198 42 18MB
German Pages 269 [284] Year 2019
von Roemeling-Kruthaup Politik, Wirtschaft und Geschichte Lateinamerikas in der bundesdeutschen Presse
Editionen der Iberoamericana Reihe III Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 38
Susanne von Roemeling-Kruthaup
Politik, Wirtschaft und Geschichte Lateinamerikas in der bundesdeutschen Presse Eine Inhaltsanalyse der Quantität und Qualität von Hintergrundberichterstattung in überregionalen Qualitätszeitungen am Beispiel der Krisengebiete Brasilien, Chile, Mexiko und Nicaragua
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1991
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek von Roemeling-Kruthaup, Susanne: Politik, Wirtschaft und Geschichte Lateinamerikas in der bundesdeutschen Presse: eine Inhaltsanalyse der Quantität und Qualität von Hintergrundberichterstattung in überregionalen Qualitätszeitungen am Beispiel der Krisengebiete Brasilien, Chile, Mexiko und Nicaragua (Editionen der Iberoamericana : Reihe 3, Monographien und Aufsätze ; Bd. 38) ISBN 3-89354-838-6 NE: Editionen der Iberoamericana / 03
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1991 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany
"Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen Als ein Oespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker auf einander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; Dann kehrt man abends froh nach Haus Und segnet Fried und Friedenszeiten." "Herr Nachbar, ja! so laß ichs auch geschehn: Sie mögen sich die Köpfe spalten, Mag alles durch einander gehn; Doch nur zu Hause bleibs beim alten." Gespräch zweier Bürger VOR D E M TOR in: JOHANN WOLFGANG GOETHE - FAUST I
VII
INHALTSVERZEICHNIS Seite VORWORT
XI
1. EINFÜHRUNG
1
1.1 Die Problematik internationaler Kommunikation: Der Vorwurf des "Kulturimperialismus*
1
1.2 Das Fremdverstehen in der interkulturellen Kommunikation
4
1.3 Funktion von Journalismus, insbesondere von Auslandsberichterstattung, und journalistisches Selbstverständnis
7
1.4 Journalistische Leistung zwischen Anspruch und Wirklichkeit - Empirische Befunde zur Auslandsberichterstattung bundesdeutscher Medien
13
1.5 Bewertung der Forschungslage zur Auslandsberichterstattung
18
2. STRUKTURPRAGENDE UND QUALITATSMINDERNDE FAKTOREN IM ENTSTEHUNGSPROZESS VON AUSLANDSBERICHTERSTATTUNG
25
2.1 Journalisten zwischen Theorie und Praxis: ein gestörtes Verhältnis und seine Folgen
25
2.1.1 Journalisten und ihr Publikum: stereotypes Bild vom Adressaten
27
2.1.2 Mißverständnis zentraler Begriffe der journalistischen Ethik, dargestellt am Beispiel des journalistischen Objektivitätsgebots
29
2.2 Fragwürdige Auswahlkriterien für Auslandskorrespondenten: unzureichende Sprach- und Landeskenntnisse und ihre Folgen
31
2.3 Auslandskorrespondenten zwischen Arbeitsbedingungen im Gastland und Ansprüchen ihrer Mutterhäuser: ein Konflikt und seine Folgen
36
2.4 Die Redaktion als Tatort: der Zwang zur Selektion von Nachrichten und die Kriterien der Nachrichtenauswahl
40
2.4.1 Die redaktionelle Orientierung an Nachrichtenwerten
42
2.4.2 Der redaktionelle Umgang mit der Akualität. Zur Klärung eines Begriffs
46
2.4.3 Besondere Auswirkungen der Selektionskonventionen auf die Auslandsberichterstattung. Die Rolle der Nachrichtenagenturen
47
2.4.4 Die Handhabung von Kriterien der Nachrichtenselektion aus internationaler Sicht. Bestimmung des Einflusses von Nachrichtenagenturen
51
2.5 Zusammenfassung 3. UNBEANWORTETE FRAGEN UND EIN PROZESSORIENTIERTOPERATIVER FORSCHUNGSANSATZ
54 61
3.1 Untersuchungsmethode
65
3.2 Krisenberichterstattung und Hintergrundinformation: Auswahl der für eine Untersuchung geeigneten Berichtsländer
66
Vili 3.3 Das Untersuchungsmaterial: Auswahl der auf Auslands- und Hintergrundberichterstattung spezialisierten Medien
70
3.4 Untersuchungszeitraum und Untersuchungstechnik
79
3.5 Die Untersuchungskategorien
83
4. QUANTITATIVE UND QUALITATIVE TEXTANALYSE 4.1 Lateinamerika-Berichterstattung der SODDEUTSCHEN ZEITUNG 4.1.1
Länderverteilung und Thematisierung
98 98 98
4.1.2 Plazierung
101
4.1.3 Verfasser und Berichtsort
101
4.1.4 Textgattung
103
4.1.5
105
Darstellung eines Sachverhalts
4.1.6 Krisenursache
110
4.1.7 Zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation, Zweck und Umfang des Geschichtsbezugs
112
4.1.8 Deutschland-Bezug
115
4.1.9 Handlungsaufforderung
116
4.1.10 Zusammenfassung
118
4.2 Lateinamerika-Berichterstattung der WELT 4.2.1
Länderverteilung und Thematisierung
119 119
4.2.2 Plazierung
123
4.2.3 Verfasser und Berichtsort
123
4.2.4 Textgattung
125
4.2.5 Darstellung eines Sachverhalts
126
4.2.6 Krisenursache
129
4.2.7 Zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation, Zweck und Umfang des Geschichtsbezugs
130
4.2.8 Deutschland-Bezug
132
4.2.9 Handlungsaufforderung
134
4.2.10 Zusammenfassung 4.3 Lateinamerika-Berichterstattung der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG
136 139
4.3.1 Länderverteilung und Thematisierung
139
4.3.2 Plazierung
143
4.3.3 Verfasser und Berichtsort
144
4.3.4 Textgattung
145
4.3.5
147
Darstellung eines Sachverhalts
4.3.6 Krisenursache
150
IX 4.3.7 Zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation, Zweck und Umfang des Qeschichtsbezugs
151
4.3.8 Deutschland-Bezug
155
4.3.9 Handlungsaufforderung
158
4.3.10 Zusammenfassung 4.4 Lateinamerika-Berichterstattung der ZEIT 4.4.1
Länderverteilung und Thematisierung
160 163 163
4.4.2 Plazierung
166
4.4.3 Verfasser und Berichtsort
167
4.4.4 Textgattung
169
4.4.5 Darstellung eines Sachverhalts
171
4.4.6 Krisenursache
1 79
4.4.7 Zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation, Zweck und Umfang des Geschichtsbezugs
180
4.4.8 Deutschland-Bezug
186
4.4.9
191
Handlungsaufforderung
4.4.10 Zusammenfassung
195
5. SCHLUSSBETRACHTUNG
198
ANHANG A1 SODDEUTSCHE ZEITUNG: Lateinamerika-Berichterstatter
205
und Textbeispiele
205
A2
DIE WELT: Lateinamerika-Berichterstatter und Textbeispiele
211
A3
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG: LateinamerikaBerichterstatter und Textbeispiele
230
A4
DIE ZEIT: Lateinamerika-Berichterstatter und Textbeispiele
241
LITERATURVERZEICHNIS
253
XI VORWORT
In einer Zeit wachsender internationaler Verflechtung und wechselseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit auch zwischen räumlich weit voneinander entfernten Regionen ist das Wissen um Zustände und Entwicklungen im Ausland, ist eine erfolgreiche Kommunikation mit fremden Nationen lebenswichtig. Wurden in früheren Gesellschaftsformen Ereignisse im lokalen Umfeld erlebt und aus dem lokalen Lebenszusammenhang erklärt, so ist der Bürger heute auf Mittler angewiesen, die für ihn die Ereignishaftigkeit und Komplexität der Nah- und Femwelt durch Informationsauswahl überschaubar machen und durch Analyse der Ereigniszusammenhänge Orientierungshilfe anbieten - Orientierungshilfe, die besonders dann erforderlich ist, wenn es sich um krisenhafte Entwicklungen handelt. Das System der Massenmedien lebt von diesen kommunikativen Bedürfnissen, die der Oesellschaft mit zunehmender Spezialisierung und internationaler Vernetzung erwachsen. Die Medien setzen im allgemeinen ihren ganzen Ehrgeiz daran, ihre Rezipienten so rasch wie möglich selbst über Vorgänge "in der hintersten Türkei" in Kenntnis zu setzen, um ihnen so ein annähernd gleichzeitiges Erleben von Ereignissen als Service zu bieten. Technische Ubermittlungsmöglichkeiten, die zunehmend perfekter und schneller werden, verschärfen diesen Trend. Aber vermag das tägliche Angebot neuester Neuigkeiten dem Orientierungsbedürfhis des Bürgers Rechnung zu tragen? Entspricht es der gesellschaftlichen Mittlerfunktion des Journalismus? Besonders mit ihrer Berichterstattung über Krisengebiete können Medien Aktionen auslösen und Handlungsrichtungen beeinflussen - dies umso wirkungsvoller, wenn sie Meinungsführer und Entscheidungsträger erreichen. Ist das Informationsangebot wenig oder gar nicht zusammenhang-stiftend, bleiben die Rezipienten - wenn auch im Gefühl, auf dem Laufenden zu sein - verständnislos. Krisenberichte dienen dann lediglich der Befriedigung eines Sensationshungers oder zur Abgrenzung gegenüber Fremdkulturen. Die Folgen einer Verständnislosigkeit können vielfältig sein. Sie können sich in einem breiten Desinteresse an außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Vorgängen manifestieren, sie können sich aber auch in emotionsgeladenen Reaktionen äußern - je nach Ideologie in heftiger Ablehnung oder Parteinahme. Die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Probleme vieler Entwicklungsländer bzw. Fernregionen, die hierzulande regelmäßig Schlagzeilen machen, sind oftmals Ergebnisse historischer Prozesse und dauerhafter Strukturen, also nicht allein auf gegenwärtige politische und wirtschaftliche Maßnahmen zurückzuführen. Solches Hintergrundwissen ist Voraussetzung für die Fähigkeit, aktuelle Nachrichten richtig einzuordnen. Die tagesaktuelle, punktuelle Ereignisberichterstattung muß also kontinuierlich von einer Hinter-
XII
grundberichterstattung begleitet werden, die aktuelle Vorgänge weder in kausaler noch in temporaler Hinsicht isoliert betrachtet, sondern gegebenenfalls die dazugehörigen Prozesse und Strukturen aufzeigt. Historische Aufklärung und Argumentation können zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme beitragen, indem sie dort, wo Handlungsbedarf besteht, eine sachgerechte Analyse von Zusammenhängen ermöglicht und übereilte, den Gegebenheiten unangemessene Reaktionen verhindert. Die vorliegende Arbeit stellt sich die Aufgabe, die Quantität und Qualität von Hintergrundberichterstattung bundesdeutscher
Medien über
Krisengebiete
auf die
zuvor
genannten Aspekte hin zu untersuchen. Als Beispiele für krisengeschüttelte Länder wurden BRASILIEN, CHILE, M E X I K O und N I C A R A G U A stellvertretend für die Region Lateinamerika ausgewählt. Als geeignetes Untersuchungsmaterial wurden die als bundesdeutsche Qualitätszeitungen anerkannten überregionalen Medien F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E ZEITUNG, SUDDEUTSCHE ZEITUNG, DIE W E L T und DIE ZEIT herangezogen
-
Medien, die im Vergleich zu anderen Medien den größten Anteil an Auslands- und Hintergrundberichterstattung aufweisen. Kernfrage der ein Jahr umfassenden Analyse ist, ob die sogenannte Qualitätspresse eine ausreichende und kontinuierliche Strukturanalyse der aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika bietet.
Der Inhaltsanalyse (Kapitel 3 - 5 ) vorangestellt ist eine Auseinandersetzung mit dem seit Jahren auf internationaler Ebene heftig diskutierten Vorwurf vieler Staaten, insbesondere Entwicklungsländer, einer wirklichkeitsverzerrenden Berichterstattungspraxis
durch
die
Medien westlicher Industrienationen, in dessen Folge eine ganze Reihe von Publikationen über die Dritte-Welt-Berichterstattung in westlichen bzw. bundesdeutschen Medien erschienen ist. Es ist Aufgabe dieses
Teils
(Kapitel
1 -
2), die
Vielfältigkeit
der
strukturprägenden Faktoren in der Auslandsberichterstattung, die von den Kritikern der Nachrichtenpraxis zuwenig berücksichtigt wurde, für die Medien der Bundesrepublik darzustellen und zu bewerten. So sollen die Erkenntnisse der Fremdverstehens- und Nachrichtenwertforschung ebenso berücksichtigt werden wie die journalistische Ausbildung und die Problematik der Nachrichtengewinnung im Ausland. Auf diese Weise soll aufgezeigt werden, wo die Medien ihren gesellschaftlichen Funktionen und ihrem daraus resultierenden Selbstverständnis gerecht bzw. nicht gerecht werden, wo also die Medienkritik greift, wo sie überzogen oder gar unangebracht erscheint.
Susanne von Roemeling-Kruthaup
1 1. EINFÜHRUNG 1.1
Die Problematik internationaler Kommunikation: Der Vorwurf des "Kulturimperialismus*
Uber Zerrbilder im Nachrichten- und Informationsaustausch ist in den vergangenen Jahren auf internationaler Ebene, innerhalb der UNESCO, intensiv und kontrovers diskutiert worden. 1 "Kulturimperialismus" werfen viele Entwicklungsländer den reichen Industrienationen des Westens vor, die mit ihren Nachrichtenagenturen im internationalen Nachrichtenaustausch
dominieren. So kritisiert der im Auftrag der UNESCO erarbeitete und
1980 vorgelegte MacBride-Bericht die von den "westlichen" Massenmedien üblicherweise bevorzugten Selektionskriterien, nach denen Nachrichten gesammelt und veröffentlicht werden.2 Die absatzorientierten Selektionskriterien projizierten Aspekte in die Ereignisse hinein, die die Wirklichkeit verdrehten: "In diesem Prozeß werden die soziale Natur der Vorkommnisse und ihre eigentliche Bedeutung, die sich aus dem geschichtlichen und kulturellen Hintergrund ergeben, vollständig aus den Augen verloren, so daß sich eine Botschaft ergibt, die in keinem wirklichen Zusammenhang steht und deren Inhalt durch die 'Logik' des Marktes bestimmt wird." 3 Die Entwicklungsländer bemängeln in erster Linie das Nord-Süd-Gefalle im internationalen Informationsfluß. Sie sehen sich überflutet von den Informationen und Programmen der großen westlichen Nachrichtenagenturen United Press International (UPI), Associated Press (AP), Reuter und Agence France Press (AFP).
1
Vgl. RICHARD DILL: Gehört die UNESCO abgeschafft? Zum Streit um die Neuen Weltordnungen. In: Publizistik 3-4/1984, 29. Jg., S. 262 ff. - RICHARD DILL: Zwischen Freiheit und Gleichgewicht. In: Die Vereinten Nationen und die Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung. Sonderdruck aus der Zeitschrift "Vereinte Nationen", Nr. 6/1983. Hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN). O.S. - JÖRG BECKER: Free Flow of Information. Informationen zur neuen Internationalen Informationsordnung. Frankfurt 1979. NINA GRUNENBERG: Schlachten um das Weltgewissen. In: Die Zeit Nr. 51 vom 14. Dezember 1984. Politik, S. 9.
2
Viele Stimmen - Eine Welt. Kommunikation und Gesellschaft - Heute und Morgen. Bericht der Internationalen Kommission zum Studium der Kommunikationsprobleme unter dem Vorsitz von Sean MacBride an die UNESCO. Konstanz 1981, S. 204.
3
JUAN SOMAVIA: Die transnationalen Machtstrukturen und das internationale Informationswesen. Überlegungen zu einer Politik der Dritten Welt gegenüber den Nachrichtenagenturen. In: Neue Entwicklungspolitik 5/1979, S. 16. - SOMAVIA ist Mitglied der MacBride-Kommission.
2
Da diese - so der Vorwurf - weniger Hintergrundinformationen verbreiteten als ereignisund sensationsbetonte Nachrichten, trügen sie massiv zu verzerrten Nationenbildern bei - auch in den betroffenen Ländern selbst. Gleichzeitig fürchten die Staaten der Dritten Welt eine Entfremdung von der eigenen Kultur durch die intensive mediale Verbreitung westlichen Lebensstils. Parallel zur Debatte um eine Verbesserung der internationalen Kommunikation ist das Ausmaß der wirtschaftlichen Verschuldung der Entwicklungsländer, vor allem in Lateinamerika,4 sowie seine politischen und wirtschaftlichen Implikationen
9
verstärkt zu einem
Thema von großem Nachrichtenwert geworden. Dank der intensiven Behandlung dieses Themenkomplexes in den Medien wurde spätestens mit Ausbruch der Verschuldungskrise im Jahr 1982 auch hierzulande der Allgemeinheit ersichtlich, wie sehr das Wohl der westlichen, so auch der deutschen Wirtschaft mit dem wirtschaftlichen Befinden lateinamerikanischer Staaten verflochten ist. Viele krisengeschüttelte Regionen der Dritten Welt erwecken hierzulande unser Engagement auf staatlicher und substaatlicher Ebene, ob es nun um Umschuldungen, Investitionen oder Beratungen, um Hilfsaktionen und Spenden oder Boykottmaßnahmen geht. So hat beispielsweise Nicaragua seit der sandinistischen Revolution 1979 mehr und mehr Aufmerksamkeit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit gefunden, die in Solidaritätskundgebungen, Verkaufsaktionen und Aufbauhilfen ihren Ausdruck fand. Da sich hier vor allem Bürger und Politiker engagieren, die der US-amerikanischen Außenpolitik betont kritisch gegenüberstehen, wird Nicaragua von denjenigen, die die Politik der Bündnispartner für voll gerechtfertigt halten, negativ gesehen. Beide Gruppen haben sich - zumeist über Sekundärinformationen - ihr Bild von den Verhältnissen in Nicaragua gemacht: Nicaragua4
Unter hoher Auslandsverschuldung leiden besonders Brasilien und Mexiko, die zu den mit Abstand am höchsten verschuldeten Entwicklungsländern gehören. Siehe dazu DEUTSCH-SÜDAMERIKANISCHE BANK: Kurzbericht über Lateinamerika, Stand Februar 1985 (Nr. 1/85), S. 34 und S. 88.
5
Um einer sich anbahnenden Weltwirtschaftskrise entgegenzuwirken, entschlossen sich die Gläubigerbanken - unter ihnen alle international tätigen deutschen Banken - zu einer vom Umfang her bisher nicht dagewesenen Verschiebung der ausstehenden Kapitalfälligkeiten. Gleichzeitig wurden Kredite vom Internationalen Währungsfonds mit wirtschaftspolitischen Auflagen wie Bekämpfung der Inflation, drastische Kürzung von Staatsausgaben, Importbeschränkung und vermehrte Exporte verbunden, die bald in den Verdacht gerieten, zu politischen Instabilitäten in den Entwicklungsländern beizutragen und sie damit immer mehr an den Rand des Abgrunds zu drücken. - Vgl. CHRISTOPH BERTRAM: Wann stürzt das Kartenhaus ein? Die Schuldenbombe: Anstoß für ein besseres Nord-Süd-Verhältnis. In: Die Zeit Nr. 30 vom 30. Juli 1984, S. 1. - MARTY MERTZ/GERHARD STOLTENBERG u.a.: Is There A World Debt Crisis? In: World 2/1984, S. 16 ff.
3 Bilder, die sich widersprechen. Aber welches Bild, auf dem Entscheidungen fußen, trifft zu?« Die eingangs beschriebene Kritik der Entwicklungsländer stellt auch für die Oesellschaft der Bundesrepublik eine Herausforderung dar, die Qualität ihres Bildes von diesen Nationen zu überprüfen und das daraus resultierende Verhältnis zueinander kritisch zu durchleuchten. Denn es wäre verhängnisvoll, wenn in Unkenntnis der grundlegenden historischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten unser Verhalten gegenüber diesen Staaten zu dauerhaften Schäden oder zu Instabilitäten führte. Ebenso wäre von Übel, wenn unser Engagement lediglich aus einer ideologisch motivierten Haltung heraus zu entgegengerichteten Hilfsaktionen führte, und diese Länder zum Schauplatz unserer politischen Konkurrenzkämpfe degradiert würden. 7 Um krisengeschüttelten Regionen wirkungsvoll helfen zu können, ist es deshalb nötig, daß die Allgemeinheit der Bundesbürger und ihre Vertreter in allen gesellschaftlichen Gruppierungen die historischpolitischen Prozesse, die zur gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur in diesen Ländern führten, verstehen und die kulturellen Entwicklungen und Eigenheiten begreifen. Auf diesem Wissen sollten bundesdeutsche Aktionen aufbauen und miteinander abgestimmt werden. Diese Forderung wirft freilich die Frage auf, ob eine entsprechende Informationslage in der Bundesrepublik gegeben ist, die die Voraussetzungen für eine internationale Verständigung schaffen kann. Auftretende Verständigungsschwierigkeiten allein auf die Arbeitspraxis westlicher Nachrichtenagenturen und die in der Informationsvermittlung gängige
6
Das Dilemma einer solchen Schwarz-Weiß-Sicht macht RUPERT NEUDECK deutlich. Er stellt die Dauerhaftigkeit und den Nutzen des Engagements für den mittelamerikanischen Staat in Frage aufgrund der Haltung vieler begeisterter Anhänger des sandinistischen Nicaragua, die herrschenden Verhältnisse dort nur einseitig zu sehen und grundsätzlich alles zu verwerfen, was aus den USA an Informationen zu uns herüber kommt: "Ich sehe und bewundere nur von Ferne das überanstrengte Engagement und den Sandino-Enthusiasmus derer, die sich jetzt 150prozentig in Nicaragua einsetzen. Ich bin sehr besorgt um diesen Einsatzwillen und fürchte, daß er nicht langfristig und mit vollem, langanhaltenden Atem vor sich geht. Sonst wäre man abseits von Werbung der jetzt dort Tonangebenden wirklich mehr um das Volk besorgt." - RUPERT NEUDECK: Von Engagement und Eigennutz. Das Interesse an Nicaragua. In: medium 11 + 12 / 1985, 15. Jg., S. 29.
7
Zur mangelnden Abstimmung staatlichen und substaatlichen Handelns vgl. ARBEITSGEMEINSCHAFT DEUTSCHE LATEINAMERIKA-FORSCHUNG (ADLAF): Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Lateinamerika: Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Hrsg. vom Forschungsinstitut Friedrich Ebert Stiftung, Bonn 1983, S. 10 f.
4 Nachrichtenauswahl zurückzuführen hieße, nur einzelne Glieder in einer Kette isoliert zu betrachten. Das Problem falscher Nationenbilder ist vielschichtiger und hat beim "Fremdverstehen" anzusetzen, um die Grenzen und Möglichkeiten und das Versagen unserer Massenmedien in der Informationsvermittlung richtig einschätzen zu können.
1.2
Das Fremdverstehen in der interkulturellen Kommunikation
Ob Menschen verschiedener Kulturen und Nationen zu beiderseitigem Nutzen miteinander kommunizieren, hängt in entscheidendem Maße ab vom Selbstbüd der jeweiligen Nation und von dem Fremdbild, das man voneinander hat. Beide bedingen den Grad des Verständnisses, mit dem man
aufeinander zugeht. Sie wirken auf die Thematisierung
bestimmter Probleme ein und die Offenheit, mit der beide Seiten an die Lösung von Problemen herangehen. Bei der Art der gegenseitigen Wahrnehmung kommt es aber auch auf den Grad der Eigenerfahrung und die persönliche Perspektive des einzelnen an. Zusammen bedingen also diese vier Faktoren, welche Information weitergegeben wird und sich so direkt auf Bildung und Festigung von Fremdbildem und damit auf Festigung oder Modifizierung des Selbstbildes auswirken kann. Der Ablauf gleicht einer Spirale: Das Bild, das sich ein Individuum von seiner Kulturgemeinschaft und seiner Nation macht, ist entscheidend geprägt von seiner Zugehörigkeit zu diversen soziokulturellen Bezugsgruppen, an deren Werten und Normen es sich orientiert.
8
Die Verbundenheit mit seinen
soziokulturellen Bezugsgruppen bestimmt auch die Perspektive des Individuums gegenüber den Außengruppen, 9 das heißt, sie bestimmt den Grad des Ethnozentrismus im Umgang mit Außengruppen. 10 Die in diesem Prozeß entstehenden Fremdbilder stellen meist eine 8
Vgl. ELISABETH NOELLE-NEUMANN / WINFRIED SCHULZ (Hrsg): Publizistik. Frankfurt 1971. Über die "Wirkung der Massenmedien" siehe S. 316-349.
9
Zu den sozialpsychologischen Aspekten der Interaktion zwischen den sogenannten "in-groups" und "out-groups" siehe auch HILDE WEISS: Antisemitische Vorurteile in Österreich. Theoretische und empirische Analysen. Wien 1983, S. 14 f.
10
Ethnozentrismus als Haltung einer Kulturgemeinschaft, sich gegenüber anderen einen zentralen Platz einzuräumen, bewertet die eigenen Eigenschaften, Nonnen, Werte positiv und mißt die Außengruppen daran. Von einer "Verabsolutierung der eigenen kulturellen Werte" spricht in diesem Zusammenhang RENATE VON GIZYCKI: Den Dschungel ins Wohnzimmer. Selbstbüd und Rolle von Auslandskorrespondenten im Femsehen der BRD. In: medium 4/1974, 4. Jg., S. 13. - Vgl. dazu JEAN FRANÇOIS BÜRKI: Ein Spiegel unserer Selbst. Ethnozentrismus und Information. In: medium 6/1980, 10. Jg., S. 15 f. - ROY PREISWERK / DOMINIQUE PERROT: Ethnocentrisme et Histoire. Paris 1975, S. 49 ff. - GERHARD MALETZKE: Bausteine zur Kommunikationswissenschaft 1949-1984, S. 120.
5
schematische Vereinfachung der Wirklichkeit dar und treten innerhalb einer Population recht einheitlich auf. 11 Diese sogenannten Stereotype - sie können grundsätzlich negativ und positiv sein - dienen dem Menschen zur Orientierung, indem sie eine Ordnung seiner Wahrnehmungen erleichtem.12 Neben der bezugsgruppenspezifischen Perspektive des Individuums wirkt aber auch der Grad der Eigenerfahrung im Umgang mit Außengruppen auf die Entstehung von Fremdbildem bzw. Stereotypen ein. Zu unterscheiden ist hier zwischen primärer und sekundärer Eigenerfahrung, je nach dem, ob ein Mensch bereits auf persönlichen Kontakten und Erfahrungen mit fremden Kulturen aufbaut, oder ob er sein Wissen aus Sekundärquellen, also Informationen aus dem Netz persönlicher Informanten, aus dem Schulunterricht, aus der Literatur oder aus dem Angebot der Massenmedien geschöpft hat. Die meisten Menschen bauen ihr Bild von fremden Ländern und Kulturen auf Sekundärinformationen auf. Sieht man einmal von kurzen touristischen Abstechern ab, haben die wenigsten Menschen die Gelegenheit, sich mittels einer beruflichen Auslandstätigkeit oder persönlicher Auslandskontakte über einen längeren Zeitraum vor Ort ein umfassendes Bild von Land und Leuten zu machen. Sie gewinnen die Vorstellung von einer Femwelt mittels Erzählungen,
mittels
Schulunterricht
und
sonstiger
Bildungsveranstaltungen,
durch
Massenmedien oder sonstige publizistische Mittel. Neben dem Schulunterricht, der vor allem mit den Fächern Geographie, Geschichte und Gemeinschaftskunde bzw. Religion, Landeskunde, Literatur in den Fremdsprachen als Informationsvermittler über fremde Kulturen eine Grundstufe darstellt, spielen die Massenmedien, d.h. Printmedien, Hörfunk und Femsehen, im Prozeß der Erfahrungsbildung also eine entscheidende Rolle - dies umso mehr, je femer die fremden Kulturen der eigenen Nahwelt stehen. Vor allem bei der Begegnung zwischen Menschen aus Industrie-
11
MANFRED KOCH sieht im Nationalstaat ein starkes Band, das die Menschen umfaßt und in ihrem Selbstverständnis beeinflußt. Der Charakter von Selbst- und Fremdbild ist also in hohem Maße davon abhängig, welcher Nation ein Mensch angehört. Doch sind Nationenbilder innerhalb der Völker nicht einförmig. KOCH spricht von religions-soziologischen, weltanschaulichen, materiellen ... Einflüssen auf die Imagebildung. Das heißt, die großen Züge eines Nationenbildes werden eher vom Nationalen her geprägt, die feineren eher von anderen Gruppenbindungen. - Siehe MANFRED KOCH-HILLEBRECHT: Das Deutschenbild. Gegenwart, Geschichte, Psychologie. München 1977, S. 146 ff.
12
Vgl. W. MANZ: Das Stereotyp. Zur Operationalisierung eines sozialwissenschaftlichen Begriffs. Meisenheim a. Glan 1986. - PETER R. HOFSTÄTTER: Einführung in die Sozialpsychologie. Stuttgart 1973, S. 364 ff.
6
und Entwicklungsländern treffen meist in besonders krasser Weise verschiedene Weltanschauungen, Wertsysteme und Verhaltensnormen aufeinander. 13 Dabei bieten gerade Massenmedien die Möglichkeit, die Fähigkeit zu erwerben, sich in Menschen anderer Kulturkreise eher hineinzuversetzen und eine ethnozentrische Haltung zu modifizieren: Bei dem Grad der Wirkung von Massenmedien unterscheidet die Medienforschung zwischen Bereichen größerer und geringerer Beeinflußbarkeit. Man spricht hier von einer "Hierarchie der Stabilität",14 von mehr oder weniger veränderlichen, beeinflußbaren Einstellungen. Grundeinstellungen, die mit Traditionen der Familie, der sozialen Schicht, der Heimatregion, mit einem religiösen Glauben, einer Weltanschauung, einem ideologischen Standort usw. verknüpft sind, widerstehen Beeinflussungsversuchen weitgehend, weil bei einem Sinneswandel eine völlige Umorientierung erforderlich wäre. Die Einflüsse der Publizistik sind daher umso größer, je geringer die Intensität des Interesses an einer Frage, bzw. wie offen und neutral der Rezipient einer Sache gegenüber eingestellt ist. Was die Verhältnisse in feinen Ländern oder außerhalb des persönlichen Beziehungssystems liegende Fragen betrifft, haben die Massenmedien einen besonders starken Einfluß auf die Meinungsbildung.19
13
Verantwortlich dafür sind nicht zuletzt viele Aussagen in Schulbüchern der besagten Fächer und in den Massenmedien, die - je nach Bildungsstand mehr oder weniger auf beiden Seiten zu verzerrten oder falschen Vorstellungen von den Menschen anderer Nationen führen. - Zur Thematik Dritte Welt bzw. Lateinamerika im Schulbuch siehe: JOHANNES AUGEL: Die Darstellung Lateinamerikas im deutschen Schulbuch. Bonn 1971. - KARLA FOHRBECK u.a. : Heile Welt und Dritte Welt. Medien und politischer Unterricht 1 - Schulbuchanalyse. Opladen 1971. - ERHARD MEUELER / K. FRIEDRICH SCHADE (Hrsg.): Dritte Welt in den Medien der Schule. Analyse und Konstruktion von Unterichtsmedien. Bonn 1977. - ANSGAR SKRIVER: "Der Afrikaner arbeitet nicht" - Die Dritte Welt in deutschen Schulbüchern. In: Politik und Zeitgeschichte, 21/1977, S. 37 ff.
"
ELISABETH NOELLE-NEUMANN / WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 327.
19
Die Wirkungsforschung ist von dem ursprünglichen Wirkungsmodell, das von dem Rezipienten als einem vollkommen passiven Wesen und von einer Omnipotenz massenmedialer Wirkungen ausging, längst abgerückt. Als Beispiele für diese überholte Wirkungsforschungsrichtung seien genannt HAROLD D. LASSWELL u.a.: Propaganda and Promotional Activities. Minneapolis 1935; BRUCE L. SMITH / HAROLD D. LASSWELL / RALPH D. CASEY: Propaganda, Communication and Public Opinion. Princeton 1949. - Als Überblick zur selektiven Wahrnehmung in der Massenkommunikation siehe ELISABETH NOELLE-NEUMANN / WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 316 ff. WERNER FRÜH: Der aktive Rezipient - neu besehen. Zur Konstruktion faktischer Information bei der Zeitungslektüre. In: Publizistik 3/1983, 28. Jg., S. 327 ff. KLAUS MERTEN: Wirkung der Massenkommunikation. Ein theoretisch-methodischer Problemaufriß. In: Publizistik 1-2/1982, 27. Jg., S. 26 ff. -
7 1.3 Funktion von Journalismus, insbesondere von Auslandsberichterstattung, und journalistisches Selbstverständnis Der Versuch, die eingangs dargelegte pauschale Kritik der Entwicklungsländer hinsichtlich der Wirkung von Massenmedien in der internationalen Kommunikation für die Bundesrepublik Deutschland auf ihre Berechtigung zu prüfen und - gegebenenfalls spezifizieren, wirft auch die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Journalismus
zu 16
und dem Selbstverständnis von Journalisten auf, insbesondere im Bereich der Auslandsberichterstattung. Generell lebt das System der Massenmedien von kommunikativen Bedürfnissen, die der Gesellschaft durch den raschen zivilisatorischen Wandel und die zunehmende Spezialisierung mehr und mehr erwachsen. Während in früheren Gesellschaftsformen Ereignisse im lokalen Umfeld erlebt wurden und aus der direkten Erfahrung mit dem lokalen Lebenszusammenhang erklärt werden konnten, sind Bürger heute - da sie unmöglich Kenner aller Teilsysteme sein können - auf Informationsvermittler angewiesen, die für sie aus der Fülle von Ereignissen und Entscheidungen das für ihre Lebenswelt Relevante herausfiltern und es in seinen Zusammenhängen und Auswirkungen erklären. Journalismus versucht mittels intern ausgebildeter Strukturen, die Ereignishaftigkeit und Komplexität der Nah- und
Zum Verhältnis zwischen Text und Leser vgl. LOTHAR BREDELLA: Das Verstehen literarischer Texte. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1980, S. 11 ff. 16
Die Anwendung des Begriffs "Journalismus" im Sinne des Begriffs "Massenmedien" erfolgt in Anlehnung an FRANZ RONNEBERGER, der "journalistisch" gleichsetzt mit "massenmedial" und "massenkommunikativ". Siehe FRANZ RONNEBERGER: Leistungen und Fehlleistungen der Massenkommunikation. In: WOLFGANG R. LANGENBUCHER (Hrsg.): Politik und Kommunikation. Über die öffentliche Meinungsbildung. München 1979, S. 128. - Der Begriff "Journalismus" deutet auf ein System hin, das mit Tagesneuigkeiten umgeht. Vgl. ELISABETH NOELLE-NEUMANN/WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 56 f. - Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß der journalistische Rollenbegriff zwei Gruppen von Journalisten umschließt: Journalisten, die hauptsächlich Beiträge selbst gestalten, quasi schöpferisch arbeiten, wie Reporter, Korrespondenten, Kommentatoren oder Kritiker; und Redakteure, die gewissermaßen reproduktiv und organisatorisch tätig sind, indem sie Beiträge sortieren und redigieren sowie für ihre mediengerechte Veröffentlichung sorgen. Die Bezeichnung Journalist hat sich "als übergeordneter Begriff für alle in den Massenmedien gestaltend Tätigen ... heute weitgehend durchgesetzt", so stellen ELISABETH NOELLE-NEUMANN und WINFRIED SCHULZ fest. - Ebenda, S. 58 und 62.
8 Fernwelt durch Informationsauswahl zu filtern und überschaubar zu machen und durch Analyse der Ereignis-Zusammenhänge Orientierungshilfe anzubieten.17 Die daraus erwachsende gesellschaftliche Verantwortung nährt in unserem liberal-demokratischen Staat ein bestimmtes journalistisches Rollenverständnis, das entsprechenden Niederschlag in den Statuten der bundesdeutschen Presseunternehmen und Rundfunkanstalten gefunden hat. 18 So konstatiert der Pressekodex: "Die im Grundgesetz der Bundesrepublik verbürgte Pressefreiheit schließt die Unabhängigkeit und Freiheit der Information, der Meinungsäußerung und der Kritik ein. Verleger, Herausgeber und Journalisten müssen sich bei ihrer Arbeit der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und ihrer Verpflichtung für das Ansehen der Presse bewußt sein. Sie nehmen ihre publizistische Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflußt von persönlichen Interessen und sachfremden Beweggründen, wahr." Und weiter heißt es: "Achtung vor der Wahrheit und wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberstes Gebot der Presse." 19
Ent-
sprechend lautet es in den Satzungen der Rundfunkanstalten, beispielsweise in der des Südwestfunks: "Die Programme des Südwestfunks müssen vom Geiste demokratischer Freiheit und der Verständigung unter den Völkern getragen sein. Der Südwestfunk hat das Recht zu angemessener und sachlicher Kritik am öffentlichen Leben; Hörfunk- und Fernsehsendungen müssen in Wort und Bild über den Gegenstand in seinem objektiven Zusammenhang und die darüber bestehenden wesentlichen Meinungen hinreichend unterrichten. Dabei darf der Südwestfunk nicht einseitig in den Dienst einer Regierung, politischen Partei, Kirche, religiösen Gemeinschaft, weltanschaulichen Richtung, eines
17
Vgl. MANFRED RÜHL: Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorienentwurf. Mainz 1980, S. 251 ff.
18
Dabei handelt es sich nach MANFRED RÜHL um ein "vorstaatliches Standesrecht", das heißt, um berufsethische Regelungen, die Journalisten ohne rechtliche Sanktionsdrohungen "beruflich und organisatorisch in die Pflicht ... nehmen" sollen. MANFRED RÜHL a.a.O., S. 260 ff. RÜHL definiert "vorstaatliches Standesrecht" mit MARTIN LÖFFLER "als die 'Gesamtheit aller nicht auf staatlichem Recht beruhenden Standesregeln ... zu deren Befolgung die Angehörigen der Publizistik verpflichtet sind.'" Siehe MARTIN LÖFFLER: Das Standesrecht der Massenmedien in weltweiter Sicht. In: Archiv für Presserecht 19:1 (1971), S. 17. Zitat nach RÜHL S. 261.
19
Der Pressekodex wird konkretisiert durch die "Richtlinien für die redaktionelle Arbeit". DEUTSCHER PRESSERAT: I. Publizistische Grundsätze (Pressekodex). Vom Deutschen Presserat in Zusammenarbeit mit den Presseverbänden beschlossen und Bundespräsident a.D. Gustav Heinemann am 12. Dezember 1973 überreicht. II. Richtlinien für die redaktionelle Arbeit nach den Empfehlungen des Deutschen Presserates. Bonn 1979.
9 Bemfsstandes oder Interessenverbandes treten." 20 So schrieb auch beispielsweise die Süddeutsche Zeitung anläßlich ihres 40-jährigen Bestehens im Jahr 1985: "Ihre Liberalität ist ihr [der Süddeutschen Zeitung] als Verpflichtung in die Wiege gelegt. Sie ist jedoch mehr als Großmut und Toleranz. Sie ist ein liberales Konzept, das davon ausgeht, daß der mündige Bürger zu vernünftiger Selbstbestimmung fähig sei und daß er zur Ausbildung dieser Fähigkeit Aufklärung, Information und Kritik benötige. Damit verbunden ist das Eintreten für Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit, für Humanität und Menschenwürde".
21
Journalisten stellen also ihr Handeln in den Dienst von Freiheit, Liberalität, Demokratie, Gewaltenteilung, von Toleranz, Frieden, Sicherheit und Menschenwürde. 22 Empirische Untersuchungen zeigen, daß sich die Mehrheit der Journalisten dabei in erster Linie als "wertneutrale
Informationsvermittler" versteht. 23
Das heißt,
sie
fühlen sich
den
journalistischen Idealen der Unbestechlichkeit und Objektivität im Sinne von Unvoreingenommenheit, Sachlichkeit und Fairneß verpflichtet. 24 Wie versucht nun insbesondere die Auslandsberichterstattung dem gesellschaftlichen Informationsbedürfriis Rechnung zu tragen, zumal die supranationale Berichterstattung heute eine bedeutende Rolle innerhalb der massenmedialen Infoimationsvermittlung spielt: In einer Zeit wachsender internationaler Verflechtung und wechselseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit auch zwischen räumlich weit voneinander entfernten Regionen, die sich in politischen Bündnisverträgen, Wirtschafts- oder Entwicklungshilfeabkommen manifestieren, müssen dem einzelnen Bürger und potentiellen Wähler die Zusammenhänge seiner
20
Rechtliche Grundlagen für die Rolle einer Rundfunkanstalt des öffentlichen Rechts am Beispiel des SWF laut Staatsvertrag über den SWF vom 28.8.1951 und der Satzung des SWF vom 20.6.1952. In: SÜDWESTFUNK - ABTEILUNG ÖFFENTLICHKEITSARBEIT (Hrsg.): SWF-Zahlen, Informationen, Daten. Baden Baden. März 1987.
21
DIETER SCHRÖDER: Es lohnt sich, für die Freiheit zu streiten. Der Anspruch einer Zeitung. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 264 vom 15. November 1985, Sonderbeilage zum 40jährigen Bestehen der SZ "Zeitgeschichte, Zeitungsgeschichte", S. 2.
22
MANFRED RÜHL a.a.O., S. 265 f.
23
Zur Frage nach der journalistischen Berufsideologie und Berufsethik in Fiktion und Wirklichkeit vgl. CECILIA VON STUDNITZ: Kritik des Journalisten. Ein Berufsbild in Fiktion und Realität. München 1983, S. 188 und S. 136 ff. - JÜRGEN PROTT: Bewußtsein von Journalisten. Standesdenken oder gesellschaftliche Solidarisierung? Frankfurt / Köln 1976, S. 255 ff. - HANS HEINZ FABRIS: Das Selbstbildnis von Redakteuren an Tageszeitungen. Salzburg 1971, S. 55.
** Vgl. MANFRED RÜHL a.a.O., S. 265 f.
10
Lebenswelt mit den darüber weit hinausgehenden Verhältnissen durchsichtig gemacht werden.29 Die Bundesrepublik ist in mehrerfacher Hinsicht auf die Außen-, auch die "Fernwelt" angewiesen. Sie ist biindnispolitisch an Westeuropa und Nordamerika gekoppelt. Gleichzeitig ist sie aber aufgrund ihres Mangels an Bodenschätzen und Rohstoffen abhängig von einer Außenwelt, die weit über die Grenzen des westlichen Bündnisses hinausgeht. Da wirtschaftliche Produktion und Wohlstand in der Bundesrepublik in hohem Maße von ausländischer Rohstoffeinfuhr einerseits und vom Export deutscher Erzeugnisse und Technologie andererseits abhängen, ist das Wissen um Zustände und Entwicklungen im Ausland, ist eine erfolgreiche Kommunikation mit fremden Nationen lebenswichtig.
28
Die
bundesdeutschen Massenmedien reagieren darauf mit einem entsprechend hohen Anteil an Allslandsberichterstattung. Nach einer von WERNER A. MEIER veröffentlichten Übersicht27 liegt der Anteil der Auslandsberichterstattung in der bundesdeutschen Presse (Elite- und populäre Zeitungen) mit 27 Prozent beispielsweise um 16 Prozent höher als der US-amerikanischer und um 7 Prozent höher als der britischer Zeitungen. MEIER sieht das Volumen der Auslandsberichterstattung abhängig von Größe und Struktur der Umwelt eines Landes. So schreibt er: "Bei den Industrieländern scheint in der Tat die Tendenz vorzuliegen, daß Zeitungen aus der Supermacht USA mit einem Anteil von 5 - 15 % auskommen, während Medien aus großen westlichen Industrienationenzwischen IS und 25 % Auslandsmeldungen aufweisen. Hochindustriealisierte Kleinstaaten mit vielfältigen Beziehungen zum Ausland hingegen haben sich ... an einer entsprechend ausdifferenzierten Umwelt zu orientieren. Diese verstärkte multidimensionale Auslandsperspektive scheint den Anteil nochmals auf etwa 20 - 30 % anzuheben." 28 Vor diesem Hintergrund tritt der Auslandskorrespondent quasi als Interpret von Verhältnissen und Abläufen der Femwelt in Aktion - sei er als ständiger auswärtiger Berichter-
23
BIRGIT SCHARLAU: Kritik? Kritik! - Die metropolitanen Medien und ihre Produkte. In: Medium 6/1980, 10. Jg., S. 25. - Siehe auch HEINZ-WERNER STOIBER: Zur Rolle des Journalismus in der Gesellschaft. In: MANFRED RÜHL / HEINZ-WERNER STUIBER: Kommunikationspolitik in Forschung und Anwendung. Festschrift für Franz Ronneberger, Düsseldorf 1983, S. 66 f.
26
Deutschland war 1986 größter Exporteur auf dem Weltmarkt. Siehe dazu Handelsblatt Nr. 148 vom 6. August 1987, S. 1 und 7.
27
WERNER A. MEIER: Ungleicher Nachrichtenaustausch und fragmentarische Weltbilder: Eine empirische Studie über Strukturmerkmale in der Auslandsberichterstattung. Bern / Frankfurt / New York 1984, S. 100.
28
WERNER A. MEIER a.a.O., S. 101.
11 statter oder als Reisekorrespondent für ein Presse-, Hörfunk- oder Femsehmedium tätig. Korrespondenten verstehen sich nicht als reine Nachrichtenbeschaffer, das heißt, sie fühlen sich für die bloße Übermittlung von Nachrichten und Fakten aus einer "innerlich und äußerlich fernen" Region nicht zuständig.29 "Als reiner Nachrichtenbeschaffer ist er zu teuer, unwirtschaftlich, langsam ...", beschreibt RICHARD DILL den Auslandsberichterstatter. "Bis er am Ort des Ereignisses eintrifft, hat die Heimatredaktion längst die Agenturmeldung auf dem Tisch. Im Wettlauf mit Agenturapparaten steht der Einzelkämpfer auf verlorenem Posten. Ihm bleiben Hintergrund und Meinung und die Nahtstellen, an denen Tagesgeschehen in Geschichte übergeht. Der Korrespondent als Geschichtsschreiber."30 In die gleiche Richtung zielt ANGELA WITTMANN-HAUSNER, wenn sie die Funktion von korrespondentischer Auslandsberichterstattung mit der "Herstellung von Zusammenhängen, ... der Schaffung thematisch überregionaler Verbindungsstrecken" definiert. 31 Aufgrund ihrer Interpretationsfunktion sehen es Auslandskorrespondenten als ihre Aufgabe an, "singulfir erscheinende politische Ereignisse analysierend in ein Beziehungsgeflecht zu stellen und zu kommentieren, sie gewissermaßen als Anlaß und Chance für eine den Hintergrund ausleuchtende Berichterstattung zu nehmen" (ANTON ANDREAS GUHA).32 Erscheint also ein Auslandsereignis zunächst aus dem Zusammenhang gelöst - gleich der Spitze eines Eisbergs - in den Schlagzeilen unserer Medien, so vermag der Korrespondent, es durch einen nachfolgenden analytischen Artikel in den richtigen Rahmen zu stellen und somit möglichen Fehlinterpretationen und Zerrbildern entgegenzuwirken.33 Es ist verständlich, daß ein Korrespondent, der für mehrere Jahre in einer fremden Region stationiert ist, dieser Aufgabe eher gerecht werden kann als ein Reiseberichterstatter, der aufgrund eines bestimmten Ereignisses kurzfristig ins Ausland geht. 29
Vgl. PETER KREBS: Wider die Sahib-Haltung. Berichtsort Tokio: Der Korrespondent als Außenseiter der Gesellschaft. In: RUPERT NEUDECK (Hrsg.): Den Dschungel ins Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen. Frankfurt 1977, S. 112.
30
RICHARD DILL: Wieviel Welt braucht der Mensch? Der Korrespondent und die neue Weltinformationsordnung. In: RUPERT NEUDECK, ebenda, S. 145.
31
ANGELA WITTMANN-HAUSNER: Auslandskorrespondenz im Wandel. Veränderte Berufsrealität der Journalisten. In: Publizistik 3-4 / 1984, 29. Jg., S. 452.
32
ANTON ANDREAS GUHA / WALTER HAUBRICH / MANFRED VON CONTA: Über Lateinamerika schreiben. Zur Praxis der Berichterstattung - von drei Praktikern. In: medium 6 / 1980, 10. Jg., S. 20.
33
Vgl. WALTER HAUBRICH, ebenda, S. 21.
12
Denn, um eine Oesamtsituation realitätsnah zu beurteilen, aus einer Fülle von Hintergrundinformationen das Relevante herauszuziehen, sollte der Korrespondent sein Berichtsland nicht nur "in einem singulären Ereignis, sondern in einer Kontinuität der Entwicklung" erleben.34 Nur so kann er seine Landes- und Menschenkenntnis vertiefen und sich einen Eindruck von der gesellschaftlichen und politischen Lage und ihrer kulturhistorischen Zusammenhänge verschaffen. Da Auslandsberichterstattung erklärtermaßen auch der Völkerverständigung verpflichtet ist, sollte der Korrespondent nicht nur aktuelle Ereignisse als Aufhänger nehmen, um spezifische Verhaltensweisen und Traditionen seines Gastlandes sichtbar zu machen, sondern auch möglichst thematisch ausgewogen, also neben Politik und Wirtschaft über Kultur und Gesellschaft, neben Ausnahmesituationen auch über das Alltagsleben berichten. Denn, so begründet es GERHARD DAMBMANN, "nicht die Ereignisberichterstattung weckt das Verständnis für eine ferne Region, sondern die Aufhellung des historisch-kulturell-gesellschaftlichen Mutterbodens, aus dem sich die Ereignisse entwickeln". 39 Dabei gestaltet sich die Vermittlung andersartiger kultureller Werte und Normen nicht einfach, denn der Korrespondent muß sich so weit in eine fremde Gesellschaft einfühlen und in ihr integriert leben, daß er fremdes Denken und Fühlen verstehen lernt. Das heißt, er muß zusehen, daß er nicht "vom Wirtsorganismus aufgefressen, assimiliert, isoliert, neutralisiert oder ausgestoßen wird" (RICHARD DILL).3® Gleichzeitig muß sich der Korrespondent bemühen, trotz jahrelanger Trennung vom Alltag seiner Rezipienten in Deutschland mit den Augen seines Publikums zu sehen, also bei seiner Berichterstattung eine deutsche Grundhaltung mitzuberücksichtigen, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen, damit seine Berichterstattung nicht an den Interessen seiner Leser oder Zuhörer vorbeigeht; zum anderen, damit er fremde Kultur- und Gesellschaftsnormen oder das kulturell unterschiedliche Verstehen von Begriffen (wie Partei, Gewerkschaft, Militär ...) nicht als selbstverständlich
3
« Zitat NORBERT BRIEGER: Mit der Kamera lügen. Auslandsberichterstattung aus der Sicht eines Fernsehkorrespondenten. In: SIEGFRIED QUANDT (Hrsg.): Fachjournalismus im Gespräch. Band 2, Gießen 1986, S. 17.
35
GERHARD DAMBMANN während einer Tagung über "Internationale Kommunikation" mit dem Thema "Die Bundesrepublik Deutschland und Japan: Images und Kommunikationsbeziehungen", die im Rahmen des Studienschweipunktes Fachjoumalismus Geschichte der Justus-Liebig-Universität Gießen am 24. April 1987 im Schloß Rauischholzhausen abgehalten wurde. - Vgl. hierzu GERHARD DAMBMANN: Fremde Traditionen vermitteln. Berichtsort Tokio: Ereignisberichterstattung verhindert Verständnis. In: Rupert Neudeck: Den Dschungel ... A.a.O., S. 117.
36
RICHARD DILL: Wieviel Welt braucht der Mensch? A.a.O., S. 146.
13 voraussetzt, sondern immer wieder erklärend darauf hinweist, um falschen Analogieschlüssen oder ethnozentrischen Urteilen vorzubeugen.37 "Ich meine", so faßt PETER KREBS die Funktion der Auslandsberichterstattung zusammen, "daß die vielen Sonntagsreden über das 'Zusammenwachsen' unserer Welt mit Hilfe der 'grenzüberwindenden' Medien nur dann eine Berechtigung haben, wenn die Alltagsberichterstattung - nicht nur die fachlichen Berichte für interessierte Minderheiten - bewußt sich versteht auch als Mosaikstein zur Vertiefung der Wertschätzung und Einsicht in fremde Lebensart."38
1.4
Journalistische Leistung zwischen Anspruch und Wirklichkeit - Empirische Befunde zur Au&landsberichterstattung bundesdeutscher Medien
In den vergangenen 20 Jahren wurde eine Reihe von mehr oder weniger umfangreichen empirischen Studien zur Berichterstattung bundesdeutscher Medien über die Länder der Dritten Welt und deren Image erstellt, wurden "internationale Kommunikation" und "Nationenbilder" auch unter Journalisten, insbesondere Korrespondenten, verstärkt reflektiert. Den Hintergrund bildete nicht zuletzt die jahrelange Kontroverse innerhalb der UNESCO über Wege zur Reformierung des Informationsflusses und zur Verbesserung der internationalen Kommunikation, die bereits Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre mit Propagierung der These von der "Kommunikation als Menschenrecht" die Forderung nach zweiwegiger Kommunikation bei freiem, ausgewogenen Informationsfluß publik machte. 39
37
Die Wichtigkeit des "Mit den Augen des Publikums sehen" unterstrich MICHAEL GROTH, FAZ-Auslandsnachrichtenredakteur, im Rahmen seines Referates "Auslandsberichterstattung am Beispiel der USA" während eines fachjoumalistischen Kolloquiums am 28. November 1986 im Rahmen des Studienschwerpunktes Fachjoumalismus Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. - Vgl. dazu JOCHEN EVERSMEIER: Traumjob oder Knochenarbeit? Michael Groth - Ein FAZRedakteur berichtet. In: JoJo (Journal der Fachjournalisten) 5/1987, S. 50. - Vgl. WALTER HAUBRICH a.a.O., S. 21. - WINFRIED SCHARLAU: Der Spielraum wird enger. Berichtsort Ostasien: Unterschiedliche journalistische Bedingungen. In: RUPERT NEUDECK: Den Dschungel ... A.a.O., S. 105. - PETER KREBS a.a.O., S. 113. - GERHARD DAMBMANN a.a.O., S. 116 ff.
38
PETER KREBS a.a.O., S. 113.
39
Vgl. MANFRED RÖHL: Die Welt als neugeordnetes Kommunikationssystem? Thesen zur Realisierbarkeit eines kommunikationspolitischen Ordnungsprogramms. In: Publizistik 3-4/1984, 29Jg„ S. 212.
14
Insgesamt gesehen stellt das von den empirischen Analysen ermittelte Qualitätsbild bundesdeutscher Auslandsberichterstattung der journalistischen Leistung von Presse, Hörfunk und Femsehen ein Armutszeugnis aus. So wird beklagt, daß Entwicklungen und Sachverhalte in Ländern von geringerer wirtschaftlicher Macht und weltpolitischer Bedeutung erst dann von den Medien erfaßt werden, wenn sie einen dramatischen Höhepunkt erreicht haben und "wenn Interessen von wichtigen Zentrumsnationen tangiert werden." 40 KARLA FOHRBECK und ANDREAS JOHANNES WIESAND sprechen in diesem Zusammenhang von einer eurozentrischen Berichterstattung, beziehen diese Feststellung aber in erster Linie auf den Nachrichtenwert eines Ereignisses, weniger auf Vorurteile gegenüber fremden Völkern.« Dieser eurozentrische Trend ist allerdings nicht nur auf die Bundesrepublik beschränkt. Nach einer Übersicht von WERNER A. MEIER dominieren in Westeuropa Nachrichten aus den Ländern der eigenen Region mit einem Anteil von 30 bis 50 Prozent an der gesamten Auslandsberichterstattung. Auch Ereignisse aus dem verbündeten Nordamerika genießen in europäischen Medien eine Vorzugsstellung, die bei einem Anteil von 10 Prozent liegt. Die Regionen Osteuropa, Naher Osten, Asien und Afrika werden mit einer Berichterstattung abgedeckt, die je nach Anzahl aktueller Krisen zwischen einem Anteil von 3 bis 16 Prozent liegt. Lateinamerika bildet das Schlußlicht: Der Nachrichtenanteil bewegt sich zwischen 1 Prozent in "normalen Zeiten" und 10 Prozent in Krisensituationen.42 Diese quantitative Unterrepräsentierung der "Fernwelt" wird dadurch verstärkt, daß sich die Berichterstattung über Länder der Dritten Welt in den Medien der Bundesrepublik auf wenige Themengebiete, und zwar vornehmlich auf ereignisbezogene Themen mit Konfliktoder Sensationscharakter beschränkt: Der inhaltliche Schwerpunkt der Berichterstattung liegt bei Politik, die - abhängig vom jeweiligen Medium - bis zu 80 Prozent der Information ausmacht. An zweiter Stelle stehen Wirtschaftsnachrichten. Berichte über Gesellschaft, Kultur, Alltägliches etc. fallen kaum ins Gewicht. Der Informationsfluß ist also in thematischer, zeitlicher und geographischer Hinsicht generell ungleichmäßig. Das schließt nicht aus, daß einige wenige Themenkomplexe oder WERNER A. MEIER a.a.O., S. 116. In: Dritte Welt und Medienwelt. Entwicklungspolitik und das Bild der Dritten Welt in Presse, Hörfunk und Fernsehen. Herausgegeben vom BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT - Referat Öffentlichkeitsarbeit. Bonn 1983, S. 11. «
WERNER A. MEIER a.a.O., S. 141.
15 bestimmte Regionen sehr umfangreich und andauernd behandelt werden, gewissermaßen einen Selbstlauf entwickeln zu Lasten anderer Länder, über die dann die Berichterstattung "lächerlich gering" ausfallt.43 Von einer "einfältigen Vielfalt", besonders in den tagesaktuellen Medieninformationen, sprechen FOHRBECK und WIESAND angesichts einer Dritte-Welt-Berichterstattung, die von Negativanlässen wie kriegerischen Ereignissen und Gewalt, politischen und wirtschaftlichen Krisen, Flüchtlingselend, Hungersnöten, Naturkatastrophen und Unglücken geprägt ist. 44 "Diese 'Negativanlässe' wiederum bilden den Hintergrund für ein permanentes politisches Namenskarussell ... von Staatsmännern, die die 'Unordnung' und Probleme auf dem Globus zu korrigieren suchen (Prinzip: 'Minister trifft Minister')."4" Einer so gearteten Auslandsberichterstattung sprechen FOHRBECK und WIESAND ab, daß sie bei den Bundesdeutschen Verständnis und Engagement für ferne Kulturen und deren wirtschaftliche Sorgen erwecken kann: "Entwicklungspolitik will ... motivierender vermittelt sein als nur mit tagesaktuellen Fakten sowie der beruhigenden Intention, daß das weltweite Netz der Politikertreffen und der internationalen und bilateralen Handels- und Kreditverträge schon halbwegs funktioniert und weiter funktionieren wird." 4 ' Eine weitere qualitative Schwäche liegt darin, daß die Tendenz in der Dritte-Welt-Berichterstattung insgesamt zu kürzeren Artikeln oder Beiträgen hingeht. Das heißt, Länder dieser Regionen werden in erster Linie mit den referierenden, deskriptiven Textsorten bzw. Darstellungsformen Nachricht (oder Meldung) und Bericht abgedeckt, Analyse und kritische Bewertung in Form von Features oder Reportagen (interpretierende Darstellungsformen) und Kommentaren oder sonstigen Meinungsbeiträgen (kommentierende Darstellungsfor-
43
Vgl. MANFRED WÖHLCKE: Lateinamerika in der Presse. Inhaltsanalytische Untersuchung der Lateinamerika-Berichterstattung. Stuttgart 1973, S. 25 ff. Eine Zusammenfassung dieser Studie findet sich in: Zeitschrift für Kulturaustausch 4/1974, 29. Jg., S. 63 ff., unter dem Titel: Lateinamerika in den Informationsmedien der deutschsprachigen Länder. - JOSEF ECKHARDT: Berichterstattung über die Dritte Welt im ARD-Programm und im Westdeutschen Fernsehen. In: Media Perspektiven 12/1982, S. 767 ff. - BIRGIT SCHARLAU a.a.O., S. 23: Die Autorin greift zurück auf Befunde einer Analyse zur Lateinamerika-Berichterstattung in sieben europäischen Tageszeitungen, die im Wintersemester 1979/80 am Romanischen Institut der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt durchgeführt wurde.
44
KARLA FOHRBECK / ANDREAS JOHANNES WIESAND: Dritte Welt ... A.a.O., S. 49.
49
Ebenda, S. 12.
46
Ebenda, S. 16.
16
men) werden vernachlässigt.47 DANIEL GLASS unterstellt dieser Tendenz eine bewußte Absicht, wenn er als Ergebnis seiner empirischen Analyse feststellt: "Die vielleicht wichtigste inhaltliche Verfälschung in der gesamten Dritte-Welt-Berichterstattung läßt sich mit inhaltsanalytischen Kategorien kaum fassen: Es ist die systematische, konsequente Ausblendung der historischen und strukturellen Zusammenhänge zwischen der Unterentwicklung der Dritten Welt und der kapitalistischen Entwicklung in den Ländern Westeuropas, Nordamerikas und Japan." - Die Annut erscheint so quasi naturgegeben. GLASS macht seine These am Beispiel der üblichen Krisenberichte fest. Er geht dabei von der Grundannahme aus, daß die Verhältnisse in der Dritten Welt Verhältnisse struktureller Gewalt sind, um deren Beseitigung oder Aufrechterhaltung dort Auseinandersetzungen unter Anwendung manifester Gewalt geführt werden: "Der Kernpunkt der ideologischen Verzerrung ist die durchgängige Verkürzung des komplexen Begriffs 'Gewalt' auf 'direkte, in der Regel physische Gewalt'... Dann wird sie mit einer pauschalen Wertung versehen: Gewalt (direkte) ist böse. Die Wertung trifft die strukturelle Gewalt nicht ... wie die direkte, weil strukturelle Gewalt weitgehend aus dem Bewußtsein eliminiert ist ... Guerilla-Anschläge, Entführungen, Kriegshandlungen usw. können in genüßlicher Breite als Sensationsmeldungen aufgemacht werden."48 Zusammengefaßt ergeben die Medienkritiken folgendes Bild: In der bundesdeutschen Auslandsberichterstattung über die Dritte Welt, unter der Länder mit wirtschaftlichen Entwicklungsproblemen, Länder von geringer weltpolitischer Bedeutung zu verstehen sind, besteht insgesamt eine Unausgewogenheit - zwischen politischen Themen und solchen aus Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur etc.; - zwischen positiven Nachrichten, die Alltagsleben und Normalität widerspiegeln, und negativen Nachrichten, die extreme Begebenheiten wie Konflikte, Kriege, Terror, Exzesse, Katastrophen, Mißerfolge und Dummheiten behandeln;
47
Vgl. PETRA E. DORSCH: Isolationismus oder Weltoffenheit? Zur Auslandsberichterstattung von "Boston Globe" und "Süddeutsche Zeitung". In: Publizistik 4/1975, 20. Jg., S. 919 f. - KARLA FOHRBECK / ANTON ANDREAS WIESAND: Dritte Welt ... A.a.O., S. 12 ff. und S. 51. - MANFRED WÖHLKE: Lateinamerika in den Informationsmedien ... A.a.O., S. 63 f. - ANTON ANDREAS GUHA a.a.O., S. 20.
48
DANIEL GLASS: "Die Pygmäen sind ein hartgesottenes Völkchen" - Das Bild der Dritten Welt in bundesdeutschen Zeitungen. In: medium 6/1980, 10. Jg., S. 14.
17
- zwischen tagesaktueller, punktueller Information, dargebracht in deskriptiv-referierender Form, und kontinuierlicher Hintergrundinformation über mittel- und langfristig bedeutsame Entwicklungen, präsentiert in analytisch-kommentierender Form. 49 Die Folgen einer solchen quantitativ und qualitativ unzureichenden Berichterstattung sehen die Autoren der zitierten empirischen Analysen unterschiedlich kraß: Einig ist man sich darin, daß der Trend zur "erfahrungsarmen Struktur" der internationalen Nachricht das wachsende Bedürfnis nach Erfahrungsvermittlung und Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt mit ihren Interessenverflechtungen nicht befriedigen kann, sondern Zerrbilder einer Femwelt vermittelt, die sich über Jahre hinaus in der öffentlichen Meinung stabilisieren können. 80 Für WÖHLCKE ist es dabei besonders kritikwürdig, daß in der von ihm untersuchten Qualitätspresse-Berichterstattung über Lateinamerika die Trennung von Nachricht und Meinung nicht gewahrt wurde. Damit, so schreibt er, bestehe die Gefahr, daß die lateinamerikanische Realität dem deutschen rechten, linken oder liberalen Bewußtsein angepaßt wird, obwohl das Gegenteil geschehen sollte. 91 DANIEL GLASS sieht in der Dritte-Welt-Berichterstattung der Regional- und Boulevardpresse sogar "subtile Techniken der Ideologisierung", die den "nichtverbildeten" Bundesdeutschen "ethnozentrische bis rassistische Uberlegenheitsgefühle, gleichzeitig mit Angst, gegenüber den Menschen in der Dritten Welt" suggerieren und eine solidarische Haltung unmöglich machen.92 Daß die Befürchtungen von FOHRBECK, WIESAND, GLASS, WÖHLCKE u.a. zu den Folgen einer dergestalten Berichterstattung über die "Femwelt" nicht unberechtigt sind, zeigt sich am Fall Lateinamerikas - einer Region, die knapp ein Sechstel der Erdoberfläche
49
Diese Ergebnisse untermauern die Kritik der MacBride-Kommission an der Unausgewogenheit in den weltweiten Nachrichtenflüssen. Siehe: Viele Stimmen - Eine Welt. A.a.O., S. 63.
90
BIRGIT SCHARLAU a.a.O., S. 28. - Vgl. KARLA FOHRBECK / ANDREAS JOHANNES WIESAND: Dritte Welt ... A.a.O., S. 6.
91
MANFRED WÖHLCKE: Lateinamerika in den Informationsmedien ... A.a.O., S. 65. Vgl. ders: Lateinamerika in der Presse. A.a.O., S. 103.
92
DANIEL GLASS: Die Pygmäen ... A.a.O., S. 14. - Vgl. hierzu WALTER SCHÜTZ: "... als alles Pech dieser Welt über sie hereinbrach." Beiläufiger Dritte-WeltJournalismus hierzulande: Beispiele aus "Geo" und "Quick". In: medium 2/1979, 9. Jg. S. 21 ff.
18
ausmacht und rund ein Zwölftel der Weltbevölkerung beheimatet, über die aber - so die Befunde der meisten empirischen Studien - quantitativ am wenigsten berichtet wird:
83
Nach den Erfahrungen von HELGA CASTELLANOS manifestiert sich der Subkontinent für den Bundesdeutschen in einigen wenigen Schlagworten wie "Armut, Unfähigkeit zur Selbsthilfe, Faulheit, Analphabeten, Revolutionen. Es gibt Kaffee, Bananen, Sonne, Palmen, heiße Musik und ... Karneval in Rio". 84 Sie stützt sich dabei auf die Aussagen von "ein paar Dutzend" lateinamerikanischer Studenten, die sie nach ihren Erfahrungen im Umgang mit Deutschen und deren Lateinamerika-Kenntnissen befragt hatte. Diese, von HELGA CASTELLANOS als "phantastisch" bezeichnete Unkenntnis der lateinamerikanischen Welt deckt sich mit dem Lateinamerikabild, das MANFRED WÖHLCKE mit seiner Presseanalyse ermittelte und entspricht auch den Ergebnissen der übrigen Untersuchungen zum Dritte-Welt-Bild. Hier stellte sich die lateinamerikanische Realität in politischen Umsturzversuchen, Bürgerkriegen, Guerillaterror,
Menschenrechtsverletzungen,
Regie-
rungsneugestaltungen und Wahlmanipulationen, Wirtschaftskrisen, Rohstoffpreisentwicklungen, negativen sozialen Vorkommnissen und - bei Reisebeschreibungen - in Exotik dar. Kurz: Ein Lateinamerikabild zwischen "Revolution und 'heißem Amazonas'". 5B
Doch
dürfte heute bei der festgestellten Dominanz politischer und wirtschaftspolitischer Berichterstattung über die Dritte Welt das "Krisenbüd" das folkloristische Bild Lateinamerikas überlagern - auch wenn spätestens jeden Sommer das Schlagertralala die ungetrübte Romantik von Copacabana und Fiesta Mexikana Wiederaufleben läßt.
1.5
Bewertung der Forschungslage zur Auslandsberichterstattung
Welcher Stellenwert kann nun den diversen Diagnosen zur Berichterstattung über die Dritte Welt - oder allgemeiner ausgedrückt - über die "Fernwelt" zugeordnet werden? Inwieweit vermögen sie, journalistische Leistungsvorstellungen zu erschüttern?
83
Vgl. WERNER A. MEIER a.a.O., S. 141, - JOSEF ECKHARD a.a.O., S. 768.
84
HELGA CASTELLANOS: Das Lateinamerikabild der Deutschen und das Deutschlandbild der Lateinamerikaner. Bestandsaufnahme und Ansatz einer vergleichenden Wertung. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 4/1974, 24. Jg., S. 55. - Vgl. WOLF GRABENDORFF: Von den Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Fremden. Klischees und Vorurteile im Verhältnis zwischen Lateinamerika und der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 1/1980, 30. Jg., S. 17 ff.
85
MANFRED WÖHLCKE: Lateinamerika in der Presse. A.a.O., S. 22 ff., Zitat S. 103.
19 Allein das in der Bundesrepublik vorherrschende Lateinamerikabild vergrößert die Versuchung, den bundesdeutschen Medien im Hinblick auf ihre Mittlerfunktion in der Völkerverständigung pauschal ein völliges Versagen anzulasten, werden sie doch schließlich alle der kulturellen Vielgestaltigkeit des Subkontinents, die sich im politischen, -wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Leben der einzelnen Staaten ganz unterschiedlich äußert, nicht annähernd gerecht. Dennoch muß man dabei berücksichtigen, daß das Lateinamerikabild in der Bundesrepublik kein einheitlich verzerrtes ist. So ist beispielsweise aufgrund unterschiedlicher politischer Weltanschauungen beim einzelnen Bundesbürger mit konservativen, liberalen und linksgerichteten Lateinamerikabildem zu rechnen. 06
Der Grad der Kom-
plexität und Realitätsfeme des individuellen Lateinamerikabildes ist - wie eingangs dargestellt - auch in entscheidendem Maße abhängig vom Bildungs- bzw. Erfahrungsstand des einzelnen. Alle drei Faktoren beeinflussen natürlich die individuelle Bevorzugung gewisser Medien. Da von der überregionalen, sogenannten Qualitätspresse, über Hörfunk und Femsehen, über die Regionalpresse bis hin zur Boulevard- und Regenbogenpresse mit einem starken Qualitätsgefälle in der Auslandsberichterstattung zu rechnen ist, ist davon auszugehen, daß bei schwerpunktmäßiger Lektüre der Qualitätspresse - unter Hinzuziehung weiterer Informationsmedien - das Lateinamerikabild differenzierter ausfallen dürfte als bei der Beschränkung auf Regional- oder Boulevardpresse und das Femsehen. Neben der Problematik selektiver Wahrnehmung im Prozeß des Fremdverstehens und den diversen Produktions- und Übermittlungsbedingungen von Nachrichten ist bei der qualitativen Bewertung von Auslandsberichterstattung auch der genrebedingte Rahmen, in dem Journalisten und Auslandskorrespondenten arbeiten, mitzubedenken, um ein überzogenes Urteil über journalistische Fehlleistungen zu vermeiden und realisierbare Verbesserungsvorschläge anzubieten. Inwieweit dies in den vorliegenden Untersuchungen zur DritteWelt-Berichterstattung geschehen ist, soll im folgenden untersucht werden:
36
So ist beispielsweise JUAN CARLOS TELLECHEA - als Korrespondent der "Deutschen Welle" und der "dpa" seit Jahren in Deutschland tätig - unterschiedlichen, politisch gefärbten Lateinamerikabildem begegnet, an denen sich dann die praktische Unterstützung politischer Bewegungen in den lateinamerikanischen Ländern orientiere. Dabei gehe man allerdings von der realitätsfemen Vorstellung aus, daß die dortigen Parteien der Christdemokraten, Liberalen, Sozialisten etc. mit den gleichnamigen Parteien in der Bundesrepublik identisch seien. Die Äußerungen von TELLECHEA entstammen einem Vortrag über "Das Lateinamerikabild in der Bundesrepublik Deutschland", den er am 22. November 1986 am Zentralinstitut für LateinamerikaStudien der Katholischen Universität Eichstätt im Rahmen einer Tagung mit dem Thema "Deutschland und Lateinamerika - Imageentwicklung und Informationslage" hielt. - Vgl. ders.: Das Bild Lateinamerikas in der Bundesrepublik Deutschland. In: JÜRGEN WILKE / SIEGFRIED QUANDT (Hrsg.): Deutschland und Lateinamerika. Imagebildung und Informationslage. Frankfurt am Main 1987, S. 116 ff.
20 Die älteste Studie zu dieser Thematik ist die Inhaltsanalyse von MANFRED WÖHLCKE mit dem Titel "Lateinamerika in der Presse" - 1973 veröffentlicht, ist sie bislang die einzige umfangreiche Untersuchung zur Lateinamerika-Berichterstattung.57 Es ging dem Autor darum, Lateinamerikabilder in ihrer politischen und wirtschaftlichen Qualität in der überregionalen Prestigepresse systematisch und objektiv zu erfassen. Dabei verstand WÖHLCKE unter dem Bildbegriff "reproduzierte Gestalten Lateinamerikas", also Auffassungen über Lateinamerika, die voneinander durchaus verschieden sein können. WÖHLCKES Anliegen war es, diese "reproduzierten Gestalten Lateinamerikas" auf ihre Qualität hin wissenschaftlich zu prüfen, sie nach ihrer "begrifflichen, logistischen und empirischen Gültigkeit" abzufragen. Als Untersuchungsobjekt schloß er die Lokal-/ Regionalpresse und die Boulevardblätter von vornherein aus, da sie, so WÖHLCKE, von ihrem Grundanliegen her das Informationsbedürfnis über Vorgänge im Ausland in Qualität und Quantität kaum befriedigen können. Diese Aufgabe sah er in erster Linie von der überregionalen Qualitätspresse gewährleistet. Er wählte folglich für seine Analyse die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Welt, das Handelsblatt sowie den Spiegel aus und zog zum Vergleich die in Deutschland erhältlichen Zeitungen Le Monde (Frankreich), Neue Zürcher Zeitung (Schweiz) und das Neue Deutschland (DDR) heran. Der Beobachtungszeitraum umfaßte das Jahr 1970. An WÖHLCKES Arbeit ist kritisch anzumerken, daß sie sich darauf beschränkt, Richtungen und Tendenzen in der Lateinamerika-Berichterstattung der einzelnen Presseorgane aufzuzeigen und Leseempfehlungen zu geben. Er verzichtete darauf, seine Kritik am zeitlich, geographisch, thematisch und ideologisch unausgewogenen Informationsfluß in den Presseorganen in einen klärenden Zusammenhang mit der Nachrichtengewinnung, -auswahl und -bearbeitung zu stellen und Aussagen zur Imagebildung in Verbindung mit dem Prozeß des Fremdverstehens und der Meinungsbildung zu sehen. So bleiben seine Erkenntnisse ohne wirkliche Schlußfolgerungen. Gerade um die Meinungsbildung ging es DANIEL GLASS in seiner 1979 erschienenen Untersuchung zum Büd der Dritten Welt in der bundesrepublikanischen Presse.
98
Welches
Bild vermitteln solche Zeitungen, aus denen sich Arbeiter und niedere Angestellte überwiegend informieren - Rezipienten, die der Autor als "nicht verbildete Leserschaft" bezeichnet? Um diese Frage zu beantworten, wählte GLASS die Westdeutsche Allgemeine
«
MANFRED WÖHLCKE a.a.O., S. 20.
58
DANIEL GLASS: Die Dritte Welt in der Presse der Bundesrepublik Deutschland. Eine ideologiekritische Fallstudie. Frankfurt 1979.
21 Zeitung, Bild, Quick und die Oewerkschaftszeitung Metall als typische Informationsquellen und beobachtete sie über das ganze Jahr 1975. Die zuvor genannten Untersuchungsergebnisse von GLASS werden allerdings durch einige Ansatzschwächen geschmälert: Die Studie stellt einer verzerrten Medienberichterstattung eine "eigentliche Realität" gegenüber, nämlich die Abhängigkeit der Unterentwicklung in der Dritten Welt von der gegenwärtigen Hochentwicklung der Industrieländer - eine einseitige Festlegung auf die sogenannten "Dependencia-Theorien" als einzig wahres Deutungsmuster.99 Es ist auch zu fragen, ob GLASS die ausgewählten Massenblätter mit ihrem Informationsangebot nicht überfordert, wenn er sie abschließend an der für ihn beispielhaften Berichterstattung der Neuen Zürcher Zeitung mißt. Handelt es sich dabei doch um eine überregionale "Prestigezeitung" (WÖHLCKE), die einen anderen Kreis als das "nicht verbildete" Leserpublikum ansprechen will. Es scheint also, als ob sich der Autor über die unterschiedlichen genretypischen Grundanliegen der einzelnen Printmedien nicht ganz im klaren war. Von den Schwächen der vorangegangenen Analyse versucht sich die 1983 veröffentlichte Studie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Titel "Dritte Welt und Medienwelt" ausdrücklich abzuheben. 60 Der Vorwurf, GLASS habe seine Untersuchung auf Ergebnisse konzentriert, ohne sie mit den Bedingungen der Nachrichtenproduktion in den Pressemedien in irgendeinen Bezug zu bringen, scheint allerdings zu hart.61 Doch während GLASS den Prozeß der Nachrichtenproduktion - den er in einem kurzen Abriß schildert - recht unnachsichtig kritisiert, begegnen die Autoren KARLA FOHRBECK und ANDREAS WIESAND den problematischen Umständen der Nachrichtenbeschaffung mit mehr Milde, sie erkennen das ehrliche Bemühen vieler Korrespondenten um eine umfassende und tiefgründigere Berichterstattung mehr an. Sicher liegt dies nicht zuletzt daran, daß sie neben Boulevardblättern und Lokal-/ Regionalzeitungen die überregionale Tagespresse, Wochenzeitungen und Fachzeitschriften (insgesamt 25 Presseorgane) herangezogen und auch das Hörfunk- (WDR) und Fernsehprogramm (ARD/WDF) beobachtet haben.
39
Einen Überblick über Dependencia-Theorien und die grundlegende Literatur dazu liefert UWE HOLTZ (Hrsg.): Brasilien. Eine historisch-politische Landeskunde. Paderborn 1981, S. 10 ff.
60
BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT, a.a.O.
61
Ebenda. S. 28. - Vgl. DANIEL GLASS: Die Dritte Welt... A.a.O., S. 25 ff.
22 Auch sind die Autoren davon abgegangen, die Medienberichterstattung an einer "eigentlichen Realität" zu messen. Sie deuten vielmehr Nachrichten als eine "Interpretation unserer Umwelt, eine Sinngebung des beobachtbaren und vor allem des nicht beobachtbaren Geschehens". So kommt die Studie, die sich auf eine Erhebung aus den Monaten Juni und November 1982 sowie Oktober 1983 stützt, auch zu positiven Befunden: Die Analyse läßt den Schluß zu, daß eine koloniale Perspektive nicht mehr in der Berichterstattung zu finden ist, wenngleich sich auch noch Vorurteile in Überschriften-Klischees, auf Witzseiten, bei Bildunterschriften usw. finden - sei es aus Unkenntnis oder aus Zynismus. Von einer insgesamt böswillig verzerrenden Berichterstattung ist kaum noch zu sprechen. Ausnahmen deuten auch in diesem Falle eher auf Fahrlässigkeit in der Wort- und Bildauswahl oder auf genretypische "blinde Flecken" bestimmter Ressorts oder Medienfoimen hin. Nach Ansicht der Autoren darf man den "good will" der Redaktionen beim Thema Entwicklungspolitik Uberwiegend voraussetzen. So wirken die Ergebnisse insgesamt weniger anklagend und entmutigend, zumal einige realisierbare Lösungswege angeboten werden. Neben den wenigen empirischen Untersuchungen stößt man auf eine Fülle von Aufsätzen, die allerdings - von wenigen Ausnahmen abgesehen - eine empirische Aussagenbasis vermissen lassen und eher mit Essays vergleichbar sind. 62 Betont ideologiekritisch und sehr einseitig sind die Texte, die das auf einer angeblich US-amerikanisch-geprägten Berichterstattungspraxis basierende Chile- und Nicaragua-Bild hierzulande anprangern. 83 Da ihre Ergebnisse eher aus einer anti-amerikanischen Grundhaltung zu erklären sind - fast möchte man mit MANFRED KOCH-HILLEBRECHT sagen nach dem Motto "meines
62
Vgl. GUNTER WELLER: Von der Wirklichkeit und ihren Spiegelungen in den Medien. In: UNESCO-Dienst 4/84, S. 8 f.- FREIMUT DUVE: Die Dritte Welt in den Massenmedien. In: Friedensforschung und Entwicklungspolitik. Düsseldorf 1975, S. 54 f. - LEO GABRIEL: Alternativen zur Dritte-Welt-Berichterstattung. Lateinamerika-Nachrichten 100/1982. - RENATE VON GIZYCKI: Berichte aus der Dritten Welt - eine bundesdeutsche Misere. In Frankfurter Hefte 5/1973, S. 329 ff. (Teil 1) und 6/1973, S. 400 ff. (Teil 2). - JOSEF SCHMID: Die Dritte Welt in unseren Medien. In: Informationsfreiheit - ein Menschenrecht. München 1978, S. 95 ff. WALTER SCHÜTZ a.a.O. - ROBERT JUNGK: Zu wenige Augen, zu wenige Ohren. Vom Elend der Auslandsberichterstattung. In: medium 2/1979, 9. Jg., S. 32 f. ANTON ANDREAS GUHA / WALTER HAUBRICH / MANFRED VON CONTA, a.a.O.
63
JAKOB ANDREAS RÖSEL: Der Putsch gegen die Regierung Allende in der Presse der Bundesrepublik Deutschland. In: Jörg Becker (Hrsg.) a.a.O., S. 187 ff. - HEINZ G. SCHMIDT: Krieg mit anderen Mitteln. Informationspolitik als Strategie zur Konfliktverschärfung am Beispiel Nicaragua. In: medium 9/1985, 15. Jg., S. 5 ff.
23 Feindes Feind ist mein Freund" M (und umgekehrt) - als durch wissenschaftliche Nachforschungen, bleibt der mögliche Wahrheitsgehalt ihrer Ergebnisse im Dunkeln. Bei Bilanzierung der Forschungslage fällt auf, daß die Auseinandersetzung mit den Problemen auf dem Feld der internationalen Kommunikation in der Hauptsache auf zwei Schienen läuft: Ein Teil der Autoren greift die Problematik vom Themenkomplex des internationalen Nachrichtenflusses her auf und prangert "fast schon stereotyp"
68
das Nord-Süd-Gefälle
im internationalen Kommunikationsfluß und die gängigen Informationsstrukturen an und fordert die Neuregelung der internationalen Kommunikation. Zwar werden zu Recht Mängel in der Berichterstattungspraxis kritisiert, doch werden diese allein den westlichen Welt-Nachrichtenagenturen angelastet. - Tatsächlich produzieren die Weltagenturen AP, UPI, Reuter und AFP 45 bis 75 Prozent der Auslandsberichterstattung.
66
Der Prozentsatz
veröffentlichten Agenturmaterials schwankt von Land zu Land und liegt in den einzelnen Medien unterschiedlich hoch. So haben FOHRBECK und WIESAND bei ihrer Analyse festgestellt, daß mehr als die Hälfte der Presseberichte und über 70 Prozent der Rundfunknachrichten von deutschen und internationalen Agenturen stammten. Die journalistische Eigenleistung lag im Durchschnitt bei 23 Prozent. 67 Dieses unausgewogene Verhältnis führt dazu, daß die Nachrichtenagenturen das Themenangebot der nachgelagerten Massenmedien weitgehend strukturieren. Diese Situation in der Auslandsberichterstattung hat die Kritiker des gegenwärtigen Nachrichtenflusses offensichtlich dazu verleitet, den komplexen Prozeß des Fremdverstehens und der Imagebildung in der interkulturellen
M
Siehe MANFRED KOCH-HILLEBRECHT: Das Deutschenbüd. A.a.O. Im Zusammenhang mit dem Prozeß des Fremdverstehens spricht der Autor von "reaktiven Nationenbildem". In Bezug auf die diversen Deutschlandbilder heißt es auf Seite 126: "Deutschland hat mit seinen vielen Nachbarn viele Feinde. Aber diese Nachbarn haben ihrerseits wieder Feinde. Nach dem Grundgesetz 'der Feind meines Feindes ist mein Freund' erhält Deutschland ein positives Image in einigen Ländern ..." - Als Beispiel nennt Koch-Hillebrecht übrigens die "spanischsprachigen Länder in aller Welt", besonders Lateinmerika, wo es eine US-Amerika-feindliche Grundeinstellung gibt. "Für Entwicklungsländer ist dieses reaktive Deutschenbüd besonders wichtig, da die hauptsächlichen Kriegsgegner Deutschlands, England und Frankreich, den größten Kolonialbesitz besaßen. Die Völker der Entwicklungsländer waren geneigt, in den Feinden ihrer Unterdrücker Freunde zu sehen."
88
BIRGIT SCHARLAU, a.a.O., S. 23.
«
Vgl. WERNER A. MEIER a.a.O., S. 106 ff.
«
KARLA FOHRBECK / ANDREAS JOHANNES WIESAND: Dritte Welt a.a.O., S. 13.
24 Kommunikation oder die Abläufe in der Nachrichtengewinnung, -Übermittlung und -aufbereitung außer acht zu lassen. Die gleichen Mängel treten auch bei den empirischen Analysen auf, die sich auf die Verzerrung, auf Klischees und Stereotypen in der Auslandsberichterstattung spezialisierten. Unglücklicherweise
verstehen
einige
der
Untersuchungen
unter
"Verzerrung"
die
unzutreffende Darstellung von "tatsächlicher Realität", was den Wert ihrer Ergebnisse noch zusätzlich einschränkt. "Die Empörung über die vielen 'falschen' und 'verzerrenden' Bilder bleibt hilflos, solange sie immer nur von aufgeklärter Warte her feststellt, daß empirische Realität und Medienrealität sich nicht entsprechen. Sie nennt aber weder die historischen und aktuellen Ursachen, warum dies so ist, noch die Bedingungen, unter denen 'richtige' und 'entzerrte' Bilder herstellbar wären." 68 So ist das bisher Erforschte zu bruchstückhaft. Die Forderungen bleiben in der Regel abstrakt. Allein schuldig erscheinen die Nachrichtenagenturen, die bösartigen "metropolitanen Manipulateure"69 oder die Zeitungen selbst. Die diagnostizierte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der journalistischen Arbeit hat vielfältige Ursachen, denen im folgenden am Beispiel der Bundesrepublik nachgegangen werden soll. Im allgemeinen gilt es dabei, die theoretisch-systematische Ausbildung von Journalisten zu hinterfragen und im besonderen die Kriterien der Auswahl und Stationierung von Korrespondenten, die Arbeitsbedingungen von Auslandsberichterstattem, die Kriterien der Nachrichtenauswahl und das Verhältnis zwischen Korrespondenten und Mutterhaus zu analysieren. Damit soll die Kritik an den bundesdeutschen Massenmedien auf ihre Berechtigung hin geprüft, gegebenenfalls relativiert oder präzisiert werden.
68
BIRGIT SCHARLAU a.a.O., S. 24.
69
Ebenda.
25 2. STRUKTURPRAGENDE UND QUALITATSMINDERNDE FAKTOREN IM ENTSTEHUNGSPROZESS VON AUSLANDSBERICHTERSTATTUNG 2.1 Journalisten zwischen Theorie und Praxis: ein gestörtes Verhältnis und seine Folgen Nach Untersuchungen von KARLA FOHRBECK und ANDREAS JOHANNES WIESAND, THOMAS ORUBER, BARBARA KOLLER und MANFRED RÜHL, ELISABETH NOELLE-NEUMANN und WINFRIED SCHULZ ist die Hoffnung auf individuelle Selbstverwirklichung das wichtigste Motiv zur Wahl des Journalistenberufs. Die Vorstellung abwechslungsreicher, kreativer Arbeit im Umgang mit einem vielfältigen, vielleicht illustren Personenkreis oder die Hoffnung, schriftstellerisches Talent im Journalismus auszuleben, sind dabei eine starke Triebfeder. An zweiter und dritter Stelle der Berufsmotive stehen wirtschaftliche Erwägungen und Karrierehoffnungen. 70 "Individuelle, materielle und eigennützige Motive sind also die drei wichtigsten Berufsmotive", bemerkt
CECILIA VON
STUDNITZ in ihrer Studie "Kritik des Journalisten". Sie überlagerten eindeutig die gesellschaftspolitischen Berufsmotive.71 Es ist somit anzunehmen, daß die Bewerber um eine redaktionelle Ausbildung bei Presse, Hörfunk oder Femsehen - wenn überhaupt - nur vage Vorstellungen von ihrer zukünftigen gesellschaftspolitischen Verantwortung und der daraus resultierenden journalistischen Berufsethik haben. GRUBER, KOLLER und RUHL stellten beispielsweise nach einer empirischen Befragung von Bewerbern der Deutschen Joumalistenschule in München fest: "Es war keineswegs so, daß die Befragten allen Personen gleich freundlich begegnen wollten, um das journalistische Ziel eines möglichst hohen Informationsstandes zu erreichen. Vielmehr brachten sie - teilweise recht deutlich - ihre persönlichen Sympathien und Antipathien zum Ausdruck." Die Autoren sprechen von einer Pseudo-Toleranz der Befragten, die dort aufhöre, "wo die politischen Auffassungen der Gesprächspartner nicht mehr als 'links' gekennzeichnet werden können". 72
70
KARLA FOHRBECK / ANDREAS JOHANNES WIESAND: Der Autorenreport. Hamburg 1972, S. 320. - ELISABETH NOELLE-NEUMANN / WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 64 f. - THOMAS GRUBER / BARBARA KOLLER / MANFRED RUHL: Berufsziel Journalist. Vorstellungen, Einstellungen und Bedingungen beim Eintritt in den Beruf. In: Publizistik 3-4/1974 und 1-2/1975, 19./20. Jg., S. 357.
71
CECILIA VON STUDNITZ a.a.O., S. 135.
72
THOMAS GRUBER / BARBARA KOLLER / MANFRED RÜHL a.a.O., S. 352.
26 Bislang hat die Mehrheit der Journalisten das Volontariat - also die praktische Redakteursausbildung in einem Medium - nach dem Schulabschluß oder einem Berufswechsel begonnen. Hochschulabsolventen, vor allem solche aus Publizistik- oder kommunikationswissenschaftlichen Studiengängen bilden noch immer eine Minderheit unter den Journalisten, wenngleich die Nachfrage nach studierten Journalisten heute wächst. So brachten beispielsweise neuere Befragungen von Kursteilnehmern des Deutschen Instituts für Publizistische Bildungsarbeit in Hagen folgendes Ergebnis: "Etwa 85 bis 90 Prozent der Volontäre haben das Abitur, fast 15 Prozent mehr als noch zu Beginn der siebziger Jahre. Etwas mehr als die Hälfte ist ohne Studium, zu einem erheblichen Teil aber nach Ausübung eines anderen Berufs in das Volontariat gekommen. Von denen, die studiert haben, besitzen nicht ganz 40 Prozent einen Abschluß." 73 Nach einer Untersuchung von NOELLENEUMANN und SCHULZ aus dem Jahre 1969 hatten 46 Prozent aller Redakteure die Universität besucht, doch nur 15 Prozent ihr Studium mit Erfolg abgeschlossen.
74
Die Redakteursausbildung stellt also für die Mehrheit der Volontäre die Möglichkeit dar, theoretisches Wissen über Journalismus und seine öffentlichen Aufgaben zu erwerben. Aus Kostengründen gleicht ihre Ausbildung aber leider einem Wurf ins kalte Wasser, das heißt, "daß bis auf einige Ausnahmen die Berufsanfänger voll in den journalistischen Produktionsprozeß eingegliedert sind".75 Das "Handwerk des Journalisten" erlernen sie quasi nebenbei - in erster Linie aus dem Erfahrungsschatz älterer Kollegen, die allerdings durch den täglichen Produktionsdruck gestreßt und damit nur bedingt ansprechbar sind. Eine systematische Ausbildung über die gesellschaftspolitische Funktion des Journalismus, über die Ergebnisse der Medienforschung, über Mediendidaktik oder über die journalistischen Textsorten findet im Rahmen des Volontariats so gut wie nicht statt oder bleibt bruchstückhaft.
Auch ein vierwöchiger berufsbegleitender Volontärskursus in den publizi-
stischen Instituten von Hagen oder Hamburg vermag hier schwerlich die Lücken zu
73
WERNER VON HADEL: Nachfrageanalyse. In: Journalist 9/1979, S. 16. - Vgl. CECILIA VON STUDNITZ a.a.O., S. 75 f.
74
ELISABETH NOELLE-NEUMANN / WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 66.
7
» WERNER VON HADEL: Entscheidungen über Lernziele und -inhalte in der berufsbegleitenden Journalistenausbildung. Erfahrungen aus der Praxis des "Deutschen Instituts für Publizistische Bildungsarbeit". In: Publizistik 3-4/1974 und 1-2/1975, 19./20. Jg., S. 449. - Vgl. MANFRED RÜHL: Berufliche Sozialisation von Kommunikatoren. Zum Beispiel Volontäre. In: FRANZ RONNEBERGER (Hrsg.): Sozialisation durch Massenkommunikation. Stuttgart 1971, S. 126 ff.
27 schließen. So bleiben zentrale Gesichtspunkte des Journalismus der autodidaktischen Weiterbildung überlassen. 76 Aber auch die Joumalistenausbildung in Hoch- oder Fachschulen wird noch nicht in jedem Fall den Anforderungen der Praxis gerecht: So stellte STEPHAN RUSS-MOHL 1983 bei Prüfung der Angebote von Joumalistenschulen und der hochschulgebundenen Journalistenausbildung fest, daß - gemessen am Anteil und Stellenwert der Auslandsberichterstattung in den bundesrepublikanischen Medien - "praxisnahe journalistische Aus- und Fortbildungsangebote zur internationalen Kommunikation noch dünn gesät" sind. Gr erklärt diesen Mangel damit, daß der Korrespondentenberuf noch immer als exklusiv angesehen werde, so daß sich viele für die Ausbildungsplanung Verantwortliche wohl fragten, ob es sich überhaupt lohne, in die Ausbildung das Feld der Auslandsberichterstattung miteinzubeziehen, da es doch den meisten Journalisten ohnehin versperrt bleibe. "Dabei wird offenbar leicht übersehen, daß sich bekanntlich neben den Auslandskorrespondenten - weniger sichtbar vielleicht, aber kaum minder durchschlagend auf die Qualität der Medienberichterstattung - ganze Heerscharen von Journalisten tagtäglich mit Auslandsnachrichten befassen." 77
2.1.1
Journalisten und ihr Publikum: stereotypes Bild vom Adressaten
Mit einem "gestörten Verhältnis von Praxis und Theorie", das allen Bildungspraktikem hinreichend bekannt sei, charakterisiert WERNER VON HADEL die Folgen der Ausbildungspraxis. 78 Sie werden konkret in der Verständnis- oder Hilflosigkeit, mit der viele Journalisten einer Kritik an ihren Leistungen gegenüberstehen: Mangelndes mediendidaktisches Wissen bewirkt, daß Leser, Hörer oder Zuschauer für den Journalisten in der Regel eine fiktive Größe bleiben. So haben wissenschaftliche Untersuchungen von Autoren wie JÜRGEN PROTT, ANDREAS EMMERICH, SIEGFRIED WEISCHENBERG, NOELLE-NEUMANN / SCHULZ u.a. nachgewiesen, daß Kommuni-
78
Vgl. WERNER VON HADEL: Entscheidungen ... A.a.O., S. 447.
77
STEPHAN RUSS-MOHL: Auslandsberichterstattung in der Joumalistenaus-fortbüdung. In: Publizistik 3-4/1984, 29. Jg., S. 590.
78
WERNER VON HADEL: Entscheidungen ... A.a.O., S. 448.
und
28 katoren nur ein stereotypes, also schematisch vereinfachtes Bild ihrer Adressaten haben.
79
Sie orientieren sich im hektischen Alltagsgeschehen eher an einem vermuteten Publikumsgeschmack denn am Ideal der öffentlichen Aufgabe. Steigendes oder sinkendes Kaufinteresse der Zeitungskunden bzw. Einschaltquoten werden als Indikator für die Qualität ihrer Arbeit interpretiert. Artikulieren Rezipienten allerdings Unzufriedenheit gegenüber journalistischen Leistungen, reagieren die Betroffenen gewissermaßen von höherer Warte, indem sie auf ihre erzieherische, kontrollierende Funktion in der Gesellschaft pochen: "Der Leser als Einzelindividuum oder vertreten in Gruppen ist für viele Journalisten der REALITÄT jedoch nicht nur unbekannt, sondern gleichzeitig auch häufig uninteressant", schreibt CECILIA VON STUDNITZ.80
Ihre Feststellung stützt sie auf entsprechende
Untersuchungsergebnisse von FABRIS, GLOTZ und LANGENBUCHER. Laut FABRIS nannten nur 13 Prozent der befragten Journalisten die Interessen der Leser als ein Auswahlkriterium beim Schreiben eines Artikels. 30 Prozent orientierten sich dagegen vorwiegend an der redaktionellen Linie ihrer Zeitung. 81 GLOTZ und LANGENBUCHER stützen dieses Ergebnis. Nach den Orientierungskriterien für ihr soziales Handeln befragt, wies die Mehrheit der von ihnen angesprochenen Journalisten auf Berufskollegen hin, da sie dem Leser keine sachgerechte Beurteilung zutrauten. 82 Im Zusammenhang mit der Selektion von Nachrichten nach dem Kriterium der Relevanz stellt ANDREAS EMMERICH fest: "Ein Abschätzen von Nachrichten daraufhin, für wieviel Personen eine Nachricht handlungsrelevant ist oder werden könnte, ersetzt bei den Journalisten offenbar dezidiertes Nachdenken darüber, welche Informationsbedürfnisse das Publikum hat und wie diese mit sozialwissenschaftlichen Methoden zu erheben sind." Und weiter heißt es: "Diese Haltung läßt sich als angebotsorientierter Journalismus beschreiben. Dazu sei an dieser Stelle die durch Beobachtung gestützte Vermutung gestattet, daß die Redakteure sich zunächst fragen, ob eine bestimmte Meldung sie selbst interessiert 79
JÜRGEN PROTT a.a.O. - ANDREAS EMMERICH: Nachrichtenfaktoren. Die Bausteine der Sensationen. Eine empirische Studie zur Theorie der Nachrichtenauswahl in den Rundfunk- und Zeitungsredaktionen. Saarbrücken 1984. - SIEGFRIED WEISCHENBERG: Die Außenseiter der Redaktion. Struktur, Funktion und Bedingungen des Sportjournalismus. Bochum 1976, S. 273 ff. Zitiert nach CECILIA VON STUDNITZ a.a.O., S. 158. - ELISABETH NOELLE-NEUMANN / WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 104.
80
CECILIA VON STUDNITZ a.a.O., S. 160.
81
HANS HEINZ FABRIS a.a.O., S. 55.
82
PETER GLOTZ / WOLFGANG R. LANGENBUCHER: Der mißachtete Leser. Köln/Berlin 1970, S. 109. - Vgl. WOLFGANG DONSBACH: Journalisten zwischen Publikum und Kollegen. Forschungsergebnisse zum Publikumsbild und zum in-groupVerhalten. In: Rundfunk und Femsehen 2-3/1981, S. 181.
29 und dann entscheiden, ob dies bei einem großen Teil ihres Publikums ebenfalls der Fall sein könnte." 83
2.1.2
Mißverständnis zentraler Begriffe der journalistischen Ethik, dargestellt am Beispiel des journalistischen Objektivitätsgebotes
Das "gestörte Verhältnis von Praxis und Theorie" wird auch deutlich in dem breiten Mißverständnis eines zentralen journalistischen Grundbegriffes: In ihren Gastvorträgen, die regelmäßig im Rahmen des Studiengangs Fachjournalistik Geschichte an der Gießener Justus-Liebig-Unlversität stattfinden, beantworteten Presse- und Rundfunkjoumalisten Kritik an einseitigen Aussagen wiederholt mit dem Argument "Berichterstattung ist immer subjektiv". Diese Feststellung liegt in einem journalistischen Trend, das Objektivitätsgebot in der journalistischen Ethik als Verursacher eines "Fakten-Fetischismus" M
abzutun.
Kritiker dieses Postulats, das in Anlehnung an das Dogma des anglo-amerikanischen Journalismus "facts are sacred, comment is free" auf die strikte Trennung von Kommentar und Nachricht hinweist, glauben, daß das Objektivitätsgebot für eine Bevorzugung tagesaktueller, referierender Berichterstattung auf Kosten interpretierender, kommentierender - also meinungsbetonter - Hintergrundberichterstattung und damit für ein sinkendes Informationsniveau verantwortlich sei. Denn "jeder Versuch eines Journalisten", so schreibt ZDF-Korrespondent NORBERT BRIEGER, "so viele Details wie nur möglich an den Mann zu bringen, ... vernebelt nur das Verständnis für Zusammenhänge, für Strukturen und Verhältnisse und für die Richtung einer Entwicklung ... "
89
Tatsächlich dient das Gebot aber nicht dazu, alle anderen journalistischen Textsorten neben den referierenden Gattungen Nachricht und Bericht als unjoumalistisch abzuwerten. Es plädiert jedoch für eine Trennschärfe zwischen referierenden, interpretierenden und kommentierenden Textsorten. Dies soll dem Rezipienten lediglich ermöglichen, zwischen
83
ANDREAS EMMERICH a.a.O., S. 160.
84
CHRISTIAN SIEGEL: Die Reportage. Stuttgart 1978, S. 32. - Mit den folgenden Ausführungen über den Objektivitätsbegriff wird nicht der Anspruch einer umfassenden erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung erhoben, da dieses komplexe Thema den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Es geht hier vielmehr um das journalistische Verständnis und entsprechende Handhabung des Objektivitätsbegriffes, der in der journalistischen Ethik eine zentrale Rolle spielt.
8S
NORBERT BRIEGER a.a.O., S. 18.
30 einem Ereignis und der persönlichen Auslegung und Bewertung des Journalisten deutlich zu unterscheiden.86 Nun wird die Grenzziehung zwischen Information und Interpretation oftmals als künstlich abgelehnt mit der Begründung, "ein Objektivitätsbericht, der die Daten und die Deutung von Information auseinanderreißt, ist ohne Vernunft". Daten und Fakten, so heißt es bei ULRICH SONNEMANN, könnten erst dann Objektivität beanspruchen, wenn sie innerhalb ihres Kontextes interpretiert werden: "Der Weg zur Objektivität führt über das Subjektivste ... die Reflexion."87 Ahnlich argumentiert MANFRED HEUN, wenn er ironisch schreibt: "Somit ist eine Nachricht dann, wenn sie objektiv ausgewählte, objektive Aussagen über objektive Sachverhalte in objektiver Darstellung enthält, objektiv. Wird sie in objektivem Stil vorgetragen, dann führt sie gewißlich zu einem objektiven Uberblick; vorausgesetzt natürlich, sie stammt aus Quellen, die einen objektiven Standpunkt erkennen lassen."88 Was daraus für die journalistische Arbeit folgt, stellte NORBERT BRIEGER in einem Gastvortrag für sich fest: Die absolute Objektivität sei "ohnehin nur ein ideeller Punkt Omega", weil die objektive Information, bedingt durch "subjektive Entscheidungszwänge" und den "Erfahrungsschatz des Informationsvermittlers", nur subjektiv vermittelt werden könne. "Ich plädiere ganz stark für den Mut eines Korrespondenten zur Subjektivität. Ich bekenne mich dazu."89 Nach Meinung des ARD-Joumalisten HANS HÜBNER krankt das deutsche Femsehen an mangelndem "Mut zur Subjektivität". Denn: "Ein Film, der nicht die persönliche Handschrift des Autors trägt, der also nicht subjektiv ist, wird langweilig."90
86
Die Dreiteilung journalistischer Darstellungsfoimen in referierende, interpretierende und kommentierende Textgattungen ist entnommen: ECKART KLAUS ROLOFF (Zusammenstellung): Journalistische Textgattungen. München 1982. - Vgl. WALTHER VON LAROCHE: Einführung in den praktischen Journalismus. 6. bearbeitete Auflage. München 1982, S. 119 f.
87
ULRICH SONNEMANN: Dialektik der Nachricht. In: PAUL HUBNER (Hrsg.): Information oder herrschen die Souffleure? Reinbek 1964, S. 10 und S. 12.
88
MANFRED HEUN: Die Subjektivität der öffentlich-rechtlichen Nachrichten. In: ERICH STRAßNER (Hrsg.): Nachrichten. München 1975, S. 69.
89
NORBERT BRIEGER a.a.O., S. 18 f.
90
HANS HÜBNER: Lateinamerika-Berichterstattung im Femsehen. In: JÜRGEN WILKE / SIEGFRIED QUANDT (Hrsg.) a.a.O., S. 86.
31 Die Autoren weisen zu Recht darauf hin, daß auch Journalisten dem Prozeß der selektiven Wahrnehmung, dem jeder Mensch aufgrund seiner Verbundenheit mit bestimmten soziokulturellen Bezugsgruppen unterworfen ist (siehe Kapitel 1.2), nicht entrückt sind, das Bild vom "wertneutralen Informationsvermittler" folglich irreal ist. Dennoch erscheint der Umgang mit den Begriffen der Objektivität und Subjektivität in diesem Zusammenhang zu leichtfertig, so daß die Gefahr einer allmählichen Diskreditierung eines zentralen journalistischen Arbeitsideals besteht. Wenn Kritiker des Objektivitätsgebotes das Argument der inhärenten Subjektivität ins Feld führen, dann unterstellen sie den Verfechtern der journalistischen Ethik Ignoranz gegenüber sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten. Aber die liberal-demokratische journalistische Berufsethik deutet den Begriff der Objektivität weniger erkenntnistheoretisch als handwerklich. Dabei wird Objektivität als Synonym für das journalistische Bemühen um sachliche, nachprüfbare und stichhaltige Berichterstattung begriffen. Objektive Berichterstattung wird getragen von dem Bemühen um Wahrheitsfindung, sie vermeidet unbegründete Generalisierungen und Vorurteile: Objektivität als Synonym für Fairneß. 91 Eine solche Definition leistet keinem "Fakten-Fetischismus" Vorschub, sondern dient als Korrektiv für subjektive Willkür, sei es im Referieren von Fakten oder in der Analyse. WALTHER VON LAROCHE spricht in diesem Zusammenhang von "äußerer Objektivität", die sich durch Einhaltung formaler Prinzipien und Maßstäbe erreichen lasse.92
2.2
Ragwürdige Auswahlkriterien für Auslandskorrespondenten: unzureichende Sprach- und Landeskenntnisse und ihre Folgen
Die Suche nach möglichen Ursachen für eine unzureichende Auslandsberichterstattung läßt sich bei den Kriterien der Auswahl von Auslandskorrespondenten fortsetzen. Wie bereits festgestellt, gibt es bislang noch keine spezifische Ausbildung für Auslandskor91
Vgl. HANSJOACHIM HÖHNE a.a.O., S. 35. - EMIL DOVIFAT / JÜRGEN WILKE: Zeitungslehre I. 6. neubearbeitete Auflage. Berlin/New York 1976, S. 83. WALTHER VON LAROCHE a.a.O., S. 120 f. - PROJEKTTEAM LOKALJOURNALISTEN (Hrsg.): ABC des Journalismus. 2. Auflage. München 1984, S. 41 ff. DIETER LAU, Programmdirektor des SWF-Landesstudios in Mainz, interpretiert Objektivität entsprechend den Programmrichtlinien im Sinne von "Verpflichtung zur ausgewogenen Recherche und zur Vollständigkeit sowie zur Sorgfalt bei Generalisierungen mit dem Ziel der Wahrheitsfindung. Dem Objektivitätsverständnis steht das Ausleben der Subjektivität im Sinne von Einseitigkeit, die Unterschlagung wichtiger Tatsachen und Aussagen, Generalisierungen entgegen." Das Zitat entstammt einer Seminarsitzung vom 29.5.1987 am Seminar für Geschichtsdidaktik / Fachjoumalistik der Justus-Liebig-Universität Gießen zum Thema "Programmgestaltung".
92
WALTHER VON LAROCHE a.a.O., S. 129.
32 respondenten. An ihrer Stelle stehen nur sehr allgemeine Normen über eine entsprechende Berufsqualifikation wie "die Fähigkeit, Fremdsprachen zu erlernen, ein lebhaftes Interesse an und Wissen um globale Zusammenhänge, eine ausgeprägte Neigung, Fremdes zu verarbeiten und verständlich zu reproduzieren". 93
Zusätzlich werden ein nervenstarkes Ver-
halten in schwierigen Situationen und handwerkliche Fähigkeiten im Umgang mit dem Medium vorausgesetzt.*4
Die "... genaueste Kenntnis von Land und Leuten, die völlige
Beherrschung der fremden Sprache" halten EMIL DOVIFAT und JÜRGEN WILKE für unerläßlich, will sich der Auslandsberichterstatter ein realitätsnahes Bild von seinem Gastland machen." Viele Aussagen von Korrespondenten vermitteln allerdings den Eindruck, daß besondere Landes- und Sprachkenntnisse keineswegs immer den Ausschlag zur Entsendung eines Journalisten ins Ausland geben: Um aktuelle politische Entwicklungen seines Berichtslandes zu begreifen, müsse sich der Korrespondent in der Kulturgeschichte dieses Landes auskennen, schreibt ZDF-Korrespondent GERHARD DAMBMANN. "Daß auch Sprachkenntnisse dazugehören, sei nur deswegen am Rande erwähnt, weil sich diese Selbstverständlichkeit noch immer nicht bis zu den Personalplanern der Heimatzentralen herumgesprochen hat." 9 6
"Nur selten spricht ein Journalist, der nach Lateinamerika kommt, die
Landessprache", berichtete der ARD-Reisekorrespondent Fachtagung.97
HANS HUBNER auf einer
Und noch drastischer drückt es der ARD-Auslandsberichterstatter
GERD
93
JOACHIM MOSKAU: Vom Dramatiker zum Stenografen. In: medium 4 / 1 9 7 4 , 4. Jg., S. 6. Zitiert nach RENATE WILKE: Umfang und Informationswert der Auslandsberichterstattung. In: JÖRG AUFERMANN / WILFRIED SCHARF / OTTO SCHLIE (Hrsg.): Fernsehen und Hörfunk für die Demokratie. Ein Handbuch über den Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage. Opladen 1981, S. 320 f. - Vgl. ANSGAR SKIVER: Auslandsberichterstattung - Eine Entwicklungs- und Forschungsaufgabe. In: JÖRG AUFERMANN / HANS BOHRMANN / ROLF SULZER (Hrsg.): Gesellschaftliche Kommunikation und Information. Bd. 2. Frankfurt 1973, S. 699.
94
NORBERT BRIEGER über Arbeit und Selbstverständnis eines Auslandskorrespondenten im Rahmen eines fachjoumalistischen Kolloquiums am 23.5.1986 im Seminar für Geschichtsdidaktik / Fachjournalistik der Justus-Liebig-Universität Gießen.
98
EMIL DOVIFAT / JÜRGEN WILKE: Zeitungslehre II. 6. neubearbeitete Auflage. Berlin/New York 1976, S. 24 ff.
*
GERHARD DAMBMANN: Fremde Traditionen vermitteln. In: RUPERT NEUDECK: Den Dschungel... A.a.O., S. 118.
97
HANS HÜBNER a.a.O., S. 78.
33 MEUER aus, wenn er sagt: "Wir kennen keinerlei Vorbereitung auf die Länder, in die wir gehen."98 Sicher trifft dieser Mißstand nicht auf alle Medien in gleichem Maße zu. Es scheint allerdings, als müßten sich Hörfunk- und Femsehanstalten die Kritik eher zuschreiben als die großen überregionalen Pressemedien, stammen die Beanstandungen doch aus dem Mund von Rundfunkjoumalisten. Dabei ist allerdings nicht klar, ob sich dies auf Auslandskorrespondenten im allgemeinen oder vornehmlich auf Reiseberichterstatter bezieht, die kurzfristig zu besonderen Ereignissen in diverse Auslandsregionen geschickt werden. Wie erklärt sich diese erneute Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis? Studiert man den Werdegang von Auslandskorrespondenten der überregionalen Presse, so fällt auf, daß diese Medien auf Journalisten mit einschlägigen landeskundlichen und fremdsprachlichen Erfahrungen zurückgreifen und dabei oft hausexteme Berichterstatter anwerben. 99 Hörfunk- und Femsehmedien, so stellt ANGELA WITTMANN-HAUSNER fest, rekrutierten ihre Auslandsberichterstatter in wachsendem Maße hausintem, wodurch diese stärker in die Hierarchie und Bürokratie des Mutterhauses eingebunden seien, als dies früher der Fall war.100 Spezielle Landes- und Sprachkenntnisse gäben bei der Bewerbung eines Journalisten um einen Auslandsposten nicht mehr zwingend den Ausschlag, wo es Positionen und Parteienproporz mit zu berücksichtigen gilt. Personalpolitik und neuerdings auch die Besetzung von Auslandsposten in den Rundfunkanstalten seien vom Parteienproporz bestimmt, klagt PETER SCHOLL-LATOUR. Die Folge sei, daß ein karrierebewußter Journalist "Antipositionen in der Berichterstattung" vermeide, um seinen Posten nicht zu verlieren, schreibt der Korrespondent. "Wir kommen hier zum bedrohlichsten Phänomen, der Herabminderung und dem Aussageverlust der Auslandsberichterstattung." SCHOLLLATOUR deutet damit auch auf die Gefahr der "Anpassung [von Korrespondententen] an gewisse Denkschablonen und Konformismen, wie sie manchmal in den Heimatredaktionen gängig sind und die angeblich vom Publikum honoriert werden". 101
98
GERD MEUER: "Ich habe keine fertigen Antworten." Bemerkungen zur Rolle des Auslandskorrespondenten. In: medium 8/1985, 15. Jg., S. 23.
99
Siehe die Vitae von Lateinamerika-Berichterstattem und -Spezialisten der FAZ, WELT u.a. im Anhang.
100
ANGELA WITTMANN-HAUSNER a.a.O., S. 449 f.
101 PETER SCHOLL-LATOUR: Leistung zum Prinzip erhoben. Konzepte für die Zukunft der Auslandsberichterstattung. In: RUPERT NEUDECK: Den Dschungel ... A.a.O., S. 57. - Vgl. MANFRED VON CONTA a.a.O., S. 22. - GERD MEUER a.a.O., S. 27.
34 Mangelnde Landes- und Sprachkenntnisse zwingen viele Auslandsberichterstatter, sich über die erste Orientierungsphase hinaus in ihrem Gastland vorwiegend unter Diplomaten und ausländischen Firmenvertretern und mit Hilfe von Dolmetschern zu bewegen. Hier erhalten sie die nötige Orientierung und Unterstützung, das heißt, man hilft ihnen beim Aufbau eines Informantennetzes, gibt ihnen Auskunft über politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen. Damit geraten Korrespondenten - insbesondere Reise- oder Sonderberichterstatter - in die Gefahr, sich auf ein bestimmtes Milieu und der damit verbundenen Sichtweise zu beschränken.102 Mit seinem Buch "Interview mit Lateinamerika" liefert der Femsehkorrespondent THILO KOCH unfreiwillig ein Paradebeispiel für ein erfahrungsarmes und beschränktes Länderbild, das sich aus solch einer Milieu-Beschränkung ergeben kann: In Erinnerung an einen Lateinamerikabesuch an der Seite des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann schwärmt KOCH von der Herzlichkeit des Lateinamerikaners, von der unbekümmerten Vitalität, von der Freiheit, von der Erotik Lateinamerikas, den vielfältigen Schönheiten von Natur und Kultur. Der Leser erhält dabei ein Lateinamerikaportrait, das aus RumGetränken, Calypso-Musik und plärrenden Radios, aus Swimming-Pools und Haciendas, aus Palmenrascheln, Blütenmeer, Papageien und Kolibris, aus südländischem Pathos und lateinischer Rhetorik besteht. 103
Angesichts eines solchen Bildes - aus dem Erfah-
rungsschatz eines sich auf Empfangen und in schönen Hotels tummelnden Reisekorrespondenten entstanden - sieht KOCH den Unterschied zwischen Lateinamerikanern und Deutschen mit Wehmut: "Alle Kinder studieren irgendetwas, aber keines schien mir so angestrengt auszusehen wie Studenten bei uns in Europa, so 'von des Gedankens Blässe' angekränkelt."104 Und bezugnehmend auf das Deutschlandlied zu Ehren des Bundespräsidenten heißt es: "Die venezolanische Militärkapelle spielt es - im Gegensatz zur eigenen
- NORBERT SCHNEIDER: Parteieneinfluß im Rundfunk. In: JÖRG AUFERMANN u.a.: Fernsehen ... A.a.O., S. 116 ff., insbesondere S. 122. 102
Diese freiwillige Milieu-Beschränkung wird oft als sogenannter "MetropolenJournalismus" kritisiert und mit Zeitdruck in der Korrespondentenarbeit oder mit Erfahrungsmangel der Berichterstatter begründet. Siehe ROBERT JUNGK a.a.O., S. 32. - KARLA FOHRBECK / ANDREAS JOHANNES WIESAND: Dritte Welt und Medienwelt. A.a.O., S. 22. - RUPERT NEUDECK: Arbeitsbedingungen der Korrespondenten - Privilegiert oder am Puls der Basis? In: Ders.: Den Dschungel ... A.a.O., S. 15 f.
103
THILO KOCH: Interview mit Lateinamerika. Stuttgart 1971, S. 8 ff.
104
Ebenda, S. 8.
35 flotten, beinahe lustigen Hymne - schwer, langsam, tragisch, würdig, wuchtig, wagnerianisch. Sind wir so? Ach ja, so sind wir wohl."
103
"Selbständig reisenden Fernsehteams", so merkt RENATE VON GIZYCKI in diesem Zusammenhang an, "wird von mehr oder minder geschickten PR-Stellen zumeist die Schauseite eines Landes präsentiert ... Freundliche Gastgeber empfehlen Ausflüge in die neuesten Touristikparadiese anstelle der geplanten Slum-Besuche; freundliche Begleiter sollen dem Reisenden die schwierige Orientierung erleichtern helfen ... Der Reisende braucht sich um nichts zu kümmern; gegenüber der Bevölkerung ist er so priviligiert, daß er kaum noch mit ihr in Kontakt kommt." 106 Der mangelnde Kontakt zur Bevölkerung findet dann oftmals seinen Ausdruck in völligem Unverständnis für die wirtschaftlichen und sozialen Nöte in weiten Teilen Lateinamerikas und den daraus erwachsenden Unruhen und Gewalttätigkeiten.107 So konnten beispielsweise die Leser des Handelsblattes im Dezember 1985 einem Reisebericht über die Attraktivität brasilianischer Tagungszentren folgende Informationen entnehmen: "Sicher ist an den immer wieder angesprochenen Uberfällen von Rio und Sao Paulo etwas dran. Die Antwort der Brasilianer: 'In welcher Groß- und Hafenstadt muß man nicht auf sich aufpassen ?' befriedigt nicht. Man muß schon ein wenig vorsichtig sein und braucht letztlich nicht alles mit sich herumzuschleppen. Der Autor ist jedenfalls stundenlang durch beide Städte geschlendert, hat fotografiert und ist - abgesehen von manchmal lästiger Bettelei heil herausgekommen."108 Obwohl ihn die offizielle Stellungnahme angeblich nicht befriedigt, versäumt es der Autor, einmal nach den Ursachen von Bettelei und häufigen Uberfällen zu fragen und damit dem Konferenz-Touristen eine sensible und verständnisvolle Verhaltensweise gegenüber der brasilianischen Bevölkerung nahezulegen. So scheint neben "bösartigen Mücken" die "lästige Bettelei" der einzige Punkt zu sein, der dem Touristen Angst machen und den Spaß an brasilianischen Luxushotels und Traumstränden, an süffigen Cocktails und dem institutionalisierten Karneval von Rio trüben könnte.
103
Ebenda, S. 11.
106
RENATE VON GIZYCKI: Eingeschränktes Weltbild. Bemerkungen zum Selbstverständnis von Auslandskorrespondenten. In: RUPERT NEUDECK: Den Dschungel ... A.a.O., S. 138.
107
Ebenda. - Vgl. DANIEL GLASS: Die Pygmäen ... A.a.O., S. 12 ff.
los »j) e r Konferenz-Tourismus folgt der leichten Wirtschaftsbelebung." In: Handelsblatt Nr. 238 vom 12.12.1985, S. 22.
36
Diese Beschreibungen sind keine Einzelfälle für oberflächliche Berichterstattung
und
verzerrte Nationenbilder durch freiwillige Milieu-Beschränkung von Korrespondenten. Exotisch-romantische Bilder sind ein fester Bestandteil der gängigen LateinamerikaBerichterstattung in bundesdeutschen Medien und erhalten ihr Pendant in ebenso oberflächlichen Ereignis- und Krisenberichten. Auch diese beschränken sich - mehr oder weniger freiwillig - auf ein bestimmtes Milieu, den Ort spektakulärer Vorgänge und sichtbarer Aktionen. "Wo der Mythos von Augenzeugenschaft regiert, geht es vorab ums Dabeisein ... Nahe am Ort des Geschehens sein, das ist die Devise des Reporters. Nur wo ist... eigentlich dieser Ort ? ... Im Zweifelsfalle immer dort, wo es 'action', wo es etwas zu filmen gibt. Also gleichen sich seit Jahren die Bilder ..."
109
2.3 Auslandskorrespondenten zwischen Arbeitsbedingungen im Gastland und Ansprüchen ihrer Mutterhäuser: ein Konflikt und seine Folgen Aber nicht allein mangelnde Landes- oder Sprachkenntnisse haben bewirkt, daß die Berichterstattung aus der Dritten Welt zu einer Art "Metropolen-Journalismus" geworden ist, der die Provinzen zu stark vernachlässigt. Auslandskorrespondenten in der Dritten Welt, so auch Lateinamerika-Berichterstatter, müssen geographisch und thematisch riesige Gebiete abdecken und arbeiten unter permanentem Zeitdruck, der durch die Zeitverschiebung oft schwer zu ertragen ist. Besonders in Fällen von außergewöhnlichen Ereignissen wie politischen Krisen oder Naturkatastrophen erwarten die Heimatredaktionen von Presse, Hörfunk und Femsehen einen permanenten Informationsausstoß. "Oft hat man in den Heimatredaktionen kaum eine Vorstellung von den Entfernungen und erwartet, daß man so leicht von einem Ort zum anderen kommt wie in Europa", klagt WDR-Femsehkorrespondent HANS HUBNER, der zu Sonderberichten oft nach Lateinamerika reist.
110
Er spricht damit das Problem der Abhängigkeit der Flugverbindungen und Straßenzustände von den klimatischen Bedingungen an. Hinzu kommen bürokratische Hürden bei Ein- und Ausreise in die verschiedenen lateinamerikanischen Staaten. Während europäische Korrespondentenplätze in der Regel von Presse, Hörfunk und Fernsehen großzügig besetzt werden, gebieten Lateinamerika-Korrespondenten im Ein-, höchstens Zwei-Mann-Betrieb über ein "wahres Nachrichten-Imperium: vom Rio Grande im Norden bis nach Feuerland im Süden". Von der "Großflächen-Korrespondenz" spricht 109
RENATE VON GIZYCKI: Den Dschungel... A.a.O., S. 11.
110
HANS HUBNER a.a.O., S. 79.
37 WALTER
HANF,
langjähriger
Lateinamerika-Hörfunkkorrespondent
des Bayerischen
Rundfunks. Es sei keine beneidenswerte Lage, allein ein Gebiet zu betreuen, "das vergleichsweise Gesamteuropa plus Nordafrika bis zum Sudan umfaßt". 1 1 1 * Dieser Umstand führt zwangsläufig zu einer Beschränkung des Korrespondenten auf einige wenige B e richtszentren, über die er dann bevorzugt berichtet, und von denen aus er Vorgänge in benachbarten Staaten verfolgt. Die Folge ist eine Einengung der Perspektive und eine Beschränkung auf einige wenige Themenkomplexe - ein Qualitätsverlust der Berichterstattung. Dies wird besonders akut, wenn die Region, von der aus berichtet wird, und das Gebiet, über welches berichtet wird, in einem feindlichen Verhältnis zueinander stehen. Dann besteht die Gefahr, daß Auslandskorrespondenten in die Informationspolitik eines Landes eingespannt werden, wenn sie im Rückgriff auf ihr Informantennetz und die örtlichen Zeitungs- oder Rundfunkberichte die Sichtweise ihres Stationsortes unkritisch übernehmen - bewußt oder unbewußt - und damit eventuell lancierte Meldungen weitergeben. 112 So ist es beispielsweise nicht unproblematisch, wenn WELT-Korrespondent
WERNER
THOMAS überwiegend von seinem Stationsort Miami aus über Vorgänge in Mittelamerika berichtet. Die WELT bezeichnet Miami als "eine Stadt mit optimalen Informationsmöglichkeiten und Flugverbindungen", 113
doch ist zu vermuten, daß sich THOMAS' Informa-
tionsmaterial über Nicaragua hauptsächlich aus US-amerikanischen Quellen wie Presse, Hörfunk und Femsehen, Nachrichtenagenturen, offizielle Regierungsstellen und Behörden sowie aus Verlautbarungen nicaraguanischer
Oppositionskreise in Miami zusammen-
setzt. 114 Es wäre zu überprüfen, inwieweit eine pro-amerikanische und anti-sandinistische Perspektive auf Nicaragua dominanten Niederschlag in THOMAS Berichterstattung finden. Stellen Zeitdruck und Großflächen-Berichterstattung die journalistische Leistungsfähigkeit auf eine harte Probe, so hat der Auslandsberichterstatter in Lateinamerika zusätzlich
111
WALTER HANF: Arbeitsbedingungen von Auslandskorrespondenten in Lateinamerika. In: JÜRGEN WILKE / SIEGFRIED QUANDT (Hrsg.) a.a.O., S. 68.
112
Vgl. HEINZ G. SCHMIDT a.a.O., S. 5 ff. - HANSJÜRGEN KOSCHWITZ: Der Falklandkrieg als Medienereignis. Zur Rolle der Massenkommunikationsmittel im internationalen Konflikt. In: Publizistik 1/1983, 28. Jg., S. 56.
113
Siehe Meldung "WELT-Fachmann für Südamerika" in: DIE WELT vom 15. Oktober 1985. - Vita von WERNER THOMAS im Anhang.
114
Miami hat sich seit Mitte der siebziger Jahre durch verstärkte Einwanderung lateinamerikanischer Flüchtlinge, darunter viele Exil-Kubaner und Nicaraguaner, zu einer hispano-amerikanischen Metropole entwickelt.
38
ständig um das Funktionieren seines privaten Informationssystems zu fürchten. Nach den Worten von WALTER HANF fällt der Korrespondent zunächst aus allen Wolken, wenn er beim Antritt seines Dienstes in irgendeiner lateinamerikanischen Hauptstadt feststellen muß, daß ihm hier kein so perfekter Presse-Informationsapparat mehr zur Verfügung steht, wie er ihn zuhause gewöhnt war: Der Überfluß an Informationen, der sich in der Bundesrepublik über Fernschreiber oder Bildschirme in die Redaktionen ergießt, schlägt in Lateinamerika in einen Mangel an Nachrichten um. 1 1 9
Ein Lateinamerika-Korrespondent
muß also sein eigener Nachrichtenbeschaffer werden. Dabei stößt er aber immer wieder auf Schwierigkeiten, die nicht allein auf technische Mängel zurückzuführen sind, sondern beabsichtigt sein können, wenn eine lateinamerikanische Regierung oder Behörde sich nicht in die Karten blicken lassen will und Informationen verweigert. Das Problem der Pressezensur wird von den Auslandskorrespondenten nicht nur im Zusammenhang mit Ostblockstaaten, sondern auch in Bezug auf die Mehrheit der Dritte-Welt-Länder beklagt.116 Die Haltung lateinamerikanischer Regierungen gegenüber ausländischen Berichterstattern pendelt zwischen "wohlwollendem Ertragen", "achtloser Duldung" und direkter Behinderung.117 Bei der Wechselhaftigkeit lateinamerikanischer Politik, die in einigen Staaten zur Lösung drängender wirtschaftlicher und sozialer Probleme von einem politischen Extrem ins andere fällt,118 ändern sich auch laufend die Arbeitsbedingungen der Korrespondenten. Hinzu kommt, daß der mühsam im Gastland aufgebaute Informantenkreis teilweise verlorengeht, wenn politische Veränderungen mit personellen Konsequenzen einhergehen. Unter solchen Umständen kann regime-kritische Berichterstattung zu einem gefährlichen Unternehmen werden. Ein in Lateinamerika fest stationierter Korrespondent sieht sich dann in der Regel vor die Alternative gestellt, entweder von einem Nachbarland aus zu berichten
119
WALTER HANF a.a.O., S. 63 f.
11S
Vgl. DIETER KRONZUCKER: Alles Gute über die Regierungen. Berichtsbeschränkungen in fast allen Ländern der Erde. In: RUPERT NEUDECK: Den Dschungel ... A.a.O., S. 122 ff. - NORBERT BRIEGER a.a.O., S. 14.- Über Nachrichtenverhältnisse in Lateinamerika siehe HANSJOACHIM HÖHNE: Report über Nachrichtenagenturen. Erweiterte Neuauflage. Baden Baden 1984, S. 385 ff.
117
WALTER HANF a.a.O., S. 65.
118
Zu Schwächen der politischen Struktur und Inkonsistenz der Wirtschaftspolitik in Lateinamerika siehe ARBEITSGEMEINSCHAFT DEUTSCHE LATEINAMERIKAFORSCHUNG (ADLAF) a.a.O., S. 18 ff.
39 und sich auf Sekundärinformationen zu verlassen, oder das Risiko kritischer Hintergrundanalysen abzuwägen und sich einer freiwilligen Selbstzensur zu unterwerfen. 119 Der Hang der Heimatredaktionen, bei spektakulären Ereignissen permanent Berichte anzufordern, stellt Korrespondenten vor große Probleme: Zum einen geraten sie unter Produktionsdruck auf Kosten einer gründlichen, aber zeitraubenden Recherche. Zum anderen können Hintergrundrecherchen zu innenpolitischen Vorgängen ein "heißes Eisen" bedeuten. Allein schon seine Anwesenheit bei Demonstrationen oder in Kriegsgebieten etc. kann für den Korrespondenten und vor allem für Fernsehteams mit einem großen persönlichen Risiko verbunden sein. Die starke Tendenz, "Berichte[n] mit spektakulärem, ereignisbezogenen Inhalt ... in jedem Fall Priorität vor strukturell-analytischen Stücken" einzuräumen, trägt den Medien heftige Kritik ein, aus der oftmals auch die starke Verbitterung von Auslandskorrespondenten gegenüber den Heimatredaktionen zutage tritt.120
RUPERT NEUDECK spricht in diesem Zusammenhang von einem "latenten
Aktualitätsterror", dem mittel- und langfristig aktuelle Themen zum Opfer fallen. 121 "Was aktuell ist", so erklärt PETER KREBS, "bestimmt zwangsläufig die Heimatredaktion, denn sie kennt das Nachrichtenangebot [durch die Nachrichtenagenturen], den Informationsstand des Publikums, die gegenwärtigen Themen und Eisen und latenten Strömungen in der öffentlichen Meinung. Diese Kenntnis bestimmt auch die Zusammensetzung der Auslandsberichterstattung ..." Daß Krisenherde in der Berichterstattung vorrangig behandelt werden, empfindet KREBS als gerechtfertigt, nicht aber, daß dabei die weniger kriegerischen aber ebenso dramatischen Entwicklungen in anderen Weltregionen zu kurz kommen: "... häufig gelingt es dem Korrespondenten abseits der Krisenherde nicht, seine Themen an den Mann zu bringen, Themen oft, die die Krisenherde von morgen behandeln."
122
Als ein weiteres Hemmnis für die Erfüllung korrespondentischer Arbeitsziele sehen Auslandsberichterstatter die starke Nachfrage ihrer Heimatredaktionen nach einer "Exklusivstoiy" an. Denn diese Nachfrage heizt einen Konkurrenzkampf unter den journalistischen Kollegen im Ausland an, wo Solidarität und gegenseitige Hilfe angebracht wären. "Mei-
119
Vgl. ROLF PFLÜCKE: Den Geheimdienst im Nacken. Berichtsort Lateinamerika: Kontinent der Hindernisse. In: RUPERT NEUDECK: Den Dschungel ... A.a.O., S. 95 ff. - HANS HÜBNER a.a.O., S. 78 ff.
120
Vgl. z.B. ANTON ANDREAS GUHA / MANFRED VON CONTA / WALTER HAUBRICH a.a.O. - Zitat RUPERT NEUDECK: Den Dschungel ... A.a.O., S. 17.
121
Ebenda, S. 18.
122 PETER KREBS a.a.O., S. 114.
40 stens ist es so, daß einzelne Korrespondenten ... bessere Kontakte zu oppositionellen Kreisen unterhalten als andere. Würden solche Kontakte immer von denselben Journalisten zu Einzelgeschichten genutzt, würde dies nicht nur den Effekt beeinträchtigen, sondern diese Kollegen langfristig auch gefährden, denn damit erhöht sich das Risiko der Ausweisung beträchtlich", schreibt der Korrespondent
HANS-PETER
RIESE. "Eine
solche Arbeitsweise - die allerdings alles andere als die Regel ist - geht von einem Oesamtbild der Information aus einem Land oder einem Berichtsgebiet aus, nicht von den Fähigkeiten oder dem Anspruch eines einzelnen Korrespondenten. Aber die gewollte Isolation der westlichen Korrespondenten in den sozialistischen Staaten - und dies gilt natürlich genauso für rechtsgerichtete Regime in Südamerika oder anderswo in der Welt würde durch den Konkurrenzdruck der Medien nur gesteigert und zwangsläufig ... auf die Qualität der Oesamtberichterstattung zurückschlagen." Mit der "unsinnigen" Forderung nach der "besonderen" oder "exklusiven" Nachricht aber, so kritisiert RIESE, übertrügen die Medien unreftektiert die Informationsstrukturen des eigenen Landes auf die Berichterstattung aus diesen Ländern. "Insofern ist die Berichterstattung aus solchen Ländern kein persönliches Problem der jeweiligen Korrespondenten, sondern in erster Linie ein Medienproblem. " 123
2.4
Die Redaktion als Tatort: der Zwang zur Selektion von Nachrichten und die Kriterien der Nachrichtenauswahl
Die häufig geäußerte Unzufriedenheit von Auslandskorrespondenten gegenüber ihren Mutterhäusern brandmarkt also die Medien als Hauptverursacher einer qualitativ unbefriedigenden Auslandsberichterstattung. Bleibt die Frage, nach welchen Kriterien Weltereignisse von den Medien als publikationswürdig erfaßt und bearbeitet werden. Die moderne Technik ermöglicht es heute theoretisch, alle Geschehnisse auf unserem Erdball einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Doch können die Veröffentlichungsmöglichkeiten unserer Medien mit der globalen Ereignishaftigkeit nicht annähernd Schritt halten. Auch die Aufnahmekapazität ihrer Rezipienten ist allein schon rein zeitlich begrenzt. Der Redakteur steht damit unter einem Selektionsdruck, das heißt, er ist gezwungen, die tägliche Ereignisvielfalt für die Veröffentlichung drastisch zu reduzieren. In erster Linie entscheiden die folgenden Kriterien darüber, ob ein Ereignis zur Nachricht,
123
HANS-PETER RIESE: Das Medium bestimmt die Nachricht. In: RUPERT NEUDECK: Den Dschungel... A.a.O., S. 177 f.
41 also zu einem "öffentlich thematisierten Geschehen" 124
wird: Zum einen wählt der
Redakteur nach dem Kriterium der ideologischen Nähe bzw. nach der hausinternen, sogenannten "redaktionellen Linie" aus - nach der politischen Ausrichtung also, die inoffiziell unter den Kollegen eines Ressorts oder durch Herausgeber und Chefredakteure festgelegt ist und mehr oder weniger starken Zwang ausübt. 123 Zum anderen ist unter Redakteuren die Orientierung an gewissen Konventionen oder Nachrichtenwerten bei der Informationsauswahl die Regel. Dabei handelt es sich um "journalistische Hilfskonstruktion[en] zur Erleichterung der notwendigen Selektionsentscheidungen".126
Der Nachrichtenwert ergibt
sich aus Anzahl und Ausprägung verschiedener Ereignismerkmale, sogenannter Nachrichtenfaktoren, von denen sich Journalisten bessere Absatzchancen für ihre Produkte versprechen. Den Ausschlag geben dabei Vermutungen über das Publikumsinteresse.127 Bei den Selektionskonventionen handelt es sich gewissermaßen um ungeschriebene Gesetze. Daß diese unter Journalisten dennoch sehr einheitlich zur Geltung kommen, begründen die Autoren PETER NISSEN und WALTER MENNINGEN damit, "daß die Journalisten ihr Verhalten an einem weitgehend ähnlichen Schema ausrichten, das durch ihre berufliche Sozialisation, ihre Mitgliedsrolle in den Redaktionen, durch das Organisationsziel der Zeitungen sowie durch generelle professionelle Standards bestimmt wird". 128 Dabei verblüfft allerdings
die Tatsache, daß
sich Redakteure
der Kriterien der
Nachrichtenauswahl nicht in dem Maße bewußt sind, wie sie im Arbeitsalltag danach handeln. Von einer "Kluft zwischen Handeln und Bewußtsein bei der Orientierung an Nachrichtenfaktoren" spricht ANDREAS EMMERICH, der Redakteure des Saarländi-
124
PETRA E. DORSCH-JUNGSBERGER / OTTO B. ROEGELE / WOLFGANG STOLTE: Konfliktpotentiale im Nachrichtenproduktionsprozeß. In: Publizistik 2-3/1985, 30. Jg., S. 280. - Neben dieser Definition steht das Verständnis der Nachricht als Textsorte, d.h. die formale publizistische Gestaltung eines Sachverhaltes in einer kurzen Mitteilung (bis zu 30 Zeilen) mit referierendem Charakter. Vgl. ECKART KLAUS ROLOFF a.a.O., S. 11 ff.
i2s WINFRIED SCHULZ: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung. Freiburg/München 1976, S. 11 f. - PROJEKTTEAM LOKALJOURNALISTEN (Hrsg.) a.a.O., S. 42. 126
WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 117, Zitat S. 30. - Vgl. PETER NISSEN / WALTER MENNINGEN: Der Einfluß der Gatekeeper auf die Themenstruktur der Öffentlichkeit. In: Publizistik 2/1977, 22. Jg., S. 172.
127
JÜRGEN WILKE: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft. Berlin / New York 1984, S. 232 f.
uà PETER NISSEN / WALTER MENNINGEN a.a.O., S. 172.
42 sehen Rundfunks und der Saarbrücker Zeitung nach ihren Selektionskriterien befragte. Er führt dies auf einen "geringen Abstraktionsgrad der Auswahlentscheidung" und eine "falsche Selbstwahmehmung im Hinblick auf das Auswahlhandeln" zurück. "Nirgends werden Auswahlkriterien ... schriftlich festgehalten", erklärt EMMERICH. "Allenfalls gibt es einen von den Redakteuren nicht zu verbalisierenden vagen Konsens. Dies führt letztlich zum Auseinanderklaffen von tatsächlichem Handeln und den geäußerten Vorstellungen über dieses Handeln. Die Redakteure gewinnen ihre Sicherheit durch Routine, nicht durch theoretische Reflektion ihrer Arbeit." 129 Dieses scheinbare Paradoxon erklärt sich dadurch, daß Nachrichten nicht nur nach den von NISSEN und MENNINGEN genannten professionellen Standards etc. ausgewählt werden. Vielmehr kommen mit der Selektion von Auslandsinformationen beim Redakteur die Faktoren zum Tragen, die den Prozeß des Fremdverstehens in der internationalen Kommunikation allgemein bestimmen, ohne daß er sich dieses Vorgangs bewußt wird.
2.4.1
Die redaktionelle Orientierung an Nachrichtenwerten
Die grundlegenden Forschungsarbeiten in der Nachrichtenwerttheorie stammen von EINAR ÖSTGAARD und JOHAN GALTUNG / MARI HOLMBOE RÜGE. 130
Die
Gültigkeit der von ihnen ermittelten Konventionen in der Nachrichtenauswahl wurden u.a. von WINFRIED SCHULZ, JÜRGEN WILKE und ANDREAS EMMERICH für die Berichterstattung in der Bundesrepublik Deutschland nachgewiesen, die Bedeutung einiger Faktoren aber relativiert.131 Auch die Ergebnisse der Analysen zur Dritte-Welt-Berichterstattung sind ein Beleg für die Gültigkeit der Nachrichtenwerttheorie. Bei der nachfolgenden Darstellung der Faktoren im Nachrichtenfluß, nach denen bestimmte Ereignisse eine größere oder geringere Chance haben, öffentlich thematisiert zu werden, handelt es sich
129
ANDREAS EMMERICH a.a.O., S. 98 f.
130
EINAR ÖSTGAARD: Factors Influencing the Flow of News. In: Journal of Peace Research 2/1965, S. 39-63. - JOHAN GALTUNG / MARI HOLMBOE RÜGE: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Norwegian Newspapers. In: Journal of Peace Research 2/1965, S. 64-91.
131 WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 115 ff. - JÜRGEN WILKE a.a.O., S. 230 ff. - Vgl. JÜRGEN WILKE / BIRGIT SCHENK: Nachrichtenwerte in der Auslandsberichterstattung: Historische Erfahrungen und analytische Perspektiven. In: JÜRGEN WILKE / SIEGFRIED QUANDT (Hrsg.), a.a.O., S. 16 ff. - ANDREAS EMMERICH a.a.O., S. 91 ff.
43 um eine Zusammenfassung der für die bundesdeutschen Medien empirisch nachgewiesenen Auswahlfaktoren: -
Die Nachrichtenmedien publizieren bevorzugt Nachrichten über solche Länder, die a) in räumlicher Nähe, b) in politischer bzw. bündnis- und wirtschaftspolitischer, c) in kultureller (sprachlicher, religiöser ...) Nähe zu ihrem Publikum stehen und deren Entwicklungen für ihr Publikum relevant sind, d.h., deren Ereignisse die eigene Lebenssituation der Rezipienten in irgendeiner Weise tangieren oder existenzielle Bedeutung für sie haben. 1 3 2
Es handelt sich hier um einen ethnozentrischen Filter, der dazu führt,
daß der Berichterstattung aus Ländern, die einen Bezug zur Eigengruppe haben und/oder Identifikation ermöglichen,
mehr Platz eingeräumt wird als
entfernten,
kulturell fremden Ländern. -
In diesem Zusammenhang wird ein weiterer Faktor wirksam: Ereignisse, die in Bezug zu Elite-Nationen und -Personen stehen, also zu politisch und wirtschaftlich mächtigen und bedeutenden Nationen und Personen, finden die besondere Beachtung der Medien, da sie in der Regel mehr Konsequenzen haben und so mehr Betroffenheit auslösen.
- Ereignisse und Entwicklungen werden umso eher zur Nachricht, je mehr sie mit den Erwartungen ihres Publikums, mit Vorhersagen und Wünschen in Einklang stehen. Um ihr Publikum als Konsumenten nicht zu verärgern und zu verlieren, klammem die Medien Ereignisse, die weit außerhalb der Publikumsvorstellungen und -perspektive liegen oder gar konträr laufen, eher aus der Berichterstattung aus.
133
Uberspitzt könnte
man sagen, daß Nachrichten vor allem das bestätigen, was wir schon wissen oder gern wissen möchten - " 'news' are actually 'olds' " . 1 3 4 - Die Berichterstattimg verarbeitet mit Rücksicht auf ihr Publikum lieber eindeutige Vorgänge, die sich vereinfachen und medial gut darstellen lassen, als komplexe Sachverhalte, aus denen man mehrere, einander widersprechende Folgerungen ziehen kann. Das führt zu einer Bevorzugung "eindimensionale[r] Nachrichten mit einer vergleichs-
132
ÖSTGAARD ordnet diesen Faktorenkomplex unter den Begriff "Identifikation", GALTUNG und RÜGE stellen ihn unter den Begriff "Bedeutsamkeit", der die Faktoren "Kulturelle Nähe" und "Relevanz" umschließt.
133
GALTUNG und RÜGE fassen diesen Faktor unter "Konsonanz" im Sinne von Erwartung und Wünschbarkeit zusammen.
134 WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 17. Zitat von GALTUNG und RÜGE a.a.O., S. 67.
44 weise geringen Bedeutungsvielfalt".13' Vermutlich aus demselben Grund greifen Nachrichtenmedien bevorzugt solche Ereignisse auf, in deren Mittelpunkt der handelnde Mensch steht. Wenn abstrakte, strukturelle Abläufe aufgegriffen werden, dann meist so, daß sie als Ergebnis von personellen Handlungen erscheinen. Die Tendenz zur Personalisierung entspringt dem vermuteten Identifikationsbedürfnis des Publikums, 136 führt aber dazu, daß die Nachrichtenmedien die Bedeutsamkeit individuellen Handelns der großen Politikerfiguren übertreiben, indem sie Ereignisse eher als Konsequenz von Handlungen dieser Personen darstellen, denn als Folge wirtschaftlicher, sozialer, politischer Strukturen und historischer Entwicklungen. - Sensationsträchtige, unvorhersehbare und kuriose Ereignisse haben einen hohen Nachrichtenwert, da sie mit einem publikumswirksamen Appell an die Gefühle einhergehen. Daher werden auch überwiegend Ereignisse von negativem Charakter wie Konflikte, Kriege, Katastrophen etc. behandelt. Weniger spektakuläre abstrakte Vorgänge werden von den Nachrichtenmedien seltener aufgegriffen, schon weil sie sich medial nicht so gut aufmachen lassen wie Sensations- und Negativberichterstattung.137 Negative Ereignisse erscheinen in ihrer Aussage eindeutiger und erzeugen durch ihren Gefühlsappell einen Handlungsbedarf. 138
Dabei ist den Massenmedien mit ihrer Berichterstattung
über nationale und internationale Konflikte grundsätzlich daran gelegen, "Schäden und Bedrohungen sichtbar zu machen, damit sie beseitigt oder abgewendet werden können".139 Sie nehmen damit ihre Überwachungsfunktion wahr. Gerade diese Funktion müsse im internationalen Bereich von den Massenmedien übernommen werden, stellt BIRGIT SCHENK fest. "Sie fungieren gleichsam als Wamsystem, indem sie die
las WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 16 f. 138
Den von GALTUNG und RÜGE als "Personalisierung" bezeichneten Nachrichtenfaktor ordnet ÖSTGAARD unter den Faktorenkomplex "Identifikation".
137
Was ÖSTGAARD unter dem Faktorenkomplex "Sensationalismus" zusammenfaßt, nämlich sogenannte "Hardnews" und "Softnews", stellen GALTUNG und RÜGE unter die Nachrichtenfaktoren "Überraschung" (Unvorhergesehenheit/Seltenheit) und "Negativismus".
138
Vgl. HANSJÜRGEN KOSCHWITZ a.a.O., über die steigende Bedeutung der publizistischen Medien als "effektiv mitbestimmende Elemente zwischenstaatlicher Rivalität und Feindseligkeit."
139
Vgl. WINFRIED SCHULZ: Nachrichtengeographie. Untersuchungen über die Struktur der internationalen Berichterstattung. In: MANFRED RÜHL / HEINZ-WERNER STOIBER (Hrsg.) a.a.O., S. 289.
45 Außenwelt 'überwachen', wichtige Entwicklungen registrieren und Gefahren an das System weitermelden."140 Aufgrund des Selektionszwanges, unter dem die Medien stehen, müssen Ereignisse die beschriebenen Kriterien mehr oder weniger erfüllen, um zur Nachricht zu werden. Dabei werden die Merkmale, die den Nachrichtenwert eines Ereignisses bestimmen, akzentuiert. Welche Konsequenzen dies für die bundesdeutsche Berichterstattung über ferne Regionen hat, läßt sich am Beispiel Lateinamerika darstellen: Der Faktor "Regionalismus", beziehungsweise "geographische Nähe", der bei der Auswahl von Auslandsnachrichten im Vordergrund steht, trifft auf Ibero-Amerika nicht zu; ebensowenig der Faktor "kulturelle Nähe", da diese Region eher zur hispanischen Kultursphäre gehört. Die Faktoren "politische - " und "wirtschaftliche Nähe" treffen nur auf einige Länder Lateinamerikas zu, oftmals allerdings indirekt. So ist die politische Relevanz Lateinamerikas für die Bundesrepublik grundsätzlich eine indirekte, sieht man einmal von politischen Verbindungen auf substaatlicher Ebene ab. Der Faktor "politische Nähe" wird immer dann aktiv, wenn im Zusammenhang mit politischen Entwicklungen die Ost-West-Auseinandersetzungen in Länder Lateinamerikas verlagert werden, so wie dies zum Beispiel in den Ländern Mittelamerikas wie Nicaragua oder El Salvador der Fall ist. Denn dadurch werden letztlich ja die Belange der Industrienationen berührt. Besonders, wenn sich der Bündnispartner USA massiv in Lateinamerika engagiert, ist dies für die bundesdeutschen Medien von Nachrichtenwert. Unterhält die Bundesrepublik auch weniger intensive wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Lateinamerika als zu Afrika und Asien
U1
, so hat doch jede deutsche Bank mit
Auslandsengagement in den 70er und 80er Jahren Kredite an die sogenannten Schwellenländer Brasilien, Mexiko, Argentinien und - in geringerem Umfang - an Chile, Venezuela und Peru vergeben. Die Banken der USA bewilligten besonders umfangreiche Kredite. Politische und wirtschaftliche Entwicklungen in diesen Ländern, besonders krisenhafte, werden folglich in deutschen Wirtschaftskreisen mit Aufmerksamkeit verfolgt, da sie für deutsche Banken direkte und zusätzlich über die USA indirekte finanzielle Auswirkungen haben können. 140
BIRGIT SCHENK: Die Struktur des internationalen Nachrichtenflusses: Analyse der empirischen Studien. In: Rundfunk und Femsehen 1/1987, 35. Jg., S. 40.
»« Vgl. ADLAF a.a.O., S. 6.
46 Der Faktor "Elite-Nationen", ein für die Selektion von Auslandsnachrichten wichtiges Kriterium, trifft auf die lateinamerikanischen Staaten nicht zu, da sie im Vergleich mit den USA, der Sowjetunion und den europäischen Industrieländern kaum als politisch einflußreiche und wirtschaftsstarke Mächte zu bezeichnen sind. So bleibt der Faktorenkomplex "Negativismus" und "Sensationalismus" wohl der für die Lateinamerika-Berichterstattung entscheidende Nachrichtenfaktor - dies insbesondere für die Themenbereiche Politik und Wirtschaft. Denn die Nachrichtengebung konzentriert sich im Falle von Nationen, die nicht unmittelbar weltpolitisch bedeutsam sind, nur auf herausragende Ereignisse. Folglich manifestiert sich das von den Medien vermittelte Lateinamerikabild in erster Linie in politischen Umsturzversuchen und Wahlmanipulationen, in Bürgerkriegen, Guerillabewegungen, Protestmärschen und in der sogenannten Schuldenkrise. Erst danach kommen Berichte über Unglücke und Naturkatastrophen sowie die Exotik dieser Region. Andere Themen fallen so gut wie nicht ins Gewicht.
2.4.2
Der redaktionelle Umgang mit der Aktualität. Zur Klärung eines Begriffs
Zusätzlich zu den bereits beschriebenen Nachrichtenfaktoren haben ÖSTGAARD, GALTUNG und RÜGE übereinstimmend zwei weitere Faktoren festgestellt, die in der Nachrichtenaufbereitung wirksam werden: Die bei GALTUNG und RÜGE mit "Frequenz-" und "Schwellenfaktor" angesprochenen Elemente zielen auf die Dauer und Kontinuität der Thematisierung von Ereignissen. Demnach berichten Nachrichtenmedien mit Vorliebe über kurzfristig auftretende, also tagesaktuelle Ereignisse. Dies liegt in der Natur ihres Erscheinungs-, bzw. Senderhythmus in bestimmten Intervallen. Je mehr die Zeitspanne, die ein Ereignis zur Entwicklung benötigt, mit diesem Rhythmus übereinstimmt, desto eher wird ein Geschehen zur Nachricht. 142 Dieser These ist ein weiterer Aspekt hinzuzufügen: Rundfunk- und Printmedien stehen jeweils untereinander in einem harten Konkurrenzverhältnis, wenn es um Einschaltquoten oder Absatzhöhen geht. Hier versucht man, einander mit sensationsträchtiger, möglichst exklusiver Berichterstattung und - wenn dies nicht möglich ist - wenigstens mit hochaktuellen Nachrichten zu übertrumpfen. Welcher Redakteur kennt die Begeisterung nicht, die in den täglichen Redaktionskonferenzen immer dann ausbricht, wenn es ein "mit
der
Meldung waren wir aber schneller als ..." zu feiem gibt?
142
EINAR ÖSTGAARD a.a.O., S. 51. - JOHAN GALTUNG / MARI HOLMBOE RÜGE a.a.O., S. 65 f.
47 Das Aktualitätsverständnis der Medien umschließt nach WALTHER VON LAROCHE einen Sachverhalt, der sich vom Alltäglichen unterscheidet, auf allgemeines Interesse stößt und Neuigkeitswert hat.1*3 Präziser ausgedrückt, mit der Betonung auf "neu" wird Aktualität als Rezeptionsanreiz verstanden und dabei eher unter dem Aspekt Zeit als unter dem Aspekt Relevanz gesehen. Diese Bevorzugung von "primärer Aktualität" (WALTER HAGEMANN) hat zur Folge, daß über sich langsam anbahnende Entwicklungen meistens erst dann berichtet wird, wenn sie ihren Höhepunkt erreichen. Hat ein Ereignis aber erst einmal die Nachrichtenbarriere genommen, so wird darüber fortlaufend berichtet, auch dann noch, wenn sein Nachrichtenwert im Vergleich zu anderen Ereignissen längst gesunken ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Wurzel des Dissenses zwischen bundesdeutschen Auslandskorrespondenten und ihren Heimatredaktionen zu suchen, führt besagte Präferenz doch schließlich dahin, daß die Medien Themen von potentieller Relevanz vernachlässigen. Dabei bleibt auch die Überlegung auf der Strecke, daß die Bedeutsamkeit eines Ereignisses für die Gegenwart erst durch Einbeziehung von Ursachen und Folgewirkungen ersichtlich und damit auch ohne einen "Neuigkeits-Aufhänger" aktuell werden kann ("sekundäre Aktualität"). 144
Die Folge ist eine weitreichende Vernachlässigung analytischer Bericht-
erstattung in den Medien. Letztlich bedeutet das aber, daß diese ihre erklärte Uberwachungsfunktion, Schäden und Bedrohungen rechtzeitig sichtbar zu machen, damit sie abgewendet werden können, selbst unterminieren.
2.4.3
Besondere Auswirkungen der Selektionskonventionen auf die Auslandsberichterstattung. Die Rolle der Nachrichtenagenturen
Die Praxis der Nachrichtenauswahl und die Akzentuierung von Merkmalen, die den Nachrichtenwert eines Ereignisses bestimmen, haben zur Folge, daß das von den Medien veröffentlichte Bild der Welt mit den realen Abläufen oder Zuständen und - in Hinblick auf die Auslandsberichterstattung
- mit dem Selbstverständnis fremder Nationen
nicht
deckungsgleich sein kann. WINFRIED SCHULZ spricht hier von einer von den Medien geschaffenen "'operative[n] Fiktion' von Realität für das soziale System". 143 143
WALTHER VON LAROCHE a.a.O., S. 59 ff. - Vgl. ELISABETH NEUMANN / WINFRIED SCHULZ a.a.O., S. 245.
144
Vgl. WALTER HAGEMANN: Grundzüge der Publizistik. 2. Auflage. Münster 1966, S. 30 ff.
i « WINFRIED SCHULZ: Die Konstruktion von Realität... A.a.O., S. 120.
NOELLE-
48 SCHULZ hat bei seiner Medienanalyse zur Gültigkeit der Nachrichtenwert-Theorie festgestellt, daß Ereignisse der internationalen Politik häufiger und konsequenter nach den in den Nachrichtenfaktoren ausgedrückten Selektionskriterien publiziert werden. Er schließt daraus, "daß die hinter den Nachrichtenfaktoren stehenden Hypothesen in stärkerem Maße auf internationale Nachrichten zutreffen als auf Nachrichten über innerdeutsche Politik und unpolitische Meldungen". 146
Dies ist vermutlich damit zu begründen, daß
internationale Nachrichten in der Regel einen mehrstufigen und sehr viel längeren Ubermittlungs- und Verarbeitungsweg nehmen als innerdeutsche Meldungen: Im einfachsten Fall passiert die Nachricht zwei Schleusen, den Korrespondenten und den Redakteur im Mutterhaus, bevor sie publiziert wird. Oftmals ist noch ein freier Mitarbeiter, ein sogenannter "Stringer" vorgeschaltet. Handelt es sich aber um Agenturmeldungen, laufen diese zusätzlich über Chefkorrespondenten- und regionale Agenturbüros in den Hauptzentralen zusammen, wo sie für den Weiterverkauf in die diversen Weltregionen selektiert, bearbeitet und zusammengestellt werden. So erstellt beispielsweise
die AFP-Zentrale in Paris die spanisch-sprachigen
Dienste für Süd- und Zentralamerika. Der AP-World-Desk in New York fertigt sechs unterschiedliche Dienste für die verschiedenen Weltgegenden in englischer Sprache, woraus die AP-Auslandsbüros ihr Nachrichtenangebot in sechs Fremdsprachen produzieren. Die Nachrichtendrehscheiben von UPI haben ihren Sitz in Hongkong, London und New York. In der New Yorker Computerzentrale zum Beispiel werden die Nachrichten für Südamerika zusammengestellt. Bei Reuter schließlich zirkulieren die Nachrichtenströme zwischen den regionalen Agenturzentren und der Hauptzentrale in London. Die britische Metropole ist auch der Mittelpunkt des Europanetzes von Reuter, hier sind die lateinamerikanischen Agenturbüros mitangeschlossen. Bei dieser kleinen Übersicht darf nicht unerwähnt bleiben, daß oft kleinere regionale aber auch internationale Nachrichtenagenturen, mit denen die großen Weltagenturen vertraglich verbunden sind, als ein Glied in der Kette an der Nachrichtenübermittlung beteiligt sind.147 So wird der Produktionsweg von Nachrichten noch komplizierter, die Gefahr der Verzerrung noch größer. Denn: "Je mehr Stufen im Nachrichtenfluß ein Ereignis durchläuft, desto stärker werden die Merkmale, die seinen Nachrichtenwert bestimmen, akzentuiert." 148
146
Ebenda, S. 98 f.
147
Vgl. HANSJOACHIM HÖHNE a.a.O., S. 151 ff.
i4B WINFRIED SCHULZ: Die Konstruktion ... A.a.O., S. 99.
49 Weil die meisten Pressehäuser aus Kostengründen auf eigene Korrespondenten im Ausland verachten müssen, stammen ihre publizierten Informationen über das Ausland, vor allem Informationen über die Länder der Dritten Welt, aus den "Tickem" der großen Nachrichtenagenturen: im Falle der Bundesrepublik sind das in erster Linie die internationalen Nachrichtenagenturen dpa und ddp sowie die Weltnachrichtenagenturen AP, Reuter und A F P . 1 4 9
Dadurch entsteht eine Abhängigkeit von der Weltsicht der Agen-
turen. Das Problematische dabei ist, daß Geschehnisse und Entwicklungen von diesen Unternehmen stets in eine Form gebracht werden, die den erfolgreichen Verkauf ihrer Nachrichten auf dem Weltmarkt ermöglicht. Zwar schnüren die Agenturen für die diversen Weltregionen Nachrichtenpakete zusammen. Doch strukturieren sie in Konkurrenz um ihre Abnehmer in der Welt ihr Nachrichtenangebot dabei auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hin, um ihren Absatz zu verbreitern. 190
Die Agentumachrichten erscheinen in der
"Formeines universalen 'passe-partout'". 151 Die Tatsache, daß diese über die Redaktionstische laufenden Nachrichten - insbesondere Auslandsnachrichten - in verhältnismäßig geringem Umfang von Redakteuren Kommentare, Interpretationen
etc. angereichert
werden, führt
zu jener
durch
"einfältigen
Vielfalt" in der Berichterstattung, wie sie u.a. von FOHRBECK und WIESAND beklagt wurde. "Die Vorstellung vom eigenständigen, durch selbständige Recherche Nachrichten und Informationen produzierenden Journalisten ist mit einigem Recht als Mythos zu bezeichnen", stellen PETER NISSEN und WALTER MENNINGEN in diesem Zusammenhang fest. 1 3 2
Die redaktionelle Arbeit beschränkt sich im Schnitt auf das Zusammen-
stellen, Kürzen und Akzentuieren von Texten, auf Aufmachung und Plazierung. "Das wachsende Bedürfnis nach Vermittlung, d.h. nach transportierten Erfahrungen ..., bricht sich an der erfahrungsarmen Struktur der 'international news'. Dies umso mehr, als die 149
Die Nachrichtenagenturen sind hier in der Reihenfolge ihres deutschsprachigen G e samtangebotes wiedergegeben. Vgl. HANSJOACHIM HÖHNE a.a.O., S. 71 ff.
180
Vgl. KEITH OVENDEN: How good are the Provincial Newspapers? In: North and South 7/1987, S. 71. - OVENDEN charakterisiert das Nachrichtenangebot der Agentur Reuter für Neuseeland, das via die "New Zealand Press Association" von allen Tageszeitungen des Landes bezogen und weitgehend ohne Aufarbeitung publiziert wird, folgendermaßen: "The news that is put out by the Press Association is, almost by definition, news that meets the lowest common denominator of all the PA's many members. In commercial terms this is ... as it should be ... The results are discouraging, however. The average PA story is a dull, safe and unimaginative account of the obvious, drawn from routine sources. Almost always it lacks the mark of a particular known journalist whose interests and skills can be identified . . . "
151
B I R G I T SCHARLAU a.a.O., S. 27.
132 PETER NISSEN / WALTER MENNINGEN a.a.O., S. 168.
50 Nachricht zum vorherrschenden Genre der Mitteilung geworden ist und ... man bei der Zeitungslektüre immer seltener den kommentierenden, zusammenhangstiftenden Korrespondentenbericht antrifft", kritisiert BIRGIT SCHARLAU.193 Dennoch gelten diese Feststellungen nicht für alle Medien in gleichem Maße: Bei seiner Untersuchung der Selektionskriterien bundesdeutscher Medien hat WINFRIED SCHULZ die Berichterstattung der Abonnementpresse, nämlich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), der Braunschweigerund der Kissinger Saale Zeitung, der Boulevardzeitung Bild, des dpa-Basisdienstes, der Hörfunkprogramme aller Landesrundfunkanstalten und des Deutschlandfunks sowie der Fernsehprogramme von ARD und ZDF in Augenschein genommen, um Gemeinsamkeiten oder Besonderheiten der Nachrichtenselektion innerhalb des Mediensystems zu diagnostizieren. Dabei fiel auf, daß die überregionale FAZ im Vergleich zu allen anderen Medien weit mehr außenpolitische Berichterstattung - auch an exponierter Stelle - lieferte. Dennoch wiesen die Beiträge der FAZ den geringsten Einfluß von Nachrichtenfaktoren auf den Nachrichtenwert auf. Ruft man sich noch einmal SCHULZ' Feststellung in Erinnerung, daß Ereignisse der internationalen Politik häufiger und konsequenter mittels Nachrichtenfaktoren ausgewählt und plaziert werden als innerdeutsche und unpolitische Meldungen, so ist dieses Ergebnis in der Tat bemerkenswert. Die Vermutung von SCHULZ, "daß bei der sehr reichhaltigen Auslandsberichterstattung [der FAZ] vergleichsweise häufiger noch andere Selektionskriterien eine Rolle spielen, als wir sie erfaßt haben", ist hierbei wenig aufschlußreich.134 Des Rätsels Lösung mag darin liegen, daß die FAZ trotz ihrer intensiven Auslandsberichterstattung sehr wenig auf Nachrichtenagenturen zurückgreift. Nach Angaben des FAZ-Nachrichtenredakteurs MICHAEL GROTH stammen 90 Prozent des veröffentlichten Nachrichtenmaterials aus der Feder von Korrespondenten, nur 10 Prozent seien Agenturmaterial.199 Die FAZ hat mit 40 Korrespondenten das größte Korrespondentennetz eines Printmediums in Deutschland, vermag daher auch kontinuierlicher 193
BIRGIT SCHARLAU a.a.O., S. 28.
194
WINFRIED SCHULZ: Die Konstruktion ... A.a.O., S. 54 ff.
159
Angaben nach MICHAEL GROTH a.a.O. - Vgl. BIRGIT SCHARLAU a.a.O., S. 28: Nach den Ergebnissen einer Analyse zur Lateinamerika-Berichterstattung im November 1979 durch das Institut der Romanistik der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt arbeiten die meisten Zeitungen beim Thema Lateinamerika nur zu 20 Prozent mit Korrespondentenberichten, stützen sich also hauptsächlich auf Agenturberichte. Einzig bei der FAZ wurden bis zu 75 Prozent Korrespondentenberichte gezählt. "Die Analyse ist von ihrer kurzfristigen Anlage her nicht repräsentativ, bestätigt aber einen Trend, der schon seit geraumer Zeit spürbar ist", stellt SCHARLAU fest.
51
und umfassender über Vorgänge in entlegenen Ländern zu berichten als andere bundesdeutsche Zeitungen. Es bleibt zu prüfen, wieweit SCHULZ' Feststellung auch auf andere überregionale Tages- und politische Wochenzeitungen in der Bundesrepublik zutrifft.
2.4.4
Die Handhabung von Kriterien der Nachrichtenselektion aus internationaler Sicht. Bestimmung des Einflusses von Nachrichtenagenturen
Die Praxis der Auswahl und Akzentuierung von Nachrichten nach den beschriebenen Faktoren ist allerdings nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Industrienationen charakteristisch. Mittels einer vergleichenden Analyse von über 200 internationalen empirischen Studien zur Auslandsberichterstattung kam BIRGIT SCHENK zu dem Ergebnis, daß auch die Medien der Dritten Welt ihre Nachrichten grundsätzlich nach den gleichen Kriterien selektieren wie die Industrienationen: 136
Demnach bestimmt
der Faktor "Regionalismus" primär die geographische Verteilung der Auslandsmeldungen. "Die Dominanz von Nachrichten aus den Industrienationen in der Auslandsberichterstattung westlicher Massenmedien läßt weder auf eine (bewußte) Vernachlässigung der Dritten Welt noch auf ein typisch westliches Muster in der Berichterstattung schließen", schreibt BIRGIT SCHENK. "Vielmehr erfolgt die geographische Auswahl der Nachrichten nach der in den Medien eines jeden Landes gleichermaßen geltenden Regel - zuerst und vorrangig wird über die eigene Region berichtet."
137
Neben dem Faktor "Regionalismus" hat
sich auch der Faktor der bündnis- oder wirtschaftspolitischen Nähe als internationales Auswahlkriterium erwiesen.198 Meldungen aus politischen und wirtschaftlichen Zentren (Bezug auf Elite-Nationen und -Personen), das heißt, über Westeuropa und den USA, erscheinen in den Medien der Dritten Welt erst an zweiter Stelle. Das Ausmaß der Berichterstattung über Nordamerika und Westeuropa hänge weniger vom Nachrichtenangebot der Agenturen ab als von den 136
BIRGIT SCHENK a.a.O., S. 36 ff. - Vgl. WINFRIED SCHULZ: Nachrichtengeographie. A.a.O., S. 281 ff.
137
BIRGIT SCHENK a.a.O., S. 40. - Vgl. BEATRIZ SOLiS / SERGIO CALETTI: Análisis de la Información transmitida por los Medios Masivos de Communicación sobre la República Federal de Alemania. Manuskript zum Seminar "Kenntnisse oder Klischees - Das Bild der Dritten Welt in den Medien der Bundesrepublik Deutschland und umgekehrt", einer gemeinsamen Veranstaltung der Deutschen UNESCOKommission, der Friedrich-Ebert-Stiftung und des WDR, vom 20. - 22. September 1984 in Bonn. Siehe S. 57 ff.: Comparación cuantitativa por medio prensa, radio, telvisión.
138
BIRGIT SCHENK a.a.O., S. 40.
52
nationalen Interessen der Staaten und deren Beziehungen zu den Industrienationen und schwanke von Region zu Region beträchtlich, betont BIRGIT SCHENK. Das Gleiche gelte auch für Publikationen über Entwicklungsländer.139 An dritter Stelle bildet die Berichterstattung über Krisen und Konflikte einen festen Bestandteil des internationalen Nachrichtenflusses, unabhängig vom jeweiligen Ereignisort. Erst an vierter Stelle folgen Ereignisse aus räumlich und kulturell fernen Ländern ohne unmittelbare wirtschaftliche und politische Bedeutung. 160 Als Fazit konstatiert BIRGIT SCHENK Themen und Akteure, die "in Nord und Süd nahezu identisch" seien: '"Hard news' dominieren, im Mittelpunkt stehen politische Führungsfiguren, da die berichteten Sachverhalte oft als Folge von Aktivitäten der offiziellen Vertreter eines Landes präsentiert werden." 181 Ereignisorientierte Berichterstattung werde auf Kosten von "Hintergrundinformation über entwicklungsrelevante Projekte in der Dritten Welt" bevorzugt publiziert.182 Nun werden auch in der südlichen Hemisphäre die Nachrichtengeographie und Themenstruktur in den nationalen Medien entscheidend von den großen westlichen Nachrichtenagenturen bestimmt. Dennoch scheinen die Agenturen nicht den Einfluß auf die ideologische Ausrichtung in den Medien der Dritten Welt auszuüben, der ihnen von vielen Kritikern unterstellt wird. "Es liegt an der Wahl des Untersuchungsmaterials, wenn Autoren zu dem (Trug-)Schluß gelangen, der internationale Nachrichtenfluß vernachlässige die Dritte Welt. Die Agenturen erfüllen lediglich die Aufgabe, ihre Kunden in erster Linie mit für sie relevanten Informationen aus der unmittelbaren Umgebung zu bedienen, d.h., die Nachrichtendienste für Westeuropa und die USA müssen vorwiegend Beiträge aus den Industrienationen enthalten, um die Nachfrage der Abnehmer zu befriedigen. Nach den gleichen Kriterien stellen die internationalen Nachrichtenagenturen ihr Angebot für die Dritte Welt zusammen. So betrifft auch der von AP, Reuter, UPI und AFP in die Entwicklungsländer getragene Nachrichtenfluß in der Mehrzahl Ereignisse aus der jeweiligen Zielregion ... " 183
159
Ebenda, S. 43.
180
Ebenda, S. 40.
161
Ebenda, S. 43.
182
Ebenda, S. 46. - Vgl. Ausführungen unter Kap.I.
163
Ebenda. - Zur kontinentalen Aufmerksamkeitsverteilung von Agenturen und Medien in Lateinamerika und Westafrika vgl. WERNER A. MEIER a.a.O., S. 111.
53 Als ein Indiz dafür, daß die von den großen Agenturen angebotenen Nachrichten den Erwartungen der Medien in der Dritten Welt auch weitgehend entsprechen, könnte die geringe Nutzung von alternativen Nachrichtenangeboten gewertet werden. 1M
So stellte
beispielsweise E. N. UME-NWAGBO über Themenkonstruktionen afrikanischer Medien fest: "The study failed to find ... even marginal enthusiasm for a lead in the reportage of the 'positive image news'- developmental, social, cultural and educational news." 169 Das Nachrichtenangebot der Agenturen wird zudem nicht ungefiltert von den Medien der Entwicklungsländer übernommen. In den meisten Fällen ist eine nationale - oft staatlich kontrollierte - Agentur zwischengeschaltet.186
Die einzelnen Medienredaktionen nehmen
dann eine weitere Selektion, Akzentuierung und Interpretation des Nachrichtenangebotes vor. Dabei kommt es in nicht-demokratisch regierten Entwicklungsländern zu mehr oder weniger starken Eingriffen. Nach Untersuchungen von ROBERT HAYNES liegt der Anteil der Auslandsberichterstattung in diesen Ländern besonders hoch. Er vermutet, daß diktatorische Regime bevorzugt auf Auslandsberichterstattung zurückgreifen, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.167 Diese These wird untermauert durch eine Untersuchung von JÜRGEN WILKE über den Wandel der Auslandsberichterstattung und des internationalen Nachrichtenflusses zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert am Beispiel deutscher, englischer, französischer und amerikanischer Zeitungen. In seinen Schlußfolgerungen schreibt WILKE: "Innenpolitisch wirkten sich früher z.B. Zensur und Pressekontrolle für die Auslandsberichterstattung durchaus förderlich aus. Durch sie konnte ein BIRGIT SCHENK a.a.O., S. 47. - Vgl. dazu E. T. PINCH: Flow of News: An Assessment of the Non-Aligned Agencies Pool. In: Journal of Communication 28/1978, S. 165. - J. ENGLISH: Asian News. In: Gazette 30/1982, S. 181. - PINCH und ENGLISH zitiert nach SCHENK. 189
E. N. UME-NWAGBO: Foreign News Flow in Africa: A Content Analytical Study on a Regional Basis. In: Gazette 29/1982, S. 47. Zitiert nach SCHENK.
168
Vgl. HANSJOACHIM HÖHNE a.a.O., S. 131 ff.
187
ROBERT D. HAYNES Jr.: Test of Galtung's Theory of Structural Imperialism. In: ROBERT L. STEVENSON / DONALD LEWIS SHAW (Hrsg.): Foreign News and the New World Information Order. Ames 1984, S. 212. - Seine Schlußfolgerungen zog HAYNES aus den Daten der Studie von ANNABELLE SREBERNY-MOHAMMADI u.a.: The World of the News - The News of the World. A Draft Report of the "Foreign Images" - Project undertaken by IAMCR for UNESCO. Prepared for Presentation at the 12th General Assembly and Scientific Conference of the International Association for Mass Communication Research. Caracas, Venezuela, August 1980(a). - ANNABELLE SREBERNY-MOHAMMADI u.a.: The World of the News - The News of the World. Final Report of the "Foreign Images" Study untertaken by the International Association for Mass Communication Research for UNESCO. London 1980(b). - Vgl. ANNABELLE SREBERNY-MOHAMMADI: The "World of the News" Study. In: Journal of Communication 34/1984, S. 121 ff.
54 Informationsbedürfnis befriedigt, zugleich von näherliegenden internen Dingen auch abgelenkt werden. Geschlossenheit nach innen war mit Offenheit nach außen sehr wohl zu vereinbaren. Wuchs hingegen der Freiraum im Inneren, so führte dies dazu, daß die Menschen den Vorgängen im Inland mehr und denen im Ausland weniger (dominierend) Aufmerksamkeit geschenkt haben." 188 Die hier dargelegten Feststellungen sind geeignet, die These vom Kulturimperialismus, wie sie u.a. von JUAN SOMAVIA formuliert wurde, 169 zu erschüttern. Die Behauptung, im internationalen Nachrichtenfluß seien die Industrienationen über- und drei Viertel der Weltbevölkerung unterrepräsentiert, lasse sich nach der Literaturanalyse in dieser Form nicht aufrechterhalten, faßt BIROIT SCHENK zusammen. Zwar sei der Nachrichtenfluß von Industrienationen in die Länder der Dritten Welt stärker als umgekehrt. "Doch jedes nationale Mediensystem berichtet zuerst und vorrangig über die eigene Region, d.h. in keinem Mediensystem außerhalb Westeuropas und den Vereinigten Staaten dominieren Nachrichten aus den westlichen Industrienationen."
2.5
170
Zusammenfassung
Im Rahmen der internationalen Kontroverse über Informationsflüsse in der internationalen Kommunikation wird den Medien der Bundesrepublik
Deutschland insgesamt
eine
thematisch, zeitlich und geographisch unausgewogene Nachrichtenpraxis vorgeworfen, "mpirische Untersuchungen zeigen, daß die Berichterstattung insgesamt der kulturellen Vielgestaltigkeit der Welt, die sich im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Leben der einzelnen Staaten ganz unterschiedlich äußert, umso weniger gerecht wird, je weiter ein Land von der Bundesrepublik entfernt ist - dies in politischer (bündnispolitischer), wirtschaftlicher, kultureller und geographischer Hinsicht. Folglich muß ein erfolgreicher Beitrag der Medien zur Völkerverständigung hinsichtlich der Einsicht in fremde Lebensart und der Vertiefung der Wertschätzung femer Völker auf breiter Basis angezweifelt werden.
168
JÜRGEN WILKE: Auslandsberichterstattung und internationaler Nachrichtenfluß im Wandel. In: Publizistik 1-2/1986, 31. Jg., S. 85.
169
JUAN SOMAVIA: The Transnational Power Structure and International Information. In: development dialogue 1979, S. 15 ff.
170
BIRGIT SCHENK a.a.O., S. 50.
55
Die Suche nach den Schuldigen wurde bisher in erster Linie auf die westlichen Weltnachrichtenagenturen und auf die Medien selbst beschränkt. Ihrer Auslandsberichterstattungspraxis wurden teilweise ideologische Absichten unterstellt, die im Vorwurf des "Kulturimperialismus" gipfelten. Bei diesen Deutungsmustem blieben die Erkenntnisse der Fremdverstehens- und Nachrichtenwertforschung ebenso unberücksichtigt wie die Problematik der Nachrichtengewinnung im Ausland. In den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels wurde versucht, am Beispiel bundesdeutscher Medien aufzuzeigen, welche Faktoren die Struktur und Qualität der Auslandsberichterstattung beeinträchtigen können, mit welcher Stärke und Allgemeingültigkeit sie zum Tragen kommen und worauf dies zurückzuführen ist. Die grundlegende Ursache für eine quantitativ und qualitativ unausgewogene Berichterstattung und stereotype Auslandsbilder ist in den begrenzten Veröffentlichungskapazitäten der Massenmedien zu sehen. Kein Medium ist in der Lage, der Ereignishaftigkeit der Welt auch nur annähernd gerecht zu werden. Wenngleich der publizistische Raum für Auslandsberichterstattung zwischen Rundfunk und Printmedien und innerhalb der Presse zwischen regionaler, Boulevard- und überregionaler Presse unterschiedlich groß bemessen ist, so sind doch - weltweit - alle Medien dem Zwang zur Nachrichtenauswahl unterworfen. Damit gewinnt die Frage nach den Selektionskriterien entscheidendes Gewicht. Nachrichten werden nach ihrem Nachrichtenwert ausgewählt. Dieser Nachrichtenwert ergibt sich aus Anzahl und Ausprägung verschiedener Ereignismerkmale, den Nachrichtenfaktoren, von denen sich Journalisten - allgemein gesprochen - eine bessere Aufnahme ihrer Produkte beim Publikum erwarten. Obwohl die Kriterien der Nachrichtenauswahl in bundesdeutschen Redaktionen nicht schriftlich festgelegt sind, orientieren sich die Redakteure sehr einheitlich an ihnen, so daß man von einem ungeschriebenen Gesetz sprechen kann - ein Gesetz, das nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit Berücksichtigung in der Nachrichtenauswahl findet. Verblüffenderweise sind die Selektionskonventionen den Journalisten nicht in dem Maße bewußt, wie sie danach handeln. Dieses scheinbare Paradoxon erklärt sich dadurch, daß die Nachrichtenauswahl nicht in erster Linie nach professionellen Standards erfolgt. Vielmehr kommen mit der Selektion von Auslandsinformationen beim Redakteur die Faktoren zum Tragen, die den Prozeß des Fremdverstehens in der internationalen Kommunikation allgemein bestimmen, ohne daß er sich dessen vollständig bewußt ist. Wie bei allen Individuen prägt auch in seinem Fall die Verbundenheit mit seiner soziokulturellen Bezugsgruppe seine Perspektive gegenüber Außengruppen. Als Mitglied einer bestimmten Kulturgemeinschaft ist seine Sichtweise der Welt mehr oder weniger ethnozentrisch. Bei der Akzentuierung und Interpretation von Auslandsinformationen ist natürlich auch die
56
individuelle Zugehörigkeit zu bestimmten ideologischen Bezugsgruppen und die Einbindung in die redaktionelle Linie von Bedeutung. So ist es nur natürlich, daß der Faktor "Regionalismus" bzw. "Nähe" weltweit in der Nachrichtenauswahl die zentrale Rolle spielt. Wenn Medien bevorzugt Nachrichten über Länder mit räumlicher, politischer (bündnispolitischer), wirtschaftspolitischer und kultureller Nähe zum jeweiligen Publikum veröffentlichen - zu Lasten von in gleicher Hinsicht "fernen" Ländern -, so kann man davon ausgehen, daß sie sich damit in Einklang mit den Erwartungen ihres Publikums befinden. Kommt es zu Dissonanzen zwischen Publikum und Journalisten über die Berichterstattung, so ist dies in der Regel auf die unterschiedliche ideologische Akzentuierung und Auslegung von Informationen zurückzuführen. Die gesellschaftliche Funktion der Auslandsberichterstattung ist es ja, dem einzelnen Bürger und potentiellen Wähler die Zusammenhänge seiner Lebenswelt mit den darüber weit hinausgehenden Verhältnissen durchsichtig zu machen. Für dieses Ziel ist eine nationale Perspektive auf die Außenwelt unerläßlich. Vor diesem Hintergrund ist auch die Anweisung der Redaktionen an ihre Auslandskorrespondenten zu verstehen, bei ihren Interpretationen eine nationale Grundhaltung mitzuberücksichtigen, um nicht an den Interessen der Bürger in der Heimat vorbeizugehen. Länderportraits um ihrer selbst willen sind kein Grundanliegen der Auslandsberichterstattung. Das heißt, Einsicht in fremde Lebensart mit dem Ziel, beim heimatlichen Rezipienten Verständnis und Engagement für fremde Kulturen und deren Sorgen zu wecken, ist nur ein begleitender Aspekt, so sehr man dies auch bedauern mag. Die ethnozentrische Perspektive schlägt auch bei zwei weiteren Kriterien der Nachrichtenauswahl durch: Zum einen bei der bevorzugten medialen Behandlung von politisch und wirtschaftlich mächtigen Nationen und deren Repräsentanten, den sogenannten "EliteNationen" oder "Elite-Personen", da Ereignisse in ihrem Raum in der Regel mehr direkte oder indirekte Konsequenzen für andere Staaten haben; zum anderen bei der Präferenz für Nachrichten über Entwicklungen und Sachverhalte, die mit den gesellschaftlichen Erwartungen und Wünschen in Einklang stehen. Wenn Krisen, Konflikte und Kriege einen Großteil der Auslandsberichterstattung ausmachen, so verbinden sich hier ethnozentrische Sichtweise und die erklärte Überwachungsfunktion der Medien: Einmal dienen sie als Wamsystem, indem sie wichtige Auslandsentwicklungen registrieren und Gefahren an die eigene Gesellschaft weitermelden. Darüber hinaus wollen die Medien Vergehen, Schäden und Bedrohungen sichtbar machen, damit sie beseitigt oder abgewendet werden können. Als journalistische Maßstäbe dienen
57 ihnen die kultureigenen Ideale der Freiheit, Liberalität, Demokratie, Gewaltenteilung, Toleranz, Frieden, Sicherheit und Menschenwürde. Soweit die geographische und thematische Strukturierung der Auslandsberichterstattung entsprechend dem allgemeinen Prozeß des Fremdverstehens erfolgt, kann man davon ausgehen, daß die redaktionelle Nachrichtenauswahl die gesellschaftliche Nachfrage trifft auch wenn die Selektion eher instinktiv als nach theoretischen Reflexionen durchgeführt wird. Das Gleiche ist allerdings nicht ohne weiteres von der inhaltlichen Aufbereitung von Nachrichten zu sagen, die von professionellen Überlegungen mitbestimmt ist: Journalisten gehen aufgrund der bildungsbedingt unterschiedlichen und schon rein zeitlich begrenzten Aufnahmekapazität ihrer Rezipienten davon aus, daß ihre Arbeitsprodukte eine übersichtliche und möglichst leicht verständliche, rezeptionsanreizende Darstellungsweise haben müssen, um auf breiter Basis Akzeptanz zu finden. Aus diesem Grunde greifen sie bevorzugt auf Nachrichten zurück, die sich vereinfachen und medial gut darstellen lassen. Da Anschaulichkeit und Identifikationsmöglichkeiten das Verständnis von Texten und Sendungen für den Rezipienten nach journalistischer Erfahrung erleichtern, und Prominenz einen zusätzlichen Leseanreiz schafft, neigen Journalisten zur Personalisierung von Sachverhalten. Tatsächlich akzeptieren es Rezipienten - unabhängig von individueller Vorbildung, sprachbezogenen Fähigkeiten und sozialer Schichtzugehörigkeit - nicht, daß "komplexe Sachverhalte kompliziert dargeboten werden", und wünschen sich eine "klare, übersichtliche und prägnante Darstellungsweise". Das hat WERNER FRÜH durch eine Untersuchung über den Publikumsanspruch an politische Informationen ermittelt: Während bei steigendem Bildungsniveau der Wunsch nach einem "rational, sachlich-distanziert dargebotenen Informationsangebot" wächst, begrüßt das breite Publikum, das in der Mehrheit aus Hauptschulabsolventen mit Berufsausbildung besteht, einen zusätzlichen Rezeptionsanreiz durch abwechslungsreiche, "stilistisch reizvolle", also dynamische Informationsgestaltung. Der Durchschnittsbürger sei an politischen Themen allgemein weniger interessiert und müsse deshalb durch "fremde Stilmittel und etwas emotionalere Inhalte" zusätzlich aktiviert werden, erklärt FRÜH. Er betont aber, daß Emotionalität des Inhaltes auch für den Durchschnittsbürger "kein absoluter Wert" sei. Grundsätzlich wünschten sich alle Publikumsgruppen eine "gründliche, informative", mit steigendem Bildungsniveau eine "umfassende, differenzierte" Berichterstattung.171
171
WERNER FRÜH: Leseranspruch und Leserurteil. Was erwarten verschiedene Bevölkerungsgruppen von Zeitungsbeiträgen mit politischem Inhalt? In: Publizistik 4/1978, 23. Jg., S. 319 ff., Zitate S. 332 f.
58
Der journalistische Rückgriff auf menschliche Bezüge (Personifizierung), z.B. in Form von sozialbiographischen Einstiegen, ist ein geeignetes Mittel, abstrakte und komplizierte Sachverhalte anschaulich und nachvollziehbar zu interpretieren. Sind Ereignisse in erster Linie Folge wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Strukturen und historischer Entwicklungen und nur in letzter Konsequenz auf das individuelle Handeln namhafter Personen zurückzuführen, zu personalisieren, so müssen sie aber auch so zur Darstellung gelangen. Geschieht dies nicht, wie für die breite Palette der Nachrichtenpraxis besonders über "ferne" Regionen festgestellt, so wird die Auslandsinformation ihrem erklärten Ziel, Zusammenhänge herzustellen, ebensowenig gerecht wie dem allgemeinen Bedürfnis des Publikums nach gründlicher, umfassender, informativer Berichterstattung. Denn dann geht Vereinfachung mittels Personalisierung zu Lasten der Komplexität und unterminiert letztendlich die erklärte Wächterfunktion der Medien. In besonderer Weise höhlt die Präferenz der Medien für kurzfristig auftretende, tagesaktuelle Ereignisse diese Uberwachungsfunktion aus. Gebunden an ihren Erscheinungs- bzw. Senderhythmus und in harter Konkurrenz um Absatz- und Einschaltquoten verwenden die Medien ihren Ehrgeiz darauf, ihren Rezipienten Neuigkeiten möglichst annähernd gleichzeitig zugänglich und miterlebbar zu machen: Aktualität wird als Rezeptionsanreiz verstanden und dabei eher unter dem Aspekt Zeit als unter dem Aspekt Relevanz gesehen. Diese Bevorzugung von "primärer Aktualität" hat einerseits zur Folge, daß Ereignisse und Entwicklungen von potentiell dauerhafter Relevanz vernachlässigt werden. Dabei bleibt andererseits auch die Überlegung auf der Strecke, daß die Bedeutsamkeit eines Ereignisses für die unmittelbare Gegenwart erst durch Einbeziehung von Ursachen und Folgewirkungen ersichtlich und damit aktuell werden kann. Die Folge ist die Vernachlässigung analytischer Berichterstattung, der "sekundären Aktualität". Es ist anzunehmen, daß die Medien damit dem Bedürfnis des Publikums nach gründlicher, umfassender, informativer - sprich vermittelnder Berichterstattung nicht gerecht werden, da die Struktur der referierenden Darstellungsformen Nachricht und Bericht keine Erklärung leistet, die doch zum allgemeinen Verständnis der Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und Außenwelt so nötig ist. Nicht selten geraten Auslandskorrespondenten mit ihren Mutterhäusern über diese Selektionskriterien in Konflikt. Zum einen tun sie sich im Falle einer erfolgreichen Integration in ihrem Gastland mit der ihnen verordneten ethnozentrischen Sichtweise schwer, da sie der eigenen nationalen Grundhaltung mit jahrelanger Abwesenheit im Ausland allmählich entrückt werden. Rundfunkmedien versuchen, sich dem Problem zu entziehen, indem sie ihre Korrespondenten nach einigen Jahren rotieren lassen oder ins Mutterhaus zurückholen. Damit unterbinden sie möglicherweise ein allzu starkes Einschwenken des Korre-
59 spondenten in die Kultur und Interessen des Gastlandes, erschweren aber gleichzeitig die Arbeit des Auslandsberichterstatters. Zum anderen erweckt die Bevorzugung tagesaktueller, vereinfachter Berichterstattung den Protest der Korrespondenten, die doch für Hintergrund-, also analytische Berichterstattung eingesetzt sind und dennoch Schwierigkeiten haben, neben Informationen über Krisen, Kriege und Katastrophen Themen von latenter Aktualität zu plazieren. In jedem Fall sehen Korrespondenten die Chance geschmälert, mit ihrer Berichterstattung auch Verständnis für fremde Kulturen zu wecken. In der Bundesrepublik besteht die publizierte Auslandsinformation je nach Medium bis zu 75 Prozent aus Agenturberichterstattung, d.h., die Nachrichtenagenturen bestimmen die Nachrichtengeographie und Themenstruktur der nachgelagerten Massenmedien weitgehend. Dennoch ist eine unzureichende Qualität der Auslandsberichterstattung nicht allein den Agenturen anzulasten. Man bedenke, die Weltnachrichtenagenturen sind kommerzielle Unternehmen. Sie arbeiten nachfrageorientiert und legen dabei landesspezifische Interessen ihrer vielen Abnehmer zugrunde. Entsprechend selektieren und akzentuieren sie ihr Informationsangebot für die verschiedenen Weltregionen nach den bereits genannten Kriterien des Nachrichtenwertes. Bei der Vielzahl an Abnehmern allein im bundesdeutschen Raum können sich die Agenturen - wollen sie ihren Absatz nicht schmälern - nicht auf die spezifischen Einzelinteressen der Medien einstellen, sondern sie richten ihr Informationsangebot nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner aus. Dabei stellen sich natürlich dieselben negativen Folgen ein, wie sie im Zusammenhang mit der redaktionellen Neigung zur Vereinfachung und zur "primären Aktualität" referiert wurden. Der hohe Anteil an Agenturberichten, der täglich weltweit die Filter der regionalen Selektionsinstanzen passiert, legt die Vermutung nahe, daß die Agenturen die Erwartungen der nachgelagerten Medien auch weitgehend befriedigen. Im Falle der Bundesrepublik wird dieser Eindruck auch dadurch gestützt, daß das Agenturangebot nur wenig redaktionell aufgearbeitet wird. Weniger noch: Bis "auf geringe Unterschiede in den Satzkonstruktionen, die auf die Mischung von Agenturtexten zurückzuführen sind, ist strukturell keinerlei Niederschlag der journalistischen Eigenarbeit ersichtlich", so stellt CHRISTIAN KRISTEN bei seiner Untersuchung der redaktionellen Bearbeitung von Agenturberichten fest.172 Daher ist die Feststellung, daß die nachgelagerten Medien in hohem Maße von dem abhängig seien, was ihnen von den Agenturen geboten wird,
173
mit Einschränkungen
172
CHRISTIAN KRISTEN: Nachrichtenangebot und Nachrichtenverwendung. Düsseldorf 1972, S. 114.
173
Vgl. DETLEF BRENDEL / München 1976.
BERND E. GROBE: Journalistisches
Grundwissen.
60 zu sehen. Denn sie suggeriert einen mangelnden redaktionellen Spielraum für die inhaltliche Aufbereitung von Auslandsnachrichten als zwingende Konsequenz der Agenturberichterstattung. Der Redakteur wird dadurch allzu schnell von Verantwortung freigesprochen. Nachrichtenagenturen und nachgelagerte Medien wählen aber gleichermaßen Nachrichten gemäß ihres Nachrichtenwertes aus, den sie nach den Kriterien des Ethnozentrismus und nach professionellen, auf Absatzüberlegungen basierenden Standards bestimmen. Diese Kriterien sind es, die entscheidende Wirkung auf thematische und geographische Struktur sowie inhaltliche Qualität der Auslandsberichterstattung ausüben. Zusätzlich treten sowohl auf redaktioneller wie auf korrespondentischer Ebene Faktoren auf, deren Einfluß auf die Art der Auslandsinformation nicht unterschätzt werden darf: Eine Mehrheit von Journalisten hat keine systematische Ausbildung über die Funktionen des Journalismus in unserer Gesellschaft, über die Erkenntnisse der Medienforschung und Mediendidaktik erfahren, so daß die Vorstellungen von Möglichkeiten und Grenzen journalistischer Arbeit oft unscharf sind. Die Folge ist ein gestörtes Verhältnis von journalistischer Praxis und Theorie, das sich in stereotypen Vorstellungen vom Adressaten, in journalistischen Selbstmißverständnissen und mangelndem systematischen Handeln äußert. Besonders lückenhaft ist die Ausbildung der Auslandskorrespondenten, denn hier ist selbst die berufliche Vorbereitung durch journalistische/publizistische Studiengänge und Aufbaustudien unzureichend. Vollzieht sich die Auswahl der Auslandskorrespondenten dann noch nach Parteienproporz, Hierarchiedenken oder Karriereförderung statt nach sprachlichen und landeskundlichen Kenntnissen, so verstärken sich die negativen Auswirkungen auf die Qualität der koiTespondentischen Berichterstattung, die schon durch die alltäglichen Arbeitsprobleme im Ausland, wie thematischer und geographischer Großflächenjournalismus, Zeitdruck, Pressezensur etc., beeinträchtigt wird.
61 3. UNBEANTWORTETE FRAGEN UND EIN PROZESSORIENTIERT-OPERATIVER FORSCHUNGSANSATZ Die vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit haben sich mit dem Vorwurf einer unausgewogenen und realitätsverzerrenden Nachrichtenpraxis am Beispiel der bundesdeutschen Medien auseinandergesetzt. Dabei galt es zunächst, die Vielfältigkeit der strukturprägenden Faktoren in der Auslandsberichterstattung, die von den Kritikern der Nachrichtenpraxis bislang weitgehend vernachlässigt wurde, zu präsentieren und zu bewerten. Es war das Ziel dieses Teiles aufzuzeigen, wo die Medien ihren gesellschaftlichen Funktionen und ihrem daraus resultierenden Selbstbild - Mittler und Kontrolleur - nicht gerecht werden, wo also die Medienkritik greift, wo sie überzogen oder gar unangebracht erscheint. Ergebnis war die Feststellung, daß unter den die Nachrichtenstruktur prägenden Faktoren die Präferenz der Medien für tagesbezogene (primäre) Aktualität und ihr Hang zur Vereinfachung besonders kritisch zu betrachten sind, da sie sich qualitätsmindemd auf ihre Berichterstattung auswirken, vor allem auf die inhaltliche Aufbereitung von Nachrichten. Die gesellschaftliche Funktion der Auslandsberichterstattung wurde mit der Aufgabe umrissen, dem einzelnen Bürger die Zusammenhänge seiner Lebenswelt auch mit den darüber weit hinausgehenden, ihm unbekannten Verhältnissen durchsichtig zu machen (Mittlerfunktion). Damit ist er besonders auf die zusammenhang-stiftende Funktion des korrespondentischen Hintergrundberichtes angewiesen. Dabei wurde die oft kritisierte Lästigkeit der Nachrichtenpraxis zu Krisenberichterstattung nicht grundsätzlich
als Negativum
betrachtet angesichts der erklärten Kontroll- bzw. Wamfunktion der Medien, wichtige Auslandsentwicklungen zu registrieren, Vergehen, Schäden und Bedrohungen sichtbar zu machen, damit sie rechtzeitig abgewendet und beseitigt werden können. Aber gerade hinsichtlich dieser gesellschaftlichen Funktion der Auslandsberichterstattung stimmen die als qualitätsmindemd herauskristallisierten Faktoren der primären Aktualität und der Vereinfachung nachdenklich. Denn die Bevorzugung der vordergründigen Tagesneuigkeiten versperrt den Blick auf Aktualitäten, die sich erst aus analytischen Betrachtungen ergeben können. Der Hang zur primären Aktualität ist verantwortlich für den Medientrend, hauptsächlich Krisen zu erfassen, die schon zum Ausbruch gekommen sind und Themen von potentiell dauerhafter Wichtigkeit zu vernachlässigen, so daß das von den
Medien
gesteckte Ziel, Krisen möglichst vor ihrem Ausbruch sichtbar zu machen, vielfach von ihnen selbst unterlaufen wird. An dieser Stelle treten weitere qualitätsmindernde Faktoren hinzu, die die Unzulänglichkeiten der Auslandsberichterstattung noch verstärken können, so zum Beispiel die aus den verschiedensten Motiven heraus bewirkten Milieu- und Perspektivbeschränkungen. So bleiben Gegebenheiten eines Landes, die abseits der Krise
62 stehen, unterbelichtet. Verborgene Strukturen, die oftmals eine Krise zu verantworten haben, werden zu wenig aufgedeckt. Es ist auch damit zu rechnen, daß dies absichtlich geschehen kann, daß Aspekte ausgeblendet werden, wenn sie nicht ins (Krisen-)Bild passen - sei es aus Gründen der Vereinfachung, der Selbstzensur oder aus ideologischen Motiven. Es wurde bereits mehrfach betont, daß die Medien in diesem Zusammenhang nicht in einen Topf zu werfen sind. In einigen Medien kommen die Faktoren primäre Aktualität und Vereinfachung, insbesondere in der Auslandsberichterstattung, extrem stark zum Tragen, in anderen weniger. Schon in den Untersuchungsergebnissen von WINFRIED SCHULZ174 deutete sich an, daß diejenigen Medien, die das Angebot der Nachrichtenagenturen in hohem Maße durch eigene Beiträge ergänzen bzw. ersetzen, den Gefahren einer Unterhöhlung ihrer Mittler- und Kontrollfunktion weniger unterliegen als andere Medien, die dies nicht tun. Dies lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Medien, die explizit für sich in Anspruch nehmen, mit ihrer Berichterstattung über den Vordergrund hinauszugehen, die deshalb ein Netz von Korrespondenten unterhalten, um ihre Rezipienten auch über wichtige Vorgänge in fernen Erdregionen ausführlich zu unterrichten. Gelingt es diesen Medien aber, ihre Mittler- und Kontrollfunktionen so zu realisieren, daß sie diesem Anspruch genügen? In Kapitel 2 wurde unter anderem das gestörte Verhältnis von journalistischer Theorie und Praxis beleuchtet, ebenso die korrespondentischen Arbeitsprobleme, die Milieu- und Perspektivbeschränkungen, die Vereinfachung, die ideologische Komponente. Zudem sind Auslandskorrespondenten ja nicht von der Präferenz ihrer Heimatredaktionen für tagesaktuelle Neuigkeiten entbunden, da sich ihre Mutterhäuser durchaus an der Themenvorgabe der Agenturen orientieren,173 auch wenn sie deren Angebot nicht ohne weiteres "ins Blatt nehmen". Inwieweit beeinträchtigen diese Aspekte Quantität und Qualität der Auslandsberichterstattung dieser "Hintergrund-Medien"? Gelingt es ihnen, die Ereignisursachen, den Stellenwert einer Krise oder problematische Entwicklungen einer für ihre Rezipienten weitgehend unbekannten Region durchsichtig zu machen und mögliche Zusammenhänge mit ihrer eigenen Lebenswelt oder Auswirkungen auf diese aufzuzeigen?
174 WINFRIED SCHULZ: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. A.a.O. - Vgl. DANIEL GLASS: Die Dritte Welt in der Presse ... A.a.O. 173
Siehe Abschnitt 2.3.
63 Das lenkt auf die Frage hin, welche Voraussetzungen Hintergrundberichterstattung überhaupt erfüllen muß, um dem Bedürfnis des Bürgers nach Orientierung Rechnung zu tragen. Ganz allgemein ist als Hintergrundberichterstattung jegliche Information anzusehen, die über das tagesaktuelle Ereignis, über die Beschreibung einer klar erkennbaren Ereignislage (Vordergrund) hinausgeht. Hintergrundberichterstattung umschließt aber speziell die sogenannte "intelligent analysis", durch die erst eine Nachricht transparent wird und eingeordnet werden kann. Und gerade hier liegt ihr eigentlicher Sinn: Die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Konsolidierungsprobleme vieler Dritte-WeltLänder, die hierzulande regelmäßig Schlagzeilen machen, sind oftmals Ergebnisse historischer Prozesse und dauerhafter Strukturen, also nicht allein auf gegenwärtige politische und wirtschaftliche Maßnahmen zurückzuführen. Solches Hintergrundwissen ist eine Voraussetzung für die Fähigkeit, "die Bedeutung und Repräsentativität aktueller Kurzmeldungen richtig einzuschätzen".178 Daraus ergibt sich die Forderung, daß die tagesaktuelle Ereignisberichterstattung kontinuierlich von Hintergrundberichterstattung begleitet werden muß, und daß diese aktuelle Vorgänge weder in kausaler noch in temporaler Hinsicht isoliert betrachtet, sondern gegebenenfalls die dazugehörigen Prozesse und Strukturen mitbenennt. Geschieht dies nicht, bleiben die Rezipienten - wenn auch im Gefühl, auf dem laufenden zu sein - verständnislos, Krisenberichte dienen dann lediglich zur Befriedigung eines Sensationshungers oder zur Abgrenzung gegenüber Fremdkulturen. Die Folgen einer Verständnislosigkeit können vielfaltig sein. Sie können sich in einem breiten Desinteresse an außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Vorgängen manifestieren. Sie können sich aber auch in emotionsgeladenen Reaktionen äußern - je nach Ideologie in heftiger Ablehnung oder Parteinahme, wie dies am Beispiel Nicaraguas zu beobachten ist. Bislang fehlt eine Studie, die die Beschaffenheit der Hintergrundberichterstattung zu politischen, wirtschaftlichen bzw. sozialen Geschehnissen in fernen Krisenregionen untersucht. Es sei nochmals betont, daß Medien hier die zentrale Rolle bei der Formung von Fremdbildem spielen. Es fehlt eine Untersuchung, die auf die Frage eingeht, inwieweit die dafür prädestinierten Medien in der Bundesrepublik Deutschland ihrer erklärten Mittlerfunktion 176
SIEGFRIED QUANDT: Die Bundesrepublik Deutschland und Lateinamerika - Kommunikationsverhältnisse, Images. In: JÜRGEN WILKE / SIEGFRIED QUANDT a.a.O., S. 139.
64 gerecht werden, indem sie durch historische Aufklärung und Argumentation zur Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme beitragen, das heißt, "das zunächst nebelige Umfeld, in dem Lösungen gegenwärtiger und zukünftiger Problemlagen angesiedelt sind, breiter und konturenreicher auszuleuchten ... Historische Reflexion hebt sicher nicht die Zukunftsängste von Menschen auf, aber sie relativiert sie, verhindert hektische Reaktionen, reduziert Blockierungen und ermöglicht so eine rationale Analyse von Zusammenhängen".177 Krisen erzeugen einen Handlungsbedarf. In diesem Zusammenhang schreibt
JÖRN
RÜSEN: "Geschichtsbewußtsein ist nötig, damit das menschliche Handeln (und Leiden) dort, ... wo es gleichsam ins Neuland der menschlichen Weltveränderung vorstößt, nicht blind ist, sondern in dem Bewußtsein erfolgen kann, daß dieser Vorstoß die richtige Richtung hat." 178
Mit ihrer Berichterstattung über Krisengebiete können Medien Aktionen
auslösen und die Handlungsrichtung beeinflussen - dies um so wirkungsvoller, wenn sie Meinungsführer und Entscheidungsträger erreichen. Deshalb erscheint eine Analyse der Berichterstattung über diese Regionen so notwendig. Die Analyse soll neben anderen vor allem folgende Fragen beantworten: - In welchem Umfang und in welcher Regelmäßigkeit findet in der Berichterstattung über ferne Krisenregionen analytische und argumentative Nachrichtenaufbereitung statt? Das heißt, in welchem Verhältnis stehen referierende und interpretierende/kommentierende Textsorten zueinander? - Von welcher Tiefe ist die gegebene Information über aktuelle Entwicklungen in diesen Gebieten? Erhält der Rezipient Struktur- oder Prozeßanalysen? Welche strukturellen oder historischen Erklärungen werden in diesem Fall bevorzugt herangezogen (Frage nach dem Bild dieser Regionen)? Wird der Rezipient darüber aufgeklärt, welchen Platz eine akute Situation im Gesamtprozeß einnimmt (Frage nach Kontinuität oder Kontrast)? Geht Personalisierung zu Lasten von Strukturanalyse? - Erhält der Rezipient Informationen darüber, wie repräsentativ eine Krise in der gegenwärtigen Gesamtsituation des betreffenden Landes ist? 177
JÜRGEN REULECKE: Der Historiker: Hofnarr oder Wegweiser? In: URSULA A. J. BECHER / KLAUS BERGMANN (Hrsg.): Geschichte - Nutzen oder Nachteil für das Leben? Düsseldorf 1986, S. 36. - Vgl. JÖRN RÜSEN: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983, S. 41.
179
Ebenda, S. 72.
65 - Wird eine akute Krise im Hinblick auf Ursachen oder Folgewirkungen im nationalen/regionalen oder im internationalen Zusammenhang gesehen, so daß ihre Dimension klar erkennbar wird? Wird ein Deutschlandbezug hergestellt? - Inwieweit werden - explizit oder implizit - Aussagen gemacht, die es dem Rezipienten ermöglichen, das Gewicht einer Nachricht auch auf die Zukunft hin abzuschätzen (z.B. durch Wirkungsprognosen oder durch Kontinuitätsvorstellungen)? - Enthält die Berichterstattung Handlungsappelle? Bei der Untersuchung handelt es sich um einen prozeßorientiert-operativen Ansatz zur Erforschung des Zusammenspiels zwischen Geschichtswissenschaft, die eine "Daseinsorientierungsfunktion"179
wahrnimmt, Vermittlungssystemen und Publikum. Die Prozeßper-
spektive berücksichtigt hierbei die Informationslage über historische Zusammenhänge, und sie erforscht die Entwicklungen auf dem Feld der internationalen Kommunikation. Der operative Ansatz sucht mögliche Verbesserungen innerhalb der kommunikativen Abläufe.
3.1
Untersuchungsmethode
Um empirische Daten über Form, Gehalt und Einstellungen publizistischer Aussagen in den Massenmedien zu gewinnen, bedient sich diese Studie der Aussagen- oder Inhaltsanalyse - einer Forschungsmethode, die vor allem in der Publizistikwissenschaft Anwendung findet. Die Inhaltsanalyse ist nach BERNHARD BERELSON 1 8 0
eine Forschungstechnik
zur objektiven, systematischen und quantitativen Beschreibung des manifesten Inhalts von Kommunikation. Damit die Untersuchung auch verläßlich ist, muß sie folgenden Kriterien entsprechen: Sie muß objektiv sein, indem sie die Kategorien, nach denen das Untersuchungsmaterial analysiert werden soll, explizit und unmißverständlich definiert. Sie muß systematisch sein, also die Untersuchungsaufgabe präzise formulieren und einen Forschungsplan erstellen, der den Ablauf der Untersuchung genau festlegt. Dies soll
179
Ebenda, S. 30.
180
BERNHARD BERELSON: Content Analysis. In: GARDNER LINDZEY (Hrsg.): Handbook of Social Psychology. Band 1. Reading, Massachusetts 1954, S. 489. - Vgl. ders.: Content Analysis in Communication Research. In: BERNHARD BERELSON / M. JANOWITZ (Hrsg.): Reader in Public Opinion and Communication. 2. Auflage. New York 1966, S. 260 ff.
66 garantieren, daß die Inhaltsanalyse unter gleichen Zuordnungsbedingungen auf das gleiche Untersuchungsmaterial ein identisches Ergebnis hervorbringt (Reliabilität).181 Die quantitative Beschreibung des manifesten Inhalts meint primär die Häufigkeitsverteilung von bestimmten Text- bzw. Aussageteilen und -formen, die mit Hilfe des dafür entwickelten Kategorienschemas ermittelt wird. Nun kann eine einfache Beschreibung, Ausmessung und Zählung von Medieninhalten, ihre Plazierung etc. diesem Forschungsanliegen nicht genügen. Deshalb soll die quantitative Analyse durch eine qualitative Untersuchung ergänzt werden. Die Grenzen zwischen quantitativen und qualitativen Analysen verlaufen fließend: Textliche Aussagen sind oft nicht ohne weiteres kategorial aufzuteilen, wenn sie quantitative und qualitative Aspekte haben. Die Unterscheidung muß danach vorgenommen werden, welcher Aspekt überwiegt. Die qualitative Inhaltsanalyse, so formuliert es HEINZ PÜRER, "fragt ... im besonderen nach 'versteckten', latenten Aussagen in publizistisch vermittelten Inhalten ('Latenz'), nach dem Sinnzusammenhang der Aussagen und Aussagenteile ('Kontext'), nach auffallend vereinzelt auftretenden ('Singularität') sowie nach häufig vorfindbaren Aussageinhalten ('Präsenz') immer unter dem Aspekt, daß Sätze, Satzteile, Werte, Themen und Motive von Aussagen in einem Zusammenhang stehen". 182 Aber, so schränkt OLE HOLSTI ein: " 'Reading between the lines', so to speak, must be reserved to the interpretation stage, at which time the investigator is free to use all of his powers of imagination and intuition to draw meaningful conclusions from the data".183
3.2
Krisenberichterstattung und Hintergrundinformation: Auswahl der für eine Untersuchung geeigneten Berichtsländer
Im Zusammenhang mit der Zielsetzung dieser Analyse ergibt sich nun die Frage, welche fernen Länder sich als Krisengebiete für eine Untersuchung eignen. Als gutes Beispiel für eine krisengeschüttelte Region kommt Lateinamerika in Betracht. Stellvertretend für die 181
Vgl. OLE R. HOLSTI: Content Analysis for the Social Science and Humanities. Reading, Massachusetts 1969, S. 2 ff. - GERNOT WERSIG: Inhaltsanalyse. Einführung in ihre Systematik und Literatur. Berlin 1974, S. 10 ff.
182
HEINZ PURER: Einführung in die Publizistikwissenschaft. Fragestellungen. Theorieansätze. Forschungstechniken. 3. Auflage. München 1986, S. 149. PÜRER nimmt hier Bezug auf JÜRGEN RITSERT: Inhaltsanalyse und Ideologiekritik. Ein Versuch über kritische Sozialforschung. Frankfurt/Main 1972.
183
OLE R. HOLSTI a.a.O., S. 12 ff.
67 Schwierigkeiten, die alle lateinamerikanischen Staaten bei ihrer politischen und wirtschaftlichen Konsolidierung haben, bieten sich besonders BRASILIEN, CHILE, MEXIKO und NICARAGUA an. Diese Länder spiegeln das breite Spektrum politischer und wirtschaftlicher Zustände auf dem Halbkontinent wider. Ihre außenpolitischen Beziehungen zu den USA und Westeuropa auf der einen und dem Ostblock auf der anderen Seite sind dementsprechend unterschiedlich geartet. Allen Ländern, insbesondere BRASILIEN und NICARAGUA, ist die Bundesrepublik Deutschland ein wichtiger Handelspartner. In Zeiten vielversprechender Wirtschaftsentwicklungen aufgrund umfangreicher Industrialisierungsbemühungen flössen in den 70er Jahren hohe Kreditsummen, auch aus der Bundesrepublik, in die als Schwellenländer geltenden Staaten BRASILIEN, CHILE und MEXIKO. Die deutschen Direktinvestitionen in diese Länder, vornehmlich BRASILIEN, sind nach wie vor beachtlich. Alle vier Staaten sind im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern in den vergangenen Jahren mehr und mehr in die bundesdeutschen Schlagzeilen geraten: BRASILIEN und MEXIKO fanden in erster Linie wegen ihrer dramatischen Auslandsverschuldung Medieninteresse, seit ersichtlich wurde, daß die Länder am Rande der Zahlungsunfähigkeit stehen. Denn damit sind auch viele deutsche Banken als Kreditgeber betroffen. Hauptsächlich politische Schlagzeilen machten hierzulande die beiden anderen Staaten, CHILE aufgrund diktatorischer Maßnahmen und innenpolitischer Unruhen, NICARAGUA wegen Revolution und Contra-Bewegung, die das Land zu einer Bühne für den Ost-West-Konflikt werden ließen. Chroniken bzw. Jahresberichte liefern für die Jahre 1985/86 unter den einzelnen Länder-Stichworten folgende Darstellungen: Die anhaltenden Wirtschaftprobleme BRASILIENS mit ihren sozialen Spannungen, die auf eine unausgewogene Einkommensverteilung, Landflucht, Bevölkerungsexplosion und eine hohe, je nach Region zwischen 15 und 40 Prozent schwankende Arbeitslosigkeit zurückzuführen sind, stellen auch 1986 den politischen Demokratisierungsprozeß des Landes auf eine harte Bewährungsprobe. Das Land war erst im Frühjahr 1985 nach langjähriger Diktatur zu einer Form demokratischer Verfassung zurückgekehrt. Der Auf- und Ausbau der brasilianischen Industrie hat umfangreiche Geldmittel erfordert, die zum großen Teil im Ausland aufgenommen wurden. Als Folge dieser Politik hat BRASILIEN seit Jahren mit einer immensen Auslandsverschuldung zu kämpfen, die Ende 1986 auf insgesamt 108 Milliarden Dollar ansteigt. Doch hat das Land erhebliche Schwierigkeiten bei der Bedienung seiner Auslandsschulden: Anfang 1986 führt die Regierung Samey eine Reihe von wirtschaftlichen Maßnahmen ein (Cruzado-Plan), um die hohe Inflation von 227 Prozent einzudämmen. Diese lösen jedoch einen Konsumschub aus, der den Importbedarf steigert.
68 Gleichzeitig verringern sich die
Exporte des größten Kaffeeproduzenten der Erde,
nachdem die Kaffee-Ernte wegen einer anhaltenden Dürre katastrophal ausfallt. Dadurch verschlechtert sich die Handelsbilanz und damit die Möglichkeit, Schulden abzubauen. So werden 1986 weitere Stundungen der bereits umgeschuldeten Verbindlichkeiten notwendig. Eine Einigung über eine langfristig angelegte Schuldenregulierung wird dadurch erschwert, daß BRASILIEN seit 1985 in einem äußerst gespannten Verhältnis zum Internationalen Währungsfond (IWF) steht. Ende November 1986 wird der Cruzado-Plan
revidiert,
seitdem steigen die Preise wieder drastisch an. In CHILE ist die politische Lage auch 1986 gespannt. Eine nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit und ungleiche Einkommensverteilung schüren die sozialen Konflikte, die sich in regelmäßigen Streiks, Protesttagen und Gewalteskalation äußern. Die herrschende Militärregierung reagiert im Bemühen, ihre Position zu festigen, mit drastischen Maßnahmen, die im In- und Ausland wiederum Protest wecken: In der Folge eines fehlgeschlagenen Attentats auf Präsident Pinochet Anfang September, das die Behörden der "Patriotischen Front Manuel Rodriguez" (FPMR) zuschreiben, wird der Belagerungszustand über das Land verhängt, werden Zeitungen verboten und zahlreiche linksgerichtete Politiker verhaftet. Kurz darauf wird das Vorstandsmitglied des Joumalistenverbandes José Carrasco Tapia entführt und ermordet. Drei weitere Menschen fallen den sogenannten Todesschwadronen zum Opfer. Mit der Verhaftung und Ausweisung von Priestern verschlechtert sich die Beziehung zwischen Kirche und Staat. Im In- und Ausland, so auch in der Bundesrepublik, 184 werden massive Vorwürfe der Folter und Menschenrechtsverletzungen erhoben, die die Regierung aber bestreitet. Nachdem das Land seit 1981 unter anderem wegen sinkender Exporterlöse eine schwere Wirtschaftskrise durchgemacht hat, verzeichnet CHILE nun ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent sowie eine positive Handelsbilanz und ist als einziges Land Lateinamerikas in der Lage, Zins- und Kapitalzahlungen zu leisten, ohne dafür Kredite aufnehmen zu müssen. Mit gut 17 Prozent hat CHILE auch die niedrigste Inflationsrate der Region. Sprengstoff bleibt nach wie vor die hohe Arbeitslosigkeit in den unteren Bevölkerungsschichten. Offizielle Angaben sprechen zwar von einer nur 12-prozentigen Arbeitslosigkeit. Doch meint diese Zahl den landesweiten Durchschnitt. Nichtamtliche Quellen schätzen die Arbeitslosenquote bestimmter Regionen bzw. Bevölkerungsschichten höher ein. So schreibt
184
So äußert sich auch CDU-Generalsekretär Heiner Geißler kritisch über die Militärdiktatur Chiles und wirft in diesem Zusammenhang der Deutschen Botschaft in Chile vor, ihre Kontakte zur Opposition seien "gleich Null". Das Auswärtige Amt weist dies zurück. - Siehe EMIL HÜBNER/ HORST- HENNEK ROHLFS: Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1987/88. München 1987, S. 451.
69 der Korrespondent der Financial Times in Santiago, ROBERT GRAHAM: "In the shanty towns round Santiago, where in some instances the jobless total is above 30 per cent, little dent has been made on unemployment." 185 Wie BRASILIEN so hat auch MEXIKO 1986 die größten Probleme, seine enorme Auslandsverschuldung von rund 97 Milliarden Dollar in den Griff zu bekommen. Trotz zahlreicher Umschuldungsabkommen und Überbrückungskredite gelingt es der Regierung de la Madrid nicht, die finanziellen Probleme auch nur annähernd zu lösen. So verhandelt das temporär zahlungsunfähige MEXIKO 1986 mit dem Lenkungsausschuß der Gläubigerbanken über ein Notfinanzierungsprogramm, das Neukredite und ein langfristiges Umschuldungsprogramm beinhaltet. Allerdings ist es um eine mittelfristige Erholung der mexikanischen Wirtschaft schlecht bestellt, da das erdölexportierende Land 1986 von dem drastischen ölpreisverfall getroffen wird, so daß der Exportüberschuß und damit die Fähigkeit zur Schuldentilgung zusammenschmilzt. Die zusätzliche hohe Inflation von rund 58 Prozent, ein enormes Haushaltsdefizit und zunehmende Kapitalflucht lassen keinen Raum mehr für wirtschaftliches Wachstum. Erschwerend kommen das explosive Bevölkerungswachstum und die immense Quote von über 50 Prozent Un- oder Unterbeschäftigten hinzu. So sieht sich die Regierung 1986 sozialen Problemen und wachsenden Unruhen gegenüber, die die innenpolitische Stabilität zunehmend gefährden. Aufgrund des anhaltenden Bürgerkrieges befindet sich NICARAGUA auch 1986 im Ausnahmezustand, durch Regierungsbeschluß bleiben wichtige Grundrechte außer Kraft, die oppositionelle Zeitung "La Prensa" darf nicht erscheinen. Im In- und Ausland werden der Regierung Grtega Menschenrechtsverletzungen, wie die Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, vorgeworfen. Vor allem die US-Regierung beschuldigt das ihrer Darstellung nach kommunistische Regime der Sandinisten, die Demokratisierung des Landes absichtlich zu verhindern. Die Regierung Reagan engagiert sich dementsprechend für eine finanzielle Unterstützung militanter oppositioneller Kreise, den sogenannten Contras. Andere Stimmen kritisieren, daß gerade die Guerilla-Aktivitäten der Contras eine wirtschaftliche und politische Stabilisierung NICARAGUAS verhindern und lehnen das amerikanische Engagement als innere Einmischung ab. So kommt es in der Bundesrepublik Deutschland aus prinzipiellen politisch-moralischen Gründen, auch angesichts der Geiselnahme von deutschen Aufbauhelfern durch Contra-Guerilleros und der Ermordung eines deutschen Brigadisten, für die ebenfalls Contras verantwortlich gemacht werden, zu einer breiten Dis-
183
ROBERT GRAHAM: Better Times for Chile's Lucky Few. In: Financial Times vom 29. Juli 1987, S. 20.
70 kussion über das Für und Wider der Mittelamerikapolitik der USA. Unterdessen bemühen sich die mittelamerikanischen Nachbarstaaten um einen Friedensplan für NICARAGUA (Contadora-Plan). Die politischen Zustände in NICARAGUA wirken sich auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sehr negativ aus. Die sandinistische Regierung sieht sich mit Kapitalflucht, einem stark defizitären Haushalt und Außenhandel konfrontiert. Die öffentliche Auslandsverschuldung, die bereits 1984 rund 142 Prozent des Bruttosozialprodukts betrug, wächst stetig. Die Inflationsrate steigt sprunghaft auf gut 334 Prozent an. Die Arbeitslosenrate liegt 1985 bei über 22 Prozent. 1 8 6 Entsprechend der Nachrichtenwerttheorie ist also davon auszugehen, daß die bundesdeutschen Medien in besagtem Zeitraum kontinuierlich über Ereignisse und Entwicklungen in diesen Staaten berichtet haben dürften.
3.3
Das Untersuchungsmaterial: Auswahl der auf Auslands- und Hintergrundberichterstattung spezialisierten Medien
Quantität und Qualität der Hintergundberichterstattung als Kernfragen dieser Studie lenken auf die Überlegung hin, welche bundesdeutschen Massenmedien sich dem eigenen Anspruch nach vornehmlich der Hintergrundberichterstattung verschrieben haben, welche Medien also als geeignete Untersuchungsobjekte auszuwählen sind. Für eine Presseanalyse spricht die wiederholte Aussage von Journalisten und Medienforschem, daß das Femsehen den Printmedien im Bereich der Information über Problemzusammenhänge unterlegen sei, wenngleich es auch unter den Rezipienten höhere Glaubwürdigkeit finde. Gewinnen sie doch durch die gezeigten Bilder den Eindruck, selbst dabei zu sein und sich einen objektiven Eindruck der Wirklichkeit zu verschaffen. "Das Femsehen ... ist vom Bild abhängig", schreibt HANS HÜBNER. "Wenn Bild und Text nicht zusammenpassen, verpaßt der Zuschauer in der Regel den Text, da er das Bild zuerst wahrnimmt. Die Information kommt über das Bild, der Text ergänzt ... Wer also vom Femsehen profunde Analysen wie in einer Zeitschrift oder in einem Hörfunkpro-
186
Vgl. BUNDESSTELLE FÜR AUSSENHANDELSINFORMATIONEN (Hrsg.): Nicaragua Wirtschaftsdaten. Ausgabe 1986. Köln 1986. - Zur Chronik '86 der vier lateinamerikanischen Länder siehe HANSWILHELM HAEFS: Der Fischer Weltalmanach. Ausgaben 1987 und 1988. Frankfurt 1986 und 1987. - Zur Problematik der Auslandsverschuldung siehe HANS E. BÜSCHGEN: Internationales Finanzmanagement. Frankfurt/Main 1986, S. 148 ff.
71
gramm erwartet, ist beim verkehrten Medium ... Dieser Ansatz bedeutet für die Lateinamerika-Berichterstattung im Femsehen: Man kann hier keine politischen Analysen erwarten - das Fernsehen kann nur Bilder zeigen." 187 Ein Abbild der Wirklichkeit aber vermitteln die gezeigten Bilder nicht, was den Informationswert von Femsehberichten zusätzlich schmälert. So stellen NOELLE-NEUMANN und SCHULZ fest: "Tatsächlich hat das Fernsehen, technisch und dramaturgisch bedingt, eine unique perspective, eine Perspektive, die die Vorgänge oft anders erscheinen läßt, als sie der Augenzeuge wahrnimmt. Das muß sich besonders auswirken bei der Darstellung von Vorgängen, über die sich der Zuschauer nie ein eigenes Bild machen kann, zum Beispiel bei Schilderung der Verhältnisse in einem weitentfemten Land oder in sozialen Gruppen, zu denen er keinen Zugang hat." 188 Auf der anderen Seite können Bilder über Greuel aufklären und aufrütteln und damit die Welt verbessern oder verändern,189 "... unter Umständen deutlicher und eindringlicher als andere Medien das können". 190
Ob dies in der Praxis aber immer erfolgreich geschieht,
ist fraglich. Am Beispiel der ZDF-Nordirland-Berichterstattung und durch Zuschauerbefragungen konnte BERNWARD WEMBER nachweisen, daß der praktizierte rasche Wechsel von Bildeinstellungen die Rezipienten völlig überreizt. Der so erzeugte Augenkitzel ziehe die Aufmerksamkeit der Zuschauer vom Gesprochenen ab und verhindere die Aufnahme komplizierter Textinformationen, erklärt WEMBER: "Durch Textergebnisse und Analysenbefunde drängt sich mir folgender Verdacht auf: Die Informationsfilme werden wie durch einen Durchlauferhitzer gejagt. Die Autoren scheinen nur an diesem Durchlaufpunkt interessiert zu sein. Dort sollen die Informationsfilme für einen kurzen Augen- und Ohrenkitzel erhitzt werden ... Nach dem Durchlaufpunkt löst sich die Information allmählich auf. Wegwerfinformation, nach einmaligem Gebrauch wertlos. Und der Zuschauer wird genau an diesen Durchlaufpunkt gefesselt, der so aufgeheizt wird, daß man die Frage nach dem Zusammenhang vergißt, und daß man gar nicht merkt, wie sich die Information auf187
HANS HÜBNER a.a.O., S. 73. - Vgl. HANS-PETER RIESE a.a.O., S. 176 ff.
188
ELISABETH NOELLE-NEUMANN / WINFRIED SCHULZ: Publizistik, a.a.O., S. 337.
189
Die FAZ-Fotografin BARBARA KLEMM sieht hier die Stärke, die Macht der Kamera, betont aber gleichzeitig, daß die Kamera kein Abbild der Wirklichkeit vermittelt, da sie die Alltagsrealität oft vernachlässige, Zufälligkeiten aufnehme etc. Ihre Ausführungen stammen aus einem fachjournalistischen Kolloquium über Pressefotographie, das am 16. Mai 1986 in Schloß Rauischholzhausen / Justus-LiebigUniversität Gießen stattfand.
190
Zitat HANS HUBNER a.a.O., S. 73.
72 löst... Und dann passiert das Absurde: Man hält dieses aufgeheizte Reizmaterial für Information, weil es einem so angeboten wurde." 1 9 1 WEMBER sieht zwar in dieser Arbeitsweise keine Absicht der Autoren, sondern versteht sie als Folge eines massiven Produktionszwanges unter Zeitdruck und zerstückelter Sendezeit - ein Manko, das mit der dargestellten Reizmethode aufgefangen werden soll. Oleichwohl ist das Ergebnis niederschmetternd: Die Kamera, so der Kritiker, erfasse nur die sichtbare Oberfläche eines Ereignisses, nicht aber seine sozialen, wirtschaftlichen, politischen Hintergründe oder historischen Ursachen. Um diese deutlich zu machen, müsse der gesprochene Kommentar durch die optische Oberfläche stoßen, dann aber klaffe die Bild-Text-Schere zu stark auseinander. Die Autoren lösten das Dilemma damit, daß sie sich kaum auf Hintergründe einließen. 192 " 'Informations-Sendungen müssen ... der eigenen Urteilsbildung dienen. Durch sachgemäße Information ist die politische Urteilsfähigkeit zu stärken' ", zitiert Wember § 3 der ZDF-Richtlinien. Diesem selbstgesteckten Anspruch werde die Auslandsberichterstattung des Femsehens nicht gerecht. "Wenn die Zusammenhänge fehlen, dann bleibt von der demokratischen Urteilsfindung nicht mehr viel übrig als aufgepeitschte Gefühle und irrationale Ängste." 193 Neben den Konzessionen, die Femsehberichterstattung an das Bild macht, wirkt sich bei Fernsehen und Hörfunk auch die limitierte, zerstückelte Sendezeit qualitätsmindemd auf die Auslandsinformationen aus. Rundfunkkorrespondenten sind sich dieses Mankos durchaus bewußt. So gesteht GERHARD DAMBMANN ein: "Eine Zeitung hat - allein schon räumlich - mehr Möglichkeiten, umfassender und kontinuierlicher über das Ausland zu berichten. Man müßte nach Abschluß einer Sendung sagen: 'Und nun, meine Damen und
191
BERNWARD WEMBER: Wie informiert das Femsehen? Ein Indizienbeweis. 3. erweiterte Auflage München 1983, S. 60 f. Es ging dem Autor darum, anhand von 50 ZDFFilmberichten über Nordirland aus den Jahren 1969-1973 einen Zusammenhang von unzureichender Vermittlungsweise und der daraus resultierenden "Korrumpierung der Wahrnehmung" mit ihren Auswirkungen auf die demokratische Urteilsbildung der Fernsehzuschauer aufzuzeigen. Insgesamt 850 Zuschauer verschiedener Altersstufen und Berufsgruppen wurden Wirkungstests unterzogen. Obwohl nur 20 Prozent der Befragten die entscheidenden Informationen verstanden und behalten hatten, fanden 80 Prozent der Zuschauer die Filme sehr informativ und klar verständlich. D.h., es ergab sich also ein Widerspruch zwischen Informations-Eindruck und Informations-Ergebnissen.
192
Nur 3 Prozent des gesprochenen Kommentars berührten historische Hintergründe, 1 Prozent nannten soziale Ursachen. Siehe ebenda, S. 69 f.
193
Ebenda, S. 70.
73 Herren, empfehlen wir Ihnen die Lektüre einer guten Tageszeitung'." 194 Rundfunkjournalisten gestehen den "guten Tageszeitungen" auch eine "Themenführungsfunktion" zu, das heißt, Rundfunkmedien reagieren auf die Themenpalette der Printmedien.
193
Als Letztes ist noch zu bedenken, daß Femsehen und Hörfunk das für jeden Lernprozeß unentbehrliche Element des Zeitmaßes fehlt, mit anderen Worten, die individuellen Unterschiede in der Aufnahmegeschwindigkeit bleiben unberücksichtigt. Natürlich wird der Rundfunkjoumalist vom einmaligen Zuhören ausgehen "und seinen Bericht an der Aufnahmefähigkeit eines durchschnittlichen Zuhörers orientieren", also entsprechend vereinfachen. Dies wiederum beeinträchtigt - mehr oder weniger - die Tiefe, die Komplexität der dargebotenen Information.196 Suchen wir also eine Auslandsberichterstattung, die "profunde Analysen" ( HÜBNER) und historische Hintergrundinformationen zur Stärkung der politischen Urteilsfähigkeit des Rezipienten liefert, so werden wir auf die "guten Tageszeitungen" verwiesen. Welche Printmedien aber kommen hier in Betracht? Was charakterisiert eine "gute" Zeitung in diesem Zusammenhang? Mit Blick auf die Zielgruppen lassen sich folgende Zeitungstypen unterscheiden:
197
- Überregionale Tageszeitungen und Regionalzeitungen mit bundesweiter Verbreitung; - Regionalzeitung; - Lokal- und Kreiszeitungen; - Wochen- und Sonntagszeitungen; - Wirtschafts- bzw. Fachzeitungen. 194
GERHARD DAMBMANN im Rahmen eines Japan-Kolloquiums. A.a.O.
193
JÜRGEN GANDELA / HR im Rahmen eines Kolloquiums über Zielgruppen des Hörfunks, das am 12. Mai 1987 am Seminar für Geschichtsdidaktik / Fachjournalistik der Justus-Liebig-Universität Gießen abgehalten wurde. - Vgl. hierzu ANSGAR SKRIVER: Wo bleiben die Zusammenhänge? Defizite der Auslandsberichterstattung. In: RUPERT NEUDECK (Hrsg.): Den Dschungel a.a.O., S. 161 f.
196
Zitat HANS HÜBNER a.a.O., S. 73. - Siehe auch ELISABETH NOELLE-NEUMANN / WINFRIED SCHULZ: Publizistik, a.a.O., S. 337 f.
197
Gliederung nach Zeitungstypen siehe ALFRED LAMBECK: Zwischen Tabu und Toleranz. Handbuch der Pressearbeit. Würzburg 1981, S. 44 f.
74
Die geographischen Kriterien wirken sich auf die Qualität der Auslandsberichterstattung und in vielen Fällen auch auf die allgemeine Informationsqualität der Zeitungen aus. So behandelt die Regionalzeitung in ihrem regionalen Wirkungsbereich über die allgemeine, aktuelle Berichterstattung hinaus vor allem lokale und regionale Themen. Die Lokalzeitung hat ihre Berichterstattung im wesentlichen auf ihren Wirkungsraum zugeschnitten. Sieht man einmal von der BILD-Zeitung ab, so werden auch alle Boulevardzeitungen regional oder lokal abgesetzt. Da diese nicht über Abonnement, sondern überwiegend im Straßenverkauf an den Leser gebracht werden und sich daher täglich von neuem behaupten müssen, versuchen sie das Leserinteresse durch besonders reißerische Aufmachung auf niedrigem Niveau anzusprechen. "Die Boulevardpresse informiert über den Umweg der Unterhaltung, wobei ihr meist die Unterhaltung wichtiger ist als die Information. Bei Aufmachung, Themen- und Bildauswahl zielt sie bewußt auf Neugier, Sensationshunger und Nervenkitzel." Das heißt, Themen, "die in der seriösen Presse gar nicht oder nur am Rande vorkommen", werden genüßlich ausgebreitet auf Kosten von wichtigen Ereignissen, die sich in den Boulevardzeitungen mit einem knappen Raum begnügen müssen.
198
Zeitungen mit bundesweiter Verbreitung zeichnen sich formal dadurch aus, daß "mindestens 20 Prozent ihrer Auflage ständig außerhalb ihres Kemgebietes bezogen werden",
199
und daß sie sich inhaltlich in erster Linie überregionaler Themen - vorrangig Politik, Wirtschaft und Kultur - annehmen. Die politischen Wochenzeitungen stehen in Verbreitung und Themengewichtung den überregionalen Tageszeitungen nahe. Ihre Berichterstattung ist aber nicht tagesgebunden. Ihr publizistisches Ziel ist es, Tagesereignisse in größerem Zusammenhang darzustellen, Nachrichten zu interpretieren und zu bewerten. Grundlage für die bundesweite und teilweise internationale Bedeutung mancher überregionaler Tageszeitungen, Wochen- und Sonntagszeitungen sowie Wirtschaftszeitungen ist, so ALFRED LAMBECK, " ... eine hohe redaktionelle Leistung, ein sehr großes, vielfältiges redaktionelles Angebot, das nicht zuletzt auf großen eigenen Korrespondentennetzen basiert ..."200
198
LUDWIG MAASSEN: Die Zeitung. Daten - Deutungen - Porträts. Presse in der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg 1986, S. 44 f. - Vgl. PETER BRAND / VOLKER SCHULZE (Hrsg.): Medienkundliches Handbuch. Die Zeitung. Braunschweig 1982, S. 29 ff.
199 PETER BRAND / VOLKER SCHULZE ebenda, S. 36. 2M
ALFRED LAMBECK a.a.O., S. 45.
75 Es ist also davon auszugehen, daß mit "guten Tageszeitungen" eben diese überregionalen Zeitungstypen angesprochen sind. Nach angloamerikanischem Verständnis werden diese Blätter unter dem Begriff "quality newspapers" zusammengefaßt. Sie zeichnen sich aus durch "make up dignity, de-emphasis of sensational news and pictures". Sie sind "socially concerned, world conscious und dignified".201 Charakteristisch für die Qualitätspresse ist das analytische Schreiben: "The elite press actually attempts to do what the Commission on Freedom of the Press said the press should do for society in its 1947 report -", schreibt JOHN C. MERRILL, "to present a truthful, comprehensive and intelligent account of the day's events in a context which gives them meaning."
202
Besonders in ihrer
Bedeutung für das Feld der internationalen Kommunikation zeichnen sich Qualitätsblätter aus: "The international elite paper must evidence a cosmopolitanism quite alien to mass papers and occasionally approached in middle-area general appeal papers ... The elite paper is able to see the world as a piece, not simply as a hodgepodge of nationalistic states isolated and unimportant to one another." 203 Obwohl ihr Verbreitungsgrad - meist um 300.000 Exemplare - vergleichsweise klein ist, hat die Qualitätspresse erheblich mehr Einfluß, als ihre Zirkulation glauben macht, denn sie erreicht Meinungsführer und Entscheidungsträger: "... for they are read regularly by public officials, scholars, journalists, theologians, lawyers, judges and business leaders. And what is more, they are read in other countries by those persons whose business it is to keep up with world affairs."204 Die Qualitätspresse liege weltweit in jeder guten Bibliothek aus, betont MERRILL. Nicht zuletzt deshalb kommt er zu dem Schluß: "... serious journalism is crossing national borders in an ever-increasing flow and more and more people are being exposed to it directly, throughout translation or through opinion leaders in their respective countries. One elite paper quotes another, and a 'quality journalism' spreads across nations and across languages and develops a common denominator, not of popular event/reportorial journalism, but of idea/interpretation journalism that is a catalyst to world reason." 203
201
JOHN C. MERRILL: The World's Elite Newspapers. In: GEORGE THOMAS KURIAN (Hrsg.): World Press Encyclopedia. Band 1, London 1982, S. 47.
202
Ebenda, S. 39.
203
Ebenda, S. 44.
204
Ebenda, S. 40.
205
Ebenda, S. 39.
76
Nach Darstellung von GEORGE T. KURIAN hat die Bundesrepublik Deutschland acht bis neun national geschätzte Tageszeitungen, allerdings genießen nur drei davon internationalen Ruf: FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und DIE WELT. 206
MERRILL zählt noch DIE ZEIT als Elite-Wochenzeitung hinzu. 207
Damit sind also die Medien herausgefiltert, die sich in erster Linie für eine Analyse der Hintergrundberichterstattung anbieten. Da diese Presseorgane politisch unterschiedlich ausgerichtet sind - wenngleich sich auch alle als überparteilich bezeichnen - , läßt sich gut untersuchen, inwiefern dies möglicherweise in unterschiedlichen Lateinamerika-Bildem und Erklärungsmustem Niederschlag findet. Bestehen entscheidende Unterschiede in der Tiefe der Hintergrundberichterstattung über Lateinamerika zwischen Tages- und Wochenzeitungen? Zur Klärung dieser Frage ist es gut, vergleichsweise die ZEIT neben FAZ, SZ und WELT zur Analyse heranzuziehen. Welche Charakteristika - Gemeinsamkeiten und Unterschiede - diese Medien auszeichnen, soll im folgenden dargestellt werden: - Die FAZ bekennt sich selbst zur "Ausgewogenheit und zur Mitte", wird aber allgemein als eine Zeitung mit "conservative leaning" 208 "Described as a paper of the middle, F.A.Z.
umschrieben. So erklärt KURIAN: is unattached to any political party,
although it was a strong supporter of Konrad Adenauer and continues to be a vigorous advocate of private enterprise. On critical issues it tends to veer to the right ..."
209
Die
FAZ versteht sich als Meinungsblatt, das heißt, sie will meinungsbildend wirken, nicht nur Meinungen aussprechen. 210
Nach eigenen Angaben kommt die Leserschaft der
FAZ aus allen Berufs- und Altersgruppen, doch betont die Zeitung, daß sie sich an gegenwärtige und künftige Führungskräfte wende - einen Leserkreis, der "für die
206
GEORGE T. KURIAN a.a.O., S. 376.
207
JOHN C. MERRILL a.a.O., S. 40 f. - Vgl. LUDWIG MAASSEN a.a.O., S. 44 f. HERRMANN MEYN: Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1985, S. 51.
208
JOHN C. MERRILL a.a.O., S. 40 f. - FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (Hrsg.): Alles über die Zeitung. Frankfurt, 17. überarbeitete Ausgabe 1984, S. 3.
209
GEORGE T. KURIAN a.a.O., S. 378. - Vgl. HERRMANN MEYN a.a.O., S. 51.
210
FAZ (Hrsg.) a.a.O., S. 3.
77
öffentliche Meinung maßgebend" sei. 211
Die FAZ hat eine verkaufte Auflage von
327.000 Exemplaren, davon werden 270.000 durch Abonnement abgesetzt. 30.000 Ausgaben werden im Ausland verkauft. Die Zeitung rechnet damit, daß jedes verkaufte Exemplar durchschnittlich von drei Personen gelesen wird. 212 Als ihre Aufgabe versteht es die FAZ, "die Neuigkeit des Tages nach ihrer tatsächlichen Bedeutung zu melden". Dabei legt sie durchaus die Betonung auf sekundäre Aktualität: "Es sind Zustände, die zu Ereignissen führen. Wer nicht geneigt ist, die Wolkenbildung darzustellen, aus der eines Tages der Blitz hervorbrechen wird, der läßt den Leser im Stich."
213
Entspre-
chend hat die Zeitung ein Korrespondentennetz aufgebaut, das, wie sie sagt, zu den größten der Welt gehört. Im Ausland sind insgesamt 36 Korrespondenten fest akkreditiert, dazu kommen Reisekorrespondenten. Aus Lateinamerika berichten für die FAZ die Korrespondenten WILLY OTTEN PHILIPPENGRACHT (Santiago de Chile) über die pazifischen Länder der Region, über Zentralamerika, Argentinien und Mexiko und MARTIN GESTER (Rio de Janeiro) über Südamerika. Auch der Spanien-Korrespondent WALTER HAUBRICH berichtet regelmäßig aus Süd- und Mittelamerika. Als Lateinamerika-Experten sitzen in der Frankfurter Zentralredaktion HILDEGARD STAUSBERG und ERIK-MICHAEL BADER. 2M - Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, eine Regionalzeitung mit bundesweiter Verbreitung, ist die größte überregionale Abonnement-Tageszeitung in der Bundesrepublik. Ihre Auflage ist 356.000. 80 Prozent der SZ werden über Abonnement verkauft. 215 "Gegenüber der jeweiligen Regierung loyal, aber wach und kritisch, bewegt sie sich im allgemeinen etwas links von der Mitte ...", so charakterisiert sich die SZ mit den Worten
211
Ebenda S. 2 f. - Vgl. GEORGE T. KURIAN a.a.O., S. 377.
212
FAZ (Hrsg.) a.a.O., S. 2. - Verkaufszahlen laut EMIL HÜBNER / HORST HENNEK ROHLFS a.a.O., S. 49. Zitiert nach INSTITUT DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT: Zahlen 1986, S. 99.
213
FAZ (Hrsg.) a.a.O., S. 16.
214
Die Angaben über Zahlen und Einsatzort, bzw. Interessengebiete der FAZ-Korrespondenten, bzw.- Redakteure sind entnommen: FAZ (Hrsg): Sie redigieren und schreiben die Frankfurter Allgemeine. Frankfurt 1985. Die Detailangaben über Korrespondenten und Lateinamerika-Experten der FAZ, WELT, SZ und ZEIT befinden sich im Anhang.
215
Verkaufszahlen laut EMIL HÜBNER/ HORST-HENNEK ROHLFS a.a.O., S. 49.
78 ihres ehemaligen Chefredakteurs Hermann Proebst. 216 Nach einer Umfrage der SZ findet sich der Schwerpunkt ihrer Leserschaft unter leitenden und sonstigen Angestellten und Beamten mit höherer Schulbildung. Aber, so schreibt KURIAN, "... its principal appeal is to the intelligentsia of left-wing liberalism". 217
Ihre Tätigkeit, so stellt die SZ
fest, beschränke sich nicht auf das Sammeln und die Vervielfältigung von Nachrichten. Ein Blatt wie die SZ versuche, "zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen". Die SZ will, so der eigene Anspruch, "die großen Zusammenhänge hinter den Sensationen der Zeitgeschichte aufzeigen". Die Zeitung beschäftigt 27 Auslandskorrespondenten, die sich "um besondere Einblicke, um Neuigkeiten, die andere Zeitungen vielleicht noch nicht erfahren haben", bemühen sollen. 218 Aus Lateinamerika berichtet FRIEDRICH KASSEBEER (Rio de Janeiro) für die SZ. Hin und wieder, so teilt die SZ-Redaktion mit, reisten auch Redaktionsmitglieder nach Lateinamerika, auch wenn in der Redaktion zur Zeit niemand auf diese Weltregion ausgesprochen spezialisiert sei. Flankierend überschreite der Washingtoner SZ-Korrespondent CARLOS WIEDMANN - ein ehemaliger Lateinamerika-Berichterstatter - "ab und zu kommentierend oder als Reporter den Rio Grande in Richtung Süden". 219 - Die WELT fühlt sich einer konservativ-nationalen Position verbunden, zeichnet sie als "staunchly conservative".
220
KURIAN be-
Das Blatt hat eine Auflage von 202.000
Exemplaren, die ebenfalls zu 80 Prozent über Abonnement verkauft werden. Auch ihre Leser sind oft Führungskräfte in Staat und Wirtschaft. 221 Auslandskorrespondenten.
Als
Die WELT beschäftigt 34
Lateinamerika-Korrespondent
berichtet
WERNER
THOMAS (Miami) für die WELT. Als freier Mitarbeiter steht ihm GÜNTER FRIED-
216
In: Die Süddeutsche Zeitung und ihr Verlag. Zahlen + Fakten + Informationen. Informationsmaterial der SZ, S. 5, o.J.
217
GEORGE T. KURIAN a.a.O., S. 378. - Die Süddeutsche ..., S. 16.
218
Ebenda, S. 5 f.
219
Diese Angaben entstammen einem Schreiben der SZ-Redaktion, s. Anhang.
220
GEORGE T. KURIAN a.a.O., S. 378 f.: "Although Die Welt has toned down much of its former strong right - wing political views, it remains anathema to many German liberals."
221
Verkaufszahlen laut EMIL HÜBNER / HORST HENNEK ROHLFS a.a.O., S. 49.
79
LÄNDER (Miami) zur Seite. Lateinamerika-Experten in der WELT-Zentralredaktion sind JÜRGEN LIMINSKI und FLORIAN NEHM. 2 2 2 - In der "Haltung der streitbaren Mitte" sieht sich die ZEIT. Sie versteht sich als "großes liberales Forum der Aussprache und Vernunft, der ruhigen Überlegung". Chefredakteur THEO SOMMER beschreibt den politischen Teil der Zeitung als "gedämpfte Mitte", den Wirtschaftsteil als konservativ. 223 Nach eigenen Angaben liegt die verkaufte Auflage der ZEIT bei 455.100 Exemplaren, 55 Prozent werden über Abonnement abgesetzt. THEO SOMMER beschreibt die ZEIT als "elitäre Massenpresse". Die Leserschaft setzt sich hauptsächlich aus leitenden und sonstigen Angestellten und Beamten mit höherer Schulbildung zusammen. 224
Die ZEIT will laut SOMMER "advokativen Journalismus"
betreiben und legt deshalb Wert auf "scharfe Analyse". Die Wochenzeitung verfügt über Auslandskorrespondenten nur in London, Madrid, Paris, Rom, New York, Washington und Tokyo. Für ihre Lateinamerika-Berichterstattung stützt sich die ZEIT "auf mehrere dort arbeitende Journalisten (teils Deutsche, teils Lateinamerikaner)". Bei Artikeln, die in der Redaktion angefertigt werden, baut man auf "die Hilfe von Stringerti aus verschiedenen Institutionen und Redaktionen Lateinamerikas". In der Hamburger Redaktion "kümmert sich"
HORST BIEBER "systematisch um diesen
Halbkontinent". 229
3.4
Untersuchung»Zeitraum und Untersuchungstechnik
Es erscheint angesichts der Fragestellung dieser Studie sinnvoll, nicht nur einzelne schlagzeilenträchtige Spitzenereignisse herauszugreifen, sondern die Beschaffenheit der Berichterstattung kontinuierlich über einen längeren Zeitraum zu untersuchen. Gerade in der sogenannten Saure-Gurken-Zeit (ein journalistischer Terminus, der auf die Themenflaute anspielt, die sich aus den parlamentarischen Pausen ergibt) entsteht in den Zeitungen Platz 222
Zahl der Korrespondenten nach GEORGE T. KURIAN a.a.O., S. 378 f., Angaben der Lateinamerika-Korrespondenten und -Experten nach einem Schreiben der WELTZentralredaktion. Siehe Anhang.
223
Zitate aus einer Rede von THEO SOMMER vor dem Art Directors Club, Düsseldorf, 5. Mai 1973.
224
Angaben aus einer MEDIA-ANALYSE 1987.
225
Über die Gesamtzahl ihrer Auslandskorrespondenten gab die Kurzinformation der ZEIT keine Auskunft. - Angaben über ihre Lateinamerika-Experten laut einem Schreiben der ZEIT-Redaktion. Siehe Anhang.
80 für internationale Berichterstattung. Hier haben Korrespondenten eine gute Gelegenheit, analytische Aufarbeitungen der Krisen und Länderportraits zu plazieren, die neben den Ausnahmesituationen auch über Alltagsaspekte berichten - ganz unter dem Motto von GERHARD DAMBMANN: "Nicht die Ereignisberichterstattung weckt das Verständnis für eine ferne Region, sondern die Aufhellung des historisch-kulturell-gesellschaftlichen Mutterbodens, aus dem sich die Ereignisse entwickeln." 226 Zudem ist die ganze thematische Breite der Berichterstattung ja allein schon deshalb von Interesse, weil es herauszufinden gilt, inwieweit der Rezipient über die Repräsentativität eines Ereignisses in der gegenwärtigen Gesamtsituation des betroffenen Landes informiert wird. So würde bei CHILE beispielsweise das Ergebnis von vornherein verfälscht, verzichtete man auf die Frage, inwieweit die Medien neben ihren Berichten über Massenproteste und Staatsaktionen auch über die vergleichsweise positive Wirtschaftsentwicklung informieren. Deshalb wurde als Untersuchungszeitraum ein ganzes Jahr gewählt, und zwar vom 1. November 1985 bis 31. Oktober 1986. Die kontinuierliche Beobachtung der FAZ, WELT, SZ und ZEIT in dieser Periode erfaßte eine solche Menge an Texten über die vier ausgewählten Länder, daß eine quantitative und qualitative Untersuchung aller Texte im Rahmen dieser Arbeit nicht durchführbar erschien. Daraus ergab sich die Überlegung, ein Sample zu bilden, das den besonderen Gegebenheiten der Publizistik und der Fragestellung dieser Studie gerecht wird. Wie bereits erwähnt, unterliegt die Medienberichterstattung saisonalen Schwankungen. Wie diese müssen auch die zyklischen Veränderungen in der Zeitungswoche bei einer Stichprobe berücksichtigt werden. 227
Um dem gerecht zu werden, müssen die Wochentage, an denen
die Zeitungsausgaben untersucht werden sollen, in gleichmäßiger Verteilung im Sample vertreten sein. Welchen Umfang das Sample also haben muß, um repräsentativ und damit valide zu sein, das heißt, gültige Rückschlüsse auf ein Gesamtbild der Berichterstattung zuzulassen, ergaben frühere Studien: Ein 6er-Sample, bei dem jeder 5., 10., 15., 20., 25. und 30. Tag 226
GERHARD DAMBMANN a.a.O.
227
So berichten die Zeitungen beispielsweise in ihren Montagsausgaben schwerpunktmäßig über Sportereignisse auf Kosten anderer Berichterstattung, während die Wochenendbeilagen oft Raum schaffen für historisch-politische, kulturelle Themen aus dem In- und Ausland oder für Länderportraits.
81
eines jeden Monats erfaßt wird, brachte hinsichtlich der oben genannten Bedingungen keine signifikant anderen Ergebnisse als die Daten eines gesamten Monats.
228
Wendet man das genannte 6er-Sample auf den zuvor genannten Untersuchungszeitraum an, so erzielt man pro Monat eine künstliche Woche. Das Gesamtbild der Untersuchungstage stellt sich wie folgt dar: November 1985:
Di, 5. / Fr, 15. / Mi, 20. / Mo, 25. / Sa, 30. (Sonntag, der 10., entfällt)
Dezember
1985:
Do, 5. / Di, 10. / Fr, 20. / Mo, 30. (Sonntag, der 15., Mittwoch, der 25., entfallen)
Januar
1986:
Fr, 10. / Mi, 15. / Mo, 20. / So, 25. / Do, 30. (Sonntag, der 5., entfallt )
Februar
1986:
Mi, 5. / Mo, 10. / Sa, 15. / Do, 20. / Di, 25.
März
1986:
Mi, 5. / Mo, 10. / Sa, 15. / Do, 20. / Di, 25. (Sonntag, der 30., entfällt)
April
1986:
Sa, 5. / Do, 10. / Di, 15. / Fr, 25. / Mi, 30. (Sonntag, der 20., entfällt)
Mai
1986:
Mo, 5. / Sa, 10. / Do, 15. / Di, 20. / Fr, 30. (Sonntag, der 25., entfällt)
Juni
1986:
Do, 5. / Di, 10. / Fr, 20. / Mi, 25. / Mo, 30. (Sonntag, der 15., entfällt)
Juli
1986:
Sa, 5. / Do, 10. / Di, 15. / Fr, 25. / Mi, 30. (Sonntag, der 20., entfällt)
August
1986:
Di, 5. / Fr, 15. / Mi, 20. / Mo, 25. / Sa, 30. (Sonntag, der 10., entfällt)
September 1986:
Fr, 5. / Mi, 10. / Mo, 15./ Sa, 20. / Do, 25./ Di, 30.
Oktober
Fr, 10. / Mi, 15. / Mo, 20. / Sa, 25. / Do, 30. (Sonntag, der 5., entfällt)
228
1986:
Vgl. A. MINTZ: The Feasibility of the Use of Samples in Content Analysis. In: HAROLD D. LASSWELL u.a.: The Language of Politics. New York 1949. - Vgl. OLE R. HOLSTI a.a.O., S. 132 ff. - ERNST WERSIG a.a.O., S. 31 f.
82 Durch dieses System werden genau 60 Tage erfaßt, insgesamt rund ein Fünftel der Tageszeitungsausgaben, die im Jahr erscheinen. Außerdem wird die gleiche Anzahl an Wochentagen berücksichtigt: Jeder Wochentag (außer den erscheinungsfreien Sonntagen) wird jeweils zehnmal erfaßt. Der Sinn einer solchen Stichprobe ist auch darin begründet, daß man so dem Leseverhalten des Durchschnittsrezipienten und damit seinem Bild über Lateinamerika nahekommt. Denn es ist davon auszugehen, daß der Blick des Lesers in den meisten Fällen nicht gezielt auf MEXIKO, NICARAGUA, CHILE oder BRASILIEN fällt, das heißt, daß der Leser nicht jeden Tag dieselben Themen rezipiert. Dies ist für den Normalbürger bei der Fülle an Nachrichten schon allein rein zeitlich nicht möglich. Dieses Stichprobenverfahren soll bei den Tageszeitungen FAZ, WELT und SZ Anwendung finden. Im Unterschied zu den Tageszeitungen sollen alle 52 Ausgaben der Wochenzeitung ZEIT erfaßt werden, da es sich hier um ein Hintergrundmedium handelt, das in weiten Strecken losgelöst von der Tagesaktualität berichten und seine Betrachtungen daher ausführlicher betreiben kann. Ein Vergleich mit den Tageszeitungen ist deshalb im Hinblick auf Ähnlichkeiten oder auf markante Unterschiede in der analytischen Tiefe der Berichterstattung interessant. Sampling erscheint bei der ZEIT gewagt, da hier ein 2er, 3er... Rhythmus bei der Auswahl nicht ausschließen kann, daß besondere ZEIT-eigene Zyklen in der Berichterstattung übersehen werden. Damit wäre die Repräsentativität dieses Untersuchungsteils gefährdet. Nicht erfaßt werden die selbständigen Magazine (nicht zu verwechseln mit Wochenendbeilagen) der Zeitungen. Innerhalb der einzelnen Zeitungen sollen die Sparten untersucht werden, die die Bereiche Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur (inklusive Feuilleton ohne Rezensionsteile und inklusive Reiseteil) umfassen. Diese Bereiche werden nicht nur unter den entsprechenden Uberschriften geführt, sondern erscheinen oft unter Überschriften wie: "Dossier" und "Modernes Leben" (beides ZEIT) oder "Bilder und Zeiten" (FAZ) ... Die Sparte Sport wurde nur in der Zeit vor und während der Fußballweltmeisterschaft in
MEXIKO 2 2 9
berücksichtigt, da sich herausstellte, daß die Zeitungen anläßlich dieses Sportaufhängers Hintergrundaspekte über die Lage MEXIKOS im Sportteil mitveröffentlichten.
229
In der ersten Junihälfte 1986.
83
Von der Berichterstattung in den genannten Sparten sind in Hinblick auf NICARAGUA, MEXIKO, BRASILIEN und CHILE folgende Artikel für die Untersuchung erfaßt: - Artikel, in deren Überschrift der Name eines dieser Länder enthalten ist; - Artikel, in deren Überschrift bestimmte Gruppen (kulturelle, soziale, politische, wirtschaftliche ...) oder offizielle Repräsentanten dieser Länder genannt sind; - Artikel, die Situationen oder Geschehen beschreiben, die sich in diesen Ländern abspielen; - Artikel, die Vorgänge beschreiben, die sich außerhalb dieser Länder abspielen, die aber einen ausdrücklichen Bezug auf diese nehmen. Als konkrete Beispiele für dieses Auswahlkriterium mögen dienen: US-KongressEntscheidungen für oder gegen die Unterstützung von nicaraguanischen Contras; die Probleme der USA mit der Flut mexikanischer Einwanderer, die vor der mexikanischen Wirtschaftsmisere fliehen; bundesdeutsche Demonstrationen gegen Pinochet oder für die Sandinisten; die Contadora-Friedensbemühungen um NICARAGUA ... (Nicht erfaßt sind Artikel, in deren Verlauf Namen der vier Länder unter ferner liefen ... auftauchen).
3.5
Die Untersuchungskategorien
Aus dem dargelegten Forschungsansatz ergeben sich folgende Fragen, die gleich einem Untersuchungsmaßstab an alle Zeitungstexte der Stichprobe gestellt werden sollen. Die Antworten sollen dann in einen entsprechenden Kategorien-Katalog eingeordnet werden: 1. Presseorgan? FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, DIE WELT, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, DIE ZEIT. 2. Land? BRASILIEN, CHILE, MEXIKO, NICARAGUA, LATEINAMERIKA. Unter diese letzte Kategorie fallen Texte, die explizit auf mehr als einen der genannten Staaten Bezug nehmen, zum Beispiel BRASILIEN und MEXIKO oder NICARAGUA und CHILE oder NICARAGUA und EL SALVADOR etc. Artikel, die Vorgänge beschreiben, die sich außerhalb dieser vier ausgewählten Länder abspielen, aber einen ausdrücklichen Bezug auf sie nehmen, fallen unter die entsprechende Länder-Kategorie. So werden beispielsweise Artikel, die die ContadoraFriedensbemühungen um NICARAGUA behandeln, unter die Kategorie NICARAGUA eingeordnet, ebenso fallen Texte über die Flut mexikanischer Einwanderer in die
84 USA unter die Kategorie MEXIKO usw. Voraussetzung ist dabei aber, daß solche Texte explizit auf eines dieser vier Länder Bezug nehmen. 3.
Plazierung? Hier soll unterschieden werden in EXPONIERTE PLAZIERUNG und NICHT-EXPONIERTE PLAZIERUNG. Als EXPONIERT werden Artikel bezeichnet, a) die auf der ersten Zeitungsseite erscheinen oder auf der Frontseite in einer Kurzübersicht über die wichtigsten Tagesthemen erwähnt und damit aus dem inhaltlichen Angebot der Zeitung hervorgehoben werden; b) denen - verhältnismäßig - auffällig breiter Raum gewidmet wird, so zum Beispiel: die Seite 3 der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, die für besondere Reportagen reserviert ist; oder die Frontseite der Samstagsbeilage der FAZ, wo oft ganzseitig mit Umlauf über Auslandsthemen berichtet wird; oder eine ganze Rubrik wie das ZEIT-Dossier, oder die in den Rubriken wie "Zeitgeschehen", "Aus aller Welt" etc. an Textumfang dominant herausragen. Hinter dieser Klassifikation steht die Hypothese, daß die Art der Plazierung einer Nachricht innerhalb einer Zeitung als Wertung ihrer Bedeutsamkeit interpretiert werden kann.230 Alle sonstig plazierten Texte fallen unter die Kategorie NICHT EXPONIERT.
4.
Beiichtsort? Mit dieser Frage ist der Stationsort angesprochen, von dem aus der Verfasser Vorgänge in den genannten Ländern beobachtet. Die Einstufung der Texte erfolgt hier nach drei Kategorien: Unter die Kategorie VOR ORT fallen alle Artikel, die entweder direkt am Ort des Geschehens oder wenigstens im Land des Geschehens abgefaßt wurden. In die Kategorie BENACHBARTES AUSLAND gehören alle die Texte, die in einem lateinmerikanischen Land oder in den benachbarten USA abgefaßt wurden. Artikel, die im deutschen Mutterhaus verfaßt wurden, fallen unter die Kategorie ZENTRALREDAKTION. Durch diese Klassifizierung, die entsprechend den Ortsangaben am Anfang des jeweiligen Textes vorgenommen wird, lassen sich Rückschlüsse auf mögliche Milieu- bzw. Perspektivbeschränkungen der Autoren ziehen.
230
Vgl. G. PRICE: A Method for Analysing Newspapers. In: Journalism Quarterly 4/1954, S. 447 ff. - M.D. STEWARD: Importance in Content Analysis. A Validity Problem. In: Journalism Quarterly 4/1943, S. 286 ff.
85 5. Verfasser? Entsprechend den Verfasserangaben zu Artikelbeginn werden die Texte in AGENTURTEXTE und zeitungseigene Texte unterschieden. Letztere fallen entweder unter die Kategorie ZEITUNGSREDAKTEUR oder ZEITUNGSKORRESPONDENT. Mit dieser Unterscheidung läßt sich zum einen die redaktionelle Eigenleistung einer Zeitung hinsichtlich der Berichterstattung über die jeweilige Region ermessen. Zum anderen lassen sich mit Hilfe der Namensangaben oder der Namenskürzel Rückschlüsse über den Erfahrungsgrad des Autoren und eine damit verbundene Perspektiverweiterung ziehen. 6. Thema? Der Gedanke, die Artikel zur Erfassung ihres Inhaltes nach Kategorien wie Innenpolitik, Außenpolitik, Wirtschaft, Kultur und Human-Interest / Sonstiges zu unterscheiden, wie dies zum Beispiel MARIE-THERESE GUGGISBERG durchgeführt hat, 231 erwies sich als wenig praktikabel. Denn eine solche Klassifizierung würde zu Verzerrungen führen, die wissenschaftlich nicht vertretbar sind: Worunter sollte man beispielsweise wirtschaftliche Entwicklungen, bzw. Maßnahmen und Reaktionen darauf einordnen, wenn diese auf die Innen- oder Außenpolitik eines Landes zurückzuführen sind? So können Streiks politisch oder wirtschaftlich motivierte Reaktionen sein, ebenso hängen Lebensstandard und Ernährungslage eines Landes sowohl von Innen-, Außenpolitik sowie der Wirtschaft gleichermaßen ab. Aussagekräftiger ist es daher, die Texte nicht in vorab definierte Kategorien einzuordnen, sondern den thematischen Schwerpunkt eines Textes mit einem Stichwort zu vermerken, das bei Texten gleichen Inhalts wiederholt wird. Beim anschließenden Interpretationsvorgang können dann die inhaltlichen Schwerpunkte der LateinamerikaBerichterstattung präziser gemessen werden. Mit der Thematisierung soll untersucht werden, inwieweit der Leser Informationen darüber erhält, wie repräsentativ eine Krise in der Gesamtsituation eines Landes ist. Besonders interessant erscheint dabei die Frage, inwieweit die redaktionelle Linie von FAZ, WELT, SZ und ZEIT auf die Thematisierung Einfluß nimmt, das heißt, ob bestimmte Themen bevorzugt und andere vernachlässigt werden. 7. Textgattung? Es erweist sich als wenig sinnvoll, alle Artikel der Stichprobe nach Zeilen oder Quadratzentimetern zu messen, um über den Umfang Rückschlüsse auf die Qualität der Berichterstattung zu ziehen. So ist ein Kommentar zusammenhang-ver231
Vgl. MARIE-THERESE GUGGISBERG: Das Auslandsbild der Presse. Bern/Stuttgart 1976, S. 28 f. und S. 137 f.: Die Einordnung von Sachgebieten unter die genannten Kategorien erscheint hier vielfach zu willkürlich. Die Autorin übersieht außerdem, daß einige bei ihr unterschiedene Sachgebiete einander überdecken.
86 mittelnder und meinungsbildender als ein Bericht, auch wenn letzterer mehr Zeilen aufweisen mag. Um Aussagen über Qualität und Umfang zu erhalten, bietet sich die Klassifizierung nach Textsorten an. Die publizistische Fachliteratur unterscheidet beim Versuch, die Darstellungsformen der Zeitung zu definieren, oftmals zwischen informierenden und meinungsäußernden Textsorten. 232
Doch erscheint diese Polarisierung
zwischen Nachricht und Meinung zu künstlich. Auch meinungsäußemde Artikel informieren. Präziser ist die Unterscheidung zwischen REFERIERENDEN, INTERPRETIERENDEN und KOMMENTIERENDEN Gattungen. 233
Die zu untersuchenden
Texte sollen deshalb entsprechend dieser Dreiteilung klassifiziert werden. Zu den REFERIERENDEN TEXTGATTUNGEN gehört die Textsorte
Nachricht,
auch Meldung genannt. Sie bildet als die kürzeste Mitteilung eines Sachverhaltes das Skelett aller journalistischen Arbeit. Sie ist selten länger als 30 Zeilen. Nachricht und Meinung müssen scharf voneinander getrennt sein, das heißt, die Nachricht sollte sachlich und prägnant geschrieben sein und keine kommentierenden Elemente enthalten. Ziel der Nachricht ist es, den Leser über aktuelle Vorgänge in Kenntnis zu setzen oder das beim Leser vorhandene oder vermutete Wissen über Fakten und Meinungen auf einen aktuellen Stand zu bringen. Der Bericht ist gewissermaßen der große Bruder der Nachricht. Mit anderen Worten: Der Bericht ist die Vertiefung der Nachricht, er ordnet die Nachricht ein, bringt Ergänzungen und Erklärungen. Durch den Bericht erhält die Nachricht eine zusammenhängende Darstellung. Auch beim Bericht gilt die Forderung: Prägnanz und keine kommentierenden Elemente. Eine weitere REFERIERENDE GATTUNG ist die
Dokumentation. Unter diesen
Begriff fallen alle Stilformen, die keiner journalistischen Bearbeitung (außer Kürzung) unterliegen und dem Rezipienten direkt vermittelt werden, wie: Wiedergabe wörtlicher Rede, Dokumente, Statements, Diskussionen, Pressekonferenzen, Interviews. Die REFERIERENDEN TEXTGATTUNGEN gleichen fotographischen Aufnahmen mit allen perspektivbedingten Einschränkungen, die auch für die Fotographie gelten. Dagegen liefern die INTERPRETIERENDEN TEXTGATTUNGEN um mit einer Charakterisierung von BRUNO FREI
234
Röntgenbilder,
zu sprechen:
232
Z.B. PETER BRAND / VOLKER SCHULZE a.a.O., S. 123 ff. - WALTHER VON LAROCHE a.a.O., S. 59 ff.
233
ECKART KLAUS ROLOFF a.a.O., S. 6 f.
234
BRUNO FREI: Von Reportagen und Reportern. In: Der Gegenangriff. 2. Jg., Prag/Zürich/Paris 1934, Nr. 42, S. 4. Zitiert nach DETLEF BRENDEL / BERND E. GROBE a.a.O., S. 69 f.
87 Die INTERPRETIERENDE TEXTSORTE Reportage stellt eine Ergänzung zu Nachricht oder Bericht dar. Bei dieser Textform handelt es sich um einen Erlebnisbericht, in dem die individuelle Stil-Note des Schreibenden besonders deutlich werden kann. Der Reporter schildert, was er sieht und erfährt, beschreibt Zustände und Abläufe so konkret und lebendig wie möglich. Die menschliche Komponente und wörtliche Rede sind besondere Stilelemente der Reportage. Interpretierend wirkt die Reportage daher, daß sie bestimmte Ereignisse oder Sachlagen in breiteren Zusammenhang stellt, sie gegebenenfalls analysiert und mögliche Auswirkungen konkret macht. 233
Durch das
für die Reportage charakteristische Element der Anschaulichkeit und der menschlichen Bezüge ist diese Textsorte wesentlich umfangreicher als der Bericht, aber auch als die kommentierenden Darstellungsformen. Eine besonders umfassend angelegte Reportage ist das
Feature. Das Gerüst des
Feature ist die Analyse. Handlungen, Bilder und Zitate werden zur Veranschaulichung der Analyse herangezogen. Das Feature gliedert sich in: Problematisierung bzw. These, Analyse und Synthese. Dabei wechselt der Autor ständig zwischen Abstraktion und Anschauung. Ein Feature-Schreiber ist mehr als nur Reporter, er schildert zwar, ergänzt aber die Beschreibung durch sein Wissen. Eine weitere analytische Darstellungsform ist das Portrait. Im Rahmen dieser Untersuchung ist besonders auf den sogenannten Korrespondentenbericht hinzuweisen. Dabei handelt es sich meistens nicht um einen reinen Bericht, sondern um eine Mischform, die Reportage-/Featureelemente enthalten kann, die nachrichten-begleitend publiziert wird. In den meisten Fällen ist der Korrespondentenbericht interpretierend. Die Literatur zur Textsortentheorie liefert keine einheitliche Antwort, inwieweit INTERPRETIERENDE TEXTSORTEN kommentieren dürfen. Während WALTHER VON LAROCHE darauf besteht, daß eine Reportage trotz ihrer individuellen Handschrift niemals Kommentar sein dürfe und sich der Einfluß des Subjektiven darauf beschränke, daß der Reporter den Leser durch seinen Text vor Ort führt, stellt KLAUS SCHÖNBACH fest, neben dieser Reportagegattung verstehe er unter Reportage auch "alle journalistischen Aussageformen, die nicht als 'manifeste Meinungsformen' gekennzeichnet sind, dennoch aber eindeutig wertende und persönliche Formulierungen enthalten". Und über das Feature heißt es bei PETER KAUPP: "Wegen seiner pointierten Einseitigkeit hat das Feature - stärker noch als die Reportage kommentierende Züge."
235
Die Reportage liefert eher Anschaung als Analyse.
88 Der Mischform Korrespondentenbericht gesteht allerdings auch WALTHER VON LAROCHE zu: "Daß sich die persönliche Sicht des Autors in seinem Beitrag bis zur kommentierenden Stellungnahme ausdehnt, ist zwar vom Informationsauftrag her meist nicht geboten, läßt sich aber dann tolerieren, wenn außer dem analysierenden Beitrag die 'objektive' Nachricht gebracht worden ist." 236 Zieht man aus den Definitionen ein Fazit, so bleibt im Kern festzuhalten: Die primären Aufgaben der INTERPRETIERENDEN TEXTSORTEN sind die Anschaung und die Analyse. Der Kommentar sollte beides nicht überdecken bzw. ersetzen. Es ist also bei der anschließenden Untersuchung darauf zu achten, in welchem Maße Kommentar nicht nur in REFERIERENDE sondern auch in INTERPRETIERENDE TEXTSORTEN einfließt, bzw. wo Kommentar die Interpretation überlagert. Als KOMMENTIERENDE TEXTGATTUNGEN sind zunächst Meinungsbeiträge zu bezeichnen, in denen Journalisten aktuelle und relevante Ereignisse oder Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft interpretieren und bewerten. Erscheinen die Kommentare an exponierter Stelle, so spricht man vom
Leitartikel. In der Presse
formen Leitartikel und Kommentare das politische Profil, sie prägen die Linie der Zeitung. Kommentar und Leitartikel sollen Interpretationshilfen geben und Belehrungen erteilen. Sie sollen meinungsbildend wirken und fordern zum Handeln auf. In manchen Fällen wenden sie sich über die Leser hinweg an Politiker und sonstige Entscheidungsträger in der Hoffnung, ihre Entscheidungen mitbeeinflussen zu können. Da sie nachrichten-begleitend veröffentlicht werden, also Informationen Vorausetzen, fallen Kommentar und Leitartikel meist knapp aus. Ihre Länge liegt zwischen der von Nachricht und Bericht. Lediglich die ZEIT und die FAZ leisten sich an exponierter Stelle längere Kommentare. Die klassische Kommentargliederung umreißt eingangs nur kurz die Sachlage, auf die der Text Bezug nimmt. Es folgt eine Problematisierung und Bewertung. Soll der Kommentar handlungsanweisend sein, macht er Lösungsvorschläge und fordert zum Handlungsvollzug auf. Um Meinung zu bilden und zu überzeugen, sollte sich der Kommentar der Argumentation bedienen. Neben dem
Argumentationskommentar
existieren aber auch noch der sogenannte " Geradeauskommentar", der weitgehend auf 236
WALTHER VON LAROCHE a.a.O., S. 144 und S. 157. - Vgl. hierzu FRANZ HUTTERER in: FRANZ SCHNEIDER (Hrsg.): Die Zeitung im Unterricht der Grundschule. München 1972, S. 48. - Dagegen KLAUS SCHÖNBACH: Trennung von Nachricht und Meinung. Empirische Untersuchung eines journalistischen Qualitätskriteriums. Freiburg / München 1977, S. 45 ff. - Vgl. hierzu PETER BRAND / VOLKER SCHULZE a.a.O., S. 147. - PETER KAUPP: Presse - Hörfunk - F e m sehen. Funktion, Wirkung. Ein medienkundliches Handbuch. Frankfurt 1980, S. 109.
89
das
Argumentieren
verzichtet,
und
der
abwägende
" Einerseits-Andererseits-
Kommentar", der die Schwierigkeit oder Vielschichtigkeit eines anstehenden Problems ausdrücken möchte. Die Glosse ist eine kurze, pointiert geschriebene KOMMENTIERENDE TEXTSORTE, die sich satirischer Mittel bedient, die in der Sprache feuilletonistisch und in der Sache universell ist. 237 In ihrem Informationsanspruch sind sicher alle Textsorten als aufklärerisch und erkenntnis-fördemd zu bezeichnen; doch steigert sich die orientierung-stiftende Qualität: Das Grundanliegen der REFERIERENDEN TEXTSORTEN ist das "in Kenntnis setzen", das "Näherbringen", während die INTERPRETIERENDEN DARSTELLUNGSFORMEN, insbesondere das Feature, durch Analyse von Kausalzusammenhängen auf Erklärung zielen. Je nach Qualität der Analyse wird dem Leser hier ermöglicht, eine Information einzuordnen und Folgen abzuschätzen, mit der Information also operativ umzugehen. Meinungsbildend im obengenannten Sinne wollen auch die KOMMENTIERENDEN TEXTSORTEN wirken, sie zielen aber nicht nur auf Erklärung sondern in erster Linie auf Handlungsanweisung durch Überzeugung. Diesem Anspruch dürfte der argumentative Kommentar am ehesten gerecht werden, denn er wirkt nicht nur meinungsverstärkend. Eine plausible Argumentation vermag auch Leser mit einer anderen Auffassung als der des Autoren zu überzeugen, Zumindestens aber zum Uberdenken ihrer Meinung zu bewegen. 8. Darstellung eines Sachveiiialtes? Es wurde bereits ausgeführt, daß Journalisten ihre Arbeitsprodukte in möglichst leicht verständlicher, rezeptionsanreizender Aufbereitung darbieten, um auf breiter Basis Akzeptanz zu finden. Dies versuchen sie über Anschauungselemente, Identifikationsmöglichkeiten und Prominenz zu erreichen. Der Rückgriff auf menschliche Bezüge ist sicher ein geeignetes Mittel, abstrakte und komplizierte Sachverhalte zu verdeutlichen. Dabei schafft PERSONIFIZIERUNG - die Verkörperung von politischen und wirtschaftlichen Vorgängen an Menschen "wie du und ich" - eine Möglichkeit der Identifikation für den Rezipienten. PERSONIFIZIERUNG fördert Fremdverständnis, indem sie Vorgänge außerhalb seines Erfahrungsbereiches konkret und damit nachvollziehbar, erklärbar macht. PERSONIFIZIERUNG steigert die Rezeptionsqualität eines Textes, fördert Meinungsbildung und beugt daher möglicherweise einer politischen Apathie des Rezipienten vor oder baut sie ab. Texte, 237
Die FAZ bezeichnet irreführenderweise ihren Leitartikel als Leitglosse. - Vgl. RAINER CAMEN: Die Glosse in der deutschen Tagespresse. Bochum 1984, S. 44 f. - Zur Dreiteilung von Kommentaren siehe WALTHER VON LAROCHE a.a.O., S. 159.
90 die politische und wirtschaftliche Vorgänge an Menschen "wie du und ich" verdeutlichen, sollen unter der Kategorie PERSONIFIZIEREND vermerkt, eine mögliche Bevorzugung gesellschafts - oder gruppenspezifischer Perspektiven dabei beachtet werden. 238
Bei PERSONIFIZIERUNG ist die Textform, in der ein Sachverhalt
präsentiert wird, mitzuberücksichtigen: Die Forderung nach PERSONIFIZIERUNG würde die referierenden Textsorten überfordern. Sie ist eher an die interpretierenden bzw. kommentierenden Textsorten zu richten. PERSONALISIERUNG - die Darstellung von Sachverhalten an prominenten Persönlichkeiten 239 - hingegen versieht einen Artikel zwar mit einem Hauch von Wichtigkeit, ganz unter dem journalistischen Motto "Namen sind Nachrichten", Identifikation und Verständnis aber schafft sie darum nicht automatisch. Denn prominente Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft sind - eingebunden in Strukturen - eher Funktionsträger und Repräsentanten als gestaltende Persönlichkeiten. Wird das Prinzip der PERSONALISIERUNG auf Kosten von Strukturanalyse überreizt, so führt es zu Verzerrungen. So kann denn hinsichtlich der journalistischen Aufgabe festgestellt werden: Wer sich "vorwiegend an sogenannten 'großen Persönlichkeiten' orientiert und Politik als das große Aktionsfeld weniger großer Tatmenschen darstellt, verfehlt seine politische Bildungsaufgabe in zweifacher Hinsicht: Er eröffnet ... weder den Blick auf die jedem einzelnen auf dem Weg über Organisierung und Organisationen gegebenen Möglichkeiten politischer Gestaltung oder Mitgestaltung, noch zeigt er bedingende und einschränkende soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Strukturen, innerhalb derer sich das Handeln ... vollzieht... Personalisierung führt damit konsequent zu einer apolitischen, zu einer fatalistischen und damit zugleich zu einer verantwortungslosen Einstellung". 240 Wie also werden die Ursachen eines Ereignisses, einer Entwicklung von der Qualitätspresse dargestellt? Um den Grad der PERSONALISIERUNG in der Berichterstattung
238
Als Personifizierung bzw. Sozialbiographie werden keine Angaben über individuelle, biographische Merkmale geweitet, welche das Besondere oder die Einzigartigkeit einer Person belegen sollen. Personifizierung meint vielmehr die Präsentation einer Person stellvertretend für eine Gruppe.
239
Bzw. das Zurückführen eines Sachverhaltes auf das Handeln von Prominenten.
240
KLAUS BERGMANN: Personalisierung im Geschichtsunterricht - Erziehung zur Demokratie? Erweiterte Auflage, Stuttgart 1977, S. 41. - Der Nachrichtenfaktor Prominenz wird vielfach kurz als PERSONALISIERUNG bezeichnet. In dieser Untersuchung allerdings ist der Begriff der PERSONALISIERUNG präziser gefaßt und umschließt nur solche Aussagen, die einen Sachverhalt MONOFAKTORAL auf PERSONALES HANDELN zurückführen.
91
zu messen, sollen die Texte dahingehend untersucht werden, inwieweit sie die Ursache[n] eines Sachverhalts MONOFAKTORAL oder MULTIFAKTORAL präsentieren. Als MONOFAKTORAL werden Texte klassifiziert, die ein Ereignis, eine Entwicklung auf personales Handeln zurückführen - sei es im unmittelbaren zeitlichen Kontext oder in der Geschichte
als MULTIFAKTORAL solche, die politische, ökonomi-
sche, soziale, kulturelle Ursachen in Gegenwart und Geschichte mitberücksichtigen. Werden historische Faktoren angeführt, so werden diese bei der Kategorisierung besonders vermerkt. »
9. Zeitliche liefe der Hintergrundinformation? Es wurde festgestellt, daß aktuelle politische und wirtschaftliche Konsolidierungsprobleme vieler Dritte-Welt-Länder oftmals Ergebnisse historischer Prozesse und dauerhafter Strukturen, also nicht nur auf gegenwärtige politische und wirtschaftliche Maßnahmen zurückzuführen sind. Um die Bedeutung und Repräsentativität aktueller Ereignisse zu erkennen, ist eine Hintergrundinformation nötig, die solche Vorkommnisse weder kausal noch temporal isoliert betrachtet, sondern die dazugehörigen Prozesse mitbenennt. Punkt 8 fragte nach den Angaben zu Ursachen eines Sachverhaltes, nunmehr soll die zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation untersucht werden. Hier werden die in den Artikeln gegebenen Aussagen in zwei Kategorien unterschieden: in Hintergrundinformationen aus dem UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT und in solche aus der VORGESCHICHTE. Mit der Kategorie UNMITTELBARER ZEITLICHER KONTEXT ist die unmittelbare Vorgeschichte einer aktuellen Aktion angesprochen. Damit ist die Zusatzinformation gemeint, die für den Rezipienten unbedingt nötig ist, eine Nachricht inhaltlich zu begreifen. In einigen Fällen waren diese Zusatzinformationen seinerzeit selbst Nachrichtengegenstand und werden jetzt der Vollständigkeit halber als Erinnerungshilfen noch einmal aufgeführt. In anderen Fällen wurden sie seinerzeit keiner Erwähnung wert befunden, sind nun aber durch den Fortgang der Ereignisse zur Orientierung wesentlich. Unter die Kategorie VORGESCHICHTE fallen alle, über den UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT hinausgehenden historischen Daten, Namen, Ereignisse oder Prozesse, die der Autor in Bezug auf eine gegenwärtige Lage anführt. Nun ist die lateinamerikanische Geschichte grundsätzlich in vorkoloniale, koloniale und nachkoloniale Abschnitte gegliedert, so daß es eigentlich naheläge, drei entsprechende Kategorien zu bilden. Den Überlegungen, wie die zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation zu messen sei, lag allerdings die Annahme zugrunde, daß Tageszeitungen im Rückgriff auf Geschichte die Zeitgeschichte bevorzugen. Diese Vermutung wurde
92 durch einen Vortest bestätigt. Deshalb wurde auf eine Auffächerung der Kategorie VORGESCHICHTE verzichtet: Die Kategorie VORGESCHICHTE umfaßt also neben der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte auch die vorkolonialen und kolonialen Phasen. Die Annahme, daß die zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation bei den zu untersuchenden Zeitungen schwerpunktmäßig nicht über die jüngste Vergangenheit hinausgehen dürfte, läßt auch auf das Problem einer möglichst trennscharfen Kategorisierung zwischen UNMITTELBAREM ZEITLICHEN KONTEXT und VORGESCHICHTE schließen. So soll die Kategorisierung nun nach folgenden Kriterien vorgenommen werden: Unter die Kategorie UNMITTELBARER ZEITLICHER KONTEXT fallen a) Aussagen über Entwicklungen oder Sachlagen, die einem Ereignis, einer Situation oder Stimmung unmittelbar vorausgegangen sind, b) Erinnerungshilfen bzw. Wiederholungen vorausgegangener Meldungen, in denen ein Zusammenhang noch einmal zusammenfassend dargestellt wird, c) biographische Angaben, 241 d) schlagwortartige Angaben zur Absteckung eines zeitlichen Rahmens in Zusammenhang mit einer aktuellen Lage (z.B. "seit dem Sturz des Somoza-Regimes ..."). Dient der Geschichtsbezug einem anderen Zweck als der Erinnerungshilfe, so z.B. als ANALOGIE, KONTRAST, (DIS-)KONTINUITÄT, so soll er unter die Kategorie VORGESCHICHTE gezählt werden. 10. Zweck des Geschichtsbezugs? Zu welchem Zweck nimmt ein journalistischer Autor Bezug auf historische Daten, Namen, Prozesse ... ? Um diese Frage zu beantworten, sollen die Geschichtsangaben danach unterschieden werden, ob sie zur Darstellung von ANALOGIE, KONTINUITÄT oder KONTRAST dienen. Alle drei Funktionen dienen als Argumente bzw. Erklärungen, indem sie dem Rezipienten in unterschiedlicher Weise aufzeigen, welchen Platz eine akute Situation in der Entwicklung eines Landes einnimmt. Das heißt, sie dienen in unterschiedlicher Weise dazu, Folgen bzw. die Wahrscheinlichkeit von Folgen einer aktuellen Situation abzuschätzen:
241
Außer, wenn diese als Vehikel zur Darstellung eines Prozesses dienen, der ein Land allgemein betrifft.
93
So wird die A N A L O G I E dazu eingesetzt, den Verlauf eines Vorgangs mittels einer gleichartigen Entwicklung in der Geschichte des betreffenden (oder eines anderen) Landes vorherzusagen. Indem sie so die Wahrscheinlichkeit bestimmter positiver oder negativer Konsequenzen verdeutlichen will, dient die A N A L O G I E auch als Argument für oder gegen bestimmte politische/wirtschaftliche Maßnahmen. K O N T I N U I T Ä T S - und KONTRAST-Bezug verdeutlichen auf unterschiedliche Weise den Stellenwert einer akuten Situation in der historischen Entwicklung eines Landes, wobei ersterer eine gegenwärtige Lage in ununterbrochenem Zusammenhang mit der Geschichte des Landes, letzterer eine derzeitige Situation in starkem Gegensatz zur historischen Entwicklung des Landes sieht. Beide können somit auch argumentieren, inwieweit Veränderungen möglich bzw. wahrscheinlich sind.
11. Umfang des Geschichtsbezugs? Unter der Annahme, daß der Erkenntnisgewinn des Rezipienten umso größer ist, die Gewichtung eines Ereignisses darum umso leichter fällt, und daß Autorenintention und Rezipientenauslegung umso weniger auseinanderklaffen, je ausführlicher die historische Reflexion ist, soll hier der Umfang des Geschichtsbezugs in der Berichterstattung betrachtet werden. Dabei ist dieser in drei Kategorien zu unterscheiden: Als S C H L A G W O R T A R T I G wird der Geschichtsbezug eingestuft, wenn er sich lediglich in Daten, Namen, Begriffen ohne weitere Ausführungen erschöpft. Nachteil eines solchen Bezuges ist, daß sich der Autor auf latentes Wissen im Kopf des Rezipienten verläßt. Dabei hat er keine Kontrolle über die geistige Verarbeitung durch den Leser. Wenn keine Vorkenntnisse vorhanden sind, bleibt die Information unverstanden oder führt eventuell zu Vorurteilen. Wird die historische Reflexion in verdichteter Form präsentiert, die das Nötigste, die Grundlinien kurz ausführt, so wird sie als K O M P R I M I E R T klassifiziert. Auch hier unterliegen Deutungen dem Rezipienten. Der Autor nimmt die Gefahr in Kauf, daß der Leser eventuell etwas mißversteht oder zu anderen Ergebnissen kommt als er selbst. Als A U S F Ü H R L I C H wird ein Geschichtsbezug eingestuft, wenn der Autor Mißverständnissen oder unterschiedlichen Interpretationen dadurch vorbeugen will, daß er die historischen Strukturen und Prozesse, die er in Zusammenhang mit einer aktuellen Lage sieht, detailliert darstellt.
12. Krisenursache? Diese Frage knüpft an Punkt 8 an. Die Angaben zur Begründung einer Krise sollen danach untersucht werden, inwieweit sie die Ursachen in erster Linie ENDOGEN oder EXOGEN erklären. Die Kategorie
ENDOGEN - von innen be-
94 wirkt - umschließt Angaben über besondere geographische und klimatische Gegebenheiten, kulturbedingte Mentalitäten und Strukturen, Entscheidungen und Handlungen von Entscheidungsträgem in Politik und Wirtschaft, Parteien, Aktionsgruppen etc. in Geschichte und Gegenwart. Die Kategorie EXOGEN - von außen bewirkt - erfaßt politische und wirtschaftliche Maßnahmen auswärtiger Staaten oder Mächte in Geschichte und Gegenwart, die zu Krisen in Lateinamerika führ(t)en, so zum Beispiel die Ausdehnung des Ost-West-Konfliktes auf bestimmte Länder dieser Region. Legt sich ein Autor auf der Suche nach Krisenursachen nicht auf eine Deutungsrichtung fest, indem er ENDOGENE und EXOGENE Faktoren als Ursachen anführt, so werden seine Aussagen unter die Kategorie ENDOGEN-EXOGEN gezählt. Sieht ein Text eine aktuelle Krise in KONTINUITÄT zur geschichtlichen Entwicklung eines Landes (siehe Punkt 10), so ist zu klären, ob bestimmte theoretische Erklärungen favorisiert werden: Die Deutung der wirtschaftlichen und politischen Verfassung Lateinamerikas durch ENDOGENE PROZESSE, wie sie von "liberal-kapitalistischen theorien"
242
Modernisierungs-
vertreten wird, beschränkt den strukturprägenden Einfluß ausländischer
Mächte auf Iberoamerika auf die Kolonialzeit und erklärt die weitere Entwicklung vom Zeitpunkt der Unabhängigkeit, Anfang des 19. Jh., an in der Hauptsache innenpolitisch: Nach dieser Auffassung trägt Lateinamerika nach wie vor schwer an dem Erbe der quasi feudalen Kolonialherrschaft Spaniens und Portugals, die mit ihrem autoritären politischen System, einer auf rigoroser Rohstoffausbeutung und Monokulturen basierenden Wirtschaft und einem streng hierarchischen sozialen System über 300 Jahre eine Industrialisierung und das Herausbilden eines breiten sozialen Mittelstandes verhinderte. Seit der Unabhängigkeit vermochten sich die tiefverwurzelten Wirtschafts- und Sozialstrukturen und die soziokulturellen Prägungen deshalb nur sehr langsam zu wandeln, was noch heute die Übernahme modemer Produktions- und Lebensweisen erschwert. Aus dem Nebeneinander eines marktwirtschaftlich entwickelten Sektors und eines traditionellen Subsistenzsektors und aus der nach wie vor großen wirtschaftlichen und politischen Macht der Oligarchien, die sich aus der Plantagenund Außenhandelswirtschaft entwickelte, ergeben sich in der Gegenwart soziale Ungleichgewichte. Diese schaffen Spannungen, die in vielen lateinamerikanischen Ländern zu politischen Instabilitäten führen. 243 242
UWE HOLTZ: Brasilien. Eine historisch-politische Landeskunde. Paderborn 1981, S. 10.
243
Dieses Modell wird beispielsweise von der US-amerikanischen Regierung vertreten. Siehe: THE REPORT OF THE PRESIDENT'S NATIONAL BIPARTISAN COMMISSION ON CENTRAL AMERICA. New York 1983. Der Report wurde von
95
Die Vertreter der EXOGENEN Deutungsrichtung - hier eingestuft in die Kategorie EXOGENER PROZESS - gehen von der fortdauernden Abhängigkeit der Entwicklungsländer (so auch Lateinamerikas) aus: Diese Abhängigkeit wurde in der Kolonialzeit begründet und bleibt bis heute unter veränderten Konstellationen erhalten. Hinter dieser Interpretation (Dependenz-Theorie), die nach Darstellung von UWE HOLTZ sowohl von "bürgerlich-nationalistischen" als auch von "marxistischen" (Imperialismus-) Theoretikern vertreten wird, steht die Auffassung, daß die politische, gesellschaftliche und marktwirtschaftliche Situation in den Entwicklungsländern durch die Eigeninteressen und Aktionen der großen kapitalistischen Industrieländer bestimmt ist, die die Entwicklungsländer in Abhängigkeit halten. Die Dependenz manifestiert sich demnach in handels- und währungspolitischer, in industrieller und technologischer Hinsicht, in fortdauernder kultureller Überfremdung, in politischer und militärischer Unterdrückung, in Zusammenarbeit mit den Mächtigen in den Entwicklungsländern.244 Wie deutlich und damit plausibel der journalistische Autor die prozessualen Zusammenhänge jeweils herausarbeitet, wird durch Punkt 11 - Umfang des Geschichtsbezugs - ersichtlich. Die unter Punkt 12 angestrebte Klassifizierung soll unter anderem Antwort auf folgende Fragen geben: Wie wird das Verhältnis zwischen hochindustrialisierten Ländern und den vier lateinamerikanischen Staaten dargestellt? Wird Abhängigkeit betont? Wenn ja, wird sie als einseitige oder wechselseitige Abhängigkeit dargestellt? Gibt es analytische Beschreibungen bzw. historische Erklärungen zur aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage Lateinamerikas, die Kritik an Außenpolitik und -Wirtschaft der Bundesrepublik beinhalten? Manifestiert sich der unterschiedliche politische Standort der Zeitungen in einer eventuellen Präferenz für bestimmte historische Erklärungsmuster? 13. Deutschland-Bezug? Die Länder CHILE, BRASILIEN, MEXIKO und NICARAGUA wurden unter dem Aspekt der internationalen Krisendimension ausgesucht. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, inwieweit die Berichterstattung einen expliziten Bezug Vertretern der Demokratischen und der Republikanischen Partei verfaßt, spiegelt also nicht nur die Sicht der Regierung. 244
Die unter ENDOGEN und EXOGEN aufgeführten wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Theorien der Entwicklung und Unterentwicklung, namentlich die "liberalkapitalistischen" Modernisierungstheorien auf der einen, die "bürgerlich-nationalistische" und "marxistische" Dependenztheorien auf der anderen Seite, repräsentieren nach UWE HOLTZ die zwei konträren Deutungsrichtungen, die in der Bundesrepublik die Entwicklungsdiskussion beherrschen. Siehe UWE HOLTZ a.a.O., S. 11 ff.
96 zwischen diesen Staaten und der Bundesrepublik Deutschland herstellt - sei es auf staatlicher oder substaatlicher Ebene. Angaben dazu werden unter die Kategorie RELATION gezählt. Dazu gehören auch Hinweise auf die Auswirkungen von bundesdeutschen Maßnahmen und Aktionen auf diese lateinamerikanischen Länder. Weist ein Text ausdrücklich auf das Ausmaß von Krisen in diesen Staaten
auf unser
Land bzw. seine Bürger hin, so soll seine Aussage in Anlehnung an die Nachrichtenwerttheorie unter die Kategorie EXPLIZITE (politische / wirtschaftliche) NÄHE fallen (nicht unter RELATION). Die Frage nach dem Deutschland-Bezug, nach NÄHE, ist vor allem deshalb wichtig, weil er bei Rezipienten ein Relevanz-Bewußtsein und Betroffenheit zu bewirken vermag. 14. Handlungsaufforderung? Die Klassifizierung der Berichterstattung - besonders nach den Untersuchungsfragen 7 bis 13 - wird darüber Auskunft geben können, inwiefern Handlungsempfehlungen, Handlungsrichtungen in der Hintergrundinformation impliziert sind. Dennoch sollen explizite Empfehlungen unter der Kategorie HANDLUNGSAPPELL vermerkt werden, ebenso die Adresse, an die der APPELL gerichtet ist. Wie plausibel sie erscheinen, wird die qualitative Analyse zeigen.
97 IM OBERBÜCK
Klassifizierung der Texte nach folgenden Kategorien: 1.
Presseorgan?
SZ WELT FAZ ZEIT
2.
Land?
BRASILIEN CHILE MEXIKO NICARAGUA LATEINAMERIKA
3.
Plazierung?
EXPONIERT NICHT EXPONIER T
4.
Beiichtsort?
VOR ORT BENACHBAR TES A USLAND ZENTRALREDAKTION
5.
Verfasser?
AGENTUR ZEITUNGSREDAKTEUR ZEITUNGSKORRESPONDENT
6. 7.
Thema? Textgattung?
(Stichwortvermerk)
8.
Darstellung eines Sachverbaltes?
PERSONIFIZIER UNG MONOFAKTORAL MUL TIFAKTORAL
9.
Zeitliche Tiefe der Hintergnindinformation?
UNMITTELBARER ZEITLICHER VORGESCHICHTE
10.
Zweck des Oeschicht8bezugs?
ANALOGIE KONTINUITÄT KONTRAST
11.
Umfang des Geschichtsbezugs?
SCHLAGWOR TAR TIG KOMPRIMIERT AUSFÜHRLICH
12.
Krisenursache?
ENDOGEN / ENDOGENER PROZESS EXOGEN /EXOGENER PROZESS ENDOGEN-EXOGEN
13.
Deutschland-Bezug?
RELATION EXPLIZITE
14.
Handlungsaufforderung?
IMPLIZIT HANDLUNGSAPPELL
REFERIEREND INTERPRETIEREND KOMMENTIEREND
/
KONTEXT
DISKONTINUITÄT
NÄHE (EXPLIZIT)
98 4. QUANTITATIVE UND QUALITATIVE TEXTANALYSE 4.1
Lateinamerika-Berichterstattung der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG
Von November 1985 bis Oktober 1986 wurden in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNO (SZ) insgesamt 599 Texte über BRASILIEN, CHILE, MEXIKO und NICARAGUA bzw. LATEINAMERIKA gezählt. Mittels Stichprobenverfahren ergab sich ein Bündel von 111 Artikeln, das sind rund 18,5 Prozent oder knapp ein Fünftel der erfaßten Texte.
4.1.1
Länderverteilung und Thematisierung
Die Berichterstattung der SZ über Lateinamerika legt ihren Schwerpunkt klar auf die Krisenregion NICARAGUA. Die Länderverteilung bietet folgendes Bild:
NICARAGUA
42 Texte
37,9 %
CHILE
29 Texte
26,1 %
MEXIKO
14 Texte
12,6 %
9 Texte
8,1 %
17 Texte
15,3 %
111 Texte
100,0 %
BRASILIEN LATEINAMERIKA Insgesamt
Die intensive Berichterstattung über NICARAGUA erklärt sich durch die kontroverse Debatte um die US-NICARAGUA-Politik und die Entführung und Ermordung deutscher Aufbauhelfer in dem mittelamerikanischen Land. Es kommen hier also die Nachrichtenfaktoren Nähe bzw. bündnispolitische Nähe voll zum Tragen. NICARAGUA : Der thematische Schwerpunkt liegt im Falle NICARAGUAS im Spannungsfeld Ost-West. Allein die Hälfte der 42 Texte behandeln die Frage der US-NICARAGUA-Politik bzw. der US-Contra-Unterstützung. Genauer gesagt geht es bei diesen Artikeln um Verlautbarungen, Debatten und Entscheidungen. Der Rest der Texte behandelt im einzelnen folgende Themen: Contra-Unterstützung anderer Länder (ohne USA) - 3 Texte; Struktur, Persönlichkeiten, Aktionen der Contra - 8 Texte; Staat und Kirche / Opposition - 3 Texte;
99 Pressezensur / Pressebehinderung - 2 Texte; Menschenrechtsverletzungen - 1 Text; Internationale Zusammenarbeit / Entwicklungshilfe - 3 Texte; Militär - 1 Text. Insgesamt gesehen fällt die NICARAGUA-Berichterstattung der SZ weitgehend monothematisch aus: Behandelt wird die politische Lage des Landes im Ost-West-Konflikt mit klarem Akzent auf dem spannungsvollen Verhältnis zu den USA. Darin eingebettet ist die innenpolitische Auseinandersetzung mit den Contra-Bewegungen. Die wirtschaftliche Entwicklung NICARAGUAS wird gelegentlich als Teilaspekt dieses Themenfeldes berührt. So referiert die SZ wiederholt, daß die Wirtschaftsblockade der USA gegen NICARAGUA zu Millionenverlusten und einer prekären wirtschaftlichen Situation in dem mittelamerikanischen Land geführt habe. Die Wirtschaftlage des Landes und ihre vielfältigen Ursachen werden in den untersuchten Artikeln dennoch nicht eingehend beleuchtet. CHILE : Monothematisch fällt auch die SZ-Berichterstattung über CHILE aus. Sie beschränkt sich auf die Innenpolitik des Landes. Im einzelnen haben die Texte folgende Aspekte zum Inhalt: Politische Opposition und Staatsaktionen - 7 Texte; Kirche und Staat - 2 Texte; Ausnahmezustand und Menschenrechtsverletzungen - 6 Texte; Guerilla-Aktivitäten - 8 Texte; Demokratisierung (-sforderungen) - 5 Texte; Unglücksfall - 1 Text. Bei dieser Themenführung wird ausschließlich die Ebene der breiten Opposition (Parteien, Gewerkschaften, Kirche, Guerilla ... im Inland - kritische Stimmen des westlichen Auslandes) gegenüber der Regierung Pinochet behandelt. Die allgemeine politische Landschaft CHILES und das Machtgefüge, in das Pinochet seinerseits eingebunden ist, bleiben unbeleuchtet. Das Feld der Innenpolitik mit dem Ausblenden der Regierungsposition erscheint thematisch stark verengt. Es kommt hinzu, daß in der Stichprobe kein Text zu finden ist, der sich ausführlicher mit der Wirtschaftsentwicklung des Landes auseinandersetzt, wenngleich hier und da wirtschaftliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Entstehen und Aufbegehren der politischen Opposition in CHILE angetippt werden.
100 Dagegen stößt der SZ-Leser im Zusammenhang mit MEXIKO und BRASILIEN auf eine Berichterstattung, in der die wirtschaftspolitischen Themen dominieren. Im einzelnen fächert sich die Thematisierung wie folgt auf: MEXIKO: Neben dem Aspekt der Auslandsverschuldung - mit 3 Texten abgedeckt - werden die Auswirkungen des ölpreisverfalls (1 Text), deutsche Wirtschaftshilfe (1 Text), Lohnpolitik (1 Text), das Profitstreben in der mexikanischen Wirtschaft am Beispiel der Fußball-Weltmeisterschaft (1 Text) und das soziale Elend (2 Texte) behandelt. Die übrigen Themen umfassen die politischen Machtkämpfe und das Organisations-Chaos während der Fußball-WM (1 Text), regionale Wahlmanipulationen (1 Text), Placido Domingos Hilfe für Erdbebenopfer (1 Text) und Kriminalität (2 Texte). BRASILIEN : Von den 9 Artikeln über das südamerikanische Land befassen sich 3 mit deutschbrasilianischer Zusammenarbeit in Wirtschaft und Technik (in BRASILIEN), 2 mit der Wirtschaftspolitik und -sanierungskonzepten. Weitere Themen sind: Aufruhr nach einer Massenentlassung (1 Text), Kriminalität/Polizei (2 Texte), Kunst (1 Text). In die zuvor genannte Themenpalette fügen sich schließlich auch die 17 Artikel, die unter die Kategorie LATEINAMERIKA fallen, nahtlos ein: 3 Texte befassen sich mit Kreditvergabe und Schuldenkrise, 2 Texte mit internationaler Zusammenarbeit bzw. Entwicklungshilfe. Doch sobald die Artikel Mittelamerika inklusive NICARAGUA behandeln, sind sie wieder von politischer Thematik. So haben 3 Texte die außenpolitischen Beziehungen zwischen NICARAGUA und Costa Rica zum Inhalt; 3 Artikel behandeln die Friedenspolitik für Mittelamerika im allgemeinen, 3 Texte die US-Lateinamerikapolitik und -Militärhilfe im besonderen. Hinzu kommen schließlich 3 Artikel über Kriminalität und Naturkatastrophen. Von den 111 Artikeln der SZ-Stichprobe referieren allein 47 Texte oder 42,3 Prozent ausschließlich Verlautbarungen -
Erklärungen, Aufrufe, Appelle,
Drohungen -
von
prominenten Politikern und sonstigen Entscheidungsträgen, bzw. sie sind überwiegend aus Verlautbarungen zusammengesetzt. Doch auch die übrigen Texte stützen sich weitgehend auf Verlautbarungen, so daß der Leser Einschätzungen besonders zur Krisenlage in NICARAGUA vornehmlich aus dem Mund Prominenter wie Reagan und Ortega erhält. Wenn es sich dabei um so konträre Positionen und Äußerungen wie im Falle des amerikanischen und nicaraguanischen Präsidenten handelt, dann wird dem Leser schwerlich eine sachliche
101 Analyse geboten. Es bleibt ihm lediglich belassen, je nach eigener ideologischer Orientierung mit der einen oder anderen Position zu sympathisieren. Nun ist es nicht so, als lenke die Zeitung die Lesersympathie nicht mit: Wenngleich sich die SZ gerade im Zusammenhang mit NICARAGUA in ihrer Verlautbarungsberichterstattung nicht offen für die eine oder andere Position festlegt, wie es nachfolgend bei der WELT zu sehen ist, versteht es die Zeitung doch, ihre eigene Meinung indirekt einfließen zu lassen. Äußerungen von Seiten der US-Regierung zu NICARAGUA werden anzahlmäßig von kritischen Gegenstimmen zugedeckt. Dagegen bezieht die SUDDEUTSCHE gerade im Fall CHILES, aber auch MEXIKOS und BRASILIENS mit eigenen Einschätzungen klar Stellung.
4.1.2
Plazierung
Die Plazierung der Lateinamerika-Berichterstattung stellt sich folgendermaßen dar:
EXPONIERT
10 Texte (3 Front/7 Umfang)
9,0 %
NICHT-EXPONIERT
101 Texte
91,0%
Insgesamt
111 Texte
100,0 %
Die Hälfte der EXPONIERTEN Texte nimmt Bezug auf NICARAGUA, insbesondere auf Struktur und Aktionen der Contra-Bewegungen. Die gespannte innenpolitische Lage CHILES ist Thema zweier EXPONIERTER Texte. Jeweils ein EXPONIERTER Text behandelt die Drogenkriminalität in LATEINAMERIKA, Mißerfolg des Sanierungsprogramms in BRASILIEN und schlechte Lebensbedingungen in MEXIKO-Stadt nach der Erdbebenkatastrophe. Interessant ist, daß alle Lateinamerika-Artikel der Seite 1 einen Deutschland-Bezug aufweisen. Dabei geht es um die Entführung und Ermordung deutscher Aufbauhelfer in NICARAGUA oder das Elend in MEXIKO, auf das im Zusammenhang mit der FußballWM hingewiesen wird.
4.1.3
Verfasser und Berichtsort
Der Anteil von Agenturtexten in der Lateinamerika-Berichterstattung der SZ liegt erstaunlich hoch für eine Zeitung, die den Anspruch erhebt, "die großen Zusammenhänge hinter den Sensationen der Zeitgeschichte aufzuzeigen" - erstaunlich deshalb, weil der Anteil von
102 Agenturtexten einen entsprechend hohen Anteil an referierenden Beiträgen erwarten läßt, die ja weniger die versprochenen tieferen Hintergründe aufzuzeigen vermögen als die übrigen Textgattungen. Im einzelnen zeigt die Frage nach dem Verfasser folgendes Ergebnis:
AGENTUR
86 Texte 2 4 8
77,5 %
KORRESPONDENT / bzw. Reisekorrespondent
14 Texte 2 4 6
12,6 %
REDAKTEUR
2 Texte
1,8 %
Verfasser unklar
9 Texte 247
8,1 %
Insgesamt
111 Texte
100,0 %
Von den 111 Texten wurden 58 oder 52,3 Prozent VOR ORT verfaßt (52 direkt, 6 im Land). VOR ORT heißt allerdings bei fast allen Texten: Beschränkung auf die großen Zentren Santiago, Managua, Rio de Janiero und Mexiko-Stadt, wo Verlautbarungen vernommen, Beschlüsse notiert, Aktionen erlebt wurden. Nur sehr selten berichten Korrespondenten über Begebenheiten außerhalb der Metropolen wie KURT KISTER, der ein nicaraguanisches Flüchtlingslager in Honduras besuchte. 248 So bleiben die Eindrücke des Lesers auf die Metropolen und ihr entsprechendes Milieu beschränkt. Er kann beispielsweise nicht ermessen, inwieweit die breite Regierungsunzufriedenheit in Santiago de Chile, über die ihm eindringlich berichtet wird, typisch für das ganze Land ist. Dennoch besteht die Wahrscheinlichkeit, daß er die Eindrücke aus der chilenischen Hauptstadt auf das ganze Land überträgt.
243
Darunter 23 Reuter-Texte, 24 AP-, 26 dpa-Artikel und 5 sonstige Agenturtexte (KNA/vwd/sid). Hinzu kommen 8 Texte, die jeweils aus 2 Agentumachrichten zusammengesetzt sind.
246
Davon stammen allein 12 aus der Feder des Lateinamerika-Korrespondenten F R I E D RICH KASSEBEER. Die übrigen Texte wurden je von CARLOS WIEDMANN und dem Reisekorrespondenten KURT KISTER verfaßt.
247
Die Texte konnten nicht kategorisiert werden, da der Verfassername fehlte.
248
KURT KISTER: Kräftesammeln im Elendscamp. Honduras: Lokaltermin bei den Guerilleros des Commandante 380. In: SZ Nr. 280 vom 5.12.1985, S. 3.
103 10 Texte oder 9 Prozent berichten aus dem BENACHBARTEN AUSLAND, zum Teil, weil dort Tagungen stattfanden, Beschlüsse oder Äußerungen fielen, die eines der vier Untersuchungsländer betrafen. Gelegentlich berichten die Korrespondenten aus dem BENACHBARTEN AUSLAND über eines dieser vier Länder, doch lassen sich hier nicht Perspektivbeschränkungen vermuten, wie sie nachfolgend bei der WELT zu sehen sind. Denn in der Regel berichtet SZ-Korrespondent KASSEBEER VOR ORT. Lediglich 2 Texte (1,8 Prozent) sind in der ZENTRALREDAKTION verfaßt worden, 11 Artikel (9,9 Prozent) lassen eine Ortsangabe vermissen. In diesen Fällen handelt es sich meist um Meldungen, die an vorhergehende Nachrichten angehängt wurden, so daß sie sich eventuell auf die vorhergehende Ortsangabe mitbeziehen. Manchmal erscheint dies aber doch unwahrscheinlich, denn die Orte des Geschehens zweier Meldungen stimmen nicht immer überein. Die restlichen 30 Texte (27 Prozent) sind im weiteren Ausland verfaßt. Allein 19 wurden in den USA, 6 in Deutschland und 5 in anderen Ländern niedergeschrieben. Sie berichten von Verlautbarungen, Beschlüssen, Tagungen oder Auslandsbesuchen bezüglich der vier lateinamerikanischen Untersuchungsländer.
4.1.4
Textgattung
Der Anteil von REFERIERENDEN TEXTSORTEN an der Lateinamerika-Berichterstattung der SZ ist noch größer als bereits die Frage nach den Verfassern vermuten ließ. In der Übersicht erscheinen die Textsorten in folgendem Verhältnis:
REFERIEREND
92 Texte 249
82,9 %
INTERPRETIEREND
16 Texte 250
14,4 %
KOMMENTIEREND Insgesamt
3 Texte
2,7 %
111 Texte
100,0 %
249
Darunter 70 Nachrichten und 22 Berichte (inklusive referierender Korrespondentenberichte).
290
Darunter 3 Reportagen, 3 Features, 8 Korrespondentenberichte (interpretierend), eine Analyse und ein separat erschienenes Foto mit Bildunterschrift.
104 Unter den REFERIERENDEN / INTERPRETIERENDEN Beiträgen weisen 12 Texte (11,1 Prozent) mehr oder weniger stark kommentierende Elemente auf. Zweimal stecken Kommentierungen in Nachricht und Bericht: "Die Sandinisten-Junta Nicaraguas hat auch dem Primas der Kirche Nicaraguas, Kardinal Miguel Obando Bravo, mit der Ausweisung gedroht..." 291 "Die Kontaktaufnahme mit dem Staatsoberhaupt, das bis dahin das Problem verkannt oder aus innenpolitischer Taktik verdrängt hatte, erfolgte ... Nach Tagen vernichtender Kritik aus aller Welt scheinen die Mexikaner endlich zu begreifen, daß ihr Ruf auf dem Spiel steht. Denn mexikanische Medienexperten werten das bisherige Leitungsdesaster erst in zweiter Linie als Unfähigkeit ..." 292 Für Kommentierungen in INTERPRETIERENDEN Texten mögen folgende Beispiele ein anschauliches Bild geben: "Das teuflische Kalkül der Unterdrücker. Die Verfolgung von angeblich subversiven Priestern stellt eine der rüdesten Herausforderungen durch das Regime des Generals Pinochet dar." 233 "Es bleibt allerdings nicht bei derartigen Verfeinerungen im System der Unterdrückung ... ... den starrsinnigen General..." 2 5 4 "Der größte Inflationstreiber Brasiliens - der Staat - druckte weiter munter Geld, um die Defizite vor allem der unwirtschaftlich arbeitenden Staatsuntemehmen zu finanzieren ... Die Aufschläge sollen im Lebenshaltungskostenindex nicht berücksichtigt werden, so daß die Inflationsstatistik schön im Lot bleibt ... Die Zwangsanleihe dürfte den Gewerkschaften Schubkraft geben, von den Unternehmen noch saftigere Einkommensverbesserungen zu fordern ..." 230 Im Zusammenhang mit der CHILE-Berichterstattung fällt auf, daß sich SZ-Korrespondent KASSEBEER bei der Bezeichnung der chilenischen Regierung und ihres Präsidenten stets
291
KNA: Kardinal Obando mit Ausweisung bedroht. In: SZ Nr. 155 vom 10.7.1986, S. 10.
292
Dieser in herablassendem Ton gehaltene Artikel wurde nicht als Kommentar kenntlich gemacht. Soll er dennoch einer sein, so fehlt die dazugehörige Meldung. Siehe: sid: WM als Spielball mexikanischer Politik. In SZ Nr. 126 vom 5.4.1986, S. 46.
293
Überschrift eines Korrespondentenberichtes von FRIEDRICH KASSEBEER in: SZ Nr. 211 vom 15.9.1986, S. 3. Siehe SZ-Textbeispiel 1 im Anhang.
294
FRIEDRICH KASSEBEER: Der General spekuliert auf Krieg. Chile: Augusto Pinochets zunehmende Isolierung. In: SZ Nr. 102 vom 5.5.1986, S. 3.
293
dpa/vwd: Brasilien belegt seine Konsumenten mit einer Zwangsanleihe. In: SZ Nr. 168 vom 25.7.1986, S. 25.
105 wertender, emotionaler Titulaturen bedient. Nur selten sind die Begriffe "Chilenische Regierung" und "Präsident Pinochet" oder - salopper - "Regierungschef" zu lesen, statt dessen: "Militär-Junta", "Militärregime", "Pinochets Militärdiktatur", "System der Unterdrückung" und "der Oberbefehlshaber", der "Machthaber", "der Diktator", "der starrsinnige General", "der verhaßte General Pinochet". Dagegen stellt das im Zusammenhang mit NICARAGUA zuvor zitierte Kommentierungsbeispiel die Ausnahme einer nicht-wertneutralen Bezeichnung dar. Die SZ betrachtet NICARAGUAS Regierung offenbar mit mehr Nachsicht, auch wenn es sich ebensowenig wie im Falle CHILES um eine demokratisch gewählte Regierung handelt.
4.1.5
236
Darstellung eines Sachverhalts
Wenngleich die SZ vergleichsweise wenig INTERPRETIERENDE Texte in der Stichprobe aufweist, so ist doch das Bemühen der Korrespondenten offenkundig, dem Leser krisenhafte wirtschaftliche und politische Entwicklungen in MEXIKO, BRASILIEN, CHILE, NICARAGUA und LATEINAMERIKA durch ihre Reportagen anschaulich näher zu bringen. So finden sich in der Stichprobe 6 Fälle von PERSONIFIZIERUNG. Auf die gesamte Stichprobe bezogen sind das 5,4 Prozent. Die Korrespondentenberichte bedienen sich bei der PERSONIFIZIERUNG Vertreter verschiedener Gesellschaftsgruppen. Dabei tauchen beispielsweise folgende Konstellationen auf: Eine Frau aus der brasilianischen Armenschicht, die vermutlich aus Geldsorgen zu Prostitution und Rauschgiftschmuggel getrieben wurde, soll die Verflechtung zwischen Kriminalität und Existenznöten in Brasilien darstellen und auf die Schwierigkeiten hinweisen, dem Problem auf dem Wege der Drogenbekämpfung Herr zu werden. Hausfrauen und andere Vertreter der brasilianischen Mittelschicht machen die Auswirkungen der Inflationsbekämpfungspolitik der Regierung Sarney deutlich. Nicaraguanische Journalisten zeigen die Wege und das Ausmaß der Pressebehinderung bis hin zum Presseverbot in ihrem Land auf. Nicaraguanische Kleinbauern und Landarbeiter im Exil stellen dar, aus welchen Motiven heraus sich die Contra-Bewegungen rekrutieren. Durch das Mittel der PERSONIFIZIERUNG gelingt es der SZ hier, Gefühle bzw. Verständnis für politische, wirtschaftliche etc. Probleme zu wecken. 256
Zur "Manipulation durch Sprache" am Beispiel von Regierungsbezeichnungen siehe: BERND-PETER ARNOLD: Sie hören Nachrichten. Schlüssel zur Information. Frankfurt (Hessischer Rundfunk) o.J., S. 47 f.
106 In ihrer schwerpunktmäßigen Berichterstattung über die politischen und wirtschaftlichen Krisen Lateinamerikas bietet die SZ im Rahmen der Stichprobe in 43 Beiträgen, also in 38,7 Prozent, eine Ursachenerklärung an: In 36 Fällen finden sich MONOFAKTORALE Begründungen. Nur 7 Texte liefern eine MULTIFAKTORALE Darstellung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die Erklärungsschemata stichpunktartig und oberflächlich gehalten, schließlich sind rund zwei Drittel (29 Begründungen) referierte Verlautbarungen. Als exemplarische MONOFAKTORALE Darstellungen, die eine aktuelle Krisenlage - implizit oder explizit - auf personales Handeln zurückführen, gleich, ob auf die Politik und Aktionen einer Regierung, einzelner Entscheidungsträger oder Gruppen, 2 0 7 mögen folgende Textausschnitte genügen: "Ohne die USA zu nennen, verurteilte Brandt besonders eine Politik der Destabilisierung, der Blockade und der militärischen Angriffe in Nicaragua, die in Mittelamerika nicht zum Frieden führen könne..." 238 "Ein führender Vertreter der regierungsfeindlichen nicaraguanischen Contras hat in Washington einen Krieg in Mittelamerika vorausgesagt, falls die Regierung von Nicaragua nicht ihre totalitäre Politik aufgäbe ..." 299 "...appellierte Genscher an die Machthaber in Chile, die Zukunft des Landes nicht zu verspielen ,.." 260 " 'Die größte Katastrophe in der Geschichte der Sport-Übertragung', wie die unverändert kritische Medien-Situation bezeichnet wird, entpuppt sich immer deutlicher als innenpolitisches Pokerspiel der Mexikaner auf dem Rücken des Weltfußballverbandes FIFA ,.." 261
237
Unter MONOFAKTORAL wurden allerdings keine Urheber von einzelnen Terroranschlägen oder Verbrechen kategorisiert, wenngleich diese auf personales Handeln zurückzuführen sind. Anliegen dieser Kategorie ist es vielmehr, die Qualität der Ursachenbegründungen allgemeiner Krisen zu untersuchen. Wird also ein Terroranschlag als Symptom einer Krise dargestellt und werden Ursachen genannt, die über eine Täterbeschreibung hinausgehen, dann fällt die Angabe entsprechend unter M O NOFAKTORAL oder MULTIFAKTORAL.
259
AP: Brandt fordert Solidarität. In: SZ Nr. 70 vom 25.3.1986, S. 8.
239
Reuter/AP: Ortega: Krieg mit USA wird vorbereitet. In SZ Nr. 198 vom 30.8.1986, S. 7.
260
dpa/Reuter: Genscher: Belagerungszustand in Chüe aufheben. In: SZ Nr. 211 vom 15.9.1986, S. 9.
261
sid: WM als Spielball mexikanischer Politik. A.a.O.
107 "Der größte Inflationstreiber Brasiliens - der Staat - druckte weiter munter Geld, um die Defizite vor allem der unwirtschaftlich arbeitenden Staatsunternehmen zu finanzieren. Die brasilianische Presse erfuhr aus Regierungskreisen, daß 1986 mit einem um 40 % höheren Haushaltsdefizit ... kalkuliert werde. Statt zu sparen, schleuste der Staat immer mehr Geld in die Wirtschaft und erhöhte den inflationären Druck. Als Rezept zur Heilung der Fehlentwicklungen verordnete die Regierung die Zwangsanleihe, die Präsident Jose Sarney ... mit sofortiger Wirkung in Kraft setz[t]e. Die Kaufkraft der Konsumenten wird reduziert, politisch schwierig durchzusetzende Steuererhöhungen werden vermieden, der Staat kann sich etwas aus dem Sparzwang lösen und erhält obendrein neue Mittel. Die Aufschläge sollen im Lebenshaltungskostenindex nicht berücksichtigt werden, so daß die Inflationsstatistik schön im Lot bleibt. Dennoch wirken sich die Zwangsabgaben auf den betroffenen Bürger wie drastische Preiserhöhungen aus. Im Industriezentrum von Sao Paulo streikten in den vergangenen Tagen über 40.000 Arbeiter für Lohnerhöhungen zwischen real 20 und 40 %. Die Zwangsanleihe dürfte den Gewerkschaften Schubkraft geben, von den Unternehmen noch saftigere Einkommensverbesserungen zu fordern." 262 Allein 21 MONOFAKTORALE Erklärungen beziehen sich auf die gespannte innen- und außenpolitische Lage in NICARAGUA bzw. Mittelamerika. Je nach Herkunft der referierten Verlautbarungen wird mal die Politik der Sandinisten, mal die Mittelamerikapolitik der US-Regierung für die kritische Lage der Region verantwortlich gemacht. Einige Äußerungen, wie die des zitierten SPD-Politikers Wischnewski, stellen hier auch eine Ursachenverkettung dar. Sie führen die prekäre Situation in NICARAGUA auf Repressionspolitik und mangelnde Dialogbereitschaft der Sandinisten, die teils als Reaktion auf den Druck der Contra und der USA gesehen werden, auf die Wirtschaftsblockade durch die USA und auf allseitige Waffenlieferungen zurück. Die redaktionelle Sicht der NICARAGUA-Krise deckt sich weitgehend mit diesem Erklärungsmuster. Sie versteht Maßnahmen der Sandinisten, die ihrer Darstellung nach zur Bildung der Contra führten (wie Zwangsumsiedlungen, -rekrutierungen und Flüchtlingselend), als Folge der verfehlten Somoza-Politik und der Aktionen seiner Anhänger nach Somozas Sturz. Menschenrechtsverletzungen kreiden die SZ-Korrespondenten Sandinisten und Contras gleichermaßen an und sehen in der NICARAGUA-Politik der US-Regierung daher nur eine Konfliktverschärfung. 11 MONOFAKTORALE Erklärungen führen die innenpolitische Krise CHILES auf die Politik der Regierung Pinochet und die Personalisierung der Macht durch den chilenischen Präsidenten zurück, die eine Demokratisierung und innere Befriedung des Landes verhinderten.
262
dpa/vwd: Brasilien belegt seine Konsumenten mit einer Zwangsanleihe. A.a.O.
108 3 Artikel sehen die Ursache für BRASILIENS wirtschaftliche Schwierigkeiten in wirtschaftlichen Maßnahmen, bzw. in einer mittelfristig nicht einschätzbaren Wirtschaftspolitik der Regierung. 2 Texte über M E X I K O erklären Krisensymptome (Organisationschaos und Armut) durch personales Handeln (innenpolitische Machenschaften und Landflucht). In 19,8 Prozent (22) der Stichproben-Texte ist PERSONALISIERUNG festzustellen, sie stammt in den meisten Fällen aus der journalistischen Feder. Schon die hohe Anzahl an Texten, die aus Anlaß von Verlautbarungen Prominenter veröffentlicht wurden, zeigt, welch hohen Nachrichtenwert allein bekannte Namen haben. Es hat manchmal dabei den Anschein, daß Prominenz vor inhaltlichem Gewicht einer Aussage gehandelt wird. Neben 3 Fällen von PERSONALISIERUNG bei Samey, de la Madrid und Somoza p e r sonalisiert die SZ in gleichem Maße bei Pinochet (10) und Reagan (9). So findet der SZLeser im Zusammenhang mit der Contra-Unterstützung der US-Regierung Kurzformeln wie "Reagans
Kampagne",
Reagans
Pläne",
"seine Vorstellungen",
"Contra-Gönner
Ronald Reagan", "Präsident Reagans Hilfsaktion" neben drastischen Personalisierungsformeln aus dem M u n d e Ortegas oder Castros. Sicher ist bei der PERSONALISIERUNG Reagans die Tatsache in Betracht zu ziehen, daß die US-Verfassung dem Präsidenten mehr Entscheidungsgewalt zuschreibt als die der Bundesrepublik dem Bundeskanzler. Schließlich ist er Staatsoberhaupt und Regierungschef in einem. Dennoch handelt es sich hier um eine Vereinfachung, die schnell Glauben macht, daß die Mittelamerikapolitik der Reagan-Administration eher ein Ausdruck persönlicher Wünsche des Präsidenten ist, als ein Resultat allgemeiner politischer Interessen und eingehender Beratung mit seinem Mitarbeiter- und Expertenstab, an denen sich der Präsident orientiert. Besonders ausgeprägt erscheint die PERSONALISIERUNG Pinochets. Im Zusammenhang mit der innenpolitischen Krise CHILES stößt der Leser auf Formulierungen wie: "Seit Beginn der Herrschaft von Präsident Pinochet ..." "... der 1973 von Pinochet gestürzten Regierung ..."
263
264
" . . . trumpfte General Pinochet auf, als ihm bei seinem Erscheinen im Präsidentenpalast La Moneda seine Minister, Generäle und Beamte huldigten ..." 2 6 '
47 Verbannte dürfen nach Chile zurück. In: SZ Nr. 46 vom 25.2.1988, S. 10.
263
Ap:
264
F R I E D R I C H KASSEBEER: Pinochet läßt Regimegegner festnehmen. In: SZ Nr. 207 vom 10.9.1986, S. 2.
263
Ebenda.
109 Wenngleich ein Diktator mehr Entscheidungsgewalt hat als ein demokratisch gewähltes Regierungsoberhaupt, stellt sich die Frage, ob er völlig losgelöst von politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen handeln kann. KASSEBEER weist wiederholt darauf hin, daß Pinochet selber seine Macht PERSONALISIERT. In welchem Maße ist ihm das möglich? KASSEBEER analysiert in den Texten der Stichprobe die Machtstrukturen in CHILE nicht ausreichend: Auf welche Gesellschaftsschichten, auf welche Säulen kann Pinochet sich stützen, um angeblich so allgewaltig handeln zu können? Der Korrespondent schreibt: "Die Befehlshaber von Marine, Luftwaffe und Polizei haben zu verstehen gegeben, daß sie in der Militäijunta den Kandidaten Pinochet 1988 nicht wieder nominieren würden. Sie treten für rechtzeitige Verfassungsänderungen ein, aber noch trauen sie sich nicht, dem Staatschef gemeinsam offen gegenüberzutreten ,.." 266
- Warum nicht? Insbesondere,
wenn man KASSEBEERS Texte liest, hat man das Gefühl, Pinochet sei nur von Gegnern umgeben. Allerdings sind die Bevölkerungsgruppen, die KASSEBEER anführt, stets die Bewohner der Armenviertel von Santiago, deren Sprecher bzw. Vertreter (Armenpriester, Gewerkschaftler, Lehrer), Intellektuelle und die Vertreter der Oppositionsparteien, die der Militärdiktatur ablehnend gegenüberstehen. Welcher Bevölkerungsteil steht nun noch hinter Pinochets Regierung? Sind es allein politische Extremisten, wie es KASSEBEER darstellt? 267 Wo stehen Mittel- und Oberschicht? Welche politischen Strömungen gibt es außerhalb Santiagos? Legt der Oberbefehlshaber letztendlich ganz allein Hand in allen Regierungsfragen an, oder stützt er sich auf Berater und Minister? Angesichts solch einer Fülle ungeklärter Fragen kann KASSEBEERS Hinweis auf Pinochets PERSONALISIERUNG der Macht allein nicht befriedigen. PERSONALISIERUNG erscheint auch im Falle Pinochets als Vereinfachung, besonders, wenn sie zusätzlich noch so emotionsbeladen ist, wie in der CHILE-Berichterstattung des SZ-Korrespondenten.
Unter den 7 MULTIFAKTORALEN Erklärungen (darunter 5 Verlautbarungen) sind - mit einer Ausnahme 268 - durchweg schlagwortartige Ursachenangaben zu finden. Sie beziehen sich zudem nur auf einen Teilaspekt der Wirtschaftsmisere LATEINAMERIKAS im allge-
266
FRIEDRICH KASSEBEER: Noch hat Chile eine gehorsame Armee hinter sich. In: SZ Nr. 177 vom 5.8.1986, S. 4.
267
Siehe SZ-Textbeispiel 1 im Anhang.
268
Damit ist auf den Artikel "Ein Kontinent im Entzug. Südamerika: Der mühsame Kampf gegen das Rauschgift" von FRIEDRICH KASSEBEER angesprochen, der die Ursachen des Problems von Drogensucht und Drogenhandel in Südamerika (Korruption, Armut, in- und ausländische Mafia) ausführlicher darstellt. In: SZ Nr. 198 vom 30/31.8.1986, S. 3.
110 meinen und MEXIKOS im besonderen, nämlich die Verschuldungskrise. Als Ursachenerklärungen werden dabei die Abschwächung der Wirtschaft in den Industrieländern, Handelsbilanzdefizit, hohe Zinszahlungen und geringe Kreditsummen, geringe ausländische Investitionen, ölpreisverfall und stagnierendes Wirtschaftswachstum angeführt: " Er [Bundeskanzler Kohl] machte die Preiskrise auf dem Weltölmarkt zum Teil für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich, mit denen Mexiko zu kämpfen hat ..." 269
4.1.6
Krisenursache
Unter den insgesamt 43 Angaben zu politischen oder wirtschaftlichen Krisen Lateinamerikas finden sich 19 ENDOGENE Erklärungen. Allein 11 beziehen sich auf die innenpolitische Situation CHILES : Hier wird die Regierung Pinochets als grundlegender Faktor für eine politische Radikalisierung und Krise im Land gesehen. Terroranschläge durch die Guerilla werden somit quasi als Gegenterror dargestellt. BRASILIENS Wirtschaftskrise wird in 3 Beiträgen auf wirtschaftspolitische Maßnahmen der gegenwärtigen Regierung Sameys zurückgeführt. In MEXIKO sind es Landflucht und polltische Machtkämpfe, Ränke und Betrugsmanöver sowie Bummelstreiks, die eine wirtschaftliche und politische Stabilität erschweren, so ist es 2 Erklärungen zu entnehmen. In NICARAGUA - so begründen es 3 zitierte Verlautbarungen der US-Regierung - habe die Landwirtschaftspolitik der Sandinisten zu Aufständen und Contra-Bewegungen geführt. Gleichzeitig stelle die aggressive Mittelamerikapolitik Nicaraguas eine Bedrohung für die Region dar. Die SZ liefert in 7 Verlautbarungen EXOGENE Ursachenerklärungen zur krisenhaften Entwicklung in NICARAGUA. Sie alle stellen die USA als Urheber dar: Die Verlautbarungen (Ortegas, Castros u.a.) stellen fest, daß die Interventionsabsichten der USA die nicaraguanische Regierung möglicherweise zum Krieg zwinge, daß das Verhalten der USA einem Frieden in Mittelamerika abträglich sei. Eine Erklärung sieht die Wirtschaftsbindungen NICARAGUAS an die Ostblockländer und Kuba als Resultat der US-Wirtschaftsblockade, die zu Millionenverlusten in NICARAGUA geführt hätten. In 17 Fällen werden die Krisen lateinamerikanischer Staaten ENDOGEN-EXOGEN begründet. Allein 11 dieser Erklärungen - Verlautbarungen und redaktionelle/korrespondentische Äußerungen - beziehen sich auf NICARAGUA: Hier wird die Unterstützung der 269
AP: Kohl sagt Mexiko Hilfe zu. In: SZ Nr. 146 vom 30.6.1986, S. 5.
111 nicaraguanischen Widerstandsbewegung (ENDOGEN) durch die US-Regierung (EXOGEN) dafür veranwortlich gemacht, daß Mittelamerika in den Ost-West-Konflikt gezogen wird, d.h., die Hinwendung der Sandinisten zu den Ostblock-Staaten und Kuba werden als Reaktion zur US-Politik gesehen. Hier wird explizit und implizit die kritische Einstellung der SZ zur Lateinamerika-Politik der Reagan-Administration deutlich, denn aus der Sicht der US-Regierung ist die östliche Beeinflussung die grundlegende Ursache für die gegenwärtige Lage in NICARAGUA. Diese US-Regierungssicht des NICARAGUA-Konflikts wird in einer Verlautbarung wiedergegeben. Die restlichen ENDOGEN-EXOGENEN Erklärungen beziehen sich auf die Drogenprobleme LATEINAMERIKAS, auf die Verschuldungskrise LATEINAMERIKAS bzw. MEXIKOS und auf eine erfolglose Entwicklungshilfe: "Wir sollten uns darüber klarwerden, was ka darstellt: Hoffnungslosigkeit gepaart und Verschuldung ... Wir stehen nun vor wir in den letzten Jahren keine Politk der
die eigentliche Bedrohung in Lateinamerimit Hunger, Analphabetentum, Krankheit einer sich zusammenbrauenden Krise, weil Vorsorge betrieben haben ..." 270
"Darin liegt auch eines der Strukturprobleme staatlicher Entwicklungshilfe: Die Vielzahl der Rücksichten und ideologischen Vorbehalte bei Empfänger- wie G e berländem verschleppt Planungen, behindert laufende Projekte und erzeugt Resignation ..." 271 Die Texte der Stichprobe enthalten keine Angaben über mögliche ENDOGENE oder EXOGENE Prozesse. Der Leser kann sich also nicht zum besseren Verständnis der aktuellen Lage Lateinamerikas auf theoretische Erklärungsansätze stützen. Insgesamt bedient die SZ ihre Leser dürftig mit Ursachenerklärungen. Sie stammen überwiegend aus dem Mund von Politikern und gehen nur in Ausnahmefällen in die Breite. Dabei gewinnt der Leser den Eindruck, daß Lateinamerikas aktuelle Probleme in wirtschaftlicher Hinsicht nicht nur hausgemacht, sondern zum Teil von aktuellen weltwirtschaftlichen Entwicklungen (MEXIKO, BRASILIEN) oder von US-Boykottmaßnahmen (NICARAGUA) mitbestimmt sind. In politischer Hinsicht ist der Eindruck geteilt: Während MEXIKOS, BRASILIENS und CHILES Situation auf eigene Unfähigkeit oder
270
Zitat von Jim Wright, Fraktionsführer der Demokraten im amerikanischen Repräsentantenhaus, in: AP: Lateinamerika-Politik der USA kritisiert. In: SZ Nr. 82 vom 10.4.1986, S. 8.
271
KURT KISTER: Entwicklungshilfe sucht den "Politdialog". In: SZ Nr. 168 vom 25.7.1986, S. 4.
112 Willkür zurückgeführt wird, scheinen NICARAGUAS Probleme zu einem Gutteil auf das Konto der USA zu gehen.
4.1.7
Zeitliche Tiefe der Hintergrandinformation, Zweck und Umfang des Geschichtsbezugs
Auffalligstes Ergebnis dieses Untersuchungsaspektes ist, daß die zeitliche Tiefe der SZLateinamerika-Berichterstattung über die jüngste Vergangenheit - d.h. in der Regel über die 70er Jahre, in Ausnahmefällen über die 60er Jahre - nicht hinausgeht. Wenn, dann handelt es sich dabei um Analogien außerhalb Lateinamerikas oder um vage Angaben, die nichts über die gedachte zeitliche Tiefe erkennen lassen. Der Anteil der Aussagen zum UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT einer aktuellen Situation liegt in der SZ-Stichprobe bei 51 Texten oder 45,9 Prozent. Diese Textstellen sind fast durchweg knapp gehalten: 19 sind SCHLAGWORTARTIG, 27 KOMPRIMIERT, nur 5 Textstellen sind AUSFÜHRLICH. Lediglich 15 Artikel - 13,5 Prozent - enthalten Äußerungen, die als VORGESCHICHTE kategorisierbar sind. In den meisten Fällen (9 Texte) handelt es sich dabei um ANALOGIEN, also um Argumente mit der Absicht der Prognose. Teilweise finden sich darunter aber auch Bezüge zu Ereignissen, Lagen, Personen anderer Erdregionen als Lateinamerika. 2 Geschichtsbezüge sollen KONTINUITÄT bzw. DISKONTINUITÄT, 2 weitere KONTRAST aufzeigen. In 2 Fällen beziehen sich die unter VORGESCHICHTE kategorisierten Aussagen auf bestimmte, auf die jüngste Vergangenheit begrenzte endogene Entwicklungen NICARAGUAS (nicht identisch mit ENDOGENER PROZESS), die beide die politische Struktur der Contra-Bewegungen und ihre Motivation zum Widerstand beleuchten sollen. In einem Fall handelt es sich dabei um biographische Rückbezüge einzelner Contra-Führer, die normalerweise unter UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT zu kategorisieren wären. Doch wird anhand dieser persönlichen Entwicklungen die allgemeine Situation der Contra verdeutlicht, so daß diese Angaben unter die Kategorie VORGESCHICHTE fallen. Insgesamt wird der Wert der Angaben zur VORGESCHICHTE dadurch gemindert, daß a) sie in der Regel von geringerer oder undefinierbarer Tiefe sind; b) sie sich auf ein Symptom, d.h. auf den Teilaspekt einer Krise beziehen; c) es sich oft um zitierte Verlautbarungen mit politisch einseitiger Perspektive handelt oder um journalistische Ausführungen, in denen stark kommentierende Elemente enthalten sind;
113 d) die Geschichtsbezüge fast durchweg knapp und vage sind: so sind unter den 15 Äußerungen zur VORGESCHICHTE 10 SCHLAGWORTARTIG, 3 KOMPRIMIERT, nur 2 Bezüge sind AUSFÜHRLICH. Als repräsentative Beispiele mögen die folgenden Textausschnitte dienen: "Der Amerikaner Eugene Hasenfus, der als einziger den Abschuß einer Transportmaschine über dem Süden Nicaraguas überlebt hatte, wird nach Angaben aus Regierungskreisen in Managua vor Gericht gestellt ... Der nicaraguanische Botschafter in den USA Carlos Tunnerman, erklärte, es sei schwierig, für seine Regierung zu glauben, daß der Versorgungsflug für die rechtsgerichteten Rebellen nicht von der amerikanischen Regierung gebilligt worden sei. Der Botschafter fuhr fort: 'Das wird zu einem neuen Vietnam führen. Dies sind die gleichen Schritte wie damals, als die USA in Vietnam verwickelt wurden: zuerst Material, dann Berater, dann Truppen'..." 272 "Der Direktor des amerikanischen Geheimdienstes CLA, William Casey, hat vorausgesagt, daß der Druck auf die nicaraguanische Regierung durch zunehmenden Einfluß der antisandinistischen Rebellen und abnehmende Unterstützung im Ausland und in Nicaragua selbst wachsen werde ... Die Geschichte zeige, daß es militärischer Druck von Aufständischen und der Verlust von Unterstützung im In- und Ausland seien, die eine unpopuläre Regierung zu Fall brächten oder sie veränderten." 273 "Die albanischen Kommunisten werden nach Angaben von Staats- und Parteichef Fidel Castro die militärische Unterstützung für Nicaragua und Angola erheblich steigern, wenn Präsident Reagan die angekündigte Erhöhung der Hilfe für die Gegner der Revolutionsregierungen in diesen Ländern durchsetzen sollte ... In einer von Spannung und Erschöpfung geprägten Rede vor 1784 Delegierten und 196 ausländischen Abordnungen - einschließlich der Guerilla-Bewegungen Lateinamerikas - bezeichnete Castro Reagan mehrmals als faschistisch und verglich ihn ... mit Hitler: wie dieser wolle auch Reagan den Sozialismus von der Erde tilgen ..." 274 "Anhänger Calderons sympathisieren dagegen offen mit den von Costa Rica aus operierenden 'Konterrevolutionären', die das Regime der Kommandanten in Managua stürzen wollen ... Calderon ist im Gegensatz zu Anas kein Anhänger der Vermittlungspolitik in Mittelamerika, wie sie die Contadora-Gruppe - Mexiko, Panama, Venezuela und Kolumbien - betreibt. Er will die Organisation Amerikanischer Staaten als Interventionsinstrument gegen Nicaragua eingesetzt sehen. 1965 hat 272
Textbeispiel für VORGESCHICHTE - Geschichtsbezug / ANALOGIE / SCHLAGWORTARTIG / Prognose. - Reuter: Managua will Hasenfus den Prozeß machen. In: SZ Nr. 233 vom 10.10.1986, S. 8.
273
Textbeispiel für VORGESCHICHTE - Geschichtsbezug / ANALOGIE / SCHLAGWORTARTIG / Prognose. - AP: CIA-Direktor: Druck auf Sandinisten wird wachsen. In: SZ Nr. 216 vom 20.9.1986, S. 9. - Mit dieser Prophezeiung wirbt Casey für eine 100-Millionen-Dollar-Hilfe für die Contras.
274
Textbeispiel für VORGESCHICHTE - Geschichtsbezug / ANALOGIE / SCHLAGWORTARTIG / Prognose. - FRIEDRICH KASSEBEER: Castro: mehr Militärhilfe für Nicaragua und Angola. In: SZ Nr. 33 vom 10.2.1986, S. 7.
114 solche Politik zum militärischen Eingreifen der USA gegen Revolutionäre in Santo Domingo geführt, Costa Rica war damals symbolisch mit einigen Uniformierten beteiligt. Eine Invasion der USA in Nicaragua hält Calderon aber für 'praktisch unmöglich' ..." 273 "Wann bequemt sich General Augusto Pinochet in Chile endlich zu dem von der illegalen Opposition und der katholischen Kirche seit langem geforderten Dialog über das Ende der Militärdiktatur? ... Pinochet versucht sich mit seiner altbekannten List über die Runden zu retten... Es ist kaum vorstellbar, daß von diesem Regime irgendetwas übrig bleiben wird. Es ist unchilenisch, widerspricht der republikanischen Tradition ..." 276 "Bei vielen der Männer, die den Besucher in einer Art Gemeinschaftsraum umringen, der zugleich dem Lager als Mühle dient, hört sich die Begründung für ihre Flucht ganz ähnlich an. Die meisten von ihnen waren zu Hause Kleinbauern oder Landarbeiter, die vor 1979 persönlich kaum Erfahrung mit der brutalen Repressionspolitik des Diktators Anastasio Somoza und dessen Guardia Nacional gemacht hatten. Sie lebten weit verstreut in ländlichen Gebieten, die vom Freiheitskampf der Frente Sandinista de la Liberacion Nacional (FSLN), der Sandinistischen Befreiungsfront, wenig berührt wurden. Zwei Jahre nach der Machtübernahme der FSLN wurden gerade diese entlegenen Grenzregionen zu Zentren des bewaffneten Kampfes der Contra, in der sich zu Anfang vor allem ehemalige Angehörige der Guardia zusammenschlössen. Aus dem gebirgigen und unwegsamen Gebiet heraus unternahmen die anti-sandinistischen Guerilleros ihre Überfälle und Streifzüge tief nach Nicaragua hinein. Für manche der einfach denkenden Landbewohner lag der Schluß, den Pascual Comejo zieht, nahe: 'Als die Sandinisten an die Macht kamen, begann für uns der Krieg.' Und: 'Unter Somoza lebten wir in Frieden ...' Den letzten Anstoß, aus der Heimat zu fliehen, gaben für eine ganze Reihe der heutigen Exil-Nicaraguaner die zum Teil gegen ihren Willen vollzogenen Umsiedlungen, die das sandinistische Heer organisierte. Um der Contra Rekrutierungs- und Ernährungsmöglichkeiten zu nehmen, aber auch, um die verstreut lebenden Bauern vor Überfällen zu schützen, zwang man viele, ihre Einzelhöfe und ihr angestammtes Land zu verlassen und sich in neuen Dörfern anzusiedeln, die in vielerlei Hinsicht besser zu kontrollieren waren ..." 277
275
Textbeispiel für VORGESCHICHTE - Geschichtsbezug / ANALOGIE / K O M PRIMIERT / Prognose. - FRIEDRICH KASSEBEER: Gelöbnis nach der Schlacht der Hupen. Costa Rica: Die Ausnahme im Mittelamerika. In: SZ Nr. 29 vom 5.2.1986, S. 3.
276
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / KONTRAST / SCHLAGWORTARTIG / Prognose. - FRIEDRICH KASSEBEER: Noch hat Pinochet eine Armee hinter sich. A.a.O.
277
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / "zeitlich begrenzter endogener Prozeß" / AUSFÜHRLICH. - KURT KISTER: Kräftesammeln im Elendscamp. A.a.O.- Der Text setzt sich aus schlagwortartigen Geschichtsbezügen ("Somozas brutale Repressionspolitik") und ausführlichen Darlegungen zum zeitlich begrenzten endogenen Prozeß zusammen. Dabei zeigt KISTER auf, daß die jetzige Situation der Flüchtlinge letztendlich auf Somozas Politik zurückzuführen und damit eher ihm als den Sandinisten anzulasten ist. KISTER versucht so, den Kontrast "guter Somoza - böse Sandinisten", den seine Interviewpartner aufbauen, zu widerlegen. Zur Verstärkung wertet
115
4.1.8
Deutschland-Bezug
Einen Deutschland-Bezug weisen insgesamt 31 Texte, also 27,9 Prozent, auf. Davon fallen allein 24 Artikel unter die Kategorie RELATION. Knapp die Hälfte dieser DeutschlandBezüge sind Verlautbarungen, Empfehlungen, Absichtserklärungen deutscher Politiker wie Kohl, Genscher, Geißler, Brandt und Wischnewski: zur Demokratisierung in CHILE und NICARAGUA, zur Überwindung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme Zentralamerikas bzw. zur Wirtschaftshilfe für MEXIKO. Einen weiteren Schwerpunkt in diesen Deutschland-Bezügen bildet der Aspekt der wirtschaftlichen und technologischen Beziehungen: So ergehen Bitten von lateinamerikanischer Seite an die bundesdeutsche Adresse, speziell an die Deutsche Bundesbank, um Mithilfe bei der Lösung der Schuldenkrise; so wird darauf hingewiesen, daß das geringe Wirtschaftswachstum in den Industrieländern
(also einschließlich der Bundesrepublik) ein
Haupthindernis für einen Weg Lateinamerikas aus der Rezession sei; ein Kommentar reflektiert Erfolg und Mißerfolg deutscher staatlicher Entwicklungshilfe; es wird femer berichtet, daß die deutsche VW-Stiftung eine schwimmende Forschungsstation auf dem brasilianischen Amazonas zur Verfügung stellt, und daß nur noch zwei von acht der nach dem deutsch-brasilianischen Nuklearabkommen von 1975 geplanten deutschen Atomkraftwerke in BRASILIEN gebaut werden sollen. Die restlichen Deutschland-Bezüge sind sehr unterschiedlich geartet: Sie berichten von der Verschwisterung der Stadt Offenbach mit dem nicaraguanischen Ort Rivas und dem darauffolgenden Eklat im Offenbacher Stadtparlament; sie erwähnen deutsche Drogenhändler, die in BRASILIEN in Haft sitzen; sie weisen darauf hin, daß auch der Reptilienhandel in Deutschland Wilderei in BRASILIEN und anderen lateinamerikanischen Ländern unterstützt; sie lassen einfließen, daß der Polizeichef in CHILE "deutschstämmig" ist; sie erinnern nochmals an den Nazi-Verbrecher Josef Mengele im Zusammenhang mit einem Gerichtsprozeß in BRASILIEN; sie informieren schließlich über den neuen Chef der brasilianischen Bundespolizei und weisen dabei darauf hin, daß er zuvor die Ermittlungen im Fall des KZ-Arztes Mengele geleitet hat. Aussagen, die unter die Kategorie EXPLIZITE NÄHE fallen, enthalten 7 Artikel. Insgesamt gliedern sich diese Deutschland-Bezüge in drei Schwerpunkte: Sie setzen sich mit der Entführung und Ermordung deutscher Aufbauhelfer in NICARAGUA auseinander; sie zeigen kritisch auf, wie der deutsche Fußballfreund bei seinem Besuch in MEXIKO KISTER die Aussagen dieser Flüchtlinge ab, indem er sie als "einfach denkende Landbewohner" qualifiziert.
116 überall geschröpft bzw. die Übertragung der Fußball-WM
(auch in bundesdeutsche
Wohnstuben) durch politische Machenschaften und Interessenfilz in MEXIKO gefährdet wird; sie beleuchten wirtschaftliche Verflechtungen: zum einen erklären sie, daß die Zuspitzung der Lage für hochverschuldete ölexportländer (explizit MEXIKO) durch den ölpreisverfall die internationalen Finanzmärkte neuen Belastungen aussetzten und den Konjunkturanstieg gefährdeten; zum anderen bemängeln sie, daß die Wirtschaftspolitik der brasilianischen Regierung deutsche Investitionen behinderten. Insgesamt bieten die unter den Kategorien RELATION und EXPLIZITE NÄHE erfaßten Deutschland-Bezüge ein Bild, das wenig geeignet erscheint, bundesdeutsche Sensibilität für die Probleme Lateinamerikas zu wecken. Es handelt sich meist ohnehin nur um knappe nachrichtliche Äußerungen, die wenig zusammenhang-stiftend sind.
4.1.9
Handlungsaufforderung
Von den 111 Artikeln der SZ-Stichprobe enthalten 22 Texte, oder 19,8 Prozent, eine IMPLIZITE oder EXPLIZITE HANDLUNOSAUFFORDERUNG. Bis auf eine Ausnahme stammen sie alle aus dem Munde von Politikern, Wirtschaftsexperten, von Seiten besonderer Institutionen, Interessenverbänden und sonstiger Gruppen (Obdachlose in MEXIKO, Contra-Entführer) und richten sich fast immer über die Köpfe des Lesers hinweg an die Adresse von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern in der Bundesrepublik, den USA und Lateinamerika. Die HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN ergehen in 3 Fällen IMPLIZIT, in 19 Fällen EXPLIZIT: Ihre Inhalte entsprechen den festgestellten Schwerpunkten der SZ-Berichterstattung über die untersuchten Länder. Sie sind im Zusammenhang mit NICARAGUA (allein 11 Handlungsappelle) und CHILE politischer-, in Zusammenhang mit MEXIKO und BRASILIEN bzw. LATEINAMERIKA überwiegend wirtschaftlicher Natur. Alle in Verlautbarungen enthaltenen Handlungsappelle sprechen sich gegen das Konzept der US-Nicaragua-Politik aus: So wendet sich SPD-Politiker Wischnewski gegen Waffenlieferungen in die Krisenregion NICARAGUA und fordert, die Vorschläge der ContadoraGruppe (Anstreben einer pluralistischen Demokratie mittels einer lateinamerikanischen Lösung, keine militärische Auseinandersetzung oder Unterstützung von Gruppen, die militärisch vorgehen) in die Tat umzusetzen. Willy Brandt fordert wiederholt die USRegierung zu Verhandlungen mit den Sandinisten auf. Gegen eine amerikanische ContraHilfe sprechen sich selbst einige Antisandinisten vor dem US-Kongreß aus. So fordert der ehemalige nicaraguanische Rebellenführer Edgar Charmorro den US-Kongreß auf, die beantragte Contra-Finanzhilfe nicht zu bewilligen. Fidel Castro gar droht Reagan mit einer
117
Steigerung der militärischen Unterstützung für NICARAGUA, sollte dieser die angekündigte Erhöhung der US-Contra-Hilfe durchsetzen. Im Zusammenhang mit NICARAGUA fordert ferner der SPD-Abgeordnete Klose seine Partei auf, Menschenrechtsverletzungen in NICARAGUA ohne falsche Rücksichtnahme deutlich zu kritisieren. Im Falle der Entführung deutscher Aufbauhelfer durch nicaraguanische Contras ergehen Appelle von der Bonner Regierung, insbesondere von Bundesaußenminister Genscher, an junge Bundesbürger, sich nicht als Aufbauhelfer in NICARAGUA zu engagieren. An die chüenische Regierung ergeht von Seiten Genschers und des CDU-Generalsekretärs Geißler und der katholischen Kirche CHILES die Aufforderung, zur Demokratie zurückzukehren. Die wirtschaftspolitischen Appelle sind folgendermaßen geartet: Der Präsident der Schweizerischen Nationalbank, Languetin, fordert von Europäern und Japanern, ihre Handelsüberschüsse zugunsten der Schuldnerländer (inklusive lateinamerikanischer) abzubauen; MEXIKOS Finanzminister Petricioli drängt die internationalen Banken, seinem Land neue Kredite zuzusagen; Bundeskanzler Kohl verspricht während eines Besuches in MEXIKO weitere private Investitionen, d.h., es ergeht eine indirekte Aufforderung an entsprechende Adressen. MEXIKOS Erdbebenopfer fordern von den Landesbehörden Häuser anstelle einer Fußball-WM; deutsche Unternehmen in BRASILIEN pochen auf eine Regierungserklärung zur sogenannten "Marktreserve" in BRASILIEN; schließlich appelliert das HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung in Hamburg an die Industrieländer, sich hinsichtlich des Ölpreis-Sturzes (der z.B. MEXIKO trifft) kernen Illusionen über die Stärke der Wachstumskräfte hinzugeben und damit den Willen zur Besserung der Angebotsbedingungen wieder zu schwächen.278 Neben der oben genannten Warnung an die Adresse NICARAGUA-engagierter Bundesbürger wenden sich nur noch 2 weitere HANDLUNGSAPPELLE direkt bzw. indirekt an den Leser: So ergeht ein Aufruf des World Wildlife Fund (WWF) an den bundesdeutschen Verbraucher, den Reptilienhandel nicht zu unterstützen (um damit Wilderei u.a. in BRASILIEN entgegenzuwirken). KURT KISTER fordert mit seiner Reportage über die Contra implizit dazu auf, den antisandinistischen Kampf nicht schwarz-weiß zu beurteilen. 279 278 vwd: Der Niedergang der ölpreise birgt Chancen und Risiken. In: SZ Nr. 46 vom 25.2.1986, S. 23. 279
KURT KISTER a.a.O.
118 4.1.10 Zusammenfassung Das wohl bemerkenswerteste Ergebnis dieser Stichprobe ist der mit knapp 78 Prozent unerwartet hohe Anteil an Agentur-Berichterstattung und die noch höhere Quote an REFERIERENDEN TEXTSORTEN (knapp 83 Prozent). Die hohe Anzahl von Texten mit dem in Hinblick auf die Vermittlung von Zusammenhängen niedrigsten Niveau steht dem eigenen Anspruch der SZ entgegen, "die großen Zusammenhänge hinter den Sensationen der Zeitgeschichte aufzuzeigen". Diese Schwäche in ihrer Lateinamerika-Berichterstattung, mit der ein hoher Grad an Verlautbarungsjournalismus einhergeht, vermag die Zeitung auch nicht durch ihre korrespondentischen Beiträge auszugleichen. Generell bedeutet Lateinamerika-Berichterstattung bei der SZ Metropolenjoumalismus. Zudem zeigen sich die Berichterstattungsschwerpunkte NICARAGUA und CHILE stark monothematisch, wenn sie sich inhaltlich auf die politische Lage NICARAGUAS im OstWest-Konflikt und speziell auf das spannungsvolle Verhältnis zu den USA oder auf die innenpolitische Lage CHILES und speziell auf Kritik an Pinochet verengt. Nur knapp 40 Prozent der Stichprobentexte liefern Angaben zu Krisenursachen, zumeist sind die Darstellungen aber nur MONOFAKTORAL mit einem hohen Anteil an PERSONALISIERUNG. Die Erklärungen - zu zwei Dritteln ohnehin nur referierte Verlautbarungen -
fallen fast durchweg stichpunktartig und vage aus und sind teilweise
emotionsgeladen wie im Fall Pinochet. 280 Die Hintergrundinformation ist von nur geringer zeitlicher Tiefe, sie geht konkret nie über die 60er Jahre zurück. Ohnehin bezieht sich die Mehrheit der gegebenen Informationen auf den UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT. Geschichtsbezüge sind hauptsächlich SCHLAGWORTARTIG und beziehen sich nur auf Teilaspekte einer Krise. Ihr Wert wird zusätzlich dadurch gemindert, daß sie entweder referierte Verlautbarungen mit politisch einseitiger Perspektive oder journalistische Ausführungen mit stark kommentierenden Elementen sind. Die Texte enthalten keinerlei Angaben zu möglichen ENDOGENEN oder EXOGENEN PROZESSEN.
280
Siehe dazu SZ-Textbeispiel 1 im Anhang. Als positives Textbeispiel 2.
Gegenstück siehe SZ-
119
4.2
Lateinamerika-Berichterstattung der WELT
Im Untersuchungszeitraum wurden insgesamt 350 Artikel über die Länder BRASILIEN, CHILE, MEXIKO, NICARAGUA bzw. LATEINAMERIKA erfaßt. Durch das Stichprobenverfahren wurden aus diesem Bündel 64 Texte herausgezogen, das entspricht rund 18,8 Prozent oder knapp einem Fünftel der gesammelten Texte.
4.2.1
Länderverteilung und Thematisierung
Von den 64 Texten entfällt auch bei der WELT die Mehrzahl auf NICARAGUA. Die Länderverteilung stellt sich wie folgt dar:
NICARAGUA
27 Texte
42,2 %
CHILE
9 Texte
14,0 %
MEXIKO
8 Texte
12,5 %
BRASILIEN
6 Texte
9,4 %
LATEINAMERIKA 281
14 Texte
21,9 %
Insgesamt
64 Texte
100,0 %
Die Vermutung, daß NICARAGUA deshalb hier vorrangig behandelt wird, weil sich die dortigen Vorgänge im Spannungsfeld Ost-West vollziehen, und der Bündnispartner USA entsprechend engagiert ist (Nachrichtenfaktor bündnispolitische Nähe), wird mit Blick auf die Thematisierung bestätigt. NICARAGUA : Der Schwerpunkt der Thematisierung liegt beim Themenkomplex NICARAGUA im Spannungsfeld Ost-West. 4 Artikel beschäftigen sich mit NICARAGUAS politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Beziehungen zu den kommunistischen Ländern Kuba, Sowjetunion und China. NICARAGUAS Bild als ein zukünftiges zweites Kuba wird durch diese Themenführung gefestigt. 6 Artikel diskutieren die Berechtigung und die Perspektiven der Politik der USA gegenüber NICARAGUA bzw. gegenüber der Contra-Bewegung. Hierbei bejaht die WELT 281
Unter der Rubrik LATEINAMERIKA finden sich in diesem Falle die Länderverbindungen MEXIKO und BRASILIEN im Zusammenhang mit der Schuldenkrise, oder die Verflechtung NICARAGUA-Kuba wird angesprochen.
120 - im Gegensatz zur SZ
- grundsätzlich die Einschätzung der US-Regierung hinsichtlich
NICARAGUAS politischer Entwicklung. Die Erfolgschancen für eine Demokratisierung des Landes durch das Druckmittel "US-Contra-Unterstützung" sehen der Washingtoner Korrespondent FRITZ WIRTH und der Lateinamerika-Korrespondent WERNER T H O MAS unterschiedlich: Während WIRTH die Contra-Unterstützung als eine erfolgversprechende Politik einschätzt, hält THOMAS dies für eine Illusion. Er meint, Washington stehe vor der Alternative, ein zweites Kuba zu akzeptieren oder militärisch zu intervenieren. 7 Artikel befassen sich mit Einschätzungen der Contra-Aktivitäten,
282
Strukturen und
Ziele. Die Artikel geben der Perspektive der Contra breiteren Raum als der Perspektive der Sandinisten. Mit dem Umfang einher geht die positive Darstellung der Contra - dies im Gegensatz zur SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, wo die Kritik an den Contra-Aktivitäten und der US-Contra-Unterstützung überwiegt. Berichtet die WELT über Kritik an den Contras, so zum Beispiel von Seiten der sandinistischen Regierung, so erscheint sie in der Regel nicht in Form einer Nachricht, sondern eingebettet in interpretierenden, kommentierenden Texten. Hier wird sie entweder in Zusammenhang mit Contra-Verlautbarungen publiziert, die umfangmäßig die Kritik überwiegen und sie inhaltlich abschwächen, oder sie wird von den WELT-Joumalisten interpretierend und kommentierend entkräftet. 6 weitere Texte zeichnen das Bild eines repressiven Staates: Sie behandeln Menschenrechtsverletzungen, Presseverbot, Repression der Opposition und - allgemein gefaßt - Maßnahmen der Regierung gegen eine Demokratisierung. Ein Artikel referiert die Forderung nach deutscher Entwicklungshilfe für NICARAGUA, die vom Bundesentwicklungsminister aber aufgrund der politischen Gegebenheiten des Landes abgelehnt wird. Insgesamt präsentiert sich die Berichterstattung der WELT über NICARAGUA monothematisch: Behandelt wird die politische Lage NICARAGUAS zwischen Ost und West. Die WELT thematisiert die politische Entwicklung NICARAGUAS hin zu einem zweiten Kuba und teilt damit die Perspektive der US-Regierung. Wie stichhaltig und überzeugend ihre Darstellungen sind, wird sich im Verlauf der weiteren Untersuchung zeigen. Auffällig ist, daß die wirtschaftliche Entwicklung NICARAGUAS - wenn überhaupt - nur als Teilaspekt der politischen Betrachtung des mittelamerikanischen Staates gestreift wird. Die Wirtschaftslage des Landes und ihre Ursachen werden in den untersuchten Texten nicht erörtert.
282
Hierzu werden auch die Entführungen deutscher Aufbauhelfer durch Contra-Gruppen gezählt.
121 CHILE : Wie auch die SZ präsentiert die WELT CHILE weitgehend beschränkt auf die innenpolitische Lage des Landes. So behandeln von den 9 Stichprobentexten 3 Artikel die Demokratisierungspläne und -chancen und das Verhältnis von Junta und Oppositonsparteien, bzw. Kirche und Junta. 4 Artikel befassen sich mit der Thematik der politischen Opposition und Staatsaktionen im Rahmen von Streiks, Kundgebungen und Terrorakten. Ein Text behandelt Menschenrechtsverletzungen. Ein Artikel berichtet über einen Unglücksfall. Man kann also auch hinsichtlich CHILES von einer starken Tendenz zur monothematischen Berichterstattung sprechen. Wirtschaftsaspekte werden - wenn überhaupt - nur beiläufig und stichpunktartig eingestreut. Im Unterschied zur SZ beleuchtet die WELT aber die politische Landschaft und das Machtgefüge, in das Pinochet eingebunden ist. Dabei wird die Position Pinochets nicht nur aus der Sicht der Opposition, sondern auch aus der Sicht der mit ihm Regierenden herausgearbeitet. Die Berichterstattung will zeigen, welche Ursachen dem Bestand der Militärdiktatur außer Pinochets Festhalten an der Macht zugrunde liegen, und warum eine Demokratisierung CHILES so schwerfallt. MEXIKO und BRASILIEN : Während bei NICARAGUA und CHILE der thematische Schwerpunkt der Berichterstattung bei der Politik liegt, dominieren bei MEXIKO und BRASILIEN eindeutig wirtschaftliche Themen. Von den 8 Texten über MEXIKO, bzw. mit explizitem MEXIKO-Bezug, beschäftigen sich 3 Artikel mit der Schuldenkrise (Bedrohung und Bekämpfungspolitik). Hinzu kommen ein Text über die ölpreiserhöhung, ein Text über die wirtschaftliche und soziale Not, ein weiterer über die Lohnpolitik. 2 Artikel haben Kriminalität bzw. ein Human InterestThema (Hilfe von Placido Domingo für mexikanische Erdbebenopfer) zum Inhalt. Neben dem Referieren von Fakten, Entscheidungen und Verlautbarungen versuchen die wirtschaftspolitischen Texte auch die Dimension und Ursachen für die Verschuldungskrise aufzuzeigen und wirtschaftspolitische Lösungen anzubieten. Von den 6 Artikeln über BRASILIEN entfallen 5 auf wirtschaftliche Themen: 3 behandeln Emteausfall und Exporteinbußen bei Kaffee aufgrund einer Dürrekatastrophe. Ein Text
122 berichtet über die Politik zur Sanierung der brasilianischen Wirtschaft (Cruzado Plan, staatliche Zwangsabgabe). Ein Text hat das Verhältnis von Kirche und Staat im Zusammenhang mit ungerechter Landverteilung zum Inhalt. Ein Bericht informiert über eine Naturkatastrophe in Rio. Der Analyse der wirtschaftlichen Lage BRASILIENS wird erheblich geringerer Umfang eingeräumt als der Analyse zur Lage MEXIKOS. Der wirtschaftsthematische Schwerpunkt der Berichterstattung über MEXIKO und BRASILIEN wird noch deutlicher, wenn man die unter der Kategorie LATEINAMERIKA erfaßten Texte thematisch untersucht: Hier befassen sich 8 von 14 Texten mit der Schuldenkrise inbesondere unter gleichzeitigem Rückbezug auf die beiden Staaten MEXIKO und BRASILIEN. Dabei geht es um Fragen der Kreditwürdigkeit lateinamerikanischer Länder, um Beschlüsse zur Kreditvergabe, um Schuldenbekämpfungsprogramme und -Strategien. 2 Artikel berichten über Entwicklungshilfe-Planungen und -Programme westlicher Industrienationen bzw. der EG-Länder. Die 4 übrigen Texte behandeln das Bevölkerungswachstum, die Demokratisierung diktatorisch regierter lateinamerikanischer Staaten, die Friedenspolitik für Mittelamerika und die Lateinamerika-Politik der Reagan-Regierung. Von den insgesamt 64 Artikeln referieren 17 oder 26,6 Prozent ausschließlich Verlautbarungen oder sie sind überwiegend aus Verlautbarungen zusammengesetzt. Damit bleibt die WELT weit hinter dem zuvor festgestellten hohen Grad an Verlautbarungs-Berichterstattung der SZ zurück. Dieses grundsätzlich positiv anmutende Ergebnis ist damit zu erklären, daß die WELT viele Agentur-Nachrichten mit Äußerungen von Politikern oder anderen Personen des öffentlichen Lebens (insbesondere im Fall NICARAGUAS) nicht publiziert, sondern sammelt und dann in eigene redaktionelle oder korrespondentische Reflexionen einfließen läßt. Möglicherweise hält die WELT auf diese Weise Äußerungen, die nicht ihrer Linie entsprechen, zurück. Doch besagt die hohe Zahl an publizierten Verlautbarungen bei der SZ keineswegs, daß dies bei dieser Zeitung nicht auch der Fall sein könnte, nur, daß hier besonders massiv die Verlautbarungen publiziert werden, die sich mit den redaktionellen Einschätzungen insbesondere zu CHILE und NICARAGUA decken.
123 4.2.2
Plazierung
Die Plazierung der Lateinamerika-Berichterstattung teilt sich wie folgt auf:
EXPONIERT
15 Texte (12 Front / 3 Umfang)
-
23,4 %
NICHT-EXPONIERT
49 Texte
76,6 %
Insgesamt
64 Texte
100,0 %
Allein 10 der EXPONIERTEN Texte entfallen auf NICARAGUA, sie behandeln meist die Ost-West-Konflikt-Thematik oder sie weisen einen Deutschland-Bezug auf, zum Beispiel Stellungnahmen deutscher Politiker zu NICARAGUA, Entführung oder Tod deutscher Aufbauhelfer. 4 EXPONIERTE Texte behandeln die politischen Vorgänge in CHILE, ein Text erschien im Zusammenhang mit der Schuldenkrise EXPONIERT. Der Anteil EXPONIERTER Texte liegt bei der WELT mehr als doppelt so hoch wie bei der SZ. Das zeigt, wie wichtig diese Zeitung die Vorgänge in NICARAGUA aufgrund des Faktors "Nähe" nimmt. Es wird also im Fall der NICARAGUA-Berichterstattung besonders darauf zu achten sein, wie sorgfältig die WELT die Lage dieses Landes und die Hintergründe dazu aufarbeitet.
4.2.3
Verfasser und Berichtsort
Während der Anteil von Agenturtexten in der Lateinamerika-Berichterstattung der SZ bei fast 80 Prozent liegt, weist die WELT hier einen vergleichsweise geringen Anteil auf. Auf die Frage, aus wessen Feder die Artikel im einzelnen stammen, teilen sich die untersuchten Texte wie folgt auf:
124
AGENTUR
17 Texte 283
26,6 %
KORRESPONDENT / bzw. Reisekorrespondent
29 Texte 284
45,3 %
14 Texte
283
21,9 %
4 Texte
286
6,2 %
REDAKTEUR Verfasser unklar Insgesamt
64 Texte
100,0 %
Der hohe Anteil von mindestens 45,3 Prozent korrespondentischen Texten ist grundsätzlich positiv zu bewerten, da er einen entsprechenden Anteil an interpretierenden-kommentierenden Beiträgen erwarten läßt. Geschmälert wird dieser positive Eindruck aber bereits mit Blick auf den Berichtsort: Von den 64 Texten wurden 20 oder 31,2 Prozent VOR ORT verfaßt (19 direkt, einer im Land). Berichtet wurde hier allerdings ausschließlich aus Metropolen wie Managua, Santiago, Mexiko Stadt, Rio de Janeiro oder Brasilia. 6 Texte oder 9,4 Prozent entstanden im BENACHBARTEN AUSLAND, in 5 Fällen in Miami, in einem Fall in Mexiko Stadt. Alle Texte stammen von WERNER THOMAS, der in Miami stationiert ist. Bis auf einen beziehen sich diese Texte auf NICARAGUA. Damit gewinnt die Frage nach der Perspektivbeschränkung Gewicht. 14 Artikel oder 21,9 Prozent tragen die Ortsangabe der Zentralredaktion. 10 Texte weisen keine Ortsangabe aus. Davon ist ein Text ein Gastkommentar. 5 Beiträge stammen von WERNER THOMAS. Es liegt hier die Vermutung nahe, daß sie zumindest dort, wo sie
283
Darunter 5 dpa-Texte, 2 Reuter-, 2 AP-Texte, 1 AFP-Artikel und 7 Artikel, die jeweils aus zwei Agentur-Texten zusammengestellt wurden.
284
Allein 15 Artikel stammen von WELT-Lateinamerika-Korrespondent WERNER THOMAS, ein Text von Lateinamerika-Korrespondent GÜNTER FRIEDLÄNDER, 3 Beiträge vom Washingtoner Korrespondenten FRITZ WIRTH. Die übrigen Texte gehen auf Reiseberichterstatter zurück.
285
Unter die Kategorie REDAKTION fielen auch Namen, die teilweise als Reisekorrespondenten identifiziert wurden. Die Herkunft der einzelnen Texte wurde hier nach der Ortsangabe eingestuft. Unter diese Kategorie wurde auch ein Gastkommentar von Professor MARTIN KRIELE, Köln, gezählt.
286
Die Texte konnten nicht kategorisiert werden, weil der Verfassemame bzw. die Ortsangabe fehlte.
125
sich kritisch mit NICARAGUA auseinandersetzen, im benachbarten Ausland verfaßt wurden (s.o.). Die restlichen 14 Beiträge (21,9 Prozent) sind im weiteren Ausland verfaßt. Sie beziehen sich auf Verlautbarungen, Entscheidungen, Vorgänge im Ausland, die Lateinamerika bzw. die vier ausgewählten Staaten betreffen.
4.2.4
Textgattung
Wie erwartet, liegt der Anteil von INTERPRETIERENDEN und KOMMENTIERENDEN TEXTSORTEN deutlich höher als bei der SZ. In der Übersicht stellt sich das TextsortenVerhältnis in der WELT folgendermaßen dar:
REFERIEREND
37 Texte 287
>
57,8 %
288
=
31,3 %
INTERPRETIEREND
20 Texte
KOMMENTIEREND
7 Texte
-
10,9%
64 Texte
=
100,0 %
Insgesamt
Der Anteil der zum Teil starken Kommentierung in REFERIERENDEN / INTERPRETIERENDEN TEXTSORTEN, bei denen nach journalistischen Definitionen eigentlich nicht kommentiert bzw. eher analysiert als kommentiert werden sollte, liegt bei 17,5 Prozent (10 Fälle). Viermal kommen Kommentierungen in Nachricht oder Bericht vor. Sei es durch wertende Äußerungen in Uberschrift und Text oder durch den (bewußten oder unbewußten) Einsatz des Indikativ: " ... Unverständnis äußerte Vargas, wie schon in seinem Interview mit der WELT (Ausgabe vom 8.7.), in welchem Umfang Nicaragua zu einem 'Mythos' für den 'Romantizismus' der westeuropäischen linken Intellektuellen geworden ist. Für ihn sei... " 289
297
Darunter 24 Nachrichten, 12 Berichte (inklusive referierender Korrespondentenberichte), eine Graphik mit Erklärung.
288
Darunter 5 Analysen (ohne Feature-Elemente), 3 Portraits, ein Interview-Portrait, eine Reportage, 10 (interpretierende) Korrespondentenberichte.
289
gba.: Der Dichter aus Peru mahnt Westeuropa. Aus: DIE WELT Nr. 157 vom 10.7.1986, Weltnachrichten, S. 8. - Hervorhebung von S. v. Roemeling.
126 " ... Der Hamburger Hans-Ulrich Klose war der erste führende Sozialdemokrat gewesen, der im vergangenen Monat nach einer Mittelamerika-Tour emsthaft am rosaroten Traumbild der SPD von den Zuständen im Lande gerüttelt hatte ... " 290 " Gute Schuldner, schlechte Schuldner " [Graphik-Überschrift zu einer Studie über die Kreditbonität von 106 Ländern]. 291 In 6 INTERPRETIERENDEN Texten wie Analysen, Portraits, Korrespondentenberichten oder sogenannten Hintergrundberichten finden sich ebenfalls starke Kommentierungen (siehe WELT-Textbeispiel 8 im Anhang). Im Zusammenhang mit der NICARAGUA-Berichterstattung
fällt dabei auf, daß sich die WELT schwer zu dem wertneutralen Begriff
"nicaraguanische Regierung" oder "sandinistische Regierung" durchringen kann. Sobald die Ebene INTERPRETIERENDER oder KOMMENTIERENDER Texte erreicht ist, ersetzt die WELT diese Bezeichnung durch die Begriffe "Sandinisten-Regime" (mal mit, mal ohne Anführungszeichen),
"Sandinistische Commandantes", "Führung
"Kommunistische Machthaber",
"sowjetgestützte Tyrannei".
in
Managua",
NICARAGUA wird
zur
"Frontnation" (diese Bezeichnungen jeweils ohne Anführungszeichen veröffentlicht).
4.2.5
Darstellung eines Sachverhalts
Hinsichtlich der Frage nach Darstellungsweisen der Lateinamerika-Berichterstattung fällt auf, daß die WELT aus einer gesellschaftlichen Monoperspektive berichtet: In den Texten der Stichprobe wird die politische bzw. wirtschaftliche Lage der einzelnen Staaten oder werden diesbezügliche Entscheidungen fast ausschließlich auf der hohen politischen, militärischen oder wirtschaftspolitischen Ebene, also quasi abstrakt behandelt. Oder es werden Verlautbarungen, Einschätzungen und Interessen von Entscheidungsträgem dieser Ebene wiedergegeben. Verlautbarungen unterhalb dieser Ebene sind kaum zu finden, wenn, dann stammen auch sie meist von Sprechern oder Funktionsträgem oppositioneller Gruppen. So kommt beispielsweise einmal die Herausgeberin der nicaraguanischen Oppositionszeitung La Prensa, Violeta Chamorro, ausführlich zu Wort. 2 9 2 290 PETER PHILIPPS: SPD rückt von den Sandinisten ab. Wischnewski: In Nicaragua gibt es keine positive Entwicklung zur Demokratie. Aus: DIE WELT Nr. 39 vom 15./16.2.1986, S. 1. - Der Artikel ist auf der Nachrichten-Seite erschienen. Zu dem auch an anderen Textstellen stark kommentierenden Beitrag gibt es sonst kein referierendes Pendant. 291
Aus: DIE WELT Nr. 267 vom 15.11.1985, S. 13.
292
WERNER THOMAS: Die mutige Witwe. Im Gespräch Violeta Chamorro. In: DIE WELT Nr. 192 vom 20.8.1986, S. 2.
127 Im Unterschied zur SZ befaßt sich nur ein Text der WELT mit Folgen oder Auswirkungen einer politischen/wirtschaftlichen Lage bzw. von Beschlüssen der "hohen Ebene" auf die Bevölkerung, wobei ausnahmsweise die Perspektive einer unteren Gesellschaftsgruppe miteinbezogen wurde.293
PERSONIFIZIERUNG aber findet in keinem der analytischen
Texte Anwendung, damit entfallt das Element der Anschaulichkeit und der Identifikationsmöglichkeit. Obwohl sich die Berichterstattung der untersuchten Texte schwerpunktmäßig mit innenbzw. außenpolitischen und wirtschaftlichen Krisen der lateinamerikanischen Länder beschäftigt, bietet die WELT nur in 23 Beiträgen oder 35,9 Prozent der Texte eine Begründung dafür an: 18 Texte (davon 7 Verlautbarungen) sehen die Krisen und Konflikte MONOFAKTORAL begründet. Nur in 5 Texten (davon 2 Verlautbarungen) ist die Begündung MULTIFAKTORAL. In beiden Fällen sind die Erklärungsschemata sehr einfach gehalten. Hier zunächst die MONOFAKTORALEN Darstellungen, also solche Erklärungen, die eine gegenwärtige Lage - implizit oder explizit - auf personales Handeln zurückführen, sei es auf die Politik oder Ideologie einer Regierung, sei es auf Aktionen einzelner Entscheidungsträger oder Gruppen: "... Für ihn [Elliot Abrams] konzentrieren sich viele Probleme Lateinamerikas auf den Konflikt zwischen den jungen Demokratien und der marxistischen Herausforderung. Kuba und Nicaragua rangieren im Mittelpunkt seines Feindbildes ..." 294 " ... Es liegt auf der Hand, daß sich eine solche spezielle Verschuldungspolitik nur wenige Jahre durchhalten läßt, weil die dramatisch rasch steigenden Zinslasten den Haushalt sonst in Kürze geradezu erdrosseln würden, wie dies am abschreckenden Beispiel anderer hochverschuldeter Länder (Brasilien, Mexiko, Polen, aber auch Bremen und des Saarlandes) zu studieren ist ..." 295
293
In seiner Reportage über die Fußballweltmeisterschaft 1986 in MEXIKO erwähnt WERNER THOMAS die Auswirkungen von Zwangsumsiedlung wegen des Sportereignisses, der Erdbebenkatastrophe, der dramatischen Wirtschaftslage und der Geschäftemacherei auf die mittellose Bevölkerung von Mexiko-Stadt. Siehe: Mexiko 86 - "Wir wollen Bohnen und keine Tore". In: DIE WELT Nr. 123 vom 30.5.1986, S. 3.
294
WERNER THOMAS: Reagans neuer Mann für Lateinamerika. In: DIE WELT Nr. 302 vom 30.12.1985, S. 5.
295
Diether Posser, damaliger Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, zitiert nach WILM HERLYN: Mexikos Finanzminister. Im Gespräch Diether Posser. In: DIE WELT Nr. 25 vom 30.1.1986, S. 2.
128 Da sich die meisten Texte der WELT mit der gespannten innen- und außenpolitischen Lage in Mittelamerika beschäftigen, sind auch hier die meisten Ursachenangaben zu finden. So werden in 9 Texten die Contra-Bewegungen und -Aktionen in NICARAGUA auf totalitäre Ziele und Willkür des Sandinisten-Regimes zurückgeführt. Diese Willkür ist in den Augen der WELT auch die Ursache, die einer Demokratisierung in NICARAGUA entgegensteht. Machtpolitisches Handeln der Kommunisten in Kuba und NICARAGUA, das sich im Export der Revolution, dem "Revolutionären Internationalismus", und in Hochrüstung ausdrückt, wird in weiteren 4 Artikeln als Ursache für außenpolitische Spannungen mit den USA und anderen mittelamerikanischen Nachbarstaaten gesehen. Das heißt, die USA werden nach Darstellung der WELT durch kommunistische Machtpolitik zur Reaktion gezwungen. Neben den oben zitierten Ursachenangaben beziehen sich die restlichen 3 MONOFAKTORALEN Erklärungen auf die innenpolitische Lage CHILES: Einerseits sieht die WELT die chilenischen Militärs angesichts "kommunistischen" Machtstrebens und Terrors zur Regierung gezwungen, um so einen zukünftigen Weg zur Demokratie zu bewahren. Andererseits aber führe Pinochets "Krallen an der Macht" und die Willkür seines Regimes zu Spannungen zwischen Kirche und Staat, zu Gewaltaktionen oppositioneller Gruppen. Es erschwere den Dialog mit der Opposition und verhindere die Demokratisierung. In 18,6 Prozent der Stichproben-Texte (12) findet sich
PERSONALISIERUNG. 296
Ähnlich wie die SZ personalisiert die WELT in erster Linie bei Pinochet und Reagan. So spricht die Zeitung im Zusammenhang mit der Contra-Unterstützung der US-Regierung von "Reagans Kampagne", "Reagans Wünschen", "Reagans Abstimmungssieg", davon, daß "Reagan einen Erfolg erringt". Die WELT macht aber in anderen Artikeln gleichzeitig deutlicher als die SZ, daß die Mittelamerikapolitik der Reagan-Administration nicht nur Ausdruck persönlicher Wünsche des Präsidenten ist. So deutet WERNER THOMAS beispielsweise in seinem Portrait des Leiters der Abteilung "Interamerikanische Angelegenheiten" im State Department, Elliott Abrams, an, daß hier auch andere Kräfte und Einflüsse zum Tragen kommen: "... Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Langhorne Motley besitzt der umgängliche State-Department-Mann nicht nur das Vertrauen der diversen LateinamerikaStrategen der Reagan-Regierung, sondern auch einflußreicher Kongreßvertreter. Darauf setzt er jetzt, wenn die bisher schwierigste Bewährungsprobe bevorsteht.
296
Darunter ist nur eine Personalisierung innerhalb einer Verlautbarung.
129 Es geht um Nicaragua. Elliott Abrams hat den Präsidenten davon überzeugt, daß die antisandinistischen Rebellen wieder eine militärische Unterstützung Washingtons erhalten müssen ... " M T Auch im Hinblick auf die Darstellung Pinochets wird die hier und da angewandte PERSONALISIERUNG dadurch relativiert, daß WERNER THOMAS bemüht ist, die politischen Strukturen um den General darzustellen. Wie oberflächlich sich auch die MULTIFAKTORALEN Ursachenangaben
ausnehmen,
möge das folgende repräsentative Beispiel aufzeigen: " . . . Die deutsche Hilfe solle zur Verbesserung der Lebensbedingungen der armen Mehrheit der Bevölkerung beitragen und damit die wirtschaftliche Not als eine der wesentlichen Ursachen auch für Guerilla-Bewegungen und Terrorismus beseitigen helfen ... " 2 9 S So zitiert Redakteur HEINZ HECK indirekt den Parlamentarischen Staatssekretär im Entwicklungsministerium, Volkmar Köhler (CDU). Die Feststellung impliziert - wenn auch ungenau - andere Ursachen. Allerdings wird die zentrale Frage nicht beantwortet: Wie kommt es zur wirtschaftlichen Not in Lateinamerika?
4.2.6
Krisenursache
Von den besagten 23 Beiträgen, die eine Ursachenangabe zu politischen oder wirtschaftlichen Krisen Lateinamerikas enthalten, erklären 16 Artikel diese Krisen implizit oder explizit als ENDOGEN verursacht, das heißt intern verschuldet - gleich, ob es die Wirtschaftskrisen MEXIKOS und BRASILIENS oder die politischen Konflikte CHILES und NICARAGUAS betrifft. Kein Artikel der WELT sieht eine Krise hauptsächlich EXOGEN begründet. 7 Texte liefern dem Leser eine ENDOGEN-EXOGENE Erklärung, in erster Linie auf NICARAGUA und CHILE bezogen. Hier wird die politische Lage meist durch EXOGENE Einflüsse kommunistischer Mächte wie Kuba mitbegründet.
297
WERNER THOMAS: Reagans neuer Mann für Lateinamerika. A.a.O. - Im gleichen Artikel und weiteren Beiträgen personalisiert THOMAS allerdings im Zusammenhang mit Elliott Abrams, wenn er ihn allzu salopp als "Lateinamerika-Chef" im State Department bezeichnet. Des weiteren personalisiert die WELT bei Somoza und in einem Fall bei Samey. Hier sei auf das WELT-Textbeispiel 5 im Anhang verwiesen.
298
HEINZ HECK: Entwicklungspolitik: Bonn will die Hilfe für Zentralamerika steigern. In: DIE WELT Nr. 83 vom 10.4.1986, S. 11.
130 Die Texte der Stichprobe liefern keine Angaben über mögliche ENDOGENE oder EXOGENE PROZESSE, das heißt, sie liefern keine theoretischen Erklärungsansätze, die die gegenwärtigen Probleme Lateinamerikas beleuchten könnten. Die historische Dimension ist ausgeklammert. Damit wird der WELT-Leser recht dürftig mit Ursachenerklärungen bedient und gewinnt so den Eindruck, daß Lateinamerika in erster Linie an seinen Problemen selbst schuld ist. Wenn ausländische Mächte negativ "am Werk" sind, dann östliche - und dies meist auf Einladung kommunistischer Machthaber (NICARAGUA) oder kommunistischer Oppositionsgruppen (CHILE) in Lateinamerika. Diese Feststellung wird durch die Analyseergebnisse zur zeitlichen Tiefe der Hintergrundinformation bzw. zu Zweck und Umfang von Geschichtsbezügen untermauert.
4.2.7
Zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation, Zweck und Umfang des Geschichtsbezugs
Es sei vorausgeschickt, daß - wie auch bei der SZ - die zeitliche Tiefe der WELT-Lateinamerikaberichterstattung über die jüngste Vergangenheit, d.h. in der Regel über die 70er Jahre, nicht hinausgeht. Wenn, dann handelt es sich um Analogien außerhalb Lateinamerikas oder um vage Angaben, die nichts über die gedachte zeitliche Tiefe aussagen. Von den 64 Texten enthalten 33 oder 51,6 Prozent Aussagen zum UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT einer Aktion, Lage, Entscheidung ... Dabei sind die Aussagen in der Regel knapp gehalten: 28 sind SCHLAGWORTARTIG, 5 sind KOMPRIMIERT. Nur 17 Texte oder 26,6 Prozent enthalten Äußerungen, die als VORGESCHICHTE kategorisierbar sind. Dabei handelt es sich aber mehrheitlich nicht um die VORGESCHICHTE zur gegenwärtigen Lage des betroffenen lateinamerikanischen Staates, sondern um analoge Ereignisse und Situationen in anderen Teilen Lateinamerikas oder in anderen Weltregionen. 299 Meist dient der Geschichtsbezug als ANALOGIE (10 Fälle), also als Argument mit dem Ziel, eine Prognose zu stellen. 300 299
2 Bezüge sollen ausdrücklich KONTINUITÄT und
Siehe WELT-Textbeispiel 5 im Anhang.
300 Vv'ie in der SZ tauchen in der WELT beispielsweise die Analogie Reagan-Hitler (in einer Verlautbarung Castros) und die Parallele Nicaragua-Vietnam im Zusammenhang mit dem US-Engagement für die nicaraguanische Contra-Bewegung (ebenfalls in Verlautbarung) auf.
131
DISKONTINUITÄT, 2 weitere KONTRAST aufzeigen. In 3 Fällen beziehen sich die unter VORGESCHICHTE vermerkten Aussagen auf bestimmte, auf die jüngste Vergangenheit begrenzte endogene Entwicklungen eines Landes, die seine heutige politische oder wirtschaftliche Lage erklären sollen. Hierbei sei auf einen Text hingewiesen, dessen historische Hintergrundinformationen schwer kategorisierbar erscheinen. Das im Anhang abgedruckte WELT-Textbeispiel 9 enthält - da es sich um ein Portrait des chilenischen Kardinals Fresno handelt - biographische Rückbezüge, die normalerweise unter UNMITTELBAREN
ZEITLICHEN
KONTEXT fallen würden. Weil diese biographischen Daten aber als Vehikel dazu benutzt werden, eine Entwicklung des Verhältnisses von Kirche, Regierung und Opposition darzustellen, fallen diese Angaben unter die Kategorie VORGESCHICHTE. Das Gesamtbild der Angaben zur VORGESCHICHTE wird dadurch getrübt, daß a) sie in der Regel von geringer oder undefinierbarer zeitlicher Tiefe sind; b) sie sich oft auf ein Symptom, d.h. auf den Teilaspekt einer Krise beziehen; c) es sich oft um zitierte Verlautbarungen mit politisch einseitiger Perspektive handelt bzw. um die argumentative Auseinandersetzung des Journalisten mit einer solchen Verlautbarung; d) die Geschichtsbezüge fast immer schlagwortartig und vage sind: So sind in den 17 Fällen von Geschichtsbezügen, die in der Kategorie VORGESCHICHTE vermerkt wurden, 12 Aussagen SCHLAGWORTARTIG, 3 Bezüge sind KOMPRIMIERT, nur 2 Bezüge AUSFÜHRLICH. Als repräsentative Beispiele mögen folgende Textausschnitte genügen: "... Doch Familienplanung ist ein heikles Thema. Es berührt traditionelle Denkweisen: ... Daß zuviele Menschen auch eine Belastung für das Staatsgefüge darstellen, hat sich jetzt allmählich herumgesprochen. Und selbst im katholischen Lateinamerika, wo die Regierungen - von wem auch immer geführt - sich zunächst mit Familienprogrammen schwergetan haben, findet ein Sinneswandel s t a t t . . . " 301 "In Brasilien, dem weltweit größten Kaffeeproduzenten, hat eine wochenlange Dürre den Kaffeeanbau geschädigt. Bereits vor zehn Jahren hatte die Naturkatastrophe, damals war es ein strenger Frost, die brasilianische Kaffeewirtschaft schwer getroffen. Bernhard Rothfos, Hamburg, führender europäischer Rohkaffeehändler, sieht in 301
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / DISKONTINUITÄT / SCHLAGWORTARTIG.- HANS OTZEN: Platzt der Erdball aus allen Nähten? In: DIE WELT Nr. 267 vom 15.11.1985, S. 28.
132
den beiden Ereignissen gewisse Parallelen: ... Noch nicht abzusehen ist, wie sich der Emteausfall auf die brasilianischen und damit auf die Rohkaffee-Weltmarktpreise auswirken wird. Nach dem schweren Frost im Juli 1975 kam es nicht sofort zur vollen Preisexplosion. Rothfos erinnert daran, daß sich die Preisentwicklung in Stufen vollzog."302 " ... [Juntamitglied, Luftwaffen-Kommandeur General Fernando] Matthei vertritt die Meinung, daß das Ausland die erregte Chile-Diskussion falsch führe. 'Eine wichtige Frage wird kaum berücksichtigt: Warum regieren wir Militärs?' Die Militärs würden regieren, weil die lieben Politiker Anfang der siebziger Jahre versagt hätten. 'Ein politisches Vakuum war entstanden, das die Marxisten nützen wollten. Allende hat uns nicht belogen. Er hat uns immer erklärt, daß er eine irreversible Revolution plane, eine Revolution nach kubanischem Vorbild'..." 303 " ... Unverständnis äußerte [der peruanische Schriftsteller Mario] Vargas, ... in welchem Umfang Nicaragua zu einem 'Mythos' für den 'Romantizismus' der westeuropäischen linken Intellektuellen geworden ist. Für ihn sei 'das bewegendste Moment' des heutigen Lateinamerika, daß die Demokratien auf dem Subkontinent - es gebe nur noch die vier Diktaturen Kuba und Nicaragua sowie Chile und Paraguay -'zum erstenmal von der Masse ihrer Bevölkerung wirklich getragen werden' ... " 304
4.2.8
Deutschland-Bezug
Einen Bezug zu Deutschland stellen 23 Texte, also 35, 9 Prozent, her. Davon fallen 16 Texte unter die Kategorie RELATION. In der Mehrheit handelt es sich hierbei um Verlautbarungen, Empfehlungen oder Absichtserklärungen deutscher Politiker oder sonstiger Entscheidungsträger zu Fragen der Verschuldungskrise, der Entwicklungshilfe für LATEINAMERIKA im allgemeinen und NICARAGUA im besonderen. Im übrigen kritisiert der peruanische Dichter Vargas Llosa den Nicaragua- Mythos der linken Intellektuellen Westeuropas, und Mitglieder der chilenischen Regierung werfen der deutschen Presse eine einseitige Berichterstattungspraxis vor. Der Rest der Texte präsentiert einen Deutschland-Bezug im Zusammenhang mit statistischen Vergleichen zur Schuldenkrise, zum Bevölkerungszuwachs, reflektiert die Strategie der sieben großen Industrienationen zur
302
Textbeispiel für VORGESCHICHTE-Geschichtsbezug / ANALOGIE / KOMPRIMIERT / Prognose. - dpa/vwd: Kaffee-Emte in Brasilien bedroht. In: DIE WELT Nr. 283 vom 5.12.1985, S. 14.
303
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / "zeitlich begrenzter endogener Prozeß" / KOMPRIMIERT. - WERNER THOMAS: "Wir tun das, was wir für richtig halten". In: DIE WELT Nr. 227 vom 30.9.1986, S. 3.
304
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / KONTRAST / SCHLAGWORTARTIG. - gba: Der Dichter aus Peru mahnt Westeuropa. A.a.O. - Das Beispiel für AUSFÜHRLICHE VORGESCHICHTE ist WELT-Textbeispiel 5 im Anhang.
133 Bekämpfung der Schuldenkrise, beschreibt die Preistreiberei in MEXIKO während der Fußballweltmeisterschaft (unter denen auch deutsche Besucher zu leiden haben), berichtet, daß ein deutsches Kamerateam in Santiago beim Filmen unter Beschuß gekommen ist. Der Tenor dieser Ausführungen ist insgesamt lateinamerika-kritisch, sieht man einmal von den Äußerungen der lateinamerikanischen
Seite ab: Wirtschaftspolitisch erscheint die
Bundesrepublik (zu den "guten Schuldnern" gehörig) als eine "helfende Industrienation", deren Vertreter verstärkte Entwicklungshilfe für die dritte Welt und
Lateinamerika
("schlechte Schuldner") ankündigen oder die lateinamerikanische "Verschuldungspolitik" kritisieren bzw. sich mit Ratschlägen und Warnungen zu Wort melden. 309 Als Lehrmeister in Fragen der Demokratisierung erscheinen bundesdeutsche Politiker bei der WELT besonders in Hinblick auf die politischen Verhältnisse in NICARAGUA. Hier wird Kritik von Politikern aller Parteien an der sandinistischen Regierung wiedergegeben. Der Eindruck des "helfenden Lehrmeisters" entsteht vor allem deshalb, weil die lateinamerikanischen Länder an ihren Krisen als selbst schuld erscheinen. "Wir" stehen da als kopfschüttelnde Betrachter der "anderen". Dieser Eindruck verstärkt sich noch mit Blick auf die WELT-Aussagen, die unter die Kategorie EXPLIZITE NÄHE fallen: Insgesamt enthalten 7 Artikel Angaben über EXPLIZITE NÄHE. 2 Texte befassen sich mit der Auswirkung der Dürrekatastrophe in BRASILIEN auf die dortige Kaffee-Ernte und die hiesigen Kaffeepreise. Ein Kommentar legt die Auswirkungen der lateinamerikanischen Verschuldungskrise auf das internationale Finanzsystem und auf deutsche Banken insbesondere dar. Die restlichen Texte setzen sich mit den Hintergründen der Entführung deutscher Aufbauhelfer in NICARAGUA auseinander. Mit Ausnahme der Texte über die Kaffeepreisentwicklung kommt in den Artikeln - allesamt Überlegungen von WELT-Redakteuren - ein starker ethnozentrischer Tenor zum Ausdruck - stark deshalb, weil hier Dramatisierungen mit einem Appell an die nationalen Gefühle verquickt werden. Es bleibt hier das Bild haften, daß "nirgendwo auf der Welt junge Bundesbürger in einer so gefährlichen Umwelt" wie in NICARAGUA leben, weil die regierenden Sandinisten solche Zwischenfälle wie die mutmaßliche Entführung durch Contra-Gruppen dazu benutzen, mit Bonn "zu spielen", die deutsche Regierung "zu erpressen", ja sogar selbst hinter den Vorfällen stecken. Auch lateinamerikanische Staaten wie Peru und MEXIKO bedrohen mit ihrer Schuldenpolitik das internationale Finanz-
3M
Siehe WELT-Textbeispiele 2 und 3 im Anhang.
134 system, und das könnte auch für deutsche Banken einen "GAU" bedeuten, hätten sie nicht reichlich vorgesorgt.306 Die unter den Kategorien RELATION und EXPLIZITE NÄHE festgehaltenen Äußerungen dürften nicht dazu angetan sein, Rezipienten für die Probleme vieler lateinamerikanischer Länder sensibel zu machen, sondern sie wecken zum einen das Gefühl nationaler Überlegenheit ("helfender Lehrmeister"), zum anderen Angst vor der Gefahr, die "uns" von den "anderen" her droht (wenn "wir" nicht Vorsorgen).
4.2.9
Handlungsaufforderung
Welcher Art sind folglich die HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN, die implizit oder appellarisch in der WELT-Berichterstattung erscheinen? Insgesamt 17 Texte oder 26,5 Prozent enthalten
IMPLIZIT
oder
EXPLIZIT
eine
HANDLUNGSAUFFORDERUNG
- mehrheitlich aus dem Munde von Politikern oder namhaften Wirtschaftsexperten - die sich über die Köpfe des Lesers hinweg meist an die Adresse von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgem richten, ohne in der Adressenangabe immer präzise zu sein. Von den 7 IMPLIZITEN HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN gehen bis auf eine Ausnahme alle auf den journalistischen Verfasser zurück: In 2 Texten betont WERNER THOMAS, daß die USA in NICARAGUA direkt intervenieren müssen (ohne, daß er die US-Regierung dazu ausdrücklich auffordert), wenn sie sich nicht mit einem zweiten KUBA abfinden wollen. Daß für ihn ein solches NICARAGUA inakzeptabel ist, wird in THOMAS' Beschreibung über die politische Entwicklung des Landes deutlich.307 Eine IMPLIZITE Unterlassungs-AUFFORDERUNG hinsichtlich NICARAGUA ergeht an die Adresse der deutschen Medien, wenn MARTIN KREILE sie in seinem Kommentar anklagt, durch Übernahme und Verbreitung sandinistischer Desinformation am Tode junger deutscher Illusionisten schuldig zu sein.308
306
Siehe WELT-Textbeispiele 1, 6 und 8 im Anhang.
307
Siehe WELT-Textbeispiel 5 im Anhang.
308
Siehe WELT-Textbeispiel 7 im Anhang.
135
2 weitere Texte richten sich mit Empfehlungen zur Bekämpfung der Schuldenkrise, die sich aus der Argumentation IMPLIZIT ergeben, an die Entscheidungsträger in internationalen Finanzangelegenheiten im allgemeinen, an die US-Regierung im besonderen. Indem Autor HANS OTZEN über die besorgniserregende Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt (inklusive Lateinamerika) und deren Ursachen schreibt, fordert er indirekt zu einer Problemlösung auf, ohne aber selbst in zufriedenstellender Weise Lösungswege aufzuzeigen. 309 An die Adresse westlicher Industrienationen appelliert MEXIKOS Finanzminister Petricioli wohl, wenn er bei Präsentation des neuen Wirtschaftsprogramms betont: "Das Programm sei die Antwort auf eine 'neue Krise', die nicht nur durch Anstrengungen im Inneren bewältigt werden könne." 310 Von den 10 EXPLIZITEN HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN sind allein 9 nichtjournalistische Verlautbarungen: Deutlicher als sein Finanzminister wird MEXIKOS Präsident de la Madrid, wenn er die Gläubigerländer auffordert, " ... die 'Suche nach Lösungen muß ein Verhandlungsprozeß sein, und die Lösungen müssen gemeinsam getragen werden, gerecht und dauerhaft' sein. ... es sei 'irreal und ungerecht' zu fordern, die Krise 'nur durch interne Anstrengungen und Opfer' zu bewältigen." 311 CDU-Generalsekretär Geißler appelliert an die westlichen Demokratien, auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für LATEINAMERIKA zu verbessern - inwiefern, bleibt offen. Wie wenig die WELT allerdings von MEXIKOS Schuldenbekämpfungskonzept hält, legt sie in einem späteren Kommentar dar. 312 Einige Artikel referieren die Forderungen bundesdeutscher Politiker, die teils an die eigene Partei, teils an die Gegenpartei gerichtet sind, die Entwicklungshilfe an NICARAGUA wieder aufzunehmen, diese jedoch an die Einhaltung bestimmter politischer Bedingungen zu knüpfen; ohne falsche Rücksichtnahme deutliche Kritik an den Menschenrechtsver-
309
HANS OTZEN: Platzt der Erdball bald aus allen Nähten? A.a.O.
310 AFP/dpa: Mexiko / Wirtschaftsprogramm setzt auf Wachstum. Neue Schuldenpolitik geplant. In: DIE WELT Nr. 144 vom 25.6.1986, S. 12. 311
DW.: Regionalen Wirtschaftsgipfel für Lateinamerika gefordert. Mexiko lehnt Druck auf Schuldnerländer von außen ab. In: DIE WELT Nr. 96 vom 25.4.1986, S. 1.
312
Siehe WELT-Textbeispiel 1 im Anhang.
136 letzungen in NICARAGUA zu üben; die eigene NICARAGUA-Politik zu überdenken; mit allen der Bundesregierung zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wiederherstellung der Demokratie in CHILE beizutragen. Da paßt es ins Bild, wenn der peruanische Schriftsteller Vargas in der WELT den Demokratien Westeuropas und der Bundesrepublik rät, nicht dieselbe Politik gegenüber Pinochet und Castro wie gegenüber den demokratischen Regierungen in Peru und Argentinien zu führen. Warnungen an die Adresse junger deutscher "Idealisten", sich als Aufbauhelfer in NICARAGUA zu engagieren, ergehen EXPLIZIT durch die Bundesregierung, IMPLIZIT durch die WELT-Redakteure. Wie schon im Hinblick auf den Deutschland-Bezug deutlich geworden, so kommt das Bild des mal lehrmeisternden, mal moralisierenden, mal kopfschüttelnden, mal strafenden bundesdeutschen Betrachters bzw. Helfers auch in den Handlungsempfehlungen voll zum Tragen. Mit Pathos zutage tritt der Ethnozentrismus gegenüber Lateinamerika in dem einzigen journalistischen HANDLUNGSAPPELL, der innerhalb dieser Stichprobe vorliegt: Im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Entführung bundesdeutscher Aufbauhelfer durch nicaraguanische Contras rät HERBERT FELDER: "Man muß den Strategen im Auswärtigen Amt einen kühlen Kopf empfehlen. Jetzt dürfen sie nicht in Panik geraten; sie müssen vielmehr gegenüber den kommunistischen Machthabem in Managua auftreten wie Vertreter einer zivilisierten Nation, die etwas gilt in der Welt... ." 313
4.2.10 Zusammenfassung
Im Vergleich zur Berichterstattung der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG fällt bei der WELT der niedrigere Grad an Verlautbarungsjournalismus positiv auf. Das, was die SZ in zielen Kurzartikeln in Verlautbarungsform präsentiert, gibt die WELT gerne gebündelt un i mit Interpretationen versehen wieder. Auch ist der mit knapp 70 Prozent hohe Anteil an redaktioneller oder korrespondentischer Berichterstattung, die sich in vergleichweise beachtlichem Maße in INTERPRETIERENDEN und KOMMENTIERENDEN TEXTSORTEN niederschlägt, positiv zu bewerten. Ist damit der WELT aber gleichzeitig eine anspruchvollere Berichterstattungspraxis zuzuschreiben? Diese Frage muß mit Blick auf die analytische und argumentative Qualität der untersuchten Texte verneint werden:
313
Siehe WELT-Textbeispiel 6 im Anhang.
137 Schwerpunkt der Lateinamerika-Berichterstattung der WELT ist NICARAGUA - sowohl in der Anzahl an Texten als auch in der häufigen Publikation an exponierter Stelle. Ist bei der Darstellung Lateinamerikas eine überwiegend monothematische, gesellschaftlich und politisch monoperspektivische Berichterstattung auffällig, so treten diese Eigenschaften beim Thema NICARAGUA besonders unverhüllt zutage. Ist schon generell ein Metropolenjoumalismus zu bedauern, so kommt bei der NICARAGUA-Berichterstattung noch die Milieu- und Perspektivbeschränkung hinzu. Denn vermutlich alle hauseigenen Texte über dieses mittelamerikanische Land wurden in der Zentralredaktion oder im Ausland - meist in Miami - verfaßt. Diese Beschränkung kommt in der monoperspektivischen Auseinandersetzung mit den Vorgängen in NICARAGUA voll zum Tragen. Die WELT versucht, ihrer Perspektive hinsichtlich NICARAGUA dadurch Rechtfertigung und Nachdruck zu verleihen, daß sie eine von ihrer eigenen Sichtweise abweichende Berichterstattung von vornherein abwertet oder durch Verlautbarungen Dritter abwerten läßt. Die in INTERPRETIERENDEN und KOMMENTIERENDEN Textsorten erwartete Analyse- und Argumentationsqualität, die sich in der Präsentation von These, Gegenthese und Synthese, im Abwägen von Argumenten äußern sollte, enttäuscht aus obengenannten Gründen. Sie wird zusätzlich geschmälert durch a) unpräzise Angaben der Informationsquellen. Das Gewicht einer Aussage hängt von der Kompetenz der Informanten ab. Da in der Regel die Quellen anonym bleiben, oder es sich um unbekannte Personen handelt, deren Kompetenz für den Leser nicht ersichtlich ist, wird der Wert der Aussagen stark beeinträchtigt. Häufig stellen aber deren Verlautbarungen gerade den Kern der journalistischen Interpretation und Argumentation dar, ihre gesellschaftliche oder politische Monoperspektive wird ohne Einschränkung übernommen; b) hochemotionale Anspielungen, teils verknüpft mit einem Appell an das deutsche Nationalgefühl; c) Mutmaßungen bzw. Behauptungen, die nicht belegt werden, aber ebenfalls oft den Argumentationskern bilden; d) einen mangelnden logischen Aufbau; e) irreführende oder nicht nachvollziehbare Verknüpfungen.
138 Hinzu kommt, daß - insgesamt gesehen - die Ursachenerklärungen für die gegenwärtigen Krisen Lateinamerikas weder in zeitlicher Tiefe noch im Umfang befriedigen und ohnehin nur auf einzelne Krisensymptome eingehen. Die Untersuchung der in der Berichterstattung gegebenen Deutschland-Bezüge und HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN macht eine ethnozentrische Perspektive deutlich. "Wir" erscheinen als kopfschüttelnde Betrachter der Vorgänge in Lateinamerika. Sensibilität für die Probleme dieser Region wird nicht geweckt. Die Lateinamerika-Berichterstattung der WELT - so könnte man als Fazit festhalten wirkt nicht überzeugend, das heißt, sie regt den Rezipienten nicht zum Überdenken der eigenen Perspektive an: Sie wird die Meinung der Leser, die mit der WELT-Einschätzung übereinstimmen, festigen, aber Leser mit anderer Sichtweise vor den Kopf stoßen und die Rezeption ihrer eigenen Texte dadurch blockieren. Die Mehrzahl der untersuchten interpretierenden und kommentierenden WELT-Texte sind in ihrer Qualität von den genannten Schwächen beeinträchtigt. Teils treten die Mängel vereinzelt auf, teil massiv - besonders dort, wo es um die Ost-West-Dimension in den Krisen Lateinamerikas geht.314
314
Siehe WELT-Beispieltexte im Anhang, welche die ständig wiederkehrenden Schwächen in Analyse und Argumentation der WELT repräsentieren. Ihnen werden zwei Texte als positive Beispiele gegenübergestellt.
139 4.3
Lateinamerika-Berichterstattung der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG
Insgesamt wurden im Untersuchungszeitraum in der FAZ 526 Texte über BRASILIEN, CHILE, MEXIKO. NICARAGUA bzw. LATEINAMERIKA gezählt. Das Stichprobenverfahren ergab ein Sample von 103 .Artikeln, also 19,6 Prozent oder knapp ein Fünftel der erfaßten Texte.
4.3.1
Länderverteilung und Thematisierung
Anders als bei SZ und WELT ist die Lateinamerika-Berichterstattung bei der FAZ gleichmäßiger auf die einzelnen Länder verteilt, und zwar folgendermaßen:
NICARAGUA
31 Texte
30,1 %
MEXIKO
26 Texte
25,2 %
CHILE
22 Texte
21,4%
BRASILIEN
13 Texte
12.6 %
LATEINAMERIKA
11 Texte
10,7 %
103 Texte
100,0 %
Insgesamt
Die im Gegensatz zu den anderen Zeitungen vergleichsweise hohe Anzahl an Texten über MEXIKO erklärt sich durch einen mexikanischen .Antrag auf Neukredite, den die FAZ als Zeitung mit einem wirtschaftlichen Schwerpunkt im Untersuchungszeitraum intensiv diskutierte. Schließlich sind mit einem solchen Antrag deutsche Banken direkt und indirekt angesprochen. NICARAGUA: Wenngleich auch die FAZ NICARAGUA im Spannungsfeld Ost-West thematisiert, so legt sie doch - anders als SZ und WELT - das Gewicht ihrer Berichterstattung nicht allein auf die Diskussion der US-Mittelamerika-Politik bzw. der US-Contra-Unterstützung. Unter diesen Stichpunkten sind S eher knapp gehaltene .Artikel im
Untersuchungszeitraum
erschienen. Sie geben zumeist Verlautbarungen und Beschlüsse der amerikanischen und nicaraguanischen Regierungsseile wieder. Hinzu kommen S Beiträge zu Contra-Aktivitäten, darunter mehrheitlich Artikel zur Entführung und Ermordung deutscher Aufbauhelfer in NICARAGUA. Sie setzen sich aber weniger kritisch mit der Contra auseinander als mit der Politik der sandinistischen Regierung.
140 Uber die Contra-Bewegungen hinaus versucht die FAZ, in 11 zum Teil sehr ausführlichen Artikeln ein umfassendes Bild über die innenpolitische Lage des Landes zu vermitteln. Die Beiträge über die Situation der oppositionellen Parteien in NICARAGUA, über die Lage der katholischen Kirche bzw. über das Verhältnis zwischen "Volkskirche" - sprich Staatskirche - und katholischer Kirche, über den nicaraguanischen Sicherheitsdienst, über Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und Pressezensur zeichnen ebenfalls ein negatives Bild der nicaraguanischen Regierung. Anders als die WELT arbeitet die FAZ aber das Bild einer komplexeren oppositionellen Landschaft als die der Contra-Bewegungen heraus, zeichnet - wenn auch nur in einem Teilausschnitt -
auf anschauliche Weise die
Stimmungen in der Bevölkerung nach und vermittelt so die Vorstellung von unterstützenswerten, hoffnungsvollen Alternativen zu Contra-Kampf oder einer möglichen USIntervention. Dabei läßt die Zeitung - wenn auch unausgewogen - in erster Linie NICARAGUANER zu Worte kommen: Vertretern der katholischen Kirche, der oppositionellen Parteien wie christlich-sozialen Politikern, den Herausgebern der Tageszeitung La Prensa, Joaquin und Violeta Chamorro, und einem ehemaligen Sicherheitsbeamten wird breiter Raum zur Darstellung eingeräumt, die sandinistische Seite kommt dagegen zu kurz. Doch wenngleich der Leser ein Bild der sandinistischen Regierung als sowjetgestützte, außenpolitisch aggressive Tyrannei erhält, die ihre Nachbarn in ihrer Sicherheit bedroht, so erscheint es, als unterstütze die FAZ die US-NICARAGUA-Politik nicht so vehement wie die WELT. Zum einen aus den oben genannten Gründen, zum anderen, weil sie wiederholt auch explizite Kritik an der US-Contra-Hilfe wiedergibt, wie die Heiner Geißlers zum Beispiel: "Geißler hob hervor, daß die CDU die 'Contras' weder finanziell noch moralisch unterstütze, auch wenn sie Verständnis für diejenigen habe, die keinen gewaltlosen Ausweg mehr sähen und deshalb in den offenen Widerstand gegangen seien. 'Die Hilfe Washingtons für die Contras findet nicht die Unterstützung der CDU', sagte Geißler. Die militärischen Aktionen der Rebellen behinderten das Bemühen um eine Demokratisierung und lieferten den Sandinisten 'einen billigen Vorwand, die Beibehaltung ihrer Diktatur zu begründen'." 318 Die restlichen 4 Texte widmen sich jeweils den Themen: partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Hessen und NICARAGUA, chinesische Wirtschaftshilfe, Waffenimporte aus der UdSSR und Flüchtlingstod an der nicaraguanischen Grenze.
315
C.G.: "Sandinisten mißbrauchen Aufbauhelfer". Christlich-soziale Politiker aus Nicaragua in Bonn / Dialog gefordert. In: FAZ Nr. 239 vom 15.10.19S6, S. 4.
141
Hinsichtlich der Frage nach wirtschaftspolitischer Berichterstattung über NICARAGUA gilt also das gleiche wie für SZ und WELT. Insgesamt gesehen aber fällt die NICARAGUA-Berichterstattung thematisch vielfaltiger aus als bei diesen. MEXIKO: Auch die MEXIKO-Berichterstattung erscheint thematisch weiter gefächert als die der beiden zuvor untersuchten Zeitungen. Wenngleich der Schwerpunkt mit 15 Beiträgen auf dem Feld der Wirtschaft liegt - 11 Texte behandeln allein die Verschuldungskrise
316
und
den Wunsch MEXIKOS nach Neukrediten, die übrigen thematisieren Kapitalflucht, Arbeitslosigkeit. die Folgen des ölpreisverfalls und den Tourismus als Wirtschaftsfaktor -, so widmet die FAZ der Kultur und indianischen Kulturgeschichte MEXIKOS mit 3 Beiträgen breiten Raum. Breit deshalb, weil hier die beiden einzigen umfangmäßig EXPONIERTEN Texte in der MEXIKO-Berichterstattung zu finden sind. In diesem Zusammenhang wird auch auf die literarische Tradition des Landes hingewiesen. 2 Texte gehören zum Themenfeld Politik. Sie behandeln die Beziehungen zwischen MEXIKO und den USA sowie MEXIKOS Einstellung zur Rüstungskontrolle. Die restlichen 6 Artikel behandeln Unglücke, die Erdbebenkatastrophe und Drogenkriminalität. CHILE: Wie schon SZ und WELT, so beschränkt sich die FAZ fast ausschließlich auf die innenpolitische Situation des Landes, ist also monothematisch: S Texte bewegen sich im Themenfeld Staat und Opposition, 3 Beiträge behandeln die Forderung nach Demokratisierung. 2 Artikel berichten über Terroranschläge. 5 über Belagerungszustand und Terrorismusbekämpfung. Die restlichen 4 Texte berichten über politische Reaktionen während eines Besuches von US-Senator Kennedy, über eine Gerichtsentscheidung zu mutmaßlichem Polizeiterror, über ein Unglück und über die Zahl der Aidstoten in CHILE. Es ist auffällig, daß die FAZ im Rahmen der untersuchten CHILE-Berichterstattung keine direkte Kommentierung zu dem im Lande herrschenden Regierungsstil abgibt, wie dies im Falle NICARAGUAS geschieht - sieht man einmal von gelegentlich auftauchenden Titulaturen wie "Regime" ab. Gleichzeitig beschreibt CHILE-Korrespondent WILLY OTTEN
316
Es fällt in diesem Zusammenhang auf, daß die FAZ wechselweise unterschiedliche Angaben über die Höhe der Verschuldung MEXIKOS macht: Mal wird die Summe von 97 Milliarden Dollar, mal 100 Mrd., mal 9S Mrd.. dann wieder 97 Mrd. USDollar angegeben. Gleichzeitig heißt es. daß die Verschuldung steige. Eine einheitliche Angabe wäre wünschenswert, auch wenn es "nur" um ein paar Milliarden geht.
142 PHILIPPENGRACHT im Themenfeld Staat und Opposition die politische Landschaft CHILES, d.h. die Zerstrittenheit unter den Oppositionsparteien und deren mangelnde Abgrenzung zu extremistischen Gruppierungen, die eine Demokratisierung erschwere und Pinochet aufgrund breiter Furcht vor dem politischen Chaos an der Macht halte.
317
In
diesem Zusammenhang sei noch auf ein Paradoxon in der CHILE-Berichterstattung hingewiesen: Die FAZ hat im Untersuchungszeitraum einige Beiträge über NICARAGUA und CHILE mit Karrikaturen versehen. Während die Karrikaturen Ortegas und der sandinistischen Regierung das in den Texten entworfene Bild unterstreichen, laufen die Karrikaturen über die Position Pinochets in CHILE zu den textlichen Inhalten konträr: Entwirft die Berichterstattung das Bild einer uneinigen Opposition zum Vorteil von Pinochets Position und schließlich das Bild eines aus dem Attentatsversuch politisch gestärkt hervorgehenden Pinochet, zeichnen die Karrikaturen einen Regierungschef "auf dem absteigenden Ast", über dem Gewitterwolken aufziehen, einen Pinochet auf einem Regierungssessel ohne Sitzfläche oder auf einem Regierungsstuhl auf stark bröckelndem Boden.
318
BRASILIEN: Knapp die Hälfte der BRASILIEN-Berichterstattung - 6 Artikel - hat wirtschaftliche Aspekte zum Inhalt, dennoch wird die wirtschaftliche Lage des Landes mit der höchsten Auslandsverschuldung nicht so breit abgehandelt bzw. analysiert wie dies im Falle MEXIKOS geschieht: 2 Hintergrundberichte beschreiben Konzepte zur Wirtschaftssanierung und erläutern deren Gründe. Die restlichen 4 Texte sind Nachrichten über die Auslandsverschuldung, über das Kaffee-Exportgeschäft und über Kurzarbeit bei Mercedes-Benz do Brasil. Dagegen liefert die FAZ im Unterschied zu den beiden anderen Tageszeitungen mit 2 umfangreichen Korrespondentenberichten Einblicke in die politische Machtstruktur BRASILIENS - in Präsident Sameys Möglichkeiten, Entscheidungen durchzusetzen, und in die Parlamentsarbeit. Auf diese Weise macht sie die Schwierigkeiten im Bemühen um eine nachhaltige Demokratisierung und wirtschaftliche Sanierung des Landes deutlich. Die übrigen 5 Texte berichten über die Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zwischen BRASILIEN und der Bundesrepublik Deutschland, über die Zahl der Aidstoten, über Kriminalität, Polizei und Justiz.
317
Siehe FAZ-Beispieltext 6 im Anhang.
318
Siehe Karrikatur zum FAZ-Beispieltext 6 im Anhang.
143 In die unter NICARAGUA-, MEXIKO-, CHILE- und
BRASILIEN-Berichterstattung
dargestellte Themenpalette fügen sich auch die Informationen über LATEINAMERIKA weitgehend ein: Die Inhalte drehen sich um die Verschuldungskrise lateinamerikanischer Länder (4 Texte), Friedensbemühungen um Mittelamerika (3 Texte), Demokratisierungsforderungen an die Regierungen CHILES und NICARAGUAS (1 Text), territoriale Ansprüche (1 Text), inneramerikanische Beziehungen (1 Text) und das Kaffee-Exportgeschäft (1 Text). Insgesamt betrachtet zeigt sich die Information der FAZ thematisch vielfältiger als die der SZ und der WELT. Teilweise setzt sie zudem andere Schwerpunkte als diese. Auch ist positiv anzumerken, daß der Grad an Verlautbarungs-Berichterstattung mit 23,3 Prozent (24 Texte) noch unter dem recht niedrigen Wert von 26,6 Prozent bei der WELT (SZ 42,3 Prozent) liegt.
4.3.2
Plazierung
Die Lateinamerika-Berichterstattung der FAZ ist wie folgt plaziert:
EXPONIERT
17 Texte ( 11 Front/6 Umfang)
16,5 %
NICHT-EXPONIERT
86 Texte
83,5 %
103 Texte
100,0 %
Insgesamt
Allein 10 EXPONIERTE Texte nehmen kritischen Bezug auf NICARAGUA, fast alle erscheinen auf Seite 1. Die auf der Titelseite publizierten Artikel haben meist einen Deutschlandbezug - sei es. daß sich ein deutscher Politiker äußert, oder Sprecher diverser Institutionen bzw. ein FAZ-Kommentator zu der Entführung oder Ermordung deutscher Brigadisten in NICARAGUA Stellung nehmen, sei es, daß ausländische prominente Persönlichkeiten wie Reagan, lateinamerikanische Bischöfe oder die Herausgeberin der nicaraguanischen Zeitung La Prensa, Violeta Chamorro, Kritik an der sandinistischen Regierung üben und zu einer entsprechenden Sichtweise auffordern. Die NICARAGUATexte von Seite 1 unterstreichen grundsätzlich das kritische Bild, daß die FAZ von den politischen Verhältnissen in NICARAGUA mit ihrer Berichterstattung zeichnet. Die restlichen EXPONIERTEN Texte befassen sich mit der Verschuldungskrise LATEIN AMERIKAS, insbesondere MEXIKOS, ferner mit mexikanischer Kultur in Geschichte und Gegenwart, mit politischen Reaktionen in Chile auf einen Besuch des US-Senators Edward
144 Kennedy, mit Kritik an den politischen Verhältnissen in CHILE und mit Demonstrationen in CHILE, in deren Verlauf ein deutsches Kamerateam unter Beschuß gerät.
4.3.3
Verfasser und Berichtsort
Obwohl die FAZ über mehr Korrespondenten, bzw. Reisekorrespondenten verfügt als die WELT oder die SZ, fällt der hohe Anteil wiedergegebener Agenturmeldungen (47,5 Prozent) auf. Dementsprechend erreicht die redaktionseigene und korrespondentische Berichterstattung
über Lateinamerika nicht das Gewicht wie bei der WELT (67,2 Prozent),
übertrifft jedoch den sehr niedrigen Anteil der SZ (14,4 Prozent). Im Einzelnen teilen sich die Texte nach ihren Verfassern folgendermaßen auf:
AGENTUR
49 Texte 319
-
47,5 %
42 Texte 320
=
40,8 %
321
=
11,7%
KORRESPONDENT / bzw. Reisekorrespondent REDAKTEUR Verfasser unklar Insgesamt
12 Texte 103 Texte
= -
100,0%
Von den 103 Beiträgen wurden 48, d.h. 46,6 Prozent, VOR ORT verfaßt (40 direkt, 8 im Land), allerdings gilt auch im Falle der FAZ: Berichtet wird grundsätzlich aus den bekannten lateinamerikanischen Metropolen. Eine Ausnahme bilden hier nur 2 Texte, das Feature von MICHAEL SOMMER über die Positionen von Volkskirche und katholischer 319
Darunter 10 AFP-, 9 AP-, 9 dpa-, 5 vwd-, 5 Reuter-Texte und je ein Artikel von epd und KNA, sowie 9 Beiträge, die jeweils aus zwei oder drei Agenturtexten zusammengestellt wurden.
320
Davon stammen 18 Beiträge aus der Feder von FAZ-Lateinamerika-Korrespondent WILLY OTTEN PHILIPPENGRACHT, 4 Texte gehen auf den LateinamerikaBerichterstatter MARTIN GESTER zurück. Die übrigen Artikel wurden von diversen Reiseberichterstattem verfaßt, darunter mehrere von HILDEGARD STAUSBERG und WALTER HAUBRICH (Madrid). Hinzu kommen Beiträge von Korrespondenten mit Sitz in Washington und anderen, auch bundesdeutschen Städten, die mit Lateinamerika-Bezug berichten.
321
Mit Ausnahme von 4 Artikeln aus der Feder von HILDEGARD STAUSBERG und einem Beitrag von ERIC-MICHAEL BADER sind die Texte von diversen Redakteuren verfaßt, deren Interessenschwerpunkt laut FAZ-Angaben nicht unbedingt auf Lateinamerika fällt.
145 Kirche in NICARAGUA und HANS DIETER KLEYs Reisebericht über das historische und moderne MEXIKO. 3 2 2 6 Texte oder 5,8 Prozent entstanden im BENACHBARTEN AUSLAND, sie berichten von Tagungen, Konferenzen, die dort stattfanden, bzw. von Verlautbarungen, die dort fielen. Sie betreffen NICARAGUA und CHILE. Perspektivbeschränkungen wie im Falle der WELT lassen sich hier also nicht herauslesen. Die FAZ-Korrespondenten berichten in der Regel auch kritisches VOR ORT. 12 Artikel, d.h. 11,7 Prozent, wurden in der ZENTRALREDAKTION geschrieben. 13 Texte oder 12,6 Prozent tragen keine Ortsangabe. Es handelt sich hier um Kurzmeldungen aus Agenturquellen. Die restlichen 24 Artikel (23,3 Prozent) sind im weiteren Ausland verfaßt. Sie berichten über Tagungen, Verlautbarungen, Entscheidungen etc. im Ausland, die Lateinamerika bzw. die vier Untersuchungsländer betreffen.
4.3.4
Textgattung
Zieht man den Eigenanteil der FAZ an ihrer Lateinamerika-Berichterstattung von gut 52 Prozent
(redaktionell und korrespondentisch verfaßt) in Betracht, so erstaunt
das
Textsorten-Verhältnis nicht wenig:
REFERIEREND
80 Texte 3 2 3
INTERPRETIEREND
16 Texte 3 2 4
KOMMENTIEREND Insgesamt
-
15,5 %
32
7 Texte ' 103 Texte
77,7 % 6,8 %
-
100,0 %
322
MICHAEL SOMMER: Zwei Männer aus La Libertad. Daniel Ortega und Kardinal Obando - Wem folgen Nicaraguas Katholiken? In: FAZ Nr. 8 vom 10.1.1986, S. 10. - HANS DIETER KLEY: Magische Rituale neben der Moderne. In der Heimat der Mayas - ü b e r Land im Süden Mexikos. In FAZ Nr. 111 vom 15.5.1986, Reiseblatt, S. R3.
323
Darunter 51 Nachrichten und 29 Berichte, einschließlich zum Teil sehr umfangreicher referierender Korrespondentenberichte.
324
Darunter 9 Interpretationen bzw. interpretierende Korrespondentenberichte, ein Bildtext, ein Reisebericht, eine Reportage, ein Portrait, ein Feature und zwei Analysen.
325
Darunter 6 Kommentare, grundsätzlich argumentativen Typs oder abwägend ("Einerseits-Andererseits-Kommentar"). und ein Essay. Da das Essay als Textsorte sehr meinungsbetont ist, wurde es hier unter die Kategorie KOMMENTIEREND gezählt.
146
Das Ergebnis erstaunt deshalb, weil sich die FAZ auch als ein Hintergrundmedium versteht ("Wer nicht geneigt ist, die Wolkenbildung darzustellen, aus der eines Tages der Blitz hervorbrechen wird, der läßt den Leser im Stich"). Dennoch legt sie den Schweipunkt klar auf Textgattungen, die grundsätzlich primäre Aktualität behandeln - seien die Berichte auch noch so ausführlich, wie dies im FAZ-Sample der Fall ist. In den REFERIERENDEN / INTERPRETIERENDEN TEXTSORTEN sind 16 Beiträge mit mehr oder weniger starken Kommentierungen zu finden, das entspricht 16,7 Prozent. 6 Kommentierungen entfallen auf Nachricht und Bericht: "Zugleich überließen sie es den fünf mittelamerikanischen Regierungen, mögliche künftige Konferenzen innerhalb der Anfang 1983 gebildeten Contadora-Initiative einzuberufen, die an der Kompromißlosigkeit des marxistisch-leninistischen Regimes der Sandinisten gescheitert ist ... " 3 2 6 "Wie das Auswärtige Amt in Bonn mitteilte, haben etwa 50 Mitglieder der Internationalen Brigadisten, einer politisch links stehenden Organisation mit Sitz in Wuppertal, das Botschaftsgebäude in Managua in der Nacht zum Montag besetzt ... " 327 Wie auch im Falle der SZ und der WELT sind die Kommentierungen in den REFERIERENDEN / INTERPRETIERENDEN TEXTSORTEN der FAZ überwiegend dadurch entstanden, daß für die chilenische Militärregierung, insbesondere aber für die sandinistische Regierung NICARAGUAS die wertneutrale Titulatur durch wertende Bezeichnungen ersetzt wurden. So lesen wir dort gelegentlich über das "Militärregime des Präsidenten General Pinochet", das Chile "beherrscht". NICARAGUA, so erfährt der Leser dagegen schon häufiger, wird von der "marxistischen Diktatur der Sandinisten", von dem "vom Ostblock aufgerüsteten sandinistischen Regime", vom "marxistischen Machterhaltungsapparat" regiert:
326
WILLY OTTEN PHILIPPENGRACHT: "Ein Gegenvorschlag zu Contadora". In: FAZ Nr. 139 vom 20.6.1986, S. 5.
327
fy: "Brigadisten" in Managua besetzen Bonner Botschaft. In: FAZ Nr. 114 vom 20.5.1986, S. 1.- Bei der hier als Kommentierung eingestuften Erklärung "politisch links stehende Organisation" mag man schwanken, ob es sich um eine reine Beschreibung oder Wertung handelt. Sie wurde in diesem Fall als Kommentierung bezeichnet, weil diese Bemerkung über die für das allgemeine Verständnis der Aktion in Managua notwendige Beschreibung hinausgeht und beim Leser einen Beigeschmack hinterläßt. Man könnte sie also als eine Form subtiler Kommentierung bezeichnen.
147
"Vor allem war es ihm möglich. Einsicht in die Art und Weise zu gewinnen, wie das sandinistische Regime mit seinen Gegnern oder schlicht denjenigen, die sich gegen die Etablierung eines marxistisch-leninistischen Regimes auflehnten, verfuhr ... " 328 Als weitere Beispiele für Kommentierungen sollen schließlich folgende Textpassagen stehen: " ... populärste Gegnerin [der Sandinisten]: Violeta Chamorro, die ebenso sympathische wie intelligente Witwe des 1978 ermordeten Herausgebers der angesehenen Tageszeitung La Prensa ... " 3 2 9 "Bei diesen einflußreichen Beratern handelt es sich um vorsichtige, kluge und eher konservative Männer ... ... chaotischer Kongreß ...
Die Regierung Samey ... begnügt sich mit opportunistischem Durchwursteln ... "
4.3.5
330
Darstellung eines Sachverhalts
Demokratiemangel, Unterdrückung. Bürgerkrieg, Terror, Regierungsschwäche, wirtschaftliche Not in den Ländern Lateinamerikas - die FAZ bietet in 35 Beiträgen, also in 34 Prozent ihrer Berichterstattung, Ursachenerklärungen für diese Krisen an. Damit liegt die Zeitung unter den Werten der SZ (38,7 Prozent) und der WELT (35,9 Prozent). In 28 Fällen ist die Begründung MONOFAKTORAL. MULTIFAKTORAL sind lediglich 7 Erklärungen. Mehr als die Hälfte der Darstellungen, 21 insgesamt, sind referierte Verlautbarungen. Im Gegensatz zu den schlagwortartigen MULTIFAKTORALEN Darstellungen sind die MONOFAKTORALEN Erläuterungen teilweise recht umfangreich und anschaulich. Daß dabei auch lateinamerikanische Stimmen jenseits der Regierungsebene ausführlich zu Worte kommen, verleiht den Erklärungen eine menschliche Komponente.
331
Allerdings
beschränkt sich diese Art von Darstellungen auf politische Zusammenhänge. Hier ist auch die einzige in der Stichprobe enthaltene PERSONIFIZIERUNG zu finden - der .Anteil von PERSONIFIZIERUNG beläuft sich im Hinblick auf die gesamte Stichprobe auf rund ein 328
HILDEGARD STAUSBERG: Einblick in Managuas Sicherheitsdienst. Ein ehemaliger Sandinist berichtet. In FAZ Nr. 111 vom 15.5. 1986, S. 5.
329
Bildtext von HILDEGARD STAUSBERG in FAZ Nr. 147 vom 30. 6. 1986. S. 5.
330
MARTIN GESTER: Samey wagt die Wende nicht. In: FAZ Nr. 273 vom 25.11.1985. S. 12.
331
Siehe FAZ-Textbeispiel 1 im Anhang.
148 Prozent: Geschildert werden Werdegang und Erfahrungen des 27jährigen Alvaro Baldizön, " ... einer der halben Million Nicaraguaner, die seit dem Sieg der sandinistischen Revolution das mittelamerikanische Land verlassen haben". 3 3 2
Baldizön, ein ehemaliger hoher
Beamter des Innenministeriums, steht stellvertretend für anfangs begeisterte Sandinisten, die nach gewonnenem Einblick in die Regierungsweise der Sandinisten das Land verlassen. Baldizöns Erfahrungen sollen Menschenrechtsverletzung, Korruption der politischen Führung, Manipulation der Justiz - alles unter sowjetischer Schirmherrschaft - und die damit einhergehende Distanzierung des nicaraguanischen Volkes zur sandinistischen Regierung belegen. Die meisten Ursachenangaben beziehen sich auf die innen- und außenpolitische Lage NICARAGUAS. Alle 20 Darstellungen sind MONOFAKTORAL. Davon führen allein 13 Texte wirtschaftliche Not, innenpolitische Repression mit Menschenrechtsverletzungen, Bürgerkrieg und eine größer werdende Mittelamerika-Krise auf eine katastrophale Regierungspolitik (Kollektivismus), auf wirtschaftliche Inkompetenz und
außenpolitische
Aggressivität der sowjetgestützten Diktatur der Sandinisten zurück. Hierbei decken sich die Verlautbarungen von nicaraguanischer Oppositionsseite mit den Darstellungen der FAZKorrespondenten. 3 Verlautbarungen (Brandts, Wischnewskis und linksorientierter nicaraguanischer Oppositionsparteien) sehen die Politik der Sandinisten, den Kampf der Contra und die NICARAGUA-Politik der USA verantwortlich für eine "Spirale der Gewalt". 4 Verlautbarungen von sandinistischer Seite begründen den Notstand in NICARAGUA mit dem Kampf der Contra und der US-Politik, die das internationale Recht verletze. 5 Erklärungen beziehen sich auf CHILE - 4 MONOFAKTORALE, eine MULTIFAKTORALE (mit Einschränkung). Dabei fallen die Erklärungen ganz unterschiedlich aus: Mal ist es Pinochet, der CHILE die Freiheit nimmt (Verlautbarung spanischer Demonstranten). Mal kommt es in CHILE nicht zur ersehnten Demokratisierung, weil eine "oligarchische Clique" die Macht nicht aus der Hand geben will (Geißler). Nach Aussagen der chilenischen Regierung und des US-Außenministeriums wollen Kuba und die Sowjetunion CHILE durch Unterstützung des Terrorismus destabilisieren. Die chilenischen Bischöfe sehen die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage breiter Bevölkerungskreise und die Politik der Militärregierung mit mangelnder politischer Partizipation und Repression sowie
332
HILDEGARD STAUSBERG: Einblick in Managuas Sicherheitsdienst. A.a.O. Siehe FAZ-Textbeispiel 1 im Anhang.
149 den Terror für die Krise des Landes verantwortlich.
333
Nach Darstellung von FAZ-
Korrespondent WILLY OTTEN PHILIPPENGRACHT scheitert eine Demokratisierung CHILES bislang daran, daß die Opposition - führungsschwach und zersplittert - nicht in der Lage ist, sich auf einen möglichen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 1989 zu einigen. Zudem distanziere sie sich zu mangelhaft von extremistischen Gruppen. Aus diesem Grunde könne sie reformbereiten Militärs keine annehmbaren Alternativen aufzeigen und verliere auch Unterstützung in der Bevölkerung. Hinsichtlich MEXIKOS Verschuldungskrise bzw. der Verschuldungskrise generell sind 7 Ursachenerklärungen zu finden, darunter allein 6 MULTIFAKTORALE: Die einzige MONOFAKTORALE Darstellung führt die Wirtschaftskrise auf die Politik des traditionsreichen, aber erstarrten politischen Systems MEXIKOS zurück, die vor grundlegenden Reformen aus Angst vor einem politischen Chaos zurückschrecke. Die übrigen Erklärungen sehen die Schuld ebenfalls primär bei der Wirtschaftspolitik des Landes. So heißt es beispielsweise: "Viele Banker meinen, das Land müsse die Krise dazu nutzen, seine restriktive Handelspolitik zu überdenken, sich in verstärktem Maße ausländischen Investitionen zu öffnen und vor allem endlich gegen die ungeheure Korruption in der seit fünfzig Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) vorzugehen ... " 334 An anderen Stellen ist zu lesen, Kreditgelder seien bis in die jüngste Zeit nicht in ertragreiche Investitionen, sondern in den Konsum geflossen oder als Fluchtkapital außer Landes gebracht worden. Oder: "Mexikaner leben aus einer anderen Grundhaltung in den Tag hinein ... "
335
Strukturprobleme in den Schuldnerländern, wachsender innenpolitischer Zündstoff, Bevölkerungsexplosion und hohe Arbeitslosigkeit, Inflation, wachsendes Haushaltsdefizit und geringe Wachstumsraten neben einer blühenden Schattenwirtschaft und Korruption, so heißt es weiter schlagwortartig, seien Ursachen der Verschuldungskrise. Hinzu trete die 333
Letztere Begründung wurde als MULTIFAKTORAL kategorisiert, obwohl ungesagt bleibt, worauf die Bischöfe die wirtschaftliche und soziale Notlage zurückführen. Man wird diese Kategorisierung also mit Einschränkung sehen müssen.
334
HILDEGARD STAUSBERG: Erhält Mexiko neue Kredite? In: FAZ Nr. 30 vom 5.2.1986, S. 14.
333
J. JÜRGEN JESKE: Mexikos zweites Erdbeben. In: FAZ Nr. 47 vom 25.2.1986, S. 1.
150
Abhängigkeit vom Wachstum in den Industrieländern. Das weltwirtschaftliche Umfeld sei schwieriger geworden, das Wachstum in Abnehmerländern wie den USA lasse nach und führe zu Protektionismus. Schließlich verschlimmere das "Naturereignis" Ölpreisverfall die Lage des Ölexport-Landes MEXIKO. Die Ursachenerklärungen stammen übrigens überwiegend von FAZ-Joumalisten. Zu BRASILIEN finden sich 3 MONOFAKTORALE Krisenerklärungen aus korrespondentischer Feder: Demnach trägt Präsident Samey schwer am wirtschaftlichen Erbe der vorausgegangenen Militärregierung. Reibungen im Kabinett Sameys und ein chaotischer Kongreß zwängen den Präsidenten, mit Dekreten über den Kongreß hinwegzuarbeiten, so heißt es - keine funktionierende Demokratie also, so schließt der Leser daraus. Und nicht zuletzt, weil Samey eine "Politik des Durchwursteins" (MARTIN GESTER) betreibe, kämen in Brasilien keine nachhaltigen Reformen zustande. Das teilweise erfolgreiche wirtschaftliche Sanierungsprogramm sei intern boykottiert worden, so daß der Erfolg getrübt worden sei bzw. nicht habe durchschlagen können. Die FAZ weist mit nur einem Fall 336
einen geringen Anteil von einem Prozent an P E R -
SONALISIERUNG auf. Damit hebt sie sich positiv von SZ und WELT ab.
4.3.6
Krisenursache
Wie schon aus dem vorhergehenden Abschnitt ersichtlich, erklärt von insgesamt 35 Ursachenangaben ein Drittel (12) die genannten Krisen als ENDOGEN verursacht. Zwei Drittel (23) sehen diese ENDOGEN-EXOGEN begründet, wobei aber auch hier E N DOGENE Faktoren betont werden, selbst wenn in gleichem Atemzug einige EXOGENE Faktoren mitaufgeführt werden. Dies betrifft besonders Texte über Mexiko mit wirtschaftspolitischem Inhalt. Sieht man also einmal von NICARAGUA ab, das als ein vom Ost-West-Konflikt geschädigtes Land dargestellt wird - wobei die Betonung der FAZ selbst klar auf "ost-geschädigt" liegt - so erscheinen die Probleme Lateinamerikas primär hausgemacht. Ebensowenig wie SZ und WELT liefert die FAZ theoretische Erklärungsansätze, also Angaben über ENDOGENE oder EXOGENE PROZESSE, zu den gegenwärtigen Krisen
336
So spricht Korrespondent WALTER HAUBRICH im Zusammenhang mit einer Protestdemonstration salopp von "13. Jahrestag des Pinochet-Putsches". In: Alle spanischen Parteien gegen Pinochet. In: FAZ Nr. 213 vom 15.9.1986, S. 2.
151
Lateinamerikas. Auch hier ist die historische Dimension ausgeklammert. Dieses Resultat wird durch die Testergebnisse zur zeitlichen Tiefe der Hintergrundinformation bzw. zu Zweck und Umfang von Geschichtsbezügen untermauert.
4.3.7
Zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation, Zweck und Umfang des Geschichtsbezugs
Gleich SZ und WELT reicht die zeitliche Tiefe der FAZ-Lateinamerika-Berichterstattung in der Regel nicht über die jüngste Vergangenheit hinaus: Im Falle NICARAGUAS und CHILES gehen die Geschichtsbezüge konkret nur bis Somoza und Allende zurück, ohne auf die Ära Somoza / Allende genauer einzugehen, im Falle BRASILIENS bis zur letzten Militärregierung. Eine Ausnahme bildet MEXIKO: Hier wird ausführlich über die indianische Geschichte (die der Mayas) berichtet, auf die literarische Tradition des Landes hingewiesen und die Problematik der seit über 50 Jahre währenden Regierung der Partei der Institutionalisierten Revolution angetippt. In der Stichprobe finden sich reichlich Angaben zum UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT. Der Anteil liegt bei 59,2 Prozent (61 Texte). Damit nimmt die FAZ gegenüber SZ und WELT eine Spitzenposition ein. Dies gilt auch für den Umfang der Bezüge: Die Passagen zum UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT sind in nur 12 Fällen SCHLAGWORTARTIG. 33 Textstellen sind KOMPRIMIERT, 16 sind AUSFÜHRLICH. In Prozent ausgedrückt bietet sich ein interessanter Vergleich zwischen den Zeitungen:
FAZ
SZ
WELT
SCHLAGWORTARTIG
11,7 %
17,1 %
43,8 %
KOMPRIMIERT
32,0 %
24,3 %
7,S %
AUSFÜHRLICH
15,5 %
4,5 %
Insgesamt
59,2 %
45,9 °/b
-
51,6 %
Angaben zur VORGESCHICHTE enthalten nur 15 Texte der FAZ, das sind 14,6 Prozent. In 4 Fällen handelt es sich um ANALOGIEN - bis auf eine Ausnahme beziehen sie sich auf Ereignisse, Situationen, Personen anderer Erdregionen als Lateinamerika. 6 Bezüge sprechen von KONTINUITÄT bzw. stellen Vergleiche oder ANALOGIEN zur Vorgeschichte her, um KONTINUITÄT aufzuzeigen. Eine Anmerkung zur VORGESCHICHTE weist auf KONTRAST hin. Bei 3 Bezügen handelt es sich um die Darstellung zeitlich
152
begrenzter endogener Prozesse. In einem Fall schließlich dient der Rückblick in die VORGESCHICHTE der Beschreibung in einem Reisebericht. Hier wird Geschichte weitgehend als Selbstzweck präsentiert. Geschichte wird zumeist als Argument eingesetzt, allerdings nur in einigen Fällen als Vehikel für Prognosen. Wie bei SZ und WELT wird der Wert der Angaben zur VORGESCHICHTE dadurch gemindert, daß sie von geringer oder - in Einzelfällen - von undefinierbarer zeitlicher Tiefe sind und sich zumeist auf Teilaspekte einer Krise beziehen. Doch stammen im Gegensatz zu den beiden anderen Zeitungen die Bezüge zur VORGESCHICHTE überwiegend aus der journalistischen Feder, was sich im Umfang entsprechend niederschlägt: So sind von den 15 Bezügen nur 5 SCHLAGWORTARTIG, 4 sind KOMPRIMIERT, 6 AUSFÜHRLICH. In Prozent ausgedrückt bietet sich hier folgender Vergleich:
FAZ
SZ
WELT
SCHLAGWORTARTIG
4,9 %
9,1 %
18,8 %
KOMPRIMIERT
3,9 %
2,7 %
4,7 %
AUSFÜHRLICH
5,8 %
1,8 %
3,1 %
14,6 %
13,6 %
26,6 %
Insgesamt
Die folgenden Textauszüge verstehen sich als repräsentative Beiträge zu den "vorgeschichtlichen" Bezügen: "Die Ereignisse in Haiti und Manila haben den Vorwurf widerlegt, Amerika stütze rechte Diktatoren allein schon deshalb, weil sie 'Bollwerke gegen den Kommunismus' seien... " 3 3 7 "Doch bislang hat sich trotz der von Samey verkündeten 'Option für die Armen' am Schicksal der Habenichtse kaum etwas geändert. Der Präsident weist darauf hin, daß er von den Technokraten ein Land übernahm, das in der größten Krise seiner Geschichte steckte. Samey erbte von Figuereido nicht nur die höchsten externen Schulden der Welt, sondern auch die höchsten internen Schulden und die höchste Inflation in der Geschichte Brasiliens. Und er erbte ein von Neves zusammengestelltes heterogenes Kabinett ... Gewiß, gemessen an dem schweren Erbe und den vielen Widerständen hat sich Samey bisher gut behauptet. Doch gemessen an den Erwartungen ist die wirtschaftliche und soziale Bilanz bescheiden. Auch Sameys
337
Textbeispiel für VORGESCHICHTE-Geschichtsbezug / ANALOGIE / SCHLAGWORTARTIG. - Nrn.: Mittelweg. In: FAZ Nr. 54 vom 5.3.1986, S. 12 (Kommentar zur US-Contra-Hilfe).
153 Vorgänger Figuereido war zunächst beliebt und wurde als 'Hans des Volkes' gefeiert, solange er autoritären Ballast über Bord warf. Am Ende war er wegen der anhaltenden Rezession so unpopulär, daß er den Präsidentenpalast am letzten Tag durch die Hintertür verließ." 338 " ... Masaya war zu Zeiten Somozas eine Bastion der Opposition ... Hier wurde schließlich der Sieg der Revolution mit besonderem Uberschwang gefeiert. Dieser Stadt will an diesem Sonntag Kardinal Obando y Bravo eine Pastoralvisite abstatten. Das Oberhaupt der nicaraguanischen Kirche ... , ursprünglich der sandinistischen Revolution auch mit ihren sozialistischen Anwandlungen positiv zugewandt, heute Kristallisationspunkt der zivilen Opposition ... - ... will nicht mittels des Evangeliums Politik machen ... Als er unter Somoza die Einhaltung der Menschenrechte sowie durchgreifende Reformen anmahnte, wurde er von diesem als ein gefährlicher politischer Faktor gesehen ... Heute, da die Kirche wiederum die Herstellung grundlegender Prinzipien und Rechte einklagt, ist sie wieder zu einem politischen Faktor geworden, der im katholischen Nicaragua maßgeblichen Einfluß auf die politische Willensbildung des Volkes ausüben kann ... Vor diesem Hintergrund wird es glaubwürdig, was Violeta Chamorro sagte, die Witwe des zu Zeiten Somozas ermordeten Pedro Joaquin Chamorro. Sie war Juntamitglied im revolutionären Nicaragua, ehe sie wie so viele mit dem jetzt in Managua praktizierten 'Sandinismus' brach; sie besteht im Gespräch darauf, daß man Obando y Bravo selbst nichts antun werde: 'Es würde das Gleiche geschehen wie 1978, als man meinen Mann ermordete. Es war der Anfang vom Ende des Regimes' ... " 339 "In den nächsten Tagen müssen die Mexikaner sich aber mit einer harten wirtschaftlichen Realität, mit höheren Preisen und neuen staatlichen Sparmaßnahmen auseinandersetzen; sie werden dabei wiederum erfahren, daß die höchsten Repräsentanten ihres schon so lange bestehenden politischen Systems ratlos sind und keinen Ausweg aus der Krise finden können ... Vielleicht ist tatsächlich die Zeit gekommen für eine Auseinandersetzung der Mexikaner mit sich selbst ohne die üblichen Tabus. Carlos Fuentes meinte bei der Vorstellung seines neuen Buches 'Alter Gringo': 'Jetzt zwingt uns die Krise, auf die im Grunde perversen, auf jeden Fall aber schädlichen Illusionen zu verzichten, die Probleme und Konflikte, die wir so lange versteckt haben, aufzudecken.' Ein sehr lückenhaftes historisches Gedächtnis hat die Mexikaner vieles aus ihrer Geschichte vergessen lassen, zu dem sie sich endlich einmal bekennen müssen: So zu der spanischen Kultur der kolonialen Zeit, die sie im Guten wie im Schlechten sehr stark geprägt hat, zu ihrem Mestizentum und zu der komplexbeladenen Nachbarschaft mit den Vereinigten Staaten. 'Gringo in Mexiko zu sein, ist besser als sich umzubringen', heißt es in dem letzten Roman von Fuentes." 340
338
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / ANALOGIE-KONTINUITÄT / KOMPRIMIERT. - MARTIN GESTER: Brasiliens Parlament enttäuscht. In: FAZ Nr. 301 vom 30.12.1986, S. S.
339
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / ANALOGIE-KONTINUITÄT / AUSFÜHRLICH. - MICHAEL SOMMER: Zwei Männer aus La Libertad. A.a.O.
340
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / KONTINUITÄT / SCHLAGWORTARTIG. WALTER HAUBRICH: Die Last der Vergangenheit, der Druck des Nachbarn. Nach der Fußballweltmeisterschaft kehrt Mexiko zurück zum grauen Alltag. In: FAZ Nr. 147 vom 30.6.19S8. S. 25. - Es bleibt unklar, ob HAUBRICH seine Schlußforderung als Lösung für die eingangs angesprochenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten
154
"Doch Mexikos Krise ist nur zu einem Teil 'Naturereignis', vieles ist selbstverschuldet - durch die oft beschriebenen Fehler der Vergangenheit und durch mangelhafte Anpassungspolitik in jüngster Zeit. Das zweitgrößte Schuldnerland Lateinamerikas (nach Brasilien) ist wieder an dem Punkt angelangt, an dem es 1982 schon einmal war: es kann nicht zahlen, nicht einmal mehr die Zinsen ... Das Land hat im übrigen in seiner Geschichte schon viele Krisen durchgestanden ... Im politischen System Mexikos sind Geld und soziale Wohltaten immer Schmiermittel für das Funktionieren der Staatsmaschinerie gewesen und Kitt für innenpolitische Allianzen ... " M 1 "Die Preise sind wohl zuletzt immer schneller gestiegen, weil der Cruzado-Plan den Lohnempfängern zusätzliche Kaufkraft verschaffte und die beiden rivalisierenden Gewerkschaftsverbände das Land allein im Juni mit 145 Streiks überzogen, in denen sie Lohnerhöhungen von 20 bis 40 Prozent forderten. Der Konsum wurde zusätzlich durch das fehlende Vertrauen in die Wirtschaftspolitik angeheizt, das sich an der hohen Dollamotierung des Cruzeiros auf dem sogenannten Parallelmarkt ablesen läßt. Die Differenz zum offiziellen Kurs beträgt derzeit etwa 60 Prozent. Statt Geld zurückzulegen, ziehen es viele Brasilianer in diesen Wochen vor, kräftig einzukaufen oder zu verreisen, zumal der niedrige Zins nicht zum Sparen reizt. Die Unternehmer wurden mit Geldstrafen daran gehindert, die höheren Kosten in den Preisen weiterzugeben. In etlichen Fällen blieb den Finnen kaum etwas anderes übrig, als die Produktion zu drosseln oder gar einzustellen. So kam es in den letzten Wochen zu Versorgungsschwierigkeiten bei Autos, Fleisch, Milch, Milchprodukten und Getränken." 342 "Zeitlos stehen die weißgetünchten, strohgedeckten Maya-Hütten in der schweigsamen Landschaft, einfache ovale Behausungen, in ihrem Stil seit Jahrhunderten unverändert. Unvorstellbar, daß ausgerechnet in diesem kargen hitzegepeinigten Flachland die Maya-Kultur ihre Hochblüte erlebte. Beruhte nicht jede schöpferische Kultur auf einem hochentwickelten Ackerbau? Vermutlich war Yucatán einst fruchtbarer und ungleich stärker besiedelt als heute; allerdings verließen sich die Mayas nicht nur auf die Gunst ihrer Götter, sondern sie erforschten die Naturmächte und errechneten durch genaue astronomische Beobachtungen einen genialen Kalender, der unter anderem Aussaat und Ernte bestimmte. Eine Elite von Wissenschaftlern und Priesterfürsten verstand es, kollektive Energien in monumentale Bauprojekte umzusetzen. Ungefähr sechshundert Jahre währte die Maya-Klassik; in ihrer Spätzeit ließ sie sich von toltekischer Baukunst und aztekischen Glaubensvorstellungen versteht, oder als Weg zu kultureller Selbstfindung. Das mag daran liegen, daß seinem Text der rote Faden fehlt und die Verknüpfung der wirtschaftspolitischen Anmerkungen mit den kulturellen Ausführungen nicht gelingt. Aus diesem Grunde wurde das Stichwort von der "spanischen Kultur der kolonialen Zeit ... " nicht als Indiz für ENDOGENEN PROZESS kategorisiert. Dafür hebt die Schlußbemerkung zu sehr auf Kultur ab. 341
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / ANALOGIE-KONTINUITÄT / SCHLAGWORTARTIG. - J. JÜRGEN JESKE: Mexikos zweites Erdbeben. In: FAZ Nr. 47 vom 25.2.1986, S. 1.
342
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / "zeitlich begrenzter endogener Prozeß" / AUSFÜHRLICH. - MARTIN GESTER: Brasilien muß Kaufkraft abschöpfen. In: FAZ Nr. 169 vom 25.7.1986, S. 12.
155 beeinflussen. Bevor sie in Yucatán erblühte, hatte sie bereits in Guatemala und Honduras großartige Bauwerke in Zentren wie Tikal und Copán hervorgebracht. Haben Dürren, Malaria-Epidemien, Bauernaufstände die Wanderbewegungen, die Erschöpfung, den Verfall verursacht? ... " 3 4 3 "Er [Edward Kennedy] sei kein Feind Chiles, im Gegenteil. Während seiner H o c h zeitsreise vor fast 30 Jahren sei er zum ersten Mal in diesem Land gewesen, dessen lange demokratische Tradition er genauso bewundere wie die Bemühungen all derjenigen, die heute friedlich für die Wiederherstellung der Demokratie kämpfen ... " 344
4.3.8
Deutschland-Bezug
Einen Deutschland-Bezug haben 21 FAZ-Texte, also 20,4 Prozent - der niedrigste Wert verglichen mit SZ (27,9 Prozent) und WELT (35,9 Prozent). Davon fallen genau zwei Drittel unter die Kategorie RELATION. Fast alle diese Deutschland-Bezüge sind Verlautbarungen, die die FAZ referiert: Teilweise stammen sie aus dem Mund deutscher Politiker wie Brandt und Wischnewski oder von Abgeordneten des Wiesbadener Landtags und b e ziehen sich auf NICARAGUA bzw. auf die Positionen, die deutsche und andere westliche Politiker gegenüber der sandinistischen Politik einnehmen sollen. Die Positionen, die hier deutlich werden, schwanken zwischen Wohlwollen und Ablehnung. Eine breitere deutsche Öffentlichkeit dürfte sich durch die Verlautbarungen zweier Nicaraguaner, eines katholischen Pfadfmderleiters und eines ehemaligen Beamten im sandinistischen Innenministerium angesprochen fühlen, auch wenn Deutschland nicht explizit genannt wird: Sie bemängeln, daß man in Europa und den USA den Kampf der zivilen Opposition zu wenig unterstütze. Die Presse nehme zwar die Sprüche der Revolutionäre, nicht aber die Leiden der Bevölkerung zur Kenntnis. Die Klage trifft auch die internationalen Menschenrechtsorganisationen, denen weitgehend Blindheit vorgeworfen wird: " ... die verurteilen das chilenische Regime von General Pinochet, nehmen aber zu den Menschenrechtsverletzungen in Kuba kaum Stellung."
343
Textbeispiel für VORGESCHICHTE - Beschreibung / Geschichte als Selbstzweck / AUSFÜHRLICH. - HANS DIETER KLEY: Magische Rituale neben der Moderne. A.a.O. - Die Reflexionen über die Maya-Geschichte dienen in diesem Text gelegentlich auch dazu, mal Kontinuitäten, mal Diskontinuitäten in Einzelaspekten aufzuzeigen.
344
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / KONTRAST / SCHLAGWORTARTIG. WILLY OTTEN PHILIPPENGRACHT: Der "Meister der Menschenrechte und der Demokratie" in Südamerika. Die Reise Kennedys / Proteste und Kritik in Chile ... In: FAZ Nr. 16 vom 20.1.1986, S. 7. - Kennedy deutet mit seiner Aussage einen Kontrast zwischen den damaligen und heutigen politischen Verhältnissen in CHILE an.
156 Ergänzend heißt es, die Sardinisten manipulierten die öffentliche Meinung im Westen über die bewaffneten Antisandinisten. 343 In weiteren Verlautbarungen kritisiert Pinochet politische Äußerungen des deutschen Botschafters als Einmischung in innere Angelegenheiten CHILES, erhofft sich CHILES Opposition von innerem und äußerem Druck (was auch die Bundesrepublik einschließt) maßgebliche Hilfen auf dem Weg zu einer baldigen Demokratisierung, stellt CDU-Generalsekretär Geißler fest, daß das chilenische Regime durch Behinderung der befreundeten chilenischen Christdemokraten die guten deutsch-chilenischen Beziehungen belaste. Zu BRASILIEN finden sich ebenfalls 2 Deutschland-Bezüge in Verlautbarungen. So kritisiert die brasilianische Regierung Mercedes-Benz do Brasil wegen einer verfügten Kurzarbeit. "Vorzügliche Chancen" für eine wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit BRASILIEN sieht Forschungsminister Riesenhuber. Ansonsten meldet die FAZ den Mord an einem deutschen Geschäftsmann in Rio de Janeiro und den Beschuß eines deutschen Kamerateams in CHILE. In einem Kommentar schließlich kritisiert die FAZ unrealistische Einschätzungen des Internationalen Währungsfonds und von Geschäftsbanken zur Dimension des Schuldenproblems und versucht, Verständnis für die Situation MEXIKOS zu erwecken: "Man klammerte sich an die freundlicheren weltwirtschaftlichen 'Szenarien' und schloß unerwartete Ereignisse wie den ölpreisrückgang aus, der für Mexiko zum 'Zweiten Erdbeben' wurde. Inzwischen haben sich die akuten Krankheitsfälle als chronische Leiden erwiesen. Wenn man bedenkt, wie lange ein hochindustrialisiertes Land wie die Bundesrepublik zur Anpassung an veränderte weltwirtschaftliche Bedingungen braucht, kann das nicht überraschen ... " 346 Deutschland-Bezüge, die unter die Kategorie EXPLIZITE NÄHE fallen, finden sich in 7 Texten. 5 Bezüge stecken in der NICARAGUA-Berichterstattung, 2 in Texten zur Schuldenkrise MEXIKOS bzw. LATEINAMERIKAS. Die Reaktionen der Leserschaft darauf dürften konträr ausfallen: Verständnis für die Relevanz der Schuldenkrise und die Mitverantwortung bei der Krisenlösung dürften folgende Bezüge beim bundesdeutschen Rezipienten erzielen - auch wenn die Bundesrepublik hier nur implizit angesprochen wird: "Wenn sich das Verhältnis zwischen Schulden und Bruttosozialprodukt in den Entwicklungsländern ... bessern soll, dann muß die Wirtschaft nicht nur in diesen Ländern real wachsen, sondern auch in den Industriestaaten ... Ein weiterer wichtiger Beitrag der Industrieländer besteht darin, den Protektionismus abzubauen ... Das
345
Siehe HILDEGARD STAUSBERG: Einblick in Managuas Sicherheitsdienst. A.a.O. MICHAEL SOMMER: Zwei Männer aus La Libertad. A.a.O.
346
J. JÜRGEN JESKE: Lehrzeit für Gläubiger. In FAZ Nr. 226 vom 30.9.1986, S. 13.
157
wird für die Wirtschaftsstruktur der Industrieländer nicht ohne Folgen bleiben. Die lateinamerikanischen Schwellenländer werden versuchen, mit einfachen Konsumprodukten in Amerika und Europa höhere Marktanteile zu erringen. Das verschärft dort den Strukturwandel, kostet heimische Arbeitsplätze. Wenn man so will, ist dies ein indirekter Beitrag zur Lösung der Schuldenprobleme ... " 347 "Den Vereinigten Staaten wird dennoch nichts anderes übrigbleiben, als ihrem Nachbarn eine helfende Hand zu reichen. Auch die Europäer müssen an einer wirtschaftlich und politisch stabilen 'Südflanke' der Vereinigten Staaten ein Interesse haben. Dafür werden alle Beteiligten einen Preis entrichten müssen ..." 348 Auch die Deutschland-Bezüge in der NICARAGUA-Berichterstattung weisen auf die Relevanz der Entwicklungen in dem mittelamerikanischen Land hin, wenn sie den Bürgerkrieg als weltpolitisch sehr brisant und die entschlossene NICARAGUA-Politik der Reagan-Administration als dem Wohl der westlichen Welt (einschließlich der Bundesrepublik) dienlich bezeichnen. Verständnis für die Regierung NICARAGUAS werden sie aber keineswegs wecken, eher starke Abneigung. Die FAZ zeichnet im Zusammenhang mit der Entführung deutscher Aufbauhelfer und der Ermordung des Brigadisten Koberstein ein geradezu bedrohliches Bild der Sandinisten: Auf die Frage, wer den Tod Kobersteins auf dem Gewissen habe, schreibt die FAZ in einem Kommentar: "Am meisten das Regime in Managua, das sich junge Leute von irregeleitetem Idealismus aus ganz Westeuropa nach Managua holt und ihre Abenteuerlust ausnutzt ... " 3 4 9 Verlautbarungen des Vorsitzenden der Christlich Sozialen Partei NICARAGUAS und seines Vertreters, die die FAZ zu späterer Zeit abdruckt, unterstreichen die Feststellungen, die im weiteren Verlauf des Kommentars zu lesen sind: Die Sandinisten manipulierten ausländische Aufbauhelfer, darunter Deutsche, so berichten die Politiker. Sie brächten sie absichtlich in Lebensgefahr durch den Einsatz in Kampfgebieten und nutzten sie, falls sie Anschlägen der Contra zum Opfer fielen, zur internationalen Propaganda. Insgesamt gesehen wecken die Deutschland-Bezüge in der Lateinamerika-Berichterstattung der FAZ unter der Leserschaft wohl Verständnis für die weltpolitische und
347
KONRAD MUSEK: "Für Gläubiger und Schuldner reicht ein Regenmantel". Die Entwicklungsländer brauchen weitere Mittel ... In: FAZ Nr. 266 vom 15.11.1985, S. 14.
348
J. JÜRGEN JESKE: Mexikos zweites Erdbeben. A.a.O.
349
Me.: Verheizt. In: FAZ Nr. 173 vom 30.7.1986, S. 1 (Unterstreichung von S. von Roemeling). - Vgl. C.G.: "Sandinisten mißbrauchen Aufbauhelfer". A.a.O.
15S weltwirtschaftliche Relevanz des Bürgerkriegs in NICARAGUA und der Schuldenkrise insbesondere MEXIKOS, mit ihren indirekten und direkten Auswirkungen auf die Bundesrepublik. Während aber für die Regierung MEXIKOS bei aller Kritik ein gewisses Maß an Solidarität erzeugt wird - wobei die FAZ nicht das Bild der "helfenden Industrienationen" zeichnet - erregt das Bild von den politischen Zuständen NICARAGUAS Ablehnung, vielleicht sogar Angst, die primär von der beschriebenen Handlungsweise des "marxistischen Regimes" hervorgerufen wird.
4.3.9
Handlungsaufforderung
Insgesamt 21 Texte der Stichprobe enthalten eine IMPLIZITE oder EXPLIZITE H A N D LUNGSAUFFORDERUNG. Das entspricht einem Anteil von 20,4 Prozent. Dabei handelt es sich allein in 17 Fällen um Verlautbarungen aus dem Munde von Politikern wie Pinochet, de la Madrid, Brandt, Wischnewski, Geißler, Möllemann, aus dem Munde von Wirtschaftsexperten, von Seiten der chilenischen und nicaraguanischen Opposition. Allerdings finden sich unter den Verlautbarungen auch gewissermaßen "Stimmen des Volkes" wie die des Leiters einer nicaraguanischen Pfadfindergruppe oder Meinungen der brasilianischen Presse. Die HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN, 4 IMPLIZITE und 16 EXPLIZITE, sind fast immer an politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger in der Bundesrepublik, Europa, den USA und Lateinamerika gerichtet: Bezüglich BRASILIEN ergeht von Seiten der Landespresse und des FAZ-Korrespondenten MARTIN GESTER, der die brasilianische Pressekritik ausführlich darstellt und kommentiert, IMPLIZIT die Aufforderung an die Regierung Samey, endlich mit der "Politik des Durchwursteins" Schluß zu machen und ein klares Regierungskonzept vorzulegen, und an das Parlament, sich politisch so zu verhalten, wie es einer Demokratie würdig ist. Hinsichtlich CHILE erhoffen sich die Oppositionsparteien des Landes vom Druck des westlichen Auslandes auf die Regierung Pinochet eine Hilfe auf dem Weg zu freien Wahlen; schlägt Geißler der Bundesregierung vor, sich intensiver um die Demokratisierung CHILES zu bemühen; verbittet sich Pinochet - an das Ausland und speziell die Bundesregierung gerichtet - Einmischungen in die inneren Angelegenheiten CHILES; ergeht vom US-Außenministerium eine Warnung an Kuba und die UdSSR, CHILE zu destabilisieren. Bezüglich MEXIKO sehen die FAZ-Autoren K O N R A D MUSEK und JÜRGEN JESKE im Abbau des Protektionismus und im Reichen einer helfenden Hand zur Bewältigung der Verschuldung einen notwendigen Beitrag zur wirtschaftlichen Gesundung des Landes. Schließlich, so JESKE, müßten auch die Europäer einen Preis zur Stabilisierung der Süd-
159 flanke der USA, die ja auch für sie von Nutzen sei, zahlen.
350
Die US-Finanzmärkte
spricht der Vorstandsvorsitzende einer amerikanischen Großbank mit seiner Aufforderung an, den ölpreisverfall nicht nur negativ zu bewerten, da der dadurch bewirkte wirtschaftliche Rückschlag für ein erdöl-exportierendes Land wie MEXIKO nur vorübergehend sei, denn: " ... ein anhaltender Rückgang der Preise werde aber zu Zinssenkungen führen, das Wirtschaftswachstum in Europa beleben und dadurch die Nachfrage nach vielen anderen Rohstoffen erhöhen ... " 3 3 1
Deutsche Banker fordern von MEXIKO IMPLIZIT einen
Abbau der restriktiven Handelspolitik, eine stärkere Öffnung gegenüber ausländischen Investitionen und Schritte gegen die "ungeheure Korruption" in der Regierungspartei. Eine FAZ-Analyse weist auf die Notwendigkeit der Inflationsbekämpfung in MEXIKO hin. Gemeinsam mit anderen ausländischen Politikern appelliert MEXIKOS Präsident de la Madrid an die Weltmächte, die Atomversuche zu beenden. Allein 9
HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN
gelten
der politischen
Lage
NICA-
RAGUAS. Sie stehen in Zusammenhang mit dem negativen Bild, das die FAZ von der sandinistischen Regierung zeichnet und fordern entsprechend eine kritische Sichtweise gegenüber den Machthabern, Demokratisierung und Dialogbereitschaft von Managua und sprechen sich gegen eine ausländische Intervention aus. Neben den Appellen deutscher Politiker, dem Auswärtigen Amt und nicaraguanischer
Oppositioneller sind folgende
Aussagen besondere eindrucksstark, da sie EXPLIXIT bzw. IMPLIZIT auch auf die substaatliche Ebene zielen: "Die Pfadfinder haben es übernommen, einen Kreis zu bilden, um so Obando vom ärgsten Ansturm freizuhalten. Ihr Leiter steckt dem Verfasser einen Zettel zu; er bittet dringend um Hilfe von Pfadfindergruppen aus aller Welt. Er erzählt von den Schwierigkeiten der Jungen, die unter der Drangsalierung der Juventud Sandinista zu leiden haben. Das Schlimmste sei das Gefühl, von der Welt vergessen zu werden ... " 3 3 2 "Man sage nicht 'Aufbauhelfer'", wo es sich doch um "aktive Unterstützer des sandinistischen Revolutions-Regimes" handele, fordert ein FAZ-Kommentar im Zusammenhang mit der betroffenen Reaktion des Auswärtigen Amtes in Bonn zum Tode Bernd Kobersteins in NICARAGUA. Weiter heißt es: "Aber sie [die Comandantes Nicaraguas] tragen nicht allein die Schuld [am Tode des 'Aufbauhelfers' Koberstein]. Das westdeutsche Nicaragua-Milieu, das unentwegt
330
J. JÜRGEN JESKE: Lehrzeit für Gläubiger. A.a.O.
331
John S. McGuillicuddy von Manufacturers Hanover zitiert in: M.V.: "ölpreisrückgang nicht nur von Nachteil". Eine Analyse von Manufacturers Hanover. In: FAZ Nr. 21 vom 25.1.1986, S. 13.
332
MICHAEL SOMMER: Zwei Männer aus La Libertad. A.a.O.
160 derartigen Hilfswillen stimuliert und organisiert, ist ebenso beteiligt am Tod dieses jungen Mannes. Es gibt keine rechtlichen Mittel, die erlaubten, den 'Komitees' und 'Freundeskreisen' das Handwerk zu legen. Sie werden mit ihrer Indoktrination fortfahren, und noch andere als Koberstein werden unnötigerweise Leben und Gesundheit einbüßen. Mit Abscheu ist auf solches Tun zu reagieren; von 'Betroffenheit' kann keine Rede sein." 3 5 3 Insgesamt betrachtet, setzt sich in den HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN das fort, was sich schon bei den Deutschland-Bezügen abzeichnete: Gerade mit den besagten Appellen hinsichtlich MEXIKOS ist die FAZ bemüht, auch einem breiteren Kreis an Bundesbürgern die weltwirtschaftliche Relevanz der Schuldenkrise und die Mitverantwortung Deutschlands und Europas bei der Lösung der Probleme MEXIKOS vor Augen zu führen. Auch die eindringlichen, teils direkten Appelle von verschiedenen Ebenen an die Solidarität der Bundesbürger mit der zivilen Opposition NICARAGUAS dürfte hier auf breiter Ebene Mitgefühl wecken. Daß die Appelle oftmals aus dem Munde von Lateinamerikanern stammen, wirkt einem lehrmeisterlichen Effekt, wie ihn die WELT erzielt, entgegen.
4.3.10 Zusammenfassung Für eine Zeitung, die sich explizit auch als Hintergrundmedium versteht, wirkt ein Anteil von knapp 78 Prozent an REFERIERENDEN TEXTSORTEN überraschend hoch: Die FAZ legt damit den Schwerpunkt ihrer Lateinamerika-Berichterstattung auf Textgattungen, die grundsätzlich primäre Aktualität behandeln und am wenigsten geeignet sind, Zusammenhänge zu erklären - seien die Berichte teilweise auch noch so ausführlich, wie dies in der FAZ der Fall ist. 304 Dies wirkt sich natürlich auf die Darstellungsweise aus: Positiv fällt auf, daß die Zeitung gleichmäßiger und thematisch vielfältiger über die einzelnen lateinamerikanischen Krisenregionen berichtet, als SZ und WELT dies tun. Teilweise setzt sie auch andere Schwerpunkte als diese. Die FAZ weist auch mit rund 23 Prozent gegenüber SZ und WELT den niedrigsten Grad an Verlautbarungsjournalismus auf. Dennoch: Die FAZ liefert nur in 34 Prozent ihrer Berichterstattung Ursachenerklärungen für die dargestellten Krisen wie Demokratiemangel, Unterdrückung, Bürgerkrieg, Terror, Regierungsschwäche und wirtschaftliche Not in den Ländern Lateinamerikas. Damit liegt
333
Me.: Verheizt. A.a.O.
3M
Das erklärt sich durch den höheren Anteil an eigener korrespondentischer bzw. redaktioneller Berichterstattung, der bei der FAZ bei rund 53 Prozent, bei der SZ nur bei rund 14 Prozent liegt.
161
sie unter den Werten der SZ und WELT. Die Erklärungen sind dabei meist MONOFAKTORAL, wenngleich teilweise sehr umfangreich und anschaulich gehalten, und bestehen zudem zu knapp zwei Dritteln aus Verlautbarungen. Die MULTIFAKTORALEN Darstellungen erscheinen dagegen schlagwortartig. PERSONALISIERUNG kommt beim FAZSample - bis auf eine Ausnahme - erfreulicherweise nicht vor. Ebensowenig wie SZ und WELT liefert die FAZ theoretische Erklärungsansätze - Angaben über ENDOGENE oder EXOGENE PROZESSE - zur Beleuchtung von Krisenursachen. Daß die historische Dimension auch hier weitgehend ausgeklammert ist, wird durch die Analyseergebnisse zur zeitlichen Tiefe der Hintergrundinformation bzw. zu Zweck und Umfang der Geschichtsbezüge unterstrichen. Gleich SZ und WELT reicht die zeitliche Tiefe der FAZ-Lateinamerika-Berichterstattung in der Regel nicht über die jüngste Vergangenheit hinaus. Gegenüber den mit 59 Prozent vergleichsweise sehr reichlichen und recht umfangreichen Angaben zum UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT fallen die mit knapp 5 Prozent geringen Angaben zur VORGESCHICHTE ab. Wie auch im Falle der beiden anderen Zeitungen wird der Wert der Angaben zur VORGESCHICHTE zusätzlich dadurch gemindert, daß sie von geringer oder - in Einzelfällen - von undefinierbarer zeitlicher Tiefe sind und sich zumeist auf Teilaspekte einer Krise beziehen. Doch stammen im Gegensatz zu SZ und WELT die Bezüge zur VORGESCHICHTE überwiegend aus der journalistischen Feder, sind also kaum zitierte Verlautbarungen, was sich im Umfang positiv niederschlägt. Die in der FAZ-Lateinamerika-Berichterstattung
gegebenen Deutschland-Bezüge
und
Handlungsappelle machen keine ethnozentrische Perspektive, wie sie in der WELT erscheint, deutlich: Obwohl die Probleme Lateinamerikas primär ENDOGEN verursacht, also hausgemacht erscheinen, dürften die Deutschland-Bezüge und Handlungsappelle unter der Leserschaft wohl weitgehend Verständnis wecken, insbesondere für die weltpolitische Relevanz des Bürgerkrieges in NICARAGUA oder die Schuldenkrise MEXIKOS mit ihren indirekten und direkten Auswirkungen auf die Bundesrepublik. Für die Probleme MEXIKOS dürfte bei aller Kritik an der Regierung ein gewisses Maß an Solidarität erzeugt werden, wobei die FAZ nicht das Bild der "helfenden Industrienationen" zeichnet. Die Darstellung der politischen Zustände NICARAGUAS dürfte zwar Ablehnung ernten. Doch dürfte sich diese Reaktion auf das "marxistische Regime der Sandinisten" nicht auf NICARAGUA selbst richten. Die ethnozentrische Perspektive versteht die FAZ vor allem dadurch zu umgehen, daß sie auf breitem Raum lateinamerikanische Kritik an den eigenen politischen und wirtschaftlichen Zuständen wiedergibt.
162 Bemerkenswert ist schließlich, daß die FAZ gleich der WELT im Rahmen der untersuchten CHILE-Berichterstattung keine eigene offene (Ab-)Wertung der im Lande herrschenden Regierung abgibt, wie dies im Falle NICARAGUAS geschieht - die im Anhang abgedruckten FAZ-Beispieltexte mögen hier zur vergleichenden Lektüre anregen. Bei der SZ ist dies genau umgekehrt. Offensichtlich treten hier die unterschiedlichen redaktionellen Linien der einzelnen Zeitungen in entsprechender Nachsicht bzw. Härte gegenüber den dort herrschenden politischen Verhältnissen zutage. Auf diese Weise kommt es zu verwirrend gegensätzlichen politischen Bildern von NICARAGUA und CHILE.
163
4.4
Lateinamerika-Berichterstattung der ZEIT
Die Auswertung aller ZEIT-Ausgaben im Untersuchungszeitraum erbrachte 46 Artikel über oder mit Bezug auf die Länder BRASILIEN, CHILE, MEXIKO und NICARAGUA bzw. LATEINAMERIKA.
4.4.1
Länderverteilung und Thematisierung
Auch bei der ZEIT ist der Schwerpunkt der Latemamerika-Berichterstattung nicht allein auf NICARAGUA festgelegt. Das Bild der Länderverteilung stellt sich folgendermaßen dar:
NICARAGUA
13 Texte
28,3 %
CHILE
12 Texte
26,1 %
3 Texte
6,5 %
MEXIKO BRASILIEN
3 Texte
6,5 %
LATEINAMERIKA
15 Texte
32,6 %
Insgesamt
46 Texte
100,0 %
Wenngleich die Behandlung von MEXIKO und BRASILIEN vergleichsweise dürftig ausfällt, so findet der Leser doch die speziellen Wirtschaftsprobleme, an denen besonders diese beiden Schwellenländer leiden, schwerpunktmäßig unter der Kategorie LATEINAMERIKA beleuchtet, so daß hier eine Ergänzung geschaffen ist, auch wenn beide Länder nicht immer explizit hervorgehoben werden. NICARAGUA: Stark monothematisch stellt sich die NICARAGUA-Berichterstattung der ZEIT dar. Alle Texte der Wochenzeitschrift über das mittelamerikanische Land liegen im Spannungsfeld Ost-West. Zentraler Aspekt der Texte ist die NICARAGUA-Politik bzw. die Contra-Unterstützung der US-Regierung. Allein die Hälfte der Artikel über NICARAGUA befaßt sich ausschließlich mit diesem Thema. Darunter findet sich eine Darstellung über die Geschichte der US-Wirtschaftssanktionen gegen die sandinistische Regierung, die veröffentlicht wurde im Rahmen einer empirischen Studie über Struktur, Ziele und Erfolge von Wirtschaftssanktionen seit dem Ersten Weltkrieg. Sieht man einmal von den in Dokumentationsform
164 präsentierten Ausführungen Präsident Reagans über die US-NICARAGUA-Politik ab, wird die US-Politik gegenüber NICARAGUA durchweg negativ bewertet. Im Zusammenhang mit Reagans Antrag auf 100 Millionen Dollar an militärischer und humanitärer Hilfe für die Contras berichtet die ZEIT auch ausführlich über die Struktur und Aktionen der Rebellen-Organisationen. Hier setzt sich die Kritik an Reagans Mittel amerika-Politik explizit und implizit fort: Das dabei entstehende Bild einer zersplitterten Organisation, die im Sumpf der Korruption versinkt und einen "schmutzigen Krieg" führt, dürfte die Leser-Einstellung zu Reagans Antrag negativ stimmen. In diese Thematik eingebettet sind 2 Artikel, die sich - aufgehängt an der Debatte innerhalb der SPD über die politischen Entwicklungen in dem mittelamerikanischen Land und an dem Idealismus der Aufbauhelfer - mit "NICARAGUA zwischen Idealisierung und Feindbild" und der politischen Lage der Sandinisten bzw. dem Zustand des Staates beschäftigen. Aufschluß über amerikanische Kritiker der NICARAGUA-Politik der Reagan-Administration gibt einmal mehr der Korrespondenten-Bericht über eine Propaganda-Reise Präsident Ortegas durch die USA. CHILE: Monothematisch stellt sich auch die CHILE-Berichterstattung dar, sie beschränkt sich völlig auf die Innenpolitik des Landes: Die Hälfte der Artikel beleuchtet die Auseinandersetzung zwischen Militärdiktatur und Opposition. Dabei werden besonders die Machtposition des Präsidenten nach dem Attentatsversuch und die Chancen einer baldigen Demokratisierung diskutiert. Die andere Hälfte behandelt Terror und Menschenrechtsverletzungen durch die Machthaber. Wie ein roter Faden zieht sich die scharfe Verurteilung der Pinochet-Diktatur, die CHILE in ein "Land der Folter" verwandelt habe, durch alle Artikel über dieses südamerikanische Land. Hier unterscheidet sich die CHILE-Berichterstattung der ZEIT grundsätzlich von der der FAZ und WELT. Die strikte Ablehnung Pinochets wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß die ZEIT auf die Zersplitterung der Oppositionsparteien hinweist, die eine Demokratisierung in die Feme rücken lasse. So scheint sich auch im Falle der ZEIT das bereits angesprochene Zusammenspiel von redaktioneller Linie und Themenführung zu bestätigen. Betrachtet man an dieser Stelle noch einmal die Berichterstattung der vier Qualitätszeitungen über NICARAGUA und CHILE, so erscheint folgendes Ergebnis: Während bei SZ und ZEIT die Themenführung über CHILE von scharfer Kritik am Pinochet-Regime geprägt ist, und die Kritik an der Regierung der Sandinisten nur einen Randaspekt der NICARAGUA-Berichterstattung ausmacht, ist dies bei WELT und FAZ genau umgekehrt. Hier ist die Ablehnung des Sandinisten-Regimes in der NICARAGUA-
165 Berichterstattung zentral, während die journalistische Kritik an der chilenischen Diktatur, so sie überhaupt direkt geübt wird, vergleichsweise milde ausfällt. MEXIKO und BRASILIEN: Liegt der thematische Schwerpunkt der Berichterstattung über NICARAGUA und CHILE in der Politik, dominieren bei MEXIKO und BRASILIEN weitgehend wirtschaftspolitische Themen: In der MEXIKO-Berichterstattung findet sich je ein Text über die wirtschaftlichen Folgen der Erdbebenkatastrophe (wie die ZEIT sagt, zur Relativierung möglicher falscher Katastrophen-Bilder), über die negativen Folgen des Ölpreisverfalls, über die Ursachen wirtschaftlichen Massenelends und sozialer Ungerechtigkeit in MEXIKO. Im Zusammenhang mit BRASILIEN wurden 2 Texte über den Plan der Regierung Samey zur Wirtschaftssanierung und über die Entwicklung dieses Konzeptes publiziert. Eine Analyse beleuchtet die Entwicklung der jungen Demokratie in BRASILIEN. LATEINAMERIKA: Wie eingangs erwähnt, wird unter dieser Rubrik schwerpunktmäßig die wirtschaftliche Problematik behandelt. Allein 6 Texte sind der Verschuldungskrise gewidmet. Dabei geht es im einzelnen um eine Bestandsaufnahme und Ursachendarstellung der Schuldenkrise, um Auswirkungen auf die Stabilitätspolitik der Bundesbank, um die Auseinandersetzung mit diversen Lösungsvorschlägen zur Schuldenkrise (z.B. Schulden-, bzw. Teilschuldenerlaß, Wirtschaftskonzepte des peruanischen Präsidenten Alan Garcia und des US-Finanzministers James Baker), um die Schwierigkeiten bei Planung und Durchsetzung der Konzepte. 4 weitere Texte
ergänzen
dieses Thema: Sie
behandeln
Kapitalflucht als
großes
Wirtschaftsproblem Lateinamerikas, bilanzieren die Wirtschaftslage "des Südens" ein Vierteljahrhundert nach der Entkolonialisierung und zeigen in 3 Beiträgen Wege der Entwicklungshilfe und Wirtschaftsförderung als erfolgversprechende Lösungskonzepte auf. Ein Beitrag behandelt die touristischen Perspektiven Südamerikas. 2 Artikel berichten von Friedensbemühungen um Mittelamerika (Friedensmarsch, Contadora-Friedensplan). Die unter LATEINAMERIKA kategorisierten Textinhalte stellen aber nicht nur eine Ergänzung zu der unter MEXIKO und BRASILIEN dargestellten Themenpalette dar. Die ZEIT erweitert diese um zwei außerordentlich umfangreiche Beiträge zur Theologie und Literatur: Der eine befaßt sich mit der katholischen Kirche in LATEINAMERIKA, d.h. mit der Entwicklung von "Befreiungstheologie" und "Basisgemeinden". Dabei zeigt er das unter-
166
schiedliche theologische Denken in der katholischen Kirche LATEINAMERIKAS und Europas
auf,
will
auf
Klischees
und
Vereinfachungen
zur
"Befreiungstheologie"
aufmerksam machen. Der andere Beitrag schildert den Streit lateinamerikanischer Schriftsteller über die Frage der Unrechtmäßigkeit rechter und linker Diktaturen in LATEINAMERIKA, aufgehängt an der Auseinandersetzung zwischen Gabriel Garcia Marquez und Mario Vargas Llosa. Insgesamt betrachtet ist das Ergebnis zur Thematisierung zweigeteilt: Während sich bei NICARAGUA, CHILE und MEXIKO der Eindruck einer monothematischen Berichterstattung einstellt, erscheint die Themenpalette unter den Rubriken BRASILIEN und LATEINAMERIKA insgesamt
weitergefaßt: Wenngleich wirtschaftspolitische
Beiträge
dominieren, so ist doch die Darstellung facettenreicher und breiter ausgeleuchtet. Zudem wird die Themenpalette durch besagte 2 Artikel bereichert. Der Grad an Verlautbarungsberichterstattung liegt mit 10,9 Prozent (5 Beiträge) gegenüber den anderen Zeitungen am niedrigsten. Dies läßt sich natürlich durch den Charakter der ZEIT als interpretierendes Medium begründen. Bei den Verlautbarungen handelt es sich um Interviews oder Statements, die teilweise graphisch besonders abgesetzt sind, oder um referierte Ergebnisse von Wirtschaftsanalysen.
4.4.2
Plazierung
Die Lateinamerika-Berichterstattung der ZEIT ist folgendermaßen plaziert:
EXPONIERT
18 Texte (4 Front/14 U m f a n g 3 " )
39,1 %
NICHT-EXPONIERT
28 Texte 3 3 8
60,9 %
Insgesamt
46 Texte
100,0 %
3aa
Alle hier als umfangmäßig EXPONIERT kategorisierten Artikel sind ganzseitig erschienen, nehmen mit einer Anzeige mindestens eine dreiviertel-seitige Länge ein. 4 Texte fallen mit einem Umfang von 2 Seiten und mehr auf.
336
Auch die NICHT-EXPONIERTEN Texte der ZEIT sind durchschnittlich umfangreicher als die der untersuchten Tageszeitungen, da die Wochenzeitschrift auf die Kurzform Nachricht verzichtet.
167 Mit diesem Ergebnis weist die ZEIT mehr EXPONIERTE Texte auf als die WELT (23,4 Prozent), FAZ (16,5 Prozent) und SZ (9 Prozent). Die Zeitschrift erzielt dieses Ergebnis hauptsächlich über den Umfang ihrer Artikel. Dabei handelt es sich weniger um Aufarbeitungen von Ereignissen der Woche als vielmehr um Langzeitthemen bzw. Analysen, die an einem Aufhänger von primärer oder sekundärer Aktualität präsentiert werden, so zum Beispiel: eine empirische Studie über Struktur, Ziele und Erfolge von Wirtschaftssanktionen, eine Analyse der Entwicklung der "Befreiungstheologie" innerhalb der katholischen Kirche Lateinamerikas und der daraus resultierenden Konflikte, eine Darstellung der politischen Zerstrittenheit lateinamerikanischer Schriftsteller oder Konzepte zur Entwicklungshilfe und Wirtschaftssanierung. Mehr als die Hälfte der umfangmäßig EXPONIERTEN Texte befaßt sich mit den Ursachen und dem Ausmaß der Wirtschafts- und Schuldenkrise und diskutiert Wege zur Lösung der Krise. Der Rest behandelt neben den oben genannten Themen die politische Lage in CHILE nach dem Attentatsversuch auf Pinochet, die Struktur der Contra-Bewegungen und die politische Lage der sandinistischen Regierung NICARAGUAS. Die meisten der umfangmäßig EXPONIERTEN Texte haben einen expliziten oder impliziten Deutschland-Bezug. Dies gilt auch für alle 4 auf der ersten Zeitungsseite erschienenen Beiträge: Sie kommentieren Äußerungen des deutschen Militärattaches in
Santiago,
Geißlers und des Auswärtigen Amtes zur chilenischen Militärdiktatur, die Entführung deutscher Aufbauhelfer in NICARAGUA und die politischen Auswirkungen des ölpreisverfalls für die Bundesrepublik und MEXIKO.
4.4.3
Verfasser und Berichtsort
Als Wochenzeitschrift druckt die ZEIT - erwartungsgemäß - keine Agenturtexte über Lateinamerika ab. Die Frage nach den Autoren ihrer Lateinamerika-Berichterstattung ergibt für den Untersuchungszeitraum folgendes Bild:
168
KORRESPONDENT / bzw. Reisekorrespondent REDAKTEUR
7 Texte 3 ' 7
=
15,2 %
39
-
76,1 %
399
=
8,7 %
35 Texte «
Gastautor
4 Texte
Insgesamt
46 Texte
-
100,0 %
Zur Kategorie Berichtsort lassen sich im Falle der ZEIT nur unbefriedigende Feststellungen machen. Nur von 3 Artikeln läßt sich mit Sicherheit sagen, daß sie (direkt) VOR ORT verfaßt wurden bzw. auf Eindrücke zurückgehen, die VOR ORT gesammelt wurden. In diesen Fällen ist ausdrücklich durch die Ortsvermerke " . . . z.Zt. Santiago de Chile" oder "Unser Mitarbeiter suchte in Mittelamerika nach den dunklen Pfaden im Dschungel der Korruption" oder durch eine entsprechende Angabe im Text darauf hingewiesen. 3 weitere Texte über die US-NICARAGUA-Politik und einen Besuch Ortegas in den USA wurden in Washington verfaßt, 2 Artikel mit Lateinamerika-Bezug haben den Ortshinweis Bonn und West-Berlin. Alle übrigen Texte lassen eine Ortsangabe vermissen und wurden daher - wenn sie nicht ausdrücklich als die Arbeiten von Gastautoren ausgewiesen sind - der Kategorie REDAKTEUR/REDAKTION zugeordnet. Personifizierungs- und Reportageelemente in einigen dieser Artikel lassen vermuten, daß auch VOR ORT recherchiert wurde. Doch ist es nicht klar, ob es sich dabei um eigene Erfahrungen der jeweiligen Autoren handelt oder um die freier Mitarbeiter, sogenannter Stringer, die in die besagten Texte redaktionell eingearbeitet wurden. Die Ortsangaben sind jedenfalls zu dünn, um Mutmaßungen über mögliche Milieu- und Perspektivbeschränkungen anzustellen.
397
Wie die ZEIT mitteilt, vefügt sie über keinen in Lateinamerika fest stationierten Korrespondenten. So stammen denn auch nur 2 Texte nachweislich aus der Feder von Reisekorrespondenten in Lateinamerika. 3 Artikel sind vom Washingtoner Korrespondenten ULRICH SCHILLER verfaßt, 2 weitere von Korrespondenten, die aus Bonn und West-Berlin berichten.
sss von den redaktionell verfaßten Texten gehen 11 auf HORST BIEBER zurück, die restlichen stammen von verschiedenen Autoren bzw. Autorenteams. 399
Als Gastautoren erscheinen: SPD-Bundestagsabgeordneter FREIMUT DUVE, der von einer Informationsreise einer Delegation der Sozialistischen Internationale durch CHILE berichtet; GERHARD DREKONJA-KORNAT, Entwicklungssoziologe an den Universitäten Bogotá und Wien (2 Texte); GARY CLYDE HUFBAUER und JEFFREY J. SCHOTT vom "Institute for International Economics" in Washington.
169 4.4.4 Textgattung Ihrem Anspruch als advokatives, analytisches Medium entsprechend legt die ZEIT den Schwerpunkt ihrer Berichterstattung klar auf die INTERPRETIERENDEN und KOMMENTIERENDEN TEXTSORTEN. In der Ubersicht stellt sich die Verteilung so dar:
REFERIEREND INTERPRETIEREND KOMMENTIEREND Insgesamt
4 Texte 360
8,7 %
34 Texte
361
73,9 %
8 Texte
362
17,4 %
46 Texte
100,0 %
Mit diesem Zahlenverhältnis in ihrer Lateinamerika-Berichterstattung hebt sich die ZEIT stark von der WELT und sehr stark von FAZ und SZ ab. Daß die Wochenzeitschrift mit einem größeren Maß an Recherche-Zeit einen höheren Anteil an INTERPRETIERENDEN / KOMMENTIERENDEN TEXTSORTEN aufweisen würde, war zu vermuten. Daß sich aber gegenüber den Tageszeitungen, die sich ebenfalls ausdrücklich als Hintergrundmedien verstehen, ein derartiges prozentuales Gefälle ergibt, überrascht doch. Im Vergleich stellt sich folgendes Bild dar:
ZEIT REFERIEREND
WELT
FAZ
SZ
8,7 %
57,8 %
77,7 %
82,9 %
INTERPRETIEREND
73,9 %
31,3 %
15,5 %
14,4 %
KOMMENTIEREND
17,4 %
10,9 %
6,8 %
2,7 %
360
Darunter eine Kurznachricht, 2 Berichte und ein Dokument.
361
Darunter 15 interpretative Texte mit einer Mischung aus Beschreibung, Interpretation und - gelegentlich - Kommentar, wie sie an anderer Stelle als sogenannte Korrespondentenberichte bezeichnet werden. Im Falle der ZEIT stammen die Texte allerdings nicht immer aus der Feder von Korrespondenten (siehe 4.4.3). Weiterhin zählen zu den INTERPRETIERENDEN Texten 9 Analysen, 4 Feature, 3 Reportagen, ein Interview, ein Portrait und eine Randnotiz.
362
Darunter 5 Kommentare (4 argumentative "Einerseits-Andererseits-Kommentare" und ein "Geradeaus-Kommentar"), eine argumentative Auseinandersetzung mit Büchern und Aussagen über NICARAGUA - eine Mischung aus Kommentar und Buchrezension -, eine kommentierende Randbemerkung und ein Essay.
170 Allerdings hält sich die ZEIT nicht an eine Trennung von Interpretation und Kommentar, so daß die Grenze zwischen den Textsorten fließend ist. Allein in 27 der 34 INTERPRETIERENDEN Beiträge ist eine zum Teil sehr starke Kommentierung zu finden. Das entspricht einem Anteil von 64,3 Prozent. 363 Die Kommentierungen werden besonders drastisch im Zusammenhang mit der nicaraguanischen Contra und ihrer Unterstützung durch die US-amerikanische Regierung sowie gegenüber der Regierung Pinochet. Das CHILE-Bild der ZEIT präsentiert sich beispielsweise in der eingängigen Kurzformel "Land der Folter". 3 6 4 Die nachfolgenden Beispiele mögen die Schärfe bzw. Emotionalität in den Kommentierungen verdeutlichen: " ... Die pathetischen Produkte der publizistischen Phalanx des Weißen Hauses ließen sich zu den Akten legen - wenn nicht der Präsident selbst die Entscheidung über die Contra-Hilfe als seine 'geschichtliche Stunde' empfinden würde ... Sie [das Sandinisten-Regime) nicht jetzt zu bremsen, beschwöre ein strategisches Desaster für die Vereinigten Staaten. Dieses riesige Gespenst (hinter dem sich nur drei Millionen Nicaraguaner verbergen) malte der 'große Kommunikator' auf die Femsehschirme ..." 36S "Die Vereinigten Staaten hatten damals schon [1982] an der Nordgrenze von Nicaragua eine Guerilla angezettelt. Im gebirgigen Grenzland zu Honduras unterhielten sie seit einiger Zeit die 'Fuerza Democrätica Nicaraguense' (FDN), eine kleine, jedoch immer stärker anschwellende Truppe von Landsknechten, Schmugglern und Bauern. Sie versprachen, auch Pastora an der Südfront Waffen und Ausrüstung zukommen zu lassen ... Einige tausend Rekruten ließen sich von dem Ruf des Revolutionshelden verführen. Unzufriedene Bauern verließen ihre Hütten, Eltern schickten ihre Söhne, mitunter kamen ganze Familien. Sie flohen vor der Wehrpflicht, aus Frömmigkeit oder weil sie der antikommunistischen Propaganda und deren Angstparolen Glauben schenkten ... Vor allem für den rechten, konservativen Flügel der amerikanischen Regierung ist der Krieg der Contras zu einer Obsession geworden. Mittelamerika gilt als ein Prüfstein für die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, kommunistische Regimes, oder was dafür herhalten muß, zu bekämpfen. Ohne Rücksicht auf Verluste stürzte sich Präsident Ronald Reagan in die Schlacht .,." 366
363
In den wenigen REFERIERENDEN Beiträgen der ZEIT waren keine Kommentierungen zu finden.
364
KLAUS POKATZKY: Erstmals soll ein Exil-Chilene ausgewiesen werden: Zurück ins Land der Folter. In: DIE ZEIT Nr. 48 vom 22.11.1985, S. 14.
369
ULRICH SCHILLER: Ronald Reagans historische Stunde. In: DIE ZEIT Nr. 13 vom 21.3.1986, S. 4.
366
JOACHIM RIEDL: Der schmutzige Krieg der Contras. In: DIE ZEIT Nr. 24 vom 6.6.1986, S. 25 ff.
171
"Im dreizehnten Jahr seiner Herrschaft erscheint der 70jährige General unbeugsamer und unbelehrbarer denn je. Die ganze Welt geht auf Distanz, doch er zeigt sich fest entschlossen, die Macht nicht aus der Hand zu geben ... Den Anschlag auf sein Leben benutzt Pinochet nun dazu, um allen Widerstand und jede Kritik zu ersticken. 'Ich oder das Chaos', droht sein Schlachtruf ..." - Das Motto Pinochets "ich oder das Chaos" dreht das Autorenteam in der Schlagzeile in "Pinochet und das Chaos" um. Weiter heißt es im Text: " ... zischte der General... ... bellt er bei einer Kundgebung ins Mikrophon ... ... von den Killern des Regimes ermordet. Alle vier waren Mitglieder linker Parteien ... ... Selbst einer der Falken der amerikanischen Regierung, der Lateinamerika-Experte des State Department, Eliot Abrams wurde nachdenklich ..." 367 " ... Bis vor einem Jahr konnte sich der Generalspräsident auf 'seine' Armee verlassen; seitdem springen immer mehr Heeresoffiziere ab, und diese Erosion auch nach der Zwangspensionierung der prominentesten Kritiker anhalten recht unter einem Heeres-Junta-Mitglied Gordon. an dessen Händen frisches klebt ,.."36B
fest wird erst Blut
"Die Entscheidung über die Zukunft solcher Todeskandidaten des Diktators [die um Asyl in der Bundesrepublik gebeten haben] liegt beim Bundesinnenminister. Es wäre barbarisch, wenn sich deutsche Behörden bei Ihrer Beurteilung der Fälle auf Dokumente und Aussagen stützen würden, die der Folter- und Verfolgerstaat zusammengestellt hat... " 3 6 9
4.4.5
Darstellung eines Sachverhalts
Entsprechend ihrer hohen Zahl an INTERPRETIERENDEN / KOMMENTIERENDEN Artikeln bietet die ZEIT in 27 Texten Ursachenerklärungen für die politischen und wirtschaftlichen Krisen Lateinamerikas an. Diese Zahl entspricht 58,7 Prozent ihrer Berichterstattung. Damit übertrifft sie die weitgehend REFERIERENDEN Tageszeitungen (SZ 38,7 Prozent, WELT 35,9 Prozent und FAZ 31 Prozent). Ähnlich wie bei den untersuchten Tageszeitungen gestaltet sich im Falle der ZEIT das Verhältnis von MONOFAKTORALEN zu MULTIFAKTORALEN Erklärungen: 22 mal werden Krisen auf MONOFAKTORALE Ursachen, nur 5 mal auf MULTIFAKTORALE
367
NIKOLAUS BRENDER / JOACHIM RIEDL / MICHAEL SONTHEIMER: Pinochet und das Chaos. In: DIE ZEIT Nr. 40 vom 26.9.1986, S. 17 ff.
36B
HORST BIEBER: Dialog unter Druck. Pinochet muß mit wachsender Kritik rechnen. In: DIE ZEIT Nr. 43 vom 17.10.1986, S. 11.
369
FREIMUT DTJVE: Wer ist ein Terrorist? Zum Tode verurteilte Häftlinge bitten um Aufnahme in der Bundesrepublik. In: DIE ZEIT Nr. 45 vom 31.10.1986, S. 12.
172
Ursachen zurückgeführt. Das entspricht - gleich FAZ und WELT - einem Verhältnis von 4 zu 1 (SZ 5 zu 1). Doch fallen sowohl die MULTIFAKTORALEN als auch die M O N O FAKTORALEN Darstellungen im Schnitt umfangreicher aus als bei den Tageszeitungen, d.h., die ZEIT neigt hier eher zu AUSFÜHRLICHEN bis KOMPRIMIERTEN Erklärungen. Auch stammen die Darlegungen weitgehend aus der Feder der ZEIT-Joumalisten, nur 8 Erklärungen sind Verlautbarungen. Doch auch sie bleiben nicht ohne journalistische Stellungnahme, sondern werden - bis auf eine Ausnahme
370
- von den jeweiligen Autoren
kommentierend begleitet. Die meisten Erklärungsschemata beziehen sich - wie bei SZ, WELT und FAZ auch - auf die krisenhafte innenpolitische Lage CHILES (9 mal) und die innen- und außenpolitische Lage NICARAGUAS (8 mal). Wie auch bei den Tageszeitungen sind alle diesbezüglichen Darlegungen MONOFAKTORAL. Im Tenor gleichen die Erklärungsschemata denen der SZ, nur daß die ZEIT-Autoren im Falle NICARAGUAS direkter und ausführlicher, im Falle CHILES aspektreicher Stellung nehmen: Nach Darstellung der ZEIT ist es in erster Linie General Pinochet, der - unterstützt von paramilitärischen Truppen und getragen von großen internationalen Unternehmen - dafür verantwortlich ist, daß sich die innenpolitische Lage immer krisenhafter zuspitzt, und eine Demokratisierung CHILES verhindert wird. Wiederholt weist die Zeitung aber auch darauf hin, daß eine Demokratisierung des Landes nicht nur deshalb ungewiß ist, weil Pinochet - obwohl politisch isoliert - zu stur sei, die Macht aus der Hand zu geben. Sein Regime werde auch am Leben erhalten, weil es die Oppositionsparteien nicht verstünden, sich auf ein gemeinsames, für die refoimbereiten Militärs akzeptables Vorgehen zu einigen. Trotz dieser Darstellung bleibt eine Regierung Pinochet für die ZEIT-Autoren unannehmbar - die Kommentierungen zu Pinochet fallen ebenso aversionsgeladen aus, wie bei der SUDDEUTSCHEN ZEITUNG festgestellt. Im Zusammenhang mit dem fehlgeschlagenen Attentat auf den chilenischen Präsidenten läßt die ZEIT Stimmen zum Für und Wider eines "Tyrannenmordes" zu Wort kommen, wobei der Tenor der Berichterstattung den Eindruck erweckt, als bedauerten die ZEIT-Autoren das Mißglücken des Anschlags. Dieser Eindruck wird unterstützt durch zitierte Verlautbarungen wie: "Weniger als hundert Slumbewohner wurden verhaftet, doch die Einschüchterung wirkte nachhaltig. Christdemokrat Valdes: 'Es war barbarischer Terror gegen die Ärmsten der Armen, genauso muß es im Warschauer Ghetto zugegangen sein' ...
370
Dabei handelt es sich um in Dokumentationsform wiedergegebene Ausführungen Reagans zur US-NICARAGUA-Politik.
173
Der frühere Staatssekretär im amerikanischen Außenministerium, Langhome Motley ... : 'Das ist die härteste Nuß, der ich je begegnet bin; verglichen mit ihm [Pinochet] wirken Somoza und all diese Kerle wie Schoßhündchen.' ... nach dem gescheiterten Anschlag auf Pinochet zitierte NEWSWEEK den Berater eines republikanischen Senators: 'Die Stimmung hier im Kongreß ist: Schade, daß es ihn nicht erwischt hat' ... " 3 7 1 Die ZEIT läßt allerdings offen, welche kurzfristige Alternative sie angesichts eines ihrer Meinung nach inakzeptablen Pinochet und einer hoffnungslos zerstrittenen Opposition für CHILE sieht. Alle MONOFAKTORALEN Erklärungen der ZEIT zur innen- und außenpolitischen Krise NICARAGUAS kreisen um den von der US-Regierung unterstützten Kampf der nicaraguanischen Contra. Dabei stellt die Zeitung Präsident Reagans Darstellung der sandinistischen Regierung als totalitäres, marxistisches Regime, das die einstigen Revolutionsziele verraten habe, den Nicaraguanern die Freiheit nehme und die Nachbarstaaten und NatoInteressen bedrohe, als "riesiges Gespenst" dar. 372
Entsprechend verurteilt die ZEIT den
US-gestützten Contra-Kampf als Wurzel allen gegenwärtigen Übels in NICARAGUA, wenngleich sie auch der sandinistischen Regierung in einem Text eine "Latte von Vorwürfen" vorhält: So macht HORST BIEBER innenpolitische Fehlentscheidungen der Sandinisten für wirtschaftliche Not, außenpolitische Isolierung und mangelnde Demokratisierung verantwortlich (wie Beschneidung der Pluralität, Unterdrückung der Opposition, Einschränkungen bei der einst versprochenen gemischten Wirtschaft und Blockfreiheit). Die Sandinisten hätten zu viele Feinde herbeigeredet und damit eine starke Aufrüstung begründet, sie hätten sich einseitig für die salvadorianische Guerilla ausgesprochen, was die Nachbarregierungen und Washington habe erschrecken müssen. Doch mit dem Eingreifen der USA in Form der Contra-Unterstützung und mit dem US-Handelsembargo sowie den Kreditsperren, betont auch BIEBER, habe sich die Situation verschärft, habe sich eine Polarisierung ergeben, die die Stellung des Regimes auf Kosten der zivilen Opposition festige. So könnten die Sandinisten nun jede Freiheitsbeschneidung mit dem Krieg rechtfertigen.
Die Contra-Unterstützung der USA erhält einen negativen Beigeschmack, indem BIEBER die Bemerkung vorausschickt:
371
NIKOLAUS B REND ER / JOACHIM RIEDL / MICHAEL SONTHEIMER: Pinochet und das Chaos. A.a.O., S. 21 f.
372
ULRICH SCHILLER: Ronald Reagans historische Stunde. A.a.O.
174
" . . . Seit Moskau und Havanna klargemacht haben, daß sie nur limitierte Hilfe leisten und den Fall Nicaragua nicht zum Ost-West-Test machen werden, fehlt es Managua an außenpolitischen Freunden, die auf Washington einwirken können ..." 373 Mit dieser Feststellung, die fast nebenbei fällt, zeichnet der Autor ein völlig anderes Bild von den politischen Gegebenheiten als dies FAZ und WELT in Übereinstimmung mit der US-Regierungsposition tun. Beide Tageszeitungen untermauern ihre Darstellung der Sandinisten als Sowjet- bzw. Kuba-gestütztes Regime wiederholt mit US-Angaben, während bei der ZEIT ein Quellenverweis zur gegenteiligen Feststellung fehlt. Um ihre Kritik an der US-Contra-Unterstützung
zu unterstreichen, die nach
ihrer
Darstellung ein verdeckter Krieg der USA gegen NICARAGUA ist (wenngleich in der Hauptsache getragen von der Regierung Reagan, des CIA und von Ultra-Konservativen ohne die Zustimmung der breiten Bevölkerung in den USA), zeichnet die ZEIT mit großer Ausführlichkeit ein entsprechend negatives Bild der Contra. Mal werden die Rebellen vorgestellt als demoralisierte, hungernde Bauemsöhne an der Basis mit rechten, prassenden Kommandanten an der Spitze, die durch ihre Korruption die eigenen Kampfesziele unterlaufen. Mal werden sie kurz als "Piranhas der CIA", 3 7 4 als "rechte Rebellen", 375 als "Söldnerbande" beschrieben: " ... Der Krieg der von den Vereinigten Staaten finanzierten Contras ist längst zum Terror herabgesunken - Anschläge gegen Personen oder Einrichtungen, die mit viel Mühe aufgebaut worden sind ... Wie viele Tote der schmutzige Krieg schon gefordert hat, ist ungewiß - wahrscheinlich mehrere tausend; darunter knapp dreißig Bürger westlicher Staaten, etwa die doppelte Anzahl osteuropäischer Helfer. Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Die Contra - heute eine Söldnerbande unter korrupter Führung - hat längst ihren Plan aufgeben müssen, ein Stück Nicaraguas zu besetzen und eine Gegenregierung auszurufen. Dazu reichen weder ihre Kräfte noch die Zustimmung aus der Bevölkerung. Hingegen sind sie ihrem Ersatzziel sehr nahe gekommen, das Land zu ruinieren, direkt und indirekt durch die immense Aufrüstung, die Managua mit dem schmutzigen Krieg vor seinen besorgten Nachbarn rechtfertigt." 376
373
HORST BIEBER: Auch Tote halten die Helfer nicht auf. Die Contra verschärft den Terror, die Sandinisten sind in der Sackgasse - doch die "Brigadisten" reisen weiter. In: DIE ZEIT Nr. 33 vom 8.8.1986, S. 4.
374
JOACHIM RIEDL: Der schmutzige Krieg der Contras. A.a.O.
373
HANS JAKOB GINSBURG: Washington: Militärhilfe für die Contras. In: DIE ZEIT Nr. 28 vom 4.7.1986, S. 4.
376
HORST BIEBER: NICARAGUA: Mord an Helfern. In: DIE ZEIT Nr. 32 vom 1.8.1986.
175
In Zusammenhang mit den MONOFAKTORALEN Erklärungsschemata zu den Krisen CHILES und NICARAGUAS sei auf den hohen Grad an PERSONALISIERUNG hingewiesen, die - bis auf eine Ausnahme
377
- bei Pinochet und Reagan Anwendung findet.
Mit einem Grad an PERSONALISIERUNG von 21,7 Prozent (10 Fälle) übertrifft die ZEIT die SZ (19,8 Prozent), die WELT (18,6 Prozent) und die FAZ (1,0 Prozent). Die PERSONALISIERUNG geht überwiegend auf die ZEIT-Autoren zurück: Aus den Texten über CHILE erfährt der Leser, daß der Militärputsch gegen Allende 1973 Pinochets Putsch gewesen sei, daß nun Pinochets Sturheit die Demokratisierung des Landes verhindere, daß Pinochet durch Polarisieren gezielt die demokratische Mitte CHILES zerstören wolle, daß sein Terrorregime für eine innenpolitische Radikalisierung verantwortlich sei. Von den "Todeskandidaten des Diktators" ist die Rede und davon, daß Pinochet den Ausverkauf des Landes an internationale Großkonzerne betreibe und versuche, durch seine Wirtschaftspolitik den Mittelstand zu strangulieren. Die restlichen 3 Texte machen Präsident Reagan für die US-NICARAGUA-Politik und damit für die Krise in dem mittelamerikanischen Land verantwortlich. Es ist die Rede von seiner Mittelamerika-Politik, vom großen Contra-Förderer Reagan, von seinem Kreuzzug für die Contra-Hilfe. Reagans Weltanschauung sei der Schlüssel zu seinem starken Engagement für die Contras, so schreibt ULRICH SCHILLER. Reagans Entschluß, den Kommunismus zu stoppen, fuße auf seinem "harten Antikommunismus, der auf seine persönlichen Erfahrungen in der Schauspielergewerkschaft in Hollywood zurückgeht", den er nun zur nationalen Politik erheben wolle: 378 "Ohne Rücksicht auf Verluste stürzte sich Präsident Ronald Reagan in die Schlacht. 'Auch ich bin ein Contra!' bekannte er im Frühjahr. Seit drei Monaten versucht er nun, dem Kongreß 230 Millionen Mark an Militärhilfe für seine Guerilleros zu entreißen ... " 3 7 9 MONOFAKTORAL, also durch falsche Politik in jüngster Vergangenheit und Gegenwart, sieht die ZEIT die politischen und wirtschaftlichen Probleme BRASILIENS verursacht.
377
Sie betrifft eine Verlautbarung Heiner Geißlers zu Somoza: "Angesichts der Verarmung, der Verelendung, der Korruption, der Menschenrechtsverletzungen, die er persönlich begangen und der vielen Morde, die Somoza auf dem Gewissen hatte, glaube ich, daß die gewaltsame Lösung in Nicaragua auch moralisch gerechtfertigt gewesen ist." - In: Pinochet ist nicht Somoza. Interview mit CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. In: DIE ZEIT Nr. 40 vom 26.9.1986, S. 19.
378
ULRICH SCHILLER: Ronald Reagans historische Stunde. A.a.O.
379
JOACHIM RIEDL: Der schmutzige Krieg der Contras. A.a.O.
176
Zu den Wirtschaftsproblemen LATEINAMERIKAS, namentlich Schuldenkrise und Kapitalflucht, werden 3 weitere MONOFAKTORALE Erklärungen gegeben: Kommentierend, aber ohne sich für die eine oder andere Darstellung festzulegen, präsentiert GERHARD DREKONJA-KORNAT zwei konträre Erklärungsmodelle. So führten Dependenztheorien marxistischer und linksnationaler Couleur
Konsolidierungsprobleme
der Dritten Welt "auf ein vorsätzliches Zusammenspiel zwischen Industriewelt-Bossen und 'Stellvertreter-Eliten' in den Staaten der Dritten Welt" zurück. Populärer aber, so meint der Autor, sei wohl die Vorstellung, die Dritte Welt sei für politische und wirtschaftliche Fehlentwicklung selbst verantwortlich. 390 Kapitalflucht als großes Wirtschaftsproblem LATEINAMERIKAS sieht RUDOLF HERLT in der ungesunden Wirtschaftspolitik begründet: "Attraktiv ist ein Land für Kapital nur, wenn es Sicherheit und gute Zinsen bietet. Sicherheit heißt, die Währung darf nicht unter Abwertungsverdacht kommen, es darf keine Verstaatlichung privater Unternehmen drohen, es dürfen keine Kapitalverkehrskontrollen ins Haus stehen ... Die Attraktivität, die nötig ist, um Kapital im Lande zu halten und Fluchtkapital zur Rückkehr zu bewegen, fehlt gegenwärtig vielen Ländern ... Eine Region mit ganz besonders schlimmen Problemen ist Lateinamerika ... Gegen die Kapitalflucht hilft aber nur eine Wirtschaftspolitik, die das Vertrauen in die Regierungen der Schuldnerländer wiederherstellt ... " 3 B 1 Gegenseitigen Schuldzuweisungen - die lateinamerikanischen Vorwürfe sprechen von Ausbeutung, amerikanischer Hochzinspolitik und der Verschlechterung der "terms of trade", die der Gläubigerländer von übermäßiger Rüstung, Prestigeobjekten, Verschwendung, zu wenig freier Marktwirtschaft - hält HORST BIEBER entgegen, daß beide Seiten schwere Fehler begangen hätten, für die beide Wiedergutmachung leisten müßten. Dabei gibt der Autor zu bedenken: " 'Mehr Marktwirtschaft' [eine Forderung des US-Finanzministers Baker] ist leicht gesagt, aber stabile Preise, fiskalische Disziplin, funktionierende Märkte, freier H a n del, Maßnahmen gegen die Kapitalflucht und die hemmende Korruption lassen sich in den Schuldnerländem nicht von heute auf morgen durchsetzen. In vielen Ländern kommen sie einer regelrechten Revolution gleich, die mehr Zeit braucht, als das Schuldenproblem noch zuläßt. Herrschende Eliten müssen ihr Verhalten ändern und soziales Bewußtsein entwickeln. Parteien und Politiker müssen sich demokratischen
380
GERHARD DREKONJA-KORNAT: Der kaputte Traum vom Garten Eden. In: DIE ZEIT Nr. 27 vom 27.6.1986, S. 29.
381
RUDOLF HERLT: Dollars auf der Flucht. In: DIE ZEIT Nr. 26 vom 20.6.1986, S. 27 f.
177 Spielregeln unterwerfen, um jene Stabilität zu erzielen, die Sparen, Planen und langfristiges wirtschaftliches Engagement des einzelnen Bürgers ermöglicht... " 382 5 teilweise sehr ausführliche Darstellungen führen die wirtschaftlichen Probleme LATEINAMERIKAS, namentlich
MEXIKOS, allerdings
auf
MULTIFAKTORALE
Ursachen
zurück: Die sogenannte "Befreiungstheologie" sieht den unterdrückenden Armutszustand weiter Bevölkerungsschichten begründet in einer "politisch und militärisch versteinerten Wirtschaftsform" sowie in den ungerechten Strukturen, wie sie regional in LATEINAMERIKA und international auf der Ebene der Weltwirtschaft herrschten. Von ihnen gelte es, sich zu befreien. 383 Zusammengenommen ergeben die 4 übrigen Erklärungen ein abgerundetes Bild von den Zusammenhängen der wirtschaftlichen Fehlentwicklungen LATEINAMERIKAS. Demnach leidet die Region an mangelhafter Infrastruktur und an Industriekonzentration in den Ballungszentren, genauer gesagt, an einem Ungleichgewicht zwischen staatlich subventionierten, außenhandelsorientierten Großunternehmen in den Zentren und vernachlässigten binnenmarktorientierten Kleinunternehmen außerhalb der Metropolen - ein Zustand, der die Landflucht fördere und zur wachsenden Verarmung des Mittelstandes beitrage. Bezeichnend sei ein unangepaßter Technologietransfer, der an den wirtschaftlichen Gegebenheiten vorbeigehe. Hintergedanke einer solchen Wirtschaftsplanung, die auch auf realitätsferne Entwicklungskonzepte aus den Industriestaaten zurückgehe, seien Hoffnungen auf Exportsteigerungen gewesen, die sich nachträglich als trügerisch erwiesen hätten. So habe beispielsweise das Vertrauen auf Reichtum an Erdöl bei MEXIKOS Regierung und privaten Unternehmern in den 70er Jahren eine ungebremste Bereitschaft zur Kreditaufnahme ausgelöst, die - durch ein niedriges Zinsniveau und durch allzu großzügige Kreditgewährung seitens der internationalen Geschäftsbanken begünstigt - zu einer raschen Auslandsverschuldung geführt habe. Die Verschuldung, so heißt es, sei auch durch Vetternwirtschaft bedingte, aufgeblähte Behördenapparate, staatliche Verschwendung (beispielsweise für sinnlose Prestigeobjekte), Korruption und Mismanagement bewirkt oder verschärft worden. Entwicklungs- oder Sanierungskonzepte von Planem aus den Industriestaaten (wie Sparauflagen, Drosselung des Imports bei Exportsteigerung) hätten die Investitionen in den Export noch forciert.
382
HORST BIEBER: Der Schuldenberg wächst. In: DIE ZEIT Nr. 2 vom 3.1.1986, S. 5.
383
Konzepte der Befreiungstheologie, vorgestellt von GERHARD DREKONJA-KORNAT: Das Paradies auch auf Erden. In: DIE ZEIT Nr. 20 vom 9.5.1986, S. 41 ff.
178 Die Hoffnungen auf Produktions- und Exportsteigerungen platzten schließlich nach Darstellung der ZEIT aufgrund mehrerer Faktoren, bzw. sie mußten relativiert werden. Die Ursachen seien: - sinkende oder auf niedrigem Niveau verharrende Preise der wichtigsten Exportgüter wie Erdöl; - Protektionismus; - geschrumpfte Sparkapazität, unterbrochene Kapitalzuflüsse, erzwungene Budgetkürzungen, Einfuhrbeschränkungen und Rückgang der Investitionen, die durch den ölpreisverfall, Zinsanstieg, gleichzeitige Rezession zu Beginn der 80er Jahre und die damit verschärfte Verschuldungskrise bewirkt worden seien. Entscheidendes Glied in diesem Teufelskreis sei schließlich eine verheerende Kapitalflucht. Am Ende dieser Entwicklungen stünden schrumpfende wirtschaftliche Wachstumsraten, die mit dem starken Bevölkerungswachstum nicht mehr Schritt halten könnten. Die seit jeher ungerechte Einkommensverteilung verschiebe sich damit weiter, die Arbeitslosenraten und die Verarmung stiegen. In ihren Darstellungen zu den Ursachen der Wirtschafts- bzw. Verschuldungskrise Lateinamerikas widmet die ZEIT den Teilfaktoren Korruption, Kapitalflucht und Vernachlässigung der Kleinbetriebe besonderes Augenmerk. Verkrustete politische Strukturen und die "politisch und militärisch versteinerte Gesellschaftsform" bzw. die regional und international "ungerechten Strukturen" als Krisenfaktoren finden nur schlagwortartige Erwähnung. Ähnlich wie die SZ versucht die ZEIT, politische und wirtschaftliche Situationen anschaulich zu verdeutlichen. So weisen 8 Texte der Stichprobe PERSONIFIZIERUNG auf. Das ist ein Anteil von 17,4 Prozent (SZ 5,4 Prozent, FAZ 1 Prozent). Die Texte wählen für die PERSONIFIZIERUNG Vertreter verschiedener Gesellschaftsgruppen aus, beispielweise: Einige "erfundene, der Wirklichkeit aber nahekommende Streiflichter" sollen die allgemeine Verbreitung der Kapitalflucht als großes Wirtschaftsproblem Lateinamerikas darlegen: "In einem klimatisierten Büro in Buenos Aires geht Julio Alberto, der Inhaber einer großen Häute-Exportfirma, seiner Lieblingsbeschäftigung nach - er schreibt Rechnungen. Dabei dürfen ihm nur die fünf leitenden Angestellten, seine Vertrauten, über die Schulter sehen. Denn Albertos Rechnungen sind absichtsvoll falsch ausgestellt, nämlich zu niedrig. Die letzte Partie an Häuten, die an die Leatherhouse Inc. in Chicago ging, hat einen Wert von umgerechnet 800 000 Mark. Auf die Rechnung schreibt Alberto jedoch nur eine Summe, die umgerechnet 500 000 Mark ausmacht. Der Clou: Die Differenz von 300 000 Mark überweist sein Geschäftspartner aus
179 Chicago nicht nach Buenos Aires, sondern auf ein Konto des Julio Alberto bei der Chase Manhatten Bank in New York ... " 384 Die Verfolgungsängste des Sozialisten José symbolisieren die nervenzerrüttende Situation von Oppositionellen in CHILE. Gleichzeitig heißt es: "Auch Maria Vargos brüllte für Pinochet. Wenn ihr der Leiter der Schule, in der sie als Putzfrau arbeitet, nicht mit dem Rausschmiß gedroht hätte, wäre sie dem Spektakel ferngeblieben. Roberto erhielt gleich zweimal die Gelegenheit, am Präsidenten vorbeizudefilieren. Er arbeitet für 50 Mark im Monat im nationalen Beschäftigungsprogramm der Regierung. Auch er hatte nur die Alternative: Mitlaufen oder die Arbeit verlieren. 'Als wir das erste Mal vorbeimarschiert waren', erzählt er, 'forderte uns der Blockführer auf, noch einmal von vorne zu beginnen' ... " 385
4.4.6
Krisenursache
Aus den Darstellungen des letzten Abschnitts geht bereits hervor, daß von den insgesamt 27 Ursachenangaben knapp die Hälfte (13) die beschriebenen Krisen als ENDOGEN verursacht sehen. Dazu zählen die innenpolitische Krise CHILES, die politisch und wirtschaftlich instabile Lage BRASILIENS. Aber auch einige Texte über LATEINAMERIKA stellen Wirtschaftsprobleme als rein ENDOGEN bewirkt dar. Die andere Hälfte der Ausführungen (14) sehen die Problemlagen ENDOGEN-EXOGEN begründet. Dabei liegt die Betonung im Zusammenhang mit NICARAGUA eher auf EXOGEN, wenn die NICARAGUA-Politik und die Contra-Unterstützung der ReaganAdministration als Verschärfer der Krise kritisiert werden. Im
Zusammenhang mit
LATEINAMERIKAS und MEXIKOS Wirtschafts- und Verschuldungskrise liegt die Betonung dagegen auf ENDOGEN. So heißt es schlagwortartig: "Die Regierungen der Gläubigerländer können und dürfen nicht ausschließlich den Steuerzahler die Zeche bezahlen lassen. Die Regierungen der Gläubigerländer sind zwar nicht ganz unschuldig an der [Verschuldungs-] Krise, zum überwiegenden Teil aber wurde sie von den Banken und den Regierungen der Schuldnerländer verursacht ... Aufgenommene Auslandsgelder haben nur dann einen Sinn, wenn sie zur Finanzierung von Investitionen verwendet werden, aus deren Erträgen Zinsen und Tilgungen finanziert werden können. In den Schuldnerländem, die heute die größten Sorgen machen - die relativ wohlhabenden Länder Lateinamerikas -, ist das Auslandskapital im wesentlichen für mehr Konsum, für sinnlose Prestigeobjekte und für bloße staatliche Verschwendung verwendet worden. Niemand wird im Emstfall einer Regierung, die weiß, daß ihr im Notfall Schulden teilweise erlassen werden,
384
RUDOLF HERLT: Dollars auf der Flucht. A.a.O.
385
NIKOLAUS BRENDER / JOACHIM RIEDL / MICHAEL SONTHEIMER: Pinochet und das Chaos. A.a.O., S. 18.
180
unterstellen dürfen, daß sie den Weg zu einer vernünftigen Wirtschaftspolitik zurückfindet ... " 3 8 6 So erscheinen die politischen und wirtschaftlichen Probleme Lateinamerikas mit Ausnahme NICARAGUAS primär hausgemacht. Ebensowenig wie SZ, WELT und FAZ liefert die ZEIT theoretische Erklärungsansätze - Angaben über ENDOGENE oder EXOGENE PROZESSE - zu den gegenwärtigen Krisen dieser Region. Nur in einem Fall stellt Gastautor GERHARD DREKONJA-KORNAT einer referierten ENDOGENEN Erklärung eine Darstellung gegenüber, die implizit auf EXOGENE PROZESSE abstellt, ohne aber auf die historische Dimension einzugehen oder sich mit den dependenztheoretischen Erklärungen weiter auseinanderzusetzen: "Haben die Weißen aus den Industrieländern sie [die Länder der Dritten Welt] absichtlich ruiniert, um ihre Vormacht zu verteidigen? Marxistische, linksnationalistische und dependenztheoretische Antworten gibt es zur Genüge. Sie alle behaupten ein vorsätzliches oder zumindest augenzwinkerndes Zusammenspiel zwischen Industriewelt-Bossen und 'Stellvertreter-Eliten' in den Staaten der Dritten Welt. Solche Thesen verdichtete - und vulgarisierte - der Politologe Dieter Senghaas in mehreren Suhrkamp-Bändchen zu einer von Zentraleuropas Studenten eifrig rezipierten 'Theorie des peripheren Kapitalismus', die beharrlich die ruinöse Falschmünzerei des metropolitanen Zentrums (unter Einsatz insbesondere der Entwicklungspolitik) zur eigenen Machterhaltung nachzuweisen sucht ... " 3 8 7
4.4.7
Zeitliche Tiefe der Hintergrundinformation, Zweck und Umfang des Geschichtsbezugs
Wie bei den Tageszeitungen so reicht auch im Falle der ZEIT die zeitliche Tiefe der Lateinamerika-Berichterstattung konkret nicht über die jüngste Vergangenheit hinaus, wenngleich die Ausführungen zum UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT und zur VORGESCHICHTE erheblich häufiger vorkommen und wesentlich umfangreicher ausfallen: Im Falle NICARAGUAS und CHILES gehen auch hier die Geschichtsbezüge nur bis Somoza und Allende zurück, ohne daß die Regierungszeit beider Präsidenten näher beleuchtet wird, im Falle BRASILIENS und LATEINAMERIKAS bis in die 50er/60er Jahre, im Falle MEXIKOS bis in die 70er Jahre.
3B
* RUDOLF HERLT: Für die Banken ein Tabu. Warum private Gläubiger nicht über Schuldenerlaß reden. In: DIE ZEIT Nr. 48 vom 22.11.1985, S. 23.
M7
GERHARD DREKONJA-KORNAT: Der kaputte Traum vom Garten Eden. A.a.O.
181
In den untersuchten Ausgaben der ZEIT finden sich sehr reichlich Angaben zum UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT. Der Anteil liegt bei 65,2 Prozent (30 Texte). In Anbetracht des hohen Prozentsatzes an INTERPRETIERENDEN
TEXTSORTEN
nimmt die ZEIT hier erwartungsgemäß gegenüber den Tageszeitungen eine Spitzenposition ein. Dies gilt entsprechend für den Umfang der Bezüge: Die Ausführungen zum UNMITTELBAREN ZEITLICHEN KONTEXT sind nur in 3 Fällen SCHLAGWORTARTIG, in 18 Fällen KOMPRIMIERT, in 9 Fällen zum Teil sehr AUSFÜHRLICH. Der prozentuale Vergleich zwischen den Zeitungen ergibt folgendes Bild:
ZEIT
FAZ
WELT
SZ
6,5 %
11,7 %
43,8 %
17,1 %
KOMPRIMIERT
39,1 %
32,0 %
7,8 %
24,3 %
AUSFÜHRLICH
19,6 %
15,5 %
Insgesamt
65,2 %
59,2 %
SCHLAGWORTARTIG
4,5 %
-
51,6 %
45,9 %
Auch bei den Angaben zur VORGESCHICHTE läßt die ZEIT die Tageszeitungen ein gutes Stück hinter sich. Die Bezüge der Kategorie VORGESCHICHTE sind in 22 Texten, also 47,8 Prozent der Lateinamerika- Berichterstattung zu finden. Dabei legt die ZEIT im Unterschied zu den Tageszeitungen den Akzent klar auf die Darstellung von Prozessen. Allein 10 zum Teil sehr AUSFÜHRLICHE Darstellungen zur VORGESCHICHTE fallen unter die
Kategorie
"zeitlich begrenzte endogene bzw.
endogen-exogene Prozesse". Sie gehen nicht über die jüngste Vergangenheit hinaus. Die Ausführungen gelten - der verfehlten Wirtschaftspolitik LATEINAMERIKAS hinsichtlich einer Vernachlässigung von Kleinbetrieben (Prozeß dargestellt ab den 50er Jahren); - den Gründen der Verschärfung der Schuldenkrise LATEINAMERIKAS seit den 70er Jahren; - den kirchenpolitischen Entwicklungen in LATEINAMERIKA seit 1968; - einer Bilanz der innenpolitischen Entwicklung NICARAGUAS seit 1979 - einmal aus Sicht der ZEIT-Autoren, einmal aus der Perspektive Ronald Reagans; - einer Entwicklungsgeschichte der Contra seit 1980;
182
- der Wirksamkeit von Wirtschaftssanktionen, dargestellt am Wirkungsprozeß von USSanktionen gegenüber NICARAGUA ab 1980; - der krisenhaften Wirtschaftsentwicklung CHILES nach dem Militäiputsch 1973; - der Wirtschaftsentwicklung BRASILIENS von 1985 bis 1986 nach Inkrafttreten von Präsident Sameys Anti-Inflationsprogramm; - den Ursachen der "chronischen Übel" MEXIKOS, Arbeitslosigkeit und Armut, zurückgeführt auf eine falsche Politik der seit Jahrzehnten regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (Prozeß dargestellt ab 1974). Die übrigen 12 Darstellungen zur VORGESCHICHTE - bis auf eine sehr AUSFUHRLICHE Ausnahme eher SCHLAGWORTARTIG oder KOMPRIMIERT - teilen sich auf in: - 8 ANALOGIEN, die sich teils auf analoge Ereignisse oder Situationen Lateinamerikas, teils auf analoge Begebenheiten anderer Erdregionen (z.B. Vietnamkrieg) beziehen; - 3 KONTINUITÄTS-Darstellungen und einen KONTRAST-Bezug. Auch bei diesen Darstellungen geht die zeitliche Tiefe nicht über die jüngste Geschichte hinaus, oder sie ist von undefinierbarer zeitlicher Tiefe. Die Geschichtsbezüge werden teils als Argumente eingesetzt, insbesondere die ANALOGIEN, dazu ein KONTINUITÄTS-
und ein
KONTRAST-Bezug. Die übrigen
Geschichtsdarstellungen, insbesondere die der "zeitlich begrenzten endogenen bzw. endogen-exogenen Prozesse", dienen der Erklärung. Doch nur in einigen Fällen werden von den Angaben zur VORGESCHICHTE Prognosen abgeleitet. Wie die Tageszeitungen sieht also auch die Wochenzeitung gegenwärtige Krisen und Zustände in Lateinamerika in einem zeitlich engen Entwicklungsrahmen. Dadurch und durch die weitgehend monothematische Krisenberichterstattung werden vorwiegend nur Teilaspekte größerer Problemkomplexe beleuchtet. Diese Ausführungen fallen allerdings im Vergleich zu den Tageszeitungen wesentlich umfangreicher aus. Sie stammen weitgehend aus der Feder der ZEIT-Autoren: Die 22 Texte mit Bezügen zur VORGESCHICHTE enthalten 7 SCHLAGWORTARTIGE, 5 KOMPRIMIERTE und 10 AUSFUHRLICHE Bezüge. In Prozent stellt sich der Vergleich folgendermaßen dar:
183
ZEIT
WELT
FAZ
SZ
SCHLAGWORTARTIG
15,2%
18,8 %
4,9 %
9,1 %
KOMPRIMIERT
10,9 %
4.7 %
3,9 %
2,7 %
AUSFÜHRLICH
21,7 %
3,1 %
5,8%
1,8 %
Insgesamt
47,8 %
26,6 %
14,6 %
13,6 %
Die folgenden Textauszüge verstehen sich als repräsentative Darstellungen der Kategorie VORGESCHICHTE: "Zum Streik aufgerufen hatte die sogenannte Bürgerversammlung, ein Zusammenschluß von achtzehn berufsständischen Organisationen; darunter der Bauernverband, der Studentenbund, Ärzte. .Architekten, Anwälte, Lehrer und Professoren, Transportunternehmer, Kleinuntemehmer und der freie Gewerkschaftsbund ... Da dieser Streik, zum erstenmal seit dem Militärputsch von 1973, vom Mittelstand getragen wurde, konnte das Regime nicht die üblichen antikommunistischen Parolen schwingen ... Die gleichen sozialen Gruppen, die 1973 den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende aus dem Amt putschen halfen, stehen jetzt vor den Pforten des Regierungspalastes Moneda, um dem alternden Diktator Pinochet ein politisches Ende zu bereiten. So ziehen die Fuhrunternehmer den unmittelbaren Vergleich zwischen Allende und Pinochet: Beide hätten versucht, durch ihre Wirtschaftspolitik den Mittelstand zu strangulieren: Allende durch Sozialisierung und Pinochet durch Ausverkauf des Landes an internationale Großkonzerne .,." 388 " ... Seine Botschaft war unmißverständlich: 'Entweder Demokratie oder Chaos', entweder eine Militärregierung mit der festen Hand, die er unverfroren als 'Demokratie' bezeichnet, oder die Rückkehr jener instabilen und unsicheren Verhältnisse, die im September 1973 das Militär zum Putsch veranlaßten - damals von der Mehrheit als Retter vor dem Chaos begrüßt. Die Erinnerung an die letzten Wochen der Regierung Allende sitzt tief, und Pinochet nutzt sie ... " 389 " ... Brasilien ist noch weit davon entfernt, eine gefestigte parlamentarische Struktur zu besitzen. Zwei Jahrzehnte Militärdiktatur haben weder die verhängnisvolle LiriksRechts-Polarisierung überwunden noch eine funktionsfähige politische Mitte entstehen lassen. Im Januar 1985 tauchten Slogans und Personen wieder auf, die schon zu Beginn der sechziger Jahre eine Rolle spielten, bevor die Offiziere eingriffen ...
388
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / ANALOGIE / KOMPRIMIERT. - NIKOLAUS BRENDER: Chile: Pinochet in der Defensive. In: DIE ZEIT Nr. 29 vom 11.7.19S6, S. 8.
389
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / KONTRAST / SCHLAGWORTARTIG / Prognose. - HORST BIEBER: Das Attentat stärkt Pinochet. In: DIE ZEIT Nr. 38 vom 12.9.1986, S. 5.
184 Der Populismus lebt unverändert fort ... Populisten haben in Lateinamerika, dessen Parteiensystem schwach entwickelt ist, schon immer leicht Wahlen gewonnen, aber häufig Last gehabt, ihre Amtszeit zu vollenden: Zu deutlich klafften Versprechen und Erfüllung auseinander ... Der caudillo, der große Mann, der populistische Demagoge zählt immer noch mehr als die Partei, die sich zu oft als Honoratioren-Klüngel oder Unterstützungsverein für einen Volkshelden ... versteht ... Zwanzig Jahre politische Entmündigung haben dazu geführt, daß die Mehrheit der Brasilianer von den Problemen ihres Landes so gut wie nichts weiß. Sie wählen links, weil sie von dort verständlicherweise eine rasche Linderung ihrer Not erhoffen; sie stimmen Demagogen zu, die ihnen einfache Lösungen statt ehrlicher Analyse vorgaukeln; sie schauen nach oben, weil man ihnen eingebleut hat, gehorchen sei wichtiger als Eigeninitiative. Die erste freie Wahl Brasiliens war eine demokratische Veranstaltung, aber kein Beweis für die Stabilität der jungen Demokratie." 390 "Das Zusammentreffen einer scheinbar unbegrenzten Liquidität auf den internationalen Kapitalmärkten infolge des Petro-Dollar-Recycling zusammen mit einer ungebremsten Bereitschaft zur Kreditaufnahme seitens der Regierungen und privaten Unternehmen in den rasch expandierenden lateinamerikanischen Ländern hatte in den siebziger Jahren die Auslandsverschuldung rasch ansteigen lassen. Begünstigt wurde sie durch ein niedriges - real sogar negatives - Zinsniveau und durch eine großzügige Kreditgewährung seitens der internationalen Geschäftsbanken. Dies führte dazu, daß sowohl in ihrer Finanzierungsstruktur als auch realwirtschaftlich die Länder in eine gefährliche Schieflage gerieten. Etwa zwei Drittel der Kredite sind zu variablen Konditionen und mit relativ kurzen Laufzeiten bei Geschäftsbanken aufgenommen worden. Dabei diente ein großer Teil dieser Darlehen zur Finanzierung von langfristigen Projekten, die kaum Devisen erwirtschafteten, sowie zum Ausgleich von Defiziten der staatlichen Haushalte. Der kräftige Zinsanstieg zu Beginn der achtziger Jahre und die gleichzeitige Rezession in den Industrieländern ließen die Schuldendienstbelastungen in die Höhe schnellen, während neue Kredite nur noch spärlich flössen. Seitdem müssen die am meisten verschuldeten Länder zwischen dreißig und fünfzig Prozent ihrer Exporterlöse allein für Zinszahlungen ausgeben. Zudem müssen sie durch Reduzierung der Importe, Steigerung der Exporte, Einsparungen in den öffentlichen Haushalten und nicht zuletzt durch Umschuldungsvereinbarungen mit den Gläubigem ihre Zahlungsfähigkeit zu verbessern suchen ... " 3 9 1 Zur Entwicklung der brasilianischen Wirtschaft nach Inkrafttreten des Antiinflationsprogramms im Frühjahr 1986 heißt es: "Tatsächlich erlebte das Land nach der tiefen Rezession Anfang des Jahrzehnts bereits im vergangenen Jahr einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung. Das Sozialprodukt wuchs 1985 um mehr als acht Prozent, die Industrieproduktion im ersten Halbjahr 1986 sogar um zwölf Prozent. Besonders wichtig für das mit mehr als hundert Millarden Dollar verschuldete Land, das jährlich rund zehn Milliarden Dollar Schuldendienst zu leisten hat, war der Außenhandelsüberschuß von dreizehn
390
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / KONTINUITÄT / KOMPRIMIERT. HORST BIEBER: Die Last der Vergangenheit. In Brasilien steht die Demokratie noch auf wackeligen Beinen. In: DIE ZEIT Nr. 48 vom 22.11.1985, S. 12.
391
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / "zeitlich begrenzter endogener Prozeß" / AUSFÜHRLICH. - ALBRECHT VON GLEICH: Eine Krise ohne Ende? In: DIE ZEIT Nr. 41 vom 3.10.1986, S. 44.
185 Milliarden Dollar, der drittgrößte nach Japan und der Bundesrepublik. 'Brasilien ist an der Schwelle zu einer wirtschaftlichen Großmacht', schrieb das amerikanische Wirtschaftsmagazin Business Week. Und gerade die Exporterfolge, vor allem in den Vereinigten Staaten, sind eine direkte Folge der Rezession, als viele Firmen gezwungen waren, aggressiv auf den Weltmärkten zu verkaufen. 'Jede Branche, die nicht wenigstens rund ein Drittel ihres Umsatzes im Ausland machte, war in großen Schwierigkeiten', meint Celso Lafer, Chef eines Herstellers von Autoteilen in Sao Paulo. Mit dem Boom wurde auch die Inflation angeheizt, und die generelle Indexierung (Correccao monetaria) fast aller Tarife, Mieten, Löhne und Zinsen sorgten dafür, daß sich die Preisspirale immer schneller drehte. Hersteller und Händler hoben die Preise nicht entsprechend der tatsächlichen Teuerung an, sondern nahmen die zu erwartende Inflation immer schon vorweg. Diese Inflationsmentalität sollte der Plan Cruzado brechen, und das wurde auch erreicht. Gleichzeitig schafften Samey und seine Regierung damit aber neue Probleme. Die stabilen Preise, eine ungewöhnliche Erfahrung für die Brasilianer, waren so verlockend, daß die Nachfrage, vor allem nach langlebigen Konsumgütern, sprunghaft anstieg ... Das Angebot aber wurde knapper. Landwirte etwa gingen in den Lieferboykott, weil sich ihre Abnehmer, vom kleinen Fleischer bis zur Supermarktkette, weigerten, Aufschläge bis zu vierzig Prozent zu zahlen. Sie argumentieren, Inspektoren und Käuferschaft wachten streng darüber, daß die von der Regierung festgesetzten Preise eingehalten würden. Die Produzenten aber behaupten, unter diesen Umständen sei ihr Geschäft nicht mehr rentabel ... Das Bollwerk gegen die Inflation ist denn auch längst brüchig geworden. Mit einem Dreh versuchen Produzenten und Händler, auf ihre Kosten zu kommen, öffentlich, ohne ihre Identität preiszugeben, geben viele zu, daß die Rechnungen für das Finanzamt meist um bis zu fünfzig Prozent zu niedrig ausgewiesen werden ... " 392 " ... Der Fall Nicaragua veranschaulicht eine Situation, in der Sanktionen erfolgreich hätten sein können, wenn sie entschlossen angewendet worden wären ... Seit den ersten Tagen der Reagan-Administration sind Sanktionen gegen Nicaragua nach der Methode der Salamitaktik verhängt worden in der zweifachen Absicht, die Unterstützung für die Guerilleros in El Salvador zu blockieren und das Sandinistenregime zu destabilisieren ... Im Januar 1981 haben die Vereinigten Staaten dann ihr bilaterales Hilfsprogramm beendet, einschließlich der Lieferungen für das Programm 'Nahrungsmittel für Frieden', und sie haben einen Weizenverkauf in Höhe von zehn Millionen Dollar suspendiert. Noch im selben Jahr haben die Vereinigten Staaten einen Kredit in Höhe von dreißig Millionen Dollar für ein Fischerei-Projekt blockiert. Im Mai 1983 wurden die US-Importkontingente für nicaraguanischen Zucker um neunzig Prozent gekürzt, und zwei Jahre später verhängte Reagan ein totales bilaterales Handelsembargo. Die Sanktionen waren für Nicaragua kostspielig, aber nicht katastrophal. Die Wirtschaft des Landes hat bis heute mit Hilfe der Sowjetunion und neuen Handelspartnern (einschließlich mehrerer US-Verbündeter) funktioniert. Erhöhte Zuschüsse, Darlehen und Handelskredite von der Sowjetunion, Kuba und Libyen lagen im Durchschnitt bei ungefähr 1150 Millionen Dollar pro Jahr. Die Aussichten der Vereinigten Staaten, die Sandinisten-Politik durch wirtschaftlichen Druck beein392
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / "zeitlich begrenzter endogener Prozeß" / AUSFUHRLICH.- ROMERO REY / RAINER HUPE: Sturm auf leere Regale. Kurz vor den Präsidentschaftswahlen droht der Wirtschaftsplan des Präsidenten zu scheitern. In: DIE ZEIT Nr. 38 vom 12.9.1986, S. 28.
186
Aussen zu können, sind mittlerweile geringer geworden. Das vor kurzem verhängte Handelsembargo kommt zu einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten nur noch mit 14 Prozent am Export und Import Nicaraguas beteiligt sind, 1980 waren es noch 35 Prozent. Die US-Sanktionen gegen Nicaragua sind ein klassisches Beispiel für unzulängliche Maßnahmen, die obendrein zu spät umgesetzt wurden ... 1981 war das unerfahrene Sandinistenregime schwach und die Wirtschaft befand sich im Zustand des Chaos. Mit den Vereinigten Staaten trieb das Land einen erheblichen Teil seines Handels. Doch die USA unterhielten zunächst weiterhin höfliche, wenn auch nicht gerade freundschaftliche Beziehungen zu Nicaragua, da vorher der Sture des Somoza-Regimes unterstützt worden war. Eine Drohung mit umfassenden Sanktionen hätte zu jener Zeit kaum ignoriert werden können. Weil aber die Vereinigten Staaten nicht schnell genug reagierten, verspielten sie ihre Chance, Ereignisse durch wirtschaftliche Pressionen zu beeinflussen ... Die Salamitaktik hat Nicaragua Zeit gegeben, andere Handelspartner und neue Hilfs- und Handelskreditquellen aufzutun. An der politischen Front waren die USSanktionen sogar destruktiv. Die Sandinisten hatten Zeit, ihre Machtposition zu festigen, und Moskau hatte die Gelegenheit, Nicaragua zu helfen ... " 393
4.4.8
Deutschland-Bezug
Einen Deutschland-Bezug weisen 28 ZEIT-Artikel auf. Das entspricht 60,9 Prozent - gegenüber den Tageszeitungen der mit Abstand höchste Wert in dieser Kategorie (WELT 35,9 Prozent / SZ 27,9 Prozent / FAZ 20,4 Prozent). Im Unterschied zu den Tageszeitungen werden diese Bezüge nur sehr selten durch Verlautbarungen hergestellt, sondern vielmehr durch die ZEIT-Autoren selbst. Knapp zwei Drittel der Deutschland-Bezüge fallen unter die Kategorie RELATION: Dabei stellen die Bezüge im Zusammenhang mit LATEINAMERIKA wiederholt eine Kritik an deutschen bzw. europäischen Konzepten zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Bekämpfung der Schuldenkrise dar. So wird beispielsweise der unangepaßte Technologietransfer bemängelt, " ... der den Industriestaaten besonders dann leichtfällt, wenn zwischen Entwicklungshilfe und Exportchancen ein Paket geschnürt werden kann ... ... die europäische Gemeinschaft [stattet] die Kleinuntemehmer in Lateinamerika per Technologietransfer mit einem modernen Maschinenpark aus, wobei die Finanzierung über zinslose Darlehen aus Entwicklungshilfetöpfen erleichtert wird ... Wohin der ... Weg führt, zeigt ein typisches Beispiel aus der ecuadorianischen Region Otavalo, die vor allem wegen ihres farbenprächtigen und gutsortierten Indiomarktes für Anden-Touristen ein Begriff ist. Die geschäftstüchtigen und fleißigen Otavalo-Indios haben es durch handwerkliche Textilproduktion zu bescheidenem,
393
Textbeispiel für VORGESCHICHTE / "zeitlich begrenzter endogen-exogener Prozeß" / AUSFUHRLICH / Prognose. - GARY CLYDE HUFBAUER / JEFFREY J. SCHOTT: Der Weg des kleinsten Übels. Weltweite wirtschaftliche Verflechtungen machen es immer einfacher, ein Embargo zu unterlaufen. In: DIE ZEIT Nr. 42 vom 10.10.1986, S. 31 f., Zitat S. 32.
187 aber solidem Wohlstand gebracht. Die veraltete, manuelle Arbeitsweise veranlaßte die Weltbank zu einem Modemisierungsprogramm. In einer Reihe von Kleinbetrieben mußten die Spinnräder und Handwebstühle leistungsfähigen, importierten Textilmaschinen Platz machen. Da die Exporthoffnungen in die Nachbarländer Kolumbien und Venezuela weitgehend zerplatzten, sind diese kapitalintensiven Betriebe nun in das Dilemma geraten, entweder mit niedrigen Auslastungsquoten zu arbeiten oder in einen ruinösen, jobkillenden Verdrängungswettbewerb mit dem traditionellen Handwerk um Anteile auf dem Binnenmarkt anzutreten ... " 3 M So wird denn auch an anderer Stelle die staatliche deutsche Entwicklungshilfe gegenüber privaten und kirchlichen Initiativen, die unter dem Motto "Hilfe zur Selbsthilfe" die Entwicklung kleinerer Projekte unterstützen, als wenig effizient kritisiert. Im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr und wirksamerer Entwicklungshilfe kritisiert Gast-Autor DREKONJA-KORNAT die hierzulande geführte Kontroverse um die Ursachen der Konsolidierungsprobleme der Dritten Welt, welche eine notwendige schnelle Hilfe blockiere. Kritik an bestimmten engagierten Kreisen in der Bundesrepublik klingt implizit an, wenn die ZEIT den lateinamerikanischen Schriftsteller Vargas Llosa zum Lateinamerika-Image zitiert: "Er [Mario Vargas Llosa] glaubt, daß die Länder Lateinamerikas nicht verdammt sind, nur zwischen Diktatur von rechts und Diktatur von links wählen zu können; daß sie durchaus fähig wären, einen mittleren, demokratischen Weg zu gehen ... Es ärgert ihn, daß viele europäische Intellektuelle den linksradikalen Regimes und Bewegungen Lateinamerikas ein Wohlwollen entgegenbringen, welches sie für dessen demokratische Anstrengungen nicht übrig haben und das sie sich verbitten würden, handelte es sich um ihre eigenen Länder und nicht um das ferne Südamerika . . . " 398 In gleiche Richtung zielt eine Beanstandung an anderer Stelle, die lateinamerikanischen Fremdenverkehrsämter
und
deutschen
Reiseveranstalter
verstünden
es
nicht,
den
deutschen Tourismusmarkt für sich zu interessieren. Denn es werde mit oberflächlichen Klischeebildem geworben, die "neutrale Informationen über die reiche Kultur zwischen Feuerland und Karibik kaum ersetzen [können] ". 3 9 6
394
KLAUS LöFFLER: Ohne Konto in der Schweiz. Die Förderung von Kleinbetrieben könnte vielen Entwicklungsländern helfen. In: DIE ZEIT Nr. 13 vom 21.3.1986, S. 37.
395
DIETER E. ZIMMER: Die lange und lehrreiche Geschichte von dem Streit zwischen zwei Herren aus Südamerika, die beide verdächtigt wurden, Lakaien finsterer Mächte zu sein. In: DIE ZEIT Nr. 43 vom 17.10.1986, S. 57.
396
CHRISTINE HAGNER: Touristisch ein weißer Fleck: Südamerika. In: DIE ZEIT Nr. 3 vom 11.1.1986, S. 48.
188
Zu NICARAGUA finden sich ebenfalls 2 Deutschland-Bezüge, die sich mit der ImageFrage befassen. So kritisiert GUNTER HOFMANN die perspektiv-bedingten SchwarzWeiß-Bilder NICARAGUAS am Beispiel bundesdeutscher Politiker und Autoren: "Es will schwer einleuchten, auch wenn es Mode ist, die Verhältnisse, wie sie sind, totzuschweigen - nur aus Angst davor, denen in Amerika in die Hände zu arbeiten, die eine Destabilisierung ausdrücklich wollen. Oder aus Sorge vor dem Beifall falscher Freunde oder aus blinder Begeisterung für jegliche Revolution. Woher kommt es denn, daß die Positionen so kraß zwischen Idealisierung und Feindbild schwanken? Mit Nicaragua passiert das nicht zum erstenmal. Die idealisierende Solidarität gilt nicht nur ganz grundsätzlich den Befreiungsbewegungen. Sie klammert sich auch stets an die Hoffnung, irgendwo in der Dritten Welt werde doch noch mal ein dritter Weg gefunden. Oder auch: das Modell. Wo Projektionen im Spiel sind, wird es schwierig, genau hinzusehen. Doppelt schwer fällt das, wenn dem Idealismus der einen die Feindbilder der anderen entgegengehalten werden. So entstehen dann Stellvertreter-Kriege wie der um Nicaragua ... ... ein internationaler Konflikt um das Bild Nicaraguas." 397 Daß die Nicaraguaner - Regierung und Contras - an diesem Schwarz-Weiß-Bild durch Propaganda mitbasteln, darauf weist die ZEIT an dieser und anderer Stelle hin. Bei CHILE werden Deutschland-Bezüge in erster Linie dadurch hergestellt, daß die ZEIT Äußerungen deutscher Politiker und Entscheidungsträger zur politischen Lage in dem südamerikanischen Land zitiert (meist Geißlers Verlautbarungen über Pinochet) und sich mit ihnen kritisch auseinandersetzt. Des weiteren beschreibt die ZEIT am Beispiel eines in Deutschland lebenden Exil-Chilenen und einer in CHILE inhaftierten Deutsch-Chilenin den Staat unter der Regierung Pinochet als "Land der Folter". Zu MEXIKO schließlich finden sich noch
2 Deutschland-Bezüge
der Kategorie
RELATION: So berichtet die ZEIT von den Bemühungen des mexikanischen Tourismusministeriums in der Bundesrepublik, verzerrte Vorstellungen von MEXIKO nach der Erdbebenkatastrophe, die dem Tourismus abträglich sein könnten, zu relativieren. Femer zitiert die ZEIT ironisierenderweise die beschwichtigende Äußerung des mexikanischen Staatspräsidenten de la Madrid während eines Deutschlandbesuches, die mexikanische Revolution habe Rezepte für alle Krisen. EXPLIZITE NÄHE bringt rund ein Drittel der Deutschland-Bezüge zum Ausdruck. Themenschwerpunkt ist hier das internationale Ausmaß der Schuldenkrise LATEINAMERIKAS. Dabei ergänzen sich die verschiedenen Passagen zu folgendem Bild:
397
GUNTER HOFMANN: Bericht aus einem fernen Land. Die Sozialdemokraten diskutieren ihr Verhältnis zur sandinistischen Revolution. In: DIE ZEIT Nr. 7 vom 7.2.1986, S. 2.
189 " Zwei weitere außenwirtschaftliche Risiken für die Geldpolitik sieht der Chef der Bundesbank in der labilen Wechselkursverfassung des Dollars und in der nach wie vor ungelösten Schuldenkrise der Entwicklungs- und Schwellenländer. Auch wenn er 'sonst wenig von Helmut Schmidts apokalyptischen Visionen hält', die amerikanischen Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite sowie die drückende Schuldenlast vor allem der lateinamerikanischen Länder sind auch für ihn 'tickende Zeitbomben', wie es Schmidt formulierte ... " 3 9 B "Sinkende Realeinkommen, wachsende Arbeitslosigkeit und drastisch gekürzte Sozialhaushalte bedrohen die jungen, noch krisenanfälligen Demokratien ... Sorge um die wirtschaftliche und politische Stabilität ... Mitbetroffen ist auch die Europäische Gemeinschaft, nach den USA der wichtigste Handels-, Investitions- und Kooperationspartner Lateinamerikas ... " 399 Dabei wären vor allem jene privaten Banken betroffen, so ergänzt HORST BIEBER, "die sich schon in zum Teil gefährlichem Ausmaß in der Dritten Welt engagiert haben ... Die Industrienationen wollen weder ihr Geld verlieren, noch kann ihnen an einer Politik gelegen sein, die den nötigen Exportüberschuß der Schuldner durch eine rigorose Drosselung der industriellen Importe erwirtschaftet ... " 400 "Das Ziel der Programme [der Weltbank] ist hochgesteckt: ... die Bank soll sie [die Schuldnerländer] ... wieder auf Wachstumskurs bringen und damit kreditwürdig machen. Schöpfen darauf die Banken, Investoren und Kapitalflüchtlinge zu sanierten Schuldnern emeut Vertrauen, ließe sich zum Ende des Jahrzehnts mit neuem Geld und gezielter Politik Wohlstand und Kaufkraft, die in Lateinamerika im Durchschnitt schon auf das Niveau von 1975, in Afrika sogar auf das von 1965 abgesunken sind, endlich wieder anheben. Den Nutzen, so rechnet Weltbankökonom Guy Pfeffermann vor, hätten nicht nur die Entwicklungsländer und Gläubigerbanken, sondern auch die europäische und amerikanische Industrie: Schließlich habe allein die Devisen- und Absatzflaute in Lateinamerika die Industrieländer etwa eine Million Arbeitsplätze gekostet ... "« ol " ... Manche amerikanische Banken haben mehr als ihr Eigenkapital an Schuldner mit dem Sitz im selben Land ausgeliehen. Sie wären pleite, wenn ein solches Schuldnerland zahlungsunfähig bliebe. Deutsche Bankiers sind nicht ganz so weit gegangen wie ihre Kollegen in den USA. Aber auch bei ihnen entstünden empfindliche Verluste, wenn Forderungen an ein Land uneinbringlich wären. Sie schützen sich gegen solche Katastrophenfälle, indem sie ihre Forderungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten wertberichtigen. Dabei hilft ihnen der Fiskus, indem er zuläßt, daß die Wertberichtigungen den Gewinn und damit die Steuerschuld der Banken mindern. Der Steuerzahler trägt die Last des Risikos 396
BERNHARD BLOHM: Alles im Griff. Nur im Ausland sieht die Bundesbank Gefahren für ihre Stabilitätspolitik. In: DIE ZEIT Nr. 50 vom 6.12.1985, S. 25.
399
ALBRECHT VON GLEICH: Eine Krise ohne Ende. A.a.O.
400
HORST BIEBER: Der Schuldenberg wächst. A.a.O.
401
IRENE MAYER-LIST: Rezept gegen Anmut. In: DIE ZEIT Nr. 10 vom 28.2.1986, S. 33.
190
schon kräftig mit. Gutowski [Direktor des HWWA-Instituts für Wirtschaftsforschung in Hamburg] diagnostizierte: 'In den Köpfen mancher Bankiers mag auch der Gedanke eine Rolle spielen, durch Umschuldung den für unabwendbar gehaltenen Insolvenzfall eines Landes so lange hinauszuzögern, bis sein Institut die Forderungen abgeschrieben hat'." 402 Die weltpolitische Brisanz der Entwicklungen in NICARAGUA aus US-Perspektive wird in einer Darlegung Ronald Reagans beschrieben, der ein Nachgeben gegenüber der nicaraguanischen Regierung als ein strategisches Desaster für die USA bezeichnet (das auch die Bundesregierung tangiert). Denn das Sandinisten-Regime ermögliche der Sowjetunion und Kuba den Zugriff auf ganz Zentralamerika, den Panamakanal und die Versorgungslinien der NATO. EXPLIZITE NÄHE kommt auch in der Darstellung der Gefahr für deutsche Idealisten, die sich freiwillig für den zivilen Aufbau in NICARAGUA melden, zum Ausdruck. Sie würden von allen Seiten mißbraucht, schreibt HORST BIEBER, denn: "Antisandinistische Rebellen haben am Montag bei einem Uberfall fünf Menschen getötet, darunter den deutschen Aufbauhelfer Bernd Koberstein ... Im Mai hatten Contras acht deutsche Aufbauhelfer als Geiseln genommen und erst nach langwierigen Verhandlungen mehr als drei Wochen später freigelassen. Das Auswärtige Amt hat seitdem häufiger die mehr als 200 Freiwilligen (neben gut 70 'offiziellen' Entwicklungs-Helfem) vor der Gefahr gewarnt ... Die deutschen Aufbauhelfer - jährlich reisen etwa 20 Gruppen zu je zwölf bis zwanzig Mitgliedern - bezahlen Anreise und Aufenthalt selbst. Die Projekte werden durch Sammlungen oder Patenschaften (etwa von Städten) finanziert und sollen neben der damit bekundeten Solidarität - einen Ausgleich für die von der christlichliberalen Koalition auf Druck Washingtons reduzierte Entwicklungshilfe bieten. Gerade wegen dieses Doppeleffektes sind sie Ziel der Contras ... " 403 Die deutschen Aufbauhelfer spielten "nolens oder volens" auch eine wichtige Rolle in der nicaraguanischen Politik durch ihr Gesamtziel, das BIEBER auf die Formel bringt: HilfeSolidarität-Information vor Ort und Gegenöffentlichkeit, die sie hierzulande einem ihrer Meinung nach verleumderischen Bild der Sandinisten entgegenstellen wollten. So dienten sie als Werbung für die Sandinisten, die außenpolitisch weitgehend isoliert seien.
404
Einen Deutschland-Bezug EXPLIZITER NÄHE stellt schließlich ein Beitrag über die bedrückende Lage Oppositioneller in CHILE her, der für die Einreise von 14 zum Tode
402
RUDOLF HERLT: Für die Banken ein Tabu. A.a.O.
403
H.B.: NICARAGUA: Mord an Helfer. A.a.O.
404
HORST BIEBER: Auch Tote halten die Helfer nicht auf. A.a.O.
191 verurteilten chilenischen Häftlingen eintritt, die an die Bundesrepublik einen Antrag auf Asyl gestellt und damit eine öffentliche Diskussion in Deutschland ausgelöst hatten. Betrachtet man die Deutschland-Bezüge abschließend, so sind in erster Linie zwei Aspekte bemerkenswert: Zum einen stellt die ZEIT deutlicher als die FAZ die Auswirkungen der Schuldenkrise Lateinamerikas auf die Bundesrepublik und andere Industrieländer dar, wobei auch der deutsche Steuerzahler direkt angesprochen wird. Kritischer als die Tageszeitungen weist die ZEIT hier auch auf Eigeninteressen, Egoismen und Fehlentscheidungen der "helfenden Industrienationen" hin, die wirtschaftliche Fehlentwicklungen in den Ländern Lateinamerikas mitzuverantworten haben, bzw. die einer Lösung der Wirtschafts- und Verschuldungskrise abträglich sind. Dabei kritisiert die Zeitschrift nicht nur die staatliche und privatwirtschaftliche Ebene, sondern auch den breiten Kreis von Intellektuellen und Theoretikern, die mit ihren Kontroversen über die Ursachen der Konsolidierungsschwierigkeiten der DritteWelt-Länder eine effektive Entwicklungshilfe zerredeten. So dürfte die ZEIT noch stärker als die FAZ bei ihrer Leserschaft Verständnis für die Komplexität und Relevanz der Schuldenkrise und - durch ein Gefühl der Mitverantwortung - für die Notwendigkeit einer gemeinsam erarbeiteten Krisenlösung erzielen. Zum anderen greift die ZEIT als einzige der untersuchten Zeitungen die zentrale Frage nach den Auswirkungen perspektivbedingter Fremdbilder auf, indem sie wiederholt auf konträre Projektionen bezüglich NICARAGUA und auf die daraus entstehenden Zerrbilder und Handlungsweisen eingeht. Da hier die Kritik auf staatliche wie substaatliche Ebene zielt, dürfte es der ZEIT auch in diesem Aspekt gelingen, ihre Leserschaft zu einem Nachdenken über die Fragwürdigkeit der eigenen Fremdbilder anzuregen.
4.4.9
Handlungsaufforderung
Insgesamt 18 der 46 ZEIT-Artikel haben eine IMPLIZITE oder EXPLIZITE, appellarische HANDLUNGSAUFFORDERUNG. Das entspricht einem Anteil von 39,1 Prozent gegenüber 26,5 Prozent der WELT, 20,4 Prozent der FAZ und 19,8 Prozent der SZ. Die teilweise recht umfassenden HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN, 10 IMPLIZITE und 8 EXPLIZITE, stammen im Gegensatz zu den Tageszeitungen bei der ZEIT überwiegend aus der journalistischen Feder. Sie sind aber auch hier fast ausschließlich an die staatliche und privatwirtschaftliche Ebene gerichtet, nur in wenigen Fällen ist der breite Kreis der Bundesbürger angesprochen.
192
Ein Großteil der HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN steht im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Verschuldungskrise LATEINAMERIKAS. Dabei ergänzen sich die HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN zu folgendem Bild: "Nach Ansicht aller Beteiligten kommt es jetzt darauf an, die Volkswirtschaften Lateinamerikas wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Das liegt auch im Interesse der Industrieländer. Gefordert ist mehr Flexibilität in der Behandlung der Schuldenproblematik, was die Konditionen der unvermeidlichen Verschuldungen und die Gewährung neuer Mittel anlangt. Anderenfalls könnten, so der Chefökonom der IDB [Interamerikanische Entwicklungsbank], Miguel Urrutia, die Zahlungsprobleme dieser Länder eine Vertrauenskrise an den internationalen Finanzmärkten auslösen ... Gefordert ist daneben die von Lateinamerika seit vielen Jahren verlangte stärkere Öffnung der Märkte für seine traditionellen und neuen Exportprodukte. Dazu gehört auch, daß die EG darauf verzichtet, zum Schaden der lateinamerikanischen Exporte ihre Agrarüberschüsse auf Drittmärkten abzuladen." 405 Die Schuldenkrise sei kein rein politisches Problem, erklärt RUDOLF HERLT, Lösungen seien innerhalb der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zu suchen. Eine Weltschuldenkonferenz mit dem Ziel, die Schuldendienstlast der Entwicklungsländer zu senken, sei eine Illusion, denn die Schuldenkrise sei kein globales Problem, sondern setze sich aus vielen unterschiedlich gelagerten Fällen in einzelnen Ländern zusammen. Lösungen müßten also für jeden Einzelfall gefunden werden und seien erst dann angemessen, wenn sie auf der einen Seite vermieden, daß das Weltfinanzsystem erschüttert werde oder gar zusammenbreche, auf der anderen Seite aber verhinderten, daß Entwicklungsländer ihre Bürger so besteuern müßten, daß eine Revolution ausbrechen würde. 406 Der Diskussion über Für und Wider der Entwicklungshilfe hält GERHARD DREKONJAKORNAT die Forderungen entgegen: "* Eine Gruppe von Staaten braucht Hilfe. Punktum. Naturkatastrophen, politisches Versagen, verpatzte Revolutionen, Bürgerkriege, Dürre, Uberschuldung erzwingen Hilfe privat, öffentlich, westlich, östlich ... Alles andere, die Diskussionen über alternative Entwicklungen eingeschlossen, bleibt demgegenüber zweitrangig. »Zweitens wäre mit einer etwas besser gestellten Staatengruppe der Dritten Welt der Modus der Zusammenarbeit für die nächsten Jahre im beiderseitigen Interesse zu klären. Hier sei auf die Fortschreibung von Brüssels Lomé-Verträgen oder Kreiskys 'Marshall-Plan für die Dritte Welt' verwiesen, also auf koordinierte Anstrengungen für eine umfassende Modernisierung der Infrastruktur, was den (europäischen) Industriestaaten Arbeitsplätze und gesicherte Exporte auf Jahre und den Partnern Chancen zur sorgfältigeren Betreuung ihrer Bevölkerung bringen würde...
405
ALBRECHT VON GLEICH: Eine Krise ohne Ende. A.a.O.
406
RUDOLF HERLT: Für die Banken ein Tabu. A.a.O.
193 * Drittens muß noch in diesem Jahr eine politische Plattform für eine langfristige Entflechtung der Dritte-Welt-Schulden geschaffen werden. * Viertens geht es darum, mit den Schwellenländern, die ja alle nicht mehr klassischer Entwicklungshilfe bedürfen, ein Instrumentarium von Handelsabsprachen in Richtung auf mehr Öffnung und (komplementären) Austausch zu erproben. Gerade die Beziehungen Europas zum Süden brauchen sich nicht im Schluchzen des weißen Mannes zu erschöpfen. 'Entwicklung' stößt auch in unseren Breiten an die Grenzen des Machbaren und zeigt ihr Janusgesicht. Aber vielleicht bringt uns der Austausch von Zweifeln am eigenen Weg - in Europa, in Lateinamerika, in Afrika, in Asien - in Zukunft zügiger voran." 407 Wie die geforderte Hilfe konkret aussehen müßte, stellt KLAUS LÖFFLER dar: Das Wachstumspotential der Kleinbetriebe müßte auf der Basis angepaßter Technologien gezielt ausgeschöpft werden. Denn die eher binnenmarktorientierten Kleinbetriebe könnten einerseits einen Ausweg aus der Verschuldung bringen, da das krasse Ungleichgewicht zwischen subventionierten, außenhandelsorientierten Großunternehmen und den binnenmarktorientierten Kleinuntemehmen zu den strukturellen Ursachen der Verschuldung gehöre. Kleinbetriebe, denen es an internationalen Kontakten mangele, wirkten zudem der Kapitalflucht entgegen. Zum anderen verhindere eine Förderung der Kleinbetriebe eine Industriekonzentration in den Ballungszentren und die durch Landflucht bedingte Entstehung der Großstadtslums bzw. baue sie ab. 4 0 8 Verbesserung ihrer Wirtschaftslage ist nicht nur eine Sache der lateinamerikanischen Länder, sondern auch in unserem eigenen Interesse - diese Aussage steckt in den
HAND-
LUNGSAUFFORDERUNGEN zur Schuldenkrise. So spricht auch THEO SOMMER die Leserschaft direkt an, wenn er schreibt: "Benzinpreise unter einer Mark der Liter, Rohölpreise unter zehn Dollar das Faß das hat es fast ein Jahrzehnt lang nicht mehr gegeben. Seit Weihnachten ist das ö l um zwei Drittel billiger geworden ... In den Industrieländern, die sich an die verheerenden Folgen der beiden Ölkrisen 1973/74 und 1978/79 erinnerten, an weltweite Inflation und steigende Arbeitslosigkeit, machte sich zunächst ein Gefühl leisen Triumphes breit: Die 'umgekehrte Ölkrise' geschieht den Petroleum-Scheichs ganz recht. Inzwischen sind manchem freilich die Ätsch-Rufe im Halse stecken geblieben. Zumindest hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß der Verfall des ölpreises durchaus zwei Seiten hat - wirtschaftlich, aber auch außenpolitisch ... ... niemand [kann] die Lage hochverschuldeter Länder wie Mexiko mit Gleichmut betrachten ... Die Mexikaner - Auslandsschulden: 97 Milliarden Dollar - beziehen 70 Prozent ihrer Devisen aus dem Verkauf von Erdöl. Der jüngste Preissturz wird ihre Einkünfte 1986 um 6 Milliarden schmälern. Da wächst von Tag zu Tag das Risiko, daß das Land seine Schulden nicht mehr bedient - eine verlockende 407
GERHARD DREKONJA-KORNAT: Der kaputte Traum vom Garten Eden. A.a.O.
408
KLAUS LÖFFLER: Ohne Konto in der Schweiz. A.a.O.
194
Aussicht, bedrückende Perspektive jedoch für die US-Bankenwelt, die sich südlich des Rio Grande bis zur Halskrause engagiert hat und die nun befürchten muß, daß sie mit in den Strudel gerissen wird ... Benzinpreise unter einer Mark, Rohölpreise unter zehn Dollar - genießen wir's, so lange es geht. Aber vergessen wir nicht: ungetrübt ist das Glück nicht ... " 409 Eine Reihe von HANDLUNGSAUFFORDERUNGEN beschäftigt sich ebenfalls mit dem Verhalten, das die Bundesrepublik gegenüber CHILE an den Tag legen sollte. So sollte sie sich möglichst der vom Staat bedrohten Oppositionellen annehmen bzw. Exilchilenen nicht in das "Land der Folter" zurückschicken: " ... Der Appell der zum Tode Verurteilten stellt die Bundesregierung auf den Prüfstand.,"110 Doch sollte sich Deutschland nicht nur für die Wahrung der Menschenrechte in CHILE einsetzen, sondern an einer Beendigung der Militärdiktatur mitarbeiten. So zitiert die ZEIT den CDU-Generalsekretär Heiner Geißler: "Ich habe den Eindruck, daß die Amerikaner längst einen Kurswechsel vollzogen haben. Sie haben für den Fall, daß Pinochet so weitermacht, damit gedroht, an eine Einschränkung der Kredite zu denken ... " - Auf die Frage, ob Bonn in die Richtung drängen sollte, antwortet Geißler: "Das Ausland kann eine große Rolle spielen dadurch, daß die Weltöffentlichkeit die jetzige Regierung massiv unter Druck setzt."411 Denn: "Die Kommunisten waren bis zu Pinochets heiligem Krieg gegen den Kommunismus in die chilenische Gesellschaft integriert und zählten in der Unidad Populär zum legalistischen, rechten Flügel, der den friedlichen, demokratischen Übergang zum Sozialismus versuchte. Eine Guerilla paßt ebensowenig zur politischen Kultur Chiles wie das grausame Regiment der Militärs. Dennoch hat die Argumentation des MIRGeneralsekretärs Adres Pascal Allende - eines Neffen von Salvador Allende - ihre Logik: 'Mit der Diktatur verhandelt man nicht, man muß sie zerstören. Das ist der einzige Weg zu Demokratie und Freiheit' ... " 412