziale Bewegung, die sich zum Ziel setzte, das verabschiedete Gesetz einem Volksentscheid zu unterwerfen. 13 in einer beispiellosen Aktion mit umfassenden gesellschaftlichen Mobilisierungen unter der Federführung einer extra eingerichteten Comisiön Nacional pro-Referendum 12

13

Rial 1985: 6/7. Die Verfassung sieht die Möglichkeit der Durchführung eines Plebiszits über ein verabschiedetes Gesetz vor, wenn sich innerhalb eines Jahres mindestens 25% der Wahlberechtigten mit ihrer Unterschrift dafür aussprechen. (Vgl. Constitución de la República Oriental del Uruguay. Reforma Constitucional de 1966. Artículo 79. Montevideo: Ediciones 'Cabildo' 1990: 24.)

214

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

gelang es bis Ende 1987 trotz vieler Hürden, die zur Verwirklichung eines Plebiszits erforderliche Zahl an Unterschriften dem nationalen Wahlgerichtshof Corte Electoral vorzulegen. In einem historisch einmaligen Akt - Plebiszite sind in der Geschichte Uruguays häufiger durchgeführt worden, nicht aber ein Volksentscheid über ein Gesetz, das bereits formal in Kraft ist - wurde dann am 16. April 1989 über das Hinfalligkeitsgesetz abgestimmt. 14 Mit 55,9% entschied sich die Mehrheit der Wahlpflichtigen für die Beibehaltung des Gesetzes, d.h. für die Straffreiheit der Militärs. 1 5 Letztendlich folgte man mehrheitlich denjenigen, die die Argumente in Richtung politischer Stabilität in den Vordergrund stellten, und nicht denjenigen, die sich für Gerechtigkeit einsetzten. Trotz vielfaltiger Enttäuschungen wurde der Mehrheitsentscheid, wie es fast selbstverständlich zum traditionellen Demokratieverständnis in Uruguay gehört, von allen Teilen der Bevölkerung akzeptiert.16 Es gab keinerlei Vorwürfe oder Anzeichen von Unregelmäßigkeiten. Dies kann ebenso als ein Indikator für die Verankerung eines demokratischen Bewußtseins in der politischen Kultur des Landes bewertet werden wie auch die Tatsache, daß es trotz dieser hochsensiblen und emotionsgeladenen Thematik weder im Vorfeld des Referendums noch am Tag der Abstimmung zu gewalttätigen Konfrontationen kam. Ungeachtet des eigentlichen Ausganges war mit dem Referendum eine entscheidende Etappe im demokratischen Konsolidierungsprozeß vollzogen worden. 17 Die besondere Qualität dieses Ereignisses liegt darin, daß in einem basisdemokratischen Verfahren die Bevölkerung selbst über die für die zukünftige Entwicklung und Gestaltung der Demokratie konstitutive Frage entscheiden konnte. Dies hat für die Legitimität des demokratischen Systems besonderes Gewicht und ist ein grundsätzlicher Unterschied zu den Verfahrensweisen

14

16

Nach Rial/Klaczko 1989: 101/102 sind im Zeitraum von 1917 bis 1980 insgesamt 17 die Verfassung betreffende Plebiszite durchgeführt worden; allerdings verzeichnen sie dabei keine Volksabstimmung über die Aufhebung eines bereits parlamentarisch verabschiedeten Gesetzes. Zu der Prozentangabe vgl. Rial/Klaczko 1989: 102. Eine Chronologie der Ereignisse vom Amtsantritt Sanguinettis bis zum entscheidenden Referendum am 16. April 1989, eine Aufarbeitung der unterschiedlichen Argumentationsmuster Pro und Contra Hinfälligkeitsgesetz sowie eine differenzierte Bewertung der Bedeutung dieses gesamten Verfahrens für den demokratischen Konsolidierungsprozeß findet sich bei Wagner 1991: 87-101. So hieß es in Punkt 1 eines noch am Tage der Abstimmung veröffentlichten Kommuniques der Comisión Nacional pro-Referéndum: „De acuerdo con los resultados del plebiscito, la ley de caducidad ha sido confirmada. Sin duda debe acatarse ese pronunciamiento del Cuerpo Electoral." Dies betonten sowohl Verlierer als auch Gewinner des Referendums, wie z.B. - um nur zwei besonders exponierte Persönlichkeiten zu nennen - die Symbolfigur des Frente Amplio, Líber Seregni, und Präsident Sanguinetti. (Vgl. entsprechende Äußerungen in El Dia vom 17.4.1989 bzw. El País vom 18.4.1989.)

Demokratische Restauration

215

etwa in Argentinien und Chile, wo sich ebenfalls die Frage nach der strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur gestellt hatte, die Entscheidung darüber aber jeweils von der Regierung getroffen wurde. Der uruguayische Weg wies weitere Besonderheiten auf, die bereits einige Zeilen zuvor unter dem Stichwort „demokratisches Bewußtsein" angedeutet wurden: „Zu nennen sind hier vor allem der pluralistische Charakter der Initiative, an der das gesamte Spektrum der Parteien partizipierte; die stillschweigende Übereinkunft zwischen den Parteien, das Referendum nicht für parteipolitische Zwecke auszuschlachten, sondern ihm den Charakter einer Volksbewegung zu belassen; die herausragende Bedeutung, die einzelne, bis dahin in der Öffentlichkeit wenig bekannte Persönlichkeiten gewannen; sowie die Form, in der sich die Nationale Kommission für das Referendum selbst auflöste - elf Tage, nachdem ihre Initiative in der Volksbefragung abgelehnt worden war [...]. Diese neuen Elemente in der politischen Kultur Uruguays verbanden sich mit Aspekten einer Tradition, die vielleicht mit dem Referendum ihre letzte große Manifestation auf diese Weise erfuhr: die Fähigkeit zu einer kollektiven Antwort auf ethische Fragen, die Mobilisierungsfahigkeit, wobei ein gutes Maß an Originalität in der Diskursfiihrung festzustellen ist, sowie der wirksame Appell an die Solidarität." 18

Ohne also das Referendum für parteipolitische Zwecke auszuschlachten, fungierten - wieder vollkommen im Sinne der Restauration - die politischen Parteien trotzdem als Träger des Meinungsbildungsprozesses und als Kanäle, in denen sich die gesamtgesellschaftliche Polarisierung artikulierte. Die Bedeutung der Comisión Nacional pro-Referéndum in diesen Zusammenhang darf zwar nicht unterschätzt werden; als wichtige Institution, die im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit parteiübergreifend und -unabhängig agieren konnte, kam ihr aber im Unterschied zu den Parteien eher die Rolle einer die Kräfte gegen das Hinfalligkeitsgesetz koordinierenden moralischen Instanz zu. Was hier zu der neuen (alten) Rolle der Parteien exemplarisch festgestellt wurde, läßt sich verallgemeinem: „Responsibility for the future lay squarely in the hands of Uruguay's parties. Their leaders had determined the course of the transition from authoritarianism, and now they would be the central actors in determining the success of democracy." 19 Das Ergebnis des Referendums war eine Bestätigung der bisherigen Politik Sanguinettis im Sinne seines von ihm propagierten cambio en paz. Seine Strategie, die zur langfristigen Sicherung der demokratischen Stabilität auf eine Integration der Militärs in den politischen Prozeß und auf Konfliktvermeidung zielte, fand im Referendum den mehrheitlichen Rückhalt der Bevölkerung. Weiterer Ausdruck seiner Strategie der gesellschaftspolitischen Einbindung der Militärs war die im Jahr 1987 erfolgte Berufung des letzten Oberbefehlshabers 18 19

Snoeck/Sutz/Vigorito 1994: 209. Gillespie 1991: 195. Vgl. dazu auch Macadar 1992: 121.

216

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

der Streitkräfte während der Militärdiktatur, des zwischenzeitlich von diesem Amt zurückgetretenen Generals Hugo Medina, in das Amt des Verteidigungsministers.20 Von Kritikern wurde dies als Beleg dafür gesehen, daß von Autonomie der demokratisch legitimierten Regierung gegenüber den Streitkräften und einer für die Redemokratisierung erforderlichen Wiederherstellung des Primats der Politik nicht die Rede sein könne. Das Schlagwort von der durch die Militärs bevormundeten Demokratie (democracia tuteladä) machte die Runde. Fest steht, daß mit dieser Entscheidung Sanguinettis ein Angehöriger der Streitkräfte unmittelbar an der Regierungsverantwortung partizipieren konnte und die Militärs in einigen Fragen in den Entscheidungsprozeß der Exekutivorgane zumindest mittelbar einbezogen wurden. Zu ihrer traditionell apolitischen Stellung kehrten die Militärs also nicht zurück; konkrete Anhaltspunkte für eine direkte Bevormundung der Regierung lassen sich allerdings nicht ausmachen.21 Seinen Anspruch eines cambio en paz konnte Sanguinetti nur teilweise erfüllen. Ihm war es gelungen, die Rückkehr zum demokratischen Alltag zu vollziehen und friedliche gesellschaftliche Verhältnisse zu bewahren. Emsthafte Beeinträchtigungen der demokratischen Legitimität, die die Makrostabilität bedrohendet hätten, waren ebensowenig zu konstatieren wie eine etwaige Legitimationserosion; demokratische Wertvorstellungen, Verhältnisse und Verhaltensweisen hatten sich schnell und ohne größere Schwierigkeiten wieder etabliert. Dies ist gerade angesichts der Probleme, mit denen sich die Nachbarländer in ihren demokratischen Transitions- und Konsolidierungsprozessen konfrontiert sahen, bemerkenswert. Die demokratische Tradition als zentrales Element der politischen Kultur ist in Uruguay voll zum Tragen gekommen. Von einer durch Sanguinetti eingeleiteten Wende, von substantiellen Veränderungen in dem Sinne, daß bekannte Schwächen in den alten demokratischen Spielregeln behoben wurden, konnte aber kaum die Rede sein. Obwohl die Notwendigkeit von Reformen - Beispiel Wahlgesetzgebung - erkannt und in der eher konservativ orientierten, überwiegend auf das mehr oder weniger bewährte Alte setzenden uruguayischen Gesellschaft auch allgemein akzeptiert wurde, gingen von Sanguinetti kaum effektive reformorientierte Initiativen aus. Er war ein eher passiver Präsident, der keine großen Neuerungen initiierte.22 Sanguinetti 20 21

22

Vgl. Gillespie 1991:221. Gegen die These der democracia tutelada spricht auch, daß während der Amtszeit Sanguinettis die Truppenstärke um fast 20% von 29.839 auf 24.275 reduziert wurde, was zweifellos die elementaren Interessen der Militärs berührte. (Zahlen nach Latin American Regional Reports: Southern Cone Report. RR-90-08 vom 18.10.1990.) Ausgeklammert werden muß diesbezüglich der Bereich der Außenpolitik. Diese unterschied sich nicht nur erheblich von der Außenpolitik der Militärdiktatur, sondern war auch das Politikfeld, in dem die Regierung wohl am erfolgreichsten agierte. Als Resultat der Regierungspolitik läßt sich ein scharfer Kontrast zwischen internem Vertrauensver-

Demokratische Restauration

217

verkörperte den restaurativen Charakter der Redemokratisierung, womit trotz aller positiven mit der Reetablierung demokratischer Verhältnisse verbundenen Aspekte ein entscheidendes Manko verbunden war, auf das noch einmal Snoeck/Sutz/Vigorito unabhängig von der Person Sanguinettis zu Recht hingewiesen haben: Der Blick für die Zukunft sei verstellt worden und ein zukunftsweisendes Projekt nicht in Sicht; es herrsche ein weitverbreiteter Bewußtseinsmangel hinsichtlich der Notwendigkeit, eine kreative und innovative Gesellschaft aufzubauen. 23

6.1.2

Wirtschaftspolitik und -entwicklung

Während der Transitionsphase wurden von der CONAPRO Vorschläge ausgearbeitet, die die Basis für die zukünftige Wirtschaftspolitik liefern sollten. Diese, so sollte sich zeigen, bildeten allerdings nur zum Teil einen Handlungsrahmen, an dem sich die neue, demokratische Regierung unter Präsident Julio Maria Sanguinetti orientierte. Hinzugefugt werden muß aber, daß die CONAPRO bezüglich der Wirtschaftspolitik auch nicht zu einem Konsens fand, wie es etwa bei den Fragen der Garantie politischer Rechte, der Gesundheitsund Wohnungspolitik der Fall war. Wirtschaftsexperten der vier Parteien konnten sich lediglich auf allgemeine Postulate und Empfehlungen einigen, die aber nicht von allen Teilnehmern der CONAPRO als bindende Richtlinien akzeptiert wurden. So wurde schriftlich festgehalten, daß sich die Wirtschaftspolitik der demokratisch gewählten Regierung klar von der des autoritären Regimes unterscheiden werde. Doch nur wenige Tage nach Veröffentlichung des Dokuments erklärte der designierte Wirtschafts- und Finanzminister Ricardo Zerbino kategorisch, es seien keinerlei Modifikationen bezüglich der dem Finanzsektor und den Banken gewährten Freiheiten vorgesehen. 24 Ein zentrales Charakteristikum der Wirtschaftspolitik der Militärdiktatur sollte damit erhalten bleiben, fundamentale Änderungen im Entwicklungsstil waren kaum zu erwarten. Was sich entgegen der Erklärungen im Rahmen der CONAPRO für diesen Teilbereich der Wirtschaftspolitik andeutete, läßt sich verallgemeinern. Sanguinetti stand alles in allem mit seiner Wirtschaftspolitik in einer Kontinuität der Politik vor allem der ersten Jahre der Militärdiktatur unter Wirtschaftsminister

23 24

lust und international hohem Prestige konstatieren. (Zu näheren Informationen hierzu siehe Wagner 1991: 103/104; zur konkreten Ausgestaltung der Außenpolitik besonders unter dem Gesichtspunkt der Außenwirtschaftsbeziehungen und dem Ausbau der bilateralen Beziehungen siehe Bizzozero 1991.) Vgl. Snoeck/Sutz/Vigorito 1994: 244. Vgl. Cancela/Notaro 1987: 13 sowie 1989: 17.

218

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

Alejandro Vegh Villegas. Konkret dargelegt wurde die zukünftige Entwicklungsstrategie der Wirtschaftsequipe Sanguinettis25 am 28. April 1985 im Parlament.2*^ Die „Wiederherstellung der makroökonomischen Gleichgewichte" sollte im Rahmen der Außenöffhung und unter Beibehaltung der freien Wechselkurs* und Finanzpolitik erreicht werden. Oben auf der wirtschaftspolitischen Agenda stand die Reduzierung der Auslandsverschuldung, des Staatsdefizits und der internen Verschuldung sowie die Senkung der Inflation, die als entscheidende Faktoren der Wachstumsverhinderung eingestuft wurden. Das Wirtschaftswachstum sollte durch die Exporte angeregt werden. Die Öffnung und die Bewegungsfreiheit für das internationale Kapital wurden als die geeignetesten Maßnahmen betrachtet, um für eine verstärkte internationale Einbindung Uruguays zu sorgen und die makroökonomischen Gleichgewichte wiederherstellen zu können. Erstes Ziel der Wirtschaftspolitik war die Überwindung der Zahlungsunfähigkeit. Es wurde eine Refinanzierung der Schulden, eine Rückkehr des Fluchtkapitals und eine möglichst positive Handelsbilanz angestrebt. Das Haushaltsdefizit sollte vornehmlich durch Reduzierung der öffentlichen Ausgaben und Zurückhaltung bei der staatlichen Investitionspolitik abgebaut werden. Während die demokratische Regierung die Strategie der Exportförderungspolitik im Prinzip von der Militärdiktatur übernahm 27 und die Offenheit gegenüber dem internationalen Kapital beibehielt, 28 kehrte man im Bereich der Arbeitsbeziehungen nun weitgehend zu der alten Politik der Konzertierung vor der Regierungszeit Pachecos zurück. Zur Regelung der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit wurde 1985 in Anlehnung an die vordiktatorialen Consejos de Salarios der Consejo Superior de Salarios mit insgesamt 48 einzelnen Consejos de Salarios (jeweils bestehend aus Repräsentanten der Exekutive, der Unternehmer- und Arbeiterschaft) eingerichtet. Die neue Regierung räumte dem Problem der Auslandsverschuldung zunächst Priorität ein. Am 10. Juli 1985 unterzeichneten Zentralbankchef Pascale und Wirtschafts- und Finanzminister Zerbino ein neues SchuldenRefinanzierungsübereinkommen mit einem Komitee der Gläubigerbanken. 25

26 27 28

Zu den wichtigsten Männern dieser Wirtschaftsequipe gehörten der bereits erwähnte Wirtschafts- und Finanzminister Ricardo Zerbino, Planungsdirektor Ariel Davrieux und der Präsident des Banco Central del Uruguay, Ricardo Pascale. Sie verkörpern auch eine personelle Kontinuität zur Militärdiktatur, da sie während dieser Zeit bereits leitende Posten besetzt hatten. Zum folgenden siehe Notaro/Hintermeister 1989: 4, die sich beziehen auf: Cámara de Senadores. Comisión de Hacienda integrada con la de la Cámara de Representantes. Informe del equipo económico. Sesión del día 28 de abril de 1985. Vgl. Bizzozero 1991:282. „La apertura y liberalización del movimiento internacional de capitales fue el marco conservado del período anterior sin cambios." (Notaro/Hintermeister 1989: 16/17.)

219

Wirtschaftspolitik und -entwicklung

Dieses Abkommen legte die Zahlung von 1,695 Milliarden US-Dollar für den Zeitraum von 1985 bis 1990 fest. Für Schuldentilgung und Zinszahlungen mußten 1985, im ersten Amtsjahr der Regierung Sanguinetti, 715 Millionen US-Dollar aufgewendet werden, eine Summe, die fast 80% der Exporteinnahmen entsprach. 29 Nachdem im letzten Jahr der Militärdiktatur die NettoAuslandsverschuldung den bis dahin historischen Höchstwert von fast drei Milliarden US-Dollar angenommen hatte, lag der Wert für 1985 um ca. 53 Millionen US-Dollar niedriger. 1986 verringerte sich die Netto-Auslandsverschuldung noch einmal um 280 Millionen. Doch bereits 1987 stieg sie wieder um über 150 Millionen auf 2,8 Milliarden US-Dollar und überschritt in den beiden folgenden Jahren deutlich die Drei-Milliarden-Grenze. Bei 3,1 Millionen Einwohnern im Jahre 1989 betrug bezüglich der Netto-Auslandsschulden die Pro-Kopf-Verschuldung 1.047 US-Dollar (bezüglich der Brutto-Auslandsschulden 2.256 US-Dollar).30 Graphik 15: Entwicklung der Auslandsverschuldung 1984-1989 (in Millionen US-Dollar)

7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000

0 1984

1985

1986

1987

1988

1989

j • Brutto-Auslandsverschuldung U Reserven in Gold und Devisen M Netto-Auslandsverschuldung

|

Quelle: Tabelle 13 im Anhang; siehe dort auch die genauen Daten.

Die Regierung Sanguinetti war mit ihrer Politik insgesamt bestrebt, sich an die internationalen Spielregeln zu halten und nicht in irgendeiner Form auszu29 30

Siehe Heindel 1985: 114 unter Berufung auf: Nachrichten für Außenhandel (Eschborn) Nr. 127 vom 8.7.1985. Zum Vergleich dazu erreichte 1989 die Brutto-Auslandsverschuldung Argentiniens pro Kopf den Betrag von ca. 1.920 US-Dollar und in Mexiko den Betrag von ca. 1.200 USDollar. (Zu den Angaben bezüglich Auslandsverschuldung und Einwohnerzahl, aus denen sich die Pro-Kopf-Verschuldung errechnen läßt, siehe Deutsch-Südamerikanische Bank: Kurzbericht über Lateinamerika (Oktober 1990)3. Siehe zu den weiteren Angaben in diesem und im folgenden Absatz, soweit nicht anders angegeben, Weinstein 1988: 95-99.)

220

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

scheren, wie es einzelne Regierungschefs anderer lateinamerikanischer Staaten versuchten. Infolgedessen wurde „[...] das Verhalten der uruguayischen Regierung in der Schuldenfrage [...] von den internationalen Banken als korrekt und fair angesehen."31 Ein Arrangement mit dem IWF über die Frage der Auslandsverschuldung hinaus lag im Interesse Sanguinettis. So wurde mit dem IWF ein Anpassungsprogramm vereinbart, das im September 1985 implementiert wurde. Gemäß der IWF-Vorgaben wurde eine Senkung der Inflation von Mitte 1985 bis Mitte 1986 auf 60% angestrebt; für das gesamte Jahr 1986 sollte die Inflationsrate nur 45% betragen. Auch wenn diese beiden Ziele mit Werten, die jeweils deutlich über 20 Prozentpunkte höher lagen, verfehlt wurden, stand der IWF den Anstrengungen der uruguayischen Regierung positiv gegenüber. So sollen die mit einem IWF-Beistandskredit in Höhe von 122,8 Millionen Sonderziehungsrechten verbundenen Wirtschaftsauflagen nach Angaben der DeutschSüdamerikanischen Bank zufriedenstellend erfüllt worden sein. 32 Den vom IWF vertretenen wirtschaftspolitischen Orientierungen entsprach es, daß die freie Konvertierbarkeit ausländischer Währungen beibehalten, weiterhin auf ein klar exportorientiertes Wachstumsmodell gesetzt und ein Ausgleich des Staatsbudgets vor allem durch Ausgabenbeschränkungen der öffentlichen Hand angestrebt wurde. Zunächst waren Erfolge der eingeschlagenen Wirtschaftspolitik zu verzeichnen. So fiel die Arbeitslosenquote von offiziell 13,5% Anfang 1985 auf 10% Ende 1986. Die in den letzten Jahren der Militärdiktatur negative Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts konnte mit deutlichen Wachstumsraten in den Jahren 1986/87 umgekehrt werden. Auch der Privatkonsum, der 1985 im Vergleich zum Vorjahr noch zurückgegangen war, nahm in diesen beiden Jahren stark zu. Andere makroökonomische Eckdaten deuteten ebenfalls auf wirtschaftliche Erfolge in der ersten Hälfte der Amtszeit Sanguinettis hin. Neben einem festzustellenden Rückgang der Inflation von 83% über 71% bis zu 57% wies die Reallohnentwicklung in den Jahren von 1985 bis 1987 Steigerungsraten von 14,1%, 6,7% und 4,7% auf. Die Wachstumsraten wurden allerdings in der zweiten Hälfte der Amtsperiode der Regierung Sanguinetti immer geringer, so daß 1988 nur eine Steigerung von 1,5% zu verzeichnen war. 1989 gingen die Reallöhne um 0,4% zurück, 1990 sogar um 7,3%. Faktisch entsprach dieser Trend auch den Zielen der von Sanguinetti verfolgten Wirtschaftspolitik. Zwar schrieb sich die Regierung den zunächst relativ hohen Anstieg der Reallöhne als Verdienst ihrer Politik zu, doch die anfänglichen Steigerungsraten wurden

Deutsch-Südamerikanische Bank: Kurzbericht über Lateinamerika (November 1987)4, S. 123. Vgl. Deutsch-Südamerikanische Bank: Kurzbericht über Lateinamerika (August 1987)3, S. 123.

221

Wirtschaftspolitik und -entwicklung

aufgrund des gewerkschaftlichen Drucks erzielt, hier vor allem in den Wirtschaftssektoren mit einer starken gewerkschaftlichen Organisationsmacht.33 Die Regierung ihrerseits befürchtete bei größeren Lohnzuwächsen negative Auswirkungen auf die Inflationsrate. Graphik 16: Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt, Konsum und Löhnen 1985-1989 (jährliche Variation in %)

—•— BIP

—•— Reallöhne

—£— Privatkonsum

Quelle: Tabellen 9 , 1 0 und 12 im Anhang; siehe dort auch die genauen Daten.

Bei der Handelsbilanz zeichnete sich lediglich zunächst ein ähnlicher Trend wie bei den bereits erwähnten Eckdaten ab, nämlich ein Bruch der positiven Wirtschaftsentwicklung zu Beginn der zweiten Hälfte der Regierungszeit Sanguinettis. Doch nach dem relativen Tiefstand von 1987 mit +40 Millionen USDollar konnten 1988 die Handelsbilanzüberschüsse im Vergleich zu 1987 mehr als verfünffacht werden. 1989 gelang es, die Exporttätigkeit so auszuweiten, daß mit rund 1,6 Milliarden US-Dollar der bis dahin mit Abstand höchste Wert erzielt werden konnte. Trotz gleichzeitiger Importsteigerung wurde damit ein Handelsüberschuß von 396 Millionen US-Dollar erwirtschaftet. 34 Bezüglich der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts nach Wirtschaftssektoren liegen folgende Daten vor: Von 1985 bis 1989 wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt in der Landwirtschaft um 2,9%, in der Industrie um 3,2% und im Dienstleistungssektor um 3,4%, während es in der Bauwirtschaft um 1,2% zurückging. Dabei verringerte sich das Wachstum im Agrarsektor im Laufe der Amtszeit der Regierung Sanguinetti konstant. Der Industriesektor wies in den Jahren 1986 und 1987 Wachstumsraten von über 12% auf, in den anderen Jahren konnten nur negative Werte erzielt werden. Auch im Dienstleistungsbereich wurden die höchsten Wachstumswerte 1986/87 erzielt (6,8% bzw. 4,2%), für 1985, 1988 und 1989 lagen diese um 2%. Großen Schwankun33 34

Vgl. Berretta 1989: 152. Vgl. Tabelle 11 im Anhang.

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

222

gen war die Bauwirtschaft, die in der folgenden Graphik wegen ihrer relativ geringen volkswirtschaftlichen Bedeutung nicht berücksichtigt ist, unterworfen: Nach einem Minus von 30,1% im Jahr 1985 lagen in den Folgejahren die Wachstumsraten der Bauwirtschaft zwischen 3,9% und 11,7%.35 Graphik 17: Sektorielle Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts 1985-1989 (Jährliche Variation in %)

Agrarsektor

—•— Industrie

—A— Tertiärsektor

Quelle: Macadar 1992: 145.

Zur Erklärung der allgemein positiven volkswirtschaftlichen Entwicklung bis 1987 betont Licio die Bedeutung der - hauptsächlich durch die Reallohnerhöhungen - angestiegenen Inlandsnachfrage, die das Wirtschaftswachstum getragen habe. 36 Eine wohl noch entscheidendere Rolle spielten externe Faktoren. Besonders der Piano Cruzado, der in Brasilien in Kraft getreten war, hatte zur Folge, daß Uruguay seine Produkte vermehrt auf dem brasilianischen Markt absetzen konnte. 37 Ebenfalls stieg, wenn auch in geringerem Umfang, die Nachfrage aus der Europäischen Gemeinschaft und aus Argentinien infolge des dort implementierten Plan Austral38 Als weitere externe Faktoren wirkten sich anfänglich auch der Rückgang der Erdölpreise und des internationalen Zinsniveaus sowie die gleichzeitige Erhöhung der Weltmarktpreise für wichtige Exportprodukte (Wolle, Fleisch, Reis) sehr positiv auf die Wirtschaftsbilanz aus.

35 36 37 38

Vgl. Macadar 1992: 145. Vgl. Licio 1990: 19. Vgl. Gutiérrez u.a. 1989: 119 sowie Berretta 1989: 147. Die Bedeutung vor allem des brasilianischen, aber auch des argentinischen und des europäischen Marktes für die uruguayische Wirtschaft wird durch folgendes Beispiel deutlich: Im einzelnen stiegen 1986 die Ausfuhren nach Brasilien um rund 130% (damit kauften brasilianische Abnehmer ein Viertel der ausgeführten uruguayischen Produkte), nach Argentinien um 48% und in die Europäische Gemeinschaft um 50%. (Vgl. Deutsch-Südamerikanische Bank: Kurzbericht über Lateinamerika (Februar 1987)1, S. 123.)

Wirtschaftspolitik und -entwicklung

223

Bereits mehrfach wurde im Verlauf dieser Arbeit auf die Problematik einer so von externen Faktoren abhängigen Wirtschaftsentwicklung, wie im Falle Uruguays, hingewiesen. Diese Abhängigkeit zieht sich beinahe wie ein roter Faden durch die Geschichte des Landes; sie zeichnet auch verantwortlich für die „Fragilität der ökonomischen Wiederbelebung" der Jahre 1985 bis 1987, da „[...] bis auf die Reallöhne alle genannten Parameter, die den Boom begünstigten, auf der weltwirtschaftlichen Ebene angesiedelt sind und damit außerhalb der Einflußmöglichkeit nationaler Politik liegen." 39 So waren unter der Regierung Sanguinetti zunächst hauptsächlich die günstigen Absatzmöglichkeiten für uruguayische Güter auf dem benachbarten brasilianischen Markt die notwendigen Voraussetzungen zum Funktionieren des exportorientierten Wirtschaftssystems. Bereits 1987 aber verschlechterten sich die regionalen Bedingungen dergestalt, daß der Handel mit Brasilien und Argentinien, im Gegensatz zur globalen Handelsbilanz, deutlich negativ ausfiel. Für 1987 mußte im Handel mit den beiden Nachbarländern ein Minus von 118,5 Millionen, 1988 sogar von 144,2 Millionen US-Dollar verzeichnet werden. 40 Der dortige Preisverfall führte u.a. dazu, daß Uruguay Mitte 1989 als protektionistische Maßnahme die Kontrollen an den Grenzen zu Argentinien und Brasilien verschärfte und die Regelung des cero kilo einführte. Diese untersagte es, auf privater Ebene die damals sehr viel billigeren Güter aus den Nachbarländern einzuführen. In erheblichem Maße negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung wirkte sich die langanhaltende Dürreperiode aus, die 1989 ihren Höhepunkt erreichte. Darunter hatte besonders die Landwirtschaft zu leiden, die in nicht unerheblichem Ausmaß Ernteeinbußen und eine Verringerung des Kälberbestandes hinnehmen mußte. Doch auch für das städtische Leben hatte diese Dürreperiode Messner 1990: 58. Wenngleich von einer anderen Qualität gehören zu den externen Faktoren auch die bereits erwähnten Vorgaben des IWF, die sich auf die uruguayische Wirtschaftspolitik auswirkten. Eine Analyse, welchen Einfluß die seit 1985/86 laufende Überwachung (sogenanntes Monitoring) der Wirtschaftspolitik durch den IWF auf die Handlungskapazität der Regierung hatte, würde allerdings den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Zumindest war die Regierung Sanguinetti „[...] zur regelmäßigen Abstimmung der Wirtschaftsziele mit dem IWF verpflichtet." (DeutschSüdamerikanische Bank: Kurzbericht über Lateinamerika (November 1987)4, S. 123.) Vgl. Berretta 1989: 134. Eine zusammenfassende Beschreibung der Wirtschaftsentwicklung von 1985 bis 1989 geben Notaro/Hintermeister: „[...] se pueden distinguir dos etapas con resultados económicos muy distintos. En la primera, entre 1985 y 1987, se observa el crecimiento del producto, mejoras en el nivel de empleo y en los ingresos de los sectores populares, reducción gradual de la inflación y, absorción de los costos de la crisis financiera interna; todo esto, en condiciones externas favorables. En la segunda etapa, entre 1988 y 1989, el nivel de actividad económica se estanca, el proceso de mejora en los niveles de ingreso de los sectores populares se detiene, la inflación se acelera y las dificultades financieras repercuten en un nivel de déficit fiscal muy difícil de reducir. A lo que se suma un contexto externo menos favorable por la revaluación del dólar, el aumento de las tasas de interés y la situación de Argentina y Brasil." (Notaro/ Hintermeister 1989: 33.)

224

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

unmittelbare Folgen, da die Energieversorgung in Uruguay im wesentlichen durch Wasserkraftwerke gesichert wird. Angeordnete Energiesparmaßnahmen und Restriktionen vielfaltiger Art waren die Folge. So wurde z.B. in jedem Stadtteil Montevideos jeweils für einen Abend in der Woche die Stromversorgung eingestellt. Wenngleich der während der Militärdiktatur stark forcierte Prozeß der Einkommenskonzentration aufgehalten werden konnte und sich die Schere der Einkommensverteilung leicht schloß, 41 war gegen Ende der Amtszeit Sanguinettis in weiten Teilen der Bevölkerung Enttäuschung und Unzufriedenheit über dessen Regierungspolitik, besonders bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung zu registrieren. Da der Staat für den Großteil der Bevölkerung nicht in befriedigender Weise seinen distributiven Aufgaben nachkam, wurde mit der ungünstigen wirtschaftlichen Tendenz in erster Linie die Regierung Sanguinetti identifiziert. 42 Der Hauptvorwurf lautete, daß die Regierung die Krise der Wirtschaft lediglich verwaltet habe. 43 Es seien keine entscheidenden Impulse gegeben, keine Veränderungen oder Korrekturen eingeleitet worden; die Wirtschaftspolitik entbehre jeglicher nationalen Entwicklungsstrategie und beschränke sich auf die traditionellen Instrumente. Resümierend betrachtet war Sanguinetti auch mit Blick auf die Wirtschaftspolitik ein Präsident, der auf spektakuläre Maßnahmen und tiefgreifende Reformen verzichtete. Doch trotz des eingeschränkten Handlungsspielraumes als Folge des wirtschaftlichen Desasters, welches die Militärregierung hinterlassen hatte, konnte die Regierung Sanguinetti in den ersten beiden Jahren ihrer Amtszeit aus den genannten Gründen wirtschaftliche Erfolge erzielen. Damit wurde Sanguinetti den seitens der Bevölkerung hochgesteckten Erwartungen an die Demokratie, die auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungskapazität bestanden, anfangs gerecht. Dies trifft aber nicht für den weiteren Verlauf seiner Regierungszeit zu, ohne daß sich allerdings die negative Perzeption der Performanz gegen das Regime gerichtet und die MakroStabilität gefährdet hätte.

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1 42 43

Zu detaillierten Informationen siehe Macadar 1992. Ausführlicher zu dieser Negativperzeption siehe Wagner 1991: 106-108. Vgl. Gutiérrez u.a. 1989: 99-101 sowie Cancela/Notaro 1987: 18.

Die Untemehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

6.1.3

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

6.1.3.1

Das Dreiecksverhältnis Unternehmerverbände Gewerkschaften - Regierung

225

Die Konzertierang im Rahmen der CONAPRO hatte einen Ausgangspunkt geboten, um das Verhältnis der darin beteiligten Akteure untereinander sowie jeweils die eigene Rolle im politischen System neu zu definieren und den veränderten Bedingungen anzupassen. Wie aber bereits erwähnt, verschoben sich in den Wochen nach den Wahlen von 1984 die Gewichte im Rahmen des Konzertierungsprozesses zugunsten der zukünftigen Regierungspartei. Bereits in den Verhandlungen der CONAPRO betonten die Vertreter des Partido Colorado, daß die Wirtschaftspolitik ausschließlich in den Händen der Exekutive zu liegen habe. 44 Die politischen Machtverhältnisse waren nun geklärt und spätestens nach dem Amtsantritt der neuen Regierung im März 1985 wurde für eine weitergehende Konzertierang der in der CONAPRO vereinten gesellschaftlichen Kräfte kaum noch ein Anlaß gesehen: „[...] once parliament was open and the Sanguinetti government in office, concertation was dead." 45 Die Ansprüche, mit denen die CONAPRO angetreten war, konnten damit nur teilweise verwirklicht werden. 46 Ihre Funktion beschränkte sich darauf, dem Transitionsprozeß einen breiten Rückhalt der sozio-politischen Akteure verschafft zu haben. Es gelang weder, ein gemeinsames Projekt der demokratischen Konsolidierung zu erarbeiten, das der zukünftigen Regierung als Basis für ihre Politik diente, noch ein qualitativ neues System der Interessenrepräsentation zu etablieren, das nicht eine Rückwendung zu den aus der Zeit vor der Diktatur gewohnten Verhaltensmustern bedeutete. Die Rolle der Unternehmerverbände im Konzertierungsprozeß des Jahres 1984 war noch durch das Bestreben geprägt, eine eigene Identität als sozialer Akteur zu finden. Dazu gehörte, daß man sich bemüht zeigte, das nicht erst mit der Militärdiktatur überwiegend schlechte gesellschaftliche Image der Unternehmer aufzupolieren. Die Rückkehr zur Demokratie bot den Unternehmern und ihren Interessenorganisationen die Chance, an die alten Mechanismen der Interessenvermittlung anzuknüpfen und die Beziehungen zu den anderen für sie relevanten Akteuren aktiv zu gestalten. Im Zuge der umfassenden Restauration des vordiktatorialen politischen Systems kehrten sie jedoch zunächst wieder zu einer relativ großen politischen Passivität und zu ihrer Strategie zurück, sich an

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Vgl. Bruera 1991b: 20. Weinstein 1988: 86. Ausführlicher hierzu vgl. Rial 1986.

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6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen und eher vorsichtig zu agieren. Sie überließen das politische Terrain, wie aus der Zeit vor der Diktatur gewohnt, den Parteien und staatlichen Entscheidungsträgern.47 „[...] su concepción acerca de su rol en 'lo público' los empuja a diluir su participación en este escenario, a insistir en un aparente carácter apolítico, exógeno a la negociación misma, en aras de un discurso que los invista como defensores de 'lo económico'." 48 In diesem Sinne ist auch die Äußerung von Ricardo Petrissans Aguilar, Repräsentant der Unión de Exportadores, exemplarisch, nach dessen Selbstverständnis sein Verband viel mehr Unternehmer als Politiker sei. 49 Wichtigster direkter Ansprechpartner der Unternehmerverbände und Hauptadressat ihrer Forderungen wurde erneut die Exekutive. 50 Die Verbände beschränkten sich weitgehend auf die gewohnten Möglichkeiten der Einflußnahme, d.h. sie nutzten wieder hauptsächlich informelle Einflußkanäle, um Druck auszuüben, sich einzumischen, Lobbying zu betreiben usw. Sie konstituierten sich nicht als verläßliche Ansprechpartner mit einem klar umrissenen Interessenprofil, sondern als Akteure mit je nach Situation unterschiedlichen Partikularinteressen. Die Regierung ihrerseits zeigte sich nach ihrem Amtsantritt nicht besonders daran interessiert, gesellschaftliche Sektoren - seien es Unternehmer, seien es Gewerkschaftsvertreter - in den politischen Prozeß bei der Formulierung und Implementierung der Wirtschaftspolitik einzubeziehen. So schreibt Filgueira in einer Analyse der Jahre 1985 bis 1987: „La política económica del gobierno está sustentada en la orientación determinada por el Poder Ejecutivo. En sus lincamientos doctrinarios básicos no existe en la práctica ninguna forma de cogestión y participación de la sociedad civil. En particular, las corporaciones empresariales y sindicales no son convocados para ninguna instancia de definición de la política 'macro'."51

Eine wichtige Ausnahme bildete der Bereich der Lohnpolitik, wo von der zu Zeiten der Militärdiktatur praktizierten staatlichen Festsetzung der Löhne Abstand genommen wurde. Zwar erhöhte die neue Regierung unmittelbar nach der Aufnahme der Amtsgeschäfte per Dekret die Löhne im Vergleich zum 47

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Auch Caetano stellt hierzu fest, daß die Unternehmerverbände zu ihren traditionellen Praktiken zurückkehrten, ohne ihr Verhaltensrepertoire wesentlich zu ändern. (Vgl. Caetano 1992b: 39.) Alberti 1989: 58. Petrissans Aguilar in einem Gespräch am 15.11.1991 in Montevideo. Vgl. Moreira 1989: 211. Juan Rial erklärte in einem Gespräch am 30.10.1991 in Montevideo, daß die Unternehmerverbände in der Regel über die Exekutive und nicht über das Parlament versuchen, Einfluß auf politische Entscheidungen zu nehmen, da vom Parlament kaum Gesetzesentwürfe eingebracht würden. Filgueira 1990: 462/463. Vgl. dazu auch Cancela/Notaro 1989: 45. Panizza spricht in diesem Zusammenhang nicht umsonst von einem staatlichen Protagonismus, der von den Unternehmerverbänden mit einer Strategie der „inserción defensiva" begleitet worden sei. (Vgl. Panizza 1989: 22.)

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

227

Januar 1984 um 80% (übrigens ohne daß dies auf entscheidenden Widerstand aus der Unternehmerschaft stieß, die sich in Zurückhaltung übte); 52 es waren aber längst Bestrebungen in Richtung einer Zusammenarbeit mit Unternehmerverbänden und Gewerkschaften im Gange. Das damit verbundene Ziel verkündete der zukünftige Arbeits- und Sozialminister Hugo Fernández Faingold bereits im Januar 1985: „[...] queremos establecer formas de relacionamiento y negociación entre obreros y patrones con una participación del Estado debidamente acotada [...] Sería ilusorio pensar que la concertación puede evitar los conflictos porque éstos son normales en una sociedad. Lo que pretendemos es instaurar procesos ordenados de articulación de intereses que complementen, enriquezcan v apoyen el funcionamiento normal de los organismos republicanos representativos.""

Infolgedessen wurde an die Verfahrensweise, wie sie vor der Diktatur von Mitte der 40er Jahre bis 1968 mit dem System der Consejos de Salarios üblich war, angeknüpft. Anders als bei der 1968 als Nachfolgeorganisation der Consejos de Salarios eingesetzten COPRIN, in der die Exekutive mehrheitlich mit fünf Mitgliedern gegenüber je zwei Repräsentanten von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite vertreten war (die dann während der Diktatur sogar noch ausgeschlossen wurden), stellte nun in den wieder eingerichteten Consejos de Salarios die Regierung nur noch drei gegenüber je zwei von den Gewerkschaften und Unternehmerverbänden vorzuschlagenden Mitgliedern. Mit diesem Kurs setzte sich die Regierung gegen die Vorstellungen sowohl der Unternehmerverbände als auch der Gewerkschaften durch. 54 Während die Gewerkschaften Tarifautonomie vorzogen und gegen eine staatliche Beteiligung bei den Lohnverhandlungen waren, war die Contra-Position der Unternehmer nicht eindeutig. Es gab sowohl Stimmen, die sich für direkte Lohnverhandlungen zwischen den beiden Tarifpartnern einsetzten, als auch Meinungen, nach denen die Regierung in Anknüpfung an die Praxis während der Militärdiktatur die Löhne per Dekret festsetzen sollte. Trotz weit verbreiteter Skepsis in den Reihen der Unternehmer gegenüber den Consejos de Salarios verschlossen sie sich einer Teilnahme ebensowenig wie die Gewerkschaften, wohl vorwiegend, um auf diese Weise vermehrte Konflikte in den Arbeitsbeziehungen zu vermeiden. Die Einrichtung der Consejos de Salarios bot nun wenigstens die Möglichkeit, in einem bestimmten Rahmen in Verhandlungen zu treten. Diese auch institutionelle Einordnung in eine festgelegte Vorgehensweise war für die

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Vgl. Pucci 1992: 89. Fernández Faingold, so zitiert in Berretta 1989: 100 unter Berufung auf Búsqueda vom 17.1.1985. Vgl. Notaro 1991:4/5.

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6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

Unternehmer das kleinere Übel, als sich weiterhin ungeregelten Arbeitskämpfen, mit denen sie Anfang 1985 massiv konfrontiert wurden, auszusetzen. 55 Im Unterschied zum öffentlichen Dienst, wo die Regierung alle vier Monate Lohnanpassungen per Dekret vornahm, wurden Lohnerhöhungen in der Privatwirtschaft nun in den Consejos de Salarios ausgehandelt. 56 Dazu wurden insgesamt 48 Consejos de Salarios, die sich zunächst 1985 noch einmal in 187 Arbeitsgruppen aufteilten und deren Zahl bis 1988 auf 210 stieg, vom Ministerio de Trabajo y Seguridad Social zu Verhandlungen zusammengerufen. In dem Verfahren der Consejos de Salarios zur Lohnanpassung hatte die Regierung eine Schlüsselstellung. Denn sie gab nicht nur Lohnleitlinien als Orientierungsgrößen für die Verhandlungen vor, sondern sie behielt sich auch jeweils das Recht vor, die erzielten Abschlüsse als rechtsverbindlich zu erklären. So konnten mehrheitlich gegen den Willen der Regierung getroffene Übereinkünfte auch verhindert werden. 57 Diese Sonderrolle des Staates in den Arbeitsbeziehungen stellte ein wesentlicher Unterschied zu den Consejos de Salarios in den 40er Jahren dar. 58 Als den Consejos de Salarios übergeordnete Instanz war ein Consejo Superior de Salarios (COSUSAL) eingerichtet worden. Allerdings hatte der COSUSAL nur einen informellen und beratenden Charakter, also eher den Status einer Kontaktgruppe. Dort sollten in erster Linie die Modalitäten zur Funktionsweise der Consejos de Salarios geklärt werden. Darüber hinaus sollte dem COSUSAL eine Art Schiedsrichterrolle zukommen. Von staatlicher Seite gehörten dem COSUSAL das Arbeits- und Sozialministerium, das Ministerium für Wirtschaft und Finanzen sowie das Planungs- und Haushaltsbüro (Oficina de Planeamiento y Presupuesto) an, von Seiten der Unternehmer die Cámara de Industrias, die Cámara Nacional de Comercio und die Cámara de Frutos del País. Die Gewerkschaften waren durch ihren Dachverband PIT-CNT vertreten. Der COSUSAL sollte aber insofern erfolglos bleiben, als er sich nicht auf Dauer als zentrales Organ etablieren konnte. Nachdem der Rahmen für die Verfahrensweise in den Consejos de Salarios abgesteckt worden war, beschloß die

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Vgl. Pucci 1989: 45 und 80 sowie Pucci 1992: 88. Vgl. Notaro 1989b: 25. Ausgenommen hiervon war der Agrarsektor, wo weiterhin die Regierung die Löhne festlegte. Unberücksichtigt in den Consejos de Salarios blieben auch Hausangestellte und Beschäftigte im informellen Sektor. (Vgl. Bruera 1991b: 12.) Vgl. Filgueira 1990: 472 und Notaro 1989b: 22. Vgl. OIT 1987: 111. Dabei beschränkten sich die Interventionsmöglichkeiten des Staates nicht auf die beiden Aspekte Lohnleitlinien und Rechtsverbindlichkeit: „[...] tuvo poder de iniciativa en las negociaciones, efectuó múltiples propuestas y en suma, no fue un actor que tomara distancia de los conflictos y de las negociaciones en aquellos sectores donde el acuerdo resultara difícil." (Pucci 1992: 88.)

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

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Regierung, den C O S U S A L aufzulösen. Letztmalig traf man sich im Februar 1986.59 N a c h den Mechanismen der Consejos de Salarios wäre es denkbar gewesen, daß Regierung und Unternehmer sich gemeinsam gegen die Interessen der Gewerkschaften durchsetzten. Solche Bündnisse kamen aber selten vor; insgesamt war der soziale Konsens recht stark ausgeprägt. 6 0 In den Jahren 1985 und 1986 wurden zwischen 69% und 92% aller Entscheidungen einstimmig getroffen. Im Durchschnitt 8,5% der Vereinbarungen kamen aufgrund einer Mehrheit von Regierung und Unternehmern g e g e n das Votum der Arbeitnehmer zustande, 1,5% gegen den Widerstand der Unternehmer, also in Allianz zwischen Regierung und Arbeitnehmern. 6 1 D i e Tatsache, daß einerseits die Gewerkschaften die Regierung als letzte Entscheidungsinstanz in den Consejos de Salarios (Stichwort Rechtsverbindlichkeitserklärung) akzeptierten und daß andererseits in den vier Jahren des Bestehens der Consejos de Salarios während der Präsidentschaft Sanguinettis von insgesamt 9 6 v o n den Gewerkschaften vorgeschlagenen Vertretern nur zwei dann nicht von der Regierung ernannt worden sind, hat sogar zu Spekulationen über einen „Geheimpakt" zwischen der Regierungspartei Partido Colorado und dem Partido Comunista als der den Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT dominierenden parteipolitischen Kraft geführt (sogenannter Pacto C o - C o ) . 6 2

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Vgl. OIT 1987: 114, Notaro 1989b: 21 und Notaro 1991: 4. Dies war angesichts der Vorbehalte, die in den Reihen der Gewerkschaften z.T. gegenüber der Regierung Sanguinetti herrschten, nicht unbedingt zu erwarten. So hieß es z.B. in einem zum ersten außerordentlichen Kongreß des PIT-CNT präsentierten Diskussionspapier: „La actual política económica del gobierno continúa en lo fundamental el camino de la dictadura. Aunque en el Partido Colorado también actúan y se expresan sectores de la pequeña y mediana burguesía urbana y rural, la política del actual gobierno es la de los representantes de la gran burguesía industrial, del capital financiero y del imperialismo y cuyos más claros exponentes son el propio Ministro de Economía, señor Zerbino, quien fuera asesor del Ministro Vegh Villegas durante la dictadura; el señor Davrieux, Director de la Oficina de Planeamiento y Presupuesto, que se desempeñara como colaborador de la misma, y todo el equipo económico del Poder Ejecutivo." (Propuesta para la discusión del Primer Congreso Extraordinario. Balance y Perspectivas, PIT-CNT. So zitiert in Filgueira 1990: 468.) Angaben auf der Grundlage der Daten in Filgueira 1990: 480. Zu den Verfahrensweisen in den Consejos de Salarios, den Ereignissen sowie den konkreten Streitpunkten und Konflikten, die eher das Verhältnis Regierung - Gewerkschaften betrafen, siehe im einzelnen außerdem OIT 1987, Notaro 1991, Bruera 1991b, Pucci 1992: 85-122 und Nolte 1994: 420-424. Vgl. Notaro 1989b: 23/24. Exemplarisch für Mutmaßungen in diese Richtung, wie sie von Teilen der Presse angestellt worden sind, ist die Berichterstattung von La Democracia am 8.7.1988. Dort wurden öffentliche Äußerungen von Präsident Sanguinetti und Arbeitsminister Faingold über die Gewerkschaften als neuerliche Bestätigung eines existierenden Pacto Co-Co interpretiert: „[...] ambos gobernantes manifestaron claramente, aunque sin nombrarla, sus preferencias por la tendencia comunista."

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6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

Diese Vermutungen hinsichtlich einer „impliziten Konzertierung" 63 zwischen Partido Colorado und Partido Comunista wurden dadurch genährt, daß die Unternehmerverbände mit ihren Angriffen auf die Gewerkschaften keine entsprechenden Maßnahmen der Regierung erwirken konnten. Die Hauptkritik der Unternehmerverbände in bezug auf den Bereich der Arbeitsbeziehungen zielte auf das Fehlen rechtsverbindlicher Vorgaben, besonders mit Blick auf die Organisation und Aktivitäten der Gewerkschaften. Immer wieder etwa wurde aus den Reihen der Unternehmerschaft die mangelnde Repräsentativität der Gewerkschaften beklagt, 64 was in Forderungen mündete, die Verfahrensweise zur Ernennung der Vertreter der Arbeiterschaft in den Consejos de Salarios zu modifizieren. Die Regierung kam diesem Ansinnen nicht nach. Ebensowenig gelang es den Unternehmerverbänden, eine Reglementierung des Streikrechts durchzusetzen.65 Zwar scheuten sich auch Regierungsvertreter nicht, ab und an mit einer solchen Reglementierung zu drohen und entsprechende Gesetzesvorlagen zu diskutieren; dies zielte wohl aber in erster Linie darauf, die Gewerkschaften zu „disziplinieren". Ähnlich wurde allerdings besonders in der ersten Zeit nach Regierungsantritt - versucht, auch die Unternehmer mit verbalen Mitteln zu disziplinieren. Als ein Beispiel griff Arbeitsund Sozialminister Fernández Faingold mit folgenden Worten die Unternehmerseite an: „[...] entre los empresarios hay bolillas blancas y bolillas negras. Hay muchos que actúan correctamente y no consideran como una mala palabra la existencia de sindicatos en su empresa, pero hay otros que no sólo resisten la formación de sindicatos sino que para evitarlos o controlarlos apelan a medidas que parecen corresponder más al siglo XVIII inglés que al siglo XX uruguayo. [...] Conozco empresas cuyos propietarios son verdaderos terroristas que en estos momentos están desestabilizando al país. El otro día, en este mismo Ministerio, un empresario dijo a voz en cuello que jamás admitiría la existencia de un sindicato en su empresa y que antes que eso la cerraría. Ese señor es un terrorista. Está atentando contra el régimen democrático y, directa o indirectamente, está llamando a gritos a que otra vez intervengan sectores ajenos a la vida democrática del país. Y ese caso no es el único. Hay muchos. A veces hay desacostumbramiento, en otros casos inexperiencia, y en otros una especie de postura terrorista endémica." 66

Obwohl vor allem Fernández Faingold nicht nur einmal auf Konfrontationskurs mit den Unternehmern ging, bemühte sich die Regierung gleichzeitig um ein gutes Verhältnis zur Privatwirtschaft. Auch innerhalb der Regierung gab es unterschiedliche Positionen, die sich erst im Verlauf der Regierungszeit annä63 64

65 66

So Jorge Lanzaro auf einem Kongreß in Montevideo im Dezember 1988. (Vgl. Pucci 1992: 53.) Vgl. Bruera 1991b: 13. Bruera weist in diesem Zusammenhang daraufhin, daß umgekehrt die geringe Repräsentativität der Unternehmerverbände nie zu einem Thema gemacht worden sei. Vgl. Alberti 1989: 71. So zitiert nach Berretta 1989: 103 unter Berufung auf Búsqueda vom 3.5.1985.

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

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herten, so daß z.B. die Affinitäten der Unternehmer zur Politik des Wirtschaftsund Finanzministeriums ungleich größer waren als zum Kurs des Arbeits- und Sozialministeriums.67 Aber auch die Beziehungen der Unternehmer zum Arbeits- und Sozialminister, der von diesen anfangs als Verteidiger der Positionen der Arbeitnehmer und Gegner der Industrieunternehmer eingeschätzt worden war, verbesserten sich im Laufe der Zeit. Die positive Rolle des Ministers als „Schiedsrichter" in den Arbeitsbeziehungen, der die Spielregeln bestimmte, wurde anerkannt. 68 Als ein wichtiges Ergebnis der Consejos de Salarios gelang es, die bestehenden Animositäten und Ressentiments zwischen Unternehmern und Gewerkschaften abzubauen. Nach damals nunmehr 17 (!) Jahren, ohne miteinander in Verhandlungen zu treten, war unmittelbar nach der Diktatur die Gefahr von Auseinandersetzungen zwischen Unternehmern und der organisierten Arbeiterschaft besonders groß. Anfang 1985, bevor die neue Regierung die Amtsgeschäfte übernahm, erlebte das Land so auch eine Vielzahl von Arbeitskämpfen, die dann allerdings im Laufe der Zeit mit der Einrichtung der Consejos de Salarios merklich reduziert werden konnten. 69 Verdienst der Consejos de Salarios war es in diesem Sinne, daß bestehende Konflikte in den Arbeitsbeziehungen kanalisiert und reduziert sowie gegenseitige Annäherungen geschaffen wurden. Auseinandersetzungen wurden so auf der Mikroebene ausgetragen, daß Konflikte nicht auf die Makroebene übergriffen und womöglich die Stabilität des Gesamtsystems beeinträchtigten. So konnte nach einer anfänglichen Streikwelle der soziale Friede hergestellt und weitgehend aufrechterhalten werden, wenngleich Differenzen grundsätzlicher Art zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften fortbestanden. Aber nicht umsonst hob eine Delegation der Organización Internacional de Trabajo (OIT), die im November 1986 die Arbeitsbeziehungen in Uruguay inspizierte, hervor, daß diese sich in einem Klima gewerkschaftlicher Freiheit und gegenseitiger Toleranz der beteiligten Akteure entwickeln würden: „Todo el mundo reconoce la independencia de los interlocutores sociales entre sí y con respecto al Estado." 70 Auf Seiten der Unternehmer boten die Consejos de Salarios zusätzlich die Chance, bestehendes Mißtrauen untereinander (jeder als potentieller Konkurrent des anderen) abzubauen. In den ersten Verhandlungsrunden war die Mitarbeit der Unternehmer wohl auch aufgrund des gegenseitigen Mißtrauens nur wenig konstruktiv gewesen. Der Aufforderung der Regierung, Informationen über ihre 67

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Vgl. Bruera 1991b: 18. Vgl. Pucci 1992: 115. Siehe hierzu die statistische Auswertung bei Filgueira 1990: 473-478. OIT 1987: 38.

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6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

Unternehmen vorzulegen, um so eine Basis für die Verhandlungen zu bekommen, wurde kaum entsprochen. Denn Daten über z.B. Kostenstruktur und Produktivität des eigenen Unternehmens hätte potentiellen Konkurrenten Einblicke in die geschäftlichen Verhältnisse gegeben und damit Kenntnisse vermittelt, die jene zu ihrem Vorteil hätten einsetzen können. 71 Diese und ähnlich geartete Einstellungsmuster waren typisch für das Verhältnis der Unternehmer untereinander und für die gewöhnlichen Umgangsformen. Die Ursachen für diese ausgeprägten individualistischen Orientierungen und eine mangelnde kollektive Identität sind auch darin zu suchen, daß es die traditionellen Unternehmerverbände kaum zu ihren Aufgaben zählten, Gelegenheiten zum gegenseitigen Erfahrungs- und Meinungsaustausch sowie zur gemeinsamen Fortbildung zu schaffen. Diesem Anliegen widmete sich nun verstärkt die Asociación Cristiana de Dirigentes de Empresa, die immer wieder Unternehmer und Repräsentanten verschiedener Unternehmerverbände mit führenden Politikern aller Parteien in Dialog brachte. 72 Zunächst mag es als ein Vorteil für die Unternehmer wahrgenommen worden sein, daß sich ihre Interessenverbände nach der Diktatur nicht neu organisieren mußten. Tatsächlich aber vermittelte der Unternehmersektor nach der Militärdiktatur ein Bild der Desorganisation, denn die Unternehmerverbände waren keine Vereinigungen, die von den Unternehmern selbst als ihre eigenen, gemeinsamen Interessenvertretungen verstanden wurden. Aufgrund mangelnder Geschlossenheit und fehlendem Zusammengehörigkeitsgefühl (was mit dem traditionellen Rollenverständnis der Unternehmer zusammenhing, die sich in der Vergangenheit kaum als eine soziale Gruppe mit einem gemeinsamen Interessenprofil gesehen hatten) war die Position der Unternehmer in den ersten Lohnverhandlungen geschwächt.73 Sicher nicht zuletzt die für viele Unternehmer relativ ungünstigen Ergebnisse der ersten Lohnabschlüsse sorgten für Annäherungen zwischen den Unternehmern, die ihre gemeinsame Interessenslage und die Notwendigkeit, mit einer Stimme zu sprechen, entdeckten. Über die Hürden, die zwischen den Unternehmern selbst bestanden, kam es dann im Kontext der Lohnverhandlungen doch zu einer

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73

Vgl. Brezzo/Vispo 1988: 430, Beiretta 1989: 108, Notaro 1989b: 27 und Notaro 1991: 11. So, um nur zwei Beispiele zu nennen, wurden Mitte November 1987 mit Vize-Präsident Enrique Tarigo, Außenminister Enrique Iglesias und anderen Spitzenpolitikern der im Parlament vertretenen Parteien deren Vorstellungen zu den „Spielregeln" des Wirtschaftsgeschehens diskutiert, und Ende August 1989 standen die Präsidentschaftskandidaten Liber Seregni (Frente Amplio), Alberto Zumarän und Luis Alberto Lacalle (beide Partido National) in einem Kolloquium rund 300 Unternehmern Rede und Antwort. (Jorge Batlle als Kandidat des Partido Colorado mußte kurzfristig seine Teilnahme absagen.) Vgl. Brezzo/Vispo 1988: 432.

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

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verstärkten Zusammenarbeit verschiedener Unternehmerverbände (vor allem Cámara de Industrias, Cámara Nacional de Comercio und Cámara Mercantil de Productos del País), denen es gelang, gegenüber Gewerkschaften und Regierung gemeinsame Positionen zu formulieren. Dies mündete schließlich in die Gründung der Intercameral Ende 1985.74 Ab Juni 1986 wurde ein neuer Weg in der Lohnpolitik beschritten. Es wurden verstärkt sektorielle Übereinkünfte von längerer Dauer angestrebt, d.h. konkret Tarifverträge mit einer Laufzeit von einem Jahr und länger geschlossen. Während zuvor in den Consejos de Salarios der Staat immer eine zentrale Rolle bei den TarifVerhandlungen spielte, wurden nun auch direkte Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschlossen, ohne daß ein Einverständnis der Regierung vorlag. 75 Da viele Abschlüsse Lohnsteigerungen brachten, die über den von der Regierung vorgegebenen Leitlinien lagen, wurde - durch diese Entwicklung beunruhigt - von der Exekutive verkündet, daß der Staat als Akteur in der tarifpolitischen Auseinandersetzung nicht entbehrlich sei. 76 Tatsächlich verfügte die Regierung immer noch über die Option, Vereinbarungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften die notwendige Erklärung der Rechtsverbindlichkeit zu verweigern, was allein schon dazu benutzt werden konnte, Druck auf die Verhandlungspartner auszuüben. Wenngleich diese Position aus den Reihen der Unternehmerschaft weniger deutlich kritisiert wurde als von Gewerkschaftern, kam es doch zu Beschwerden. So erklärte der Präsident der Cámara de Industrias, José Villar, es sei nicht gut, die Spielregeln zu ändern; bislang könne man miteinander verhandeln, weil man die Verfahrensweisen kenne. 77 Anfang 1987, wie bereits ein Jahr zuvor im Februar 1986, legte die Regierung per Dekret die Lohnanpassungen fest, ohne die Consejos de Salarios einzuberufen. Zwar ließ die Kritik der Gewerkschaften nicht lange auf sich warten, aber anders als noch 1986 wurde von Gegenaktionen wie der Durchfuhrung eines Generalstreiks abgesehen. 78 In der Folgezeit traten die Consejos de Salarios wieder zu Tarifgesprächen zusammen, um für Juni und Oktober 1987 die Lohnsteigerungen auszuhandeln. Für das Jahr 1988 kamen aus dem Arbeits- und Sozialministerium Vorschläge, die auf eine Neugestaltung der Tarifpolitik insgesamt zielten, indem längerfristige Tarifverträge zur Norm gemacht werden sollten. Ab Mitte des Jahres sollten für alle Consejos de Salarios Verträge mit einer Laufzeit von 20 Monaten und damit bis zum Ende der Regierungszeit Sanguinettis am 1. März 1990 abgeschlossen werden. Diese Vorgehensweise implizierte eine 74 75 76 77 78

Zur Intercameral siehe Kapitel 4.1. Vgl. Frenkel/Damill 1990: 10, Stolovich 1989a: 55 und Kroch 1991: 175. Vgl. Berretta 1989: 110. Vgl. Berretta 1989: 111 unter Berufung auf Crónicas Económicas vom 17.-24.11.1986. Vgl. Pucci 1992: 96.

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

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Abschaffung der Consejos de Salarios und rief den Widerspruch vor allem der Gewerkschaften hervor. 79 Sie rechneten damit, daß sich die von der Exekutive vorgeschlagene Verfahrensweise insgesamt negativ auf die Reallohnentwicklung auswirken würde. Repräsentanten der Cámara de Industrias und der Cámara Nacional de Comercio brachten in diesem Kontext ihre Befürchtungen bezüglich eines Anwachsens der Arbeitskämpfe zum Ausdruck, ohne sich grundsätzlich gegen Tarifverträge mit längerer Laufzeit auszusprechen. Doch weder der Widerstand aus den Reihen der Gewerkschaften inklusive eines Generalstreiks im Juni 1988 noch das von Seiten der Unternehmer teilweise geäußerte Unbehagen konnten die von der Regierung beabsichtigten Tarifverträge mit längerer Laufzeit verhindern. In der Folgezeit sollten sich die Befürchtungen bezüglich vermehrter Arbeitskonflikte nicht bewahrheiten. Auch der Präsident der Cámara de Industrias, Néstor Cosentino, stellte im August 1989 fest, daß diese längerfristigen Vereinbarungen zu einer Verminderung der Konflikte in der Privatwirtschaft beigetragen hätten. 80 Bei einer Betrachtung der Reallohnentwicklung während der Regierungszeit Sanguinettis wird das Bestreben der Exekutive deutlich, Lohnerhöhungen weitgehend einzuschränken. In der Privatwirtschaft gestaltete sich die Entwicklung der Reallöhne für die Arbeitnehmer über den gesamten Zeitraum günstiger als im öffentlichen Dienst, wo 1989 - immerhin im Wahljahr - sogar Reallohneinbußen hingenommen werden mußten. Graphik 18: Reallohnentwicklung im privaten und öffentlichen Sektor 1985-1989 (jährliche Variation in %)

1985

1988

—•— Privatwirtschaft

1967

1988

1989

—•— Öffentlicher Dienst

Quelle'. Tabelle 10 im Anhang; siehe dort auch die genauen Daten. Vgl. zu Einzelheiten dieses Konfliktes, der in erster Linie das Verhältnis Regierung Gewerkschaften betraf und deswegen hier nicht weiter behandelt wird, Pucci 1992: 97109. Vgl. La República vom 12.8.1989. Einige Monate vorher hatte bereits Arbeitsminister Faingold betont: „[...] lo cierto es que los últimos seis o siete meses, comparados con periodos anteriores, son de conflictividad relativamente baja [...]." (So zitiert in Búsqueda N° 483 vom 5.5.1989.)

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

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Abschließend läßt sich feststellen, daß - obwohl Tarifpolitik allein aus der Natur der Sache heraus immer ein zentrales Anliegen der Unternehmer ist - die Unternehmer in den Arbeitsbeziehungen insgesamt eine relativ passive Rolle gespielt haben. Dies geschah analog der aus der Vergangenheit gewohnten Verhaltensmuster. Zu dieser Einschätzung kam man auch in einer Studie aus dem Arbeits- und Sozialministerium über die Lohnverhandlungen in den Jahren 1985 bis 1988.81 Doch immerhin boten die Consejos de Salarios den Unternehmerverbänden wie auch den Gewerkschaften eine Partizipationsmöglichkeit an den für die makro- und mikroökonomische Entwicklung wichtigen tarifpolitischen Entscheidungen. In diesem Rahmen versuchten die Gewerkschaften durch Streikmaßnahmen und die Unternehmerverbände in erster Linie durch die Drohung, von den Verhandlungen der Consejos de Salarios fernzubleiben (so geschehen Anfang 1987 82 ), Druck auf die Regierung auszuüben, um jeweils ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Ein Indikator dafür, daß trotz ausgetragener Konflikte diese Form der Tarifauseinandersetzung in den Consejos de Salarios im Grunde von den beteiligten Akteuren akzeptiert wurde, ist das Verbleiben von Fernández Faingold im schwierigen und konfliktträchtigen Amt des Arbeits- und Sozialministers über einen Zeitraum von viereinhalb Jahren, d.h. fast über die gesamte Regierungszeit Sanguinettis.83 Die Unternehmer dürften während dieses Prozesses überwiegend zu Erkenntnissen gekommen sein, die zu einer positiveren Einstellung gegenüber der Politik der Regierung in diesem Bereich und insbesondere der Politik des zunächst kritisierten Arbeits- und Sozialministers gefuhrt haben. Gustavo Vilaró Sanguinetti, Gerente der Cámara Nacional de Comercio, vertrat die Ansicht, nach den langen Jahren der Diktatur habe die Anwesenheit der Regierung in den wieder aufgenommenen Lohnverhandlungen dazu beigetragen, daß diese Verhandlungen ohne unüberwindbare Probleme zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden geführt werden konnten. 84 Das Verhältnis zwischen Regierung und Gewerkschaften gestaltete sich trotz z.T. heftiger Auseinandersetzungen so, daß eine Verständigung gesucht wurde, was dazu beitrug, Zahl und Ausmaß der Arbeitskonflikte zu vermindern. 85 Dies wiederum mußte im Interesse der Unternehmer sein. Pucci stellt zur Frage nach der Einstellung der Unternehmer zur Regierung fest, daß aus der 81 82 83

84 85

Vgl. Frenkel/Damill 1990: 96. Vgl. dazu auch Pucci 1989: 75 und Alberti 1989: 70. Vgl. Pucci 1992: 96. Vgl. Notaro 1991: 11. Der Rücktritt von Fernández Faingold erfolgte nicht etwa auf Druck von außen, sondern weil er zu den nationalen Wahlen Ende 1989 als Bewerber um die Präsidentschaft kandidierte. (Zu den Hintergründen dieser Kandidatur siehe Wagner 1991: 116.) Vilaró Sanguinetti in einem Gespräch am 28.10.1991 in Montevideo. Vgl. Berretta 1989: 113.

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

236

Perspektive der Unternehmer die „technische Qualität der Diskussion" im Vergleich zu früheren Arbeits- und Sozialministern zugenommen habe und man hier zu einer klar definierten Politik zurückgekehrt sei, ohne in Demagogie und den traditionellen Klientelismus zu verfallen. Die Unternehmer hätten erkannt, daß alle beteiligten Akteure ihren Anteil an Verantwortung in den sich ab März 1985 neu gestaltenden Arbeitsbeziehungen getragen hätten. 86 Diese positiven Erfahrungen dürften summa summarum dazu beigetragen haben, die der politischen Stabilität förderliche Loyalität der Unternehmer gegenüber dem Regime zu stärken.

6.1.3.2

Federación Rural, Asociación Rural und die protagonistische Rolle der Cámara de Industrias

Den Agrarunternehmern und besonders der Federación Rural war während der Militärdiktatur aufgrund ihrer für die Unternehmerschaft insgesamt relativ untypischen Opposition eine politische Sonderrolle zugekommen. Nach dem Übergang zur Demokratie kehrten sie zur politischen Normalität zurück, d.h. sie ordneten sich weitgehend in das aus der vordiktatorialen Zeit gewohnte System der Interessenrepräsentation ein. Dazu gehörten die allgemeinen Klagen - wie sie gleich in den ersten Monaten nach der Amtsübernahme Sanguinettis aus den Reihen der Federación Rural kamen 87 -, daß die Wirtschaftspolitik immer wieder zu Lasten des Agrarsektors gehe. Wichtiges konkretes Anliegen von Federación Rural und Asociación Rural besonders im ersten Amtsjahr der neuen Regierung war der Kampf gegen die Verschuldung des Agrarsektors. 88 Da jedoch die Regierung bis Ende 1985 ein Gesetzesvorhaben zur Schuldenrefinanzierung verwirklichen konnte, verlor dieses Thema für die Agrarunternehmer an Relevanz, wenngleich sie ihre Forderungen nur teilweise erfüllt sahen. Auch die sich besonders ab Mitte 1986 für die Agrarunternehmer günstiger gestaltende Entwicklung der Fleisch- und Wollpreise sorgte für eine Entspannung der prekären Situation, in der sich viele

86 87

88

Vgl. Pucci 1992: 116. Mitte 1985 hieß es in einer Stellungnahme der Federación Rural: „Que el Uruguay da para todos lo sabe con certeza el sector agropecuario al que se le obligó sistemáticamente a exhaustivas transferencias de ingresos, por la vía de precios políticos y política fiscal entre otros afinados mecanismos. Esta sangría permanente a favor del consumidor urbano, de las excesivas e inoperantes estructuras burocráticas, y de titulares de industrias muchas veces artificiales, condenó periódicamente al agro a períodos de crisis de los que se ha salido penosamente con el saldo de irrecuperables descapitalizaciónes". (So zitiert in Berretta 1989: 26 unter Berufung auf Búsqueda vom 13.6.1985.) Vgl. Pifteiro 1991a: 24 und 29.

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

237

Agrarunternehmer befunden hatten. 89 Danach rückten andere, sehr spezifische Themen in den Vordergrund, wie Fragen bezüglich der Arbeitgeberabgaben zur Sozialversicherung oder bezüglich der Besteuerung des Agrarsektors.90 Aber selbst bei Angelegenheiten wie dem Steuersystem sprach der Agrarsektor nicht mit einer Stimme. Unterschiedliche Positionen hierzu lieferten auch den Anlaß, daß Federación Rural und Asociación Rural im Juli bzw. Dezember 1985 die Mesa de Entidades Rurales verließen.91 Von seiten der Regierung schien das Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Agrarunternehmern nicht besonders groß zu sein. Zumindest war ein Kritikpunkt der Landwirtschaftsverbände an der Regierung, in den eigenen Sektor betreffende Entscheidungsprozesse nicht einbezogen zu werden. Ende 1986 beklagte der Präsident der Federación Rural, Gonzalo Chiarino Milans: „Nosotros consideramos que si bien reconocemos como es lógico que los poderes públicos son quienes tienen la responsabilidad de formular las enunciaciones de la política para todos los sectores, notamos con dolor que el agro ha sido dejado de lado en la formulación de todas las medidas que específicamente tienen relación con el sector. En tal sentido nosotros reclamamos la participación protagónica en la elaboración de esas leyes y estamos dispuestos a colaborar [...]." 9 2

Diese von den Agrarverbänden häufiger kritisierte Mißachtung durch die Regierung wurde begleitet von einem generell geringen Profil der Unternehmerverbände in der öffentlichen Diskussion. Die Wahrnehmung der Unternehmerverbände in der Öffentlichkeit wurde durch den gesamtgesellschaflichen Kontext beeinflußt. Der zentrale gesellschaftspolitische Konflikt unter der ersten nachdiktatorialen Regierung war die Menschenrechtsproblematik. Die Auseinandersetzungen um die Frage, ob Angehörige der Streitkräfte für begangene Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden sollten, nahmen in der öffentlichen Debatte einen sehr breiten Raum ein. Die Unternehmerverbände zogen es (im Unterschied übrigens zu den Gewerkschaften 93 ) vor, zu diesem emotional sehr stark belasteten Thema keine klare Stellung zu 89

9

0

91

93

Vgl. Piñeiro 1988: 13/14. Auch der Präsident der Asociación Rural, Julio Bonomi, beurteilte in einem Interview im August 1987 die Absatzmöglichkeiten für Fleisch und Wolle ab 1986 und damit auch die Perspektiven des Agrarsektors als sehr positiv. (Vgl. Jaque vom 26.8.1987.) Vgl. Berretta 1989: 20. In seiner Funktion als Präsident der Federación Rural betonte, um nur ein Beispiel zu nennen, Gonzalo Chiarino Milans im April 1987 wörtlich, daß die Besteuerung gegenwärtig das Thema sei, welches die landwirtschaftlichen Produzenten am meisten beschäftige. (Vgl. La Mañana vom 29.4.1987.) Die Kritik an der Steuerpolitik der Regierung zieht sich wie ein roter Faden durch die Medienberichterstattung. Zu den Positionen und Forderungen von Federación Rural und Asociación Rural im einzelnen siehe Piñeiro 1988: 13-27. Vgl. Berretta 1989: 19 und 85 sowie zu dem Konflikt im einzelnen Filgueira 1990: 498. Zur Mesa de Entidades Rurales siehe Kapitel 4.1. So zitiert in La Mañana vom 16.11.1986. Vgl. u.a. Panizza 1989: 28.

238

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

beziehen. Als gesellschaftspolitischer Akteur wurden sie diesbezüglich auch nicht gefordert, d.h. es wurde nicht unbedingt erwartet, daß sich Vertreter der Unternehmerverbände in die eine oder andere Richtung festlegten. Diese gesellschaftspolitische Abstinenz bei Fragen, die die Unternehmerverbände nicht unmittelbar als Interessengruppe betreffen, ist nicht außergewöhnlich, sondern gleichsam Bestandteil der politischen Kultur des Landes. Das zentrale Politikfeld während der Amtszeit von Sanguinetti, das die Angelegenheiten der Unternehmerverbände unmittelbar berührte, war der Bereich der Arbeitsbeziehungen. Nun waren aber die Consejos de Salarios nicht auf landwirtschaftlicher Ebene aktiv, die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Agrarsektor standen generell und traditionell nicht so im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dies mag mit dazu beigetragen haben, daß nun die Cámara de Industrias die Meinungsführerschaft im Unternehmerlager übernahm, die nicht nur als eines der Mitglieder des Consejo Superior de Salarios in Erscheinung trat, sondern in vielfältiger Form in die „öffentlichkeitswirksamen" Tarifauseinandersetzungen und -Verhandlungen involviert war. Darüber hinaus verfugte die Cámara de Industrias über die besten Ressourcen, um als Interessengruppe zu agieren. Allein von der finanziellen, personellen und technischen Ausstattung besaß die Cámara de Industrias einen weiten Vorsprung vor den Agrarverbänden und praktisch auch allen anderen Unternehmerverbänden, was es ihr jetzt in der Demokratie bei einem vergleichsweise freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte ermöglichte, sehr viel professioneller zu arbeiten und sich entsprechend anders öffentlich zu artikulieren. 94 Daß besonders die Landwirtschaftsverbände - und hier die Asociación Rural aufgrund ihrer längeren Tradition vielleicht noch in größerem Ausmaß als die Federación Rural - sehr der Vergangenheit verhaftet zu sein schienen und deswegen auch kaum zeitgemäß als Interessengruppe auftreten konnten, wurde sogar von fuhrenden Vertretern der Agrarunternehmer selbstkritisch gesehen. So stellte der Präsident der Asociación Rural, Carlos Enrique Gasparri, sinngemäß fest, daß einiges in seinem Verband eher an das vergangene als an das 20. Jahrhundert erinnere. 95 Und die bescheidenen finanziellen Möglichkeiten der Federación Rural deuten sich dadurch an, daß ihr Präsident Mario Curbelo 94

95

Vgl. hierzu u.a. OIT 1987: 61. So stellte auch Gustavo Magariños auf einer Konferenz im November 1988 zu den Unternehmerverbänden fest: „No pueden exhibir, por ejemplo, esfuerzos colectivos dirigidos al mejoramiento tecnológico de la producción o del 'marketing', a la investigación en ciencia aplicada, al control de calidad, a la capacitación y formación de recursos humanos, a la información y a la promoción. Sólo ahora, la Cámara de Industrias, con apoyo financiero del BID, se apresta a incursionar en este vasto campo de la investigación y la prospectiva a nivel del circuito industrial." (Magariños 1989: 200.) Gasparri in einem Gespräch am 13.11.1991 in Montevideo.

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

239

Anfang 1989 offenbarte, sein Verband habe mit Schulden in Höhe von 12.000 US-Dollar ein - so wörtlich - schweres finanzielles Problem. 96 Trotz einer Art Protagonistenrolle des Industrieverbandes gilt für ihn in ähnlicher Weise wie für die anderen Unternehmerverbände, daß man nach der Rückkehr zur Demokratie überwiegend nach den alten Verhaltensmustern agierte. Die Unternehmerverbände beschränkten ihre Forderungen auf sie unmittelbar betreffende, sehr spezifische Aspekte, wie steuerpolitische Fragen, bzw. verloren sich in Allgemeinplätzen, indem sie etwa eine langfristig stabile Wirtschaftspolitik einforderten. 97 Sie zeigten also konkret wenige Aktivitäten, um eigene wirtschaftspolitische Vorstellungen offensiv zu vertreten und Einfluß auf den Entwicklungsstil zu nehmen. Noch im April 1988 unterstrich der amtierende Präsident der Cámara de Industrias, Néstor Cosentino, öffentlich, daß die Industriellen versuchen würden, sich den Vorgaben der Wirtschaftsequipe anzupassen.9** Überhaupt bestand unter den Unternehmerverbänden der Grundkonsens, daß der Staat Spielregeln zu setzen habe, die die wirtschaftliche Stabilität garantierten. Diese Positionen kommen in folgender Erklärung der Cámara de Industrias auf eine Art und Weise zum Ausdruck, die typisch für den „kritischen Diskurs" der Unternehmerverbände ist: „AI analizar los factores que han incidido en los reducidos niveles de inversión, se hizo referencia a la necesidad expresada por los agentes económicos de contar con un marco normativo estable en el mediano y largo plazo. En este sentido resultan importantes no sólo las normas referidas directamente al proceso de inversión, sino también al marco global en que se desenvuelven los procesos económicos." 99

Von den wirtschaftspolitischen Grundorientierungen her schienen die Übereinstimmungen zwischen Regierung und Unternehmern groß. Öffentlich wurde von beiden Seiten überwiegend ein Rückzug des Staates aus der Wirtschaft propagiert, dessen wesentlichste Aufgabe darin gesehen wurde, in einer freien Marktwirtschaft durch die Schaffung entsprechend günstiger Rahmenbedingungen die makroökonomische Stabilität zu sichern und die Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum herzustellen. Dem privaten Unternehmertum wurde die zentrale Rolle zugemessen, eigentlicher Motor der wirtschaftlichen Entwicklung zu sein. So hieß es in einem Dokument, welches die Cámara de Industrias im September 1985 an die neue Regierung richtete: „Reafirmamos el total apoyo al sistema de propiedad privada y libre mercado, sin negar la necesaria presencia de un Estado subsidiario y eficiente, suscitador de igualdad 96 97 98 99

Vgl. La Mañana vom 18.1.1989. Vgl. Cancela/Notaro 1989: 20. Vgl. El Día vom 22.4.1988. So zitiert in Panizza 1989: 23 unter Berufung auf Cámara de Industrias del Uruguay Departamento de Estudios Económicos: La industria manufacturera en el Uruguay. Montevideo 1989.

240

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

de oportunidades, respetable y respetado." 100 Aber ebensowenig, wie seitens der Regierung wirklich intensiv und konsequent auf einen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft hingearbeitet wurde, verzichteten die Unternehmer darauf, nach staatlicher Unterstützung ihres jeweiligen Wirtschaftssektors zu rufen und bei Bedarf staatliche Regelungsmechanismen einzufordern. Als beispielsweise die Regierung die Importzölle von 40% auf 35% senkte, wurde dies von der Cámara de Industrias heftig kritisiert. 101 Zu dieser bei vielen Gelegenheiten immer wieder offensichtlich werdenden Diskrepanz zwischen ideologischem Diskurs und handfesten Forderungen der Unternehmer und ihrer Interessenorganisationen - Diskrepanzen, wie sie in Kapitel 1 im Zusammenhang mit der Thesenformulierung angedeutet wurden - äußerte sich auch Präsident Sanguinetti kritisch: „[...] viven una contradicción implícita: es decir, por un lado, reclaman libre empresa y que el Estado no les maneje su negocio, porque lo quieren manejar ellos con entera libertad y, por otro lado, reclaman al gobierno, no una política, le reclaman una política detallada que en todos y cada uno de los puntos resuelva qué es lo que va a hacer el Estado. Yo digo que si lo que nos reclaman es una política de ese tipo, no la tenemos ahora, ni la vamos a tener nunca."

Als widersprüchlich kann auch betrachtet werden, daß Unternehmer sich für eine staatliche Privatisierungspolitik, Deregulierung und Verminderung staatlicher Ausgaben stark machten, gleichzeitig das Wachstum und Überleben ihrer Betriebe aber zu einem nicht unerheblichen Teil vom öffentlichen Sektor und staatlicher Unterstützung abhängig war. 103 Messner meint hierzu, die Unternehmer seien aufgrund der zollgeschützten Importsubstitution jahrzehntelang unterfordert worden, und es hätte deswegen keine an Wettbewerb und Effizienz ausgerichtete Untemehmerkultur entstehen können. Statt dessen habe im Laufe der Zeit eine „Kolonialisierung des Staates" durch die Unternehmer stattgefunden, die sich in exorbitanten Zöllen, vielfaltigen Subventionen und dem nahezu vollständigen Schutz der einheimischen Produzenten vor ausländischer Konkurrenz niedergeschlagen habe. „Heute wehren sich die Unternehmen gegen die alles lähmende Bürokratisierung, die infolge dieser Entwicklung entstanden ist.

100

So zitiert in Berretta 1989: 26 unter Berufimg auf El Dia vom 14.9.1985. Vgl. Panizza 1989: 23. 2 Sanguinetti, so zitiert in Berretta 1989: 27 unter Berufung auf Búsqueda vom 19.6.1986. Es muß hinzugefügt werden, daß sich Sanguinetti im Kontext seiner Worte auf den Agrarsektor bezog. Die geäußerte Kritik läßt sich aber ohne weiteres auf die Unternehmer aus anderen Wirtschaftsbereichen, den Industriesektor eingeschlossen, übertragen. Zu näheren Informationen zur Debatte über die Rolle des Staates in der Wirtschaft und die damit verbundenen Widersprüchlichkeiten siehe Piñeiro 1991a, der schwerpunktmäßig die Positionen von Federación Rural und Asociación Rural analysiert hat. 103 Vgl. De Sierra 1988: 175. Dieser Widerspruch wird so oder so ähnlich von vielen Autoren konstatiert.

101 10

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

241

Gleichzeitig existiert jedoch ihr Anspruchsdenken gegenüber dem Staat und ihre eigene Innovationsfeindlichkeit fort." 104 Neben der Kritik an dem aufgeblähten Staat mit seiner überdimensionierten Bürokratie wurden vor allem die zu hohen Kreditkosten, die erfolglose Inflationsbekämpfung, das Problem des Schmuggels sowie die Arbeitskonflikte und die Ineffizienz in den Hafenbetrieben von Montevideo mißbilligt. 1 05 Doch ungeachtet dieser Diskrepanzen hatte die Regierung breiten Rückhalt in der Unternehmerschaft. 106 Unterschiedliche Meinungen in Einzelfragen führten nie dazu, daß die Wirtschaftspolitik der demokratischen Regierung grundsätzlich angegriffen oder gar die Legitimität des Regimes in Zweifel gezogen worden wäre. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, daß im Rahmen der Politik der Regierung Sanguinetti, die auf die Durchführung umfassender Reformen und wirtschaftspolitischer Umgestaltungen verzichtete, bei einem zunächst erfolgreichen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung das Konfliktpotential insgesamt relativ gering geblieben ist. 107 Ernsthafte, tiefergehende Auseinandersetzungen, die die Beziehungen der Unternehmerverbände zur Regierung Sanguinetti auf Dauer nachhaltig belasteten, waren dementsprechend kaum festzustellen. Eine Ausnahme ist hier die bereits erwähnte Unzufriedenheit des Agrarsektors mit der Regierung, die ihren Kulminationspunkt 1989 erreichte, als die Folgen der langanhaltenden Dürreperiode immer mehr landwirtschaftliche Betriebe in Schwierigkeiten brachten. Ein wichtiger Indikator ist wieder die Jahresversammlung der Federación Rural. Zum 1989er Kongreß titelte die Wochenzeitung Búsqueda: „Congreso de la Federación Rural mostró el punto más bajo de las relaciones del gremio con el gobierno desde 1985." 108 Hauptkritikpunkt in diesem Zusammenhang war - und hier unterschied man sich lediglich in der Schärfe der Kritik von Äußerungen aus der Vergangenheit - die Steuerpolitik bzw. die ablehnende Haltung der Regierung gegenüber Forderungen der Agrarunternehmer nach Steuererleichterungen. Das angespannte Verhältnis zwischen Exekutive und Agrarunternehmern kam besonders 1989 durch viele Erklärungen und Stellungnahmen von Vertretern der Federación Rural und der Asociación Rural zum Ausdruck. Z.B. erklärte der Präsident der 104

Messner 1993: 78. 5 Vgl. Panizza 1989: 23. 106 vgl. u.a. Cancela/Notaro 1989: 45. 107 Diese Sichtweise wird von anderen geteilt: „Gruppen, die während der Diktatur kaum Opposition demonstriert hatten - dies gilt vor allem für die Unternehmerverbände -, zeigten auch jetzt nur geringe Präsenz. Dies ist zum Teil auf die weitgehende Kontinuität in der Wirtschaftspolitik zurückzuführen, zum Teil aber auch auf die günstige Konjunktur, welche ihnen die Ausweitung der Beschäftigung und die Erhöhung der Löhne problemlos ermöglichten." (Snoeck/Sutz/Vigorito 1994: 207.) 108 Büsqueda N° 489 vom 15.6.1989. 10

242

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

Asociación Rural, Héctor Payssé Turena: „El sector agropecuario perdió la confianza en el poder político, porque no han habido planes de desarrollo sólidos que a través del tiempo hayan dado respuesta favorable a los productores." 109 Doch abgesehen davon waren die Beziehungen zwischen Unternehmern und Regierung relativ konfliktarm, vorhandene Auseinandersetzungen erreichten nie den Grad, daß sie die MakroStabilität des politischen Systems beeinträchtigt hätten. „La reacción de las entidades empresariales en relación a la política económica se encuadró dentro de una pauta que puede conceptuarse como de aceptación crítica. Naturalmente que con ello se simplifica la diversidad y matices propios de una esfera extremadamente heterogénea en sus intereses. Cada una de las principales cámaras empresariales ha efectuado una 'lectura' propia de la política económica, pero en términos generales cabe subrayar que no ha existido una confrontación abierta como la ocurrida con los sindicatos ni tampoco se conocen conflictos como los registrados con el gobierno en otros países en relación con las políticas de estabilización. Dada la naturaleza esencialmente adaptativa de los gremios y su estrategia de presión en relación con un gobierno que demostró una alta capacidad de negociación, la oposición Estado-empresarios se ha circunscrito a medidas económicas y políticas específicas más que a la orientación económica global."'

Die Zurückhaltung im öffentlichen Auftreten der Unternehmerverbände - oder, um mit Magariflos zu sprechen, die „apatía empresarial" 111 - hängt nicht nur mit dem traditionellen Rollenverständnis zusammen; auch die jeweils unterschiedlichen konkreten Interessenlagen in den Reihen der Unternehmerschaft verhinderten immer wieder, sich gemeinsam zu artikulieren. Bei der Auseinandersetzung zwischen binnenmarkt- versus exportorientierten Unternehmern war es besonders die Unión de Exportadores, die sich für eine wirkungsvollere Exportförderungspolitik auch zu Lasten anderer Wirtschaftssektoren einsetzte.1 12 Anders als etwa die Cámara de Industrias ermöglichte die Ausrichtung der Unión de Exportadores als Interessenverband der Exportunternehmer, diesbezüglich mit Nachdruck klare Forderungen zugunsten der Exportwirtschaft zu stellen. Die Interessenlage der in der Cámara de Industrias zusammengeschlossenen Unternehmer war hierzu insgesamt zu heterogen. Noch dazu schienen die eindeutig exportorientierten Unternehmer in der Cámara de Industrias eher eine Minderheit zu sein. 113 Allerdings gelang es der Unión de Exportadores nicht, über dieses Thema hinaus in der Öffentlichkeit eine wichtigere Rolle zu spielen als die Cámara de Industrias. Und auch das breite Feld der Außenorientierung, das im Zuge der aufkommenden Integrationsdebatte immer mehr an Wichtigkeit gewann, überließ die Cámara de Industrias keines109 110 111 112 113

So zitiert in El Dia vom 4.8.1989. Filgueira 1990: 496. Magariflos 1989: 200. Vgl. Filgueira 1990: 499. Vgl. hierzu auch Messner 1993: 77.

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

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falls der Unión de Exportadores. Zwar machte die Unión de Exportadores häufig durch Forderungen von sich reden, die in ihrer Deutlichkeit (d.h. in ihrer Einseitigkeit zugunsten der Exportinteressen) nicht von der Cámara de Industrias vertreten wurden bzw. vertreten werden konnten. Der Cámara de Industrias gelang es aber, dieses Themenfeld wieder dominierend zu besetzen. Die protagonistische Rolle der Cámara de Industrias äußerte sich auch in mehreren Stellungnahmen, die der Regierung zugeleitet wurden. 1 1 4 Hier sprach man sich z.B. für die regionale Integration aus, was als Thema später in den 90er Jahren einen zentralen Stellenwert einnehmen sollte. Diese Festlegungen waren zunächst eher vorsichtiger Art. Die Vermutung von Bruera/Piñeiro/Riella aber, daß die Haltung der Cámara de Industrias alles andere als stimulierend auf die Regierung gewirkt habe, sich an den Integrationsgesprächen zwischen Argentinien und Brasilien zu beteiligen, kann hier nicht nachvollzogen werden. 115 Denn nicht die Cámara de Industrias war es, die dem Integrationsprozeß von Anfang an ablehnend gegenübergestanden hatte, sondern die Unión de Exportadores. 1985 etwa hieß es in einem Memorandum der Cámara de Industrias, daß die regionale Integration Vorteile bringen könne, auf die nicht verzichtet werden dürfe. Es deutete sich dabei schon ein z.T. neues Integrationsverständnis an, wie es im Rahmen des späteren Integrationsprozesses MERCOSUR {Mercado Común del Sur) zum Ausdruck kommen sollte. Nicht etwa Abschottung nach außen, sondern die Verbesserung der eigenen Position im Zusammenschluß mit den Nachbarländern gegenüber Drittmärkten wie Europa wurde als Chance der Integration begriffen. So bestand für die Cámara de Industrias in ihrem Memorandum von 1985 der Vorteil der Integration explizit darin, sich besser gegen den Protektionismus „en los mercados compradores fuera del continente" 116 wenden zu können. Im November 1987 legte die Cámara de Industrias eine Studie vor, in der die Auswirkungen einer verstärkten Integration zwischen Argentinien und Brasilien auf Uruguay analysiert wurden. Wie kaum anders zu erwarten war, kam man zu dem Ergebnis, daß sich eine solche Entwicklung auf alle Fälle entscheidend auf die uruguayische Wirtschaft auswirken würde. Die Integration der beiden Nachbarländer beeinflusse - so die recht vage Formulierung - die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nicht allein wegen der geographischen Nähe, sondern auch, weil das Wachstum Uruguays auf einer Exportstrategie 114 115

'

Zu den Darlegungen im einzelnen, die aus der Cámara de Industrias kamen, siehe Berretta 1989. Vgl. Bruera/Piñeiro/Riella 1994: 133. Vgl. hierzu und zum folgenden auch Kapitel 6.2.3.1. Xext des Memorandums der Cámara de Industrias, so zitiert in Berretta 1989: 71. Weiter hieß es darin, man könne außerdem bei einem interregionalen Handel die anfallenden geringeren Transportkosten nutzen.

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6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

basiere, in der seine Nachbarn einen entscheidenden Platz einnehmen würden. 117 Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis wurde von seiten der Cámara de Industrias danach immer wieder auf die Notwendigkeit einer Beteiligung Uruguays am Prozeß der regionalen Integration hingewiesen. Daß diese Position am ehesten von den größeren Industrieunternehmen unterstützt wurde und weniger im Sinne der kleineren und mittleren Unternehmer war, 118 ist ein deutlicher Indikator für die Machtverhältnisse innerhalb der Cámara de Industrias. Im Sinne des in Kapitel 1.2.1 der Arbeit wiedergegebenen Zitates von Hartmann nutzten hier Großunternehmer eindeutig die verbandliche Organisation, um ihre Interessen mit dem Anspruch der Repräsentativität für einen Wirtschaftssektor zu ummanteln. Gerade im Zusammenhang mit den Integrationsbestrebungen in Richtung MERCOSUR, auf die ausführlicher bei der folgenden Analyse der Jahre 1990 bis 1992 eingegangen wird, wird deutlich, daß sich in den Jahren nach der Diktatur trotz aller restaurativer Tendenzen doch Veränderungen in der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände ergeben haben. Zu den historisch verankerten Merkmalen der grundlegend von Batlle y Ordóñez in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts geprägten politischen Kultur Uruguays gehörte ein gewisses gesellschaftliches Ressentiment gegenüber dem privaten Unternehmertum. Wie dieses traditionelle Rollenbild der Unternehmer in der Gesellschaft überwiegend aussah, charakterisierte Präsident Sanguinetti, durchaus um eine Verbesserung des Images der Unternehmer bemüht, in einem von der Cámara de Industrias organisierten Symposium im Juli 1985: „El empresario es una figura que en su rol social nuestro país ha de algún modo caricaturizado y que imperceptiblemente a lo largo de muchos años, se ha ido transformando en un estereotipo, en virtud del cual el empresario no es ese capitán que glorifica la sociedad norteamericana, sino un individuo simplemente heredero de un patrimonio industrial o un señor ávido de ganancias, cuyo único motor en la vida es la ganancia, o un hombre movido simplemente por el egoísmo, que actúa en una empresa sin otro horizonte que ese." 1 ^

Im Vergleich zu früheren Zeiten wurde nun den Unternehmern im wirtschaftspolitischen Diskurs eine relativ neue Position zugeordnet. Nicht mehr dem Staat sollte die Rolle des zentralen wirtschaftspolitischen Akteurs zukommen, sondern zunehmend der Privatwirtschaft. Ferner wurde die Existenzberechtigung des „freien Unternehmertums" und das Recht auf Privatbesitz von keiner 117 118

So sinngemäß in Búsqueda N° 549 vom 16.8.1990. Vgl. Licio 1991:227. Sanguinetti, so zitiert in einem Artikel in Búsqueda vom 22.8.1985, abgedruckt in Bruera o.J: o.S. Auf dieses Zitat beziehen sich auch Stolovich/Rodriguez 1987: 194 sowie Stolovich 1990: 77, die es zeitlich aber dem Jahr 1986 zuordnen. Für den Kontext der hier vorliegenden Arbeit ist das genaue Datum allerdings unerheblich, so daß keine weiteren Nachforschungen diesbezüglich angestellt wurden.

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

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Seite wirklich ernsthaft bezweifelt. So betonte auch Líber Seregni als Präsidentschaftskandidat des Frente Amplio im Wahlkampf 1989 vor Agrarunternehmern in einer Veranstaltung im Sitz der Federación Rural am 3. Oktober: „El respeto a la propiedad privada figura en nuestro programa como premisa fundamental." 120 In ihrem öffentlichen Ansehen gelang es den Unternehmern als gesellschaftlicher Gruppe, Pluspunkte zu sammeln. Zwar, so stellt u.a. Rial fest, 121 wurde die Unternehmerschaft von der Bevölkerungsmehrheit immer noch als „wenig sympathisch" betrachtet, trotzdem entwickelten sich die Einstellungen den Unternehmern gegenüber in eine für diese günstige Richtung. Die Bemühungen der Regierung Sanguinetti um die Unternehmer bzw. deren Image zeigten sich auch hinsichtlich personalpolitischer Entscheidungen. Denn in das Amt des Tourismusministers wurde 1987 José Villar berufen, der nicht nur die Unternehmer in der CONAPRO vertreten hatte, sondern ab 1984 auch Präsident der Cámara de Industrias gewesen war. 122 Gerade Villar war es, der sich schon frühzeitig um ein besseres Bild der Unternehmer in der Öffentlichkeit bemüht hatte. Seine Bestrebungen in diese Richtung hatten bereits in der Übergangsphase von der Diktatur zur Demokratie parallel zu den Verhandlungen der CONAPRO eingesetzt. 123 Ein Beispiel hierfür ist seine Rede als Präsident der Cámara de Industrias zum Dia de la Industria im November 1984, in der nach dem Urteil von Filgueira andere als die in der Vergangenheit üblichen Schwerpunkte gesetzt und Themen angesprochen wurden. Es seien nicht die üblichen Forderungen des Industriesektors an den Staat gestellt worden, sondern Villar habe sich vor allem an die Unternehmer gerichtet, um auf ihre neue Rolle in der Demokratie hinzuweisen, auf die Notwendigkeit eines neuen, weniger negativen Images der Privatwirtschaft, das

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121 122 123

Die Tatsache, daß sich Seregni überhaupt zu einer solchen Aussage veranlaßt sah, ist bemerkenswert und hängt damit zusammen, daß der Frente Amplio - dem vor den Wahlen immerhin auch die ehemalige Stadtguerilla Movimiento de Liberación Nacional-Tupamaros (MLN-T) beigetreten war - von Unternehmerseite z.T. immer noch als bedrohlich perzipiert wurde. Wie der Verfasser als teilnehmender Beobachter diverser Wahlkampfveranstaltungen feststellen konnte, äußerten sich auch andere Politiker aus dem linken Spektrum in dieselbe Richtung wie Seregni. Selbst das Thema Privatisierung war kein Tabu, wenngleich sich die Vertreter des Frente Amplio diesbezüglich meist ablehnend äußerten. Seregni selbst aber vertrat keine dogmatische Position und befürwortete gegenüber Vertretern der Cámara de Industrias auch, die staatliche Fluggesellschaft PLUNA (Primeras Líneas Uruguayas de Navegación Aérea) in ein gemischtes Unternehmen zu überfuhren. (Vgl. Búsqueda N° 497 vom 10.8.1989.) Vgl. Rial 1991:200. Zur Person Villars vgl. Perelli 1989b: 292. Vgl. Bruera 1991b: 25.

246

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

eine größere Bereitschaft der Unternehmer selbst voraussetze, sich der öffentlichen Diskussion zu stellen. 124 Die Zugehörigkeit Villars zum Colorado-Flügel des rechtsextremen ExPräsidenten Jorge Pacheco Areco (Unión Colorada y Batllistá) diskredierte ihn zwar nicht automatisch für ein Ministeramt (hierfür war die Toleranz in der uruguayischen politischen Kultur viel zu ausgeprägt), läßt aber sehr wohl Rückschlüsse auf seine politische Grundhaltung zu. Denn immerhin repräsentierte er eine politische Richtung, deren Führerfigur Ende der 60er Jahre als Präsident für einen durch Notstandsgesetzgebung, Ausnahmezustand und politische Repression entstandenen Autoritarismus als damals neuem Element in der uruguayischen Politik steht. Villar ist also nicht nur als Repräsentant der Unternehmerschaft, sondern auch als Repräsentant einer politischen Kraft zu sehen, deren Ideologie nach der Diktatur noch immer autoritäre Züge aufgewiesen hat und die eigentlich die einzige parteipolitisch relevante, des Rechtsextremen verdächtige Gruppierung war. Konkrete Anhaltspunkte, die auf eine Unterstützung autoritärer Tendenzen hindeuten würden, liegen allerdings nicht vor. Die Demokratie und die Legitimität des Regimes wurde weder von Villar noch von anderen Repräsentanten der Unternehmerverbände ernsthaft in Frage gestellt. Villar war nicht der einzige Vertreter der Privatwirtschaft im Kabinett der Regierung Sanguinetti. Hierzu müssen auch Wirtschafts- und Finanzminister Ricardo Zerbino und der Minister für Verkehr und Bauwesen, Jorge Sanguinetti, gezählt werden. Beide kommen aus Familien, die traditionell zu den wirtschaftlich mächtigsten im Lande gehören und jeweils einen grupo económico bilden.I 2 5 Die Einbindung von Unternehmern in die politische Verantwortung war im sogenannten Unternehmerkabinett Pachecos unmittelbar vor der Diktatur damals ein für die uruguayische Politik neues Phänomen. Wenngleich Sanguinetti nicht in einem Ausmaß wie Pacheco Unternehmern politische Ämter übertrug, so knüpfte er personell mit seinem Kabinett nicht an die traditionelle (relative) Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht an, die

124 Vgl. Filgueira 1990: 496, der Villar folgendermaßen zitiert: „[...] no podemos pedir a la opinión pública que nos respeta, nos aprecie o nos comprenda si como sector no nos conocemos [...]. Dentro del espectro de problemas que enfrentamos: crisis económica, desempleo, bajo poder adquisitivo, inflación, necesidad de buscar nuevos caminos para superar dificultades, responsabilidad, tampoco debemos sentirnos completamente satisfechos con la actitud o actuación de uno mismo frente a los problemas. Ser responsable y vertical en sus convicciones es también no abatirse o desanimarse frente a una serie de ataques o críticas, no siempre veraces, incongruentes o malintencionadas". 125 Angaben zum persönlichen Werdegang von Zerbino und Sanguinetti finden sich in Perelli 1989b: 286 und 293, die wirtschaftliche Stellung des grupo económico Zerbino bzw. des grupo económico Sanguinetti - die Namensgleichheit mit dem Präsidenten Julio María Sanguinetti ist übrigens zufällig - analysieren Stolovich/Rodríguez/Bértola 1988: 323-343.

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

247

vor der Regierung Pacheco über Jahrzehnte zu den Besonderheiten des uruguayischen politischen Systems gehört hatte. „La restauración democrática va a traer nuevas manifestaciones. Aunque se restaura el dominio de los partidos y la clase política vuelve al ruedo, [...] habrá una entrada especial para las hombres [...] que pertenecen a las filas empresariales. Tales apariciones hacen parte del proceso de recomposición de las elites de gobierno y de las elites del empresariado, que se gestan a partir del corte ocasionado por la dictadura. Responden, a su vez, al cambio que se registra en este tiempo en el quehacer político y en las pautas de l e g i t i m a c i ó n . " ' 2 6

Ein bemerkenswerter Unterschied zur Militärdiktatur in diesem Kontext ist, daß unter der demokratischen Regierung das politische Mitbestimmungsmonopol des Finanzsektors, d.h. die absolute Bevorzugung der Vertreter des Finanzsektors als Gesprächspartner der Regierung, nicht aufrechterhalten wurde. Aufgrund ihrer Verbindungen zur Militärdiktatur war die Asociación de Bancos zunächst von allen Etappen des Konzertierungsprozesses, die den Übergang zur Demokratie begleitet hatten, ausgeschlossen worden. Diese Isolation bestand auch in der Anfangszeit nach Wiedereinrichtung der Demokratie fort, sollte aber bald ihre Qualität verändern und durch eine Stellung der Asociación de Bancos im Spektrum der organisierten Unternehmerinteressen ersetzt werden, die mit dem Begriff der „Selbstabkapselung" treffend zu beschreiben ist. Diese selbst gewählte Isolierung der Asociación de Bancos gehörte seit ihrer Gründung Mitte der 40er Jahre mit unterschiedlichen Ausprägungen zur eigenen Strategie. Nicht nur vermied man es in der Regel, öffentlich in Erscheinung zu treten, sondern man suchte auch kaum die Kooperation mit anderen Unternehmerverbänden. Hierzu sollen nur zwei Beispiele genannt werden: Erst ab Ende 1986 beteiligte sich die Asociación de Bancos an der ein Jahr zuvor gegründeten Intercameral. Und sie trat nicht als Mitunterzeichner des umfassenden, 200 Seiten starken Dokumentes 'Hacia un Uruguay con futuro. Análisis y propuestas del sector empresarial privado' auf, das die Intercameral der gerade gewählten Regierung Lacalle Ende 1989, also noch vor der Amtsübernahme, als „Entwurf der Privatwirtschaft zur Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes" präsentierte. Überreicht wurde diese Schrift, die sich u.a. mit der Rolle des Staates in der Wirtschaft und dem Problem der Wettbewerbsfähigkeit auseinandersetzte, im Namen der Asociación Rural, der Cámara de Industrias, der Cámara Mercantil de Productos del País und der Cámara Nacional de Comercio. Diese Diskretion bzw. Reserviertheit ist typisch für die Asociación de Bancos besonders während der Regierungszeit Sanguinettis. Zum einen war aus der Perspektive der Asociación de Bancos nun nach Beendigung der Militärdik126

Lanzaro 1992: 56.

248

6.1 Die Regierung Sanguinetti (1985-1990)

tatur mit Blick auf die öffentliche Meinung zunächst besondere Zurückhaltung angebracht. Zum anderen aber brachte der von Sanguinetti verfolgte Entwicklungsstil keine entscheidenden Einschränkungen für den Finanzsektor, gegen die man sich unbedingt hätte zur Wehr setzen müssen. Insgesamt konnte die Asociación de Bancos mit der Regierung zufrieden sein, um so mehr, da es Sanguinetti zusammen mit Wirtschafts- und Finanzminister Ricardo Zerbino und Außenminister Enrique Iglesias, der 1988 zum Präsidenten der Interamerikanischen Entwicklungsbank ernannt wurde und deswegen von seinem Ministeramt zurücktrat, im Ausland gelungen war, während der Militärherrschaft verlorenes Terrain zurückzuerobern. Diesen glückte es weitgehend, das einst gute internationale Image Uruguays wiederherzustellen. Auch aufgrund der vergleichsweise instabilen Situation in den Nachbarländern Argentinien und Brasilien wurde dadurch unmittelbar das Vertrauen ausländischer Anleger in den Finanzplatz Montevideo gestärkt. 127 Dies wiederum war natürlich vollkommen im Sinne gerade des Finanzsektors; jegliche Kritik aus Bankenkreisen an der Regierung hätte hier womöglich eher kontraproduktiv gewirkt. Durch die grundsätzlichen Übereinstimmungen wirtschaftspolitischer Art zwischen Regierung und Finanzsektor kann - wenn auch nicht in dem Ausmaß wie während der Militärdiktatur - von einer strukturellen Privilegierung des Finanzsektors gesprochen werden, die es diesem ermöglichte, sich in Zurückhaltung zu üben und wenn, dann abseits der Öffentlichkeit zu agieren. Der Verzicht auf die Übernahme von Posten in der Regierung Sanguinetti ebenso wie auf jegliche parteipolitische Aktivitäten war bei keinem der wichtigen Unternehmerverbände so offensichtlich wie bei der Asociación de Bancos.128 Dies zeigt exemplarisch, worauf bereits bei der anfanglichen Diskussion des Einflußbegriffs hingewiesen wurde: Zurückhaltung in der Öffentlichkeit sowie bei der Übernahme politischer Ämter muß keineswegs ein eindeutiger Indikator für eine schwache, einflußlose Position sein. So hängt vermutlich auch die Rolle der Cámara de Industrias als politisch führender Unternehmerverband zumindest teilweise mit der „Selbstbeschränkung" der Asociación de Bancos zusammen. Dies ändert nichts an dem Selbstbild der Cámara de Industrias, nach dem man sich als maßgeblicher Verband der uruguayischen Unternehmerschaft versteht. So legte auch Carlos Folie Martínez, Gerente-Director der Cámara de Industrias, auf die Feststellung wert, die Cámara de Industrias sei

127 So konstatierte auch die Deutsch-Südamerikanische Bank Anfang 1987 ein zunehmendes Vertrauen der Anleger in die uruguayische Wirtschaft. (Vgl. Deutsch-Südamerikanische Bank: Kurzbericht über Lateinamerika (Februar 1987)1, S. 125.) '28 Nach Guerrini sei die einzige Ausnahme Alberto Bensiön gewesen, der als Berater des prominenten Co/orafo-Politikers und Präsidentschaftskandidaten Jorge Batlle tätig war. (Vgl. Guerrini 1991: 19.)

Die Unternehmerverbände im Prozeß der demokratischen Konsolidierung

249

der mit Abstand wichtigste und modernste Unternehmerverband des Landes. 129 Die nach diesem Selbstverständnis existierende besondere Bedeutung der Cámara de Industrias scheint durch die Entwicklungen unter der Nachfolgeregierung Sanguinettis eine Bestätigung zu finden.

6.2

Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

6.2.1

Politische Ausgangslage

Im Unterschied zu den Wahlen von 1984, die in vielerlei Hinsicht in einer Kontinuität zu den letzten freien Präsidentschaftswahlen 13 Jahre zuvor gestanden hatten, brachten die 1989er Wahlen umfassende Umgestaltungen der politischen Landschaft und der politischen Machtverhältnisse mit sich. Diese Veränderungen deuteten auf ein Ende der Restauration hin. 130 Wohl fast zwangsläufig brachte die überwiegend negative Wahrnehmung der Regierungsperformanz unter Präsident Sanguinetti bei den Wahlen im November 1989 eine klare Niederlage des Partido Colorado. Enttäuschte Erwartungen führten allerdings nicht zu einem systemdestabilisierenden Legitimationsverlust des demokratischen politischen Systems, sondern zu einem völlig demokratischen Machtwechsel. Mit 30,3% und Stimmenverlusten in Höhe von 11% im Vergleich zu 1984 mußte der Partido Colorado nicht nur die Regierungsverantwortung auf nationaler Ebene abgeben, sondern auch in den meisten departamentos (von insgesamt 19 departamentos konnte der Partido Colorado nur zwei gewinnen gegenüber zwölf im Jahr 1984). Der Partido Nacional erzielte aus einer längerfristigen Perspektive zwar mit 38,9% nur ein durchschnittliches Ergebnis, dies war aber ausreichend, um zum ersten Mal in diesem Jahrhundert den Präsidenten der Republik stellen zu können. 131 Der Frente Amplio konnte seine Position als dritte Kraft im nationalen Parteienspektrum mit 21,2% und damit einem fast identischen prozentualen Stimmenanteil wie 1984 festigen, und dies trotz einer vor den Wahlen erfolgten Abspaltung der sozialdemokratisch orientierten Kräfte (Partido Por el Gobierno del Pueblo, PGP, und Partido Demócrata Cristiano, PDC), die bei den Wahlen 1984 noch die Hälfte der Stimmen des 129 13

^

131

Folie Martínez in einem Gespräch am 20.11.1991 in Montevideo. Mit dem Schlagwort 'El fin de la restauración' hatten auch Perelli/Rial ihre Analyse des Wahlergebnisses von 1989 überschrieben. (Vgl. Perelli/Rial 1990.) Zwar ging der Partido Nacional auch 1958 und 1962 als stärkste Partei aus den Wahlen hervor, dies war aber zu den Zeiten, als der Staatsrat als Exekutivorgan existierte.

250

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

damaligen Parteienbündnisses Frente Amplio auf sich vereinigten. 132 Als vierter eigenständiger parteipolitischer Akteur traten diese vom Frente Amplio abgespaltenen Parteien PGP und PDC erstmals in Erscheinung und erzielten zusammen mit der kleinen Unión Cívica unter dem Namen Nuevo Espacio auf Anhieb 9%. Von seinem Selbstverständnis her reklamierte der Nuevo Espacio für sich die Position einer erneuernden Linken {izquierda renovadora) gegenüber der traditionellen Linken (izquierda tradicional) in Gestalt des Frente Amplio. Besonderen Rückhalt fand die Partei in Kreisen kritischer Intellektueller und Künstler. Graphik 19: Die Präsidentschaftswahlen 1971,1984 und 1989 (in %)

45Y"1

1971

j • Nuevo Espacio

1984

• Frente Amplio

1989

• Partido Nacional • Partido Colorado |

Quelle: Venturini 1989: 14/15; González Rissotto 1990: 12.

Auf der departementalen Ebene sorgten die Wahlen für ein absolutes Novum. Denn dem Frente Amplio gelang es, mit einem deutlichen Vorsprung von 12% gegenüber Partido Colorado und Partido Nacional die Wahlen in Montevideo für sich zu entscheiden. Dies bedeutete nicht nur, daß der Frente Amplio erstmals in seiner Geschichte Regierungsverantwortung übernehmen konnte (und dies immerhin im mit Abstand wichtigsten departamento Montevideo); dies bedeutete auch, daß zum ersten Mal überhaupt unter demokratischen Verhältnissen das Machtmonopol der beiden traditionellen Parteien durchbrochen wurde. Als Bürgermeister (intendente) der Hauptstadt konnte nun der populäre Sozialist Tabaré Vázquez regieren.

132 Ausfuhrlicher zur Spaltung der Linken sowie zu den parteiinternen Entwicklungen auch in den beiden traditionellen Parteien Partido Colorado und Partido National im Vorfeld der Wahlen von 1989 siehe Wagner 1991: 113-127. Am Rande erwähnenswert ist noch, daß der Partido Por el Gobierno del Pueblo im September 1992 als erste uruguayische Partei als Vollmitglied in die Sozialistische Internationale aufgenommen wurde.

251

Politische Ausgangslage

Graphik 20: Wahlergebnis 1989 auf depariementaler Ebene für Montevideo Partido Nacional

25%

Nuevo Espacio

13%

Frente Amplio

37% Partido Colorado

25%

Quelle-, La República vom 4.2.1990.

Daß der erfolgte demokratische Machtwechsel in Verbindung mit den erwähnten weiteren machtpolitischen Veränderungen nicht ansatzweise zu ernsthaften demokratiegefahrdenden Turbulenzen führte, muß als ein Indikator der während der Regierungszeit Sanguinettis erreichten Rückkehr zum demokratischen Alltag und mittelfristigen Konsolidierung der Demokratie bewertet werden. 133 Dies bedeutete aber nicht gleichzeitig, daß damit auch altbekannte, einer langfristig stabilen Demokratie hinderliche systembedingte Defizite ausgeräumt waren. Trotz Veränderungen in der Parteienlandschaft und auf der Regierungsebene bestanden die bislang gültigen institutionellen Rahmenbedingungen praktisch unverändert fort. Das Wahlsystem etwa machte es weiterhin schwer, Regierbarkeit herzustellen. Der neugewählte Präsident Luis Alberto Lacalle mußte versuchen, aus einer Minderheitsposition heraus eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Zwar ist dies für uruguayische Verhältnisse prinzipiell nichts Außergewöhnliches; auch Sanguinetti sah sich mit diesem Problem konfrontiert. Aber während Sanguinetti immerhin noch mit 31,2% in das Amt des Präsidenten gewählt worden war, votierten für den Kandidaten Lacalle nur 22,6% der Bevölkerung. 134 Aufgrund der sich aus dem Wahlresultat ergebenden Konstellation im Parlament war Lacalle deutlich mehr als sein Vorgänger auf die Unterstützung der anderen Fraktionen seiner Partei sowie der Fraktionen unterlegener Parteien angewiesen. Nachdem Lacalle zunächst die parteiinternen ideologischen Differenzen hatte überbrücken müssen, um ein gemeinsames Regierungsprogramm des Partido Nacional vorlegen zu können, trat er zur Herstellung einer hand-

133

134

Zu einer eingehenden Analyse des Wahlergebnisses und der Gründe für den Wahlausgang im einzelnen sowie zu einer differenzierteren Bewertung des demokratischen Konsolidierungsprozesses siehe Wagner 1991: 142-182. Vgl. die Tabelle in Wagner 1991: 186.

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

252

lungsfahigen Regierung mit den anderen im Parlament vertretenen Parteien einschließlich Frente Amplio und Nuevo Espacio - in Verhandlungen über eine Regierungsbeteiligung. Als Ergebnis stand am Ende der Gespräche die sogenannte Regierung der nationalen Übereinkunft (gobiemo de coincidencia national) mit acht Ministern des Partido National und vier Ministern aus den Reihen des Partido Colorado, die die drei wichtigen Sektoren der ehemaligen Regierungspartei repräsentierten. 135 Mit dieser Art der Koalitionsregierung, so sollte sich bald zeigen, konnte allerdings kaum eine wirklich stabile Regierungsmehrheit erreicht werden, die es erlaubt hätte, in angemessener Zeit grundlegende, reformorientierte Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen.

6.2.2

Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen und Aktivitäten

Bereits im Vorfeld der Wahlen 1989 deutete sich an, welches die Schwerpunkte der zukünftigen Wirtschaftspolitik sein würden. Die bestimmenden Themen des Wahlkampfes waren die Frage der Inflationsbekämpfung, die zukünftige Ausgestaltung des Sozialversicherungssystems und die Privatisierung von Staatsbetrieben.136 Daneben spielte die Auslandsverschuldung eine eher untergeordnete Rolle. Dies lag allerdings nicht etwa an der mangelnden Relevanz der Thematik, sondern daran, daß die Schuldenfrage bereits im Wahlkampf zur Nominierung des Präsidentschaftskandidaten eines Sektors des Partido Colorado Hauptthema gewesen war. Damals war der Plan des aus diesen internen Wahlen als siegreich hervorgehenden Jorge Batlle, die staatlichen Goldreserven zur Begleichung der Auslandsschulden zu verwenden, ausgiebig diskutiert worden, und die Pro- und Contra-Argumente zu dieser Thematik waren weitgehend ausgetauscht. Zwar hatte die Auslandsverschuldung auf der Agenda des Wahlkampfes keinen vorderen Platz mehr eingenommen; sie gehörte aber sehr wohl zu den wichtigen wirtschaftspolitischen Problemfeldern, die von der ab 1. März 1990 amtierenden neuen Regierung prioritär behandelt wurden. Dies zeigten etwa die Diskussionen um eine mögliche Berücksichtigung Uruguays im Plan Brady zum Zwecke der Realisierung einer langfristigen Umschuldung. Anfang 1991 mündeten diese Diskussionen in die 135

136

Im einzelnen waren dies zwei Minister, die der Unión Colorada y Bat ¡lista von Ex-Präsident Pacheco zuzurechnen waren, und je ein Minister aus Sanguinettis Foro Batllista und dem Batllismo Radical von Jorge Batlle. (Vgl. Búsqueda N° 526 vom 28.2.1990.) Die Angabe von Nolte (vgl. Nolte 1994: 390), nach der das Kabinett aus insgesamt neun Ministem bestanden habe, ist nicht korrekt. Zu einer Darstellung der Themen und Ereignisse des Wahlkampfes im einzelnen siehe Wagner 1991: 128-142.

Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen und Aktivitäten

253

Unterzeichnung von Umschuldungsverträgen mit den internationalen Gläubigerbanken. Damit war Uruguay das vierte lateinamerikanische Land nach Mexiko, Costa Rica und Venezuela, das im Rahmen des Plan Brady ein Umschuldungspaket s c h n ü r t e . 137 Schon bald nach der Amtsübernahme hatte die Regierung außerdem damit begonnen, einen Teil der Goldreserven des Landes zu veräußern, die bislang praktisch als unantastbar galten. Die wirtschaftspolitische Orientierung des neuen Präsidenten Luis Alberto Lacalle war am Neoliberalismus und den Maßgaben des IWF ausgerichtet. Seine Politik zielte in der ersten Hälfte seiner Amtszeit, die hier in der Analyse Berücksichtigung findet, auf die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Sanierung der öffentlichen Finanzen durch Reduzierung der Staatsausgaben und Erweiterung der Staatseinnahmen, die Modernisierung der Wirtschaft, die Exportförderung, die Öffnung des Marktes und die Förderung der ausländischen Direktinvestitionen. Auf eine soziale Abfederung der Folgen dieser Politik sollte dabei weitgehend verzichtet werden. 138 Allerdings nahm die Wirtschaftspolitik nie die radikal-neoliberalen Formen an wie etwa in Argentinien. In Zusammenhang mit der zu implementierenden Wirtschaftspolitik stand zu Beginn der Regierungszeit die Absicht, gewerkschaftliche Aktionsmöglichkeiten insofern einzuschränken, als das Streikrecht gesetzlich neu geregelt werden sollte. Das Thema der Reglementierung des Streikrechts rückte allerdings in den Hintergrund. Dies lag nicht nur an den zu erwartenden massiven Widerständen gegenüber einer solchen Reglementierung aus den Reihen der Gewerkschaften, sondern auch an den gewerkschaftsinternen Entwicklungen. So erfuhr die Gewerkschaftsbewegung nach dem Ende der Militärdiktatur im Laufe der Zeit, besonders aber Anfang der 90er Jahre sowohl durch interne Konflikte als auch durch veränderte externe Rahmenbedingungen, wie dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus, entscheidende Schwächungen. Deutlich läßt sich dies an der Entwicklung der Mitgliederzahl ablesen. Nach eigenen Angaben des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT gehörten ihm im Oktober 1992 nur noch 175.000 Arbeitnehmer gegenüber 250.000 im Jahr nach der Diktatur, 1985, an.'39 Damit bewegt sich der Mitgliederschwund von 1985 bis 1992 in einer Größenordnung von 30%. Der damit verbundene gesellschaftliche Bedeutungsverlust der Gewerkschaften, die noch in der Übergangsphase von der Diktatur zur Demokratie eine sehr bedeutende Rolle 137 Vgl Deutsch-Südamerikanische Bank: Kurzbericht über Lateinamerika (Februar 1991)1, S. 116. 138 Vgl. Spaettl991:32. 139 Vgl. Büsqueda N° 662 vom 29.10.1992. Schon Ende 1990 hieß es im Latin American Weekly Report: „Relations between unions and new government are tense, but organised labour has clearly lost most of its strength." (Latin American Weekly Report WR-90-50 vom 27.12.1990.)

254

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

gespielt hatten, führte sicher zu einem Nachlassen der Dringlichkeit des Themas 'Reglementierung' aus Sicht der Regierenden. Allerdings spielten wohl auch taktische Erwägungen eine Rolle, den Angriff auf die Gewerkschaften einzustellen, um so Solidarisierungseffekte und damit ein ungewolltes Wiedererstarken der Gewerkschaften zu vermeiden. 140 Statt dessen trat 1991 das Thema der regionalen Integration in den Vordergrund und bestimmte die öffentliche Diskussion. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay den Tratado de Asunción. In diesem Vertrag wurde die Einrichtung eines gemeinsamen Marktes Mercado Común del Sur (MERCOSUR) bis zum 31. Dezember 1994 vereinbart, wobei ein schrittweiser, automatischer und progressiver Abbau der Zolltarife vorgesehen wurde. 141 In den Jahren, bevor es zum Vertragsabschluß kam, waren die Integrationsverhandlungen zum MERCOSUR in erster Linie zwischen Argentinien und Brasilien geführt worden. Uruguay wurde nicht von Anfang an als gleichberechtigter Verhandlungspartner miteinbezogen, bekam aber einen Status als privilegierter Beobachter bzw. Juniorpartner. Eine zumindest informelle Beteiligung Uruguays war damit gegeben, doch letztendlich hatte man die zwischen Argentinien und Brasilien ausgehandelten Spielregeln weitgehend zu akzeptieren. Dies war nicht nur auf das Verhalten der beiden großen Verhandlungspartner zurückzufuhren, auch Uruguay selbst beschränkte seine Rolle im Integrationsprozeß. Schon die Regierung unter Präsident Sanguinetti hatte bei den Verhandlungen eine eher vorsichtige Haltung eingenommen und sich damals bei der Unterzeichnung von Abkommen auf dem Weg zum Vertragsabschluß zurückgehalten. 142 Diese Reserviertheit Uruguays - sowohl der Regierung wie übrigens auch der Unternehmer - setzte sich im weiteren Verlauf des Prozesses fort; die Dynamik des Integrationsprozesses ging in erster Linie von Argentinien und Brasilien aus. So war bis Oktober 1992 seitens Uruguay nur eines von insgesamt fünf abgeschlossenen sektorialen Übereinkommen unterzeichnet worden. 143 Die beiden kleineren am MERCOSUR beteiligten Länder wurden häufig als Trittbrettfahrer bezeichnet. Dies stimmt insofern, als der Tratado de Asunción als Ergebnis der bilateralen Annäherung zwischen Brasilien und Argentinien verstanden werden muß; der Beteiligung Paraguays und Uruguays als Länder mit einer im Vergleich sehr viel geringeren volkswirtschaftlichen Potenz kommt 140

Dies entspricht im übrigen einer Position, die sich auch Unternehmer zu eigen machten. Zumindest argumentierte Ricardo Petrissans Aguilar von der Unión de Exportadores in einem Gespräch mit dem Verfasser im November 1991 sehr ähnlich. 141 Zur Entstehung und zu den Zielen des MERCOSUR vgl. Wuthenau 1993. 142 Vgl. Kaplan 1989: 58. 143 vgl. Crónicas Económicas vom 5.10.1992.

Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen und Aktivitäten

255

lediglich komplementärer Charakter zu. Gleichzeitig aber ist die Volkswirtschaft Uruguays mit dem relativ begrenzten ökonomischen Potential eines kleinen Landes sehr viel mehr auf den MERCOSUR angewiesen als die der großen Nachbarn. So wickelte Uruguay 1990, also im Jahr vor dem Vertragsabschluß, 33,9% seines Außenhandels mit den MERCOSUR-Ländern ab. 144 Die wirtschaftliche Entwicklung Uruguays war und ist hochgradig abhängig von den jeweiligen konjunkturellen Entwicklungen in Argentinien und Brasilien sowie von der Lage auf und den Zugangsmöglichkeiten zu den dortigen Märkten. Daraus ergab sich für Uruguay mit Blick auf den MERCOSUR folgender Zwiespalt: Einerseits konnte es sich das Land wegen der seit Abschluß der bilateralen Handelsverträge mit Argentinien (CAUCE) und Brasilien (PEC) Mitte der 70er Jahre noch gewachsenen Abhängigkeit von den beiden großen Nachbarn nicht leisten, von der Bildung eines regionalen Marktes ausgeschlossen zu bleiben; zudem schienen sich wirtschaftlich vor allem im Dienstleistungsbereich (und hier wohl besonders in der Tourismusbranche und im Finanzsektor) neue Chancen zu bieten. 145 Andererseits bestand die Gefahr, im Zuge des Integrationsprozesses die durch die bisherigen bilateralen Abkommen erzielten Vorteile zu verlieren und dem verstärkten Wettbewerb in der Region nicht standhalten zu können. Jahrzehntelang durch protektionistische Maßnahmen geschützt, auf den Binnenmarkt orientiert und nach außen abgeschottet, mußten bei einer Realisierung des MERCOSUR viele Unternehmer besonders im Industriesektor wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit um ihre Existenz bzw. die Arbeiter um ihre Anstellung fürchten. Zudem drohte durch den MERCOSUR eine noch größere als die bereits bestehende wirtschaftliche Abhängigkeit mit dem Effekt, dann den ökonomischen Entwicklungen in Argentinien und Brasilien praktisch ausgeliefert zu sein und sehr viel unmittelbarer in den Sog dort möglicherweise sich ereignender Wirtschaftskrisen hineingezogen zu werden. Angesichts dieser für viele Unternehmer z.T. bedrohlich wirkender Faktoren war es nur ein geringer Trost, daß Uruguay im Rahmen des Programa de Liberación Comercial im Integrationsprozeß vorübergehende Konzessionen gewährt bekam. Zwischen den Mitgliedsstaaten des MERCOSUR wurden Listen von Produkten ausgehandelt, die bei der Zollsenkung zunächst ausge144 Vergleichsdaten: Brasilien: 5,7%; Argentinien: 14,3%; Paraguay: 40,3%, wobei diese Zahl nur eine sehr begrenzte Aussagekraft hat und wenig illustrativ ist, da der Anteil des informellen Sektors an der Ökonomie in Paraguay bis auf ca. 80% geschätzt wird; und dieser basiert in erster Linie auf Schmuggel. (Zu den Daten vgl. Price Waterhouse o.J.: 10-12.) £)i e Möglichkeiten Uruguays, zukünftig zu einem Dienstleistungszentrum im MERCOSUR zu werden, diskutieren u.a. Petrissans Aguilar/Vina 1993.

256

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

klammert blieben. Die von dieser Ausnahmeregelung betroffenen Produkte sollten in Argentinien und Brasilien ab 31. Dezember 1990 in jährlichem Rhythmus um jeweils 20% reduziert werden, in Uruguay und Paraguay zum Jahresende 1990 und 1991 um jeweils 10%, danach ebenfalls jährlich um 20%. Im Rahmen dieses schrittweisen, automatischen und progressiven Abbaus der Zolltarife gab es für Argentinien 394 Produkte auf der Ausnahmeliste, für Brasilien 324 und für Paraguay 439. Uruguay konnte diese Präferenzregelung für insgesamt 960 Produkte aushandeln. 146 Da Uruguay als den Veränderungen gegenüber „sensibelstes" Land betrachtet wurde, 147 verwundert es nicht, daß das Thema MERCOSUR in den Jahren 1991 und 1992 heftig diskutiert wurde. Die anfänglich z.T. euphorisch anmutende Diskussion um den MERCOSUR war bald einer differenzierteren Sichtweise und den realen Verhältnissen entsprechenden Einschätzungen gewichen; die Gefahren und Chancen wurden gesehen. In Uruguay wie in den anderen beteiligten Ländern herrschte die Absicht vor, mit den Integrationsbestrebungen nicht eine Abschottung nach außen erreichen zu wollen. Im Gegenteil soll die regionale Integration helfen, im internationalen Wettbewerb als gemeinsam auftretender Wirtschaftsblock eine stärkere Position zu gewinnen, und der MERCOSUR soll quasi als Sprungbrett auf den Weltmarkt dienen.*48 Darüber hinaus ist zu vermuten, daß die uruguayische Regierung mit der Errichtung eines gemeinsamen Marktes das Ziel verknüpfte, wirtschaftliche Strukturveränderungen und Modernisierungen durchzusetzen. Trotz eines gesellschaftlich weit verbreiteten verbalen Konsenses über die Notwendigkeit struktureller Reformen ließen sich diese aus verschiedenen Gründen (fehlende politische Mehrheiten; systembedingte Blockierungen; mangelnde Reformbereitschaft; gesellschaftsinterne Widerstände etc.) nur schwer durchsetzen. Zudem war die Regierung aufgrund der brüchigen Basis der Koalition nur begrenzt handlungsfähig, was sich auch dadurch andeutet, daß in den ersten 100 Tagen der Amtszeit Lacalles lediglich das Gesetz zur Haushaltssanierung verabschiedet werden konnte.149 So war es naheliegend, daß die Regierung den MERCOSUR als (letzte) Chance begriffen hatte: Notwendige Strukturveränderungen und Modernisierungen im wirtschaftlichen Bereich, zu denen das Land aus eigener Kraft nicht fähig schien, sollten durch externe Erfordernisse eingeleitet werden. „[...] el acompañamiento entusiasta que el gobierno uruguayo 146 Vgl. Price Waterhouse o.J.: 5. 147 Ygi pnce Waterhouse o.J.: 12. 148 Als ein Beispiel von vielen vertrat auch Végh Villegas im Guía Financiera vom 22.9.1991 diese Position. Dahingehend äußerten sich ebenfalls viele der Ende 1991 interviewten Repräsentanten der Unternehmerverbände, fast wörtlich Gustavo Vilaró Sanguinetti, Gerente der Cámara Nacional de Comercio am 28.10.1991 in Montevideo. 149 Vgl. Licio 1991:214/215.

Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen und Aktivitäten

257

otorgó a la iniciativa de aceleramiento del proceso puede ser interpretado también como una medida orientada al desbloqueo de los particularismos internos." 150 Neben Präsident Lacalle selbst war es vor allem Außenminister Héctor Gros Espiell, der die uruguayische Bevölkerung im allgemeinen und die Unternehmerschaft im besonderen von der Notwendigkeit einer Beteiligung Uruguays am MERCOSUR zu überzeugen suchte. 151 Die Auseinandersetzungen um das zweite sehr brisante wirtschaftspolitische Thema der Jahre 1990 bis 1992 verdeutlichen das bereits angesprochene Problem der Handlungsfähigkeit der Regierung, das in einem mangelnden Durchsetzungsvermögen bei Reformvorhaben zum Ausdruck kam. Aus der geplanten umfassenden Reform des öffentlichen Sektors via Privatisierung staatlicher Betriebe (im einzelnen die Fluglinie PLUNA, das Mineralölunternehmen ANCAP, die Elektrizitätsbetriebe UTE, die Telefongesellschaft ANTEL und das Busunternehmen ONDA) wurde ein sogar innerhalb der Regierungsmannschaft heftig umstrittenes (Teil-)Privatisierungsgesetz (Ley de empresas públicas), mit dem lediglich die Bedingungen für mögliche Teilprivatisierungen festgelegt wurden. Dieses Vorhaben war von Lacalle ursprünglich mit großer Zuversicht in Angriff genommen worden. Im September 1990 hatte er nach der - so Lacalle wörtlich gegenüber der Presse - wichtigsten Sitzung seines Ministerrates in der Regierungsperiode noch öffentlich verkündet, alle an der Regierung beteiligten Sektoren hätten ihm bei seinem Privatisierungsprojekt ihre Unterstützung zugesichert, und es bestehe diesbezüglich in seinem Kabinett absolute Übereinstimmung. 152 Bereits Mitte 1991 aber war von diesem breiten Rückhalt nicht mehr viel übrig geblieben. Der aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zur angestrebten Privatisierung erfolgte Rückzug des Colorado-SekloTS Foro Batllista von Ex-Präsident Sanguinetti aus der Regierung (Rücktritt von Gesundheitsminister Solari) legte die Brüchigkeit des Regierungsbündnisses offen. Sogar die eigene Partei stand nicht mehr geschlossen hinter Lacalle, wobei dies besonders auf die zweitgrößte Fraktion Movimiento Nacional de Rocha sowie auf die Gruppe hinter Senator Alberto Zumarán zutraf. Schließlich wurde das Gesetz nach langwierigen Auseinandersetzungen Ende September 1991, rund ein Jahr nachdem es im Parlament eingebracht worden war, mit 52 gegen 47 Stimmen im Abgeordnetenhaus verabschiedet. Ein gutes weiteres Jahr darauf wurden allerdings wesentliche Teile des Gesetzes

150

Caetano 1992b: 41. 151 Vgl. dazu auch Schonebohm 1994: 16, der die Medienberichterstattung zum Thema MERCOSUR in der Zeit vom 1.1.1991 bis zum 31.5.1992 analysiert hat. 152 Lacalle, so zitiert in Büsqueda N° 554 vom 20.9.1990.

258

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

zu Fall gebracht: In einem Plebiszit am 13. Dezember 1992 stimmten über 70% der Wähler für die Aufhebung von fünf wichtigen Artikeln dieses Gesetzes. 153 Präsident Lacalle machte sein politisches Überleben wohlweislich nicht von dem Ausgang des Plebiszits abhängig. Zu einem Zeitpunkt, als über die Durchführung einer Volksabstimmung noch gar keine Entscheidung gefallen war, betonte er bereits: Wenn die Bevölkerung sich gegen das Gesetz - immerhin einem Kernstück seiner Wirtschaftspolitik - aussprechen würde, sei dies für ihn ein Zeichen, daß sich das Land nicht modernisieren wolle, nicht aber Anlaß zu einem Rücktritt. 154 Im Endeffekt, so zeigte das Ergebnis der Volksabstimmung deutlich, gelang es Lacalle nicht, den in Uruguay zur Durchsetzung von Reformen notwendigen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Wirtschaftliche Transformationen unter demokratischen Verhältnissen - darauf weisen Snoeck/Sutz/Vigorito am Beispiel des Privatisierungsgesetzes hin - seien in Uruguay nicht „von oben", also von der Regierung dekretiert oder in Form eines Elitenprojektes durchzuführen. Vielmehr achte eine aktive Zivilgesellschaft, die über die notwendige Mobilisierungsfahigkeit verfüge, um in den politischen Prozeß einzugreifen, auf die Berücksichtigung ihrer Interessen. Das eigentliche Problem bestehe nun darin, „[...] daß sich die Handlungskapazität der uruguayischen Zivilgesellschaft weitgehend auf ihr Widerstandspotential reduziert, während eine Fähigkeit zur Entwicklung vorwärts gerichteter Alternativen auf einem vergleichbar hohen konsensualen Niveau nicht besteht." 155 Verbreiteter Immobilismus und gegenseitiges Blockieren verschiedener Kräfte sollten auch unter der Regierung Lacalle als strukturelle gesellschaftliche Probleme bestehen bleiben. Selbst das „konsensuale Niveau" innerhalb der Regierung sank immer mehr ab. Ende 1992 blieb aus der sogenannten Regierung der nationalen Übereinkunft von Seiten des Partido Colorado lediglich die Union Colorada y Batllista um Jorge Pacheco als die Regierung unterstützende Gruppe übrig. Zwischenzeitlich hatte auch Jorge Batlle und sein Batllismo Radical die Beteiligung an der Regierung zurückgezogen, dem - anders als Sanguinetti, der für eine größere soziale Ausgewogenheit der angestrebten Maßnahmen plädierte - die Reformbestrebungen von Lacalle nicht weit genug gingen. Der wirtschaftspolitische Kurs der Regierung wurde nicht nur von Vertretern anderer Parteien kritisiert, auch intern kam es in der Regierung unter den Blancos des öfteren zu heftigen Konflikten um die Wirtschaftspolitik. Insgesamt lief die parteiinterne Kritik an der Regierungspolitik auf Forderungen hinaus, eine gradualistische 153 Vgl. Búsqueda N° 669 vom 17.12.1992. Zu Einzelheiten siehe außerdem Bodemer 1993:49-52. 154 Lacalle, so zitiert in Búsqueda N° 630 vom 12.3.1992. 155 Snoeck/Sutz/Vigorito 1994: 214.

259

Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen und Aktivitäten

und regulierende Anpassungsstrategie zu verfolgen, die eine bisher völlig vernachlässigte soziale Abfederung der neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik einschließen sollte. Ein überzeugendes und kohärentes wirtschaftspolitisches Alternativkonzept wurde von den Regierungskritikem, gleich welcher Coleur, allerdings nicht entwickelt. „Die Anmahnung größerer sozialer Sensibilität und der Hinweis auf eine unverzichtbare aktive Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik sind kein Ersatz für ein solches Konzept." 156 Die partei- und regierungsinternen Spannungen gipfelten Ende November 1991 in einem Brief von Vize-Präsident Aguirre an Lacalle, in dem dieser ultimativ eine Umgestaltung der Wirtschaftspolitik verbunden mit personellen Konsequenzen bis zum 31. Januar 1992 forderte. Tatsächlich wurden dann Mitte Februar 1992 im Zuge einer Kabinettsumbildung die Ministerien für Wirtschaft und Finanzen, für Industrie und Energie sowie für Wohnung und Umwelt neu besetzt. Damit waren seit dem Amtsantritt der Regierung Lacalle, d.h. in einem Zeitraum von zwei Jahren, insgesamt 15 Minister und Staatssekretäre ausgewechselt worden. 157 Anders als die Schwierigkeiten, mit denen sich Lacalle auch innerhalb seiner Regierungsmanschaft konfrontiert sah, vermuten lassen, waren Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage unter seiner Regierung festzustellen. Nicht nur die jährliche Inflationsrate ging im Zeitraum 1990 bis 1992 von 129% über 81% auf 59% zurück, auch das Bruttoinlandsprodukt wuchs stetig (1,3% für 1990, 3,2% für 1991 und 7,7% für 1992). Die Reallöhne, die 1990 im Vergleich zum Vorjahr noch um 7,3% zurückgegangen waren, erholten sich langsam (1991 eine Steigerung um 3,8% und 1992 um 2,2%). Graphik 21: Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt und Löhnen 1990-1992 (jährliche Variation in %)

8

6 4 2

0 -2 -4

-6 1990

1991

—•—BIP

—»—Reallöhne

Quelle: Tabellen 9 und 10 im Anhang.

156 157

Bodemer 1993: 59. Vgl. Büsqueda N° 627 vom 20.2.1992.

1992

260

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

Ein weiterer Indikator für positive wirtschaftliche Tendenzen ist die Tatsache, daß das Defizit des staatlichen Haushaltes abgebaut werden konnte. Es wurden nicht nur die öffentlichen Ausgaben eingeschränkt, sondern gleichzeitig neue Einnahmequellen erschlossen. Zu nennen wären hier u.a. verschärfte Kontrollen zur Eindämmung der Steuerhinterziehung sowie Steueranhebungen. So wurden beispielsweise die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt auf 22% und die Körperschaftssteuer sowie die landwirtschaftliche Ertragssteuer von jeweils 30% auf 40% erhöht. Die Lohnsteuer wurde von l%-2% auf 3,5%-7,5% angehoben, die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung von 18% auf 21,5%. Außerdem führte die Regierung eine Immobiliensteuer in Höhe von 4% ein, die bei Veräußerung bzw. Schenkung fallig wird. 158 Obschon dadurch das Haushaltsdefizit abgebaut werden konnte und auch andere volkswirtschaftliche Indikatoren auf eine positive Entwicklung hindeuten, stellt Bodemer in einer Halbzeitbilanz zu Recht fest, daß die ökonomischen Erfolge der Regierung Lacalle insofern zu relativieren seien, als sie von externen Faktoren beeinflußt sind (Wirtschaftsentwicklung in Argentinien und Brasilien) und ihnen auch ungünstigere wirtschaftliche Trends gegenüberstehen. Trotz einer insgesamt positiven Wirtschaftsbilanz wäre es deswegen verfrüht, aus den vorliegenden Daten eine endgültige Wende zum Besseren abzuleiten. 1 5 9 Zu den ungünstigeren wirtschaftlichen Trends ist die Entwicklung der Außenhandelsbilanz zu rechnen. 1991 nahm diese zum ersten Mal seit der Restauration der Demokratie mit einem Minus von 32 Millionen US-Dollar einen negativen Wert an. Zwar kam auch im Folgejahr das Defizit nicht in die Nähe des Rekordminus aus dem Jahr 1980 (-621 Millionen US-Dollar), im Vergleich zu 1991 aber verzehnfachte es sich 1992 auf eine Summe von -342 Millionen US-Dollar. 160 Trotz einer relativ günstigen Konjunktur mit etwas mehr Licht als Schatten blieb eine Vielzahl ungelöster Probleme weiter bestehen; geplante Reformvorhaben waren über Ansätze nicht hinaus gekommen. So war man bei der dringend gebotenen und oben auf der Prioritätenliste der Regierung stehenden Reform des Sozialversicherungssystems - nicht zuletzt durch die Überalterung der uruguayischen Gesellschaft steigen konstant die staatlichen Ausgaben in diesem Bereich in einem Ausmaß, das die öffentlichen Haushalte mehr als überfordert - nicht entscheidend weitergekommen. Nach monatelangen Auseinandersetzungen konnte im Oktober 1992 zwar ein Reformgesetz verabschiedet werden; allerdings war dies nur eine entschärfte Fassung des ein halbes Jahr zuvor im Parlament eingebrachten Dringlichkeitsgesetzes, mit dessen mehrheit158 Vgl. Deutsch-Südamerikanische Bank: Kurzbericht über Lateinamerika (Juni 1990)2, S. 118/119. 159 Vgl. Bodemer 1993: 26. 160 2u den Daten vgl. Tabelle 11 im Anhang.

Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Themen und Aktivitäten

261

licher Ablehnung die Regierung im Mai 1992 eine spektakuläre Niederlage erlitten hatte. Insgesamt stellte sich Ende 1992 - besonders wegen der Ablehnung von wesentlichen Teilen des Privatisierungsgesetzes per Volksabstimmung - die Handlungsfähigkeit der Regierung als so eingeschränkt dar, daß für die zwei für Lacalle im Amt des Präsidenten noch verbleibenden Jahre kaum substantielle Reformen erwartet werden konnten. Als vollkommen überzogen muß allerdings die Prophezeiung von Ernesto Kroch aus dem Jahre 1991 gelten, nach der sich eine „Perspektive der Wiederkehr der Jahre vor dem Staatsstreich" abzeichne, als der damalige Präsident „mit Vetos, Dekreten, Militarisierung von ganzen Branchen und Verhängung des Ausnahmezustandes regierte." 16 !

6.2.3

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

6.2.3.1

Unternehmer und MERCOSUR

Welche Auswirkungen hatte der MERCOSUR als das zentrale wirtschaftspolitische Thema in der ersten Hälfte der Amtszeit der Regierung Lacalle auf die politische Rolle der Unternehmerverbände, ihr Selbstverständnis und das Verhalten der Unternehmer? Die für Lateinamerika in einem historischen Rückblick insgesamt zu beobachtende Tendenz - und dies gilt insbesondere für die seit den 60er Jahren initiierten Integrationsprojekte -, daß ein Großteil der Unternehmer Integrationsprozessen häufig gleichgültig oder ablehnend gegenüberstand, 162 ist auch mit Blick auf Uruguay festzustellen. Hier deutete sich allerdings in den Jahren nach der Militärdiktatur eine Trendwende an. Bereits unter der Präsidentschaft von Sanguinetti war es, wie dargestellt, vor allem die Cámara de Industrias, die sich für eine verstärkte regionale Integration stark machte. Insgesamt kann festgestellt werden, daß die Zustimmung der uruguayischen Regierung zu einer Beteiligung am MERCOSUR zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Initiative der Cámara de Industrias und der sie dominierenden Großunternehmer zurückging, die von Anfang an die Bestrebungen bezüglich MERCOSUR unterstützten. In einem Gespräch mit dem Gerente-Director der Cámara de Industrias, Carlos Folie Martínez, am 20. November 1991 wurde dies bestätigt. Der Unternehmerverband habe sich mit seinem Anliegen direkt an den Präsidenten der Republik gewandt und mehrere

161

Kroch 1991: 203. 162 Vgl. Birle/Imbusch/Wagner 1993: 59. Jenseits dieser Pauschalisierung gibt es natürlich durchaus Differenzierungen im Verhalten der lateinamerikanischen Unternehmer gegenüber der Integration. Siehe hierzu Birle/Imbusch/Wagner 1993: 59-64.

262

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

wichtige Politiker eingeschaltet. 163 Als sich die Pläne Argentiniens und Brasiliens fiir einen gemeinsamen Markt konkretisierten, sei klar gewesen, daß Uruguay nicht außen vor bleiben dürfe. Man wäre dann nur noch wie ein Zuschauer beim Tennis gewesen, der zusieht, wie der Ball hin und her gespielt werde. Es sei nun allerdings auch Aufgabe der Regierung, Bedingungen zu schaffen, die eine Wettbewerbsfähigkeit der uruguayischen Industrie überhaupt erst ermöglichen (z.B. konkret durch Senkung der Energiepreise). Diverse Interviews mit Unternehmern ebenso wie ihr tatsächliches Verhalten (bzw. das ihrer Interessenvertretungen) weisen darauf hin, daß gerade mit Blick auf das Thema MERCOSUR hinsichtlich der dem Staat zugewiesenen Rolle ein eklatanter Widerspruch zwischen verbalen Bekundungen und der Praxis bestand. Sobald negative Effekte der Integrationspolitik abzusehen waren, wurde, entgegen dem sonst üblichen neoliberalen Diskurs, nach staatlicher Unterstützung, Schutzmechanismen, Protektion und Ausnahmeregelungen gerufen. Als man sich in der Cámara de Industrias bewußt wurde, daß viele der über Jahrzehnte protegierten Betriebe regional kaum wettbewerbsfähig sind, wandte sich das anfänglich recht klare Bekenntnis zum MERCOSUR zu einem „Ja, aber ..." Entsprechend wurde gegenüber der Regierung immer wieder massiv gefordert, sich für Sonderregelungen bei den Verhandlungen stark zu machen, die die einheimischen Industriebetriebe schützen und Wettbewerbsfähigkeit ermöglichen sollen. Im weiteren Verlauf des Integrationsprozesses drängte die Regierung gemäß ihrer neoliberalen Wirtschaftsideologie die Unternehmer zu einem verstärkten Engagement im Integrationsprozeß. So zielten die öffentlichen Äußerungen von Präsident Lacalle und anderen Mitgliedern der Exekutive vor allem darauf, die Unternehmer davon zu überzeugen, daß die wirtschaftliche Zukunft Uruguays erheblich von ihrer Unterstützung und ihrer aktiven Beteiligung bei der Verwirklichung des angestrebten gemeinsamen Marktes abhänge. 164 Die Einbeziehung der nationalen Unternehmerschaft war zunächst auf einer eher infor163

164

Hierzu der Colorado-Politiker Jorge Batlle: „La Cámara de Industrias en su momento le hizo llegar al Presidente de la República un documento, en donde exteriorizaba su preocupación porque quedámos afuera del tratado, y ahí entonces se tomó esa decisión política, se hicieron los planteos, y era imposible para Argentina y Brasil decir que no iban a aceptar la presencia del Uruguay y del Paraguay." (So zitiert in La República vom 6.10.1991.) Es entspricht nicht den Tatsachen, wenn Milton Reyes von der Unión de Exportadores - so wie er in der taz vom 28.9.1991 von Gaby Weber zitiert wird behauptet, die Politiker hätten „den Mercosur aus dem Ärmel gezogen, ohne die Unternehmer um ihre Meinung zu fragen". Die Vorreiterrolle der Cámara de Industrias hinsichtlich der Beteiligung Uruguays am Integrationsprozeß bestätigen u.a. Bizzozero/ Luján (1993: 102) sowie sehr viel früher bereits Rodríguez (1990: 116), der auf den Druck hinweist, den die Industriellen auf die Regierung in diese Richtung ausgeübt hätten. Vgl. Schonebohm 1994: 25.

Eine neue Rolle der Untemehmerverbände?

263

mellen Ebene angesiedelt. So begleiteten Repräsentanten der Unternehmerverbände die Regierungsvertreter zu Gesprächen, Verhandlungen und zur Vertragsunterzeichnung. In einem weiteren Schritt wurde versucht, die Mitarbeit der Unternehmer und anderer gesellschaftlich relevanter Gruppen zu institutionalisieren. Hierzu wurden Sektor- und diverse Subkommissionen eingerichtet: Die sogenannte Comisión Sectorial wurde gebildet von Repräsentanten der Exekutive, je zwei Vertretern der Gewerkschaften und der staatlichen Betriebe sowie vier Delegierten nationaler Unternehmerverbände der unterschiedlichen Wirtschaftssektoren (Cámara de Industrias, Cámara Nacional de Comercio, Cámara Mercantil de Productos del País sowie Asociación Rural!Federación Rural).165 Gegenüber den Gewerkschaften war die Unternehmerschaft hier wie in der Mehrzahl der der Comisión Sectorial angegliederten Subkommissionen überrepräsentiert. Nicht nur in den drei nach Wirtschaftssektoren aufgeteilten Subkommissionen (Landwirtschaft, Industrie und Handel), auch in der Subkommission für Arbeitsbeziehungen standen einem Gewerkschaftsvertreter (z.T. plus einem alternierenden Mitglied) durchweg mehrere Vertreter der jeweiligen nationalen Unternehmerverbände gegenüber. 166 Auf seiten der Gewerkschaften kam es auch verstärkt Ende 1991 zu Mißfallensäußerungen darüber, daß Regierung und Unternehmer sich direkt verständigen würden, ohne dabei die Gewerkschaften angemessen zu berücksichtigen. 167 Die Unternehmer verfugten im Rahmen des Integrationsprozesses über eine weitere institutionalisierte Mitwirkungsmöglichkeit, die eine Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg vorsah. Sie konnten ihren Regierungen gemeinsam ausgearbeitete Vorschläge (Sektorübereinkommen) präsentieren. Diese Übereinkommen, die den zuständigen Entscheidungsinstanzen des MERCOSUR (dem Grupo Mercado Común und den jeweiligen untergeordneten Arbeitsgruppen) vorzulegen waren, mußten nicht den Rückhalt der Unternehmer aller vier beteiligten Länder haben; ausreichend war eine Einigung der 16

^

166

167

Siehe hierzu die Aufstellung in Crónicas Económicas vom 2.9.1991. Die Beteiligung der Unternehmerverbände an den Sukommissionen sah im einzelnen folgendermaßen aus: In der Subcomisión Agropecuaria war vertreten die Federación Rural, die Asociación Rural und die Cámara Mercantil de Productos del País; in der Subcomisión Industrial die Cámara de Industrias und die Cámara Nacional de Comercio', in der Subcomisión Comercio die Cámara de Industrias, die Cámara Nacional de Comercio, die Unión de Exportadores und die Cámara Mercantil de Productos del País; in der Subcomisión Relaciones Laborales die Cámara de Industrias, die Cámara Nacional de Comercio und die Cámara Mercantil de Productos del País. In der Subcomisión de Ciencia y Tecnología war von den Unternehmerverbänden lediglich die Cámara de Industrias vertreten. Des weiteren existierten noch ein Grupo Empresas Públicas und eine Koordinierungsgruppe der departementalen Kommissionen, jeweils ohne Vertreter von Gewerkschaften oder Unternehmerverbänden. Vgl. Bodemer 1993: 43.

264

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

Unternehmer aus zwei bzw. drei Ländern. Den ausschließlich aus Regierungsvertretern der vier Länder bestehenden Gremien des Grupo Mercado Común oblag die Entscheidung darüber, ob sich die Vorschläge in Übereinstimmung mit den vertraglichen Regelungen des MERCOSUR befinden und als Abkommen zwischen den Ländern unterzeichnet werden können. Faktisch bedeutete diese Vorgehensweise, daß die Regierungen zwar ihre Funktion als Entscheidungsinstanzen nicht aufgegeben hatten; die Dynamik und die Orientierung der sektoriellen Entwicklungen im Integrationsprozeß aber waren zu großen Teilen den Unternehmerverbänden und Unternehmern der entsprechenden Wirtschaftssektoren überantwortet worden. Zudem sah die im Dezember 1991 beschlossene Geschäftsordnung des Grupo Mercado Común vor, daß die einzelnen Arbeitsgruppen Vertreter der Privatwirtschaft zu ihren Sitzungen einladen können. Dies sollte allerdings nur dem Meinungsaustausch dienen. Wenn Entscheidungen anstanden, war eine Teilnahme der Unternehmer an den Sitzungen nicht erlaubt. 168 Trotz dieser von Seiten der Regierung gewährten Beteiligungsmöglichkeiten besonders für die Unternehmer und trotz der anfanglichen Initiative der Cámara de Industrias zeigten die Unternehmer und ihre Verbände von sich aus nur wenig Interesse an einer aktiven Partizipation am Integrationsprozeß. In der Regel „[...] verharr[t]en sie in der Rolle von Experten, die die Durchführbarkeit von Vereinbarungen prüfen." 169 Sie nahmen vor allem dann entsprechenden Einfluß auf politische Entscheidungen, wenn es darum ging, die Listen von denjenigen Produkten auszuhandeln, die bei der Zollsenkung zunächst ausgeklammert bleiben sollten. 170 Die insgesamt festzustellende passive Haltung ist kaum damit zu erklären, daß die Unternehmer dem MERCOSUR keine Bedeutung zugemessen hätten. Denn immerhin schien die Unternehmerschaft mehrheitlich davon überzeugt, daß sich für Uruguay keine andere Möglichkeit biete, als sich am MERCOSUR zu beteiligen. So kam eine Umfrage unter 150 Großunternehmern des Industriesektors im Oktober 1991 zu dem Ergebnis, daß 62% im MERCOSUR den einzigen Weg zur Integration sahen. 171 15,3% sprachen sich für ein Vorgehen der unmittelbaren Weltmarktintegration, wie von Chile praktiziert, aus. 14,7% zogen ein Festhalten an bilateralen Präferenzabkommen einer Beteiligung am MERCOSUR vor. Zu denjenigen, die dem MERCOSUR von Anfang an ableh168 Vgl. Worcel 1992: 22. 169 Arndt 1991: 312. 170 Es wurden nicht nur mehr uruguayische Produkte in die Ausnahmelisten aufgenommen als Produkte aus Argentinien und Brasilien zusammen, sondern auch fast die Hälfte davon lediglich „sicherheitshalber", da sie bis dahin überhaupt nicht in Uruguay produziert wurden. (Vgl. Klein 1992: 8.) 171 Vgl. hierzu und zum folgenden Pineiro 1992: 125.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

265

nend gegenübergestanden hatten, zählte die Unión de Exportadores. Der Repräsentant der Unión de Exportadores, Ricardo Petrissans Aguilar, erklärte, daß für seinen Verband dieses Vorhaben, im Unterschied zur Position der Cámara de Industrias, immer einen Streitpunkt mit der Regierung dargestellt habe. 172 Die Unión de Exportadores sei nicht grundsätzlich gegen die Integration, aber sehr wohl gegen das gegenwärtige Procedere. Die in der öffentlichen Diskussion vorherrschende Position nach dem Motto MERCOSUR o Muerte sei nicht haltbar. Für Uruguay wäre es sinnvoller und günstiger gewesen, ähnlich wie Chile vorzugehen. Es gäbe sehr gute bilaterale Vereinbarungen, die weiterhin hätten genutzt werden können. Jenseits dieser prinzipiellen Meinungsdifferenzen Pro und Contra MERCOSUR schien aber zumindest eine weitgehende Übereinstimmung im Verständnis des Integrationsprozesses zu herrschen. Wie bereits angedeutet, wurde der MERCOSUR als Sprungbrett für eine bessere Position auf dem Weltmarkt verstanden. 173 Trotz der grundsätzlichen Opposition der Unión de Exportadores gab es keine mehrheitliche Ablehnung der Unternehmer gegenüber dem MERCOSUR. Die Gründe für ihre Passivität und ihre abwartende Haltung sind vielmehr vor dem Hintergrund grundsätzlicher Erwägungen zu sehen, die in Zusammenhang mit der traditionellen Rolle der Unternehmer als Akteure im politischen System stehen. Denn wie schon unter der Regierung Sanguinetti bestätigten die Unternehmer und ihre Interessenverbände mit ihren Verhaltensweisen im Integrationsprozeß wieder eine Orientierung, die in der politischen Kultur des Landes verankert ist: die relative Unterordnung unter die Parteien und die staatlichen Entscheidungsträger als die politischen Akteure schlechthin. Dies konstatiert auch Arndt, wenn sie schreibt, daß die Unternehmer die Bevormundung des Staates überbewerten und ihren eigenen Handlungsspielraum unterschätzen würden; das etatistische Denken sei fest verankert. 174 Auf dieses traditionelle Selbstverständnis der Unternehmer weist noch einmal Schonebohm in seiner Analyse der Positionen der gesellschaftspolitisch relevanten Akteure zum Thema MERCOSUR hin: „Según sus propias convicciones los productores del sector agropecuario así como los empresarios industriales y sus gremios no se mezclan en política [,..]." 175 Gleichzeitig muß die für viele Unternehmen existenzbedrohende Gefahrdung eines möglichen gemeinsamen Marktes, der offene Volkswirtschaften und 172 173

174 17

5

Petrissans Aguilar in einem Gespräch am 15.11.1991 in Montevideo. Auch Petrissans Aguilar wies in dem erwähnten Gespräch darauf hin, daß es beim MERCOSUR nicht um Integration in dem Sinne gehen dürfe, daß sich die vier beteiligten Länder untereinander intensiver austauschen und miteinander im Wettbewerb stehen; vielmehr müßte der eigentliche Sinn und Zweck des MERCOSUR darin bestehen, als Plattform für den Wettbewerb mit dritten Märkten zu dienen. Vgl. Arndt 1991: 312. Schonebohm 1994: 69.

266

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

Wettbewerb impliziert, bedacht werden. Gerade Unternehmer aus dem industriellen Bereich würden dann mit einer völlig neuen Situation konfrontiert werden, die substantielle Verhaltensänderungen erfordert: „Tradicionalmente se han preocupado mucho más por las ganancias fáciles o la producción cómoda, al amparo de una medida proteccionista, que por la mejora en el nivel de productividad, por la inversión productiva, o por las mejoras tecnológicas. El nacimiento de la industria uruguaya está vinculado a la política económica proteccionista aplicada luego de la década del 30. En las relaciones externas los convenios comerciales ampliaron su mercado sin exponerla a la competencia. El mercado interno fue, en general, un área reservada, posible de ser utilizada para vender a precios superiores, que permitieron compensar los bajos precios de exportación. Estos factores van a tener cambios sustanciales en los próximos años si el proceso de integración no se detiene." 17*>

Auf notwendige Verhaltensänderungen der Wirtschaftsakteure wies Mitte 1991 auch der Direktor der im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluß von Asunción geschaffenen Comisión Sectorial hin. In einem Interview forderte Jorge Sienra mit Blick auf die Unternehmer, daß diese unbedingt eine neue Wesensart annehmen müßten mit der Bereitschaft zur Veränderung und zum Risiko. 177 Die Erwartungen hinsichtlich einer grundsätzlich veränderten Einstellung und einer aktiven Beteiligung der Unternehmer am Integrationsprozeß hatten sich aber zumindest bis Ende 1992 noch nicht erfüllt. Es waren bestenfalls erste Anzeichen eines Umdenkens in ihren Reihen in der Form erkennbar, daß etwa Informations-, Weiterbildungs-, Austausch- und Gesprächsmöglichkeiten nicht erschöpfend, aber doch intensiver als in den Jahrzehnten zuvor genutzt wurden. So nahmen, um nur ein Beispiel zu nennen, über 600 Unternehmer der Region, die Mehrzahl aus Uruguay, am 1er Encuentro de Empresarios del MERCOSUR am 10. und 11. Oktober 1991 in Montevideo teil. 178 Dabei ging es zum einen um die Vermittlung von Informationen, zum anderen konnten die Unternehmer in Rondas de Negocios Kontakte untereinander knüpfen, um eventuell Geschäftsverbindungen miteinander aufzunehmen. Diese stellten Ansatzpunkte dar, denen sich die Mehrheit der uruguayischen Unternehmer in der Vergangenheit verschlossen hatte - eine Tatsache, die auch selbstkritisch gesehen wird, wie etwa von Carlos Enrique Gasparri, Präsident der Asociación Rural. Mangelnde Partizipationsmöglichkeiten der Unternehmer im Integrationsprozeß des MERCOSUR seien weniger das Problem als vielmehr die existierende „Unternehmermentalität". Die Unternehmer seien überwiegend individualistisch orientiert. Dies gehe so weit, daß jeder auf eigene Faust Erfolg haben wolle und deswegen zu einer Zusammenarbeit auch und gerade der Unterneh-

176 177 178

Rodríguez 1990: 119. Vgl. Búsqueda N° 593 vom 27.6.1991. Vgl. La República vom 11.10.1992.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

267

mer untereinander häufig nicht bereit sei. 179 Gasparri wies damit auf ein Phänomen hin, wie es in der vorliegenden Arbeit bereits im Kontext der Lohnverhandlungen in den Consejos de Salarios beschrieben wurde. Diese verbreiteten grundsätzlichen, von Gasparri als Unternehmermentalität bezeichneten Orientierungen kommen auch in den öffentlichen Äußerungen von Unternehmern zum Ausdruck. Deren Stellungnahmen in den Medien haben häufig einen individuellen Charakter und werden weniger als gemeinsamer Standpunkt der in einem Verband zusammengeschlossenen Unternehmer wahrgenommen. 180 Es stellt sich abschließend die Frage, ob viele Unternehmer nach Abschluß des Tratado de Asunción tatsächlich den Eindruck gehabt haben, daß - so wie es Gustavo Vilaró Sanguinetti, Gerente der Cámara Nacional de Comercio, formulierte 181 - die Siesta vorbei sei und eigene Aktivitäten, Modernisierungen der Betriebe eingeschlossen, entwickelt werden müssen. Ein solcher Einstellungswandel ist deshalb zu bezweifeln, da sich erste Ansätze einer Umorientierung damals kaum in praktischer Umsetzung und konkretem Handeln niedergeschlagen hatten. Anzeichen etwa dergestalt, daß die weitverbreitete rentistische Mentalität, also das pure Gewinnstreben ohne jegliche Investitionsbereitschaft, zurückging, gab es ebensoselten wie notwendige Neudefinitionen der Unternehmenspolitik bzw. an die neuen Verhältnisse angepaßte unternehmensstrategische Aktivitäten. „[...] se nota una débil respuesta en acciones efectivamente realizadas en contraposición con las oportunidades que los empresarios manifiestan. Esto se explica, sin duda, por la incertidumbre que rodea el tema [...] parecen ser pocas las empresas que hoy están construyendo el Mercosur v las empresas que no lo están haciendo se están quedando sin tiempo para ello." 1 2

Die Einstellung der Unternehmer zum MERCOSUR in der Zeit nach dem Vertragsabschluß hing überwiegend von der Art ihres Unternehmens, von den sich in diesem Kontext bietenden Chancen oder existenzbedrohenden Gefahren, also von Kosten-Nutzen-Kalkülen ab. Insgesamt schien im Unternehmerlager eine optimistische Grundstimmung gegenüber dem MERCOSUR zu herrschen. Diese positive Sichtweise bewegte sich allerdings wohl eher auf einer Gefühlsebene als daß sie durch Daten abgesichert war; spezifische Informationen über die Auswirkungen des MERCOSUR auf ihren Betrieb lagen den Unternehmern kaum vor. 183 Der trotzdem häufig geäußerte Optimismus kann sehr unterschiedlich begründet werden: Unternehmer, die davon überzeugt waren, daß ihr

1

G a s p a r r i in einem Gespräch am 13.11.1991 in Montevideo. Vgl. Schonebohm 1994: 70. 181 Vilarö Sanguinetti in einem Gespräch am 28.10.1991 in Montevideo. 18 2 CIESU 1992: 16/17. 183 Vgl. CIESU 1992: 16. 180

268

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

Unternehmen dem regionalen Wettbewerb standhalten kann, sahen im MERCOSUR neue Chancen. Unternehmer, deren Betriebe weniger wettbewerbsfähig waren, vertrauten darauf, daß der MERCOSUR nicht bzw. zumindest nicht so schnell, wie im Tratado de Asunción vorgesehen, Realität wird. Auch Unternehmer in verantwortlichen bzw. exponierten Positionen in den wichtigsten nationalen Verbänden ließen vor allem wegen der kritischen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den Nachbarländern mehr oder weniger deutlich ihre Skepsis bezüglich der Wahrscheinlichkeit, das ambitiöse Integrationsprojekt im gesteckten Zeitrahmen realisieren zu können, erkennen. 184 Vom Präsidenten der Cámara de Industrias, Carlos Rodríguez García, kam zum Jahresende 1992 gar der Vorschlag, eine Pause im Integrationsprozeß einzulegen und die Einrichtung des MERCOSUR auf unbestimmte Zeit zu verschieben. 185 Die vielfältigen Aktivitäten (z.B. in Form von Informationsveranstaltungen) und die über lange Zeit zentrale Stellung des Themas MERCOSUR in der öffentlichen Diskussion in Uruguay sorgten dafür, daß die realen Entwicklungen nur begrenzt wahrgenommen wurden. 186 Verbreiteter Aktivismus ohne wirkliche Konsequenzen 187 täuschte darüber hinweg, daß Uruguay de facto nur am Rande des Integrationsprozesses stand. Die Dynamik und Orientierung dieses Prozesses wurde von den Unternehmern und Regierungen der beiden Nachbarländer determiniert. Wenn Uruguay die realen Einfluß- und Mitwirkungsmöglichkeiten nicht genutzt hat und damit in einer längerfristigen Perspektive die Chancen der Integration verpassen sollte, wäre dies aufgrund ihrer Schlüsselstellung beim Integrationsvorhaben MERCOSUR erheblich auch dem Verhalten der Unternehmer zuzuschreiben.

184

185 186

187

Als ein Beispiel von vielen bekundete Carlos Langwagen, Präsident der Unión de Exportadores, in einem Interview im Oktober 1992 seine diesbezüglichen Zweifel. Ob es 1995 tatsächlich einen gemeinsamen Markt gebe, könne er nicht sagen. (Vgl. El Observador Económico vom 20.10.1992.) Vgl. El Observador Económico vom 23.12.1992. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Kritik von Snoeck/Sutz/ Vigorito (1994: 209) hier nicht nachvollzogen werden kann, die folgendermaßen lautet: In Uruguay habe man dem Thema 'Integration' nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt, anders als in Argentinien und Brasilien, wo dies ganz oben auf der politischen Tagesordnung gestanden habe und in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden sei. Vom Gegenteil, also einer sehr intensiven Beschäftigung mit dieser Thematik in Uruguay, konnte sich nicht nur der Verfasser z.T. vor Ort selbst überzeugen, auch andere Autoren machten eine ähnliche Beobachtung und sprechen von einer wahren Flut an Begegnungen, Seminaren, Reportagen und Interviews, nachdem man die Schwelle zur Integration überschritten hatte. (Vgl. Bizzozero/Luján 1993: 103.) Deutlich formulierte dies Jorge Friedman mit den Worten: „[...] en el Uruguay hablamos mucho pero hacemos poco". (So zitiert in El Observador Económico vom 11.11.1991.)

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

6.2.3.2

269

Trends und Entwicklungen: ein System in Bewegung

Als eine Kontinuität zur Regierang Sanguinetti knüpfte Lacalle an dessen Personalpolitik an, Ministerposten mit Unternehmern zu besetzen. So war einer der beiden Minister aus den Reihen des Co/oracfo-Flügels von Ex-Präsident Pacheco (Unión Colorada y Batllista), die dem neuen Kabinett angehörten, erneut der ehemalige Präsident der Cámara de Industrias, José Villar, als Tourismusminister. Weitere Kabinettsmitglieder Lacalles waren den wirtschaftlich potentesten Familien des Landes zuzurechnen. Sowohl sein erster Wirtschafts- und Finanzminister Enrique Braga als auch dessen Nachfolger Ignacio de Posadas, der im Zuge der Kabinettsumbildung vom Februar 1992 das Amt des Wirtschafts- und Finanzministers übernommen hatte, sind einzelnen grupos económicos zuzuordnen. 188 Braga verkörpert zudem fast den Prototypen des verbandlich vielfaltig und sektorübergreifend aktiven Unternehmers: Er gehörte nicht nur den Leitungsgremien von Asociación Rural (1976-1978) und Cámara Nacional de Comercio (1985-1987) an, sondern war sogar von 1982 bis 1983 Präsident der Federación Rural und ab 1988 VizePräsident der Cámara de Industrias}^ Die Einbindung von Unternehmern in die Exekutive sollte aber während der hier in der Analyse berücksichtigten ersten Hälfte der Amtszeit der Regierung Lacalle kein Garant für eine spannungs- und konfliktfreie Beziehung zwischen Regierung und nationaler Unternehmerschaft sein. Das Verhältnis Unternehmer - Gewerkschaften - Regierung wurde durch eine neue Politik der Regierung Lacalle im Bereich der Arbeitsbeziehungen geprägt. Gemäß ihrer neoliberalen Ausrichtung verfolgte sie, wie auch im Wahlkampf propagiert, verbal eine Politik der Deregulierung, d.h. man beabsichtigte einen Abbau der bisherigen Regelungsmechanismen und einen weitgehenden Rückzug des Staates aus den Tarifverhandlungen. Bereits vor der Amtsübernahme wurde angekündigt, man wolle die Consejos de Salarios 188 Angaben zum grupo económico Braga bzw. zum grupo económico De Posadas finden sich in Stolovich/Rodríguez/Bértola 1988: 356 und 383. Wesentlicher Unterschied der Regierung Lacalle zur Regierung Sanguinetti unter personalpolitischen Gesichtspunkten war nach der Meinung von Stolovich, daß dem Finanzsektor zuzurechnende Personen (vor allem in Gestalt von für einzelne Banken tätige Rechtsanwälte) nun vermehrt direkt Posten in der Exekutive übernahmen. (Vgl. Stolovich 1990: 26/27/71.) Waren aufgrund der Verbindungen des Finanzsektors zur Militärdiktatur dessen Repräsentanten vom Transitionsprozeß ausgeschlossen worden, kehrte man unter der Regierung Sanguinetti diesbezüglich im Laufe der Jahre wieder zu einer politischen Normalität zurück, so daß einer verstärkten Übernahme von Ämtern im Umfeld der Regierung Lacalle durch Vertreter des Finanzkapitals nichts mehr im Wege stand. Auf eine weitergehende Analyse dieser Sachlage muß hier verzichtet werden, da der Finanzsektor nicht eigentlicher Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist. 189

vgl.

Perelli

1989c; 224/225.

270

6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

abschaffen und damit den Weg freimachen für direkte Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Auf Zustimmung aus den Reihen der Unternehmer stieß das Vorhaben der Regierung, die staatliche Intervention darauf zu beschränken, für die Tarifverhandlungen wirtschaftliche Orientierungsdaten zur Verfugung zu stellen und bei Konflikten zwischen den Tarifpartnern gegebenenfalls als Schlichter aufzutreten. 190 Analog der Jahre zuvor hätten im Juni 1990 die Tarifpartner zu den Consejos de Salarios zusammengerufen werden müssen. Darauf verzichtete die Regierung wie angekündigt, entließ nun allerdings Unternehmer und Gewerkschaften nicht in die Tarifautonomie, sondern legte per Dekret die Lohnanpassungen nach Maßgabe der zu erwartenden Inflationsrate fest; die angekündigte Liberalisierung der Arbeitsbeziehungen sollte nun bei den im Oktober wieder anstehenden TarifVerhandlungen e r f o l g e n . 191 Im Zuge vermehrter Arbeitskonflikte, wozu ein 24-stündiger Generalstreik der Gewerkschaften am 24. Mai den Auftakt bildete, entschloß sich die Regierung dann aber, zu der Praxis unter der Regierung Sanguinetti zurückzukehren. So wurden für Oktober 1990 die Consejos de Salarios einberufen. Zuvor waren unter dem Stichwort diálogo social offizielle Gespräche zwischen Vertretern der Exekutive, der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände aufgenommen worden. Dieser sogenannte soziale Dialog trug zum Zustandekommen der Consejos de Salarios bei, konnte aber nicht auf Dauer installiert werden. Von Seiten der Gewerkschaften wurden die Gespräche abgebrochen, als die Regierung im Dezember 1990 eine Initiative zur Reglementierung des Streikrechts startete. 192 Diese wurde jedoch nicht umgesetzt, so daß die sogenannte autorregulación sindical fortbestand. Infolgedessen erklärten die Gewerkschaften Mitte März 1991 wieder ihre Dialogbereitschaft. 193 Die Auseinandersetzungen in diesem Kontext wurden in erster Linie zwischen Gewerkschaften und Regierung ausgetragen, die Unternehmer standen eher im Abseits. Aus Kreisen der Unternehmerschaft soll dementsprechend kritisiert worden sein, man habe das Gefühl bekommen, erst zur zweiten Halbzeit des sozialen Dialoges eingeladen worden zu sein, da vor der Institutionalisierung dieses Dialoges diesbezüglich bereits Kontakte zwischen Regierung und Gewerkschaften bestanden hätten. 194 Die Position der Unternehmerverbände in der Lohnpolitik war nur zum Teil in Übereinstimmung mit den Zielen der Regierung. Diese zeigte sich bestrebt, im öffentlichen Dienst Löhne und Gehälter zu reduzieren, und wollte diese Politik auch auf die Privatwirtschaft ausgedehnt sehen. Obwohl eine Herab190 191 192 193 194

Vgl. Nolte 1994: 424. Vgl. Pucci 1992: 123/124. Vgl. Nolte 1994:425. Vgl. Notaro 1991: 15. Vgl. Rodríguez 1990: 103.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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Setzung der Löhne unmittelbar eine Kostensenkung für die Unternehmer bedeutet hätte, wurde aus den Unternehmerverbänden nicht übereinstimmend eine Zustimmung zu einer solchen Politik signalisiert. Denn es wurde die Gefahr gesehen, daß geringere Löhne sich auf dem Markt negativ auf die Nachfrage auswirken würden. Vor allem die Cámara Nacional de Comercio äußerte sich in diesem Sinne, um im Interesse ihrer Klientel einem drohenden Rückgang der Binnennachfrage entgegenzuwirken. Nicht so eindeutig war die Lage im Industriesektor. Vor allem diejenigen Unternehmer, die die Existenz ihres Unternehmens durch den angestrebten MERCOSUR gefährdet sahen, hatten als oberstes Ziel im Auge, Kosten zu senken, d.h. sie lagen in diesem Sinne auf dem Kurs der Regierung. Trotzdem blieb auch ihre Haltung zwiespältig, denn mit Lohnsenkungen war immer die Gefahr vermehrter Arbeitskonflikte verbunden. 195 Die Politik der Regierung bezüglich der Arbeitsbeziehungen war nicht konsequent und wurde durch ein Hin und Her „zwischen dem Anspruch einer Freigabe der Tarifverhandlungen und dem Bestreben der Regierung, zum Zwecke der Inflationsbekämpfung [...] kontrollierend auf die Lohnpolitik einzuwirken" 196 , geprägt. Diese Inkohärenz und Inkonsequenz waren symptomatisch •für die Regierungspolitik insgesamt. 197 Trotz der durch die Regierung verursachten Unsicherheiten in den Arbeitsbeziehungen gelang es Unternehmerverbänden und Gewerkschaften in ihrem gegenseitigen Verhältnis, von dem Antagonismus vergangener Tage immer mehr Abstand zu gewinnen. Die Annäherungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaftern während der Regierungszeit Sanguinetti hatten ohne Zweifel vertrauensbildend gewirkt und somit die Basis dafür geliefert, daß nun immer häufiger direkte Begegnungen beider Seiten stattfinden konnten. In gemeinsamen Veranstaltungen setzte man sich vor allem mit sektorspezifischen, struktur-, arbeitsmarkt- und integrationspolitischen Fragen auseinander. 198 Im Oktober 1992 trafen Gewerkschaftsvertreter mit Repräsentanten der Cámara de Industrias zusammen, „[...] um sich über die Grunderfordernisse einer zukunftsweisenden Industriepolitik zu verständigen." 199 Daraufhin forderte der Gewerkschaftsberater und marxistisch orientierte Wirtschaftswissenschaftler Luis Stolovich, der sich nicht zuletzt als kritischer Analytiker der grupos económicos einen Namen gemacht hatte, die Gewerkschaftsbewegung sogar zu einer „Klassenallianz" mit den Unternehmern auf, um gemeinsam die nationale Industrie zu verteidigen und so das Überleben der Industriearbeiterschaft zu erreichen. 200 Dieses sich andeutende Zweck195 196 197 198 199 200

Vgl. Rodríguez 1992: 145/146. Nolte 1994: 424. Vgl. dazu auch Snoeck/Sutz/Vigorito 1994: 213. Vgl. Bodemer 1993: 42. Nolte 1994:431. Vgl. dazu auch Uruguay enla Coyuntura N° 366 vom 12.10.1992. Vgl. Búsqueda N° 662 vom 29.10.1992.

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6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

bündnis, welches vor noch nicht allzu langer Zeit aufgrund der von beiden Seiten verinnerlichten, ideologisch begründeten Ressentiments kaum denkbar gewesen wäre, ist auch ein Ergebnis der konfliktiven Situation zwischen der Industrie und der Regierung, auf die im folgenden eingegangen wird. Die Beziehungen zwischen der Unternehmerschaft des Industriesektors und der Regierung Lacalle waren von Anfang an gespannt. Bereits in den ersten Monaten nach der Regierungsübernahme deutete einiges darauf hin, daß sich der Dialog zwischen Exekutive und Industriellenverband schwieriger gestalten würde als zuvor unter dem Co/oraifo-Präsidenten.2°l Für Konfliktstoff sorgte, daß die Cámara de Industrias gerade im Kontext des Integrationsprozesses trotz neoliberaler Rhetorik kaum davon Abstand nahm, immer wieder staatlichen Protektionismus einzufordern. Diese Widersprüche veranlaßten am 20. November 1991 den neuen Vize-Präsidenten des Banco Central, Javier de Haedo, der durch seine Funktionen als wichtiger wirtschaftspolitischer Berater Lacalles, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und Kommentator in der Wochenzeitung Búsqueda für seine konsequente neoliberale Haltung bekannt war, zur massiven öffentlichen Kritik an dem Industriellenverband und seinem Präsidenten Pedro Nicolás Baridón, dem er persönliche Interessen hinsichtlich einer Aufrechterhaltung protektionistischer Maßnahmen vorwarf. De Haedo wörtlich in einer Radioreportage: „Yo también podría decir que en la Cámara de Industrias hay dos alas y que curiosamente es el ala proteccionista la que los gobierna. El presidente de la Cámara de Industrias tiene industrias muy protegidas, con precios de referencia, casualmente. Entonces yo también podría decir que el señor Baridón sabe mucho, pero que tiene interés en que los precios de referencia se mantengan porque sus industrias están protegidas. Quiero defender a los tres millones de consumidores en Uruguay que no tienen lobby [.,.]." 2 0 2

Diese Vorwürfe und die heftige Attacke gegen Baridón sorgten in einer Zeit, als die Beziehungen zwischen Cámara de Industrias und Regierung sowieso angespannt waren, dafür, daß Lacalle umgehend die Entlassung seines persönlichen Vertrauten De Haedo nach nur acht Tagen im Amt als Vize-Präsident des Banco Central aussprach. Als einzige offizielle Begründung für die Entscheidung des Präsidenten verkündete Wirtschaftsminister Braga, mit seinen Erklärungen habe De Haedo einen Irrtum begangen und sich im Ton vergriffen. 203 Für Lacalle war diese Reaktion die einzige Möglichkeit, um sein Verhältnis zur Cámara de Industrias nicht noch komplizierter werden zu lassen. Die Situation gestaltete sich bereits konfliktiv genug. Anfang November hatte die Führung der Cámara de Industrias entschieden, die Feierlichkeiten zum jährli201

Vgl. Rodríguez 1990: 96. De Haedo, so zitiert in El Observador Económico vom 30.4.1992. 03 Vgl. Búsqueda N° 615 vom 28.11.1991.

202 2

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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chen Día de la Industria am 12. November 1991, zu denen gewöhnlich auch der Präsident der Republik und die für den Industriesektor wichtigen Minister geladen wurden, abzusagen. Aus dem Verband verlautete als lapidare Begründung, es gebe nichts zu feiern. 204 Wenngleich Carlos Folie Martínez, GerenteDirector der Cámara de Industrias, - allerdings wenig überzeugend - betonte, die Ereignisse um den diesjährigen Día de la Industria hätten keine besondere Bedeutung, 205 so wurde das Verhalten der Cámara de Industrias in der Öffentlichkeit doch eindeutig als Signal gegen die Regierung wahrgenommen. Die Schlagzeile auf der Titelseite der Tageszeitung El Observador Económico vom 7. November 1991 lautete unmißverständlich: „Cámara de Industrias no festeja su día como protesta frente al gobierno." Als Protest gegen die Regierung kann auch der Titel der Erklärung verstanden werden, die die Cámara de Industrias anläßlich des Día de la Industria herausgegeben hatte. Dieser hieß: „Industria: los gritos del silencio." 206 In dieser Lage konnte Lacalle kaum anders reagieren, als De Haedo zu entlassen, wenn er nicht heftige Auseinandersetzungen und einen Bruch mit der Cámara de Industrias riskieren wollte. Zwar wurde der Dialog zwischen Regierung und den Unternehmern des Industriesektors nicht abgebrochen, das Verhältnis aber blieb gestört, sollte sich sogar noch verschlechtern. In den vergangenen Jahrzehnten - mit Ausnahme der Jahre während der Militärdiktatur - waren die Beziehungen der Industriellen zur Regierung durch einen regen und ständigen Austausch geprägt. Wie die Politik in den Jahrzehnten vor der Militärdiktatur zeigte, war es der Cámara de Industrias gelungen, gegenüber den damaligen Colorado-Regierungen ihre Interessen hinsichtlich einer effektiven Protektion des Industriesektors zur Geltung zu bringen. Nun, in Zeiten der regionalen Integration, Außenöffnung und binnenwirtschaftlichen Restrukturierung fanden die Interessenvertreter des Industriesektors weniger Gehör. Die erfolgte Entlassung von De Haedo läßt zwar Rückschlüsse auf die Macht und die Einflußmöglichkeiten der Cámara de Industrias zu; dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Regierung auch angesichts massiver Probleme im Regierungsbündnis nicht in allen Konflikten einlenkte und sich eine auch gegen die Interessen des Industriesektors gerichtete Handlungsautonomie bewahren konnte. So blieben z.B. die heftigen Proteste der Cámara de Industrias gegen die von der Regierung vorgesehenen Zollsenkungen zum 1. April 1992, die nach Angaben des Präsidenten der Cámara de Industrias Baridón den Verlust von 15.000 Arbeitsplätzen bedeuten würden, ohne Erfolg. Die Durchsetzung dieser Entscheidung mag der Regierung auch deshalb leichter gefallen sein, da hierzu die Privatwirtschaft aufgrund 204 205 206

Vgl. Búsqueda N° 612 vom 7.11.1991. Folie Martínez in einem Gespräch am 20.11.1991 in Montevideo. So wiedergegeben in Búsqueda N° 613 vom 14.11.1991.

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6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

heterogener Interessen keine einheitliche Gegenposition bezogen hatte. Die Cámara Nacional de Comercio in Person ihres Präsidenten Julio Dalla Rossa wandte sich gegen die Argumente, mit denen Baridón die Zollsenkungen verhindern wollte, und unterstützte die Regierungsmaßnahme als nützlich für das gesamte Land; beeinträchtigt werden könnte - so Dalla Rossas unzweideutiger Seitenhieb auf Baridón - lediglich ein Sektor, der bislang vom Protektionismus hat profitieren können. 207 Baridón seinerseits gestand ein, den Kampf um die Verhinderung der Zollsenkungen verloren zu haben und fügte resignativ hinzu, daß der Einfluß der Cámara de Industrias so groß nicht sein könne, da man nichts erreicht habe. 208 Ein weiteres markantes Beispiel dafür, daß die Regierung sich Handlungsautonomie gegenüber den Interessen der Industrieunternehmerschaft hatte bewahren können, ist die Automobilindustrie. Wie kaum ein anderer Zweig war dieser von staatlicher Regulierung abhängig. Präsident Lacalle forderte die Unternehmerverbände des Sektors auf, einen neuen Rahmen zur gesetzlichen Regelung der Aktivitäten in der Automobilindustrie zu formulieren. In über einjähriger Zusammenarbeit mit dem Industrieministerium gelang es dann, einen Gesetzesvorschlag zu erarbeiten, den die Exekutive in die parlamentarische Beratung einbringen sollte. Die Regierung aber nahm von dieser Vorlage Abstand und erließ ohne Rücksprache mit den vorher zur Zusammenarbeit aufgerufenen Unternehmerverbänden ein Dekret mit anderen Regelungen, als sie abgesprochen waren. Mit dieser Entscheidung hatte die Regierung eindeutig diejenigen Unternehmer übergangen, die vorher zur Ausarbeitung eines entsprechenden Projektes aufgerufen worden waren. 209 Dies weist daraufhin, daß die Einflußmöglichkeiten der Unternehmer, hier der Industriellen, auf die Regierung bei aller strukturellen Privilegierung begrenzt waren. Die anhaltenden Spannungen zwischen Lacalle und der Industrielobby hatten auch einen Rückkopplungseffekt auf die Lage in der Cámara de Industrias selbst und sorgten verbandsintern für Auseinandersetzungen um den weiteren Kurs. Während die Führung des Unternehmerverbandes bei aller Kritik an der Regierung doch immer wieder um gute Beziehungen bemüht war, wurden verbandsintern die Stimmen lauter, die eine härtere Gangart gegenüber der Exekutive forderten. Als nun im Mai 1992 die Wahlen zum Führungsgremium der Cámara de Industrias, dem Consejo Directivo, anstanden, formierte sich neben 207

208 209

Vgl. hierzu u.a. Uruguay en la Coyuntura N° 339 vom 30.3.1992 und N° 340 vom 6.4.1992. Daß sich auch die Regierung dieser unterschiedlichen Interessenlagen hinsichtlich der Zollsenkung absolut bewußt war, kommt in einem Interview mit Wirtschaftsminister De Posadas zum Ausdruck, abgedruckt in El Observador Económico vom 24.3.1992. Baridón so fast wörtlich in Búsqueda N° 633 vom 2.4.1992. Vgl. Rodríguez 1992: 158.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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der traditionellen Einheitsliste eine weitere, konfliktorientiertere Gruppierung, die nach eigenem Bekunden ihres Spitzenkandidaten im Wahlkampf auf einer Pressekonferenz weniger die Ziele der bisherigen Verbandsfuhrung kritisierte als die Verfahrensweisen, um diese Ziele zu erreichen. 210 Erstmals seit mehr als 20 (!) Jahren konkurrierten nun zwei Listen um die Vertretung im Consejo Directivo, so daß sich den Mitgliedern der Cámara de Industrias anders als in der Vergangenheit tatsächlich eine Wahlmöglichkeit bot. Als Sieger aus den Wahlen am 13. Mai ging die neu formierte, kritischer ausgerichtete Gruppierung hervor. Dieses Resultat ist bemerkenswert: „[...] en veinte días de campaña electoral, esta lista, que rompe costumbres históricas, gana las elecciones a una lista que tenía el aparato, el oficio y todos los cuadros del sector." 211 Was bedeutete dieser Vorgang? Ungeachtet des Wahlergebnisses hatte sich zunächst die Konkurrenz bei den Wahlen positiv auf die Partizipation und die innerverbandliche Demokratie ausgewirkt. Nicht nur bleibt festzuhalten, daß im Wahlkampf die Kandidaten den Kontakt zur Basis suchten und eine Vielzahl von Betrieben aufsuchten, um um Stimmen zu werben. 212 Auch die Wahlbeteiligung lag auf einem ungewöhnlich hohen Niveau von rund 50%. Während in den Jahren zuvor in der Regel nur um die 50 Stimmen abgegeben worden waren, was einer Wahlbeteiligung von unter 5% entsprach, lag nun die Stimmenzahl bei 653. 213 Im Kommentar eines Mitgliedes der siegreichen Liste kommt die Einzigartigkeit dieses Wahlaktes zum Ausdruck: Bei dieser einen Wahl seien mehr Stimmen abgegeben worden als in allen Wahlen der vergangenen 15 Jahren zusammen. 214 Dieser deutliche Partizipationszuwachs bei gleichzeitigem Sieg der konfliktorientierten Liste war als klares Votum der Mitglieder der Cámara de Industrias gegen die bisherige Verbandsfuhrung und für ein kantigeres Profil als Interessengruppe und einen massiveren Widerspruch gegen die Regierungspolitik zu verstehen. Die neue Führung der Cámara de Industrias nahm ihren Wählerauftrag ernst, d.h. sie scheute sich nicht, eine Strategie der Konfrontation einzuschlagen und die Regierung hart anzugreifen. Vorgeworfen wurde ihr u.a. eine rücksichtslose Zollsenkungspolitik bei gleichzeitig mangelnder Fähigkeit, die angestrebten strukturellen Reformen durchzusetzen. 215 Die Kritik beschränkte sich allerdings nicht immer auf die Regierung. Der neue Präsident des Verbandes, 210 211 212

213 214 215

Vgl. El Observador Económico vom 8.5.1992. Zu den internen Diskussionen um die zukünftige Strategie der Cámara de Industrias siehe Búsqueda N° 637 vom 7.5.1992. Rodríguez 1992: 150. Eine Führungskraft aus der chemischen Industrie soll dies mit den Worten kommentiert haben: „En estos días me ha llamado gente, que nunca se había acercado a mi empresa, para pedir mi voto." (So zitiert in El Observador Económico vom 7.5.1992.) Vgl. u.a. La República vom 14.5.1992. In diesem Sinne zitiert in El Observador Económico vom 14.5.1992. Vgl. Bodemer 1993: 39.

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6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

César Rodríguez García, sorgte nur einige Tage, nachdem er das Amt übernommen hatte, für erhebliches öffentliches Aufsehen, als er anläßlich der Ablehnung des Regierungsentwurfes zur Reform der Sozialversicherung im Parlament im Mai 1992 pauschal der gesamten politischen Klasse des Landes attestierte, politisch versagt zu haben: „Si los políticos no son capaces de aprobar esta reforma en la que todos están de acuerdo, ¿de qué son capaces los políticos? ¿Qué podemos esperar de ellos después de esto que no podemos calificar sino de fracaso? [...] Este es un día triste para la industria. Si no son capaces de hacer esto, ¿de qué son capaces los políticos? ¿Qué responsibilidad están asumiendo los partidos políticos? ¿Qué esperanzas podemos tener en ellos?" 21 6

Nicht weniger heftig als diese Angriffe fielen die Reaktionen aus den Reihen der Politiker aus. Der Co/orado-Abgeordnete Juan Justo Amaro wies im Parlament unter Zustimmung diese Vorwürfe zurück, qualifizierte sie als demokratiezerstörend und brachte die Führung der Cámara de Industrias mit der Militärdiktatur in Verbindung. 217 Auch der ehemalige Ä/anco-Präsidentschaftskandidat, Carlos Julio Pereyra, verstand die Äußerungen von Rodríguez García als Attacke gegen die Stabilität des demokratischen politischen Systems. 218 Im Abgeordnetenhaus wurde einstimmig eine Erklärung verabschiedet, mit der die Vorhaltungen des Präsidenten der Cámara de Industrias mißbilligt wurden. In der Presse fand er demgegenüber z.T. Rückhalt. Der Kommentarist der Tageszeitung El Observador Económico etwa schätzte die Äußerungen in Kontrast zu den bislang üblichen Verhaltensmustern der Verbandsfuhrung als positiv ein: „Sus palabras terminaron con años de doble discurso de una institución cuyas autoridades aparecían públicamente en contadas ocasiones y para aludir a temas de dudoso interés para el uruguayo medio, mientras detrás de bambalinas presionaban - en ocasiones con éxito - ante los gobernantes de turno para que las decisiones oficiales no marcharan a contramano de los intereses industriales." 21 '

Die Regierung ihrerseits hielt sich in diesen Auseinandersetzungen zurück, denn immerhin bedeutete die verbale Attacke der Cámara de Industrias implizit zumindest z.T. eine Unterstützung der Regierung in ihrem konkreten Reformvorhaben. Kritisiert wurden aus Regierungskreisen die Verallgemeinerungen, mit denen die gesamte politische Klasse angegriffen wurde. 220 Lacalle 21

6 Rodríguez García, so zitiert in Uruguay en la Coyuntura N° 346 vom 25.5.1992. 217 „[...] ¿hasta cuándo quieren destruir la democracia estos 'pelucones de cartón'? [...] estos pelucones de cartón que se sientan hoy en la Cámara de Industrias son los mismos seguramente muchos de ellos - que estuvieron con la dictadura. Desde aquí rechazamos enérgicamente sus manifestaciones [...]." (Juan Justo Amaro, so zitiert u.a. in La Mañana vom 22.5.1992.) 218 Vgl. Búsqueda N° 643 vom 18.6.1992. 21 9 El Observador Económico vom 27.5.1992 220 Vgl. Búsqueda N° 640 vom 28.5.1992.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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suchte nun verstärkt das Gespräch mit der Führung der Cámara de Industrias und traf mit ihr am 28. Mai zu einem ersten Austausch nach den verbandsinternen Wahlen zusammen. Dabei soll Lacalle das Verhalten von Rodríguez García, mit dem dieser einiges in Bewegung gesetzt habe, gelobt und ihn zu einer Beibehaltung seines aktiven Kurses aufgefordert haben. 22 ! Sicher nicht zuletzt vor diesem Hintergrund forderte Wirtschafts- und Finanzminister De Posadas Mitte Juni die Unternehmer explizit dazu auf, bei den bevorstehenden Haushaltsverhandlungen gegenüber dem Parlament Druck auszuüben. Mangelnde parlamentarische Unterstützung - so zumindest der Eindruck, den diese Äußerungen erwecken konnten - sollte durch Lobbying der Unternehmer kompensiert werden. 222 Dieser Eindruck wurde dadurch gefestigt, daß Lacalle selbst bereits im März des Jahres die Unternehmer in einer Fernsehsendung um Unterstützung gegenüber dem Parlament gebeten hatte: „No se olviden de ayudarme un poco, a veces, a convencer a los parlamentarios de aprobar con mayor celeridad determinadas normas." 223 Und tatsächlich wandten sich nun sowohl Cámara de Industrias als auch Cámara Nacional de Comercio unabhängig voneinander schriftlich an Regierung und Parlament, um ihre Bedenken hinsichtlich des Haushaltes zum Ausdruck zu bringen, der, so hieß es in den beiden Erklärungen, eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben, finanziert durch Steuererhöhungen, vorsehe. 224 Wohl auch um jeglichen Verdacht auszuräumen, Zweifel an der Legitimität der Demokratie sähen und zu einer Destabilisierung des politischen Systems beitragen zu wollen, relativierte der Präsident der Cámara de Industrias seine Kritik an der politischen Klasse. Im Nachhinein stellte er seine Reaktion auf die Ablehnung der Sozialversicherungsreform durch das Parlament in den Kontext der seines Erachtens fehlerhaften Verbandspolitik der Cámara de Industrias in den letzten 20 Jahren. Auf ein Schreiben der Abgeordneten des Partido Por el Gobierno del Pueblo an die Cámara de Industrias wegen der Vorwürfe vom Mai antwortete Rodríguez García versöhnlich - es sei nie seine Absicht gewesen, Personen oder demokratische Institutionen zu beleidigen -, aber in einer Form, die seine Vorgänger in diesem Amt nicht gerade in einem guten Licht erscheinen ließ: „[...] al asumir nuestro cargo debimos superar una actitud de nuestra Cámara, en la que actuamos por más de 20 años, donde en ese transcurso observamos decepcionados cómo una actitud inoportuna generalmente atrasada en objetivos y en acción, acompañaba las gestiones de distintos gobiernos, que actuando al mismo ritmo y con

22

1

222 223

224

Vgl. El Observador Económico vom 29.5.1992. Vgl. Uruguay en la Coyuntura N° 350 vom 22.6.1992. Lacalle, so zitiert in Búsqueda N° 652 vom 20.8.1992. Zu Einzelheiten siehe El Observador Económico vom 14.8.1992.

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6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992) una inercia de 'viejo arraigo' perdieron, indudablemente sin mala fe, un tiempo que el Uruguay de producción y trabajo necesita para su reconversión t o t a l . " 2 2 5

Bereits eine Woche nach seiner Wahl hatte sich Rodríguez García dahingehend geäußert, inwiefern sich die Strategie der Cámara de Industrias im Vergleich zur Vergangenheit, als die Exekutive der Hauptansprechpartner war, ändern sollte: Man müsse überzeugender argumentieren, dazu mehr die Medien und die öffentliche Meinung nutzen sowie verstärkt auf die Legislative einwirken, d.h. auch mit Blick auf das Parlament und die darin vertretenen Parteien Lobbying betreiben. 226 Gegen den im obigen Zitat wiedergegebenen Vorwurf verwahrten sich zwar sieben ehemalige Präsidenten der Cámara de Industrias einige Zeit später in einer gemeinsamen Erklärung, ohne diese Vorhaltungen damit aber aus der Welt schaffen zu können. Nunmehr wurde immer mehr die verbandsinterne Dimension des ursprünglichen Konfliktes der Führung der Cámara de Industrias mit der politischen Klasse des Landes deutlich. Anders als in der Vergangenheit wurden damit bestehende verbandsinterne Differenzen nach außen getragen, so wie es bereits im Zusammenhang mit den Wahlen vom Mai geschehen war. Die Risse innerhalb der Cámara de Industrias waren so tief, daß sich Ex-Führungsmitglieder in unregelmäßigen Abständen trafen, um das Verhalten der neuen Verbandsspitze zu analysieren. 227 Auch innerhalb der neuen Führung des Verbandes war die Härte der Äußerungen von Rodríguez García zu den politischen Parteien umstritten. Im Zuge der Ereignisse reichte der langjährige Gerente-Director der Cámara de Industrias, Carlos Folie Martínez, ein „Mann der alten Garde", seinen Rücktritt ein. 228 Im September 1992 ging die Cámara de Industrias mit einem Dokument an die Öffentlichkeit, in dem noch einmal die Kritik an der Regierungspolitik aus der Sicht des Unternehmerverbandes zusammengefaßt wurde. Ohne mit pauschalen Anfeindungen auf Konfrontationskurs zu gehen, enthielt das Dokument nun konkrete Vorschläge und Forderungen. U.a. wurde im Rahmen einer klareren Strategie der Wirtschaftspolitik auf ein zügiges Vorantreiben des Privatisierungsprojektes, auf verschiedene konkrete Schutzmaßnahmen für die einheimische Industrie sowie auf eine stärkere Beteiligung der Cámara de Industrias an den sie betreffenden Entscheidungsprozessen der Regierung gedrängt. 229 Wenngleich damit seitens der Cámara de Industrias eine Konfliktstrategie gegenüber der Regierung beibehalten wurde, läßt der Tenor der vorgebrachten Kritik doch auf eine Normalisierung des Verhältnisses schließen.

225 Rodriguez, so zitiert in El Observador Económico vom 23.6.1992. 226 Vgl. Búsqueda N° 639 vom 21.5.1992. 227 Vgl. Uruguay en la Coyuntura N° 355 vom 27.7.1992 und N° 367 vom 19.10.1992. 228 Vgl. Búsqueda N° 640 vom 28.5.1992. 229 Zu Einzelheiten vgl. Uruguay en la Coyuntura N° 364 vom 28.9.1992.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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Man zeigte sich auf der Suche nach einer Balance zwischen Konflikt und Kooperation. Als Annäherung an die Regierung unter Beibehaltung eines kritischen Diskurses kann der Dia de la Industria vom November 1992 verstanden werden, der anders als im Vorjahr wieder feierlich begangen wurde. Bei dieser Gelegenheit bekam sogar - und dies zum ersten Mal seit der Gründung der Cámara de Industrias im Jahr 1898 - der Industrieminister eine Medaille überreicht. 230 Gerade Industrieminister Eduardo Ache war vorher häufig Objekt der Kritik des Verbandes gewesen. Es wurde wiederholt bemängelt, daß seine Position im Kabinett schwach sei und er sich insbesondere gegenüber dem Wirtschafts- und Finanzminister nicht zugunsten der Interessen des Industriesektors durchsetzen könne. Gleichzeitig mit der Ehrung des Industrieministers wurde von der Führung der Cámara de Industrias der eingeschlagene Kurs einer direkteren und offeneren Artikulation der eigenen Interessen gegenüber der Regierung beibehalten; in den Reden zum Dia de la Industria hielt man sich nicht zurück, Kritik zu üben. Und nur einige Tage später wurde dem zuvor ausgezeichneten Industrieminister von Verbandsvertretern ein Kommuniqué mit elf Beschwerden über die Regierungspolitik überreicht, wobei u.a. wieder eine Aussetzung der Zollsenkungen im Rahmen des Integrationsprozesses gefordert wurde.231 Die insgesamt verstärkte Konfliktorientierung der Unternehmer beschränkte sich nicht auf den Industriesektor. Vielmehr war eine - für uruguayische Verhältnisse - ähnliche „Radikalisierung" oppositioneller Stimmen bei der Unternehmerschaft des Agrarsektors zu konstatieren. Im August 1991, zum Abschluß der jährlich veranstalteten Landwirtschaftsausstellung, verzichtete auch der Präsident der Asociación Rural, Carlos Enrique Gasparri, nicht darauf, die Steuerpolitik der Regierung und insbesondere die Belastungen des Agrarsektors zu beklagen. In Anwesenheit von Präsident Lacalle schlug er zunächst aber moderate Töne an. Anstatt nur einseitige Schuldzuweisungen vorzunehmen, übte er eher eine gesamtgesellschaftliche Kritik, nicht ohne sich allerdings auch über den Staat zu beklagen. Uruguay sei „[...] un país [...] cuyas raíces lo mantienen preso en un pasado que no quiere desvanecerse, protegido por los temerosos, defendido por los inseguros y por los que simplemente se contentan con medrar en la medianía, al amparo de un Estado sobredimensionado y paternalista, burocrático y perezoso, enlentecido por el papelerío inútil y el desfile oficinesco de inmensas carpetas." 2 3 2

Doch auch die Interessengruppen des Agrarsektors gingen bald auf härteren Konfrontationskurs zur Regierung. Ausgerechnet unter dem Z?/a«co-Präsidenten 230 231 232

Vgl. Búsqueda N° 665 vom 19.11.1992. Vgl. Búsqueda N° 667 vom 3.12.1992. Gasparri, so zitiert in La República vom 25.8.1991.

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6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

Lacalle - es sei daran erinnert, daß der Partido Nacional im vergangenen Jahrhundert als parteipolitische Repräsentanz der Latifundisten entstanden, über lange Zeit vor allem in ländlichen Regionen verwurzelt war und die Mehrheit seiner Anhängerschaft aus der Landbevölkerung rekrutierte - wurden nun stärkere steuerliche Belastungen der Landwirtschaft angekündigt. Besonders wehrten sich die Agrarverbände gegen eine Ausweitung der Mehrwertsteuer auf ihren Sektor per Regierungsdekret vom 30. Dezember 1991. In einer gemeinsamen Erklärung, die Asociación Rural, Federación Rural und ein Dutzend weitere landwirtschaftliche Unternehmerverbände im Januar 1992 an die Regierung und an die Öffentlichkeit richteten, wurde die neue steuerliche Belastung entschieden zurückgewiesen. 233 Der wirtschaftspolitische Kurs der Regierung war selbst im Kabinett umstritten. Landwirtschaftsminister Alvaro Ramos (ebenfalls Partido Nacional) brachte im Gegensatz zur Position des Wirtschaftsministers den Protesten aus dem Agrarsektor Verständnis entgegen, so daß schon Anfang 1992 über seinen möglichen Rücktritt spekuliert wurde. 234 In der Folgezeit wurde heftig um diese Maßnahme verhandelt und gestritten. Sogar aus der Führungsetage des Gewerkschaftsdachverbandes gab es offizielle Solidaritätsbekundungen mit den Unternehmerverbänden des Agrarsektors, die sich gegen die Übertragung der Mehrwertsteuer auf die Landwirtschaft wehrten. Im Februar 1992 zeitigten die Proteste einen Erfolg: Das umstrittene Dekret wurde für 180 Tage ausgesetzt. Trotzdem blieb die Stimmung unter den Agrarunternehmern gespannt. Beim Jahreskongreß der Federación Rural am 30. Mai 1992 schloß sich die Versammlung zwar nicht in der Schärfe, aber doch sinngemäß der Kritik des Präsidenten der Cámara de Industrias an, die noch einige Tage zuvor für so viel Aufsehen gesorgt hatte. In der offiziellen Verlautbarung der Federación Rural wurde die Unbeweglichkeit der Parteien bei der Lösung von anstehenden Problemen (Stichworte Steuerreform, Reform der Sozialversicherung und Ausgabenbeschränkung der öffentlichen Hand) kritisiert, nicht ohne aber gleichzeitig die Bereitschaft des Verbandes zur konstruktiven Zusammenarbeit auf der Suche nach möglichen Lösungen zu signalisieren. 235 233 vgl. El Observador Económico vom 22.1.1992. Am Rande ist zu bemerken, daß auch die Federación Rural, wenngleich nicht in dem Ausmaß wie die Cámara de Industrias, mit verbandsintemen Auseinandersetzungen konfrontiert wurde. Die Diskussionen über den zukünftigen Kurs des Agrarverbandes und die Amtsführung des Präsidenten Ramón Simonet führten dazu, daß beide Vize-Präsidenten ihren Rücktritt anboten, infolgedessen von einer Identitätskrise des Verbandes gesprochen wurde. (Vgl. hierzu La Mañana vom 11.3.1992 sowie zu den beiden Rücktrittsangeboten, von denen das Leitungsgremium, der Consejo Directivo, einen akzeptierte, El Observador Económico vom 11.3.1992.) 234 235

Vgl. Uruguay en la Coyuntura N° 331 vom 27.1.1992. Zum folgenden vgl. Uruguay en la Coyuntura N° 333 vom 10.2.1992 und N° 334 vom 17.2.1992. Vgl. Uruguay en la Coyuntura N° 347 vom 1.6.1992.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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Auch die Kritik des Präsidenten der Asociación Rural an der Regierungspolitik wurde schärfer. Während Gasparri in seiner Rede anläßlich der Landwirtschaftsausstellung 1991 noch recht zurückhaltend gewesen war, brachte er bei gleicher Gelegenheit ein Jahr später in Anwesenheit von Lacalle massiv seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck, daß die vielfach versprochenen Maßnahmen der Regierung zugunsten des Agrarsektors bislang nicht realisiert worden seien. 236 Unmittelbar darauf erklärte die Federación Rural öffentlich ihre völlige Übereinstimmung mit der Kritik von Gasparri. In einem Treffen von über 20 hochrangigen Delegierten der einzelnen Mitgliedsverbände der Federación Rural setzte man nun zum Generalangriff auf die politischen Parteien an: „La inoperancia de los Partidos Políticos al no resolver temas como la reforma tributaría, la reestructuración del sistema de la seguridad social y la reducción del gasto público, ha convertido a los productores rurales en rehenes de una situación creada. La consecuencia ha sido el desestímulo de la inversión, el desaliento y el desánimo de los productores. [...] El sistema político administrativo del país, demuestra no tener ningún tipo de consideración por la situación del sector agropecuario. No reacciona. [...] Estamos hartos de que se nos tome el pelo, que el tiempo pase y el caos siga. Sentimos que el sacrificio de la situación de ajuste permanente que vive el sector, es un esfuerzo vano, ya que no es acompañado por los cambios estructurales que el país necesita y donde el sistema político no muestra voluntad de alcanzar. [...] Que los productores no tenemos eco en quienes dirigen al país, y en tal situación nuestra actitud gremial necesariamente debe cambiar." 2 3 '

Wie bereits Ramón Simonet, Präsident der Federación Rural, bei diesem Treffen angekündigt hatte, legten Mitte September Agrarproduzenten aus drei Regionen des Landesinnern aus Protest gegen die Regierung für einige Tage ihre Arbeit nieder und setzten ihre Steuerzahlungen aus. Zwar wurden diese Aktionen von der Federación Rural explizit begrüßt, nicht aber von allen Funktionären der Agrarverbände gleichermaßen. Raúl da Silveira, Vize-Präsident der Asociación Rural, gab zu bedenken, daß sich solche Maßnahmen gegen Landwirtschaftsminister Ramos richten würden, zu dem man immer noch Vertrauen habe. 238 Ramos machte seinen Verbleib im Kabinett davon abhängig, ob seine Vorstellungen bezüglich einer Politik zugunsten des Agrarsektors von Präsident Lacalle geteilt würden. Solange er noch etwas bewegen könne - so seine Festlegungen auf dem 1992er Jahreskongreß der Federación Rural -, würde er im 236

„[...] no han sido implementadas, por ahora, las medidas tantas veces prometidas a nivel oficial para bajar la carga impositiva al sector agropecuario, la liberación de exportación de ganado en pie en todas sus categorías, la disminución del precio de los combustibles y la implementación de los créditos ajustables por canastas." (Gasparri, so zitiert in El Observador Económico vom 31.8.1992.) 23 ? Wortlaut der Erklärung so wiedergegeben in La Mañana vom 1.9.1992. 238 Vgl gl Observador Económico vom 16. und 17.9.1992.

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6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

Amt verbleiben. In seiner von Applaus und Zustimmung begleiteten Rede bat er um die Unterstützung des Agrarsektors als dem „Motor des Fortschritts des Landes" für seine Politik. 239 Die Tatsache, daß Ramos über den Monat Juli hinaus, als seine Demission schon festzustehen schien, im Amt des Landwirtschaftsministers verblieb, läßt vermuten, daß Lacalle sein Eintreten für eine den Agrarsektor begünstigende Politik akzeptierte. Zwar verhielt sich die Regierung sowohl in Wort als auch in Tat zunächst noch zurückhaltend, doch nach einem Streik der mit den Auswirkungen einer anhaltenden Trockenheit konfrontierten Viehzüchter aus dem Norden des Landes, mit dem sich große Teile der Agrarunternehmer solidarisch erklärten, zeigte sich Präsident Lacalle kompromißbereit. U.a. gewährte er einen Aufschub bei fälligen Steuerzahlungen. 240 Dieses Entgegenkommen wurde von Vertretern der Agrarverbände zwar prinzipiell begrüßt, aber immer noch als völlig unzureichend bezeichnet. 241 Trotz all dieser Auseinandersetzungen gelang es den Agrarverbänden ebensowenig wie unter der Regierung Sanguinetti, in der öffentlichen Diskussion eine entscheidende Rolle zu spielen. Sie zeigten überwiegend ein, wie es Petrissans Aguilar formulierte, geringes Profil. 242 Und waren sie tatsächlich einmal besonders in Erscheinung getreten, so stieß dies kaum auf öffentliches Wohlwollen; entsprechende Aktionen bzw. die Verhaltensweisen der beteiligten Unternehmer wurden von den Medien kritisiert. Die der Privatwirtschaft im Prinzip wohlgesonnene Tageszeitung El Observador Económico zeigte in diesem Sinne auch für den „Unternehmerstreik" vom September nur wenig Verständnis und ironisierte: „Uruguay está ofreciendo al mundo [...] la oportunidad de conocer un nuevo tipo de especímenes extraños: en un sistema capitalista, empresarios suspenden sus actividades, infligiéndose un daño a sí mismos, porque están desconformes con las políticas que el gobierno aplica en relación a su sector. Tal situación podría haber inspirado a Mel Brooks en la confección del guión de una película de humor absurdo, aue sería realmente divertida si no se tratara de una realidad que golpea muy cerca." 24 ^

Im Zuge der Polarisierungen zwischen Privatwirtschaft und Politik besannen sich die führenden Unternehmerverbände des Landes auf die Möglichkeit, mit gemeinsamer Stimme zu sprechen und so ihren Forderungen ein besonderes Gewicht zu verleihen. Die sektorübergreifende Interessenvertretung der Unternehmerschaft wurde reaktiviert. So traten im August 1992 die Mitglieder der Intercameral zusammen in Erscheinung: Asociación de Bancos, Asociación Rural, Cámara Nacional de Comercio, Cámara de Industrias, Cámara 239 vgl. El Observador Económico vom 1.6.1992. 240 Vgl. Uruguay en la Coyuntura N° 363 vom 21.9.1992. 241 Vgl. Búsqueda N° 657 vom 24.9.1992. 242 Vgl. Petrissans Aguilar 1993: 79. 243 El Observador Económico vom 17.9.1992.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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Mercantil de Productos del País und Federación Rural wandten sich mit einer Erklärung an Präsident Lacalle, in der sie für eindeutige Schritte in Richtung einer umfassenden Reform des Staates und für eine Kurskorrektur der Wirtschaftspolitik plädierten. Damit kamen die Unternehmerverbände nun der bereits erwähnten Aufforderung von Wirtschafts- und Finanzminister De Posadas vom Juni nach, aktiver ihre Positionen zu artikulieren und gegenüber dem Parlament Stellung zu beziehen, damit keine Ausgaben der öffentlichen Hand beschlossen würden, die nicht finanzierbar seien und deswegen auf die Unternehmer abgewälzt werden würden. Bemerkenswert ist auch der Zeitpunkt, zu dem diese gemeinsame Stellungnahme der Unternehmerverbände erschien. Denn die Präsidenten der genannten Verbände trafen gerade eine Woche zuvor auf Einladung von Lacalle mit ihm und De Posadas zu einem informellen Essen zusammen. Bei dieser Gelegenheit, so wurden vertrauliche Quellen zitiert, sei klar gemacht worden, daß von der Regierung projektierte Maßnahmen zur Lösung von Problemem, wie in Zusammenhang mit dem Sozialversicherungssystem oder den öffentlichen Ausgaben, keinen parlamentarischen Rückhalt fanden; nun müßten sich die Unternehmer damit beschäftigen, sich für entsprechende Lösungen stark zu machen, da sie ansonsten die negativen Folgen zu spüren bekommen würden. 244 Die Regierungsstrategie, mangelnde parlamentarische Unterstützung durch Druck der unternehmerischen Interessengruppen zu kompensieren, sollte nun also voll zum Tragen kommen. Insofern kann das von der Intercameral vorgelegte Dokument auch vom Inhalt her nur auf den ersten Blick als gegen die Regierung gerichtet betrachtet werden. Mit ihrer Kritik signalisierten die Unternehmerverbände vielmehr zu einer Zeit, als über den Haushalt debattiert wurde, daß sie grundsätzlich die Reformpolitik der Regierung unterstützen. 245 Dementsprechend wurde das Dokument von Vertretern der Regierungspartei Partido Nacional auch begrüßt. Senator Sergio Abreu beispielsweise konstatierte, er stimme in vielen Punkten mit den darin formulierten Positionen überein. 246 U.a. hieß es in dem Text der Intercameral: „[...] las empresas [...] estiman que no podrán competir con alguna probabilidad de éxito mientras tengan que continuar soportando el peso de un aparato estatal ineficiente, costoso y burocrático, precios desmedidos de los servicios públicos, un elevado costo de la seguridad social en términos regionales e internacionales, una gran rigidez del mercado de trabajo y una persistente indefinición en materia de derecho de propiedad. [...] la Asociación de Bancos del Uruguay, Asociación Rural del Uruguay, Cámara de Industrias del Uruguay, Cámara Mercantil de Productos del País, Cámara 244

Vgl. Búsqueda N° 653 vom 28.8.1992. Vgl. dazu auch Uruguay en la Coyuntura N° 359 vom 24.8.1992. 246 Vgl La República vom 23.8.1992. Es gab allerdings auch kritischere Stimmen aus dem Partido Nacional. Senator Manuel Singlet stufte das Dokument als Ausdruck von Partikularinteressen ein, das nichts Neues enthalte. (Vgl. La República vom 24.8.1992.)

245

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6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992) Nacional de Comercio, Federación Rural, reclaman de las autoridades competentes y de todo el sistema político, la urgente adopción de un conjunto de políticas que modifiquen, con carácter global y con horizonte temporal prolongado y cierto, el marco en que se desarrollan las actividades económicas." 2 4 '

Damit war die Offensive der Unternehmerverbände gegenüber der Politik, wie die Wochenzeitung Búsqueda sinngemäß titelte, 248 noch nicht erschöpft. Nach zwei Treffen der Intercameral am 16. September und 20. Oktober 1992 249 wurde im November ein weiteres Dokument publiziert, das die Forderungen in den beiden Veröffentlichungen der Intercameral vom November 1989 und August 1992 noch einmal bekräftigen sollte, ohne allerdings neue Argumente aufzufuhren. Statt dessen kommentierte der Präsident der Cámara Nacional de Comercio und Mitunterzeichner Julio Dalla Rossa das Erscheinen der Erklärung dahingehend, daß es den Unternehmerverbänden nicht darum gehe, „Politik zu machen". Er zog sich auf die altbekannte Position der Repräsentanten der Unternehmerverbände zurück, nach der weder die Intercameral noch die in ihr zusammengeschlossenen Unternehmerverbände politische Institutionen seien: „Somos instituciones que no estamos ni capacitadas, ni necesitadas de hacer política. Presionaremos, para que finalmente se reforme el Estado, no importa cuál es el camino político para ello." 250 Mit der im März 1992 an die Privatwirtschaft gerichteten Bitte um Unterstützung hatte Lacalle einen Weg eingeschlagen, der dem uruguayischen politischen System bislang fremd war. Die Tatsache, daß Interessengruppen von der Regierung aufgefordert wurden, auf politische Institutionen Druck auszuüben, um deren Mitglieder aufgrund fehlender Mehrheiten durch Lobbying zum Umdenken zu bewegen, wäre in der Vergangenheit kaum so widerspruchslos als legitimes Vorgehen akzeptiert worden. Diese Überzeugung vertrat zumindest der Kolumnist der unternehmerfreundlichen und wirtschaftsliberal orientierten Zeitschrift Búsqueda, Claudio Paolillo. Zwar hätten die Unternehmerverbände genau wie jede andere Interessengruppe das Recht, im politischen Prozeß für ihre Interessen einzutreten; bedenklich sei aber, wenn dieser Druck privater Interessen auf das politische System von der Spitze der politischen Macht erzeugt werde, nur weil ihr im Parlament die notwendigen Stimmen fehlten, um ihre Ziele zu erreichen. Paolillo verurteilte nicht, daß sich die Unternehmerverbände in der öffentlichen Diskussion mehr artikulierten; aber er wehrte sich gegen eine Veränderung der demokratischen Spielregel:

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Búsqueda N° 653 vom 28.8.1992. Vgl. Búsqueda N° 652 vom 20.8.1992 und N° 653 vom 28.8.1992. 249 Vgl. El Observador Económico vom 20.10.1992. 2 50 Dalla Rosa, so zitiert in La República vom 18.11.1992. Dort findet sich auch die Erklärung der Intercameral abgedruckt.

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Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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„Las reglas del sistema por las cuales el presidente resultó electo en 1989 valen tanto para él como para el Poder Legislativo y, mal que le pese a cualquiera, los ciudadanos que ocupan los escaños parlamentarios son los únicos que pueden certificar fehacientemente su representatividad, que es la de todos los uruguayos. [...] el 'poder político' actúa legitimado por el voto de todos los ciudadanos, emitido libérrimamente, y no por decisión de las organizaciones intermedias. [...] El Poder Ejecutivo está dando cauce a acciones que se han puesto en práctica en países vecinos, con resultados desalentadores para la vitalidad de la democracia. Se trata de una variante de corporativismo, una doctrina que propugna la organización de la colectividad sobre la base de asociaciones representativas de los intereses y de las actividades profesionales (corporaciones) [...]."251

Lacalle schien diese neue politische Rolle der Unternehmerverbände bewußt anzustreben. Vor Unternehmern, die der uruguayisch-US-amerikanischen Handelskammer angehörten, und dem Botschafter der USA stellte er Ende September fest, daß die Interessengruppen in Uruguay nicht gewohnt seien, politische Verantwortung zu übernehmen. Die politische Führung fühle nicht den Einfluß der Unternehmer, die schließlich die Steuern bezahlen würden, weil diese im Parlament nicht so repräsentiert seien wie die Delegierten der Arbeiterschaft. Lacalle forderte die Unternehmer deswegen explizit dazu auf, die Politiker zu kontrollieren. Die Politik sei viel zu wichtig, um sie nur den Politikern zu überlassen. Ein gutes Zeichen sei, daß die wichtigsten Unternehmerverbände in letzter Zeit ihre Meinung zur Politik kritisch zum Ausdruck gebracht hätten. Diese begrüßenswerten Entwicklungen würden ihn zuversichtlich in die Zukunft blicken lassen.252 Die Hoffnungen Lacalles auf ein stärkeres, seine Politik entscheidend unterstützendes Engagement der Unternehmer wurden aber kaum erfüllt. Dies zeigte sich am markantesten bei den Auseinandersetzungen um das Privatisierungsgesetz, die in dem Plebiszit vom Dezember 1992 ihren Höhepunkt erreichten. Denn wie schon zu Zeiten der Regierung Sanguinetti und wie in anderen Politikfeldern, etwa im Bereich der Arbeitsbeziehungen, übten sich die Unternehmerverbände trotz unmittelbarer Betroffenheit doch in relativer Zurückhaltung. Abgesehen von den Äußerungen, die zum Pflichtrepertoire eines neoliberalen Diskurses gehörten, bezogen die Unternehmerverbände - im Unterschied zu den Gewerkschaften als der ursprünglichen Opposition gegen das Privatisierungsgesetz - kaum klar und eindeutig Stellung und hielten sich in der öffentlichen Diskussion wieder weitgehend zurück. 253 Ausnahmen waren der Präsident der Cámara de Industrias, der bei mehreren Gelegenheiten bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt daraufhingewiesen hatte, wie wichtig dieses Gesetz für die Industrie sei, sowie der Präsident der Cámara Nacional de Comercio, der es als ersten Schritt des Landes in Richtung Modernisierung bezeich251 252 2

53

Claudio Paolillo in Búsqueda N° 654 vom 3.9.1992. Lacalle, so wiedergegeben in Búsqueda N° 658 vom 2.10.1992. Vgl. Snoeck/Sutz/Vigorito 1994: 215/217.

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6.2 Die Regierung Lacalle in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit (1990-1992)

nete. 254 In der im November 1992 veröffentlichten offiziellen Erklärung der Intercameral wurde allerdings gemäß den gewohnten Beteuerungen aus den Unternehmerverbänden, nicht politisch agieren zu wollen, auf die bevorstehende Volksabstimmung mit keiner Silbe unmittelbar Bezug genommen. 255 Dies habe allein, so war Mitteilungen aus der Presse zu entnehmen, an der Cámara de Industrias gelegen, die gegen eine eindeutige, das Gesetz befürwortende Erklärung votiert habe. 256 Unmittelbar vor der Abstimmung erläuterte der Präsident des Verbandes, Rodríguez García, seine Haltung: „[...] no queremos tomar partido, porque el tema se ha politizado." 257 Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung des Dokumentes war gemeldet worden, die Intercameral werde zum Privatisierungsgesetz nicht Position beziehen, da einige Unternehmerverbände dies als ein politisches Thema betrachten würden, weswegen ihnen eine Stellungnahme von vornherein untersagt sei. 258 Trotz des verstärkt gemeinsamen Auftretens der wichtigsten Unternehmerverbände des Landes in der Intercameral war die Unternehmerschaft von einem sektorübergreifenden Schulterschluß immer noch weit entfernt. Nicht anders kann eine Auseinandersetzung zwischen Agrar- und Industriesektor im Oktober 1992 interpretiert werden, bei der es darum ging, wer die größeren steuerlichen Belastungen zu tragen habe. Als Reaktion auf einen in einer Tageszeitung erschienenen Artikel, in dem die Steuern, die die Landwirtschaft zu zahlen hat, mit denen von Industrie und Handel verglichen wurden, veröffentlichte die Cámara de Industrias eine Studie, in der die Aussage zurückgewiesen wurde, der Agrarsektor sei am meisten von Steuerzahlungen betroffen. 259 Wenngleich Lacalles Appell an die Unternehmerverbände, ihn zu unterstützen, nicht ungehört verhallt war, zeigten diese sich nicht bereit oder dazu in der Lage, ihm politisch den für die Durchsetzung seiner Reformvorhaben nötigen Rückhalt zu verschaffen. Zudem war trotz einiger - eher impliziten als expliziten - Bekundungen zugunsten der Regierungspolitik das Verhältnis der Unter-

254 Vgl. El Observador Económico vom 15.6.1992 bzw. vom 18.11.1992. Zu denjenigen, die es befürworteten, daß sich die Unternehmerverbände für dieses Gesetz stark machen, zählte der Ex-Präsident der Cámara Nacional de Comercio, Ernesto Carrau. (Vgl. Búsqueda N° 662 vom 29.10.1992.) 255 Vgl. den Wortlaut des Dokumentes, abgedruckt in La República vom 18.11.1992. 256 Vgl. El Observador Económico vom 20.11.1992. 257 Rodríguez García, so zitiert in Búsqueda N° 668 vom 10.12.1992. Über die Gründe, warum der Präsident der Cámara de Industrias sich zunächst für das Privatisierungsgesetz ausgesprochen hatte, dann sein Verband aber eine entsprechende Stellungnahme der Intercameral ablehnte, kann nur spekuliert werden. Wahrscheinlich waren unterschiedliche verbandsinterne Interessenkonstellationen ausschlaggebend. Denn gerade im Industriesektor müssen viele Unternehmer bei Privatisierungsmaßnahmen mit Nachteilen rechnen, da ihre Unternehmen von staatlichen Betrieben abhängig sind. 258 Vgl. Búsqueda N° 661 vom 22.10.1992. 259 Vgl. Búsqueda N° 659 vom 8.10.1992.

Eine neue Rolle der Unternehmerverbände?

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nehmer zu Lacalle konfliktiver als vorher zu Sanguinetti. 260 Dies gilt besonders für Cámara de Industrias und Federación Rural. In der Kritik beider Unternehmerverbände ebenso wie in den Erklärungen der Intercameral vom August und Oktober 1992 wurde aber ähnlich wie in der Vergangenheit alle Verantwortung auf den Staat und „die Politik" übertragen. Dies ist sicher kein Ausdruck einer Abkehr vom etatistischen Denken, welches in den Köpfen der uruguayischen Unternehmer weiterhin fest verankert scheint. 261 In der Öffentlichkeit gelang es den Unternehmern trotz z.T. veränderter Strategien ihrer Interessenvertretungen nicht, von ihrem negativen Image Abstand zu gewinnen. Wenngleich die Gewerkschaften nach Umfrageergebnissen des renommierten uruguayischen Meinungsforschungsinstitutes Equipos Consultores Asociados im Zeitraum von 1986 bis 1992 einen dramatischen Rückgang ihrer Popularität erleben mußten, erreichte ihr gesellschaftlich stark angekratztes Image nicht die schlechten Werte, mit denen die Unternehmerschaft weiterhin leben mußte. 262 Als Resümee läßt sich feststellen, daß das System der unternehmerischen Interessenrepräsentation in Bewegung geraten ist und neue Tendenzen erkennbar sind. Von einer Neudefinition der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände kann aber noch nicht die Rede sein; und welche Richtung die weitere Entwicklung nehmen wird, ist nicht eindeutig. Hinweise allerdings, daß die Unternehmer die Legitimität der Demokratie bezweifeln bzw. über ihre Verbände die MakroStabilität des politischen Systems beeinträchtigen, liegen nicht vor.

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0

Dies wurde dem Verfasser bereits in einem Gespräch am 15.11.1991, also zu einem relativ frühen Zeitpunkt, auch von Ricardo Petrissans Aguilar, Repräsentant der Unión de Exportadores, zumindest für seinen Verband bestätigt. 26 1 In welcher Weise eine Verhaltensänderung der Unternehmer - und hier insbesondere der in der Cámara de Industrias und der Federación Rural organisierten - möglich wäre, wurde in einem Kommentar der Zeitung El Observador Económico illustriert, nachdem die Aktionen der beiden Verbände zunächst grundsätzlich begrüßt worden waren: „[...] nos gustaría ver a la Cámara de Industrias y a la Federación Rural reclamando eficiencia a los poderes públicos pero al mismo tiempo aplicándose la receta a sí mismos. Nos gustaría ver a una Cámara de Industrias menos preocupada por los aranceles o por la entrada en vigencia del Mercosur y más atenta a la reconversión industrial y gerencial que tanto necesitan nuestras empresas o a la búsqueda de nuevos socios y nuevas tecnologías para competir más eficientemente. Nos gustaría ver una Federación Rural menos interesada en obtener nuevas y continuas refinanciaciones y una mayor protección arancelaría para ciertos sectores de la agricultura nacional y más inquieta en la aplicación de nuevas tecnologías de producción agropecuaria o en el desarrollo de nuevos rubros de producción [...]." (El Observador Económico vom 1.6.1992.) 262 vgl gl Observador Económico vom 6.1.1993.

Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

7.

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Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

Ziel der vorliegenden Studie war es, einen Beitrag zu liefern, um das Forschungsdefizit hinsichtlich der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Interessenverbände in Uruguay und deren Einfluß auf die politische Stabilität abzubauen. Bevor zu einem Resümee der wichtigsten Ergebnisse im folgenden die Ausgangsthesen der Arbeit aufgegriffen werden, wird auf die die Analyse leitende Fragestellung eingegangen, die folgendermaßen lautete: Tragen die Unternehmer und ihre Interessenverbände im jeweiligen zeithistorischen Kontext auf der Makroebene bei a) zur politischen Destabilisierung, indem sie Systemalternativen vertreten und sich dann eventuell sogar an der Organisation kollektiver Projekte, die die Herrschaftsordnung bedrohen, beteiligen, oder b) zur politischen Stabilisierung, indem sie die Verfahren innerhalb eines Systems akzeptieren und dem Regime gegenüber Loyalität zeigen, oder c) weder zur Destabilisierung noch zur Stabilisierung aufgrund besonderer, gegebenenfalls noch zu bestimmender Umstände? Wer sich die politische Entwicklung Uruguays betrachtet, ist schnell versucht jedenfalls schneller als in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern -, den Unternehmern eine weitgehend „unpolitische" Rolle zuzuschreiben und ihr Verhalten dann womöglich generell so einzuordnen, daß es weder systemstabilisierende noch systemdestabilisierende Effekte zeitigte. Dies hat zu tun mit der ausgeprägten demokratischen Tradition und der historisch verwurzelten demokratischen politischen Kultur, die sich über Jahrzehnte auszeichnete durch eine relative Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht, durch die lange Zeit konkurrenzlose Stellung der politischen Parteien als Akteure im politischen System und durch die wenigen Systemwechsel, die das Land im Laufe des 20. Jahrhunderts erlebte. Untersucht man diese Systemwechsel gründlicher, so wird zwar augenfällig, daß die Unternehmer und ihre Verbände in keinem der Fälle als die Akteure zu identifizieren sind, die als die zentralen Organisatoren kollektiver Alternativprojekte zur jeweils bestehenden Herrschaftsordnung in

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7. Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

Erscheinung traten. Es ist allerdings sowohl für die beiden autoritären Übergänge in den 30er und Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre als auch für die demokratische Transition in den 80er Jahren festzuhalten, daß diese Systemwechsel sich zumindest nicht gegen den Willen der überwiegenden Mehrheit der Unternehmerschaft bzw. der führenden Repräsentanten der wichtigsten Unternehmerverbände vollzogen haben. Es ist aufgrund der Analyse sogar möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen: Erst nachdem wenigstens Teile der Unternehmerschaft dem bestehenden Regime erkennbar die Loyalität entzogen und aktiv zur politischen Destabilisierung auf der Makroebene beigetragen hatten (auch ohne unbedingt treibende Kraft gewesen zu sein), kam es zu einem Systemwechsel. Ob dieses Verhalten damit tatsächlich, was naheliegend erscheinen mag, ausschlaggebend für den Vollzug des Systemwechsels war, wird gegen Ende des Kapitels näher thematisiert. Zunächst läßt sich als ein Ergebnis der Studie feststellen, daß in Uruguay trotz der historischen relativen Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht, die in dieser Form z.B. weder in Chile noch in Argentinien existierte,1 nicht von einer „unpolitischen Rolle" der Unternehmer und ihrer Verbände gesprochen werden kann, wie sie von führenden Verbandsrepräsentanten der großen Unternehmerverbände immer wieder auch in der jüngeren Vergangenheit für sich reklamiert wurde. Selbst bei einer weitgehenden Abstinenz in der öffentlichen Diskussion wichtiger, national relevanter gesellschaftspolitischer Fragen gibt es grundsätzlich die Systemstabilität betreffend kein politisch neutrales Verhalten der Unternehmer; es konnten keine gemäß Teil c) der erkenntnisleitenden Fragestellung „besonderen Umstände" identifiziert werden, die diese Aussage widerlegen würden. Insofern bestätigt sich für den Fall Uruguay, daß sich in einer marktwirtschaftlich-kapitalistisch organisierten Gesellschaft das kollektive Verhalten der Unternehmer über ihre Verbände je nach dessen konkreter Ausgestaltung immer in die eine oder andere Richtung auf die Stabilität des Systems auswirkt. Einzelheiten werden nun bei der Diskussion der Thesen zu klären sein. Dabei erfolgen weitere Differenzierungen, die auf den - trotz der in Kapitel 1.2.2 konstatierten strukturellen Privilegierung der Unternehmer2 - insgesamt doch begrenzten politischen Einfluß der uruguayischen Unternehmerschaft und die

Zu einem Vergleich der drei Länder siehe Birle/Imbusch/Wagner 1994a, detaillierter zu Argentinien und Chile die Länderstudien von Birle 1995a und Imbusch 1995. Diese strukturelle Privilegierung der Unternehmer ergibt sich in marktwirtschaftlichkapitalistischen Systemen u.a. aus ihrem Besitz bzw. ihrer Kontrolle über die Produktionsmittel, über die Arbeitskraft und den Arbeitsprozeß sowie aus den Erfordernissen der kapitalistischen Organisation der Ökonomie, die ihnen die Hauptrolle im Wirtschaftsleben zuschreibt.

Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

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Ursachen hierfür hinweisen sowie die Besonderheiten bezüglich deren politischer Rolle zusammenfassen. These 1: Das Interesse von staatlicher Seite, Unternehmer und ihre Verbände in den politischen Prozeß einzubinden und/oder sich entfalten zu lassen, ist je nach Regimetyp unterschiedlich ausgeprägt und betrifft die Verbände in unterschiedlichem Maße. Der Vergleich von autoritärem und demokratischem Regime in Uruguay zeigt grundsätzliche Unterschiede im staatlichen Interesse, Unternehmer und ihre Interessenorganisationen in den politischen Prozeß einzubinden. Die militärischen Machthaber verfolgten nicht die Strategie, den Unternehmerverbänden wirkliche Partizipationsmöglichkeiten zu gewähren. Zur Stabilitätssicherung erschien dies auch nicht notwendig, schon gar nicht, solange in der Wahrnehmung der Unternehmer die Performanz des Regimes ausreichend war und sie sich deswegen diesem gegenüber freiwillig loyal zeigten. Aber auch als die wirtschaftlichen Erfolge ausblieben und die Leistung des autoritären Regimes in den 80er Jahren aus dem Unternehmerlager nicht mehr nur von der Federación Rural kritisiert wurde, sondern z.B. ebenso aus der Cámara de Industrias, sahen die Militärs keine Veranlassung, dies durch das Gewähren von Partizipationsmöglichkeiten zu kompensieren. Denn die Kritik beschränkte sich bis auf wenige Ausnahmen {Federación Rural) auf die Mikroebene und wurde von den Machthabern nicht als eine ernsthafte Beeinträchtigung der Stabilität des politischen Systems wahrgenommen. Außerdem wären bei einer drohenden Gefahrdung der MakroStabilität durch die Unternehmer immer noch repressive Maßnahmen (Mitte der 70er Jahre war mit der Verhaftung des Präsidenten der Federación Rural ein Exempel statuiert worden) zur Aufrechterhaltung des Status quo, zur Eindämmung bzw. Verhinderung von Konflikten geblieben. Die erste postautoritäre Regierung führte die Konzertierungsansätze der CONAPRO aus der Transitionsphase nicht weiter, und es entstanden danach keine im Vergleich zur Vergangenheit neuen korporatistischen Arrangements. Statt dessen wurde den Unternehmern und ihren Verbänden im Rahmen der demokratischen Restauration von staatlicher Seite zunächst die aus den Zeiten vor der Militärdiktatur gewohnte politische Rolle im System der Interessenrepräsentation zugeordnet. Die Unternehmer wiederum ordneten sich gemäß der politischen Kultur erneut weitgehend den Parteien als den zentralen politischen Akteuren unter, übten sich in Zurückhaltung und verfolgten die vertraute Strategie der Anpassung. Diese Anknüpfung an die alten Mechanismen der Inter-

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7. Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

essenvermittlung brachte den Unternehmern insofern eine gewisse Sicherheit, als damit wieder die vertrauten Verhaltensspielregeln galten. Im Bereich der Lohnpolitik kehrte die Regierung durch die Einrichtung der Consejos de Salarios bis auf wenige Ausnahmen zu den über Jahrzehnte üblichen Verfahrensweisen zurück, beteiligte also Unternehmerverbände und Gewerkschaften im Unterschied zur Militärdiktatur an der Gestaltung der Tarifpolitik. Da die Consejos de Salarios nicht für die Löhne im Agrarsektor zuständig waren, blieb von Seiten der Regierung das Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Landwirtschaftsverbänden gering. Die Cámara de Industrias hingegen wurde zum bevorzugten Ansprechpartner nicht zuletzt deshalb, weil es dem Industriellenverband gelang, die Meinungsfiihrerschaft in den Reihen der Unternehmerschaft zu übernehmen und die Federación Rural von ihrer „Protagonistenrolle" abzulösen. Sanguinetti berief den ehemaligen Präsidenten der Cámara de Industrias als Minister in sein Kabinett und übertrug weiteren Unternehmern Regierungsverantwortung. Nicht aufrechterhalten wurde trotz fortbestehender grundsätzlicher wirtschaftspolitischer Übereinstimmungen zwischen Regierung und Asociación de Bancos deren politisches Mitsprachemonopol; zu Zeiten des autoritären Regimes war es möglich gewesen, ausschließlich den Unternehmern des Finanzsektors, die auf einer Linie mit dem Entwicklungsstil der Regierung lagen, Zugangsmöglichkeiten zu den politischen Entscheidungsträgern zu gewähren. 3 Trotz des die politische Rolle der Unternehmerverbände einschließenden restaurativen Charakters der „neuen alten" Demokratie begann bereits unter Präsident Sanguinetti das Interesse von staatlicher Seite zu wachsen, Unternehmer und ihre Verbände in den politischen Prozeß zu integrieren. Sanguinetti selbst zeigte sich um eine Imageverbesserung der Unternehmer bemüht. Denn vor dem Hintergrund einer internationalen Konjunktur neoliberal ausgerichteter Anpassungsstrategien sollte nun auch in Uruguay der Privatwirtschaft die zentrale Rolle als Wirtschaftsakteur zukommen und sich der Staat immer mehr zurückziehen. Wichtige wirtschaftspolitische Reformen zur Umsetzung dieses Vorhabens wurden allerdings erst unter der Regierung Lacalle in Angriff genommen. Infolgedessen kam es auch dann erst zu einer deutlichen Aufwertung der Unternehmer und ihrer Interessenvertretungen als politische Akteure. Die Unternehmerverbände wurden zunächst auf informeller Ebene, dann auch „[...] no podemos decir que las FF.AA. se convirtieron en el partido de la burguesía, pero sin embargo, cabe anotar que cumplió a partir de las jerarquías militares con la tarea de reorganización social necesaria a la ascensión política de la fracción de capital monopolista-financiero." (Torres 1985: 165.)

Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

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im Rahmen institutionalisierter Mitwirkungsmöglichkeiten in den Integrationsprozeß des MERCOSUR einbezogen. Darüber hinaus suchte Lacalle sogar nach Unterstützung der Unternehmer als Ersatz für fehlende parlamentarische Mehrheiten. Damit strebte er eine qualitativ neue Rolle der Unternehmer im politischen System an, die durch Druck und Lobbying die Mitglieder von politischen Institutionen zum Umdenken im Sinne der Regierung bewegen sollten. Wenngleich diese Strategie kaum Erfolge hervorbrachte, da die Unternehmerverbände weit davon entfernt waren, idealtypische Protagonisten neoliberaler Politik zu sein, zeigte sich unter Lacalle noch stärker als unter seinem Vorgänger Sanguinetti das Interesse von staatlicher Seite, Unternehmer und ihre Verbände in den politischen Prozeß einzubeziehen - ein Interesse, das der autoritären Regierung weitgehend fremd war. Unter Berücksichtigung beider Vergleichsebenen (Längsschnitt: autoritäres und demokratisches Regime; Querschnitt: verschiedene Verbände im selben Kontext) ist festzuhalten, daß im autoritären Regime Uruguays Verbände nicht nur leichter als in der Demokratie vom politischen Prozeß ausgegrenzt werden konnten; zugleich hatte das autoritäre Regime anders als die Demokratie auch die Möglichkeit geboten, eine Gruppe quasi exklusiv in den politischen Prozeß einzubinden. Der uruguayische Autoritarismus der 70er und ersten Hälfte der 80er Jahre zeigte jedoch keine wirklich korporatistischen Ansätze, mit denen der Staat versucht hätte, größere Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten über die Unternehmerverbände zu gewinnen. Hier wurde statt dessen weitgehend eine Strategie der Ausgrenzung verfolgt, ohne daß die Unternehmer sich allerdings auch nur annähernd Repressionen ausgesetzt sahen wie z.B. Mitglieder von Gewerkschaften und Parteien. Demgegenüber widerspricht es prinzipiell dem Charakter eines demokratischen politischen Systems, wichtige Gruppen wie die Unternehmer bewußt vom politischen Prozeß auszuschließen bzw. die Zugangsmöglichkeiten zur Regierung weitgehend auf eine Gruppe zu begrenzen. Auf Dauer könnte dies die Legitimation des Regimes bzw. den Legitimitätsglauben der ausgegrenzten Gruppen so beeinträchtigen, daß diese ernsthaft nach Systemalternativen suchen. Anders als im Autoritarismus liefert in der Demokratie die Einbindung der gesellschaftspolitisch relevanten Akteure in die gesamtstaatliche Verantwortung die Grundlage, um aufkommende Konflikte erfolgreich verarbeiten und trotz Instabilitäten auf der Mikroebene die Makrostabilität sichern zu können. These 2: Der Entwicklungsstil, der von einer Regierung gewählt wird, wirkt sich auf die Struktur der organisierten Unternehmerinteressen sowie

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die Machtressourcen und Handlungsstrategien der Unternehmerverbände als kollektive politische Akteure aus. Bislang war der Entwicklungsstil Uruguays immer orientiert an marktwirtschaftlich-kapitalistischen Grundvorstellungen, und es gab keine „alternativen Experimente" beispielsweise in Richtung Sozialismus. Obwohl sich der Staat immer wieder gegen massive Partikularinteressen von Unternehmern durchsetzte, wurden deren homogene Basisinteressen hinsichtlich einer Aufrechterhaltung der bestehenden Wirtschaftsordnung, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln garantiert, staatlicherseits nie ernsthaft angezweifelt. Da also entsprechende Erfahrungen nicht vorliegen, können hier keine aufgrund der Analyse ermittelten, empirisch nachweisbaren Aussagen über die Unterschiede zwischen den Auswirkungen sozialistischer und kapitalistischer Entwicklungsstile auf die Struktur der organisierten Unternehmerinteressen sowie die Machtressourcen und Handlungsstrategien der Unternehmerverbände getroffen werden. Ebenfalls als schwierig erweisen sich Aussagen bezüglich der Auswirkungen unterschiedlicher kapitalistischer Entwicklungsstile. Denn die in Kapitel 1.2.2 genannten Variablen (Verhältnis von Ökonomie und Politik, wirtschaftliche Regelungsmuster im Spannungsfeld von Markt und Staat, soziale Wohlfahrt, Verbindung mit dem kapitalistischen Weltmarkt) erlauben zwar eine prinzipielle Unterscheidung kapitalistischer Entwicklungsstile; wie die Analyse der Kontextbedingungen aber gezeigt hat, ist dieses Raster fiir den Fall Uruguay im Untersuchungszeitraum von 1972 bis 1992 zu grob, so daß Differenzierungen nur in sehr eingeschränktem Umfang möglich sind. Der von der uruguayischen Militärregierung verfolgte Entwicklungsstil war weit von dem orthodox-liberalen Wirtschaftsmodell entfernt, an dem sich z.B. die Pinochet-Diktatur in Chile orientierte. Auch die Regierung Sanguinetti setzte keine bedeutsamen wirtschaftspolitischen Reformen neoliberalen Charakters um und knüpfte in vielen Punkten an die Wirtschaftspolitik der Militärregierung an. Eventuelle Unterschiede zwischen der Militärdiktatur und der Regierung Sanguinetti hinsichtlich der Struktur der organisierten Unternehmerinteressen, der Machtressourcen und Handlungsstrategien der Unternehmerverbände lassen sich also weniger auf einen grundsätzlich veränderten Entwicklungsstil als vielmehr auf den Wechsel des Regimetyps zurückfuhren. 4 Erst unter der Regierung Lacalle zeichneten sich Veränderungen im EntwickDies gilt auch und gerade für den Bereich der Arbeitsbeziehungen. Denn Veränderungen im Dreiecksverhältnis Unternehmer - Gewerkschaften - Staat hatten in erster Linie mit dem Wechsel des Regimetyps zu tun.

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lungsstil ab, so daß trotz aller aus den genannten Gründen erfolgenden Einschränkungen bei der Diskussion der These doch ein Erkenntnisgewinn möglich erscheint. Wie dargestellt, wurden die Grundlagen für den uruguayischen Entwicklungsweg von José Batlle y Ordónez zu Beginn dieses Jahrhunderts gelegt. Sein zentraler wirtschaftsideologischer Grundsatz eines stark interventionistischen und protektionistischen Staates prägte den Entwicklungsstil nachhaltig. Zu den negativen Effekten dieser entwicklungsstrategisch entscheidenden Rolle des Staates zählte auf Dauer, daß nicht nur der öffentliche Dienst von den Parteien zur Versorgung ihrer Klientel benutzt wurde, sondern der Staat insgesamt auch nicht unwesentlich für die Alimentierung der Wirtschaft zu sorgen hatte. Die Machtressourcen der Unternehmer waren auch deswegen eingeschränkt, weil sich durch den verfolgten Entwicklungsstil ein relativ großes Abhängigkeitsverhältnis vieler Unternehmer vom Staat als Wirtschaftsakteur ergab. Dies in Verbindung mit dem Phänomen der relativen Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht trug entscheidend zur Herausbildung eines Unternehmertyps bei, der nicht sehr viel mit einem dynamischen, risikobereiten, innovativen und die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibenden Unternehmer im Sinne Schumpeters zu tun hatte.5 Bei den für die uruguayischen Unternehmer typischen ausgeprägten individualistischen Orientierungen, der vorherrschenden gegenseitigen Wahrnehmung als Konkurrent sowie dem Fehlen einer für die Unternehmer umfassenden, existentiellen Bedrohungssituation, die vielleicht kohäsionsstiftend gewirkt und ein kollektives Handeln erforderlich gemacht hätte, ist es kaum überraschend, daß sich die Struktur der organisierten Unternehmerinteressen traditionell als sehr heterogen darstellt und kein sektorübergreifender Dachverband existiert. Auch das vergleichsweise geringe Profil der Unternehmerverbände als politische Akteure ist vor diesem Hintergrund zu erklären.

„En una de sus visitas a nuestro país, Alain Touraine señalaba la inexistencia de empresarios tanto en el ámbito público como privado, al menos de aquella especie que asume riesgos, compite en base a las reglas del mercado y tiene por tanto necesidad de ser eficiente." (Bruera 1991a: 3.) Der Klarheit halber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß der Staat nicht nur die Entwicklung der Unternehmerschaft in der oben dargestellten Form beeinflußt hat, sondern dies als ein wechselseitiger Prozeß zu verstehen ist. Ähnlich wie im historischen Teil dieser Arbeit beschrieben, weist Nahum daraufhin, daß sich der Staat als Akteur so hat entwickeln können aufgrund der traditionell relativ schwachen Position der Unternehmer. „El Estado avanzó porque las clases altas no tuvieron suficiente capacidad técnica ni empresarial, capitales y espíritu de riesgo, como para asumir tareas de interés general." (Nahum 1993: 15.)

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7. Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

Weitere Indikatoren, die auf eine Unterstützung der These hindeuten, liefert die Regierungszeit Lacalles. Zwar waren bis Ende 1992 noch keine substantiellen Reformen umgesetzt, die faktisch eine Hinwendung zu einem streng neoliberalen Entwicklungsstil bedeutet hätten. Sehr wohl allerdings waren Weichenstellungen erkennbar, die erstens auf einen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft durch das Privatisierungsvorhaben und zweitens auf einen Abbau protektionistischer Maßnahmen im Zuge des Integrationsprozesses hindeuteten, also im Sinne der genannten Variablen auf eine Absage an wirtschaftliche Regelungsmuster eines staatsinterventionierten Marktes sowie auf eine Ablösung des „protektionistisch integrierten" durch einen stärker „freihandelsintegrierten" Entwicklungsstil. Wenngleich jahrzehntelang durch protektionistische Maßnahmen geschützte, auf den abgeschotteten Binnenmarkt orientierte und kaum wettbewerbsfähige Unternehmen besonders im Industriesektor von dem angestrebten neoliberalen Anpassungskurs der Regierung negative Folgen zu erwarten hatten, kam zumindest auf der verbalen Ebene die damit verbundene Wirtschaftspolitik doch den Basisinteressen des überwiegenden Teils der Unternehmer entgegen. Im Rahmen dieser zum Ende des Untersuchungszeitraumes noch im Anfangsstadium befindlichen Neuorientierung nahm die strukturelle Privilegierung der Unternehmerinteressen eine neue Qualität an. Denn auf alle Fälle rückte gegenüber der Vergangenheit mit dem Staat als zentralem wirtschaftlichen Akteur nunmehr das private Unternehmertum in den Vordergrund, so daß die Unternehmer als wirtschaftliche Protagonisten in einem Ausmaß wie selten zuvor anerkannt waren. Wenn ihnen zukünftig über die verbale Ebene hinaus tatsächlich die Hauptrolle im Wirtschaftsleben zugeschrieben wird, sind davon aus ihrer Sicht positive Auswirkungen auf ihre in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaften grundsätzlich gegebene strukturelle Privilegierung und damit auf ihre Machtressourcen zu erwarten. Der Bedeutungszuwachs der Unternehmer und ihrer Verbände in den letzten Jahren des Untersuchungszeitraumes ging einher mit einem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften, denen als Akteur in der Transitionsphase von der Diktatur zur Demokratie noch eine sehr viel größere gesellschaftspolitische Relevanz zugekommen war. Angesichts der tiefgreifenden, durch externe und interne Faktoren bedingten Krise der Gewerkschaften haben diese nicht nur gesamtgesellschaftlich und als Pendant zu den Unternehmerverbänden, sondern auch gegenüber staatlichen Instanzen an Gewicht verloren. Nicht zuletzt auf Kosten der geschwächten Gewerkschaften wurden Unternehmer und ihre Interessenvertretungen von staatlicher Seite vermehrt als Gesprächspartner gesucht und in

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politische Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Lacalle selbst drängte die Unternehmerverbände sogar explizit zu politischen Initiativen und einer aktiven Beteiligung an der wirtschaftspolitischen Implementierung. Unternehmer wurden staatlicherseits mehr gefordert und waren in der öffentlichen Diskussion sehr viel präsenter als in der Vergangenheit. Insgesamt haben sich die Rollenerwartungen gegenüber den Unternehmern und ihren Interessenorganisationen deutlich verändert. Die Unternehmer haben zwar kaum eine gravierende Aufbesserung ihres schlechten Images erfahren, ihre Verbände wurden aber gesellschaftlich als politische Akteure deutlicher akzeptiert. In einem sehr viel größeren Ausmaß als in der Vergangenheit wurde politische Einflußnahme ihrerseits von der Öffentlichkeit als legitim betrachtet. Dies war weniger Verdienst der Unternehmer und ihrer Interessenorganisationen selbst als vielmehr Ergebnis einer bewußten Politik der postautoritären demokratischen Regierungen. Diese Entwicklung hin zu einer neuen Rollendefinition und einer Aufwertung des politischen Verhaltens der Unternehmer wurde durch den internationalen Kontext (Konjunktur neoliberaler Entwicklungsstile, Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa) begünstigt. In dieser neuen Gesamtsituation haben die Unternehmer und ihre Verbandsvertreter damit begonnen, ihre Handlungsund Einflußstrategien zu modifizieren. Hauptadressat ihrer Forderungen war zwar weiterhin die Exekutive, ihre konkreten Einflußstrategien bezogen aber immer mehr das unmittelbare politische Engagement und die Medien als Möglichkeit der Interessenartikulation mit ein. Gleichzeitig haben die Unternehmer unterschiedliche Partikularinteressen und interne Konflikte - wie die Vorgänge anläßlich der 1992er Wahlen zum Führungsgremium der Cámara de Industrias in drastischer Weise zeigten - verstärkt an die Öffentlichkeit getragen, ohne daß sie damit eine grundsätzliche Einschränkung ihres allgemeinen Handlungspotentials bzw. ihrer gesellschaftspolitischen Machtposition befürchten mußten. Ihre hier skizzierte, im Rahmen eines sich verändernden Entwicklungsstils aufgewertete politische Rolle konnten die Unternehmer und ihre Verbände allerdings erst ansatzweise entsprechend ausfüllen. Die entwicklungsstrategischen Vorstellungen von Regierung und Unternehmern kamen sich in ihrer ideologischen Ausprägung recht nahe. Diese Übereinstimmungen waren häufig jedoch rein verbaler Art, d.h. galten für die Unternehmer nur so lange, wie sie in der Praxis ihre Interessen nicht gefährdet sahen. Es klaffte eine unverkennbare Lücke zwischen dem verbalen Bekenntnis zum Neoliberalismus und konkreten Partikularinteressen. So etwa forderten Unternehmer ganz im Sinne neoliberaler Strategien eine geringere staatliche Intervention in die Wirtschaft. Wenn dies indes zu ihren Lasten ging (z.B.

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7. Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

Kürzung von Subventionen, Abbau von Protektionen), rückten sie schnell von neoliberalen Prinzipien ab und reklamierten Ausnahmeregelungen, protektionistische Maßnahmen und Vorzugsbehandlungen. Die Verhandlungen zum MERCOSUR zeigten deutlich diese Diskrepanz zwischen Rhetorik und Praxis. Mit ihren Verhaltensweisen bestätigten die Unternehmer nicht nur ihre ambivalenten Einstellungen gegenüber staatlichen Interventionen, sondern ebenso immer noch die in der politischen Kultur des Landes verankerte Orientierung der tendenziellen Unterordnung unter die politischen Parteien und staatlichen Entscheidungsträger. Die Unternehmerverbände zeigten sich nur im Ansatz zu der von der Regierung implizit und explizit angebotenen konstruktiven, Politik gestaltenden Zusammenarbeit bereit. Trotzdem war die verstärkte regionale Integration Auslöser für eine Verhaltensänderung der Unternehmer, die sich in einer langsamen Abkehr von der traditionellen Zurückhaltung, öffentlich über einen Verband als kollektiver Akteur aufzutreten, äußerte. Sich andeutende Modifikationen im Entwicklungsstil zeigten also erste Auswirkungen. These 3: Wenn die politischen Parteien von der Exekutive als Verhandlungspartner bevorzugt werden, als wichtigste Kanäle der Interessenartikulation und politischen Repräsentation fungieren und im Rahmen der politischen Kultur auch als solche eingeschätzt werden, treten die Unternehmerverbände als politische Akteure öffentlich eher zurückhaltend in Erscheinung. Traditionelles Merkmal der demokratischen politischen Kultur Uruguays ist vor dem Hintergrund einer tendenziellen Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht nicht nur die Existenz einer eigenen politischen Klasse mit weitgehend professionellen Politikern, sondern auch die zentrale Rolle der Parteien als politische Akteure, als wichtigste Kanäle der Interessenartikulation und politischen Partizipation. Demgegenüber haben sich die traditionellen, großen Unternehmerverbände mit Ausnahme der Federación Rural, die 1915 bewußt als politische Interessenvertretung gegen den Batllismo gegründet worden war, immer als „unpolitische" Organisationen mit einem überwiegenden Dienstleistungscharakter verstanden. Dies bedeutet zwar keineswegs, daß über die Unternehmerverbände nicht versucht worden wäre, politisch Einfluß zu nehmen; dies bedeutet aber sehr wohl, daß die Unternehmerverbände als politische Akteure in der öffentlichen Auseinandersetzung relativ zurückhaltend agierten. Aus einer historischen Perspektive haben die interne Fragmentierung der Parteien und die vorherrschenden Konstellationen im politischen System

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Raum dafür gelassen, daß sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen über die Parteien kanalisieren konnten. Diese brauchten hier lange Zeit die Konkurrenz weder der Unternehmerverbände noch anderer Akteure, wie des Militärs, zu fürchten. Die Ausgestaltung des uruguayischen politischen Systems als partidocracia hat zu dem verhältnismäßig geringen politischen Profil der Unternehmer und ihrer Verbände in der Öffentlichkeit beigetragen. Erst die Regierung Pacheco durchbrach ab Ende der 60er Jahre mit dem sogenannten Unternehmerkabinett die Dominanz des politischen Prozesses durch die Parteien: Es wurden damals verstärkt Unternehmer in die Regierungsverantwortung eingebunden und von der Exekutive die Unternehmerverbände anstelle der Parteien als Ansprechpartner gesucht. Der Systemwechsel Anfang der 70er Jahre bedeutete einen Bruch mit den gewohnten, sich bereits mit der Präsidentschaft Pachecos wandelnden Mustern der Interessenrepräsentation. Denn die Parteien wurden als politische Akteure komplett ausgeschaltet und kamen damit nicht mehr als Transmissionsriemen für die Interessen der Unternehmer in Frage. Die Exekutive ihrerseits suchte, anders als es die Strategie Pachecos gewesen war, keine „neuen" Verhandlungspartner. Der autoritäre Charakter des Regimes ließ eine Zusammenarbeit mit anderen Akteuren nicht notwendig erscheinen. Die Unternehmerverbände mußten demzufolge andere Möglichkeiten finden, um ihren Aufgaben der Interessenartikulation und Einflußnahme auf den politischen Prozeß nachzukommen: Zum einen wurde nach direkten Zugangsmöglichkeiten zu den autoritären Machthabern gesucht. Diese Strategie war für einige Industrieunternehmer vorübergehend mit gewissen Erfolgsaussichten verbunden, da Affinitäten zur Militärregierung aufgrund eines teilweise gemeinsamen sozialen und gesellschaftlichen Hintergrundes bestanden. Besondere Privilegien besaß der Finanzsektor wegen des Phänomens der Personifizierung wirtschaftspolitischer Implementierung in Gestalt des ihm nahestehenden Wirtschafts- und Finanzministers Vegh Villegas in den ersten Jahren der Diktatur, der die Interessenvertretungen der Unternehmer anderer Wirtschaftssektoren klar und bewußt ausgrenzte. Zum anderen wurde trotz repressiver Maßnahmen der Weg über die Öffentlichkeit gesucht. Besonders traf dies für die Agrarunternehmer zu, denen aufgrund der wechselseitigen, gesellschaftlich verwurzelten Aversionen der unmittelbare Zugang zu den regierenden Militärs von vornherein weitgehend versperrt geblieben war. Es ist bezeichnend für die Unternehmer Uruguays, daß als weitere potentielle Strategie der Interessenartikulation eine Zusammenarbeit auf breiter Basis und ein gemeinsames, sektorübergreifendes Auftreten der Unternehmerverbände nicht ernsthaft angestrebt wurde.

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Bereits im Transitionsprozeß der frühen 80er Jahre nahmen die Parteien wieder eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des Redemokratisierungsprozesses ein und waren die zentralen Verhandlungspartner der militärischen Machthaber. Allerdings war es zur Überwindung des autoritären Regimes erforderlich, auf möglichst breiter Basis ein kollektives Alternativprojekt zur bestehenden Herrschaftsordnung zu organisieren. Nur mit Beteiligung weiterer Akteure, wie der Gewerkschaften, sozialer Organisationen und in gewissem Ausmaß der Unternehmerverbände, konnte die demokratische Systemalternative realistische Formen annehmen. Für die zu beobachtende relative Zurückhaltung der Unternehmerverbände als Akteure in der Transitionsphase erscheint anders als für die Jahrzehnte vor der Militärdiktatur der heuristische Wert der hier diskutierten These 3 begrenzt. Denn die Erklärung für deren vergleichsweise geringe öffentliche Präsenz in dieser Zeit läßt sich nicht nur auf das Wiedererstarken der politischen Parteien reduzieren. Sicher sind traditionelle Rollenverständnisse, die besonders im Falle Uruguays sehr ausgeprägt sind, hier als Erklärungsfaktoren zu berücksichtigen. Die Zurückhaltung der Unternehmerverbände als kollektive Akteure in dieser wichtigen Phase muß aber vor dem Hintergrund gesehen werden, daß sie doch über lange Zeit die soziale Basis der Militärdiktatur gebildet und durch ihre verbreitete Loyalität gegenüber den autoritären Machthabern zur - zeitweisen - Stabilisierung der Diktatur beigetragen haben. Nach dem Systemwechsel, der durch den Amtsantritt der Regierung Sanguinetti 1985 vollzogen worden war, übernahmen die Parteien im Zuge der demokratischen Restauration definitiv wieder die Rolle der zentralen politischen Akteure. Die Exekutive ihrerseits verfolgte die Konzertierungsansätze aus der Transitionsphase nicht weiter, so daß die Unternehmerverbände zunächst wieder zu ihrem aus der Vergangenheit gewohnten Part zurückkehrten, was in erster Linie bedeutete, sich als politische Akteure unterzuordnen und öffentlich eher zurückhaltend in Erscheinung zu treten. Wie fest verankert dieses Rollenverständnis in der politischen Kultur Uruguays ist, zeigt die Tatsache, daß die Initiativen der Regierung Sanguinetti bezüglich einer Imageaufbesserung der Unternehmer und einer langsam doch stärkeren Einbindung der Unternehmerverbände in den politischen Prozeß kaum fruchteten, also nicht zu einer Neudefinition der politischen Rolle der Unternehmerverbände führten. Selbst die für uruguayische Verhältnisse in diesem Ausmaß bis dahin praktisch unbekannte Suche der Nachfolgeregierung unter Präsident Lacalle nach Unterstützung aus der Unternehmerschaft, die Aufforderungen aus der Exekutive, politisch Einfluß zu nehmen, um parlamentarische Mehrheiten zugunsten der Regierungspolitik zu schaffen, zeigte nur bescheidenen Erfolg. Es gab lediglich

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erste Anzeichen einer Umorientierung bei der Ausgestaltung der politischen Rolle der Unternehmerverbände, wie sie bei der Diskussion von These 2 beschrieben worden sind. Dazu gehörte eine größere öffentliche Präsenz der Unternehmerverbände als Interessengruppen, aber auch interne Auseinandersetzungen wurden in nicht unerheblichem Ausmaß öffentlich ausgetragen. Diese Veränderungen gingen aber keineswegs mit einem umfassenden Bedeutungsverlust der politischen Parteien einher, sondern sie müssen vielmehr im Kontext des sich wandelnden Entwicklungsstils gesehen werden. Verstärkend haben diesbezüglich die aus den Schwierigkeiten des Präsidenten Lacalle in seinem Regierungsbündnis resultierenden Forderungen an die Unternehmer, sich deutlicher zu Wort zu melden, gewirkt. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß in Uruguay die Rolle der Parteien als zentrale politische Akteure ein historisch sehr prägender Faktor für das öffentliche Auftreten der Unternehmer und Verbandsrepräsentanten gewesen ist. Dieser Faktor hat aber in den letzten Jahren des Untersuchungszeitraumes aufgrund veränderter Rollenerwartungen gegenüber den Unternehmern etwas an Relevanz verloren. These 4: Regimetypen bleiben im Kalkül der Unternehmer relativ bedeutungslos, solange durch den Entwicklungsstil ihre Basisinteressen garantiert werden; kommt der Entwicklungsstil dem Streben der Unternehmer nach günstigen Verwertungsbedingungen und Gewinnmöglichkeiten entgegen, so verhalten sie sich dem politischen System gegenüber loyal und tragen damit auch über ihre Verbände zur Systemstabilisierung bei. Für die Jahre der Militärdiktatur lassen sich eindeutig Parallelen zwischen dem Ausmaß der Loyalität, die die Unternehmer über ihre Verbände dem autoritären Regime entgegenbrachten, und den wirtschaftlichen Erfolgen bzw. Mißerfolgen erkennen. Zu Beginn der Militärdiktatur konnte praktisch die gesamte Unternehmerschaft darauf vertrauen, daß der Entwicklungsstil ihren grundlegenden Interessen nicht widerspricht und sich ihre Gewinnmöglichkeiten wahrscheinlich sogar maximieren lassen dürften. Es wurde eine der Privatwirtschaft gegenüber wohlgesonnene, sie begünstigende Wirtschaftspolitik erwartet, und zudem waren die Gewerkschaften als hinderlicher Gegenpart ausgeschaltet. Aufgrund der in den Reihen der Unternehmer verbreiteten, sehr positiven Wahrnehmung des neuen, für „Ruhe und Ordnung" sowie günstige Verwertungsbedingungen sorgenden autoritären Regimes gab es zu dieser Zeit trotz massiver Menschenrechtsverletzungen keine wirklich regimekritischen Stimmen aus den Unternehmerverbänden.

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Je mehr die Unternehmer der verschiedenen Wirtschaftsbereiche über die gesamte Zeitspanne der Diktatur betrachtet vom Entwicklungsstil profitierten, desto größer war deren Unterstützung für die militärischen Machthaber. Die Unternehmer des Finanzsektors hielten in weitgehender Übereinstimmung mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Regierung als die eigentlichen Profiteure aus der Unternehmerschaft dem Regime bis zuletzt die Treue. Demgegenüber waren die Agrarunternehmer diejenigen, deren Erwartungen wohl am stärksten enttäuscht wurden. Sie bezogen über die Federación Rural als einzigem der Unternehmerverbände in den 70er Jahren Stellung gegen die Wirtschaftspolitik, d.h. gegen einzelne für sie mit negativen Auswirkungen verbundene Elemente des Entwicklungsstils. Als kollektiver Akteur der organisierten Unternehmerinteressen war es schließlich in den 80er Jahren nur die Federación Rural, die dem Regime wirklich in dem Sinne ihre Unterstützung entzog, daß sie sich aktiv an der Systemdestabilisierung beteiligte. Bemerkenswert erscheint indes, daß sich zuvor mit den im August 1978 eingeleiteten, lange Zeit von den Agrarverbänden geforderten Maßnahmen die jahrelange Kritik an der Wirtschaftspolitik unvermittelt in ein öffentlich proklamiertes Wohlwollen gegenüber der Militärregierung, also im Sinne von David Easton in specific support verwandelte. Als sich die erhofften positiven Effekte nicht dauerhaft einstellten, war jedoch das Vertrauen in die Militärdiktatur ebenso schnell wieder erschüttert und von der Loyalität aus dem Agrarsektor nicht mehr viel übrig. Mangelnde spezifische Unterstützung konnte nicht durch diffuse Zustimmung kompensiert werden. Diese markanten Vorgänge stützen die Argumentation hinsichtlich eines Vorranges der Entwicklungsstil- gegenüber der Regimetypvariablen im Kalkül der Unternehmerinteressen. Auch der Gesamtzusammenhang der Analyse der Jahre 1973 bis 1984 liefert keinerlei Anhaltspunkte, die gegen These 4 sprechen würden. So zeigt das Verhalten der Industrieunternehmer deutlich, daß diejenigen, denen die Wirtschaftspolitik entgegen kam, wie z.B. die exportorientierten Unternehmer, auf Einflußhandlungen verzichteten, ihre Loyalität gegenüber dem Regime signalisierten und nicht zuletzt mit den Lobreden aus der Cámara de Industrias auf die Militärdiktatur in den 70er Jahren zur Systemstabilisierung beitrugen. Die These in dem Sinne weiter zu fassen, daß sich Unternehmer einem politischen System gegenüber nicht loyal zeigen, wenn sie nicht von der Wirtschaftspolitik profitieren, ist hingegen in verallgemeinernder Form kaum haltbar. Hier hängt es zunächst entscheidend vom Ausmaß der Bedrohungssituation ab, also davon, inwiefern durch einen bestimmten Entwicklungsstil die Basisinteressen der Unternehmer tatsächlich gefährdet

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sind, inwieweit deren Existenz bedroht erscheint. Außerdem gewinnt in einer Situation der Negativperzeption nun doch der Regimetyp als relevante Dimension an Bedeutung. Denn die Analyse hat bestätigt, daß, wie in Kapitel 1.1 formuliert, der Erfolgsdruck für autoritäre Regime größer ist als für eine Demokratie, besonders dann, wenn der Glaube an die Legitimität der Demokratie dadurch begünstigt wird, daß eine demokratische Tradition vorhanden und die Erinnerung an die vorautoritäre Vergangenheit positiv besetzt ist. Zudem zeichnen sich stabile demokratische Systeme im Gegensatz zur repressiven Stabilität autoritärer Systeme durch die Flexibilität aus, sich so an veränderte Rahmenbedingungen anpassen zu können, daß ein stabilitätserhaltendes Fließgleichgewicht bewahrt wird. Die uruguayische Diktatur hatte den Mangel an legitimitätsrelevanten demokratischen Orientierungen in den 70er Jahren noch durch wirtschaftliche Erfolge ausgleichen können. Als diese Erfolge ausblieben, ließ sich die (repressive) Stabilität des Systems nicht bewahren. Auch die Mehrheit der Unternehmer wandte sich gegen die Diktatur, und aus allen wichtigen Unternehmerverbänden, außer aus der weiterhin von der Regierung mit besonderer Bevorzugung behandelten Asociación de Bancos, wurde Anfang der 80er Jahre verstärkt Kritik an einzelnen Elementen des Entwicklungsstils bzw. seitens der Federación Rural am Regime geübt. Gewiß ist auch ein demokratisches Regime ohne Erfolge auf Dauer nicht überlebensfahig. Die uruguayische Demokratie aber war in der untersuchten Zeit von 1985 bis 1992 in der Lage, einen von der Bevölkerungsmehrheit wahrgenommenen Mangel an Effizienz bezüglich der wirtschaftlichen Erfolge durch die diffuse Zustimmung zum demokratischen System zu kompensieren. Der Entwicklungsstil der Regierung Sanguinetti hatte sich, abgesehen vom Bereich der Arbeitsbeziehungen, wo vor allem aufgrund des veränderten Regimetyps eine andere Politik implementiert wurde, nur unwesentlich vom Entwicklungsstil des Militärregimes unterschieden. Trotzdem brachte die verbreitete Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Entwicklung gegen Ende der 80er Jahre anders als in der Endphase der Diktatur keinen Legitimationsverlust des Regimes, der die MakroStabilität beeinträchtigt hätte. Die Verdrossenheit richtete sich vielmehr gegen die Regierung und führte gemäß den Spielregeln des demokratischen Wettbewerbs zu einem Regierungswechsel. Als sich schließlich unter Präsident Lacalle Veränderungen des Entwicklungsstils (Sichwort MERCOSUR) abzeichneten, die besonders für jahrzehntelang durch Protektionismus begünstigte Industrieunternehmen existenzbedrohenden Charakter anzunehmen drohten, regte sich z.T. zwar verhältnismäßig heftiger Widerstand aus der Cámara de Industrias, die Kritik

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richtete sich aber gegen einzelne Elemente des Entwicklungsstils, nicht gegen den Entwicklungsstil insgesamt. Denn dieser sollte immerhin die Unternehmer in den Mittelpunkt des Wirtschaftsgeschehens rücken, zielte also nicht im entferntesten in eine Richtung, die die Existenzberechtigung des privaten Unternehmertums grundsätzlich in Frage gestellt hätte. Die völlige Akzeptanz der demokratischen Verfahren durch alle gesellschaftspolitisch relevanten Akteure, wie sie auch im Referendum 1989 zur Menschenrechtsproblematik als dem zentralen gesellschaftspolitischen Konflikt unter der Regierung Sanguinetti zum Ausdruck kam, deutet darauf hin, daß der Legitimitätsglaube in Uruguay nicht zuletzt aufgrund der ausgeprägten demokratischen Tradition in der politischen Kultur wieder fest verankert ist, fester als in fast allen anderen Ländern des Subkontinents. Ob dies allerdings bedeutet, daß in Uruguay der Regimetyp im Kalkül der Unternehmerinteressen grundsätzlich und entscheidend gegenüber dem Entwicklungsstil an Bedeutung gewonnen hat (Demokratie als „Wert an sich"), wird im folgenden abschließend zu klären sein.6 These 5: Unternehmer und ihre Verbände tragen erst dann massiv zur Beeinträchtigung der Makrostabilität eines politischen Systems bei, wenn nach ihrer Einschätzung kalkulierbare und zu bevorzugende Systemalternativen bestehen, die realistisch sind, also in einer Koalition mit anderen Akteuren durchgesetzt werden können. These 6: Die Erfahrungen mit der Militärdiktatur haben in Uruguay dazu beigetragen, daß für die Unternehmer die Demokratie wieder zu einem „Wert an sich" geworden ist und so an Legitimität gewonnen hat, daß keine Systemalternativen in Betracht kommen, also keine Gefährdung der Makrostabilität durch die Unternehmer und ihre Interessenverbände zu erwarten ist. Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits darauf verwiesen, daß keiner der Systemwechsel im Uruguay des 20. Jahrhunderts gegen die Mehrheit der Unternehmer bzw. gegen den Widerstand aus den wichtigen Unternehmerverbänden des Landes vollzogen wurde, gleichzeitig die Unternehmerschaft aber nie eine Protagonistenrolle in dem Sinne einnahm, daß die UnternehmerverDa die Thesen 5 und 6 beide die Thematik der Systemalternative behandeln, werden sie gemeinsam diskutiert.

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bände als kollektive Akteure die maßgebende, treibende Kraft gewesen wären. Zwar unterstützten wichtige Unternehmer den Systemwechsel im Jahr 1933. Die Hauptakteure aber, die den Systemwechsel betrieben und über dieses autoritäre Intermezzo hinaus die Politik bestimmen sollten, waren die politischen Parteien bzw. die Führer von Partido Colorado und Partido Nacional. Die Unternehmer mußten damals sogar die Erfahrung machen, daß ihnen, nachdem sie bereits 1919 mit ihrem Vorhaben gescheitert waren, eine eigene politische Kraft zu etablieren, nun auch das von ihnen unterstützte autoritäre Regime nicht die Möglichkeiten bot, politische Dominanz zu erlangen. Ebensowenig zeigten sich die Unternehmer bei den beiden letzten Regimewechseln Anfang der 70er und Mitte der 80er Jahre als die Avantgarde. Erst als jeweils eine Systemalternative in Sicht kam, traten sie mit ihren Verbänden mehrheitlich so in Erscheinung, daß sie durch einen Entzug ihrer Unterstützung für das bestehende System zur Beeinträchtigung der MakroStabilität beitrugen. Dabei geschah dies mit relativ großer Zurückhaltung und durch eher vorsichtige Koalitionsbildungen mit den entscheidenden Akteuren. Der Übergang von der Demokratie zur Militärdiktatur zeichnete sich dadurch aus, daß er sich schleichend vollzog (sogenannter Putsch in Zeitlupe). Ein Zusammenspiel von wirtschaftlichem Niedergang, politischer Verkrustung, mangelnder Reformbereitschaft und -fahigkeit sowie einem internationalen Kontext, in dem das Militär als „ordnende Hand" Konjunktur hatte, führte dazu, daß sich in Uruguay trotz der demokratischen Tradition ein autoritäres Regime etablieren konnte. In diesem sich über Jahre hinziehenden Prozeß waren es im wesentlichen die beiden Regierungen unter den Präsidenten Pacheco und Bordaberry selbst, von denen die autoritären Initiativen ausgingen und die den Militärs schließlich den Weg zur Macht ebneten. Dabei gab es keine Anzeichen, daß, was denkbar wäre, Politiker oder Militärs als „Marionetten" der Unternehmer agierten. Wenngleich Pacheco mit seinem Unternehmerkabinett den Schritt zur Aufhebung der Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht vollzog, das autoritäre Regime den Interessen sehr vieler Unternehmer entgegenkam und deswegen nicht abgelehnt wurde, können die Unternehmerverbände nicht als die zentralen Organisatoren des Alternativprojekts zur demokratischen Herrschaftsordnung identifiziert werden. Der Gesamtkontext läßt vermuten, daß ohne eine maßgeblich von anderen Akteuren aufgezeigte Systemalternative die Unternehmer - egal ob aufgrund fehlenden Willens oder mangelnden Handlungspotentials - nicht diejenigen gewesen wären, die aus eigener Kraft als Gruppe konsequent und systematisch auf einen Systemwechsel hingearbeitet hätten. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern waren die

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Unternehmer in Uruguay eine Rolle als politische Protagonisten nicht gewohnt und als solche gesellschaftlich nicht akzeptiert. Zudem ließen sie keine Ambitionen erkennen, um im Alleingang das politische System auf der Makroebene zu destabilisieren. Nachdem die meisten Unternehmer der Militärdiktatur noch bis Ende der 70er Jahre großes Wohlwollen entgegengebracht hatten und fern jeglicher Kritik an den Machthabern gewesen waren, konnte in den 80er Jahren eine wachsende Unterstützung der demokratischen Herrschaftsform durch die Unternehmerschaft festgestellt werden. Zu Zeiten der Militärdiktatur war es aber lediglich die Federación Rural, die als einziger der wichtigen nationalen Unternehmerverbände offensiv für die demokratische Systemalternative eintrat. Die Unternehmerverbände entwickelten sich in der Spätphase der Transition mit Ausnahme der Asociación de Bancos zu politischen Akteuren, die die Demokratie unterstützten und keine Fortsetzung autoritärer Herrschaft propagierten. Im Sinne von These 5 trugen sie aber erneut erst dann zur Beeinträchtigung der MakroStabilität des politischen Systems bei, als sich kalkulierbare und zu bevorzugende Systemalternativen auftaten, die in einer Koalition mit anderen, diesen Prozeß dominierenden Akteuren durchgesetzt werden konnten. Die Einstellungsveränderung gegenüber dem zu bevorzugenden Regimetyp läßt sich nicht zuletzt mit den enttäuschten Erwartungen erklären, die die Militärdiktatur für viele Unternehmer brachte. Mangelnder Erfolg, unzureichende Leistung und Effizienz des Regimes führten zu einer massiven Legitimationserosion, die noch dadurch verstärkt wurde, daß die Mehrheit der Unternehmer vom politischen Prozeß ausgeschlossen war und ihnen über ihre kollektiven Interessenorganisationen keine auch nur im Ansatz institutionalisierte Möglichkeit der Einflußnahme auf politische Entscheidungen eingeräumt wurde. Die Militärdiktatur brachte über die Jahre, anders als erwartet, für viele mehr Nach- als Vorteile. Diese Erfahrungen setzten einen Lernprozeß in Gang, der die Wertschätzung für die demokratische Herrschaftsform wieder wachsen ließ. Die Rückkehr zu dem demokratischen politischen System der Vergangenheit bedeutete immerhin eine Rückkehr zu den gewohnten Mechanismen der Interessenaggregation, -artikulation und -repräsentation. Dies beinhaltete einen prinzipiellen Rückgewinn von Zugangsmöglichkeiten zu politischen Entscheidungsträgern und günstigere Bedingungen zur Einflußnahme auf staatliches Handeln. Es stellt sich die Frage, ob dieser Lernprozeß so weit ging, daß für die Unternehmer die Demokratie tatsächlich zu einem „Wert an sich" geworden ist.

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Als Alternative zur Demokratie scheiden aufgrund der gemachten Erfahrungen für die Unternehmer autoritäre Regime heute als gewünschte Herrschaftsformen aus. Dies heißt nicht, daß damit auch These 6 bestätigt wird. Denn erstens muß die Aufwertung des Regimetyps im Kalkül der Unternehmerinteressen in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Klima in den letzten Jahren der Diktatur gesehen werden, das den Unternehmern kaum eine andere Chance ließ, als sich an der politischen Destablisierung der Militärdiktatur zu beteiligen. Mit Beginn des Referendums 1980 setzte die Entwicklung ein, die in den Folgejahren die Demokratie wieder zu einer realistischen Systemalternative werden ließ und der sich die Unternehmer mit ihren Verbänden nicht verweigern konnten, wenn sie sich nicht einer gesellschaftlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung unterziehen wollten. Zwar stimmt es, daß der Systemwechsel erst vollzogen wurde, nachdem zumindest Teile der Unternehmer dem autoritären Regime die Loyalität entzogen hatten. Dies ist aber nicht damit gleichzusetzen, daß die Unternehmer im Transitionsprozeß zur Demokratie die entscheidenden Akteure waren. Eher sind sie analog ihrer gewohnten politischen Rolle als Mitläufer zu identifizieren, die sich der Entwicklung so gut es ging angepaßt haben. Zweitens wurde das Bekenntnis zur Demokratie dadurch begünstigt, daß von dem neuen, demokratisch legitimierten Regime eine Politik erwartet werden konnte, die den Basisinteressen der Unternehmerschaft entgegenkam. Mit wirtschaftspolitischen Umorientierungen zuungunsten des privaten Sektors war jedenfalls nicht zu rechnen. Nicht nur die generelle Akzeptanz einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung bei gleichzeitigem Fehlen gangbarer Alternativen muß den grundsätzlichen Interessen der Unternehmerschaft entgegengekommen sein; auch die konkreten postautoritären Entwicklungen, die im Laufe der Jahre u.a. einen Bedeutungsverlust der Gewerkschaften als gesellschaftlicher Gegenmacht und die bewußte Einbeziehung von Unternehmern in politische Prozesse seitens der Regierung brachten, schafften günstige Bedingungen, wie sie unter einem autoritären, auf Repression basierenden Regime allein schon wegen des internationalen Umfeldes nicht hätten bestehen können. Sicher war von den Unternehmern diese für sie vielversprechende Konstellation nicht unbedingt vorauszusehen gewesen. Sie hatten allerdings auch nicht damit rechnen müssen, daß sie durch den Regimewechsel zur Demokratie möglicherweise mit einer ihre wirtschaftlichen Grundlagen ernsthaft gefährdenden Bedrohungssituation konfrontiert würden. Ein unkalkulierbares Risiko wäre aus Sicht der Unternehmer wohl lediglich bei einem Wahlsieg des Frente Amplio eingetreten. Nachdem das Linksbündnis bis

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7. Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

dahin jedoch erst einmal, 1971, zu den Wahlen angetreten war und sich noch nicht als den traditionellen Parteien Partido Colorado und Partido Nacional wirklich ebenbürtige Kraft im Parteiensystem hatte etablieren können, war ein solcher Wahlsieg 1984 eher unwahrscheinlich. Und selbst wenn wider Erwarten dieser Fall eingetreten wäre, hätte es immer noch die Streitkräfte gegeben, die womöglich dann im eigenen Interesse „das Schlimmste" verhindert hätten. Die Erfahrungen mit der Militärdiktatur mögen bei vielen Unternehmern einen Lernprozeß im Sinne einer Stärkung ihres Glaubens an die Legitimität der Demokratie bewirkt haben. Dennoch erlaubt die seit 1985 eindeutig festzustellende Präferenz der Unternehmer für das demokratische politische System keine grundsätzliche Schlußfolgerung hinsichtlich eines Bedeutungszuwachses der Regimetypvariablen für das politische Verhalten der Unternehmer in der Form, daß der Regimetyp langfristig wichtiger sei als der Entwicklungsstil. Denn die Position der Demokratie als „konkurrenzlose" Herrschaftsform erfolgte in den vergangenen Jahren nicht nur in einem nationalen und internationalen Umfeld, welches kaum eine Systemalternative zur Demokratie zuließ, sondern auch unter den Vorzeichen eines den Basisinteressen der Unternehmer entsprechenden Entwicklungsstils hinsichtlich der Aufrechterhaltung einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Es war keine umfassende Bedrohung der Privatwirtschaft in Sicht, die Existenzberechtigung eines freien und privaten Unternehmertums wurde von keinem der gesellschaftspolitisch relevanten Akteure ernsthaft angezweifelt. Dies gilt auch für den Frente Amplio, der unmittelbar nach der Diktatur von vielen Unternehmern noch als klarer Bedrohungsfaktor wahrgenommen worden war. 7 Mit Blick auf den Entwicklungsstil begannen zwar unter Präsident Lacalle sich einzelne Elemente zu verändern, und besonders die Außenöffnung im Rahmen des Integrationsprozesses stellte für nicht wenige Industriebetriebe eine große Gefahr dar; dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Veränderungen im Entwicklungsstil, wie dargestellt, eine klare Aufwertung der Unternehmer als Wirt7

Die Überzeugung, daß vom Frente Amplio keine substantielle Gefährdung unternehmerischer Interessen mehr ausgeht, ist von Unternehmern und Verbandsrepräsentanten immer wieder in den vor Ort geführten Interviews vertreten worden, auf die im Verlauf der Arbeit mehrfach Bezug genommen wurde. Ein Grund für diesen Wahmehmungswandel ist darin zu sehen, daß fuhrende Politiker des Frente Amplio in den Jahren nach der Diktatur von klassenkämpferischen Parolen der Vergangenheit immer mehr Abstand genommen und den Dialog mit der Privatwirtschaft gesucht haben. Noch wichtiger dürfte für viele Unternehmer die Erfahrung gewesen sein, daß sie nach dem Wahlsieg des Frente Amplio in Montevideo 1989, als die Partei erstmals überhaupt - zwar nicht auf nationaler Ebene, aber immerhin in der Hauptstadt - Regierungs verantwortung übernahm, mit der neuen linken Stadtregierung und einem sozialistischen Bürgermeister an deren Spitze durchaus leben konnten.

Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

309

schaftsakteure implizierten, die deren strukturelle Privilegierung im Prinzip verstärkte. Ob für die Unternehmer die Demokratie tatsächlich zu einem fest verankerten „Wert an sich" geworden ist, kann sich erst in einer Situation zeigen, in der der Entwicklungsstil ihre Basisinteressen wirklich gefährdet und gleichzeitig eine Systemalternative möglich erscheint. Wenn dann ihre Präferenz für das demokratische politische System und ein entsprechendes loyales Verhalten fortbestehen würden, hätte sich These 6 bestätigt. Da eine solche Situation bislang nicht existierte, entbehren Projektionen in dem Sinne, daß in der Zukunft die Unternehmer die Demokratie immer dem Autoritarismus vorziehen und dementsprechend die Unternehmerverbände als kollektive Akteure sich dem demokratischen Regime gegenüber konsequent loyal verhalten würden, einer gesicherten Grundlage. Als Bestandsaufnahme kann hingegen immerhin festgestellt werden, daß demokratische Verfahren allgemein akzeptiert werden und weder autoritäre Tendenzen in den Reihen der Unternehmerschaft noch Akteure, die auf eine Systemalternative hinarbeiten, erkennbar sind. Dabei erscheint die Ergänzung wichtig, daß der Einsatz der Unternehmer für ihre eigenen Ziele zunächst weder illegitim noch undemokratisch ist, sondern dem Bestreben einer jeden Gruppe in einer pluralistischen Gesellschaft entspricht. Die demokratierelevante Frage ist, mit welchen Mitteln versucht wird, die eigenen Interessen umzusetzen. Hier kommt es nun auch darauf an, inwieweit die Regierung den Unternehmern Möglichkeiten gewährt, ihren Interessen auf demokratischem Weg im politischen Prozeß Geltung zu verschaffen. 8 Dies ist eine der zentralen, weiterführenden Fragestellungen für die zukünftige Forschung zur hier behandelten Thematik. Die Ergebnisse der Analyse von 1985 bis 1992 weisen auf eine umfassende Akzeptanz demokratischer Verfahren durch die Unternehmer hin. Darüber hinaus haben die Unternehmer in Uruguay anders als in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern auch weitgehend auf Maßnahmen verzichtet, die den demokratischen Spielregeln zwar nicht unbedingt widersprechen, die aber den Auf diesen Zusammenhang haben Leigh A. Payne und Ernest Barteil in einer kürzlich erschienenen Untersuchung zum Verhältnis von Unternehmern und Staat in sechs lateinamerikanischen Ländern (Argentinien, Chile, Bolivien, Peru, Mexiko und Brasilien) zusammenfassend noch einmal hingewiesen: „If the private sector is to contribute to democratic stability, however, it must represent its interests fairly and equitably, according to social norms. This means that business must enjoy regular access to policy determination and administration without contending with the weight of antibusiness sentiments in government; by the same token, business interests must refrain from cultivating irregular, preferential, and corrupt relations with government." (Payne/ Bartell 1995: 283.)

310

7. Zusammenfassung, Diskussion der Thesen und Fazit

Erfolg, die Leistung und die Effizienz eines Regimes beeinträchtigen und damit zur politischen Destabilisierung beitragen können (z.B. Investitionsverweigerung, Kapitalflucht, Produktionsverlagerung ins Ausland, Entlassungen, Anheizen der Inflation durch Preissteigerungen).9 Insofern erscheint bezüglich der zukünftigen Ausgestaltung der politischen Rolle der Unternehmer und ihrer Verbände hinsichtlich ihres Beitrages zur Stabilität der Demokratie vorsichtiger Optimismus, wie er von Charles Guy Gillespie und Luis Eduardo González, ihres Zeichens zwei der international profundesten Uruguay-Experten, Ende der 80er Jahre geäußert wurde, angebracht: „A major revalorization of democracy as a necessary component of civilized life has taken place on all sides. Little else has changed in Uruguay, except for experience; but that may be enough." 10

"

10

Unter den beiden postautoritären Regierungen war es noch am ehesten der „Streik" von Viehzüchtern aus dem Norden des Landes im September 1992, der in eine solche Richtung zielte; der Erfolg blieb aber bescheiden, und der Maßnahme wurde von eigentlich unternehmerfreundlichen Medien z.T. mit Unverständnis, ja sogar Häme begegnet. Gillespie/Gonzälez 1989: 239.

Statistischer Anhang: Makroökonomische Eckdaten und Angaben zur politischen Entwicklung

Statistischer Anhang

312

Tabelle 9: Bruttoinlandsprodukt 1968-1992 Variation (in %) 1968 -1972* 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 *

pro Kopf (in US-Dollar)

1,6 0,4 3,1 5,9 4,0 1,2 5,3 6,2 6,0 1,9 -9,4 -5,0 -1,1 1,5 8,9 7,9 0,0 1,3 0,9 3,2 7,7

durchschnittliche jährliche Variation Quellen: zu 1968-1983 Hopenhaym/Terra 1986: 54; zu 1984-1992 Búsqueda N° 787 vom 6.4.1995.

Graphik 22: Bruttoinlandsprodukt 1968-1992 ( Variation in %)

•72

Quelle'. Angaben in Tabelle 9.

1.255 1.597 1.937 2.409 2.478 2.598 2.700 3.226 3.730

313

Makroökonomische Eckdaten und Angaben zur politischen Entwicklung

Tabelle 10: Entwicklung von Preisen und Löhnen 1968-1992 (jährliche Variation in %)

Inflationsrate 1968 -1972* 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 *

53 97 77 81 51 58 45 67 64 34 19 52 66 83 71 57 69 89 129 81 59

Gesamt

Reallohnentwicklung Privat Öffentlich

-3,3 -1,7 -0,9 -8,8 -5,9 -11,9 -3,5 -8,2 -0,2 7,4 -0,4 -20,7 -9,1 14,1 6,7 4,7 1,5 -0,4 -7,3 3,8 2,2











































-19,7 -5,0 14,9 7,3 7,9 2,2 1,9 -6,0 6,1 4,0



-21,6 -12,9 14,1 3,7 0,5 0,5 -3,6 -9,2 0,3 -0,7

durchschnittliche jährliche Variation Quellen: zu 1968-1982 Hopenhaym/Terra 1986: 54; zu 1983-1986 Búsqueda N° 483 vom 5.3.1989; zu 1987-1992 BúsquedaN° 787 vom 6.4.1995.

Graphik 23: Inflationsrate und Reallohnentwicklung 1968-1992 ( Variation in %)

140

-40

68- '73 '74 75 '76 '77 '78 '79 '80 -81 '82 '83 '84 '85 '86 '87 '88 '8» '90 '91 '92 '72 t—Inflationsrate

—•—Reallohnentwicklung

Quelle: Angaben in Tabelle 10.

314

Statistischer Anhang

Tabelle 11: Handelsbilanz 1973-1992 (in Millionen US-Dollar)

1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992

Exporte

Importe

Saldo

322 382 384 547 607 686 788 1.059 1.215 1.023 1.045 925 854 1.088 1.182 1.405 1.599 1.693 1.605 1.703

285 487 557 587 730 757 1.206 1.680 1.641 1.110 788 776 708 870 1.142 1.177 1.203 1.343 1.637 2.045

37 -105 -173 -40 -123 -71 -418 -621 -426 -87 257 149 146 218 40 228 396 350 -32 -342

Quellen-, zu 1973-1984 Hopenhaym/Terra 1986: 58; zu 1985-1992: BüsquedaN 0 787 vom 6.4.1995.

Graphik 24: Handelsbilanz 1973-1992 (in Millionen US-Dollar)

2500 T

-1000

'73 '74 '75 '76 '77 '78 '79 '80 '81 '82 '83 '84 '85 '86 '87 '88 '89 '90 '91 '92 I — I Exporte • •

Importe —4—Saldo

Quelle: Angaben in Tabelle 11.

Makroökonomische Eckdaten und Angaben zur politischen Entwicklung

315

Tabelle 12: Privatkonsum pro Kopf 1970-1989 1970-80 1,6

1980-85 -7,3

1981 -3,0

(jährliche Variation in %) 1982 1985 1986 -15,0 -1,5 12,4 Quelle: CEPAL 1991: 46.

1987 13,1

Graphik 25: Privatkonsum pro Kopf 1970-1989 (jährliche Variation in %)

1980

1985

Quelle: Angaben in Tabelle 12.

1988 -2,4

1989 1,3

Statistischer Anhang

316

Tabelle 13: Auslandsverschuldung 1955-1992 (in Millionen US-Dollar)

A. brutto (1) 1955 1960 1965 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992

181,1 286,7 480,8 564,5 647,2 771,2 717,9 956,1 1.034,8 1.139,5 1.320,0 1.239,5 1.682,4 2.152,7 3.129,3 4.237,8 4.571,9 4.664,4 4.900,1 5.238,7 5.887,5 6.330,5 6.993,6 7.382,6 7.166,5 7.697,0

Internationale Reserven* (2) A. netto (3)=(l)-(2) 245,4 236,9 222,0 194,2 198,0 377,6 533,8 802,8 606,6 715,9 1.089,1 1.323,8 2.677,4 3.074,0 2.662,2 2.447,5 2.048,5 1.700,0 1.989,0 2.607,3 3.099,7 3.164,7 3.749,0 4.449,2 4.729,1 5.271,0

-64,3 49,8 258,8 370,3 449,2 393,6 184,1 153,3 428,2 423,6 230,9 -84,3 -995,0 -921,3 467,1 1.790,3 2.523,4 2.964,4 2.911,1 2.631,4 2.787,8 3.165,8 3.244,6 2.933,4 2.437,4 2.426,0

Erklärung: A. = Auslandsschulden Hierbei handelt es sich um Reserven in Gold und Devisen. Quellen: zu 1955-1988 Astori 1989a: 17; zu 1989-1992 z.T. eigene Berechnungen aufgrund der Angaben in Petrissans Aguilar 1993: 177.

Makroökonomische Eckdaten und Angaben zur politischen Entwicklung

Graphik 26: Entwicklung der Auslandsverschuldung 1955-1992 (in Millionen

US-Dollar)

8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000

0 -1000 55 60 65 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 • Brutto-Auslandsverschuldung • Reserven in Gold und Devisen • Netto-AuslandsVerschuldung

Quelle: Angaben in Tabelle 13.

317

Statistischer Anhang

318

Tabelle 14: Nationale Wahlen: Ergebnisse 1926-1994 (in %)

Wahljahr

Partido Colorado

Partido Nacional

1926 1930 1938 1942 1946 1950 1954 1958 1962 1966 1971 1984 1989 1994

49,0 52,0 61,4 57,2 47,8 52,6 50,6 37,7 44,5 49,4 41,0 41,2 30,3 32,3

48,4 47,3 32,1 34,5* 41,8* 38,5* 38,9* 49,7 46,5 40,4 40,2 35,0 38,9 31,2

Frente Amplio — — — — — — — — —

18,3 21,3 21,2 30,6

andere 2,6 0,7 6,5 8,3 10,4 8,9 10,5 12,6 9,0 10,2 0,5 2,5 9,6 5,9

Erläuterung:

1926-1950 Präsidentschaftswahlen 1954-1962 Wahlen zum Colegiado 1966-1994 Präsidentschaftswahlen * Gesamtergebnis von Partido Nacional und Partido Nacional Independiente Quellen-, Mieres 1988; Rial/Klaczko 1989; Venturini 1989; Brecha N° 221 vom 23.2.1990; Wagner 1991: 185; Búsqueda N° 779 vom 9.2.1995; Bodemer 1995: 150/151.

Graphik 27: Entwicklung der nationalen Wahlergebnisse 1926-1994 (in %)

Partido Colorado

U

Partido Nacional — A — F r e n t e Amplio

Quellen: Angaben in Tabelle 14.

Makroökonomische Eckdaten und Angaben zur politischen Entwicklung

319

Tabelle 15: Präsidenten im 20. Jahrhundert Regierungsperiode 1897-1903 1903-1907 1907-1911 1911-1915 1915-1919 1919-1923 1923-1927 1927-1931 1931-1933 1933-1938 1938-1943 1943-1947 1947 1947-1951 1951-1952 1952-1966 1967 1967-1972 1972-1976 1976 1976-1981 1981-1985 1985 1985-1990 1990-1995 1995Erläuterung:

Präsident

Parteizugehörigkeit

Juan Lindolfo Cuestas (Partido Colorado) José Batlle y Ordóñez (Partido Colorado) Claudio Williman (Partido Colorado) José Batlle y Ordóñez (Partido Colorado) Feliciano Viera (Partido Colorado) Baltasar Brum (Partido Colorado) José Serrato (Partido Colorado) Juan Campisteguy (Partido Colorado) Gabriel Terra (Partido Colorado) Gabriel Terra (Partido Colorado) Alfredo Baldomir (Partido Colorado) Juan José de Amézaga (Partido Colorado) Tomás Berreta (Partido Colorado) Luis Batlle Berres (Partido Colorado) Andrés Martínez Trueba (Partido Colorado) Consejo Nacional de Gobierno Oscar D. Gestido (Partido Colorado) Jorge Pacheco Areco (Partido Colorado) Juan María Bordaberry (Partido Colorado) Alberto Demichelli Aparicio Méndez Gregorio C. Alvarez Rafael Addiego Julio María Sanguinetti (Partido Colorado) Luis Alberto Lacalle (Partido Nacional) Julio María Sanguinetti (Partido Colorado)

Präsident des Consejo Nacional de Gobierno war von 1952-1955 Andrés Martínez Trueba; danach wechselten die Amtsinhaber jährlich. Quellen: Rial/Klaczko 1989: 124; Calvert/Calvert 1990: 217/218; La Mañana vom 26.11.1989 sowie eigene Aufzeichnungen.

Literaturverzeichnis

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