Die Idee Europa in Geschichte, Politik und Wirtschaft [1 ed.] 9783428488094, 9783428088096

Europa ist die tief gegliederte, westliche Halbinsel Asiens, die jedoch auf Grund ihrer historischen Rolle als selbständ

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German Pages 132 Year 1998

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Die Idee Europa in Geschichte, Politik und Wirtschaft [1 ed.]
 9783428488094, 9783428088096

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HEINER TIMMERMANN (Hrsg.)

Die Idee Europa in Geschichte, Politik und Wirtschaft

Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann

Band 82

Die Idee Europa in Geschichte, Politik und Wirtschaft

Herausgegeben von

Heiner Timmermann

Duncker & Humblot · Berlin

Dieses Projekt wurde mit Hilfe der Union-Stiftung, Saarbrücken, unterstützt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Idee Europa in Geschichte, Politik und Wirtschaft / hrsg. von Heiner Timmermann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V. ; Bd. 82) ISBN 3-428-08809-3

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-08809-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9106 9

Inhaltsverzeichnis Heiner Timmermann Die Idee Europa

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Maciej Salamon Der Begriff Europa in der Spätantike und Byzanz

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Jerzy Wyrozum6ki Kaisertum und Souveränität der nationalen Staaten im Mittelalter. Das Beispiel Polen ........................................................

25

Krysztoj Baczkowski Theorie und Praxis der europäischen Einheit im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit .......................................................

31

Antoni Podraza Das eine und geteilte Europa in der Neuzeit

49

SteJJen Bernhard Die Europaidee in der Zwischenkriegszeit ............ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Friedrich Wilhelm Baer-Kaupert Europas wirtschaftliche Integration, die Geschichte eines erfolgreichen Mißverständnisses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Heike Cloß Handelspolitische Aspekte des Binnenmarktprojektes für Europa

77

Adalbert Winkler Geld- und Währungspolitik in der EU - Der Weg zur Europawährung

85

K arin RetzlaJJ EG-Hilfe für den Osten Europas

107

Franz Grabe Der heilige Benedikt und Europa .......................................... 125

Autorenverzeichnis ...........................................................

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Die Idee Europa* Von Heiner Timmermann Europa, so kann man im Lexikon nachlesen, ist die tief gegliederte westliche Halbinsel Asiens, die jedoch aufgrund ihrer historischen Rolle als selbständiger Kontinent betrachtet wird; einschließlich der europäischen Teile der UdSSR und der Türkei ist Europa mit 10,5 Mio km 2 der viertgrößte und dichtest besiedelte Erdteil. Abgesehen von schlichten Fakten dieser lexikalischen Kurzinformation ist für unser Thema besonders wichtig, daß Europa wegen seiner geomorphologischen Beschaffenheit zwar nur als halbinselartiges Anhängsel der großen asiatischen Landmasse anzusehen ist, ihm andererseits aber durchaus der Charakter eines eigenen Erdteils zugestanden wird, was natürlich die Frage nahelegt, welche Gedanken, Einflüsse und Ereignisse - allen geographischen Gegebenheiten zum Trotz - die Überzeugung förderte, Europa bilde einen selbständigen Kontinent, der in seiner historischen Rolle und in seinem geistigen Selbstverständnis klar umrissen werden könne.

Antike Die Entstehung und Entwicklung des Europa-Bewußtseins läßt sich zurückverfolgen bis zu den Anfängen kritischer Geschichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung, und das heißt bis ins antike Griechenland, das ohnehin als eines der Fundamente europäischer Kultur gilt. Denn schon Herodot schrieb um 430 v. Ch. in seinen Historien: "Libyen, Asien und Europa. Ihre Größe ist doch verschieden. Europa ist so lang wie die beiden anderen zusammengenommen, und an Breite können sie sich offenbar noch weniger mit Europa messen. Libyen ist ja rings vom Meere umschlossen, außer der Stelle, wo es mit Asien zusammenstößt. Man weiß, daß es sich mit Asien ebenso verhält wie mit Libyen, nur daß man die östliche Seite nicht kennt. Von Europa aber weiß kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist, noch wonach es benannt ist, noch wer er war, der ihm den ·Grundsätzlich hierzu s. Hagen Schulze, Ina U1rike Paul: Europäische Geschichte. Quellen und Materialien. München 1994.

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Namen Europa gegeben hat. Oder sollen wir annehmen, daß es seinen Namen nach der Europa von Tyros hat und vor deren Zeit namenlos war wie die anderen Erdteile? Aber diese Europa stammt doch aus Asien und ist nie in das Land gekommen, das man heute in Hellas Europa nennt. Sie ist nur von Phoenikien nach Kreta und von Kreta nach Lykien gekommen. doch genug davon! Wir sollten bei dem überlieferten Namen bleiben!"l Die Sage vom Raub der EurQpa durch den in einen Stier verwandelten Göttervater Zeus wurde während des Altertums sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst immer wieder aufgegriffen. Aber auch Herodots geographische Ausführungen sollten wegen ihrer Fehlerhaftigkeit nicht nur belächelt werden. 2 Die völlige Überschätzung der Größenverhältnisse des europäischen Kontinents und die entsprechende Verkleinerung Afrikas und Asiens ist durch den noch sehr geringen nautischen und kartographischen Wissensstand der Zeit zu erklären. 3 Mit seinem Europa-Zentrismus, der sich im flächenmäßigen Umfang niedergeschlagenen Vorrangstellung Europas, hat Herodot nicht nur das Weltbild der Antike, sondern auch des gesamten Mittelalters geprägt. Und als man zu Beginn der Neuzeit in der Epoche der Entdeckungen und der von Renaissance und Humanismus geförderten neuen Wissenschaften die wahren Maßstäbe erkannte und auch eingestand, formulierte man den stolzen Satz, daß Europa von seiner Ausdehnung nur am Ende, von seinem Wert her aber an der Spitze der Kontinente stehe. 4 Für Herodot ist das Thema Europa mit den mythologischen und geographischen Erklärungen aber keineswegs erschöpft. Vielmehr versuchte er, über das rein Deskriptive hinaus eine inhaltliche Begründung und Rechtfertigung für die Trennung der drei Erdteile zu geben, indem er die jeweils spezifischen Wesenszüge der Kontinente und ihrer Bewohner analysiert und die Unterschiede oder gar Gegensätze zwischen ihnen kontrastierend herausarbeitet. Der Gegensatz von Europa und Asien, repräsentiert auch Hellenen und Perser, durchzieht als Leitgedanke Herodots umfangreiches Gesamtwerk und ist zugleich der eigentlich tiefere Grund für die kriegeri1 Herodot, Historien, 4,45; vgl. auch Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. München 1979, Band 2, S. 446 ff. 2Ygl. ebd., S. 447; ferner: Eckart Pererich, Die Theologie der Hellenen, Leipzig 1938, S. 54, 129; vgl. ferner Yictor Ehrenberg, Der Staat der Griechen, Zürich und Stuttgart 1965, S. 3, 123, 197,319. 3Ygl. Friedrich Lübkers, Reallexikon des Klassischen Altertums,Leipzig-Beriin 1914, S. 355; Günter Grosjean, Geschichte der Kartographie, Bern 1980, passim. 4Ygl. Erich Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300 - 1600,2. Aufl., Braunschweig 1957, S. 100 ff.; I1ja Mieck, Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1977, S. 52 ff.

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schen Auseinandersetzungen der beiden Völker während der ersten Hälfte des 5. Jts. v. Ch. Knechtschaft und Freiheit heißen die entscheidenden Alternativbegriffe (vgl. Episode im 7. Buch).5 Diese Begriffe wies er den Asiaten und den Europäern zu. Wie weit die Unterdrückung und Entwürdigung des Menschen in dem asiatischen Großreich ging, dokumentiert die symbolische Geste der Huldigung, dem Zwang, sich vor einem gottähnlichen und den Bürgern entrückten allgewaltigen König niederzuwerfen. 6 In Athen dagegen mußte sich jeder, der ein Amt innehatte und dadurch Herrschaft ausübte, von anderen Magistraten kontrollieren lassen und den Mitbürgern in der Volksversammlung Rechenschaft über sein Tun ablegen. Selbstverständlich gilt die lobende Darstellung der athenischen Demokratie nur für die Vollbürger, die Politen, denn weder Frauen noch Sklaven besaßen irgend welche politischen Rechte. 7 Deshalb muß vor der lange üblichen Idealisierung der griechischen Staaten und ihrer Verfassungen gewarnt werden. Andererseits besteht aber auch kein Grund, undifferenziert und pauschal nur noch von einer Sklavenhaltergesellschaft zu sprechen. Bei einer objektiven Darstellung müssen beide Aspekte hervorgehoben werden: nämlich die Ausbeutung und die Rechtlosigkeit der Sklaven sowie dem entgegengesetzt das hohe Maß an Mitbestimmung und Entscheidungsbefugnis der Vollbürger. Herodots Gegensatzpaar von Knechtschaft und Freiheit bezog sich immer auf die Vollbürger. Doch eben hier liegt der wesentliche Unterschied: Während die Athener ihre persönlichen Freiheiten auskosteten, ertrugen die Perser ausnahmslos drückende Knechtschaft. Mit dieser Gegenüberstellung macht der Vater der Geschichtsschreibung Europa zum Synonym für Freiheit und Demokratie und Asien zum Synonym für Knechtschaft und Despotie. 8 In Griechenland (Europa) leben durch Gesetz geschützte Bürger, in Persien (Asien) jedoch der Willkür eines einzelnen ausgesetzte preisgegebene Untertanen. Von nun an stehen nicht mehr die geographischen, sondern die politischen, kulturellen und moralischen Unterschiede zwischen Europa und Asien im Vordergrund. Dadurch wird Europa zu einem ausschließlich mit positiven Bedeutungsinhalten gefüllten Wert begriff, wogegen Asien bei den im Laufe der Geschichte immer wieder aufbrechenden Streitigkeiten zwischen Griechen und Persern, Christen und Moslems, Habsburgern und Türken als Gegenstand der Bedrohung oder Verachtung dienen und herhalten muß. 5Ygl. 6Ygl. 1Ygl. 8Ygl.

Herodot, Historien, 7, passim. Stichwort Proskynesia in: Der Kleine Pauly, Band 4, S. 189. Ehrenberg, S. 47 ff.: Der Kleine Pauly, Band 1, S. 1477 f. Herodot, Historien, 7, passim; Der Kleine Pauly, S. 1478.

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Das von Herodot begründete und von Hippokrates, Aristoteles und Isokrates wiederholte Lob des europäischen Erdteils darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Europa-Bewußtsein der Griechen sehr begrenzt und elitär war. Denn unter Europa verstand man vorzugsweise erst einmal Hellas selbst und die vom Mutterland kolonisierten Küsten des Mittelmeeres. Nach dem Urteil des Aristoteles9 erschienen die Völker Asiens als geschickt, aber unterwürfig; die Völker Europas als freiheitsliebend, aber nicht staatsbildend; nur die Griechen hätten von beiden etwas, seien beherzt und begabt; deswegen behielten sie ihre Freiheit, hätten das beste Gemeinwesen und könnten über alle herrschen, wenn sie eine freiheitliche Staatsform fänden. Aber gerade das starke Freiheitsempfinden der Griechen hat die Gründung eines Einheitsstaates verhindert. Als die Makedonen dann Hellas mit Waffengewalt einten, errichteten sie eine Hegemonie und kein auf Gleichberechtigung beruhendes Bündnissystem, und als Alexander d. Gr. schließlich sein Weltreich eroberte, orientierte er sich nach Osten, nach Asien, aber nicht nach Europa. An die Stelle eines politisch oder geistig geeinten Europa trat die Idee einer die verschiedenen Erdteile verbindenden Ökumene. 10 Durch die nach Alexanders d. Gr. Tod ausbrechenden Diadochenkämpfe wurde ein solches Weltreich aber erst im Imperium Romanum l l verwirklicht, das sich über alle drei Kontinente der alten Welt erstreckte. In seinem Expansionsdrang kannte das römische Reich weder geographische noch ethnische Grenzen. Deshalb lautete das Kontrastpaar auch nicht (wie für die Griechen) Europa oder Asien, sondern Römer oder Nichtrömer.

Das Mittelalter Trotz der Indifferenz gegenüber Europa erwies sich Rom in den Wirren der Völkerwanderungszeit mit ihren kurzlebigen Staatsgründungen als Stabilitäts- und Integrationsfaktor. Denn schon im frühen Mittelalter glaubte man an eine Kontinuität des römischen Reiches, das lediglich durch die translatio imperii 12 an die Franken übergegangen sei. Und wenn man ein erstaunlich homogenes Bild des in sich geschlossenen mittelalterlichen Europa 13 zeichnen kann, so ist das mit der räumlichen und geistigen All9VgI. Der Kleine Pauly, Band 1, S. 582 ff. lOVgI. Ehrenberg, S. 171 ff. llVgI. Der Kleine Pauly, Band 2, S. 1381 ff. 12Zum Begriff der translatio imperii s. Konrad Fuchs und Heribert Raab (Hg.) Wörterbuch zur Geschichte, München, 3. Auft., 1977, Band 2, S. 681. 13VgI. hierzu Karl Bosle, Europa im Mittelalter. Wien 1970 passim; Jan Dhondt, Das frühe Mittelalter, Frankfurt 1968, passim; Jacques Le Goff, Das Hochmittelalter, Frankfurt 1965, passim; Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der Europäischen Ge-

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gegenwart der Kirche zu erklären. Der verbindende Leitspruch des Mittelalters hieß nicht Europa, sondern christianitas oder ecclesia. 14 Jacob Burckhardt hat in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen"15 dargelegt, daß die Religion neben Staat und Kultur als eine der drei großen Potenzen im Leben der Völker anzusehen ist. Dieses Urteil dürfte für kaum eine andere Epoche zutreffender sein als für das Mittelalter, zumal die Kultur so weitgehend von einer christlichen Religion geprägt wurde, so daß es nahe liegt, von einer christlichen Kultur des Mittelalters zu sprechen. Doch handelt es sich auch um eine europäische Kultur, denn die theologische Philosophie der Scholastik 16 wurde ebenso in Paris gelehrt wie in Köln, und Thomas von Aquin vertrat sie ebenso wie Johannes Duns Scotus. Als Beispiel für die europäische Dimension christlicher Gelehrsamkeit soll die Universität Paris dienen. Hier unterrichteten 1250 Roger Bacon (1214-1292) aus England, Thomas von Aquin (1224-1274) und Bonaventura (1217/21-1274) aus Italien, Albertus Magnus (1200-1280) aus Deutschland. Ähnliches ließe sich von Oxford und Bologna sagen. Außenpolitisch wurde die christliche Republik immer dann beschworen, wenn es galt, sich mit der Türkengefahr auseinanderzusetzen. 17 Im Namen des Glaubens wurde zu Frieden und Eintracht innerhalb der respublica christiana aufgerufen, um einen erfolgversprechenden Krieg gegen die Mohammedaner planen zu können. So blieb das Streben nach Einheit aufs engste verknüpft mit dem Gedanken des Kreuzzuges, verstanden als gemeinsamer Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Renaissance Demnach war es konsequent, daß erst der Untergang des vom Westen nie ernsthaft unterstützten byzantinischen Reiches im Jahre 1453 zu einer Rückbesinnung auf die europäische Zusammengehörigkeit und Mitverantwortung führte. 18

schichte, Bde. 1 - 3, Stuttgart 1971 - 1987, passim; Heinrich Schneider, Leitbilder der Europapolitik. Der Weg zur Integration. Bonn 1977, S. 45 ff.; Werner Fritzemeyer, Christenheit und Europa. Zur Geschichte des europäischen Gemeinschaftsgefühls von Dante bis Leipniz, München - Berlin 1931, S. 1 ff. 14 Hierzu s. Lexikon für Theologie und Kirche. Freiburg 1933, Band 5, S. 998 ff. 15 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungert, 1905, passim. l6Hierzu s. Lexikon für Theologie und Kirche, Leipzig 1937, Band 7, S. 296 ff. 17Ygl. Fuchs/Raab, Band 2, S. 800 ff.; Mieck, S. 81 ff. l8Ygl. Schieder, Band 2, S. 1116 ff.

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Die Eroberung von Konstantinopel kommt einer Niederlage der gesamten Christenheit gleich, verkündete der Humanist Enea Silvio Piccolomini, 19 der damals als Sekretär Friedrichs In. amtierte und 1459 unter dem Namen Pius 11. den Papstthron besteigen sollte. In seiner Rede auf dem Frankfurter Reichstag' von 1454 wertete er den Sieg der Türken folgendermaßen: "Der Verlust Konstantinopels ... ängstigt und schmerzt einen jeden von euch um so mehr, wie ich meine, je vornehmer und edler er ist... Wenn wir die Wahrheit gestehen wollen, hat die Christenheit seit vielen Jahrhunderten keine größere Schmach erlebt als jetzt. Denn in früheren Zeiten sind wir nur in Asien und Afrika, also in fremden Ländern geschlagen worden, jetzt aber wurden wir in Europa, also in unserem Vaterland, in unserem eigenen Haus, an unserem eigenen Wohnsitz, aufs schwerste getroffen" .20 Dank der meisterhaften Rhetorik stieß Enea Silvio Piccolomini mit seinen Ausführungen auf außerordentliche Resonanz. Überall kursierten Abschriften dieser Rede, die die Welt bewegte. Das eigentlich zukunftsweisende dieser Rede liegt darin, daß der spätere Papst auch in einem säkularisierenden Sinne von einer natürlichen Einheit sprach, indem er den Begriff Europa der Vergessenheit entriß. Von dem geographischen Sachverhalt eines genau begrenzten Erdteils ausgehend, definiert der Humanist Europa als unser Vaterland, unser eigenes Haus, unseren eigenen Wohnsitz und schließt in diese Definition Byzanz und seine Territorien in Griechenland und auf dem Balkan ein. Die Wiederentdeckung Europas resultierte aus den innovatorischen Impulsen der Renaissance,21 die das Mittelalter beendete und die Neuzeit einleitete. In einer Bildungsbegeisterung ohnegleichen las man die Schriften der antiken Autoren. Die. Rückkehr zu den antiken Quellen erweiterte das Weltbild und Selbstverständnis der Menschen des 15. und 16. Jahrhunderts beträchtlich. Enea Silvio Piccolomini verfaßte eine Kosmographie der damals bekannten Kontinente und behandelte in den beiden fertiggestellten Büchern über Asien und Europa nicht nur geographische Themen, sondern erörterte auch Fragen der Geschichte, Kultur und Religion und entwarf ein differenziertes Bild von vielfältigen Bräuchen und Gewohnheiten der einzelnen Völker. 22 Die Unversöhnlichkeit von Europa und Asien führte er auf religiöse, aber auch auf politisch-gesellschaftliche Unterschiede zurück. Einige Jahrzehnte später hat Niccolo Machiavelli (1469-1527) gen au diesen Punkt aufgegriffen: in fast schon herodoteischer 19Rolf Hellmut Foerster, Die Idee Europa 1300 - 1946, München 1963, S. 40 f. 20 Ebenda. 21 Hassinger, S. 23 ffj Ernst Samhaber, Geschichte Europas, Bonn 1982, S. 314 ff.j Günter Gurst, Siegfried Hoyer, Ernst Ullmann und Christa Zimmermann (Hg.) Lexikon der Renaissance, Leipzig 1989, passim. 22Mieck, S. 169 ff.

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Diktion pries er die Tapferkeit, Tugend und Freiheitsliebe der Europäer, während er die Unterwürfigkeit und den Despotismus Asiens anprangerte. Mit Europa verband man nun wieder mehr als bloße geographische Vorstellungen. War bisher die ideelle und moralische Einheit des Abendlandes mit den Begriffen christianitas, respublica christiana oder christliche Völker umschrieben worden, so wählte man seit der Renaissance erneut den Ausdruck Europa bzw. europäische Völker. Aber obwohl das Vaterland Europa in zahlreiche Staaten zersplittert war, erstrebten die Humanisten keine politische Einheit in der Art einer Universalmonarchie; denn sie teilten die Meinung Machiavellis, wonach Freiheit in Europa nur deshalb und dann gedeihen könne, weil hier eine Vielzahl von Republiken und gemäßigten Königreichen existiere, während es in Asien nur wenige unumschränkte Alleinherrscher gebe. Eine in ihrer Macht nach innen und außen unbegrenzte Monarchie beschneide zwangsläufig die Rechte des Individuums und lähme seine schöpferischen Kräfte; daher sei es unvernünftig, ein Großreich nach dem Muster der Osmanen oder Perser errichten zu wollen. Da die Mannigfaltigkeit des europäischen Staatensystems erhalten bleiben sollte, stellte man sich nunmehr die Frage, wie der Frieden zwischen den souveränen Mächten der Christenheit gesichert werden könnte.

Frühe N euzei t Wenn die Staatsdenker des 16. Jahrhunderts auch das Prinzip der Nationalstaaten verfochten, so wurden sie dennoch nicht müde, die dauernden Kriege und Feindseligkeiten zu beklagen. 23 Um dem Dilemma der scheinbaren Unvereinbarkeit von Souveränitätsansprüchen und Friedenswahrung zu entgegnen, versuchte man nun, die zwischenstaatlichen Beziehungen auf der Basis des im Entstehen begriffenen Völkerrechts zu regeln .. Aber damals wie heute fehlte ein übergeordnetes Organ, das die Rechtsnormen in die Praxis hätte durchsetzen können. Trotz reger diplomatischer Tätigkeit und klar formulierter Richtlinien des Völkerrechts nahmen die kriegerischen Auseinandersetzungen an Häufigkeit und Schärfe zu. Nicht einmal die unmittelbare Bedrohung durch die Osmanen - sie siegten 1526 bei Mohacs an der Donau und belagerten Wien zum ersten Male 1529 - änderte etwas an dem Zustand der Zerrissenheit Europas. Ja, sogar die unausgesprochene Selbstverständlichkeit christlicher Einheit zur Abwehr eines äußeren Glaubensfeindes wurde verraten, als Frankreich sich mit den Türken verbündete, um die Vormachtstellung des habsburgischen 23Ygl. Hans-Jürgen Schlochauer, Die Idee des Ewigen Friedens, Bonn 1953, S. 72 ff.

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Kaisers zu untergraben. 24 Die Religion hatte ohnehin aufgehört, als verbindendes Moment der Christenheit zu wirken. Denn seit der Reformation bekämpften sich Katholiken und Protestanten, Lutheraner und Zwinglianer, Täufer und Calvinisten. Glaubensfragen wurden mit dem Schwert entschieden, und religiöse Anliegen fielen nicht selten politischen Überlegungen zum Opfer. So spalteten die Konfessionen nicht nur die Kirche, sondern auch die Völker.

Aufklärung Die Uneinigkeit Europas wurde von Literaten, Philosophen und Gelehrten aller Länder aufs schärfste kritisiert. Man wiederholte nicht nur die allgemeine Klage über das unsinnige Blutvergießen, sondern betrieb erstmals eine erbitterte Polemik gegen Europa im Allgemeinen. Von Montaigne bis Montesquie und Voltaire, von der späten Renaissance bis zur Aufklärung, reichte der Chor der Denker, die Europas moralische Verworfenheit brandmarkte. Welche Ideale verkörperte der einstmals so gelobte Kontinent noch? Wie hatten sich denn die Regenten gegenüber den berechtigten Forderungen ihrer Bürger nach Frieden, Freiheit, Toleranz und Menschenrechten verhalten? Drohte nicht der Staat im Absolutismus 25 zum Ungeheuer zu werden, und hatten nicht die Europäer die Völker der neuen Welt unterjocht und sogar ausgerottet? In diesen als Fragen getarnten Aussagen kündigte sich die Krise des europäischen Bewußtseins an. Erst jetzt - zwischen 1650 und 1750 - wirkten sich die geistigen Folgen der geographischen Entdeckungen aus. 26 In großer Zahl erschienen Reiseberichte fremder Regionen und Schilderungen exotischer Völker. Umgekehrt erschienen einschlagende Beschreibungen Europas, die angeblich Besucher von anderen Kontinenten bei ihrem Aufenthalt in Frankreich, Deutschland, Italien zu Papier gebracht hätten. Das berühmteste Werk in dieser neuen Literaturwelle von fingierten Reiseberichten sind die 1721 erschienenen "Persischen Briefe" Montesquies. 27 Die "Persischen Briefe" gehen von der imaginären Situation aus, daß zwei persische Standesherren für längere Zeit in Europa weilten und in 160 lose aneinandergereihten Sendschreiben 24Vgl. Heiner Timmermann (Hg.), Die Bildung des frühmodernen Staates - Stände und Konfessionen, Saarbrücken 1989, hier: ders., "Europa im Umbruch", S. 13 - 30, S. 24 ff.; Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt 1989, S. 69 ff. 25Vgl. Fuchs/Raab, Band I, S. 43 ff., Walther Hubatsch, Das Zeitalter des Absolutismus 1600 - 1789,3. Aufl., Braunschweig 1962; Schieder, Band 4, passim. 26Vgl. Mieck, S. 237 ff. 27 Charles Secondat Montequieu, Lettres persanes hg. von Antoine Adam, Genf 1965; vgl. hierzu auch Klaus-Jürgen Bremer, Montesquieus Lettres persanes und Cadalsos Cartas marruecas. Eine Gegenüberstellung von zwei pseudo-orientalischen Briefsatieren. Heidelberg 1971, S. 158 f.

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ihre Eindrücke und Meinungen Freunden in der Heimat mitteilen. Montesquie läßt alles verwerfen, was nicht den Gesetzen der Vernunft entspricht. Der schwerste Vorwurf trifft wieder die dauernden Feindseligkeiten, durch die Europa allmählich zu verbluten droht. Dazu heißt es im 29. Brief: Du kannst sicher sein, daß es in keinem Reiche so viele Bürgerkriege gegeben hat wie im Reiche Christi. Aber die beiden Perser wissen nicht nur Nachteiliges über Europa zu erzählen. Bei der Beurteilung der Verfassungen treten die Vorzüge Europas zutage. Wie schon Herodot, Piccolo mini und Machiavelli so konfrontiert Montesquieu die Vielzahl der Monarchien und Republiken im Westen mit den wenigen Großreichen im Osten, und d~shalb identifiziert er wie schon die Genannten Europa mit Freiheit und Asien mit Despotismus. In gewohnter Weise wird dieses Bild beschrieben: Die unbegrenzte Macht der orientalischen Herrscher beraubt die Untertanen aller Rechte und läßt sie in Trägheit und Teilnahmslosigkeit verharren. Die europäischen Könige jedoch unterliegen ständischer und parlamentarischer Kontrolle und müssen dem Prinzip der Gewaltenteilung folgen. Natürlich werden die Gefahren des Absolutismus nicht verharmlost, aber die vom Geist des Konstitutionalismus erfüllten Bürger sind wachsam und verteidigen wie bei der Glorious Revolution von 1688 notfalls durch Aufstände solche Freiheiten. Während Montesquieu Politik und Staatsrecht in das Zentrum seiner Überlegungen stellte, geht Voltaire in erster Linie von wissenschaftlichen und kulturellen Fragen aus. Naturwissenschaftliche Experimente und technische Erfindungen werden nicht mehr in Asien, im Orient gemacht, sondern im Okzident, in Europa, in dieser einzigartigen Gelehrtenrepublik. Auf politischem Sektor gipfeln die Ideen der Aufklärung in der Französischen Revolution, die den feudalen Absolutismus beseitigte, der bürgerlichen Freiheit den Weg ebnete und an Stelle der Fürstenherrschaft die Volkssouveränität setzte. Dank den bürgerlich-freiheitlichen Zielen der Revolution fand diese in allen Nachbarländern zahlreiche Anhänger. 28 Von Napoleon, dem Erben der Revolution, erhofften ·viele, daß er nach der inneren Stabilisierung Frankreichs die Neuordnung und Einigung Europas betreiben werde. Doch der selbstgekrönte Kaiser beabsichtigte nicht, ein geeintes Europa unabhängiger und gleichberechtigter Staaten zu schaffen. Aus persönlichem Machtbedürfnis und antinationalem Überlegenheitsgefühl heraus erstrebte Napoleon die Hegemonie über den gesamten Kon28Samhaber, S. 408 ff., Kennedy, S. 189 ff.j Heiner Timmermann (Hg.), Die Französische Revolution und Europa, Saarbrücken 1989, passim.

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Reiner Timmermann

tinent. Vorherrschaft und Fremdherrschaft vertieften die Gegensätze zwischen den Völkern, und so formierte sich als Reaktion gegen die französischen Eroberungen überall ein auf das Nationalbewußtsein gegründeter Widerstand, der in den Befreiungskriegen den endgültigen Sieg davontragen sollte und zum Europa der Nationalstaaten führen sollte. Nationalstaat

Die Politisierung der romantischen Ideen führte in den Befreiungskriegen gegen Napoleon zu den schlimmsten Auswüchsen unkontrollierten Völkerhasses. 29 Trotz des Wiener Kongresses und der Heiligen Allianz, trotz zahlreicher Verträge, Bündnisse und Konferenzen reichten die Gemeinschaften höchstens zum sogenannten europäischen Konzert,30 in das die Fürsten einstimmten, um revolutionäre Veränderungen abzuwehren. Über eine umfassende europäi~che Einigung machten sie sich keine Gedanken mehr, dafür waren sie schon zu sehr in den Kampf gegen die liberalen und demokratischen Kräfte verstrickt. Doch die Ruhe war trügerisch. Mit der Revolution von 1848 ging die Epoche der Restauration 31 zu Ende, und mit ihr ging zugleich auch die auf dem Prinzip der monarchischen Legitimität und Solidarität basierende Außenpolitik der europäischen Großmächte zu Ende. Von nun an war Europa in Nationen geteilt, die sich nur dann zur Zusammenarbeit bereitfanden, wenn es der eigene Nutzen erforderte, während im übrigen jeder danach trachtete, auf Kosten der anderen ein Maximum an politischer und wirtschaftlicher Macht zu erlangen. Es war die Zeit des Imperialismus und des Kolonialismus,32 als sich Staatsmänner, Völkerrechtler und Historiker weitgehend darin einig waren, daß die absolute Unabhängigkeit die vornehme Tugend der Staaten sei, daß im Verkehr mit anderen Staaten moralische Erwägungen nicht am Platze seien, daß der Krieg zur notwendigen Weltordnung gehöre. An dieser Charakterisierung der Epoche von 1848-1939 änderte auch Victor Hugo mit seiner majestätischen Vision von der "Nation Europa" nichts. 33

29 Eberhard Fahrenhorst, Das neunzehnte Jahrhundert, Hildesheim u.a., 1983, S. 149 ff.; Kennedy, S. 215 ff. 30Schieder, Band 5, passim; Henry A. Kissinger, Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994, S. 79 ff. 3l Schieder, Band 5, passim, Fuchs/Raab, S. 701 f. 32Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, Hamburg 1969, passim; Kennedy, S. 229 ff. 33Vgl. Foerster, S. 222 f.

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Mit der Verwirklichung des Nationalstaates wurde ein Schritt politischer Selbstbestimmung nachgeholt. Theoretisch hätten nach der Überwindung des kleinstaatlichen Partikularismus der nationalen Einigung sogar supranationale Zusammenschlüsse folgen können. In der Praxis verlor man infolge des ständig wachsenden Nationalismus34 fast alle über den eigenen Staat hinausreichenden Perspektiven aus den Augen. Durch seine völlige Übersteigerung führte der Nationalismus schließlich zu einem imperialistischen Machtstreben, das in unserem Jahrhunder~ zwei Weltkriege auslöste. Doch schärften gerade diese Kriege bei vielen Menschen die Einsicht, daß eine Verständigung und ein Zusammenwachsen der Nationen das politische Ziel der Zukunft sein müßte. 35 Ziele Nach den Erfahrungen und der historischen Tiefendimension europäischer politischer, kultureller, theologischer, philosophischer Geschichte und den jüngsten Vorkommnissen nach dem Weltkrieg, der Europa zweiteilte, können die Ziele, nach denen die Europäer streben sollten, nur heißen: Friede, Demokratie, Freiheit. Weder Friede noch Freiheit, noch Demokratie dürften relativiert werden. Es sind Ideen, die vor 200 Jahren in der Französischen - und kurz davor in der amerikanischen - Revolution propagiert wurden und die bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft verloren haben. Gerade in unserer Zeit werden wir Zeugen der ungeheuren Anziehungskraft dieser Ideen, und zwar besonders in den Ländern, in denen die Verwirklichung dieser Ideen zwangsweise versagt wurden. 36 Aufbruch-

34Vgl. Heiner Timmermann (Hg.), Die Entstehung der Nationalbewegung in Europa

1750 - 1849, Berlin 1993, passim; Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt 1985; Eric J.

Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt-New York 1988; Hagen Schulze, Staat und N';'tion in der Europäischen Geschichte S. 209 H. 35 Schneider, S. 157 H., Wolfgang Benz und Hermann Graml (Hg.) Europa nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 - 1982. Das Zwanzigste Jahrhundert H. München 1983 passim; Samhaber, S. 472 H.; Wilfried Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939 - 1957, 2. Aufl., Göttingen 1991, passim; Walter Lipgens, EuropaFöderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940 - 1945, München 1968, passim; Gerd Hardach, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948 - 1952, München 1994, S. 135 H.; Ludolf Herbst, Optin für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag, Müchen 1989, passim. 36Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt 1994, passim; Ulrich Deppe, Helmut Dubiel und Ulrich Rödel (Hg.), Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt 1991, passim; Cord Jakobeit und Alparslan Yenal (Hg.) Gesamteuropa. Analysen, Probleme und Entwicklungsperspektiven, Bonn 1993, passim; Christoph Böhr, Der Schwierige Weg zur Freiheit. Europa an der Schwelle zu einer neuen Epoche. Bonn 1994, passim. 2 Timmermann

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stimmung in Mittelosteuropa für Freiheit, Friede, Demokratie, verbunden mit Hoffnungen auf ein sich immer enger, aber freiwillig zusammenschließendes Westeuropa. Wir sind alle Zeitzeugen einer politisch erregenden Zeit.

Der Begriff Europa in der Spätantike und

In

Byzanz

Von Maciej Salamon Bevor ich mein eigentliches Thema behandele, will ich einige Sätze über den Begriff Europa im Altertum sagen, denn ohne dies wäre die weitere Entwicklung seines Inhalts und seiner Bedeutung kaum verständlich. Das ursprüngliche Europa muß ein kleiner Gau irgend wo im Grenzgebiet zwischen Thrakien und Makedonien gewesen sein, aber schon im 7. Jahrhundert v. Chr. haftete der Name am kontinentalen Griechenland, und im 6. Jahrhundert unterschied man zwei Erdteile: Europa und Asien. Als Kontinent dehnte sich Europa von der Herkulessäule (Gibraltar) bis zum Asowschen Meer und Tanis (Don). Die geographischen Vorstellungen der Griechen waren überwiegend an das Mittelmeer gebunden, und erst später erkannten die antiken Völker den wirklichen Umfang des Erdteils. Auf diese Weise hat sich allmählich der endgültige Inhalt des Namens herausgebildet. Er hat aber nicht gänzlich die ursprüngliche Bedeutung verdrängt, parallel mit ihm begegnet man immer wieder einem Europabegriff, der den Namen auf die südlichen Balkangebiete (Makedonien, Thrakien, Griechenland) zurückführt. Besonders unter Philipp H. und Philipp V. deckt er sich mit der Reichweite des makedonischen Staates. Dieser Inhalt des Wortes, zeitweilig abgewandelt, bleibt bis in die Spät antike bestehen. Es gibt also im Altertum wenigstens zwei Europabegriffe, wohl aber keine Europaidee, denn derlei bestand in dieser Epoche nicht. Zwar betonte Herodot im 5. Jahrhundert v. Chr. in seiner Darstellung der Perserkriege den Gegensatz zwischen Europa, von den Griechen verteidigt, und Asien - dem Land der knechtischen Untertanen der persischen Großkönige, doch war die Verwendung der beiden Namen eher metaphorisch, vertretend die Grundbegriffe der Hellenen und der Perser oder Orientalen. Die Rolle des Urhebers der bewertenden Bedeutung des Begriffes Europa kann aber dem Vater der Geschichtsschreibung nicht verweigert werden. Die Gegenüberstellung vom hellenischen Europa und barbarischen Asien taucht manchmal in der antiken Literatur auf. Es geschah bei Isokrates um 2'

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die Hälfte des 4. Jahrhunderts, als sich die Griechen zusammen mit den Makedoniern anschickten, gegen das zerfallende persische Reich eine Offensive zu entfalten. Aber bald nach den Eroberungen Alexanders verlor die Gegenüberstellung ihren Sinn, sobald sich die Zentren der hellenistischen Kultur in Asien in die asiatische Landschaft eingeprägt hatten. Auch dem Imperium Romanum, ein Reich dreier Erdteile, kam die Anspielung auf den alten Konflikt zwischen Europa und Asien grundsätzlich ungeschickt vor. Neue Tendenzen in der Entwicklung des Europabegriffes lassen sich erst in der Spät antike beobachten. Im östlichen Teil des Reiches wird unter Diokletian eine der kleinsten Provinzen "Europa", an den Meeresengen gelegen, gegründet. Der Ursprung ihres Namens ist noch nicht befriedigend aufgeklärt worden. Soweit es sich feststellen läßt, ist er immer ganz technisch, ohne einen bewertenden Sinn, gebraucht worden. Im römischen Westen setzt die Entwicklung in gegensätzlicher Richtung fast gleichzeitig ein; sie ist in der grundlegenden Studie von Jürgen Fischer geschildert worden. Der deutsche Historiker hat darauf hingewiesen, daß für die weitere Gestaltung des Begriffes die Sonderstellung und Selbsterkenntnis des Pars Occidentis von grundlegender Wichtigkeit war. Diese Evolution verlief nicht einfach und automatisch. Der römische Westen dehnte sich ja auf zwei Erdteile Europa und Afrika aus. Kein Wunder also, daß Europa (das Kernland des westlichen Reiches) von Claudius Claudianus mit einem separatistischen, afrikanischen Anführer Gildo gegenübergestellt wird. Es handelt sich bloß um zwei Erdteile, obgleich im Fall Europa nur der westliche Teil gemeint wird. Fraglich ist hingegen die von Fischer vertretene Deutung einer Stelle in Claudianus "In Rufinum", wo der Dichter sein Mitleid für die von den Barbaren heimgesuchten europäischen Provinzen äußert. Die Tendenz ist hier unverkennbar "emotional", aber es soll bemerkt werden daß der westliche Hofdichter auf diese Weise die östlichen Provinzen (im byzantinischen Sinn, siehe unten) beklagte. Eine Art Identifizierung mit dem westlichen Teil Europas macht sich erst bei Sulpicius Severus bemerkbar. Der gallische, christliche Schriftsteller (um 400) glaubte, (West-) Europa gegen die anderen Erdteile als ebenbürtigen Teil der christlichen Welt verteidigen zu können. Bei ihm verspürt man schon unverkennbar den europäischen Patriotismus, der sich auf den Westen zu beschränken scheint. Ihm folgen andere Schriftsteller in Gallien und Italien, obgleich die Belege ziemlich spärlich sind. (5.-7. Jahrhundert) Ich möchte nicht die Bedeutung der Völkerwanderung für das Schicksal des Europabegriffes überschätzen. Zwar hat die neue Gefahr aus dem

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Osten und Norden kommend die Aufmerksamkeit aller Römer auf die bis dahin wenig beachteten Gebiete des "nördlichen Barbaricum" gelenkt, es ist auch dabei klar geworden, daß Europa über die Reichsgrenzen hinaus geht. Doch Belege für eine Steigerung des Gemeinschaftsgefühl von Occidens und Oriens, im Begriff Europa ausgedrückt, finde ich nicht (wie es Fischer tut). Erst im 8. Jahrhundert erscheint Europa in den lateinischen Quellen als gen au definiertes Gebiet mit Frankreich, Italien (später Deutschland) als Bestandteile. Dieser Periode will ich nur wenige Bemerkungen widmen. Der polnischer Historiker Serejski schreibt den.Antrieb zur Schaffung des westlichen Europabegriffes den außerhalb des Reiches wohnenden Völkern (hauptsächlich Iren) zu. Die Hypothese ist anziehend: das Wort Europa entsprach besser dem Umfang der neuen, sich damals bildenden Völkergemeinschaft des westlichen Christentums als der schon zum Teil verblaßte Imperiumsbegriff. Doch sind die Quellenangaben über den nördlichen Ursprung des Begriffes (z.B. Kolumban) zu spärlich. Wichtige Elemente des westeuropäischen Selbstgefühls hingegen, wie die Kirchengemeinschaft mit Rom oder die Abneigung gegen den griechischen Osten, sind der weströmischen Eigenart entnommen. Noch wichtiger für die Evolution des Begriffes war, wie allgemein angenommen, der Anteil Frankreichs an der Wiedervereinigung der westlichen Welt. Die universalistischen Ansprüche Italiens erlaubten es nicht, trotz seiner Feindseligkeiten und Konflikte mit Byzanz (ich meine hier vor allem die Politik des Papstums) auf die alte Gemeinschaft mit den östlichen Römern ungehemmt zu verzichten. Es ist auch allgemein bekannt, daß Ostrom zu der neuen Gemeinschaft Europas nicht gezählt wurde. Doch sei hier bemerkt, daß die Angehörigen des östlichen Kaiserreiches zu Europa von Zeit zu Zeit gezählt wurden. Es mag mit dem immer wieder gebrauchten geographischen Inhalt des Wortes (als Erdteil) zusammenhängen; mitunter kann aber vermutet werden, daß auch kulturelle, religiöse und historische Faktoren im Spiel waren. Die Vermutung bewahrheitet sich schließlich im Spätmittelalter, als das westliche Europa seine Gemeinschaft mit dem von Türken tödlich bedrohten Griechenland als Glaubensretter anerkannte. So hielt also der Westen zu Byzanz. Nun läßt sich freilich die Frage stellen, wie das Ostreich selbst den Europabegriff betrachtet. Es gibt, meines Wissens, bisweilen nur zwei kleine Aufsätze, welche die Beziehungen von Byzanz zum Europabegriff quellenmäßig zu schildern versucht haben. H. Ditten beschränkt sich nur auf die spätbyzantinischen Belege (bes. bei Laonikos Chalkokondyles). J. Koder hat viel breiteres

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Material systematisiert, leider widmet er seine Aufmerksamkeit nur der byzantinischen Historiographie. Das Wort Europa konnte in Byzanz dreierlei Inhalt haben: Im breiteren Sinn war es ein Erdteil, im engeren die thrakische Provinz (siehe oben), welche später nur als kirchliche Eparchie erwähnt wird. Am interessantesten scheint mir hingegen die dritte Bedeutung zu sein: "Der europäische Landesteil des Reiches". Da sich Europa in diesem Sinn zum Teil mit dem thrakisch-makedonischen Raum deckte, kann von einer Anknüpfung an die antike Tradition geredet werden. Das ist unleugbar, aber der aktuelle Umfang des Gebietes wurde an die zeitgenössischen Reichsgrenzen angepaßt. Zu Unrecht bedauert J. Koder die Flüchtigkeit des Begriffes und zeichnet seine Reichweite mit einem Bogen, der vom Ägäischen bis zum Schwarzen Meer läuft, auf. Ich bin nicht von der Richtigkeit seiner Auffassung überzeugt, daß das balkanische Europa als geographische Vorstellung auf das Schema eines um die Meeresengen konzentrierten Halbkreis zurückzuführen wäre. Es handelt sich schlechthin um das Reichsgebiet in seinen politischen Grenzen. Das Wort scheint sogar im 6.-7. Jahrhundert zum Terminus zu tendieren, da man ja von einem Strategos Europa, h.h. dem Befehlshaber von Illyrium und Thrakien erfährt. Mit Illyrium, auch mit seinem nord-westlichen Winkel um Sirmium und mit seiner Westgrenze an der Adria, ist man schon zu weit von Koders Halbkreis um die Meeresengen. Parallel zum westlichen Begriff Europa verläuft also eine ähnliche Entwicklung im byzantinischen Sprachgebrauch, wo ein eigener, spezifischer Europabegriff geprägt worden ist. Auch im Osten konnte er in der Spätantike nicht auf den ganzen Reichsteil angewendet werden, da derjenige außer Europa mehrere asiatische Provinzen umfaßte. Der Übergewicht der letzteren im Staat war eine Tatsache, aber auch eine positive Bewertung Europas gegenüber Asien konnte nicht ausgeschlossen werden. Ich habe einen Beleg bei Johannes Lydos, einem Schriftsteller der Mitte des 6. Jahrhunderts, gefunden. Lydos setzt Europa praktisch mit der illyrischen Präfektur gleich. Von seinen Einwohnern spricht er, sie seien Hellenen (der Name in diesem Kontext positiv eingeschätzt), welche im Unterschied zur Bevölkerung des Ostens die alte Staatssprache selbst sprachen und in den Ämtern zu gebrauchen verstanden. Für den konservativen Bürokraten, der Johannes Lydos war, wurde es als Lob der traditionstreuen Provinz gemeint. Die positive Einschätzung Europas war aber nur in der frühbyzantinischen Periode denkbar. Der Einfall der fremden Völker und vor allem die slawische Besiedlung in den darauffolgenden Jahrhunderten hat es seiner meisten Vorteile beraubt, und sogar die Tatsache, daß hier die Reichshauptstadt gegründet worden war (das betont noch Konstantin VII. Porphyrogennetos), konnte dem europäischen Reichsteil nicht die Überle-

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genheit gegenüber den asiatischen Provinzen gewährleisten. Bis zum 11. Jahrhundert war Byzanz überwiegend auf seine asiatischen Besitzungen angewiesen. Erst im 11. Jahrhundert verschob sich nochmals der Schwerpunkt nach Europa (damals zog man schon das Wort "Dysis" vor). Dieser Prozeß, durch die Angriffe der Türken beschleunigt, reduzierte schließlich Byzanz im 14. Jahrhundert auf ein mittelgroßes und später ganz kleines, zerstückeltes Gebiet, nur auf der europäischen Seite gelegen. Das Wort Europa erscheint damals in den zeitgenössischen Quellen ziemlich oft, aber nur geographisch gemeint. Von einer Identifizierung mit Europa im politischen oder kulturellen Sinn ist meines Wissens nirgends die Rede. Augenscheinlich war der Begriff für die Byzantiner schon zu sehr mit dem Westen verbunden. In den griechischen Quellen finde ich nur eine vereinzelte Stelle - bei dem Lateinerfreund Demetrios Kydones -, wo Europa im westlichen, beschränkten Sinn gebraucht wird, dennoch scheint es offenbar, daß diese Bedeutung des Wortes den Byzantinern bekannt war, aber absichtlich von ihnen gemieden wurde. Das byzantinische Reich, das ein europäischer Staat (wider Willen friedlich) geworden war, und das die alte griechische Europatradition naturgemäß ererbt hatte, wollte sich nicht mit Europa identifizieren. Kein Wunder also, daß auch in den russischen Quellen des Mittelalters der Begriff stillschweigend übergangen wird.

Kaisertum und Souveränität der nationalen Staaten im Mittelalter Das Beispiel Polen Von Jerzy Wyrozumski Die Krönung Ottos I. durch Papst Johannes XII. im Jahre 962 zum römischen Kaiser war ein großes Ereignis des mittelalterlichen Europa. Sie wurde später als die translatio imperii - als die Übertragung des Kaisertums auf die deutschen Könige bezeichnet. Und das entsprach der Wirklichkeit. Seit dieser Zeit empfingen nur deutsche Könige die kaiserliche Krone. Sie wurden gleichzeitig zu Erben der karolingischen und der altrömischen Tradition. Diese hatte in der europäischen Geschichte eine wichtige Rolle gespielt, obwohl sie nicht parallel, sondern sukzessiv auftrat. Für Deutschland bedeutete die translatio imperii das Werden einer neuen Machthierachie, die auch der Integration des Staates diente; für die Außenwelt wurde sie verbunden mit der Oberherrschaft. Hierzu gab es verschiedene Aspekte des kaiserlichen Universalismus, aber kein einheitliches Programm seiner Realisierung. Dieser Universalismus wurde auf verschiedene Weise manifestiert. Die königslose Zeit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts muß als die größte Krise des universalen Kaisertums bezeichnet werden. Die Anfänge der Ostexpansion des Reiches wurden nicht mit der translatio imperii von 962 verbunden. Die beiden ersten Könige aus der sächsischen Dynastie, Heinrich I. und Otto 1., hatten sehr früh mit einer solchen Politik begonnen, das heißt: sie haben die Marken Hermann Billungs und Geros gegründet. Otto I. akzeptierte 955 den Plan, die neue kirchliche Provinz in Magdeburg zu stiften und in ihrem Rahmen die Ostslawen zu christianisieren. Der Plan war auf den Widerstand des Mainzer Erzbistums gestoßen und konnte daher erst 968 realisiert werden. Die translatio imperii hat auch eine neue Form der Staatenexistenz von Nationen geschaffen. Der Gründer des polnischen Staates, Mieszko 1., der 966 samt seinem Hof durch Vermittlung des Prager Hofes getauft wurde, wurde von Widukind als amicus imperatoris und von Thietmar von Merse-

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burg als imperatori fidelis bezeichnet. Der erste polnische Bischof, Jordanus, wahrscheinlich von italienischer Abstammung, war von der deutschen Kirche unabhängig. Sein Nachfolger, der deutsche Ungerus, hatte sich vermutlich dem Magdeburger Bischof untergeordnet. Mieszko I. war wohl dem Reich tributpflichtig, aber nur von einem Teil seiner Herrschaft wie Thietmar glaubwürdig bestätigt - usque ad Wurta fluvium. Der kaiserliche Universalismus nahm unter Otto 111. eine neue Gestalt an. Die Verlegung des Kaisertums von Deutschland nach Rom, die Inschriften der kaiserlichen Siegel: Renovatio imperii Romam und Roma aurea, waren der äußere Ausdruck der neuen Ideologie. Diese umfaßte auch die Slawenvölker. Die Miniaturen des Gebetbuches Ottos 111. um 1000 stellten die große Kaisergestalt auf dem Thron dar. Neben ihm sind je zwei Vertreter der weltlichen und geistlichen Macht abgebildet. Eine begleitende Miniatur zeigt vier königliche Gestalten in gebeugter Haltung. Jede wird durch eine Inschrift identifiziert: Roma, Gallia, Germania, Sclavinia. Die lateinische christliche Welt sollte zu einer Tetrarchie werden. Im Jahr 1000 trat Otto 111. eine Reise nach Polen an, um das Grab des hl. Adalbert in Gnesen zu besuchen. Der Prager Bischof und Missionar Preußens unter dem Patronat des polnischen Fürsten Boleslaus wurde 997 von Pruzzen getötet. Boleslaus kaufte seinen Leichnam und ließ ihn in Gnesen feierlich bestatten. Papst Silvester 11. sprach Adalbert heilig. Beide gehörten zu den Protagonisten des christlichen Universalismus, den Otto 111. verwirklichen sollte. Auf Grund eines päpstlichen Beschlusses stiftete Otto 111. bei seinem Besuch das Erzbistum Gnesen, das heißt die polnische Kirchenprovinz. Der Zeitgenosse Thietmar von Merseburg kommentierte Ottos Besuch wie folgt: Deus indulgeat imperatori, quod tributarium faciens dominum ad hoc umquam elevavit (Gott, entschuldige den Kaiser, daß er den Tributar zum Herrn gemacht und so hervorgehoben hat.). Der sog. Gallus, der Anfang des 12. Jahrhunderts in Polen schrieb, erlaubt uns, die bitteren Worte zu verstehen. Bei der Beschreibung des kaiserlichen Besuches in Polen hat er sich auf einen verschwundenen Liber de passione sancti Adalberti berufen und höchstwahrscheinlich daraus einige wichtige Nachrichten überliefert. Bemerkenswert an dieser Überlieferung ist, daß Otto III. seine kaiserliche Krone Boleslaus dem Tapferen (Chrobry) aufgesetzt habe. Gallus kommentierte diesen Akt als Krönung. Er, Gallus, war sich nicht bewußt, daß Boleslaus die königliche Krone erst 1025 erwarb. Zweifelsohne hat die Geste Ottos eine symbolische Bedeutung gehabt. Nach demselben Zeugnis

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habe der Kaiser dieses in amicitiae foedus - im freundschaftlichen Bündnis gemacht. Danach habe der Kaiser seinem Gastgeber einen Nagel vom Heiligen Kreuz und eine Nachahmung der Sankt-Mauritius-Lanze geschenkt, die sich bis heute in dar Schatzkammer des Wawel in Krakau befinden. Da diese Lanze zu den Krönungsrequisiten im Reich gehörte, hatte der ganze Akt in Gnesen eine große politische Bedeutung. Dieselbe Quelle informiert weiter, Otto habe Boleslaus zum Bruder und Mitarbeiter des Römisches Reiches eingesetzt (cum fratrem et cooperatorem imperii constituit) und zum Freund und Genossen des römischen Volkes ernannt (populi Romani amicum et socium appellavit). Boleslaus schenkte Otto unter anderem einen Arm des hl. Adalbert. Aus dem Gesagten geht hervor, daß Boleslaus in den Plänen des Kaisers eine wichtige Rolle spielen sollte. Vielleicht war er als einer der Tetrarchen vorgesehen. Die Machtpolitik des polnischen Fürsten, der die slawischen Völker unter seiner Herrschaft vereinigen wollte, scheint solche Vermutungen zu bestätigen. Nach dem Tode Ottos 111. im Jahre 1002 ist ein Niedergang der Idee der universalen christlichen Monarchie zu verzeichnen. Ottos Nachfolger, Heinrich 11., verlegte den Schwerpunkt des Kaisertums wieder zurück nach Deutschland. 1003 begann er den Krieg gegen Polen um die Herrschaft über Böhmen und die Lausitz, die von Boleslaus besetzt worden waren. In dieser Hinsicht hatte der Streit nicht einen universellen, sondern einen deutsch-polnischen Charakter. 1013 wurde in Merseburg Frieden geschlossen. Nach Thietmar leistete Mieszko 11., der Nachfolger Boleslaus' , Heinrich 11. die Huldigung. Aber die Fiedensbedingungen wurden nicht immer erfüllt. So verweigerte Polen Heinrich 11. Beistand auf seinem Zug nach Italien. In den folgenden Jahrzehnten wiederholte sich dieses Problem. Das Kaisertum wollte die polnischen Herrscher zur Huldigung zwingen, doch diese verteidigten ihre Unabhängigkeit. So teilte 1033 Konrad 11. das Reich Mieszkos 11. unter seine drei Konkurrenten auf. Erst Konrads Nachfolger, Heinrich 111., ermöglichte dem Sohn Mieszkos 11. seine Rückkehr nach Polen und zur Macht. Die Rückkehr des christlichen Universalismus bewirkte die Kirchenreform. Ein wichtiger Abschnitt wurde mit der Wahl des Mönches Hildebrand zum Papst Gregor VII. im Jahre 1073 eingeleitet. Der Streit zwischem diesem Papst und dem römischen, d.h. dem deutschen König, hat das lateinische Europa in zwei Blöcke geteilt. Dieser Streit teilte die Staaten und die Gesellschaften. Der polnische Fürst Boleslaus der Frei-

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giebige (Szczodry) schlug sich auf die Seite des Papstes und empfing die Königskrone für Polen im Jahre 1076. Dieses bedeutete die Anerkennung der polnischen Souveränität in der christlichen Welt. 1079 verlor er unter nicht geklärten Umständen den Thron. Sein Bruder und Nachfolger Wladislaus Hermann heiratete 1089 die Tochter Kaiser Heinrichs IV. Diese Heirat garantierte die guten Beziehungen zwischen Polen und dem Kaiser. Über eine formale Anerkennung der kaiserlichen Obrigkeit in Polen gibt es keine Informationen. 1109 unternahm der deutsche König Heinrich V. (Kaiser ab 1111) einen Feldzug gegen Polen. Er intervenierte zugunsten des polnischen Fürsten Zbigniew, den sein Bruder Boleslaus Krzyrousty (Schiefmund) vertrieben hatte. Gründe dieses Feldzuges lagen mehr im familiären als im politischen oder prinzipiellen Bereich. Der Krieg trug dem deutschen König keinen Erfolg ein. Erst 1133 leistete Boleslaus dem König Lothar aus politischen Gründen die Huldigung. Das spektakulärste Ereignis fand in der folgenden Generation der piastischen Fürsten statt. Boleslaus hinterließ fünf Söhne und setzte das Prinzip des Seniorats fest. Die jüngeren Fürsten vertrieben 1146 den Seniorfürsten Wladislaus. Obwohl dieser Sohn der russischen Fürstin war und seine jüngeren Brüder von der Tochter des Grafen von Berg abstammten, stand Kaiser Friedrich Barbarossa auf der Seite des Seniors; denn Wladislaus' Gattin war die Tochter des Markgrafen von Österreich, Leopold III. 1157 unternahm Barbarossa den Feldzug gegen Polen. Nach Überquerung der Oder und dem erfolgreichen Vordringen in das Innere Polens trafen sich Boleslaus und Barbarossa in der Nähe von Posen. Nach den Gesta Frederici I. imperatoris hatte Boleslaus unter Eid dem Kaiser versichert, daß die Vertreibung von Wladislaus nicht gegen den Kaiser gerichtet war, daß er dem Kaiser einen Tribut entrichten und dessen italienische Expedition unterstützen werde. Ferner wollte er sich nach Magdeburg zum nächsten Weihnachtsfest begeben, um sich dort zu rechtfertigen. Sein jüngerer Bruder Kasimir sollte als Geisel überstellt werden. Die kaiserliche Politik war nicht erfolgreich; denn nach derselben Quelle kamen weder Boleslaus noch ein Vertreter nach Magdeburg, und am italienischen Feldzug nahm Boleslaus nicht teil. Kasimir - von 1177-1194 Großfürst von Polen - erkannte die kaiserliche Obrigkeit an. Sein Kanzler, der spätere Bischof von Krakau, äußerte die Ansicht, daß papa et imperator ius habent et condendi et abrogandi iura. Das bedeutete im international rechtlichen Sinne, daß Papst und Kaiser das Recht haben, Recht zu schaffen und Recht abzuschaffen.

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Im 13. Jahrhundert interessierte sich das Kaisertum für die polnischen Fürsten und Könige nicht mehr. Es bleibt festzustellen, daß das Kaisertum mit seiner Politik der Beschränkung der Souveränität des polnischen Staates und der Aufzwingung seiner Obrigkeit nicht konsequent war. In der Regel waren die Kaiser, die Versuche in dieser Richtung unternahmen, mit einer formalen Vasallenschaft und einer Deklaration der Anerkennung der kaiserlichen Obrigkeit zufrieden. Die Einbindung des polnischen Staates als juristischen und organischen Teil dieses föderativ angelegten Reiches gelang nicht. Literaturhinweise Abraham, J.: Gniezno i Magdeburg, in: Organizacia Kosciola w Polsce do polowy wieku XII, Poznan 1962, 3. 261-279. Appelt, H.: Die Kaiseridee Friedrich Barbarossas, Wien 1967. Baszkiewicz, J.: Panstwo suwerenne w feudalnej doktrynie polityoznej do poczl)tk6w XIV w., Warszawa 1964. Glassen, P.: Corona Imperii. Die Krone als Begriff des römisch-deutschen Reiches im 12. Jahrhundert, in: Ausgewählte Aufsätze von Peter Classen, Sigmaringen 1983, S. 503-514. Glaude, D.: Geschichte des Bistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, T. 1., Köln-Wien 1972. Fried, J.: Otto III. und Boleslaw Chrobry, Stuttgart 1989.

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Theorie und Praxis der europäischen Einheit Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit

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Von Krzysztof Baczkowski Der Begriff Europa als einer besonderen politisch-kulturellen Einheit, die ganz bewußt Asien gegenübergestellt wurde, entstand im Altertum in der Zeit zwischen den griechisch-persischen Kriegen und der Epoche Alexanders des Großen. Der Zusammenstoß zwischen zwei gesonderten Zivilisationen brachte den Griechen den tiefen Gegensatz zwischen dem asiatischen Despotismus und ihrer eigenen Freiheit zum Bewußtsein und war dem Entstehen geographisch-politischer Begriffe günstig, die diesen Gegensatz begründeten. Das Konzept Europa entstand also aus dem Prinzip des GegenübersteIlens eigener Werte zu den fremden, zivilisatorischen Einflüssen. Einen Präzedenzfall fand man in der entlegenen Vergangenheit. Nach der Ansicht der griechischen Schriftsteller des 4. Jahrhunderts v. Chr. war der Trojanische Krieg der erste Zusammenstoß in der Geschichte zwischen der europäischen und der asiatischen Kultur. 1 Der griechische Begriff Europa umfaßte einen engen geographischen Bereich. Er beschränkte sich eigentlich auf die politisch-wirtschaftlichkulturelle Ökumene, die das eigentliche Griechenland, Thrakien, Makedonien, Italien, die Inseln des Mittelmeers, die südlichen Küsten Galliens und Spaniens umfaßte, also die von den Griechen kolonisierten Gebiete oder die unter ihren starken zivilisatorisch-kulturellen Einfluß verblieben. 2 Die Eroberungen Alexanders des Großen und später das Entstehen des römischen Imperiums führten zu einem Verwischen der Gegensätze zwischen dem hellenistischen Europa und dem barbarischen Asien und führten an ihre Stelle neue ein - zwischen der zivilisierten (römischen) Welt und der Barbarei. Europa wurde auf einen rein geographischen Begriff zurückgeführt. Bei einem alexandrinischen Geographen aus dem 2. Jahrhundert n.Chr. erscheint es als ein Gebiet, das sich vom Ozean im Westen bis zum Fluß Tanais (Don) im Osten ausbreitete. 3 1 F.

Chabod, Storia deli' idea d'Europa, Bari 1965, S. 23-24. Kaerst, Die antike Idee der Oekumene in ihrer politischen und kulturellen Bedeutung, Leipzig 1903, S. 2-3. '3M.S. Bodnarski, Geografia antyczna (Antike Geographie), Warszawa 1957, S. 328333. 2 J.

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Ein solches Verständnis des Begriffs Europa wurde durch das Werk des Isidorus von Sevilla im Bewußtsein der Geographen während der ganzen Epoche des Mittelalters 4 bekräftigt. Anders verhielt sich die Sache mit dem Begriff Europa als eine kulturelle Einheit. Im Mittelalter wurde der Dualismus Römer - Barbar durch einen anderen: Christ - Heide, ersetzt. Im Zusammenhang damit wurde der von der Antike geerbte Begriff Europa von den mittelalterlichen Schriftstellern gern mit der politischen und kulturellen christlichen Welt identifiziert, besonders seit der Zeit, als asiatische und afrikanische Christen unter die Herrschaft des Islams gerieten. Nicht zufällig nannte im 8. Jahrhundert Isidorus Pacensis das mit den Arabern kämpfende Heer Karls Martells Europaer, Europenses. 5 Bei einem solchen Verstehen waren jedoch die Grenzen Europas verwischt, sie schrumpften zusammen, oder sie erweiterten sich in Abhängigkeit von Niederlagen oder Siegen des Christentums. Die Zeiten der Karolinger brachten mit einer Rückkehr zur antiken Tradition gleichfalls die Renaissance des Begriffs Europa mit sich. In den Quellentexten aus der Epoche Karls des Großen und seiner Nachfolger erscheint es - wie der polnische Historiker Serejski zählte - 25 Mal. 6 In diesen Überlieferungen ist Karl der Große "pater Europae", "Europae venerandus apex", Gott unter seiner Herrschaft, "dedit Europae regna" und "exaltavit in honorem glorie regni Europae", die Kirche unter seiner Herrschaft "in partibus Europae pacem gabet", er auch" tot Europae Populos; ... subegit", dagegen nach seinem Tode "omnem Europem omni bonitate repletam relinguit". Die Erweiterung der Grenzen des Staates Karls des Großen fast bis an die Grenzen des christlichen Westens war der Identifizierung Europas mit der Monarchie und der Idee der Karolinger günstig. Seine enge Verbindung mit dem Papsttum und der Kirche sowie als Konsequenz dieses Zustandes die Erneuerung des Kaisertums im Westen bewirkte, daß mit dem Begriff Europa als ein Imperium, das in seiner Missionsaufgabe die Grenzen des Frankenstaates überschritt, eng die Idee einer kirchlich-religiösen Einheit verbunden war. 7 Von hier aus 41sodorus von Sevilla, Etymologiorum libri XX, ed. J. P. Migne, Patrologiae Cursus Completus, Series Latina, BC!. 82, Paris 1850, XIV c.l!. 51sodorus Pacensis, Chronicon, ed. Migne, op.cit., Bd.96, Paris 1862, S. 1271. 6M.H. Serejski, Idea jednosci karolinskiej. Studium nad ganeza, wspolnoty europejskiej w sredniowieczu, in: Rozprawy Historyczne Towarzystwa Naukowego Warszawskiego (Die Idee der karolinischen Einheit. Studium über die Genese der europäischen Gemeinschaft im Mittelalter) in: Historische Abhandlungen der Warschauer Wissenschaftlichen Gesellschaft, Bd.17, H.3, Warszawa 1937, S. 87-97. 7W. Mohr, die karolingische Reichsidee, Münster 1962, S. 61, 71; A. Gieysztor, Wladza Karola Wielkiego w opinii wapo Iczesnej (Die Macht Karls des Großen in der zeitgenössischen Meinung), Warszawa 1938, S. 17, 34.

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war es nur noch ein Schritt, um sich auf der Grundlage der Negierung Byzanz entgegenzusetzen. Die Konflikte des Papsttums mit dem Staat der Franken und mit Byzanz, begründet durch die anwachsenden religiöskulturellen Unterschiede und die politische Rivalität, bildeten einen Faktor, der einer Gestaltung jenes Empfindens der Besonderheit des Westens günstig war. Der Westen wurde mit dem Europäerturn identifiziert, was in dem Bewußtsein seiner Bewohner zum Ausschluß von Byzanz aus Europa führte. 8 Das Entstehen des karolingischen Imperiums war eine wichtige, aber nicht entscheidende Etappe bei dem Auseinandergehen der Wege zwischen dem Osten und dem Westen. Eine weitere Verschärfung der Gegensätze brachte das Entstehen des römisch-deutschen Kaiserreiches, das Anwachsen des Ehrgeizes der Päpste und die Gestaltung und Entwicklung der westeuropäischen Kultur. Die Gesandtschaft des Liutprando aus Cremona, eines Botschafters Ottos 1., an den byzantinischen Kaiser Nicephorus 11. Phocem, illustrierte gut den Kontrast zwischen den zwei Welten. 9 Der westeuropäische Bischof-Diplomat, der im Namen der "Europaer" auftrat, d.h. der Longobarden, Franken, Sachsen, Schwaben und Burgunder - unterstrich seine Verachtung für die "Römer", deren Erben die Byzantiner waren. IO Eine unabwendbare Folge der sich vertiefenden Fremdheit war das Schisma von 1045, die Konflikte zwischen den Kreuzrittern und den Griechen sowie schließlich die Erstürmung von Konstantinopel durch die Lateiner im Jahre 1204. Die alte Antinomie: das hellenistische Europa - der asiatische Osten, wurde durch eine neue ersetzt: der lateinischgermanische Westen - der griechisch-byzantinische Osten. Es ist interessant, daß erst angesichts der türkischen Bedrohung im 15. Jahrhundert die Vertreter des Westens sich geneigt zeigten, die Griechen als Mitglieder derselben europäischen Gemeinschaft anzuerkennen und den Fall Konstantinopels als Verlust des "zweiten Auges Europas" beweinten,u Die Idee einer religiös-kulturellen Einheit überdauerte den Verfall der karolingischen Monarchie, obwohl es an einem Zusammenhalt mangelte. "Europäische" Akzente erschienen in den Chroniken nach dem Tode Karls des Großen weiterhin wie in dem vorhergegangenen Zeitabschnitt. An der Quelle dieser Erscheinung lag sowohl die Stärke der Tradition als auch 8Serejski, Idea (die Idee), S. 101-105. 9Liutprandi legatio ad Nicephorem Phocam, in: Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae, Bonn 1928, S. 348-349. lOB. Geremek, Wiez i poczucie wsp61noty w arednio wiecznej Europie, in: Dziesie~ wiek6w Europy (Die Bindung und das Gemeinschaftsempfinden im mittelalterlichen Europa) in: Zehn Jahrhunderte Europas, u.d.Redaktion von J. Zarnowski, Warszawa 1983, S. 31. II Chabod, Storia, S. 40-43. 3 Timmermann

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das Bestehen eines einheitlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und religiösen Lebens im Westen. 12 Es unterliegt keinem Zweifel, daß bei der Aufrechterhaltung des Empfindens einer Gemeinschaft die wichtigste Rolle die Kirche spielte. Sie schuf eine kulturelle Gemeinschaft durch den universalen Bereich des Funktionierens der lateinischen Sprache, der Einheit der Liturgie, der Riten und der Kirchenbauten. 13 Im Zusammenhang damit kann die Frage gestellt werden, ob im 9. und 10. Jahrhundert der Begriff des Abendlandes weiterhin nur die Erbländer der Monarchie Karls des Großen umfaßte, oder ob er im Laufe der fortschreitenden Christianisierung sich sukzessiv auch auf die Länder des mittleren und östlichen Teiles des Kontinents erweiterte. Ein Teil der Forscher ist der Meinung, daß der Begriff des Abendlandes im Bewußtsein der Nachfahren zu stark mit dem römisch-germanischen zivilisatorischem Erbe der karolingischen Monarchie verbunden war, um auch die neu bekehrten Länder im Osten zu erfassen. In dieser Auffassung wäre das Abendland nur Gallien, Germanien und Italien. 14 Polen und Ungarn z.B. sollten erst im 15. Jahrhundert als vollberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft anerkannt werden, als sie begannen, ein Bollwerk Europas gegen die türkischen Überfälle zu bilden. 15 Es bestehen jedoch Quellen, die einer solchen Auffassung widersprechen. So behauptet z.B. ein Bericht über die Tagung in Quedlinburg im Jahre 991, daß an ihr der "dux Sclavonious Misico cum caeteris Europae primis ibidem confluentibus" teilnahm,16 was unzweideutig darauf hinweist, daß in gewissen Kreisen Polen schon im 10. Jahrhundert als ein Teil des Abendlandes angesehen wurde. Das bestätigt die berühmte Miniatur aus dem Bamberger Evangeliarium, wo vier allegorische Gestalten die damals im Kaiserreich gestaltete Einheit repräsentieren: Roma, Gallien, Germania und Sclavinia. 17 In der politischen Sphäre bildet die Bestätigung einer solchen Anschauung der damaligen Wirklichkeit die Zusammenkunft in Gnesen im Jahre 1000 und gleichzeitig die Überreichung der Königskrone an Stephan, dem Herrscher Ungarns. Wir kämen jedoch zu weit, wenn wir auf der Grundlage einzelner Texte zu weit gebende Folgerungen ziehen wollten. In Wirklichkeit war nämlich 12 Das hat einen besonderen Ausdruck in dem Poem Waltharius aus dem 10. Jahrhundert gefunden, dessen Autor die Verschiedenheit Europas im religiösen, sittlichen und kulturellen Bereich von anderen Weltteilen stark unterscheidet. Monumenta Germaniae Historica, Poetao Latini, Bd.6, Fasc.!, hrsg. L. Strecker, Weimar 1951, S. 24. 13 Geremek, Wiez ... , S. 36. 14 R. Wallach, Das abendländische Gemeinschaftsbewußtsein im Mittalalter, Leipzig, Berlin 1928, S. 20-21; siehe auch Mon. Germ. Hist., Scriptores, Bd. XV/I, S. 359. 15Chabod, Storia, S. 43. 16Mon. Germ. Hist., Scriptores, Bd.III, S. 68; Monumenta, Poloniae Historica, Bd. 17Serejski, Idea, S. 100.

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der Begriff Europa als zivilisatorische Einheit bei den Schriftstellern des Mittelalters unbeständig, verengt oder erweitert, abhängig von dem Gesichtspunkt, der Zeit und den Umständen, unter denen er ausgedrückt wurde. Mit dem Entstehen des römisch-deutschen Kaiserreiches übertrug sich das Zentrum politischer Entscheidungen samt der sie begleitenden Idee der Einheit von Gallien nach Deutschland. Der imperiale Ehrgeiz der Kaiser umfaßte in einigen Zeitabschnitten das ganze Christentum, das mit Europa identifiziert wurde. Es erfolgte die Identifizierung Europas mit dem mittelalterlichen Imperium Romanum und dem Katholizismus, was besonders in den Programmen solcher Verfechter des Universalismus wie Otto 11. oder Friedrich I. Barbarossa sichtbar war. Aber sogar für den nüchternen Heinrich 11. ist Europa die Mutter, und sogar nach seinem Tod wird er selbst als das Haupt Europas bezeichnet (nach seinem Tod "Europa iam decapitata").18 Jedoch verblieben die universalistischen Bestrebungen der Kaiser meistens in einem krassen Widerspruch mit den realen Möglichkeiten; tatsächlich beschränkte sich die Einheit zeitweilig in den Grenzen Deutschlands, Italiens und Burgunds sowie der Länder, die zeitweilig von dem Kaiserreich abhängig waren. In den übrigen christlichen Territorien konnte der Kaiser höchstens auf die Anerkennung seines ehrenhaften Vorranges rechnen. 19 Anderer.seits gingen die Bestrebungen der Kaiser im Maße der Entwicklung der imperialistischen Doktrin über die im geographischen Sinne verstandenen Grenzen Europas hinaus. Armenien und Zypern anerkannten die Oberhoheit der Hohenstaufen, die nach einer Unterwerfung von Byzanz strebten. Friedrich 11., der sich in Jerusalem krönte, wurde in der offiziellen Doktrin schon als Herrscher der Welt und nicht nur Europas anerkannt. 20 Es muß hervorgehoben werden, daß im 11.-13. Jahrhundert der Begriff Europa in den Quellen mit selten besetzten Begriffen erscheint: Christianitas, Republica Christiana, unter denen eine Gruppe von Nationen verstanden wurde, die das lateinische Christentum repräsentierten. Ein Symbol und gleichzeitig ein reales Bindemittel für eine so verstandene Christianitas war das Papsttum, das seit dem Ende des 11. Jahrhunderts bestrebt war, nicht nur die kirchliche, sondern auch die politische katholische Einheit Europas unter der eigenen Vorherrschaft zu verwirklichen. Dieser päpst18Ibidem. 19 J. Baszkiewicz, Pahstwo suwerenne w feudalnej doktrynie poitycznej. do poczatk6w XIV w. (Der souveräne Staat in der feudalen politischen Doktrin bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts), Warszawa 1964, S. 116-118. 20 J. Hauzinski, W kregu uniwersalizmu sredniowiecznego (Im Kreise des mittelalterlichen Universalismus), "Sacrum Imperium Romanum" , Slupsk 1988, S. 82-83. 3*

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liche Universalismus triumphierte im Zusammenstoß mit dem kaiserlichen Universalismus, unterlag jedoch gegenüber den wachsenden Bestrebungen nationaler Staaten an der Wende des 13. zum 14. Jahrhundert. Bevor es jedoch dazu kam, verwirklichten die Päpste viele Jahrzehnte hindurch als unangezweifelte Führer ein Werk, in dem am vollendesten die katholischlateinische Einheit des Westens zum Ausdruck kam - die gegen die Mohammedaner im Nahen Osten gerichteten Kreuzzüge. Sie waren die Krönung eines einige Jahrhundert hindurch dauernden Prozesses im Laufe dessen in Konfrontation mit Byzanz und der Welt des Islams der europäische Westen endgültig seine Identität fand. 21 Die Anteilnahme und der Grad der Beteiligung an den Kreuzzügen wurde als Maßstab des Bewußtseins der Zugehörigkeit zu einem so verstandenen Europa betrachtet. Den aktivsten Anteil an den Kreuzzügen nahmen Franzosen, Italiener und Deutsche, also Völker, die die Gebiete der ehemaligen karolingischen Monarchie bewohnten und von ihren mohammedanischen Gegnern nicht zufällig mit dem gemeinsamen Namen Franken bezeichnet wurden, der auch auf andere Teilnehmer an den Kreuzzügen ausgedehnt wurde. Der Franke wurde also zum Synonym des Europäers. Geringer war der Anteil von Engländern und Spaniern (die in Kämpfen mit dem Islam auf der Pyrenäischen Halbinsel verwickelt waren) und unvergleichlich geringer und weniger zahlreich der von Ungarn, Böhmen, Polen und Vertretern der skandinavischen Staaten. Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß kein katholisches Volk völlig abseits blieb. Höchstens entbanden die Päpste die polnischen Herzöge oder die skandinavischen Herrscher von der Pflicht der Teilnahme an den Kreuzzügen ins Heilige Land im Austausch gegen das Versprechen des Kampfes mit den im Osten benachbarten Heiden. 22 Der Anteil der höheren Geistlichkeit aus Mittel-Osteuropa an den Konzilien - angefangen von dem Lateran-Konzil IV (1215) - begünstigte die Vertiefung des Empfindens der Einheit der Kirche und der Gemeinschaften des Westens. Die Epoche der Kreuzzüge führte dagegen zu einem endgültigen Empfinden von Widerwillen, Mißtrauen und Feindseligkeit der westlichen Völker - der "Lateiner" und "Franken" - gegenüber Byzanz und den Völkern, die der östlichen Orthodoxie huldigten. Im Zusammentreffen mit ihnen empfanden die germanischen und romanischen Bewohner des Westens besonders stark ihre Einheit, und die Erstürmung Konstantinopels im Jahre 1204 behandelten sie als einen Triumph des lateinischen Wesens über die östliche Häresie, die für sie ärger als das Heidentum war. 21 Wallach,

op.cit., S. 24-28. Fabre, La Pologne et le Saint-Siege du xe au XIII e siede, in: Etudes d'histoire du moyen age dediees a Gabriel Monad, Paris 1896, S. 163-176. 22p.

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Jene Einheit wurde nirgends stärker manifestiert als in dem ephemeriden lateinischen Kaiserreich und den kolonialen Staaten der Europäer im Nahen Osten. Ähnlich betrachteten die Byzantiner und Mohammedaner zu jener Zeit die "Lateiner" als eine sprachliche und politische Einheit, an deren Spitze der Kaiser oder der Papst stand, und nur in Ausnahmefällen wandten sie eine deutlichere Unterscheidung zwischen den Nationen und Sprachen des Westens an. Die Lateiner beriefen sich gern auf ihre Abstammung aus dem Westen, den sie mit Europa identifizierten, und dieser Begriff erweckte in ihnen oft ein tieferes Empfinden von patriotischem oder religiösem Stolz als die engere Heimat. 23 Für Dante, der sich in seinen Werken oft auf den Begriff Europa berief, deckte sich dessen geographischer Bereich nicht mit seinem politischreligiösen Verständnis. Außerhalb Europas ließ der Dichter also nicht nur Konstantinopel, sondern auch die Balkanhalbinsel, die in Mehrheit von griechisch-orthodoxer Bevölkerung bewohnt wurde, und die ruthenischen Länder, die er mit dem altertümlichen Scythien identifizierte. Dagegen sah er die nördlichen Teile des Kontinents im europäischen Bereich. Italien war" Europae regione mobilissima". Das äußere Symbol der europäischen Einheit war in den Schwärmereien Dantes ein Kaiserreich, das nicht nur Deutschland und Italien, sondern die ganze Christenheit umfaßte. 24 In dem Augenblick, als das universalistische Kaiserreich im tödlichen Kampf mit dem Papsttum fiel und einige Jahrzehnte später das Papsttum unter dem Einfluß des französischen nationalen Bewußtseins auf seine politischen Bestrebungen verzichten mußte und sich in Avignon befand - da konnte es scheinen, daß es an einem Bindemittel fehlte, das unbedingt zur Aufrechterhaltung der Idee einer europäischen Einheit benötigt wurde. Die französischen Legisten aus der Zeit Philipps IV. meldeten, daß ihr "rex est imperator in regno suo", und der polnische Gesandte am Hof Karls IV. behauptete, daß sein König höher als der Kaiser stehe, denn er erhielt Schwert und Szepter von Gott, während jener dem Papst die Treue schwören müsse. 25 England warf die Reste der tributären Abhängigkeit vom Papst ab, und der Deutsche Kaiser war nicht Herr im eigenen Land. Trotzdem überlebte die Idee der christlichen "res publica". Ursachen dafür gab es einige. Günstig war ihr das tiefe Bewußtsein des gemeinsamen kul2 3 Chabod,

Storia, S. 41j Wallach, S. 27. B. Zientara, Swit narod6w europejskich. Powstanie swiadomosci narodowej na obszarze Europy pokarolinskiej (Das Morgengrauen europäischer Nationen. Das Entstehen des nationalen Bewußtseins auf dem Gebiet des nachkarolingischen Europas), Warszawa 1985, S. 298. 25T. Czacki, Dziela (Werke), Bd. III, Poznan 1845, S. 112j Baszkiewicz, op.cit. S. 237-248. 24

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turellen Erbes, das besonders in den Universitäten lebendig war, die typische internationale Zentren des Gedankenaustausches waren, aber auch der Humanismus, der das antike Verstehen des Begriffs Europa neu belebte. Vor allem jedoch eine neue Bedrohung - die osmanische Gefahr im 14. Jahrhundert noch ziemlich weit entfernt, aber im 15. Jahrhundert schon unmittelbar Südosteuropa bedrohend, erweckte aufs Neue das Gefühl der Solidarität und der Einheit in der "res publica christiana" vereinten Völker. 26 Die Losung von der Einheit der europäischen Christen und von gemeinsamen Kreuzzügen gegen den Feind des Glaubens erscheint seit dieser Zeit unzählige Male in Manifesten, die vom Apostolischen Stuhl und anderen, von ihm unabhängigen Zentren verbreitet wurden. In den Plänen dieser Kriegszüge, die oft sehr ausführlich abgefaßt wurden, befanden sich alle Nationen und Staaten christlicher Obedienz von Portugal bis Skandinavien, und ein Ehrenplatz war den Völkern Mittel-Osteuropas vorbehalten. Obwohl der Weg von der Theorie bis zur Praxis weit war und es aus Gründen von Gegensätzen zwischen den einzelnen Staaten niemals gelang, es zu einem gemeinsamen Kreuzzug zu bringen, zeugen Pläne davon, wie gegen Ende des Mittelalters im Westen der Begriff eines lateinischen Europas verstanden wurde. 27 Auch die Konzilienbewegung zu Beginn des 15. Jahrhunderts trug zu einer Renaissance des Begriffs Europa bei, das mit der Christenheit und einem der römischen Obedienz unterlegenen Gebiet identifiziert wurde. Zu einem stärkeren Bewußtwerden dieser Gemeinschaft trug die auf dem Konzil in Konstanz eingeführte Einteilung der Mitglieder in Nationen bei und die damit verbundene Unterscheidung von vier europäischen Regionen: die östliche, die Deutschland, Böhmen, Ungarn und Polen umfaßte; die westliche mit Frankreich und Spanien; die nördliche mit England, Wales, Schottland, Irland, Schweden, Dänemark und Norwegen; die südliche, die Italien, Zypern und Kreta umfaßte. 28 Wie aus der obigen Einteilung hervorgeht, werden Polen, Böhmen und Ungarn als ein unbeanstandeter Teil des lateinischen Europas angesehen. Jedoch fand ihre endgültige Anerkennung im Rahmen der germanischromanisch-lateinischen Gemeinschaft nicht ohne Widerstand statt. Lange wurden sie als zivilisatorisch niedriger stehende "jüngere Brüder" behandelt. Ungarn trennte vom Westen eine ethnische und kulturelle Besonderheit. Um diese zu überwinden; wurden in der Epoche des Humanismus für die Ungarn antike Reminiszenzen gesucht und auf die Verbindungen 26 Azis Suryal Atiya, The crusade ih the later Middle Ages, London 1928, passim. 27Z.B. Ph. de Mezieres, Le songe du vieil pelerin, ed. G.W. Coopland, vol.II, Cambridge 1969, S. 434-435. 28Geremek, Wiez, S. 46-47

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der italienischen Langobarden mit Pannonia hingewiesen. Am stärksten in der westlichen Tradition verwurzelt waren die Böhmen. Zerrissen wurde diese Tradition von der hussit ischen Revolution zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Deshalb müssen auch die Bestrebungen des Konzils in Basel um die Wiederherstellung der Freundschaft und Einheit der Böhmen mit den übrigen christlichen Nationen als nichts anderes als das Bestreben zu ihrer erneuten Einreihung in Europa verstanden werden. 29 Einer Anerkennung Polens als vollberechtigtes Mitglied der europäischen Gemeinschaft setzte der Deutsche Ritterorden in Preußen ernsten Widerstand entgegen, der es im 14. Jahrhundert ständig eines Zusammenwirkens mit den Heiden (Litauer, Tataren) beschuldigte und nach der Taufe Jagiellos im Jahre 1386 der westlichen öffentlichen Meinung insinuierte, als ob dieser und seine Untertanen schlechte Christen seien. Viele Zweifel erweckten im Westen die aufgebauschten Nachrichten von dem Einsatz nichtchristlicher Untertanen Jagiellos in der Schlacht bei Tannenberg. Papst Johann XXIII., der von 18.000 in dieser Schlacht gefallenen Christen schrieb, hatte ausschließlich die Ordensritter und ihre Gäste im Sinn. 3o Andererseits verbreitete sich im Westen - nicht ohne eifriges Bemühen der polnischen Diplomatie - das Bild Polens als eines Staates, der ständig mit dem Ansturm heidnischer Barbaren aus dem Osten kämpfte - ein wahres Bollwerk des Christentums. Diese Zwiespältigkeit in der Betrachtung Polens wurde endgültig zu Gunsten des zweiten der erwähnten Stereotypen erst nach dem Jahre 1444 überwunden, als der König von Polen und Ungarn Ladislaus der Jagiellone im Kampffür den Glauben gegen die Türken in der Schlacht bei Varna einen heldenhaften Tod fand. Von jener Zeit an bezweifelte niemand mehr die Zugehörigkeit Polens zur europäischen "respublica christiana" .31 Diese neue Betrachtung der östlichen Randgebiete der lateinischen Welt wurde besonders in dem berühmten Werk von Aeneas Silvius "De Europa" sichtbar. 32 Der Autor beginnt seine Charakteristik der europäischen Länder mit Ungarn, darauffolgend bespricht er den Balkan, Polen, Litauen und Livland. Bestimmt wurde diese Reihenfolge von dem Bewußtsein der türkischen Bedrohung diktiert, der gegenüber die erwähnten Länder eine Art "Bollwerk" bildeten. Bei Aeneas Silvius erlangt der Be29Wallach, S. 45. 30S.M. Kuczynski, Wielka wojna z Kakonem Krzyzackim 1409-1411 (Der große Krieg mit dem Ritterorden 1409-1411) Warszawa 1987, S. 255. 31 A.F. Grabski. Polska w opiniach Europy zachodniej (Polen in den Meinungen Westeuropas des 14.-15. Jahrhunderts), Warszawa 1968, S. 443-444; Geremek, Wiei, S. 40-41. 32E.S. Piccolomini, De Europa (in. E. S. Piccolomin, Opera omnia, Basilae s.d.). Unv. Nachdr., Frankfurt a.M. 1967, S. 379-400,415-417.

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griff des "Europäers" und des "Europäerturns" volles Bürgerrecht anstelle der ehemaligen mittelalterlichen "Christianitas" .33 In Wirklichkeit jedoch begann die neue Auffassung der europäischen Gemeinschaft sich schon bedeutend früher einen Weg zu bahnen. Die gegen den Kaiser gerichteten Polemiken vom Ende des 13. Jahrhunderts, die nicht nur eine Aufteilung des Kaiserreiches in kleinere Einheiten postulierten, sondern sogar auch den Sinn seines Bestehens in Zweifel zogen, sowie auch die gegen den Papst geführten Meinungsstreite, die eine Beschränkung der päpstlichen Allmacht nur auf die geistlichen Sphäre forderten, wiesen darauf hin, daß der mittelalterliche Universalismus zu Ende ging. Unterschieden wurde die Gewalt der Kaiser de iure - als ihre fingierte Oberhoheit über die europäischen Herrscher und de facto als tatsächliche Gewalt, beschränkt auf das Gebiet Deutschlands, und ihre Unfähigkeit, einen vereinigenden Faktor zu spielen. 34 Einen neuen, weltlichen Typus eines Staates modellierte Marsilius von Padua in seinem "Defensor Paris". Die sich entwickelnden nationalen Staaten besaßen ein starkes Bewußtsein ihrer Besonderheit im Rahmen der sich weiterhin bewußten europäischen Einheit. Der Kaiser oder der Papst konnten kein vereinigender Faktor sein. Im Zusammenhang mit der fortschreitenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Integration des Kontinents trat die Notwendigkeit der Berufung einer übernationalen, weltlichen Institution oder Organisation auf, die zur Entscheidung von internationalen Streitfragen bestimmt war, zum Koordinieren von Vorhaben europäischer Staaten angesichts der sich ihnen stellenden und zu erfüllenden Aufgaben. Die Lösung für die Pläne einer solchen Organisation waren weiterhin die Kreuzzüge in das Heilige Land oder die Verteidigung vor den Türken, aber im allgemeinen steckten dahinter andere konkretere Ziele. 35 Als Autor eines der ersten Projekte einer solchen internationalen Organisation wird Pierre Dubois angesehen, ein französischer Legist und Abgeordneter in den Generalständen zur Zeit Philipp des Schönen. In seinem Werk "De recuperatione terre sancte" , datiert vom Jahre 1306, postulierte er die Schaffung eines europäischen Staatenbundes, berufen zur Aufrechterhaltung des Friedens in der Christenheit, und die Zurückeroberung des Heiligen Landes. Eine gewisse, beschränkte Rolle sollte darin auch dem Papst zufallen. Er sollte eine Tagung der Monarchen und Prälaten in der Umgebung von Toulouse einberufen und danach die Rolle einer Berufungsinstitution für die Urteile der Schiedsgerichte ausüben. Das höchste Ziel 33 Geremek,

Wiez, S. 57-58. op.cit., S. 374-376. 35J. Delaville le Roux, La France en Orient au XIV· siede, vol.I., Paris 1896, S. 103 ff. 34 Baszkiewicz,

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sollte ein allgemeiner Frieden sein; zugelassen wäre nur das Führen von Kriegen gegen die Ungläubigen. Allen, die dieses Prinzip brachen, sollten ihre Güter entzogen und sie selbst in die Verbannung geschickt werden vorzugsweise zur Ansiedlung im Heiligen Land. 36 Alle Streitfragen zwischen den einzelnen Staaten sollten auf jener ersten Konziltagung von erwählten oder ernannten Schiedsrichtern entschieden werden. Zur Entscheidung weiterer Streitfragen zwischen souveränen Staaten schlug Dubois die Schaffung eines internationalen Schiedsgerichtshofes vor. Auf seiner ersten Sitzung sollten geistliche und weltliche Richter von entsprechenden Qualitäten gewählt werden. Unter ihnen sollten in den einzelnen Streitsachen die streitenden Parteien gemeinsam je drei geistliche und drei weltliche Richter wählen, wohlhabende und keinen Einflüssen unterliegende Menschen, die ein unparteiisches Urteil garantierten. Während der Prozeßführung legte Dubois starken Nachdruck auf Zeugenaussagen, die aufgezeichnet werden sollten, sowie auf die Teilnahme von Assessoren von untadeliger Ehrlichkeit und einer guten Kenntnis des göttlichen, kirchlichen und weltlichen Rechts. Wie schon oben erwähnt, konnte die mit dem Urteil unzufriedene Partei beim Papst Berufung einlegen; ihm wurde auch die Bestätigung der gefällten Urteile überlassen. Ein verdeckter Gedanke des Projekts von Pierre Dubois war jedoch, dem französischen König das politische Übergewicht in Europa zuzusichern; darauf scheint der Vorschlag hinzuweisen, daß dieser vom Papst den Kirchenstaat übernehmen sollte. 37 Das Projekt von Dubois bezog sich in einem höheren Grade auf die feudalen Machthaber als auf ihre Staaten und war noch vom Geist mittelalterlicher Religiösität durchdrungen. Die Vision eines vereinten christlichen Europas, das zum Kampf gegen die Türken aufbrach, durchdrang das Werk des französischen Schriftstellers der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Philippe de Mezieres, besonders in seinem Projekt über die Schaffung eines internationalen Ritterordens zum Kampfe gegen die Ungläubigen Chevalerie de la Passion de Jesus Christ. Philippe de Mezieres teilte das christliche Europa in drei Teile: 1. Spanien und Portugal; 2. Frankreich, England, Schottland, Italien; 3. Deutschland und die Staaten des mittelöstlichen und nördlichen Teiles des Kontinents. Jeder dieser drei Gruppen stellte er besondere Aufgaben im Kampfe um den Glauben. 38

36 J. Ter Meulen, Der Gedanke der Internationalen Organisation in seiner Entwicklung 1300-1800, Bd.1., Haag 1917, S. 102-107. 3 7 Ibidem, S. 106. 38N. Iorga, Philippe de Mezieres 1327-1405 et la croisade au XIV e sience, Paris 1896, S.343.

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Eine besondere Richtung bildeten die Anschauungen solcher Denker, Theologen und Philosophen wie Occam, Cola di Rienzo, Wicklif, die die weltliche Rolle des Papstes in Zweifel zogen oder negierten. Der Konzilianismus, der sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts voll entwickelte, versuchte, die päpstliche Gewalt auch in geistlichen Fragen zu beschränken und sie allgemeineuropäischen Konzilien zu unterwerfen, die - wie geplant war - alle 10 Jahre einberufen werden sollten. Der Pole Pawel Wlodkowic bezweifelt das Recht der Päpste und Kaiser über eine Verfügung den Länder der Heiden, und die Heiden selbst wurden von ihm als zum Besitz von Staaten berechtigt anerkannt, was ein Bestreiten des mittelalterlichen Begriffs eines christlichen Europas bedeutet. 39 Aus dem Geiste des "Defensor Pacis" des Marsilius von Padua ging die Concordantia catholica des Nikolaus von Kues hervor, die die Autorität der Kirche auf eine freiwillige Einwilligung ihrer Mitglieder stützte und an die Spitze des christlichen Europas das Konzil stellte. 4o In seinem Werk "De pace fidei" entwickelte Nikolaus von Kues den Faden einer Toleranz, indem er in verschiedenen Religionen eine gemeinsame Wurzel ersah. 41 Das Laienkonzept einer europäischen Gemeinschaft bahnte sich - nicht ohne dem Einfluß des Humanismus - einen Weg in die Gedankenwelt der Menschen des 15. Jahrtunderts. Seine Krönung war das Projekt eines europäischen Staatenbundes, dessen Autor Georg von Podiebrad und seine Berater waren. Zu dessen Vorlage veranlaßte den böhmischen Herrscher seine eigene, ungewöhnliche Position, König der Hussitten - der vom Papst nicht akzeptiert und sogar mit dem Bann belegt wurde. Eine wesentliche Rolle spielten bei der Bearbeitung des Projekts der deutsche Antikurialist Martin Mair und der französische Diplomat Antonio Marini aus Grenoble. 42 39L. Ehrlich, Pawel Wlodkowic i Stanislaw ze Skarbmierza (Pawel Wlodkowic und Stanislaw aus Skalbmierz), Warszawa 1954, passim. 4oN. de Cusa, De concordantiae catholica, Ed. G. Kallen, Hamburg 1965 (Opera omnia vol. XIV). 41 E. Winter, Vom "Defensor Pacis" des Marsilius von Padua (1324) bis zum Amator pacis Georgs von Podiebrad (1464), in: Cultus Pacis. Etudes et documents du "Symposium pragense Cultus Pacis 1464-1964", Prag 1964, S. 128. 42Es entstand eine umfangreiche Literatur darüber z.B.: H. Margraf, "Podiebrads Projekt eines christlichen Fürstenbundes, Historische Zeitschrift 1869, S. 257-304; N. Iorga", "Un auteur de projets de croisades Atoine Marini", in: Etudes d'histoire du Moyen Age dedieees a Gabriel Monod, Paris 1896; R. Schwitzky, Der europäische Fürstenbund Georgs von Podiebrada, Marburg 1907; F.M. Bartos, "Navrh krale Jificho na utvorenisvazu evropskych svazu statu, "Jihocesky sbornik historicky", vol.XII, Tabor 1941; J. Progonowski, Projiekt zwiazku wladcow krola Jerzego z Podiebradu (Das Projekt eines Herrscherbundes des Königs Georg von Podiebrad), Warszawa 1932; V . Vaneceek, The Historical Significance of the Peace Project of King George of Bohemia and the Research Problems Involved . The Universal Peace Organisation of King George

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Das Projekt reifte allmählich. Vorbereitende Etappen waren: ein Bündnisvertrag zwischen Georg von Podiebrad und dem polnischen König Kasimir, der am 27. Mai 1462 abgeschlossen wurde, sowie diplomatische Reisen Marinis nach Frankreich, Venedig, Burgund und Ungarn. Seine endgültige Gestalt nahm der Vertrag im Jahre 1464 an. Er sah die Berufung eines europäischen Staatenbundes vor zwecks Aufrechterhaltung des Friedens und der Einheit in der Christenheit und das Sichwidersetzen mit vereinten Kräften gegen die Macht der Türken. Die Mitglieder dieses Bundes sollten programmgemäß auf die Waffengewalt in Streitsachen unter sich verzichten, die Freundschaft aufrechterhalten und sich im Falle eines Angriffs durch irgendeine Macht von außen auf einen von ihnen gemeinsam unterstützen. Die Bundesmitglieder sollten darüber wachen, daß keiner ihrer Untertanen die friedlichen Beziehungen verletzten sollte. Falls es jedoch dazu kommen sollte, wären sie für eine Bestrafung der Übeltäter oder ihre ÜbersteIlung vor dem allgemeinen Gerichtshof verantwortlich. Eine Nachlässigkeit in dieser Angelegenheit seitens der territorialen Herrscher stellte sie in der Meinung der Bundesmitglieder auf dieselbe Stufe wie die Übeltäter. Das Projekt sah also die Schaffung eines dauernden Vertrags von defensivem Charakter zwischen den Staaten vor. Obwohl einleitend vor allem von der türkischen Gefahr gesprochen wurde, so unterlag es jedoch keinem Zweifeln, daß sich die Staaten dazu verpflichteten, im Falle irgendeines Angriffs seitens irgendeiner Macht auf einen von ihnen sich gegenseitig Hilfe zu erweisen. Wenn es also zu einem bewaffneten Konflikt käme, in dem eine dem Bund angehörende Partei und angegriffen wurde, so müßten die übrigen Bundesmitglieder mittels ihrer Gesandten und bei Anrufung des Gerichtshofes oder von Schiedsrichtern es zu einem Frieden bringen. Falls diese Mittel das erstrebte Ziel nicht erreichen sollten, so war es die Pflicht der übrigen Mitglieder, auf eigene Kosten dem Angegriffenen zu Hilfe zu eilen. Diese Hilfe sollte auf finanzielle und bewaffnete Unterstützung beruhen und sollte sogar dann erteilt werden, wenn sich die angegriffene Partei nicht mit einem deutlichen Ersuchen um Unterstützung an die Bundesmitglieder wenden sollte. Auch in dem Falle, wenn beide kämpfenden Parteien nicht dem Bunde angehörten, wäre es die Pflicht der Bundesmitglieder, zuerst durch auf gemeinsame Kosten entsandte Botschafter zugunsten eines Friedensschlusses zu intervenieren und, falls jedoch dieses Mittel versagen sollte, eine bewaffnete Intervention zu veranlassen. Auf diese Weise sollte of Bohemia. A Fifteenth Century Plan For World Peace 1462-1464, Prague 1964; R. Heck, "Czeski plan zwiazku wladcow europejskich z lat 1462-1464 a Polska", in: Studia z dziejow polskich i czectioslowackich, ("Der böhmische Plan eines Bundes europäischer Herrscher aus den Jahren 1462-1464 und Polen"), in: Studien aus der polnischen und tschechoslowakischen Geschichte), Wroclaw 1960, S. 115-182; Cultus Pacis, op.cit.

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die Organisation zu einem internationalen europäischen Friedenswächter werden. Der Bund sollte unter dem Namen Congregatio, Unio, Foedus seine Ziele durch allgemeine Bundesversammlungen (Collegium, Corpus, Congregatio) verwirklichen. Auch Versammlungen, in denen sich die Herrscher treffen sollten, sollten während der ersten fünf Jahre in Basel stattfinden, später in dazu bestimmten französischen und italienischen Städten, um allen Bundesmitgliedern gleiche Rechte zuzusichern. Die Versammlungen hätten also einen permanenten· Charakter. Die allgemeine Versammlung sollte unter sich ein Concilium zur besonderen Verwendung wählen. An der Spitze des Bundes sollte ein Vorsitzender stehen. Die Versammlung behielt sich die höchste Gerichtsbarkeit über alle Bundesmitglieder vor, wählte aber den schon erwähnten Gerichtshof zur Entscheidung von besonderen Fällen. Die Kompetenzen und Zuständigkeiten dieses Gerichtshofes, der Parlament oder Judicium genannt wurde, sollten später genau präzisiert werden. Sein Sitz sollte sich jedesmal dort befinden, wo die allgemeine Versammlung tagte. Die Richter sollten über Streitfragen zwischen den Herrschern, Fürsten und auch anderen rechtsfähigen Einheiten entscheiden. Der Bund behielt sich das Recht zur Aufnahme von neuen Mitgliedern vor. Ausführlich wurden die Bedingungen der Kriegsführung gegen die Türken niedergelegt, zu deren Zweck der Bund formal ins Leben gerufen werden sollte. Als Gründungsmitglieder wurden folgende genannt: 1. Der König und die Fürsten Frankreichs; 2. der König und die Fürsten Deutschlands; 3. die Fürsten und Regierenden der Republik Italien mit Venedig an der Spitze. 4. Der Herrscher der pyrenäischen Halbinsel. Andere sollten in weiterer Folge aufgenommen werden, wobei besondere Aufmerksamkeit auf Polen und Ungarn gerichtet wurde. Jede der erwähnten Gruppen besaß eine Stimme, unabhängig von der Zahl der Abgeordneten, die jede Nation zur allgemeinen Versammlung absenden konnte. Eine Entscheidung sollte mit Stimmenmehrheit vorgenommen werden; erst bei Stimmengleichheit sollte man sich auf die Stimmen der Abgeordneten berufen. Der Papst fand in diesem Bund einen völlig marginalen Platz. Er wurde vom Bund nicht als Repräsentant der italienischen Nation angesehen, ihm wurde nur das Bemühen zum Einziehen des Kirchenzehnts und der Bau einer Flotte für den Krieg mit den Türken überlassen. Ähnlich sollte auch

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der Kaiser höchstens als eines der gleichrangigen Bundesmitglieder behandelt werden. 43 Dieser interessante und für das Mittelalter neuartige Plan der Schaffung eines weltlichen Bundes europäischer Staaten mit dem Ziel der Erhaltung des Friedens und der Gerechtigkeit verblieb nur auf dem Papier. Einer der Gründe seines Mißlingens war die Haltung des Papsttums, das ihn entschieden verurteilte. Aus dieser Ursache wurde er in Venedig mit Reserve verhandelt und vom Herzog von Burgund geradezu verworfen. Nur im Frankreich Ludwigs XI. fand Marini größeres Verstehen, aber auch dort entschied schließlich die Haltung der dem Papst freundlich gesinnten Geistlichkeit, so daß aus dem Plan eines vielseitigen Bundes nur ein zweiseitiges französisch-böhmisches Bündnis hervorging. Ähnlich wurde der Plan in Ungarn von Matthias Corvinus behandelt. Das von Konflikten zerrissene Europa war weit von der Anerkennung eines Planes entfernt, der eine freiwillige Selbst unterwerfung vorsah . Er verblieb als ein Zeugnis einer humanistischen Utopie, entwachsen dem Geiste der Toleranz und einer Aussöhnung zwischen den Völkern. 44 Das Projekt Georgs von Podiebrad besaß einen politischen Charakter. Im Zeitalter des Humanismus bahnte sich eine neue Auffassung Europas den Weg: Weniger als die mittelalterliche "respublica christiana", mehr als die kulturelle Gemeinschaft, entwachsen aus der griechisch-römischen Tradition, sich nach gemeinsamen intellektuell-geistigen Motiven richtend und gestützt auf die Identität der sittlichen Anschauung. Ihre Konsequeuz war die oben erwähnte erneute Aufnahme von Byzanz in Europa am Vorabend seines Verfalls, dagegen nach der Eroberung der Balkangebiete durch die Türken ihre Behandlung als außereuropäisch. Auch der der Zivilisation des Westens fremde Moskauer Staat wurde an der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert nicht als Mitglied der europäischen Gemeinschaft angesehen. Die östlichen Randgebiete dieser Gemeinschaft bildeten gemäß Aeneas Silvio Piccolo mini , Wimpfeling, Machiavelli und Erasmus von Rotterdam - den hauptsächlichsten Autoren der neuen Anschauung mit Polen und Ungarn die Hauptbollwerke der Christenheit und der westlichen Zivilisation.45

4 3 Meulen, Der Gedanke, S . 111-123. 440. Odloiilik, The Hussite King. Bohemia in European Affairs 1440-1411, New Brunswick 1965, S . 152-158. 4 5 Chabod, Storia, S . 44-46; Wallach, op.cit ., S. 51; W. Fritzenmeyer, Christenheit und Europa. Zur Geschichte des europäischen Gemeinschaftsgefühls von Dante bis Leibnitz, Monaco-Berlin 1931, S. 25-30.

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Im 16. Jahrhundert mangelte es in Europa nicht an Plänen zu einer dauernden Vereinigung seiner Staaten unter der Losung des Kampfes mit den Türken. Gemäß dem Projekt, das von Papst Leo X. an die europäischen Herrscher gesandt wurde, sollte ein heiliges Bündnis unter dem Namen Brüderschaft des Heiligen Kreuzes (Fraternitas Sanctae Crucis) entstehen, das während der Zeit des Heiligen Krieges alle Streitsachen zwischen seinen Mitgliedern vertagen und sie dem Schiedsgericht des Papstes und der Kardinäle vorlegen. sollte. Wer diese Entschlüsse brach, sollte mit Waffengewalt bestraft werden. Die von den Türken eroberten Gebiete sollten als gemeinsames Eigentum der europäischen Gesellschaft behandelt werden. Das in diesem Geiste unterzeichnete (1518) "Tractatus et confoederatio generalis pacis et concordiae" wurde von den Herrschern Frankreichs, Englands und Spaniens akzeptiert,realisiert wurde es nicht. Der Autor eines ähnlichen Planes war gegen Ende des 16. Jahrnunderts der französische Hugenotte Franc;;ois de la Nue, der die Schaffung einer europäischen General-Union zum Kampf gegen die Türken vorschlug, die die Staaten von Spanien bis Polen umfassen sollte und deren Aufgabe gleichfalls die Behandlung aller europäischer Streitfragen auf einer Konferenz wäre, die in Augsburg abgehalten werden sollte. 46 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand ein neues Projekt einer internationalen Organisation, die mit dem Ziel des Ausschlusses von Kriegen in den internationalen Beziehungen gegründete werden sollte und mit dem bisherigen Schema der christlich-europäischen Einheit brach. Sein Autor, Emeric Cruce, projektierte es in seinem Werk "Le nouveau Cynee" (1623). Er sah als Gleichberechtigte der Versammlung, die in Venedig beraten sollte, nicht nur Vertreter der christlichen Staaten vor, sondern auch die Türkei und sogar außereuropäische Staaten wie Persien, China, Ost indien, Äthiopien und die Tatarei. Gemäß dem Range ihrer Vollmachtgeber ist die Reihenfolge ihrer Repräsentanten interessant: Den ersten Platz nimmt der Papst ein, den zweiten der türkische Sultan (weil seine Hauptstadt eine Zwillingsschwester von Rom ist), den dritten der Kaiser und dann weiter in der Reihenfolge die Gesandten Spaniens, Persiens, Chinas, der Tatarei, Moskaus, Englands, Polens, Dänemarks, Schwedens, Marokkos, der Staaten des Großmoguls und anderer indischer und afrikanischer Königreiche. 47

46 Meulen, Die Geschichte, S. 130-142. 47E. Nys, Etudes de droit international et de droit politique, Bruxelles 1896, S. 301; M. Horvat, "Comparaison des projets de paix de Georges de Podiebrad avec les projets precedents et siuvants", in: Cultus Pacis, S. 190.

Theorie und Praxis der europäischen Einheit

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Im Gegensatz zu diesem Projekt beschränkte sich ein anderer, bekannterer Plan auf die Schaffung eines internationalen Bundes mit ähnlichen Zielen, dessen Mitglieder die europäischen christlichen Länder sein sollten. Dieser Plan, "Le grand dessein" , wird König Heinrich IV. zugeschrieben, sein tatsächlicher Autor ist der Fürst Sully, Minister des französischen Königs. Nach einer territorialen Umgestaltung, die aus der Aufteilung der Besitztümer der Habsburger hervorgehen sollte, sollte die Staatengemeinschaft 15 Staaten umfassen, die ungefähr gleich an Gebiet und Macht waren und so ein System des europäischen Gleichgewichts bildeten: Sechs Wahlmonarchien, das Papsttum, das Kaiserreich, Venedig (das formal eine Republik blieb), Ungarn, Polen und Böhmen; sechs erbliche Monarchien: Frankreich, Spanien, England, Dänemark, Schweden und das zu schaffende Königreich der Lombardei; drei Republiken: die Schweiz, die Niederlande und eine näher nicht bezeichnete italienische Republik. Interessant war das Verhältnis Sullys zu dem Moskauer Staat. Er schloß ihn als unzivilisiert aus einer so verstandenen europäischen Gemeinschaft aus, ließ aber die Möglichkeit seiner späteren Aufnahme nach einer Beseitigung der Rückstände zu. Die vorgeschlagene Einteilung in Staatengruppen sollte auch ein relatives Gleichgewicht zwischen drei Religionen zusichern: dem Katholizismus, Lutherianismus und dem Kalvinismus. An der Spitze der Konferenz sollte ein allgemeiner Rat stehen, für die einzelnen Teile Europas waren sechs Provinzialräte vorgesehen mit den Sitzen in Danzig, Wien, Nürnberg, Bologna, Konstanz und in einer noch nicht erwähnten Stadt des Westens. Der Sitz des allgemeinen Rates sollte von Staat zu Staat übertragen werden. Er sollte aus 40 Mitgliedern zusammengesetzt sein, von denen je vier der Papst, der Kaiser und die Könige Frankreichs, Spaniens und Englands wählen sollten. In einem anderen Teil seines Projekts schlägt Sully die Schaffung eines Rates vor, der aus 66 Mitgliedern zusammengesetzt sein sollte. Je vier seiner Repräsentanten sollten vom Papst, vom Kaiser, den Königen Frankreichs, Spaniens, Englands, Dänemarks, Schwedens, Polens und der venezianischen Signorie bestimmt werden und je zwei von den übrigen nicht unabhängigen Königreichen, Republiken und Fürstentümern. Der gesamte Rat sollte in drei kleinere Räte geteilt werden mit den Sitzen in Krakau, Trient und Paris oder Bourges. Die Aufgabe der Erzchristlichen Republik genannten Organisation wäre es, nach dem Muster der griechischen Amphiktyonien alle Streitsachen sowohl zwischen den Staaten als auch zwischen den Herrschern· und ihren Untergebenen zu schlichten, alle Fälle zu prüfen, die die Gesamtheit der von den Provinzionalräten nicht entschiedenen betrafen, es auf diese Weise zu einem

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allgemeinen Frieden zu führen und darauffolgend mit vereinten Kräften die Türken aus Europa zu vertreiben. 48 Ein gemeinsames Kennzeichen aller dieser Projekte (mit Ausnahme des von E. Cruce vorgeschlagenen) ist ein starkes Empfinden der kulturellen und zivilisatorischen Einheit des christlichen Europas und gleichzeitig dessen Besonderheit im Vergleich zu der übrigen Welt, einer Besonderheit, die noch durch die Entdeckungen neuer Kontinente zur Zeit der großen geographischen Entdeckungen im 15. und 16. Jahrhundert verstärkt wurde. All das ist von einer Sehnsucht nach dem Frieden durchdrungen, einem nicht zu verwirklichendem Ziel einer Reihe der aufgeklärtesten Geister des europäischen Mittelalters und der frühen Neuzeit. Es mußten noch Jahrhunderte vergehen, bevor der Gedanke an eine wirksam handelnde internationale Organisation politisch realisiert werden konnte.

48M. Ritter, Die Memoiren Sullys und der grosse Plan Heinrichs IV. Abhandlungen der Königl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Cl.III, Bd. XI, Abt.III, München 1871; Meulen, Der Gedanke, S. 160-168.

Das eine und geteilte Europa in der Neuzeit Von Antoni Podraza So wie jede Durchbruchepoche, so war auch der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit mit Ereignissen erfüllt, die der Welt einen neuen Charakter verliehen haben. Im Großen und Ganzen wurde einerseits durch diese Ereignisse die Eigenständigkeit Europas den anderen Kontinenten gegenüber unterstrichen, andererseits haben sie zu scharfen inneren Differenzierungen geführt. Diese knüpften an die schon seit Jahrhunderten vorhandenen Spaltungen unseres Kontinents an oder aber verursachten neue, von den bereits existierenden unabhängigen Differenzierungen und Spaltungen innerhalb Europas. Versuchen wir, möglichst kurz und bündig, diejenigen Ereignisse und ihre Konsequenzen zu charakterisieren, die für das Problem der Homound Heterogenität unseres Kontinents von Bedeutung sind: 1. Die türkische Expansion auf dem europäischen Kontinent ab Anfang des 14. Jahrhunderts hat zuerst das süd-östliche- und später auch Mitteleuropa einer Gefahr ausgesetzt, deren Quellen außerhalb Europas, nämlich in Asien lagen. Diese Bedrohung Europas rührte nicht nur von einem anderen Kontinent her, sondern war auch von einem ganz anderen Charakter als all das, was für Europa hinsichtlich der Religion, Kultur und Sittlichkeit u.s.w. typisch war. Die Bedrohung Europas seitens der islamischen Türkei verursachte eine gewisse Solidarität der Bewohner unseres Kontinents und fand ihren Ausdruck in den Versuchen einer gemeinsamen militärischen Abwehr, die übrigens meistens mit einer Niederlage endeten (Nicopolis, Varna, Mohacz). Die " Solidarität" wurde auch bald problematisch, als der erzkatholische König von Frankreich eine Allianz mit der Türkei schloß, in der er einen Verbündeten gegen die Habsburger erblickte. 4 Timmermann

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2. Von einer unvergleichbar größeren Bedeutung waren für das Bewußtsein der Eigenständigkeit Europas dem Rest der Welt gegenüber jedoch die großen geographischen Entdeckungen. Die Erforschung des afrikanischen Kontinents oder wenigstens seiner Küste, die Entdeckung des Seeweges nach Indien um Afrika herum, die Beherrschung Sibiriens und vor allem die Entdeckung Amerikas und später, im 18. Jahrhundert, Australiens, verursachten, daß sich die Europäer klarer als vorher ihrer Eigenständigkeit den Völkern anderer Kontinente gegenüber bewußt wurden. Dies war übrigens am häufigsten die Überzeugung von eigener Überlegenheit den anderen gegenüber. Zugleich wurde man sich der Ähnlichkeit der Bewohner Europas untereinander bewußt. Die Unterschiede innerhalb der europäischen Bevölkerung wurden geringer, wenn man sie mit den unter den Bewohnern anderer Kontinente verglich. Europa spürte jetzt stärker als je vorher seine Unterschiedlichkeit von den anderen und seine Homogenität zugleich. Dies war jedoch eine Gemeinsamkeit in der Vielfältigkeit. 3. In Europa funktionierte immer noch die alte Spaltung in den westlichen, lateinischen und den östlichen, byzantinischen Teil des Kontinents. Diese Einteilung war dabei nicht nur lediglich religiöser oder kultureller Natur; kraß waren die Unterschiede in der wirtschaftlichen und sozialen Organisation beider Teile Europas. Während die religiösen Unterschiede vor allem mit der Christianisierung in der westlichen, katholischen oder östlichen, orthodoxen Version zusammenhingen, so waren die sozial-wirtschaftlichen Unterschiede vor allem die Folge der Entstehung neuer Institutionen und Formen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens auf dem mittelalterlichen Gebiet des ehemaligen westlichen Teils des römischen Imperiums. Diese knüpften an die antiken Muster an und wurden auch auf die östlichen Gebiete des westeuropäischen Kulturkreises, in solche Länder wie Polen, Tschechei, Ungarn, das Baltikum infolge der sog. Kolonisation mit deutschem Recht verpflanzt. Unter dem Einfluß verschiedener Faktoren sind in der Neuzeit in beiden Teilen eines so gespalteten Europas wichtige und wesentliche Veränderungen eingetreten. - Die Veränderungen im östlichen Teil des Kontinents hingen mit der schon erwähnten türkischen Expansion in Europa zusammen. Infolge dieser Expansion befanden sich nacheinander Serbien, Bulgarien, Bosnien, Byzanz, die Donaufürstentümer und ein großer Teil Ungarns unter türkischer Herrschaft. Die Stagnation der kulturellen Entwicklung der Länder, die sich unter türkischem Joch befanden, verursachte, daß das Zentrum

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dieses Kulturkreises, das sich im Mittelalter auf dem Balkan befand, jetzt auf das osteuropäische Gebiet verlagert wurde. Der immer stärker werdende Moskowiter Staat hielt sich schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts für das führende orthodoxe Zentrum, und das Konzept: "Moskau, das dritte Rom" wurde jahrhundertelang die ideologische Begründung für die Bedeutung Rußlands in der Welt. Während Moskau die führende Rolle in der "orthodoxen" Welt übernahm, unternahm es zugleich seit dem 16. Jahrhundert anfänglich ephemerische Versuche, sich dem Westen kulturmäßig anzunähern. Im 17. Jahrhundert spielte Polen eine Vermittlerrolle bei der Annäherung Rußlands an den Westen, der wahrhaftige Durchbruch fand jedoch am Anfang des 18. Jahrhunderts unter der Herrschaft Peters I. statt. Nach meiner Ansicht bedeutete das 18. Jahrhunder eine Wende in der bisherigen Einteilung Europas in zwei Kulturzonen. Die seit dem 11. Jahrhundert funktionierenden Grenzen zwischen dem lateinischen Westen und dem orthodoxen Osten waren zwar noch nicht endgültig aufgehoben, jedoch darf man im Grunde seit dieser Zeit Europa als eine Kulturzone betrachten. Aufklärung, Romantik, der Positivismus, der Modernismus - die nacheinander folgenden Phasen der Entwicklung europäischer Kultur waren für ganz Europa gültig und nicht, wie das mit der Gotik, Renaissance oder dem Barock der Fall war, die nur in dem westlichen Teil Europas zu Tage traten. - Auch in dem westlichen Teil des europäischen Kontinents sind zu Beginn der Neuzeit neue Erscheinungen zu verzeichnen. Hierzu ist vor allem die Reformation zu zählen, die im Endeffekt zur religiösen Einteilung Westeuropas in den katholischen und protestantischen Teil führte. Zwei Jahrhunderte der Konflikte, die oft den Charakter langwieriger innerer sowie auch internationaler Kriege hatten, waren die Folge dieser religiösen Spaltung Westeuropas. Doch verlor im Laufe der Zeit der religiöse Faktor seine ehemalige Bedeutung. Er vermochte es nicht, die kulturelle Annäherung des alten katholischen und orthodoxen Europas im 18. Jahrhundert zu verhindern, und er war auch nicht imstande, zwei verschiedene Kulturmuster aufgrund religiöser Spaltung in Katholiken und Protestanten herauszubilden. Die obige Feststellung bedeutet keineswegs, daß wir den religiösen Faktor im neuzeitlichen und modernen Europa bestreiten wollten, doch darf seine Rolle, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert, nicht mit der Rolle der Religion im mittelalterlichen Europa verglichen werden.

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4. Während die Spaltung Europas in zwei Kulturzonen langsam und insbesondere seit dem 18. Jahrhundert an Bedeutung verlor, zeichnete sich ab Beginn des 16. Jahrhunderts immer stärker die neue Einteilung Europas in zwei Teilgebiete nach ihren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen ab. Dies ist eine den Forschern sehr genau bekannte Tatsache, und es geht um die Spaltung Europas der EIbe entlang. Während sich Westeuropa in Richtung der kapitalistischen Marktwirtschaft entwickelte, erlebte Osteuropa die erneute Rückkehr der Leibeigenschaft auf dem Lande (sog. sekundäre Leibeigenschaft). Die Entwicklung des Handwerks und der Industrie, die Intensivierung des Innen- und Außenhandels (darin auch des Fernhandels), der schnell fortschreitende Urbanisierungsprozeß, der Pachtzins als grundlegende Verpflichtung der Bauern dem Gutsbesitzer gegenüber, waren die Grundeigenschaften der wirtschaftlichen Entwicklung des Westens. Auf dem Gebiet der sozialen Beziehungen gehörte der steigende Reichtum und die zunehmenden Einwirkungsmöglichkeiten des Bürgertums, das sich in die moderne Bourgeoise verwandelte, zu den charakteristischen Grundzügen dieses Teils von Europa. Für den Osten Europas ist vor allem die ziemlich einseitige Entwicklung der Landwirtschaft charakteristisch. Die auf die Marktproduktion (und darin vor allem auf die Anfrage des Westens) eingestellten Landgüter des Adels nützten den unentgeltlichen Frondienst leibeigener Bauern aus. Dies führte einerseits zum Reichtum des Adels, und andererseits verstärkte es die Not der Bauern. Die Urbanisierungsprozesse gingen in diesem Teil Europas sehr langsam vor sich. Auf diese Weise wurde die alte kulturelle Einteilung Europas durch die neue ökonomische überlagert. Die Grenzen dieser Spaltungen verliefen keineswegs identisch. Für die kulturelle Einteilung waren es die östlichen Grenzen Polens und Ungarns (die Flüsse: Bug, San und der Karpatenbogen), für die wirtschaftliche Spaltung bildete die EIbe die Grenze. Den Hauptkorpus dessen, was Mitteleuropa genannt wird, bildete gerade das Gebiet zwischen diesen beiden Grenzen, das Gebiet also, wo die Kulturverhältnisse nach dem westlichen Vorbild und die sozialwirtschaftlichen Beziehungen nach dem östlichen Muster gestaltet wurden. Die wirtschaftliche Einteilung Europas, die an der Wende des 15. zum 16. Jahrhunderts begann, war vom bleibenden Charakter. Es gab in den osteuropäischen Ländern (Preußen, Habsburgische Monarchie,

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Rußland) auch hier günstigere Bedingungen für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, doch waren die Niveauunterschiede immer noch ziemlich erheblich. Die russische Revolution des Jahres 1917 führte in dieses Land das sozialistische System ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich auch in den mittel- und südosteuropäischen Ländern die bereits früher vorhandenen wirtschaftlichen Unterschiede zu Westeuropa noch vertieft. Heutzutage bilden sie das Hauptproblem der Integration. 5. Ein weiteres Gebiet, auf dem sich in der Neuzeit die Unterschiede zwischen den west- und osteuropäischen Ländern sichtbar machte, war der Staatscharakter. Gegen Ende des Mittelalters, im 14. und 15. Jahrhundert, beobachten wir den endgültigen Untergang der universalistischen Tendenzen sowohl in ihrer päpstlichen als auch kaiserlichen Version. Zugleich kam es in den einzelnen Ländern zu Integrationsprozessen, infolge derer Großstaaten entstanden. Ihr Charakter war jedoch in West- und Osteuropa ganz verschieden. Während im Westen einheitliche Nationalstaaten, wie z.B. Spanien, Portugal, Frankreich, England entstanden, waren für den Osten Europas multinationale Staaten typisch. Einen solchen Charakter trug seit dem 16. Jahrhundert die Habsburgische Monarchie, der polnisch-litauische Staat, Rußland und die Türkei sowie auch, was oft vergessen wird, Schweden, dem in der Zeit seiner größten Macht auch Finnland und die baltischen Staaten (das heutige Estland und Lettland) sowie auch norddeutsche Gebiete angehörten. Die im Zentrum Europas befindlichen Länder Deutschland und Italien hatten an der Wende des Mittelalters zur Neuzeit weder national-einheitliche noch große multinationale Staaten gebildet. Diese Länder blieben noch für einige Jahrhunderte lang ein Mosaik kleiner Staaten, und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu wesentlichen Veränderungen in dieser Hinsicht. Die Einteilung Europas nach dem uns hier interessierenden Kriterium wird im Prinzip bis zu dem Ende des Ersten Weltkrieges beibehalten. Zwar verliert zuerst Schweden bereits im 18. Jahrhundert den Charakter eines multinationalen Staates, dann kommt Polen an die Reihe und verliert gänzlich seine politische Unabhängigkeit, im 19. Jahrhundert fallen von der Türkei die Balkanländer nacheinander ab, doch überdauern die zwei größten Länder von diesem Typ: die ÖsterreichischUngarische Monarchie und Rußland bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im Jahre 1918. 6. Das auf die neue Art und Weise gestaltete neuzeitliche Europa war im Laufe der letzten 500 Jahre der Schauplatz eines ununterbrochenen Wettkampfes der Länder um die Größe des Einflußgebietes oder aber

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um die Hegemonie auf einem bestimmten Gebiet oder gar auf dem ganzen Kontinent. Nach meiner Ansicht hat Europa seit dem Anfang der Neuzeit bis zu der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts im Sinne einer politischen internationalen Gesellschaft keine homogene Einheit gebildet und teilte sich deutlich in zwei Zonen ein: eine westliche und eine östliche. In der Westzone spielten Frankreich, England, Spanien Österreich und die Niederlande nach ihrer Verselbständigung die führende Rolle. Zwischen diesen Staaten gab es einen erbitterten Wettkampf um die Hegemonie in Westeuropa sowie auch um die Einflüsse in den außereuropäischen Gebieten. Zugleich gab es im Osten Europas einen genauso entschiedenen Kampf um die Vorherrschaft in dieser Region. Die Hauptrollen spielten dabei Rußland, Polen, Schweden, Dänemark und die Türkei sowie auch Österreich, das hier auch seine Interessen hatte. Polen, Rußland Schweden und Dänemark kämpften um die Herrschaft über die Ostsee ("Dominium maris Baltici"), Österreich, Rußland und Polen kämpfen um die Zurückhaltung der türkischen Expansion, Polen und Rußland kämpften um die Einverleibung der Ukraine und Weißrußlands. Dieser Zustand, als es in Europa im Prinzip zwei verschiedene Konzertrnächte - die östliche und die westliche - gab, hatte bis zu der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts gedauert. Infolge verschiedener Faktoren kam es damals zu einem Verlust der Großmachtposition einiger Länder. Dies waren von den östlichen "Konzertmächten": die Türkei, Polen und Schweden und von den westlichen Konzertmächten Spanien und die Niederlande. Im Endeffekt blieben auf dem Schauplatz nur vier der ehemaligen Großmächte: Frankreich, England, Österreich und Rußland. Zu diesen vier Mächten wird sich bald die fünfte, und zwar Preußen gesellen. Das symbolische Datum der Emanzipierung Preußens zur europäischen Großmacht wurde das Jahr 1701. Seit dieser Zeit galt in Europa das System der fünf Großmächte (die sog. "Pentarchie"), im Prinzip bis zu dem Ende des Zweiten Weltkrieges, mit der Änderung jedoch, daß in der Zwischenkriegszeit Italien Österreich abgelöst hatte. Erst der Zweite Weltkrieg hat dieses europäische, 250 Jahre andauernde politische System abgeschafft und ein neues Weltsystem eingeführt, für das bis vor kurzem eine dualistische Einteilung mit den USA und UdSSR an der Spitze stand. 7. Der ständige Wettkampf, der oft die Form bewaffneter Konflikte einnahm, begünstigte die Ideen der Schaffung eines Sicherheitssystems in

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Europa, wodurch unser Kontinent vor den Grausamkeiten der nächsten Konflikte geschützt hätte werden können. Ich möchte anmerken, daß es an neuen Visionen "Europa ohne Kriege" nicht gefehlt hat. Der polnische König, Stanislaus Leszczynski, der Schwiegervater Ludwigs des XV. und der spätere Herrscher von Lothringen, war auch einer der Autoren einer solchen Idee. Die "Heilige Allianz" , die während des Wien er Kongresses proklamiert wurde, oder der Völkerbund waren ohne Zweifel Versuche, Europa zu pazifizieren, mit dem Unterschied, daß der letztere ein nicht mehr europäisches, sondern globales Ausmaß einnahm. 8. Man kann nicht umhin, eine andere Form der europäischen "Integration" zu erwähnen, die in der Neuzeit schon zweimal unternommen wurde, und zwar geht es um den Versuch eines einzigen Staates, die Hegemonie in Europa zu übernehmen und den ganzen Kontinent nach seinem politischen Interesse einzurichten. Ich meine hier Napoleons und Hitlers Pläne der Organisation Europas. Beide Versuche endeten mit einer totalen Katastrophe. Dies soll auch eine Warnung für diejenigen sein, die eventuell noch solche Ideen hegen sollten. 9. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Europa der Neuzeit seine Verschiedenheit den anderen Ländern gegenüber sehr deutlich verstand, während es sich in immer umfassendere Konflikte mit anderen Kontinenten einließ. Diese Tatsache begünstigte das Bewußtsein der europäischen Einheit. Zugleich war Europa jedoch keineswegs und in keiner Hinsicht einheitlich. Dies betrifft sowohl die kulturellen als auch wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und Regionen unseres Kontinents haben oft eine jahrhundertelange Tradition. Ihre Beseitigung wird gewiß nicht leicht fallen. Je schwieriger jedoch die Aufgabe, desto größer sollte die Anstrengung aller Europäer sein, damit ihr Kontinent zum Zentrum des angenehmen und wohlhabenden Lebens aller seiner Völker wird.

Die Europaidee in der Zwischenkriegszeit Von Steffen Bernhard Vorwort Europa befindet sich im Umbruch. Das mit Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Allierten und den Stalinismus entstandene osteuropäische sozialistische Staatensystem zerbrach durch die friedlichen demokratischen Revolutionen der unterdrückten Völker. Die Jahre der politischen und militärischen Konfrontation, die im Kalten Krieg ihren Höhepunkt fand, sind vorbei. Die Zukunft Europas erscheint wieder in neuem Licht. Die Zukunftsvision von einem "gemeinsamen Haus Europa" greift alte Gedanken von einem geeinten Europa auf, welche schon seit der Zeit der Antike existieren. Die Situation nach dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag Nachdem Europa durch den Ersten Weltkrieg erschüttert worden war, nahmen die Siegermächte im Versailler Vertrag eine Neuordnung Europas vor. Diese trug im wesentlichen die Züge der französischen Politiker, deren Ziel es war, die Sicherheit Frankreichs zu garantieren und Deutschland gewaltige Reparationen aufzuerlegen, damit sich dieses in absehbarere Zeit nicht zu einer ernst zunehmenden Großmacht entwickeln konnte. Man war auf französischer Seite von einem "Paneuropagedanken" weit entfernt. Neben diesen Absichten gegen Deutschland entstanden mit Polen, der CSR, mit Ungarn und Jugoslawien, dem serbisch-kroatisch-slowenischen Staatenbund, neue Nationalstaaten in Europa. Sie bildeten sich auf ostdeutschem Gebieten sowie auf dem Gebiet der zerfallenen österreichungarischen Doppelmonarchie. Die Regierungen dieser Länder trugen sich mit stark national orientierten Gedanken, um die neu errungene Freiheit verteidigen zu können. Insgesamt entstanden acht neue Nationalstaaten, und es erhöhte sich somit deren Zahl in Europa von 19 (1914) auf 27 (1920).

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Der durch die Oktoberrevolution in Rußland entstandene Bolschewismus mußte sich im Bürgerkrieg 1918 - 1922 erneut den einfallenden europäischen Mächten, insbesondere der Türkei, Frankreichs und Englands erwehren und schirmte sich so durch die Zeit des Kriegskommunismus vom übrigen Europa ab, da auch die Anerkennung der späteren Sowjetunion von vielen Staaten zunächst nicht erfolgte. Die beiden Flügelrnächte Amerika und Rußland traten nach dem Ersten Weltkrieg in eigene weltpolitische Führungsrollen, was Europa jedoch nicht gelang. Diese Tatsachen setzten vorerst einen letzten Höhepunkt der Nationalstaatlichkeit in Europa. So schätzt auch earl Jacob Burckhardt in einem Briefwechsel mit Hugo von Hofmannsthai 1922 die Lage ein:" Man kann nur warten, womöglich überdauern, aber man wird lange auf das Abklingen des Nationalismus warten müssen. Als Hypnosezustand greift er immer mehr um sich überall, alles ist immer gleichzeitig, große Gedanken wie großer Wahn ... Zur Zeit scheint es, eher werde die Welt untergehen, als daß eine der großen europäischen Nationen auf ihren Primatanspruch verzichtete".1 Auch wenn die Politiker der Regierungen weiter den Weg der souveränen Nationalstaatlichkeit gingen, forderten Teile der europäischen Intelligenz schon während des Ersten Weltkrieges eine europäische Einigung. An dieser Stelle drei Beispiele, die diese Forderungen belegen: "Die Politik darf nicht mehr das 'Gleichgewicht der Mächte' zum Ziel haben, sondern soll auf die Herstellung eines europäischen Zusammenschlusses beruhen."2 "Die Zerstörungen im Feuerofen des Imperialismus, die Europa erleidet, zwingen, die Vereinigten Staaten von Europa ... zu verwirklichen."3 "Die zwischenstaatliche Anarchie durch eine freiwillig anerkannte oberste Behörde zu ersetzen ... "4 So waren die europäischen Einigungsbestebungen durch den Ersten Weltkrieg nur in den Hintergrund getreten, sollten aber schon kurz nach den Versailler Verträgen wieder aufgegriffen werden.

1 Walter Lipgens, Die Europäische Integration, Stuttgart, 1983 , S. 6. 2Ebd., S. 4. 3Ebd., S. 5. 4Ebd., S. 5.

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Die Gründung des Völkerbundes und seine Rolle im europäischen Einigungsprozeß

Spätestens nach dem Versailler Vertrag stellte sich ernsthaft die Frage nach einem politischen Zusammenschluß der europäischen Staaten. So sollte mit der Gründung des Völkerbundes 1919 ein Schritt in diese Richtung getan werden. Zu seinen großen Initiatoren gehörte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson. "Das Hauptanliegen des amerikanischen Präsidenten konzentrierte sich darauf, neue Formen internationaler Beziehungen zu entwickeln mit dem Ziel eines dauerhaften Weltfriedens. Dafür schien ihm vor allem die Einführung des Völkerbundes als internationale Organisation besonders geeignet. Dessen Aufgabe sollte es sein, Konflikte im Sinne einer Demokratisierung der internationalen Beziehungen schiedlich - friedlich beizulegen oder nötigenfalls mittels kollektiv beschlossener und durchgeführter Sanktionen zu unterbinden. Als notwendige Voraussetzung und Konsequenz dieser Friedensidee sollte das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundlage einer festen und krisensicheren internationalen Friedensordnung in Europa sein."s Aber dem Völkerbund traten die USA nicht bei, da Wilson die erforderliche 2/3 Mehrheit im Senat hauchdünn nicht erreichte. Auch wurden die Mittelmächte des Ersten Weltkrieges und Sowjetrußland von der Mitgliedschaft vorerst ausgeschlossen. So standen sich Frankreich und Großbritannien als europäische Großmächte gegenüber ohne eine gleichstarke Macht, die zwischen ihnen vermitteln konnte oder ihre Standpunkte in Einklang zu bringen vermochte. "Dies war ein unklückliches Vakuum, weil die beiden Länder höchst unterschiedliche Auffassungen über den Völkerbund vertraten."6 Dennoch war der Völkerbund ein Schritt in Richtung des Weltfriedens und eines engeren Zusammenschlusses der europäischen Staaten auf politischem Gebiet, ließ er doch auch 1919 noch ausgeschlossenen Staaten die Tür zum Beitritt offen. So traten ihm dann Bulgarien und Österreich 1920, Ungarn 1922, Deutschland 1926, die Türkei 1932 bei. In der Satzung des Völkerbundes von 1919 verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten zu Frieden, Völkerverständigung und zu gemeinsamen Beratungen und Beschlüssen. 5 BracherjFunkej Jakobsen 6 Gordon

(Hrsg.), Die Weimarer Republik, Bonn 1987, S. 303. A. Craig, Geschichte Europas 1815 - 1980, München 1983, S. 404.

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Hier einige Auszüge: "Präambel: ... die Vorschriften des internationalen Rechts,die fürderhin als Richtschnur für das tatsächliche Verhalten der Regierungen anerkannt sind, genau zu beobachten ... Art.8: ... bekennen sich zu dem Grundsatz, daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf ein Mindestmaß erfordert, das mit der nationalen Sicherheit vereinbar ist ... Art.12: ... Kommen überein, eine etwa zwischen ihnen entstehende Streitfrage, die zu einem Bruche führen könnte, entweder der Schiedsgerichtsbarkeit oder der Prüfung durch den Rat unterbreiten ... Art.5: ... Beschlüsse der Bundesversammlung oder des (engeren) Rates erfordern Einstimmigkeit ... ,,7 So war die Gründung des Völkerbundes eine höhere Stufe der Verständigung und Zusammenarbeit der europäischen Staaten, die vorerst den Frieden in Europa und in der Welt garantierte. Die zwanziger Jahre Jahre intensivster europäischer Einigungsbestrebungen

Trotz der Schaffung des Völkerbundes herrschte in einigen intellektuellen Kreisen noch" Untergangsstimmung" , die die schrecklichen Ereignisse des Ersten Weltkrieges lebendig hielt. So verfaßten Oswald Spengler (1880 - 1936) und Paul Valery (1871 - 1945) Werke, die sich mit dem Untergang der Kulturvölker Europas befaßten. Denis de Rougemont über Spenglers Buch "Der Untergang des Abendlandes" : "Das vor dem ersten Weltkrieg begonnene und 1917 vollendete Buch Oswald Spenglers war in der Tat eine Vorwegnahme, es enthüllte die Ursachen kommender Katastrophen. Schon 1919 begann man allerorts mit bedauernden Glossen und kritischen Feststellungen die Tragödie (hier war der Erste Weltkrieg gemeint) zu kommentieren, die man soeben erlebt hatte - und von der man ahnte, daß man noch nicht weiter als bis zum ersten Akt gekommen war."s Ähnlich sah es auch Garl J. Burckhardt: "Noch ein europäischer Bruderkrieg, und es wird soweit sein, daß wir einzig noch mit unseren Miasmen die übrige Welt anstecken können. "9 7Walter Lipgens, Die Europäische Integration, Stuttgart, 1983, S. 5. 8Denis de Rougemont, Europa - Vom Mythos zur Wirklichkeit, München, 1962, S.307. 9Walter Lipgens, Die Europäische Integration, Stuttgart, 1983, S. 6.

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Mitten in diese Stimmung hinein erweckten die Gedanken des Ungarn Richard N. Graf von Coudenhouve-Kalergi wieder Hoffnung auf ein vereintes Europa. 1923 erschien sein Buch "Paneuropa" . Man kann es als revolutionierend auf dem Gebiet der Einigungsproblematik bezeichnen. Es ist gleichzeitig das bedeutendste Werk der Zwischenkriegszeit und spielte auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle. Ausgang war die geopolitische Lage, die der Erste Weltkrieg in seinen Friedensverträgen verändert hat. Es blieb die internationale Anarchie der Vergewaltigung des Schwächeren durch den Stärkeren, latenter Kriegszustand, wirtschaftliche Zersplitterung und politische Intrige. Er wies darauf hin, daß die derzeitige Politik die Politik von Morgen sein werde, denn Europa sei von zwei Großmächten umklammert (gemeint waren die UdSSR und die USA). Den wichtigsten Inhalt seiner Ideen möchte ich wie folgt zusammenfassen: "Durch die Skylla der russischen Militärdiktatur und die Charybdis der amerikanischen Finanzdiktatur führt nur ein schmaler Weg in eine bessere Zukunft. Dieser Weg heißt Pan-Europa und bedeutet: Selbsthilfe durch Zusammenschluß Europas zu einem politisch-wirtschaftlichen Zweckverband .. . Die paneuropäische Bewegung muß für die Autonomie Pan-Europas innerhalb des Völkerbundes eintreten sowie für dessen regionale Gliederung ... Durch die Anerkennung Amerikas und Sowjetrußlands als autonome Völkergruppen hätten diese eine fremde Einmischung in ihren Machtbereich nicht mehr zu befürchten (und könnten dem Völkerbund beitreten). Der Völkerbund würde zur höchten Weltinstanz werden, während lokale Konflikte und Fragen der engeren Völkergruppen diesen vorbehalten blieben. Diese Gruppen wären: 1. die panamerikanische Gruppe; 2. die paneuropäische Gruppe; 3. die britische Gruppe; 4. die russische Gruppe; 5. die mongolische Gruppe. Von diesen fünf überstaatlichen Völkergruppen bestehen bereits drei: die panamerikanische, die britische und die russische ... Die Entwicklung von der europäischen Anarchie zur paneuropäischen Organisation wird sich etappenweise vollziehen. Der erste Schritt zu Pan - Europa wäre die Einberufung einer paneuropäischen Konferenz durch eine europäische Regierung oder durch mehrere ... (Sie) muß den Beschluß fassen, wie ihre panamerikanische Schwester, periodisch zusammenzutreten und als Zentrale der Einigungsbewegung ein paneuropäisches Bureau nach Analogie des panamerikanischen zu gründen. Der zweite Schritt zu Pan-Europa ist der Abschluß eines obligatorischen Schieds- und Garantievertrages zwischen allen demokratischen staaten Kontinentaleuropas ... Der dritte Schritt zu Pan-Europa ist die Bildung einer paneuropäischen Zollunion, der Zusammenschluß Eropas zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet. Diese Umbildung der europäi-

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schen Wirtschaft kann nur langsam und nicht plötzlich erfolgen. Aber mit den Vorbereitungen zu diesem Abbau der Zollgrenzen muß energisch begonnen werden ... Die Krönung der paneuropäischen Bestrebungen wäre die Konstituierung der Vereinigten Staaten von Europa nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Amerika. Pan-Europa würde den übrigen Weltteilen und Weltmächten gegenüber als Einheit auftreten, während innerhalb der Förderation jeder Staat ein Maximum an Freiheit hätte. PanEuropa hätte zwei Kammern: ein Völkerhaus und ein Staatenhaus ... "10 Die Gedanken Coudenhoves stellten für die damalige Zeit einen gangbaren Weg in ein vereintes Europa dar. Coudenhove-Kalergi gründete 1924 die "Paneuropa-Union", um sein Programm propagieren zu können. Und tatsächlich gelang es ihm in den Jahren 1926-1930, Mitgliedsgruppen, die vorwiegend von der Intelligenz getragen wurden, in allen europäischen Hauptstädten zu gründen. Aber seine Bewegung erreichte keine Massenbasis, und man kann annehmen, daß Coudenhove-Kalergi die wirklich breite Massenbasis nie angestrebt hat. Er entsandte nur Impulse und Denkideen an alle Regierungen, die diese gemeinsam aufgreifen sollten. Denoch fand dieses paneuropäische Konzept gerade in der Zeit der politischen Entspannung Mitte bis Ende der zwanziger Jahre eine große Anhängerschaft. Und tatsächlich schien Europa seine politischen Bande in den zwanziger Jahren fester zu knüpfen. England versuchte Frankreich zum Einlenken in der Deutschlandpolitik zu bewegen. Der englische Premier Lloyd George wollte über wirtschaftliche Abkommen eine politische Annäherung erreichen. Seine Regierung war es, die die Deutschen wieder zu Verhandlungen einlud, wie zum Beispiel zu einer Wirschaftskonferenz in Genua, wo auch eine sowjetische Delegation zugegen war. Durch den Starrsinn der Franzosen, die weiter auf volle Reparationen von Deutschland bestanden, schlossen die deutsche und die sowjetische Delegation einen gesonderten Freunschafts- und Kooperationsvertrag ab, welcher als Rapallo-Vertrag in die Geschichte einging. Dieser Vertrag bedeutete gleichzeitig das Scheitern der LloydGeorgeschen Politik. Frankreichs veränderte Haltung gipfelte im Ruhrkonflikt, als die Franzosen im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzten. IOEbd., S. 6 f.

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Aber diese kritische Situation löste eine wirksame Reaktion auf Seiten der Westmächte aus. "Im Jahre 1924 arbeitete eine internationale Kommision unter dem Vorsitz des amerikanischen Bankiers Charles Dawes einen langfristigen Reparationsplan für Deutschland aus und schuf die Grundlage für ausländische Darlehen, die Deutschland in die Lage versetzten, die Zahlungen wiederaufzunehmen, während gleichzeitig eine Währungsreform durchgeführt wurde."u An dieser Stelle möchte ich kurz auf das Wirken eines bedeutenden Politikers Deutschlands eingehen,der in den zwanziger Jahren entscheidend zur allgemeinen Entspannung beitrug, Gustav Stresemann, der zur Zeit der Weimarer Republik zweimal einer Regierung vorstand und außerdem in den Jahren 1923 bis zu seinem Tode im Oktober 1929 das Amt des Außenministers bekleidete. Geschichtsforscher halten Stresemann für den fähigsten deutschen Staatsmann der Zwischenkriegsjahre. Stresemann stellte die deutschen Beziehungen zu den Westmächten auf eine völlig neue Basis. "Stresemann teilte. London und Paris mit, die deutsche Regierung sei bereit, im Interesse einer allgemeinen Entspannung und in der Hoffnung, daß die Räumung des deutschen Bodens von alliierten Truppen erleichtern werde, die augenblickliche deutsch-französische und die deutsch-belgische Grenze als dauerhaft anzuerkennen. Von den Briten begeistert vorangetrieben, führte dieses Angebot zu Verhandlungen zwischen den Mächten in Locarno, aus denen eine Reihe von Abkommen und Verträgen hervorgingen. Deutschland, Frankreich und Belgien kamen überein, ihre gemeinsamen Grenzen zu respektieren und dem Krieg gegeneinander abzuschwören, ausgenommen er diene der Selbstverteidigung oder er erfolge in Übereinstimmung mit der Völkerbundssatzung. Großbritannien und Italien waren bereit, diesen sogenannten Rheinland-Pakt zu garantieren. Deutschland versprach, die Mitgliedschaft im Völkerbund zu beantragen unter der Bedingung, daß es einen Ständigen Sitz im Völkerbundrat erhalte. Weiterhin verpflichtete es sich, alle eventuellen Streitigkeiten mit seinen Nachbarstaaten der Schiedsgerichtsbarkeit oder der Vermittlung durch den Völkerbund zu unterwerfen und eine Veränderung seiner - nicht akzeptierten - Ostgrenzen durch friedliche Mittel zu suchen. In einem Begleitprotokoll wurde erklärt, die Mächte seien versammelt gewesen, "um gemeisam die Mittel zum Schutze ihrer Völker vor der Geisel des Krieges zu suchen und für eine friedliche Regelung von Steitigkeiten jeglicher Art."12

11 Gordon

A. Craig, Geschichte Europas 1815 - 1980, München 1983, S. 404. 12Ebd., S. 404 f.

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Auch auf französischer Seite wurde durch Aristide Briand eingelenkt. Beide Politiker verbesserten die Beziehungen zwischen beiden Staaten, und es kam zur Modifizierung und Senkung der deutschen Reparationszahlungen. So schien die Locarno-Konferenz 1926 als hoffnungsvolles Zeichen; Deutschland trat dem Völkerbund bei und bekam einen Ständigen Sitz im Völkerbundrat und brachte somit dem Völkerbund als Organisation neues Ansehen. Weiter auf Konfrontation blieb allerdings die sowjetische Regierung. Bis zuletzt hatte man gehofft, Deutschland werde dem Völkerbund nicht beitreten. Zwischen der UdSSR und Deutschland kam es 1926 zu einem Freundschaftsvertrag. Man betrachtete auf sowjetischer Seite die Gründung des Völkerbundes nur als bloße Episode. Der Glaube, die sowjetische Revolution in die WeIt tragen zu müssen, wenn nötig, dann auch mit Gewalt, wurde von führenden Kreisen am Leben gehalten. Man hatte aber auch erkannt, daß der Frieden für den sich entwickelnden Sozialismus von entscheidender, ja sogar lebensnotwendiger Bedeutung war. So exerzierte die sowjetische Außenpolitik alle nur denkbaren Wendungen.Dennoch überwog meiner Meinung nach das Bestreben der sowjetischen Regierung nach Frieden in Europa, was auch ihr späterer Eintritt in den Völkerbund unterstreicht. Ich teile die Auffassung Wolfgang Wagners nicht, der diese Politik nur als Schutzschild für den Aufbau einer starken Rüstungsindustrie sieht. Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges zeigt, daß die Sowjetunion vom Kriegsbeginn durch Hitlerdeutschland eindeutig überrascht wurde. Aber trotz Locarno blieben alle europäischen Mächte weiterhin mißtrauisch, man war zu stark auf eigene nationale Interessen bedacht. In dieser Zeit bildeten wenige Politiker eine Ausnahme, wie der französische Ministerpräsident Edouard Herriot. In seiner Rede vom 28.01.1925 vor der französischen Nationalversammlung erklärte er: " ... Europa bedeutet in der Welt nicht mehr als eine kleine Provinz. In den fernen Gestaden des Pazifiks kündigen sich Probleme an, die schon bald eine Anspannung aller Kräfte von den Vereinten Staaten von Europa fordern werden ... Und wenn ich hier den Völkerbund mit allen Kräften unterstützt habe, so deshalb, weil ich in dieser Organisation einen ersten Schritt in Richtung auf die Vereinten Staaten von Europa gesehen habe ... " 13

13Walter Lipgens, Die Europäische Integration, Stuttgart, 1983, S. 7.

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Auch die SPD, als deutsche Massenpartei, nahm den Gedanken an einen wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluß Europas in ihr Programm von Heidelberg aus dem Jahre 1925 auf: "Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen ... " 14 Weitere Politiker, Schriftsteller und Prominente äußerten sich in den zwanziger Jahren zum europäischen Gedanken. So Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident der Bundesrepublik, 1926 über eine europäische Zollunion, allerdings ohne Rußland, welches für ihn eine Gefahr für ganz Europa darstellte. Er vertrat die Auffassung, daß Europa seine Weltvormachtstellung zurückgewinnen müsse. 1926 erschien das Buch des Ungarn A.Türeck "Vom Nationalismus zu den Vereinigten Staaten von Europa" . Für ihn bedeutet der Nationalstaat die Beeinträchtigung der Freiheit, sowie er die Gefahr der Entfremdung in sich birgt.

Auch de Rochelle (Frankreich) formulierte schon 1922 Unabhängigkeitsgedanken für Europa, die auch die Grundlagen der Gedanken nach 1950 bildeten. Zusammenfassend kann man sagen, die zwanzige Jahre waren Jahre intensivster Bemühungen um den europäischen Einigungsprozeß. Am Ende diese Periode fordern Stresemann und Briand, angesichts der Weltwirtschaftskrise 1929, noch einmal den wirtschaftlichen Zusammenschluß der europäischen Staaten. So Stresemann in seiner letzten Rede vor dem Völkerbund (9.9.1929): "Was erscheint denn an Europa, an seiner Konstruktion vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus so außerordentlich grotesk? Sie sehen neue Grenzen, neue Maße, neue Gewichte, neue Usancen, neue Münzen, ein fortwährendes Stocken des Verkehrs ... , als wenn das ganze ein Kleinkrämergeschäft wäre, das wir in Europa innerhalb der gesamten Weltwirtschaft noch führen dürfen."15 Aber schon das Briand-Memorandum an alle europäischen Regierungen vom Mai 1930, in welchem Briand eine" Verständigungspolitik" anschlug, um den Europagedanken auf die Ebene von Regierungsverhandlungen zu stellen, wie Goudenhove-Kalergie und sein Paneuropa-Plan {Briand war 14Ebd., S. 7. 15Ebd., S. 8. 5 Timmermann

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selbst Mitglied der Paneuropa-Union) es vorsah, scheiterte durch die ablehnende Haltung des bereits faschistischen Italien, der deutschen Regierung unter Brüning und Großbritanniens. Damit endeten die Versuche der Zwischenkriegszeit, ein vereintes Europa anzustreben. Mit Beginn der dreißiger Jahre brach in vielen Staaten die Zeit des Faschismus an. Die Zeit der Realisierung der Europa-Idee war noch nicht reif. Der wachsende Nationalismus zu Beginn der dreißiger Jahre am Beispiel Italiens und Deutschlands bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges Italien war das erste Land in Europa, in dem die Faschisten die Macht ergriffen. Politische Unzufriedenheit, wirtschaftliche Krisen in den Nachkriegsjahren und übertriebenes Nationalgefühl steigerten die Unzufriedenheit. Im Krieg hatte man für mehr gekämpft. Und man fand in Benito Mussolini einen Mann, der sich an die Spitze der Unzufriedenen stellte, nach der Macht im Lande griff, den Faschismus und den Beginn einer besseren Zeit proklamierte. Die Liberalen und Sozialdemokraten hatten dem "neuen Geist" nichts entgegenzusetzen, und so gewann Mussolini schnell an Macht und Stärke. Die Zahl der Mitglieder seiner 1921 gegründeten Partei stieg in den kommenden Jahren rasch in Millionenhöhe. Bei den Wahlen 1924 siegte Mussolini mit überwältigender Mehrheit. Und schon wurde der Weg des Revisionismus und der Machtpolitik eingeschlagen. Griechenland wurde provoziert und die Stadt Korfu besetzt. Bei seiner Drohung mit dem Austritt aus dem Völkerbund lenkten die Großmächte zugunsten Italiens ein, und Mussolini bekam bei seinem Abzug aus Korfu sogar noch ein Entschädigungsgeld. 1932 übernahm Mussolini auch noch das Amt des Außenministers. Das spätere Wirken der italienischen und deutschen Faschisten im Bürgerkrieg in Spanien sollte den Weg in den Zweiten Weltkrieg nur noch beschleunigen. In Deutschland waren die Bedingungen beim Anbrechen des Faschismus ähnlich wie in Italien. Unzufriedenheit mit Wirtschaft und Regierung führten Adolf Hitler als Führer der NSDAP immer größere Massen zu.

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Als die Arbeitslosigkeit im Februar 1930 auf den Höchststand von über sechs Millionen kletterte, wurden die Differenzen zwischen Regierung und Opposition so groß, daß das Kabinett Brüning am 30.Mai 1930 entlassen wurde. Auch die Kabinette von Papen und Schleicher konnten die Krise nicht aufhalten. Der greise Hindenburg wurde zum Spielball seiner Umgebung. Am 30.01 1933 erfolgte die Ernennung Adolf Hi tIers zum Reichskanzler, welche Ludendorff in einem Brief an Hindenburg als dessen größten Fehler bezeichnet, von dem man noch in Jahrzehnten reden wird. Hitler brachte in den Jahren 1933-1935 die staatliche und militärische Gewalt in die Hände der Nationalsozialisten. Ähnlich dem "Duce" Mussolini ließ er sich als "Führer" feiern. Die Außenpolitik des Dritten Reiches begann mit einem Paukenschlag, dem Austritt aus dem Völkerbund auf der Abrüstungskonferenz in Genf 1933, aus dem auch Italien zuvor ausgetreten war. Nur wenige erkannten die Gefahren des Nationalsozialismus schon von Anfang an. Einer dieser wenigen war Thomas Mann. Er schrieb bereits 1933: " ... Hitler versicherte, daß nur der Kampf uns retten kann ... , Eroberung neuen Lebensraums, nochmaliger Nationalimperialismus. Der Europagedanke wurde als "Pazifismus" verboten. Doch seine Anhänger wußten: (Es) ... hat sich die nationale Idee ... in politischer, sozialer, geistiger Beziehung vollkommen verwirklicht und ausgelebt ... Nur noch hinausgehen kann man über sie, um zu größeren Zusammenfassungen, die das Leben fordert, zu gelangen. Jeder Mensch von Gefühl und Verstand, auch jeder bessere Politiker, weiß, daß die Völker Europas heute nicht mehr einzeln und abgeschlossen für sich zu leben und zu gedeihen vermögen, sondern, daß sie aufeinander angewiesen sind und eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die es anzuerkennen und zu verwirklichen gilt. Solche Lebensnotwendigkeit irgendwelcher völkische Natur - Romantik als Argument entgegenzustellen, ist nichts als Quertreiberei ... Das Rasen der nationalen Leidenschaften ist nichts weiter als ein spätes und letztes Aufflackern eines schon niedergebrannten Feuers, ein sterbendes Wiederaufflammen, das sich selbst als neue Lebensglut mißversteht."16 Er, wie viele andere, erkannten die Schrecken des Nationalismus und mußten fliehen. Seine Gedanken vom gemeinsammen Zusammenleben der europäischen Völker schien wie der einzige Stern am Abendhimmel. 16Ebd., S. 10 f. 5*

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Den Faschismus und Nationalsozialismus konnten sie nicht aufhalten, wohl hielten sie sich aber für die Zeit danach bereit, um am Ende des Grauens den Wunsch der Völker zu erfüllen: "Und alle Tatsachen des Lebens und der Entwicklung, die wirtschaftlichen, technischen und geistigen, zeugen dafür, daß die Zukunft auf dem Wege liegt, den einzuschlagen die Völker längst gewillt sind, dem Wege in die soziale Welt der Einheit, der Freiheit und des Friedens .... " 17 Literaturhinweise Bracher/Funke/lakob6en (Hrsg.): Die Weimarer Republik, Bonn 1987. Craig, Gordon A.: Geschichte Europas 1815 - 1980, München 1983. Information zur Politischen Bildung 123/126/127 "Der Nationalsozialismus", 1989.

Lipgens, Walter: Die Europäische Integration, Stuttgart 1983. Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration, Göttingen 1991. Rougemont, Denis de: Europa - Vom Mythos zur Wirklichkeit, München 1962. Schneider, Heinrich: Leitbilder der Europapolitik. Der Weg zur Integration, Bonn 1977. Wagner, Wolfgang: Die Teilung Europas. Geschichte der sowjetischen Expansion, Stuttgart 1959.

17Ebd., S. 11.

Europas wirtschaftliche Integration, die Geschichte eines erfolgreichen Mißverständnisses Von Friedrich Wilhelm Baer-Kaupert Als die Vereinigten Staaten von Amerika 1947 ein Programm zum Wiederaufbau Europas verkündeten, taten sie dies in konsequenter Verfolgung des Grundprinzips amerikanischer open-door-Politik,jeden einzuladen, mit den USA zu kooperieren, soweit es zum gegenseitigen Vorteil gereicht, und jeden darin zu unterstützen, die Fähigkeiten zu entwickeln, die Grundlage dieser Gegenseitigkeit sind.

Im Hinblick auf das Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte angesichts der Zerstörungen bei Siegern und Besiegten eine solche Politik zuvörderst nur eine Wirtschaftshilfe sein. Die nichtökonomischen Implikationen traten dahinter zurück. Im übrigen ging man davon aus, daß die politische Neuordnung eine Sache der Europäer sei. Der Marshallplan wurde damit ein Teil der Hoffnung der Europäer, sich von der existentiellen physischen Not zu befreien. Es gab keinen Erkärungsbedarf dafür, daß die vernünftige Verwendung der gebotenen Hilfe auch ein Mindestmaß an Kooperation der Empfängerländer voraussetzte. Diejenigen, die sich in der Gedankenwelt des Hertensteiner Programms um die zukünftige politische Ordnung Europas sorgten, nahmen deshalb die in der OEEC liegenden Chancen nicht wahr. Dies ist umso bemerkenswerter, als das Hertensteiner Programm selbst den planmäßigen Wiederaufbau Europas und die wirtschaftliche Zusammenarbeit, wenn auch gleichsam am Rande erwähnte. Die Europäische Bewegung verstand sich politisch. Es galt die Erfahrungen aufzuarbeiten, daß die europäischen Kriege zwar Elend zurückgelassen hatten, daß aber der psychische Schaden der Zerstörung der Menschen und Völker in der Auseinandersetzung des Nationalismus alles Ökonomische überwog. Zwei Fragen hatten Priorität: Wie konnten Frieden und Sicherheit in und für Europa langfristig gewährleistet werden, und was bedeutete das für die Rolle Deutschlands. Der Kristallisationspunkt für diese Fragen war die These von der notwendigen Föderierung Europas und das deutsch-französische Verhältnis. Letzteres legte gedankliche Verknüpfungen mit ökonomischen Fragen nahe. Die

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Ressourcen von Kohle und Stahl standen symbolisch für die Probleme der Balance in Europa. Churchill wies in seiner Zürcher Rede darauf hin. Er legte aber gleichzeitig den Grund für eine bis heute nicht beendete Diskussion um das Wie der Integration. Seine These, man müsse eine Art Vereinigter Staaten von Europa gründen, war zwar als griffige Formel geeignet, die Notwendigkeit einer Einigung zu umschreiben, verwirrte aber eher, weil der Bezug auf das amerikanische Modell wenig hilfreich war. Zu unterschiedlich war die Ausgangslage in Nordamerika und in Europa. Das reichte bis in den Sprachgebrauch hinein. Im Englischen hatten zentrale Begriffe wie Federation, Union und Unity eine völlig andere Bedeutung als im Amerikanischen. Eine aus Kolonisierung und Dekolonisation sich entwickelnde Staatenföderation in einem Einwanderungsland war etwas grundsätzlich anderes als ein Zusammenschluß von Nationalstaaten, die sich in einer bestimmten historischen Situation auseinander entwickelt hatten, ohne dabei die europäische Identität jemals völlig aufgegeben zu haben. In der Folge beschäftigten sich nunmehr viele kluge und engagierte Europäer damit, ob man eher auf einen Bundesstaat oder einen Staatenbund zusteuere. Die einen wollten den Nationalstaat als Keimzelle des Nationalismus abschaffen, die anderen den Nationalstaat als Quelle der Moderne ( Demokratie, Rechtsstaat) in seinen positiven Erscheirungsformen retten und bewahren. Zahllose Theorien der Integration wurden entwickelt Je nachdem, welcher Theorie man sich anschloß und anschließt, konnte der Prozeß der Einigung Europas positiv, neutral oder negativ bewertet werden. In der Europäischen Bewegung kam es zur Spaltung. Plötzlich standen sich die Föderalisten und die Unionisten unversöhnlich gegenüber Die einen wollten ein supranationales System Europa und die anderen einen funktionalen Zusammenschluß, über den sich eine Kohäsion der Staaten entwickeln sollte. Einige Wortführer der Unionisten nannten sich deshalb auch bald Funktionalisten oder auch Neo-Funktionalisten. Letzteres stand für eine gewisse Kompromißbereitschaft. In der Praxis führte das bald dazu, daß nicht selten die gleichen Akteure die widersprüchlichlichsten Positionen vertraten. Es bestand ein breiter Konsens darüber, daß eine Neuordnung Europas auf der Agenda stand. Wenn es aber darum ging, das Leitbild Europa zu entwerfen, gerieten die Akteure oft mit sich selbst in Widerspruch, weil sie schnell zu Zielsetzungs-, Strategie- und Weltbilddifferenzen kamen, die ihrerseits Integrationsbeschlüsse behinderten. Ein klassischer Fall dieser Art war de Gaulle, dem

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man das von ihm selbst nie gebrauchte Wort vom Europa der Vaterländer nicht ganz zu Unrecht unterstellte. Es war klar, daß mit diesem Modell die Kernfrage französischer Politik, nämlich die Rolle Deutschlands nicht langfristig lösbar sein konnte. Bis heute ist es dabei geblieben. Das Mehr und das Weniger an Integration wird mit den Kategorien gemessen, die ihre Ausformung in der Staatenwelt des 19 Jahrhunderts gefunden haben. Heute könnte vielleicht ein Begriff helfen, den das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem sonst nicht sehr weit tragenden Urteil zum Maastrichtvertrag verwandt hat: Nicht Staatenbund oder Bundesstaat ist die Frage, sondern ein Drittes, Staatenverbund, noch nicht System, sondern erst Prozeß. Die französische Entsprechung wäre "Communaute". Zieht man eine Bilanz der Diskussionen um die Zukunft Europas, so ist im Grunde die größte Überraschung, daß die Integration Europas zwar eine Geschichte immerwiederkehrender Krisen ist, daß aber diese Krisen sich stets auch als Impulse erwiesen, beim erreichten Stand der Integration nicht stehen zu bleiben, sondern zur Vertiefung und Erweiterung dienten. Manchmal aber muß man auch konstatieren, daß angesichts der Hemmnisse es an ein Wunder grenzt, daß man in Europa soweit gekommen ist. Dabei haben exogene Faktoren eine große Rolle gespielt Die politische Balancefrage schien lange gelöst, wenn auch auf der Basis eines brisanten Abschreckungssystemes der Großmächte auf Kosten der Völker, die den Nutzen eines Integrationsprozesses westlicher Art nicht nutzen konnten, weil sie in ein System von Nationalstaaten eingebunden waren, dessen Klammer die Hegemonie einer Großmacht war.

In der ersten Phase der Integration erleichterten auch andere äußere Bedingungen den Prozeß. Das zunächst noch bestehende Währungssystem von Bretton Woods und das atlantische System nahmen bestimmte Problemfelder aus dem eigentlichen Prozeß der Integration heraus. Die allgemeine Weltkonjunktur ließ das Fehlen einer wirtschaftlichen Globalsteuerung nicht deutlich werden. Währungsfragen und die Sicherheit wurden importiert. Nicht, daß diese Fragen damit außerhalb der Diskussion standen, aber sie waren global, und damit konnte man sie weitgehend aus der Integrationsdebatte ausklammern. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wurde deshalb zum Beispiel von den "Europäern" bedauert, hatte sich hier doch die Chance einer politischen Integration angedeutet, sehr beeindruckt aber war man nicht. Man war eben noch nicht so weit, das deutsch-französische politische Verhältnis noch im Werden.

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Und es gab schon den "anderen Weg", der half, auf den Großen Sprung zu verzichten. Dieser "andere Weg" war die Idee der Supranationalität mit einem praxeologischen Ansatz der wirtschaftlichen Integration: Die Montanunion. Dabei wurde von Beginn an ein Mißverständnis hervorgerufen und benutzt, das sich als nützlich und erfolgversprechend erwies. Heute ist es notwendig, da sich die Rahmenbedingungen geändert haben, sich von diesem Mißverständnis zu lösen. Die Notwendigkeit der Integration läßt sich nicht mehr vordergründig plausibel machen mit dem Hinweis auf wirtschaftliches Wachstum und wirtschaftlichen Wohlstand. Heute geht es vielmehr um Umverteilung und politische Ausgewogenheit, dafür genügt der in der Praxis längst widerlegte Hinweis, aus der ökonomischen Tat erwachse quasi die politische Union automatisch nicht mehr. Nicht zufällig besetzten in den 60er und 70er Jahren einige neomarxistische Kritiker der Integration die Positionen der Funktionalisten, die diese Gesetzmäßigkeit des Prozesses der Integration behauptet hatten. Die Initiatoren, besonders Robert Schuman, waren sich dessen bewußt. Nicht ohne Grund kündigte Schuman seinen Plan Adenauer mit der Bemerkung an, es handele sich um einen imminent wichtigen "politischen" Vorschlag. Die Zusammenlegung der Montanindustrien insbesondere Deutschlands und Frankreichs sollten eine Solidarität der Tat schaffen. Monnet hat später gesagt, daß der schöpferische Akt für den Frieden der Welt auch und besser auf der Ebene der Kultur hätte erfolgen sollen. Die Solidarität der Tat, auf welchem Gebiet auch immer, sollte eine Basis abgeben, von der aus man den eigentlichen schöpferischen Akt beginnen sollte, die Schaffung einer Politischen Union. Natürlich fehlte es nicht an kritischen Stimmen für diesen Ansatz. Meist aber gingen diese selbst vom Mißverständnis aus und lösten es nicht auf. Da war die Rede von der Verfestigung des Kapitalismus, vom Europa der Kaufleute und von der sich später tatsächlich entwickelnden - wenn auch meist weit überzeichneten - Herrschaft der Bürokratie. Wie politisch das ganze letztlich gemeint war, zeigte sich an der Auseinandersetzung um die Saar. Hier spielte das Mißverständnis des Mißverständnisses eine große Rolle. Die Einbeziehung der Montanindustrien in die Saarkonventionen nährte den Verdacht, daß zumindest einige Politiker in Frankreich versuchen könnten, im Gefolge dieser Konventionen eben nicht die europäische Lösung anzustreben, sondern eine territoriale Vergrößerung Frankreichs, fern von einer europäischen Lösung. Dieser

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Verdacht ließ sich erst nach der Akzeptanz der Abstimmung an der Saar durch Frankreich zerstreuen. Was die Ruhr anging, sahen einige ebenfalls weniger die solidarische gleichberechtigte Zusammenarbeit als Endzustand, sondern eine auf ökonomischen Einfluß gegründete Rheinbundlösung. Alles das spiegelte das fortbestehende Mißtrauen. Wie hatte Le Monde geschrieben: Die EVG, die wahre Mannschaft der Wehrmacht! Entscheidend aber war, daß das Mißverständnis, die Einigung Europas sei im großen und ganzen eine Frage der wirtschaftlichen Integration, es möglich machte, daß sowohl die Retter des Nationalstaates als auch die Überwind er des Nationalstaates Gelegenheit bekamen, sich als die jeweiligen Sieger zu betrachten. Wenn nur der Gemeinsame Markt funktionierte, blieb der Nationalstaat doch Herr der wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen und selbst Hüter und Vollstrecker der gemeinsam - meist einstimmig - gefundenen Entscheidungen. Alles, was "politisch" war, und damit an die Substanz nationalstaatlicher Souveränität zu gehen drohte, konnte mit Hinweis auf den "Verfassungsrahmen" der EG abgewehrt werden. Das ging bis in -die institutionelle Entwicklung. Neben den Ministerrat trat die EPZ und der Europäische Rat. Man entging so dem Vorwurf, daß man der allgemein verbreiteten Vision von einer neuen Ordnung in Europa, die allein einen dauerhaften Frieden und einen politischen Ausgleich zwischen den Völkern erhoffen ließ, im Wege stand. Die aktive Gleichsetzung des Ökonomischen mit dem Politischen machte das möglich. Es fiel nicht schwer, den Europäern dies klar zu machen. Sie hatten ja gerade die Erfahrung gemacht, daß mit Frieden und Befreiung auch der wirtschaftliche Wiederaufbau eingesetzt hatte. Das zeitliche Zusammenfallen suggerierte die Vorstellung eines notwendigen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Die Folge war, daß man die Integrationsfortschritte fördern konnte, ohne die Gretchenfrage einer Friedensordnung für sich und die Welt, die am Anfang der Entwicklung gestanden hatte, auf die Tagesordnung setzen zu müssen. So kam es dazu, daß die Verwirklichung der fest umrissenen wirtschaftlichen Ziele der Integration eine Erfolgsstory wurde. Teilweise kam es sogar zu einer vorfristigen Erfüllung der im EWG- Vertrag genannten Ziele. Auch im Rahmen des GATT bewegte man sich scheinbar positiv. Die eigentliche Frage nach einer Welthandelsordnung blieb aber ausgespart. Die Überwinder des Nationalstaates wurden sich sehr bald darüber bewußt, daß die wirtschaftliche Integration nicht automatisch zu einer Neuordnung des politischen Europa führen würde. Sie konnten aber ebenfalls die pragmatischen Entwicklungen der EG als Erfolg verbuchen. Aus ihrer Sicht gab es eine Entwicklung der Rechtsgrundlagen der Gemeinschaft,

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die als Prozeß auf das Werden einer Verfassung hinwiesen. So nannte die Versammlung sich selbst Parlament, es gelang sogar, Direktwahlen durchzusetzen. Das ökonomisch Erreichte erlaubte es auch, den Bürgern Europa als einen Raum vielfältiger Verflechtungen und Transaktionen vorzuführen. Aus dem Nebeneinander so grundverschiedener Posititionen ergaben sich aber Friktionen, die in entscheidenden Punkten die Einigung Europas als vordergründigen ökonomischen Prozeß erscheinen ließen, auch dort, wo es um Politik ging. Die einen blockierten Entscheidungen dort, wo der ökonomische Schein - das Mißverständnis - zu verfallen drohte. Gebiete, die im Vorfeld politische Grundentscheidungen erforderlich machten, wurden so nur unzulänglich und letztlich kontraproduktiv angegangen. Dazu gehören die Agrarpolitik, die Währungspolitik und ganz allgemein die Globalsteuerung. Auch entwickelte die Gemeinschaft kein tragfähiges Welthandelskonzept, sondern begnügte sich mit sektoralen Entscheidungen. Die Überwinder lernten schnell, daß die Aufdeckung des Mißverständnisses durch direktes politisches Angehen der Probleme in den meisten Fällen eher die Geister rief, die man gerade loswerden wollte. Es galt, mit List und Geduld das Erreichte zu bewahren, eine Methode, die auch der Gerichtshof anwandte. Wenn es zur Grundsatzdebatte kam, gelang es, von Fall zu Fall das Parlament damit zu befassen. Paradoxerweise erwies sich hier die relative Machtlosigkeit des Parlaments als Vorteil. Da nichts beschlossen werden konnte, war Gefahr der Politisierung unmittelbar nicht im Verzuge. Der Europäische Rat - bewußt außerhalb des eigentlichen institutionellen Gefüges der EG angelegt - mußte schon erheblich unter Druck geraten, um Grundsätzliches zu behandeln. Vielleicht ist Maastricht - die Folge dramatischer Veränderungen des Umfelds der Gemeinschaft - nun wirklich die Wende im unausgesprochenen Streit. Abgesehen von der Verlangsamung und zeitweisen Pervertierung des Entscheidungsprozesses hat das um des Erfolges wegen gepflegte Mißverständnis, das wirtschaftliche sei das Wesentliche, aber auch zu einem Zustand geführt, der zu einer Belastung der Integration im Bewußtsein der Bürger führt. Es ist nicht so sehr die viel beklagte Größe der europäischen Bürokratie - nationale Bürokratien übertreffen die EG dabei erheblich - , sondern ihr Verfahren, daß einseitig auf die Verwirklichung eines Gemeinsamen Marktes ausgerichtet ist ohne Bezug zu einer "Regierung" , die die politischen Vorgaben setzt. Denn aus dem gepflegten Mißverständnis heraus ist auch die Kommission eher Verwaltung denn Regierung. Es ist das Regime pragmatisch handelnder Fachleute, jeder auf seinem Gebiet kundig und erfolgreich, kontrolliert durch einen abgeschotteten Apparat - dem Ministerrat -, der ebenfalls sich hütet, die Grundfragen

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offen zu legen. Wie soll das dem vielzitierten Bürger klar gemacht werden, worum es hier geht und was die Grundlagen der Politik sind? Zieht man eine Bilanz, so hat das Mißverständnis geholfen, Brücken über sonst unüberwindliche Gräben zu bauen. Es hat einen Konsens ermöglicht, ohne den möglicherweise überhaupt nichts an Integration erreicht worden wäre. Die geänderte Weltlage aber macht deutlich, daß dieser Kompromiß nicht mehr trägt und nicht mehr vermittelbar ist. Die Europäische Union muß ihren Erfolg und ihre Attraktivität für Nochnichtmitglieder politisch unterlegen, praktisch zu ihren ursprünglichen Motiven zurückkehren. Maastricht ist dafür ein guter und notwendiger Anfang. Aber der Maastrichtvertrag selbst in seiner Kompliziertheit macht nochmals deutlich, wie schwer es ist, aus dem Mißverständnis auszusteigen, um in einen eindeutigen und notwendigen politischen Prozeß umzusteigen. Gelingt es richt, das Politische seiner für die Vergangenheit in vieler Hinsicht offensichtlich nützlichen Camouflage zu entkleiden, könnte der mit der Strategie des Mißverständnisses zweifellos erreichte Erfolg schneller zunichte werden, als daß die an Wohlstand, Frieden und Einheit vielfältig gewöhnten Bürger dieses Wurmfortsatzes Asiens sich zur Zeit vorstellen können. Es steht ja nicht mehr nur die Frage der Integration Europas im Hinblick auf definierte Interessen auf der Tagesordnung, sondern eine prinzipielle Neuordnung der Staatenwelt mit sich wandelnden Akteuren und vielfach nur im Ansatz bekannten neuen Herausforderungen und Gefahren. Literaturhinweise Adenauer, Konrad: Erinnerungen 1945-1963, Stuttgart 1965-68. Gastgeyer, Curt: EuropazwischenSpaltung und Einigung, 1945-1990, Bonn 1991. Groeben, Hans von der u.a.: Die Europäische Union als Prozeß, Baden-Baden 1980. Hallstein, Walter: Wirtschaftliche Integration als Faktor politischer Einigung, Berlin 1961. - Der unvollendete Bundesstaat, Düsseldorf 1969.

HofJmann, Johannes: Das Ziel war Europa, München 1963. Koppe, Karl Heinz: Das grüne E setzt sich durch, Köln 1967.

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Handelspolitische Aspekte des Binnenmarktprojektes für Europa Von Heike Cloß EG-Binnenmarkt und kein Ende Der Termin 1. Januar 1993 stand für die Vollendung des Binnenmarktes. Als Ziel war er schon lange vorgegeben, nämlich schon 1957 bei Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Als Ziel wird er auch noch nach dem Stichtag 01.01.1993 bestehen bleiben. Geschaffen werden sollte ein Raum ohne Binnengrenzen für Waren, Dienstleistungen, Kapital und die Bürger. Notwendig hierfür war der Abbau der physischen, technischen und steuerlichen Grenzhürden. Um dieses Ergebnis zu erreichen, sah die Kommision in ihrem Weißbuch 280 gesetzgeberische Maßnahmen vor. Mehr als 90 % hiervon wurden bis Ende 1992 verabschiedet.

Das Regelwerk des Binnenmarktes beschäftigt uns auch nach dem 1. Januar 1993 immer wieder aufs Neue. Es bedarf einer ständigen Prüfung, ob die Richtlinien in nationales Recht korrekt umgesetzt wurden. Es wird weitere Ergänzungen oder Änderungen geben, da die Erfahrung zeigt, daß Regelungen auf dem einem Gebiet Regelungen auf anderen Gebieten nach sich ziehen (Spillover-Effect). Das Datum 1. Januar 1993 bedeutete deshalb nicht, daß das Endziel, Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, erreicht wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde ein Zwischenziel erreicht. Das Endziel dagegen wird erst in der Zukunft erreicht sein. Das Datum 1. Januar 1993 war ein Wegweiser in diese Zukunft. Binnenhandelspolitische Aspekte In der nahen Zukunft wird es darum gehen, den auf dem Papier bis jetzt verwirklichten schrankenlosen Binnenmarkt für Verbraucher und Un-

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ternehmer in Europa Wirklichkeit werden zu lassen. Denn nur wenn diese ihre Chancen im Binnenmarkt nutzen, wird das wirtschaftliche Potential der europäischen Marktintegration ausgeschöpft. Wie dieses genau aussieht und worin die exakten Vorteile des Binnenmarktes liegen, wird sich erst noch zeigen müssen. Bisher liegen zwar diesbezügliche Studien vor, sie weichen jedoch zum Teil erheblich voneinander ab. Nimmt man etwa den Cecchini-Bericht über die "Kosten der Nichtverwirklichung Europas" , so entstehen der EG-Wirtschaft durch unterschiedliche technische Vorschriften, abweichendes Gesellschafts- und Steuerrecht Jahr für Jahr Verluste von ca. 200 Milliarden ECU. Durch die Verwirklichung des Binnenmarktes ergäbe sich aus den Schätzungen folgendes Gesamtbild für die Gemeinschaft: deutliche Zunahme der Wirtschaftstätigkeit mit emer BIP-Steigerung in einer Größenordnung von 4,5 % - Dämpfung der Inflationskräfte um durchschnittlich 6,1 % - Entlastung der öffentlichen Haushalte in Höhe von 2,2 % des BIP - Verbesserung der außenwirtschaftlichen Position in einer Größenordnung von rund 1 % des BIP - Schaffung von 1,8 Millionen neuer Arbeitsplätze, wodurch es zu einem Rückgang der Erwerbslosenquote um ungefähr 1,5 % kommen würde. Zu ganz anderen Ergebnissen kommt der Dortmunder Wirtschaftswissenschaftler Ullrich Teichmann. Er beziffert den zu erwartenden Wachstumseffekt auf 0,9 bis 2,7 %, die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze auf 0,2 bis 0,9 %, die inflationsbremsende Wirkung auf allenfalls 1 bis 3,1 %. Gemeinsam ist den Studien, daß sich - unabhängig von den Zahlenangaben - eine grundsätzliche Tendenz als Ergebnis abzeichnet: von dem Binnenmarkt werden positive Impulse auf die wirtschaftlichen Aktivitäten ausgehen. Diese werden allen Mitgliedstaaten zugute kommen und auch außerhalb Europas dazu beitragen können, das wirtschaftliche Wachstum zu stimulieren. Ausgangspunkt der Marktintegration ist der Wegfall der Warenkontrollen an den Binnengrenzen sein. Das Prinzip des freien Warenverkehrs hat nur für Gemeinschaftswaren Geltung haben. Nicht-Gemeinschaftswaren unterliegen dagegen wie bisher der zollamtlichen Überwachung. Ob Waren

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als Gemeinschaftswaren zu behandeln sind oder nicht, wird durch die neue Versand-VO geregelt. Sie stellt eine gesetzliche Vermutung des Rechtsstatuts von Waren als Gemeinschafts- oder Nicht-Gemeinschaftswaren auf. Danach gelten ab dem 1.1.1993 grundsätzlich alle im Zollgebiet der Gemeinschaft beförderten Waren als Gemeinschaftswaren, sofern nicht der Nachweis erbracht wird, daß sie keinen Gemeinschaftscharakter besitzen. Die Beweislast für den Charakter der Nicht-Gemeinschaftswaren dürfte in diesen Fällen bei der Zollverwaltung liegen. Die Vorteile für Gemeinschaftswaren bestanden im Wegfall aller bisher aus Anlaß des grenzüberschreitenden Warenverkehrs erforderlichen Zollformalitäten. Dies betraf die Abfertigung des Warenverkehrs durch die Zollverwaltung, die Verwendung des Einheitspapiers als Anmeldung und die Zollverfahren. Die Zollverwaltung stellen ab 1.1.1993 die Warenabfertigung an den Binnengrenzen ein. Die Grenzzollämter werden bis auf 19 Zollämter, die in Binnenzollämter umgewandelt werden, aufgelöst. Die Aufgabe der Zollämter beschränkt sich künftig auf die zollamtliche Überwachung - des Warenverkehrs mit Drittstaaten - des Warenverkehrs mit verbrauchssteuerpflichtigen Waren (über die Grenzen des deutschen Verbrauchssteuererhebungsgebietes) und - der Einhaltung von Verboten und Beschränkungen für den Warenverkehr über die deutsche Grenze, die nach Artikel 36 EWGV auch noch zukünftig erlassen werden können. Da sich die Gemeinschaft außerdem nicht auf einen Abbau der Personenkontrollen hat einigen können, werden auch noch weiterhin grenz pol izeiliche Kontrollen durchgeführt, soweit nicht das Schengener Abkommen eingreift. Als zusätzliche Erleichterung des Warenverkehrs wird das Einheitspapier als Anmeldung von Gemeinschaftswaren keine Anwendung mehr finden. Bisher hatte jeder Spediteur wegen des Anspruchs auf Entrichtung oder Erstattung der Steuern an den Binnengrenzen der EG anzuhalten und dem Zoll das Einheitspapier mit 64 Einzelpositionen in bis zu achtfacher Ausführung vorlegen müssen. Daß diese Prozedur entfällt, ist ein sichbarer positiver Aspekt des Binnenmarktes. Dadurch werden Lastwagenstaus an den Binnengrenzen künftig vermieden werden. Folge davon sind sowohl Zeit- als auch Kostenersparnisse.

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Da das Einheitspapier zukünftig im Regelfall nicht mehr verwendet wird, kann die statistische Erfassung künftig nicht mehr an den Warenverkehr gekoppelt werden. Sie muß ersetzt werden durch eine Direktmeldung der Anmeldepflicht an die für die Statistik zuständigen Stellen. Es ist notwendig, eine Statistik des Handels zwischen den Mitgliedstaaten aufzustellen, da auch nach 1992 noch nationale Währungssysteme, Unterschiede des Rechts sowie der nationalen Wirtschaftspolitiken bestehen. Will man Analysen über die eigene internationale Wettbewerbsfähigkeit, die Import- oder Exportabhängigkeit bei einzelnen Gütern oder Branchen erstellen, dann ist eine statistische Erfassung der innergemeinschaftlichen Warenströme notwendig. Durch diese statistische Verpflichtung erwachsen der deutschen Wirtschaft keine zusätzlichen Belastungen. Durch die Einführung umsatzbezogener Schwellen wird eine große Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen, die bisher grundsätzlich jede ihrer Warensendungen über die Grenze anzumelden hatten, künftig von ihrer Meldepflicht befreit. Hier gilt die Mehrwertsteueranmeldung zugleich als statistische Anmeldung. Aber auch die Unternehmen, die weiterhin einer Meldepflicht unterliegen, müssen weniger Daten als bisher dem statistischen Bundesamt übermitteln. Hiervon betroffen sind in der Gemeinschaft etwa 20 Prozent der Unternehmen, auf die rund 90 Prozent des innergemeinschaftlichen Handels entfallen. Die Meldung selbst muß nicht mehr pro Warensendung abgegeben werden, sondern es genügt in vielen Fällen eine nach übereinstimmenden Merkmalen zusammengefaßte Meldung. Für die Überprüfung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben wird ein Kontrollsystem eingerichtet, sei es ein eigenes Statistikregister oder das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen, das für statistische Zwecke nutzbar gemacht wird. Zu diesem Zweck enthielt jeder innnergemeinschaftliche Marktteilnehmer eine besondere Kennummer zugeteilt. Die Finanzämter vermitteln dem Statistischen Bundesamt vierteljährlich Verzeichnisse der Mehrwertsteuerpflichtigen, die während dieses Zeitraumes erklärt haben, Käufe oder Verkäufe getätigt zu haben mit Angabe der Steuerumsätze und gegebenenfalls mit weiteren Angaben, die die Qualität der Statistik verbessern können. Ein weiteres zentrales Anliegen der Verwirklichung des Binnenmarktes war die Beseitigung der Steuergrenzen. Die steuerlichen Vorschriften der Artikel 95 bis 99 EWGV bezwecken den Abbau steuerlicher Diskriminierungen und von Steuergrenzen zur Errichtung des Binnenmarktes. Während Artikel 95 und 96 EWGV ein Diskriminierungsverbot in bezug auf Ein- und Ausfuhrabgaben enthalten, beinhaltet Artikel 99 EWGV ein Hamonisierungsgebot der indirekten Steuern. Aufgrund dieses Harmonisierungsgebotes hat der Rat seit 1957 mehrere Richtlinien zur Harmonisie-

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rung der Umsatzsteuer erlassen. Ein vorläufiger Schlußpunkt unter diese Harmonisierungsbewegung ist das Übergangssystem für die Umsatzsteuer, das vom 1.1.93 bis zum 31.12.1996 gelten soll. Das Übergangssystem ist durch folgende Grundsätze gekennzeichnet: 1. Beseitigung aller Grenzkontrollen Alle Grenzübergangsformalitäten entfallen damit, und die Steuerschuld wird nicht mehr durch die Überschreitung der Grenze begründet. 2. Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip Für kommerzielle innergemeinschaftliche Lieferungen wird das Bestimmungslandprinzip Geltung haben, und zwar nicht mehr aufgrund des Steuertatbestandes "Einfuhr", sondern aufgrund des "Erwerbs" der Waren im Bestimmungsland. Der Erwerb wird dabei definiert als Erlangung des Rechts, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen, welcher durch den Verkäufer oder den Erwerber oder für ihre Rechnung nach einem anderem Mitgliedsstaat versandt oder befördert wird. Als Ort der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen gilt der Ort, an dem die Gegenstände eintreffen. Der Erwerber schuldet die Mehrwertsteuer im Gebiet des Mitgliedstaates, der ihm die MehrwertsteuerIdentifikationsnummer ausgestellt hat. Dieser Mitgliedsstaat trifft geeignete Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung. 3. Besteuerung nach dem Ursprungslandprinzip Beim privaten Reiseverkehr gilt das Ursprungslandprinzip, d.h. die Waren bleiben mit der Steuer des Ausfuhrlandes belastet. Für den Bürger bedeutet dies, daß er im Mitgliedsstaat seiner Wahl die nach den dortigen Vorschriften besteuerten Waren frei kaufen und in seinem Wohnsitz-Mitgliedsstaat frei verwenden kann. Damit sind die früher geltenden Freibeträge für Reisende weggefallen. Der Binnenmarkt wird dadurch für den Bürger klar erkennbar. Die neue Regelung wird für die Unternehmen insbesondere mit folgenden Verpflichtungen einhergehen: ein exportierendes Unternehmen, das Anspruch auf Befreiung von der heimischen Umsatzsteuer erhebt, muß jede Einzellieferung in ein anderes Mitgliedsland registrieren und nachweisen. Alle drei Monate muß es seinem Finanzamt eine Liste mit sämtlichen grenzüberschreitenden Transaktionen übermitteln. Außerdem müssen sich grenzüberschreitend tätige Unternehmen künftig über UmsatzsteuerIdentifikationsnummern ihrer Kunden informieren. Für die Unternehmen bedeutet dies, daß sie in Zukunft zwischen Inlandsumsätzen sowie Ausfuhren in andere Mitgliedstaaten und auch Exporte in andere Länder außerhalb der Gemeinschaft unterscheiden müssen. Kritiker meinen hierzu, 6 Timmermann

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daß dem Unternehmen dadurch zu viele Verpflichtungen auferlegt werden würden. Dagegen kann man jedoch folgendes halten: Die Großunternehmen werden weniger Schwierigkeiten haben, weil die Datenübermittlung, einmal programmiert, im hauseigenen Computer mitläuft. Problematischer wird es werden für die kleineren und mittleren Unternehmen. Auch hier wird jedoch nicht ausgeschlossen, daß sich die Unternehmen nach einer Eingewöhnungszeit rasch mit dem Datenaustausch anfreunden werden. Zur Schaffung eines Binnenmarktes ist ebenfalls erforderlich, daß die bestehenden technischen Schranken beseitigt werden. Technische Schranken für den Warenverkehr ergeben sich insbesondere daraus, daß die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unterschiedliche Beschaffenheitsanforderungen an Erzeugnisse zum Schutze der Verbraucher, Arbeitnehmer, Umwelt oder der Lauterkeit des Handelsverkehrs vorschreiben. Hinzu kommen gewichtige Unterschiede bei den nationalen Systemen zur Durchsetzung und Kontrolle der nationalen technischen Vorschriften. Mit den nationalen technischen Gesetzgebungen sind die Normen als Regelwerte der freiwilligen Gesetzgebung eng verzahnt. Die Ausrichtung der nationalen Rechtsordnungen und Systeme auf die Gegebenheiten und das Territorium jedes einzelnen Mitgliedstaates - unabhängig von der Situation im Nachbarland - führt zwangsläufig dazu, daß dem innergemeinschaftlichen Warenverkehr technische Schranken auferlegt werden. Um diese Schranken zu überwinden, hat die Kommission ein neues Konzept entwickelt. Dabei handelt es sich um folgende Grundsätze: 1. Harmonisierung In wichtigen Sektoren wurden die nationalen Schutzgesetze durch Gemeinschaftsrecht harmonisiert und damit EG-weite Rahmenbedingungen für den freien Warenverkehr geschaffen. Die Harmonisierung der Rechtsvorschriften beschränkt sich auf die Festsetzung der Gesundheits- und Sicherheitvorschriften oder anderen Anforderungen im Interesse des Gemeinwohles. Harmonisierung bedeutet dabei die Festlegung gemeinschaftlicher technischer Anforderungen und Zertifizierungsverfahren durch die EG-Harmonisierungsrichtlinie. 2. Auftrag an europäische Normungsorganisationen Den europäischen Normungsorganisationen CENjCENELEC wurde die Aufgabe übertragen, europäische Normen zu erstellen, die die nötigen technischen Einzelheiten enthalten, bei deren Befolgung die Produkte den grundlegenden Sicherheitsanforderungen der jeweiligen EGHarmonisierungsrichtlinie entsprechen.

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3. Gegenseitige Anerkennung In den nicht harmonisierten Bereichen gilt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Die in in Cassis de Dijon-Rechtssprechung vom EuGH entwickelte Auslegung zu Artikel 30 EWGV bildet den Ausgangspunkt für den Grundsatz, daß ein in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft rechtmäßig hergestelltes und in Verkehr gebrachtes Erzeugnis in aller Regel auch in den übrigen Mitgliedstaaten zugelassen werden muß. 4. Freiwilligkeit der Normierung Die Anwendung der europäischen Normen bleibt freiwillig. Der Hersteller kann also auch von den Normen abweichen. Auf jeden Fall muß er jedoch die grundlegenden Sicherheits anforderungen der jeweiligen EG-Harmonisierungsrichtlinie einhalten. In diesem Fall liegt die Beweislast für die Einhaltung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen bei ihm. Hat er sein Produkt dagegen nach einer festgelegten CENjCENELEC-Norm produziert, besteht die Beweisvermutung, daß die wesentlichen Sicherheitsanforderungen der Richtlinie erfüllt sind. Die Mitgliedstaaten gehen von der Einhaltung der grundlegenden Anforderungen aus, wenn das Produkt mit dem CE-Zeichen versehen ist. Dieses Zeichen bestätigt, daß das Produkt den Anforderungen der jeweiligen Richtlinie entspricht. Binnenmarkt und EU-Außenhandel Das Regelungssystem des Binnenmarktes hat nach seiner Zweckbestimmung nur den Freiverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zum Gegenstand. Nicht geregelt werden dagegen die Beziehungen der Gemeinschaft zu Drittstaaten. Jedoch zieht der Abbau der innergemeinschaftlichen Grenzen unweigerlich auch Konsequenzen für den Außenwirtschaftsbereich nach sich. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Binnenmarkt es mit sich bringt, daß eine Festung Europa aufgebaut wird. Vielmehr können Drittlandsunternehmen über eine Niederlassung in einem einzigen Mitgliedstaat gemeinschaftsweit Dienstleistungen anbieten. Die Vision der "Festung Binnenmarkt", die Drittländer schreckt, entbehrt daher der rechtlichen Substanz. Vielmehr gilt für Drittlandsunternehmen ebenso wie für Unternehmen in der Gemeinschaft, daß der Binnenmarkt ihnen neue Betätigungsfelder eröffnet.

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Geld- und Währungspolitik in der EU Der Weg zur Europawährung Von Adalbert Winkler Einleitung Die Diskussion um die vorgesehene einheitliche Europawährung beherrscht die Schlagzeilen und Überschriften nicht nur der einschlägigen Fachzeitschriften, sondern auch der Tages-, ja sogar der Boulevard-Presse. Die Schärfe der Auseinandersetzung ist insofern überraschend, weil im Vertrag von Maastricht Überlegungen konkretisiert und festgelegt werden, die spätestens seit dem Werner-Plan aus dem Jahr 1970 bekannt sind, als zum erstenmal eine Währungsunion in Europa offiziell diskutiert wurde. Nach einer kurzen historischen Darstellung europäischer Geld- und Währungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg (Abschnitt 2), werden die Argumente pro und contra europäischer Währungsunion erläutert und bewertet (Abschnitt 3). Eine Analyse der EWS-Krise im Herbst 1992 und ihrer Auswirkungen auf den Prozeß der monetären Integration in Europa schließt den Beitrag ab. Von Bretton Woods nach Maastricht Bretton Woods: Die EG ohne Geld- und Währungspolitik

Während zur Zeit monetäre Probleme und Fragestellungen die Integrationsdiskussion in Europa dominieren, beschränken sich die entsprechenden Formulierungen in den Römischen Verträgen von 1957 auf einige, allgemein gehaltene währungspolitische Regelungen.! Mehr war auch nicht notwendig, da mit dem Festkurssystem von Bretton Woods, 1944 begründet, ein internationales Währungssystem existierte, das auch in den Mitgliedstaaten der EG Wirtschaftswachstum, Stabilität und eine starke Ausweitung lVgl. die Beiträge von E. Gaddum und H. Krägenau zum Europäischen Währungssystem bzw. zur EG-Wirtschaftspolitik in: E. Weidenfeldj W. Wesseis (Hrsg.), Europa von A-Z, 3. erw. Aufl., Bonn 1996.

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des Handelsvolumens förderte. 2 Nach dem Abkommen von Bretton Woods war jedes Mitgliedsland verpflichtet, mit dem Internationalen Währungsfonds für seine Währung eine Parität in einern Goldgewicht oder gegenüber dem US-Dollar zu vereinbaren und diese innerhalb einer Bandbreite von ± 1 % (ab 1971: ± 2,25 %) zu verteidigen. Man spricht von einern asymmetrischen Festkurssystem, weil das Leitwährungsland, die Vereinigten Staaten, nicht der Pflicht unterlagen, zugunsten stabiler Wechselkurse an den Devisenmärkten zu intervenieren. Das System geriet in Schwierigkeiten und scheiterte schließlich, als die USA zur Finanzierung des Vietnam-Krieges eine inflationäre Politik verfolgten. An den Devisenmärkten, insbesondere am deutschen Devisenmarkt, geriet die amerikanische Währung deshalb unter starkem Druck. Da die Deutsche Bundesbank verpflichtet war, den Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar stabil zu halten, mußte sie verstärkt US-Dollar ankaufen, d.h. D-Mark abgeben. Dies bedeutete, daß die Bundesbank weder den Zins noch die Geldmenge an binnenwirtschaftlichen Notwendigkeiten ausrichten konnte. Steigende Inflationsraten - auch in Deutschland - verdeutlichten, daß binnen- und außenwirtschaftliche Stabilität nicht mehr zu vereinbaren waren, ein Zielkonflikt zwischen Geld- und Wechselkurspolitik gegeben war. Im Frühjahr 1973 spitzte sich dieser Konflikt dramatisch zu. Innerhalb von fünf Wochen mußte die Bundesbank US-Dollar im Wert von 20 Mrd. DM ankaufen. Der Tagesgeldsatz sank auf unter 3 %, obwohl die Inflationsrate über 7 % betrug. Im März wurde der Konflikt zugunsten der binnenwirtschaftlichen Stabilität gelöst: Das Bretton Woods-System brach zusammen, und gegenüber dem US-Dollar, dem Yen und dem Schweizer Franken - um die wichtigsten Währungen zu nennen - gibt es seit dem flexible Wechselkurse. Flexible Wechselkurse und europäische Integration

Mit dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen sollten zwei Ziele erreicht werden: 1. Wechselkursänderungen sollten als Anpassungsinstrument bei außenwirtschaftlichem Ungleichgewicht dienen. Die Überlegung lautet, daß z.B. ein Leistungsbilanzüberschuß ein Nachfrageüberschuß nach heimi2 Als Ergänzung sei erwähnt, daß in Form der Europäischen Zahlungsunion (1950 1958) und des Europäischen Währungsabkommens (1959 - 1972) durchaus europäische Währungspolitik praktiziert wurde. Den institutionellen Rahmen stellte jedoch nicht die EG, sondern die OECD.

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scher Währung darstellt, bzw. einen Angebotsüberschuß in ausländischer Währung. Wie auf jedem anderen Markt ist es Aufgabe des Preises, z.B. Dollar pro D-Mark, Angebot und Nachfrage wieder zum Ausgleich zu führen. 3 Bei einem deutschen Leistungsbilanzüberschuß sollte der Preis der D-Mark in Dollar steigen, d.h. die D-Mark aufwerten. Die Aufwertung verteuert deutsche Exporte in die USA, reduziert die Importnachfrage in den USA und damit die Nachfrage nach D-Mark. Dagegen können amerikanische Güter in Deutschland billiger angeboten werden, in Deutschland steigt die Importnachfrage und damit die Nachfrage nach US-Dollar. Der Leistungsbilanzüberschuß der Bundesrepublik wird durch den Wechselkursmechanismus abgebaut, die Anpassung an ein neues Gleichgewicht vollzogen. 2. Flexible Wechselkurse sollten es allen Staaten erlauben, ihre Geld- und Fiskalpolitik an den binnenwirtschaftlichen Notwendigkeiten und Interessen, d.h. an der Inflations-, Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung zu orientieren, ohne außenwirtschaftlichen Zwängen zu unterliegen. Der Einsatz von Geld- und Fiskalpolitik zur Verteidigung eines bestimmten Wechselkurses sollte der Vergangenheit angehören. Flexible Wechselkurse galten als das Mittel, mit dem jedes Land seine eigene Vorstellung von monetärer Stabilität verfolgen kann, ohne die Folgen der eigenen Fehler dem Nachbarn aufzubürden oder unter deren Fehlern zu leiden. 4

In Europa fanden die Argumente für flexible Wechselkurse ein überaus skeptisches Publikum. Geargwöhnt wurde, daß bei außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten die Anpassung über den Wechselkurs keineswegs so rasch und reibungslos verlaufen würde, wie es die Befürworter flexibler Kurse behauptet hatten. 5 Tatsächlich wurde die Vorstellung, daß bereits kleine Wechselkursänderungen Zahlungsbilanzgleichgewicht wiederherstellen würden, von der Realität schnell widerlegt. Vielmehr waren die Wechselkursausschläge so groß, daß sie nicht mehr als Ergebnis von Veränderungen fundamentaler Wirtschaftsdaten, z.B. der Entwicklung des Inflationsgefälles zwischen Ländern, interpretiert werden konnten. Bald sprach man vom "over-shooting", d.h. einer Überreaktion, auf den Devisenmärkten. In den achtziger Jahren wurde - gerade in bezug auf den US-Dollar 3Vgl. H.G. Johnson, The Case for Flexible Exchange Rates, 1969, in: H.G. Johnson, Further Essays in Monetary Economics, insb. S. 207 f. 4Vgl. M. Friedman, The Case for Flexible Exchange Rates, in: R. Gavej H. Johnson, Readings in International Economics, Homewood 1968, S. 413 - 436. 5Vgl. die Äußerungen von F. Machlup in: R. McKinnon, Floating Exchange Rates 1973 - 74: The Emperor's New Clothes, in: K. Brunnerj A. Meltzer (eds.), Institutional Arrangements and the Inflation Problem, Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy, Amsterdam, North-Holland 1976, S. 81.

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- über "spekulative Seifenblasen" an den Devisenmärkten diskutiert. Zudem wurden die Zahlungsbilanzungleichgewichte keineswegs beseitigt. Im Gegenteil: Seit 1973 nahmen die Salden in den Leistungsbilanzen, man denke an die USA, Deutschland und Japan, zu. Die Instabilität der Wechselkursentwicklung galt zudem als ein nicht zu unterschätzendes Hindernis auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Markt; denn eine optimale Allokation der Ressourcen ist nur möglich, wenn die Marktteilnehmer in der Lage sind, mit hinreichender Sicherheit vorauszusehen, in welche Richtung sich relative Preise entwickeln werden. Erratische, nicht vorhersehbare Wechselkursschwankungen wirken kontraproduktiv, weil sie die Lenkungsfunktion der relativen Preise beeinträchtigen. Dazu ein Beispiel aus den siebziger / achtziger Jahren: "Bei einem Dollarkurs von DM 1,70 waren VW-Automobile in den USA unverkäuflich. Zur Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit wurde die Montage teilweise in die USA verlagert. Bei einem Dollarkurs von DM 2,30 und darüber war es aber wieder lohnend geworden, Autos in Wolfsburg zusammenzubauen und zu verschiffen. Die Reaktion war: Entlassungen und Kurzarbeit in Montagewerken des VW-Konzerns in den USA .... Im Ergebnis zeigt sich, daß unternehmerische Entscheidungen durch rasch reversible Schwankungen realer Wechselkurse fehlgeleitet werden können, mit abträglichen Konsequenzen für die Produktion und für die Beschäftigung."6 Unternehmen werden aus diesen Risiken den Schluß ziehen, den Preissignalen bei ihren Produktions- und Investitionsentscheidungen weniger Bedeutung beizumessen. Dies behindert die Integration von Volkswirtschaften, damit ein Hauptziel der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten, und kann langfristig nur zu Ineffizienzen und Wachstumsverl usten führen. 7 Aber auch der vermeintliche Vorteil flexibler Wechselkurse, autonome Makropolitiken, d.h. Geld-, Fiskal- und Einkommenspolitiken, zu erleichtern, steht im Widerspruch zu den Zielen des EWG-Vertrages. In Artikel 105 heißt es, daß die Mitgliedstaaten ihre Wirtschafts- und Währungspolitik mit Blick auf gemeinsame Ziele koordinieren wollen. Dies bedeutete, daß die EG-Mitgliedsstaaten, die eine Vereinheitlichung ihrer gesamtwirtschaftlichen Politiken und den gemeinsamen Markt anstrebten, den Übergang zu flexiblen Wechselkursen in Europa unbedingt verhindern wollten. 6 W. File, Internationale Wirtschafts- und Währungsprobleme: Floating, Arbeitslosigkeit und Geldpolitik, in: Kredit und Kapital, 16. Jg., No. 1, 1983, S. 86 f. 7Vgl. A. Herrmann, Wechselkursrisiko und Außenhandel, in: W. File; C. Köhler (Hrsg.), Kooperation, Autonomie und Devisenmarkt, Berlin 1990, S. 145 - 168.

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Von der Europäischen Währungsschlange zum Europäischen Währungssystem

Bereits als innerhalb des Bretton Woods-Systems die Bandbreiten von ± 1 % auf2,25 % gegenüber dem Dollar erweitert wurden, beschlossen die europäischen Staaten, ihre Währungen nur um 1,25 % gegenüber dem Dollar schwanken zu lassen, um die maximale Abweichung zwischen den europäischen Währungen von 4,5 % auf 2,25 % zu begrenzen. Man sprach von der europäischen Währungsschlange, die sich im Bretton Woods-'funnel bewegte. Es zeigte sich allerdings, daß Frankreich, Großbritannien, Italien und Irland noch nicht bereit waren, der Stabilitätspolitik der Bundesbank zu folgen, d.h. eine gemeinsame, auf die Stabilität ausgerichtete Wirtschaftspolitik zu betreiben. Sie traten deshalb aus der Schlange aus, Frankreich sogar zweimal. Die Folge: Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den EG-Staaten verlief immer ungleichmäßiger, insbesondere die Inflationsentwicklung. Der Intra-EG Handel - gemessen am gesamten Außenhandel der EG-Lander - stagnierte. 8 Von einer Entwicklung in Richtung Wirtschafts- und Währungsunion, wie noch im Werner-Plan von 1970 angestrebt, war die EG meilenweit entfernt. Die Erfahrungen des Bretton-Woods-Systems und der Europäischen Währungsschlange lauteten deshalb: Ein Währungssystem auf der Basis fester Wechselkurse bedarf eines Konsenses zwischen den Mitgliedsländern mit Blick auf die gesamtwirtschaftlichen Ziele, insbesondere des Ziels Preisniveaustabilität. Ein erster Schritt in diese Richtung war der Weltwirtschaftsgipfel in London im Mai 1977, der die Stabilität als Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und Vollbeschäftigung hervorhob. Insbesondere Frankreich war nun zu einer stabilitätsbewußten Politik bereit. Es war daher nur folgerichtig, daß das EWS einer Initiative des französischen Präsidenten Giscard d'Estaing und des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt entsprang. Im Dezember 1978 wurde es vom Europäischen Rat verabschiedet, am 13. März 1979 trat es in Kraft. Das Europäische Währungssystem

Es würde zu weit führen, die technischen Regularien des EWS im Detail darzustellen 9 ; statt dessen soll auf einen wichtigen Unterschied zwi8Vgl. W. File, Europäische Geld- und Währungspolitik nach vollständiger Liberalisierung des Kapitalverkehrs, Berlin 1989, S. 9. 9Eine kurzen Überblick gibt z.B. R. Hasse, Das Europäische Währungssystem: Gebändigte Regeln, in: WISU, Nr. 4, 1985, S. 201 - 206.

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schen Konstruktion und Praxis aufmerksam gemacht werden. lO Konzipiert war das EWS als kooperatives Festkurssystem, d.h. jedes Teilnehmerland sollte mit gleichem Gewicht an geld- und währungspolitischen Entscheidungen beteiligt werden, die das System betreffen. Garant hierfür sollte die Korbkonstruktion der ECU, der Europäischen Währungseinheit, sein, die ausschließt, daß Leitkursänderungen ohne den Konsens aller Teilnehmerländer vorgenommen werden. Außerdem war als Regelfall symmetrische Interventionen an den Bandbreiten vorgesehen. Das heißt: Gerät z.B. der französische Franc am deutschen Devisenmarkt an den unteren Interventionspunkt, ist nicht nur die Banque de France, sondern auch die Deutsche Bundesbank verpflichtet, über Verkauf von D-Mark bzw. Kauf von französischen Franc den Wechselkurs innerhalb der vorgeschriebenen Bandbreiten zu halten. Beides ist so nicht praktiziert worden. Zwar gilt der ECU immer noch als Bezugspunkt für die Leitkurse des EWS, aber tatsächlich wurde bei einer Neufestsetzung der Wechselkurse immer so verfahren, daß zunächst bilaterale Leitkurse, z.B. D-Mark gegenüber Lira, ausgehandelt wurden, und erst dann nach dem passenden ECU-Kurs gegenüber den verschiedenen EWS-Währungen gesucht wurde. Symmetrische Interventionen an den Bandbreiten sind auf Krisenzeiten beschränkt, z.B. im September/Oktober 1992. Im Regelfall werden sogenannte intramarginale Interventionen getätigt, d.h. Zentralbanken intervenieren an den Devisenmärkten, bevor die Interventionspunkte erreicht werden. Hier zeigt sich aber eine eindeutige Asymmetrie; denn Interventionen werden von jenen Ländern getätigt, die gemeinhin als Peripherie-Länder bezeichnet werden, das sind alle EWS-Länder außer der Bundesrepublik Deutschland. Konkret bedeutet dies, daß in Zeiten stabiler Wechselkurse Zentralbanken der Peripherie-Länder D-Mark erwerben, um für den Fall einer Kursschwäche ihrer Währung über D-Mark Verkäufe unterstützend eingreifen zu können, noch bevor der untere Interventionspunkt erreicht ist. Die Deutsche Bundesbank ist daher weitgehend von Interventionszwängen befreit, d.h. kann ihren geldpolitischen Kurs festlegen, ohne auf die Stabilisierung der Wechselkurse innerhalb der Bandbreiten Rücksicht nehmen zu müssen. Umgekehrt besteht die Rolle der Geldpolitik in den PeripherieLändern nur noch darin, den Wechselkurs gegenüber der D-Mark stabil zu halten. Betreibt die Deutsche Bundesbank eine restriktive Geldpolitik, z.B. indem sie die Leitzinsen erhöht, dann folgen die Peripherie-Länder unmittelbar, um die Stabilität der Wechselkurse nicht zu gefährden. Dies ist praktisch die Definition eines Festkurssystems mit Leitwährung bzw. der IODie folgenden Ausführungen lehnen sich eng an W. File, Bilanz des EWS, unveröffentlichtes Manuskript, Bonn 1991.

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Rolle von Leitwährungs- und Peripheriezentralbank(en)Y Die Deutsche Bundesbank hat daher maßgeblichen Einfluß auf Produktion und Preisniveaustabilität in Europa. Statt eines neuartigen, auf Kooperation angelegten Festkurssystems ist aus dem EWS eine europäische Kleinausgabe des Bretton Woods-Systems mit der D-Mark als Leitwährung geworden. Trotz diesen von den Gründungsvätern so nicht beabsichtigten Entwicklungen wurden die positiven Erwartungen, die in das EWS gesetzt wurden, erfüllt. 12 Ohne erratischen Schwankungen ausgesetzt gewesen zu sein, folgten - bis 1987 - die Wechselkurse annähernd den Inflationsdifferenzen zwischen den Mitgliedsstaaten. Der innereuropäische Handel gemessen am Anteil der Exporte der EG-Staaten in Prozent ihrer Gesamtexporte - nahm weiter zu. 13 Diese Entwicklungen vollzogen sich außerdem vor dem Hintergrund einer Konvergenz wichtiger makroökonomischer Variablen. Insbesondere im monetären Bereich, bei der Preisniveau- und Zinsentwicklung, sind die Konvergenzerfolge eindeutig, während z.B. bei der Lohn- und Fiskalpolitik nach wie vor Defizite festzustellen sind. Zu bedenken ist allerdings - gerade mit Blick auf den Vertrag von Maastricht und die angestrebte Währungsunion -, daß das EWS-Regelwerk für diese Politiken keinen unmittelbaren oder mittelbaren Konvergenzzwang ausüben konnte - im Gegensatz zur Geldpolitik. Im Vergleich zu den enttäuschenden Erfahrungen mit flexiblen Wechselkursen sowie den skeptischen Erwartungen, die die Gründung des EWS begleiteten (so wurde u.a. die Entstehung einer Inflationsgemeinschaft befürchtet), konnte man Ende der achtziger Jahre getrost von einer Erfolgsstory reden. 14 Unter diesen Bedingungen gewannen die Pläne für eine europäische Währungsunion wieder an Aktualität und wurden schließlich im Vertrag von Maastricht verbindlich formuliert.

llVgl. o. Issing, Leitwährung und internationale Währungsordnung, Berlin 1965, S. 136 f. 12Vgl. W. File, Europäische Geld- und Währungspolitik nach vollständiger Liberalisierung des Kapitalverkehrs, Berlin 1989, insb. S. 8 fr.; sowie H. Ungerer; O. Evans; T. Mayer; P. Young, The European Monetary System: Recent Developments, IMF Occasional Paper No. 48, Washington 1986. 13 V gl. Bundesministerium für Wirtschaft, Die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes 1992, Bonn 1991, S. 10. 14 Goodhart spricht von einem "comparative success of the EMS in recent years"; vgl. C. Goodhart, Economists' perspectives on the EMS, in: Journal of Monetary Economics, Vol. 26, 1990, S. 471 - 487.

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Die Europäische Währungsunion und der Vertrag von Maastricht

Handelspolitische Vorteile einer einheitlichen europäischen Währung

Mit einer einheitlichen europäischen Währung werden die Vorteile fester gegenüber flexiblen Wechselkursen weiter ausgebaut. Dabei ist es sinnvoll, zwischen statischen und dynamischen Vorteilen zu unterscheiden. 15 Statische Gewinne kennzeichnen Einsparungen, die sich durch den Wegfall von Transaktionskosten beim Währungsumtausch und heute noch erforderlicher Kurssicherung von Fremdwährungsgeschäften ergeben. Die Transaktionskosten bei Fremdwährungsgeschäften der Unternehmen werden auf etwa 1 % des Handelsvolumens geschätzt, bei privaten Haushalten mögen die Kosten etwa 2 - 3 % betragen. Zählt man zusammen, so können sich für alle EG-Lander zusammengenommen Kostenvorteile ergeben, die, bei großzügiger Schätzung, vielleicht 10 oder 15 Mrd ECU im Jahr ausmachen. Deutlich wird, daß diese Gewinne aus der Währungsunion für sich genommen kein hinreichendes Argument für eine einheitliche Europawährung sein können. Würde wegen der Währungsunion in Deutschland die durchschnittliche Inflationsrate um nur einen Prozentpunkt steigen, so würden die privaten Haushalte in Westdeutschland, die gegenwärtig ein Geldvermögen in Höhe von rd. 3 Bio DM besitzen, einen Realwertverlust von 30 Mrd DM erleiden - und das Jahr für Jahr. Daraus folgt, daß eine einheitliche Europawährung nicht akzeptabel sein kann, wenn sich hieraus in vergleichsweise preisstabilen Ländern ein Inflationsauftrieb ergibt. Die dynamischen Gewinne resultieren aus der endgültigen Beseitigung von Wechselkursrisiken, die die effiziente Allokation der Produktion und die Entstehung optimaler Handelsstrukturen behindern. Insofern ist die Europawährung die zwangsläufige und logische Komplettierung des europäischen Binnenmarktes. Seit den Beschlüssen von Maastricht wird jedoch argumentiert, daß der europäische Binnenmarkt durchaus auch ohne Gemeinschaftswährung auskommen könne. Es ist sicher richtig, daß feste Wechselkurse, wie im EWS, integrationsfördernd sind. Nicht richtig ist es aber, feste Wechselkurse mit der Möglichkeit jederzeitiger Anpassung von Leitkursen mit einer Einheitswährung gleichzusetzen. Unsicherheit ist ein Handelshemmnis. Mit Hilfe des Ellsberg-Paradoxon kann dies verdeutlicht werden. Daniel ElIsberg beschreibt ein Experiment 15Vgl. zu den folgenden Ausführungen W. File, Volkswirtschaftliche Grundlagen der europäischen Währung, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1992.

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in Form eines Glückspiels. Das Spiel wird Versuchspersonen in zwei Versionen angeboten. Gemeinsam haben beide Ausprägungen, daß eine Kugel aus einer Urne mit schwarzen und weißen Kugeln gezogen wird, nachdem die Versuchsperson auf eine Farbe gesetzt hat. Wird die gewählte Farbe gezogen, so erhält die Person einen Geldpreis. Der Unterschied zwischen beiden Ausprägungen besteht darin, daß den Versuchspersonen bei dem einen Spiel bekannt ist, daß das Mischungsverhältnis der schwarzen und weißen Kugeln 1:1 ist, während in dem anderen Spiel keine Kenntnis über das Mischungsverhältnis besteht. Praktisch alle Versuchspersonen haben das Spiel vorgezogen, bei dem das Mischungsverhältnis bekannt ist. Selbst dann, wenn den Spielbeteiligten in der zweiten Version des Spiels mit unbekanntem Mischungsverhältnis die Möglichkeit eingeräumt wird, die Farbe, auf die sie setzen, durch einen Münzwurf zu bestimmen, bleibt die eindeutige Präferenz für die Urne mit bekanntem Mischungsverhältnis erhalten. Das ist inkonsistent, also irrational bzw. paradox, weil beide Spiele eine Gewinnchance von 50 % haben. Bei rationalem Verhalten sollte deshalb keine Präferenz für eine der beiden Versionen dieses Spiels bestehen, einfach deshalb nicht, weil hierfür kein rationaler Grund besteht. Tatsächlich akzeptieren die Versuchspersonen dies auch, wenn es ihnen erklärt wird. Dieses Paradoxon ist ein Beispiel für ausgeprägte Risikoaversion. Es ist natürliches menschliches Verhalten, wenngleich mit den üblichen Rationalitätsvorstellungen nicht zu erklären, daß Aktionen in Kenntnis der Umstände Tätigkeiten in einem unsicheren Umfeld vorgezogen werden, auch dann, wenn objektiv keine Unterschiede zwischen beiden Szenarien bestehen. Es ist daher nicht gleichgültig, ob Leitkurse zwischen nationalen Währungen dauerhaft fixiert sind, wie das im EWS seit Jahren der Fall ist, oder ob eine Gemeinschaftswährung besteht. Objektiv gleiche Umstände können sich von subjektiven Einschätzungen unterscheiden. Das heißt: die subjektive Einschätzung der Möglichkeit von Leitkursanpassungen im EWS kann, auch wenn sie rational nicht zu begründen sein mag, länderübergreifende ökonomische Aktivitäten behindern. Erst eine Einheitswährung wird dieses Hindernis für die Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung zwischen EG-Ländern beseitigen. Gesamtwirtschaftliche Konsequenzen einer einheitlichen Europawährung

Die Sorge um die binnenwirtschaftliche Stabilität in der Währungsunion An den Vorteilen der Europäischen Währungsunion hat sich in den letzten Jahren nichts geändert. Geändert hat sich aber das politische und öko-

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nomische Umfeld in Europa. Die Revolutionen in Mittel- und Osteuropa, das Ende des Kalten Krieges, die deutsche Wiedervereinigung, die offenen Grenzen haben Europa vor eine gewaltige Aufgabe gestellt, auf die es nicht oder nur unzureichend vorbereitet war. In dieser Situation tiefen Wandels wirkt der Vertrag über die Europäische Union, der in Maastricht unterzeichnet wurde, für viele Menschen als zusätzlicher Unsicherheitsfaktor und nicht als logischer Schritt auf einem seit Jahrzehnten vorgezeichneten und politisch gebilligten Weg. Hinzu kommt, daß der Vertrag nicht nur die Europäische Währungsunion zum Inhalt hat. Vielmehr sieht er eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen auf fast allen Gebieten europäischer Politik vor, deren Auswirkungen kaum überschaubar sind und daher automatisch eine Abwehrhaltung hervorrufen. So sei nur am Rande erwähnt, daß in Dänemark und Irland die Opposition gegen Maastricht nicht die angestrebte Währungsunion, sondern Demokratiedefizite und die vollständige Freizügigkeit - Stichwort: Abtreibungstourismus - im Visier hatte. Bei der Darstellung des Systems von Bretton Woods und der Entstehungsgeschichte des EWS haben die Probleme, binnen- und außenwirtschaftliche Stabilität im Rahmen eines Festkurs-Systems zu sichern, eine zentrale Rolle gespielt. Eine Währungsunion bedeutet, daß dieser potentielle Gegensatz innerhalb des monetären Integrationsgebietes nicht mehr besteht. Dies ist aber nicht nur von Vorteil. Gerade in den bisher preisstabilen Ländern stellt sich vielmehr die Frage, welche Vorkehrungen getroffen werden, binnenwirtschaftliche Stabilität in der Währungsunion zu sichern. Zumindest in Deutschland ist dies das Thema Nr. 1 des Maastrichter Vertrages. Es bedarf keiner ausführlichen Erläuterung, warum dies so ist. Die Gründe sind bekannt, sowohl was unsere inflationäre Vergangenheit vor 1948 als auch den Erfolg einer am Stabilitätsziel orientierten Politik seit 1948, gerade im Vergleich zu anderen EG-Staaten, betrifft. Bundesregierung und Bundesbank haben deshalb alles daran gesetzt, die deutschen Vorstellungen über die Voraussetzung einer stabilen Geldverfassung in dem Vertrag festzuschreiben. Die Europäische Zentralbank als Garant der Geldwertstabilität Die deutschen Bemühungen werden besonders im Statut der Europäischen Zentralbank deutlich. Als zentrale Elemente einer künftigen gemeinschaftlichen Geldpolitik in Europa sind im Maastrichter Vertrag bindend festgelegt:

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1. Preisstabilität ist das oberste Ziel der künftigen europäischen Zentralbank. Ausdrücklich wurde ausgeschlossen, daß in der Währungsunion die Zentralbank andere wirtschaftspolitische Ziele verfolgen darf. 2. Die künftige Europäische Zentralbank wird, wie gegenwärtig die Deutsche Bundesbank, von Weisungen politischer Instanzen der Gemeinschaft oder einzelner Länder der Gemeinschaft vollständig unabhängig sem.

3. Jede Form der Finanzierung öffentlicher Haushalte durch die künftige europäische Notenbank ist ausgeschlossen. Mit anderen Worten: Es hat ein Export des deutschen Modells nach Europa stattgefunden. 16 Es müssen deshalb Pseudo-Argumente herangezogen werden, um diesen Teil des Maastrichter Vertrages zu kritisieren. So wird z.B. geargwöhnt, daß die Mitglieder von Entscheidungsgremien der künftigen Europäischen Zentralbank dem Stabilitätsziel zuwiderhandeln werden, weil ihre Verträge auf acht Jahre begrenzt sind. Da damit die Wiederernennung ausgeschlossen ist, gebe es keinen (zusätzlichen) Anreiz, den Vertragsbestimmungen zu folgen. Nicht bedacht wird allerdings, daß jeder Vertrag Anreizwirkungen hat. 17 Wäre die Wiederernennung möglich gewesen, hätten Kritiker darauf hingewiesen, daß dann die Verantwortlichen mit Blick auf ihre Wiederernennung den "Politikern" zu gefügig sind, d.h. eine zu laxe Geldpolitik verfolgen. Genau deshalb wurde die Möglichkeit einer zweiten Amtszeit ausgeschlossen. Zudem zeigen die Erfahrungen - nicht nur in Deutschland -, daß die Verantwortlichen nach einem Wechsel in Leitungsfunktionen der Zentralbanken sich aus vielerlei Gründen genannt sei der Reputationsgewinn - dem Ziel der Preisniveaustabilität in besonderer Weise verantwortlich fühlen. Daß in anderen Ländern die Geldpolitik nicht so zum Zuge kommt, wie dies in der Bundesrepublik der Fall ist, ist nicht auf unterschiedliche Vertragsformen, sondern auf die fehlende Unabhängigkeit dieser Zentralbanken zurückzuführen. Genau diese ist aber im Maastrichter Vertrag garantiert worden. Die Konvergenzkriterien Die Vertragsinhalte über die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und das Ziel der Geldpolitik geben keinen Anlaß, sich um die Stabilität der einheitlichen europäischen Währung Sorgen zu machen. Wird 16Ygl. H. Matthes, Maastricht und das deutsche Interesse, in: Wirtschaftsdienst, 10/1992, S. 513. 17Ygl. H.-P. Fröhlich, Geldwertstabilität in der Europäischen Währungsunion, in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 60, 4. 9. 1992, S. 1 f.

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aber davon ausgegangen, daß nicht nur die Geldpolitik, sondern auch die Fiskal- und Lohnpolitik Einfluß auf die Stabilität einer Währung haben, bedarf es zusätzlicher Sicherungen. Die im Maastrichter Vertrag festgelegten Konvergenzktiterien dienen diesem Ziel. Das erste Kriterium lautet, daß die Inflationsrate "um nicht mehr als 1,5 Prozentpunkte über der Inflationsrate jener - höchstens drei - Mitgliedsstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben."18 Darüber hinaus darf es in den zurückliegenden zwei Jahren zu keiner Leitkursanpassung im EWS gekommen sein. Das Kriterium stellt auf die Fähigkeit und den Willen der Mitglieds länder ab, binnen- und außen wirtschaftliche Stabilität ihrer Währungen zu sichern. Es signalisiert: Die europäische Währung baut auf stabilen nationalen Währungen auf, d.h. muß sich Reputation und Glaubwürdigkeit nicht erst verdienen. Das zweite Kriterium ist die Konvergenz der Zinssätze um einen Wert, der nicht mehr als zwei Prozentpunkte über dem der drei preisstabilsten Länder liegt. Da der Kapitalmarktzins Erwartungen über die zukünftige realwirtschaftliche und monetäre Entwicklung (Stichwort: Inflationserwartungen) zum Ausdruck bringt, dient dieses Kriterium quasi als Überprüfung des Preisniveau-Kriteriums für die mittlere bis längere Frist. Ein womöglich nur auf die kurze Frist ausgerichtetes Bemühen um Preisniveaustabilität wird daher nicht ausreichen, um an der Währungsunion teilnehmen zu können. Mit den finanzpolitischen Kriterien wird die Bedeutung nicht-monetärer Einflüsse auf die Zielgröße Preisniveaustabilität hervorgehoben. Sie lauten: 19 - Das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen muß unter 3% liegen, - Das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen darf 60% nicht übersteigen. Daß die Finanzpolitik das Preisniveau über vielfältige Wirkungszusammenhänge beeinflussen kann, ist nicht zu bestreiten. Dennoch bleibt fest18 Vertrag über die Europäische Union, Brüssel Luxemburg, 1992, Protokoll über die Konvergenzkriterien, Artikel 1, S. 185. 19V9J. Vertrag über die Europäische Union, Brüssel Luxemburg 1992, Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, Artikel 1, S. 183.

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zuhalten, daß die als Grenzwerte festgelegten Zahlen nicht aus der ökonomischen Theorie abgeleitet sind, sondern einfach den EG-Durchschnitt darstellen. Zudem ist die Auswahl der Zielgrößen im besten Fall unglücklich. Sollte die Schuldenlast öffentlicher Haushalte als Indikator für mögliche Gefahren hinsichtlich der Preisniveaustabilität dienen, dann wären Spannen zwischen Zinszahlungen für Staatsschulden und Steueraufkommen entscheidend und nicht die Relation zwischen Staatsschuldenstand und Bruttoinlandsprodukt. Ein klarer empirischer Zusammenhang zwischen Staatsschulden und Zins- bzw. Preisniveau besteht jedenfalls nicht. So weist z.B. Belgien einen Staatsschuldenstand, gemessen am Bruttoinlandsprodukt von rd. 130 % auf, Deutschland von 43 %, Luxemburg von etwa 7 %. Trotz dieser höchst unterschiedlichen Relationen sind die Wechselkurse der Währungen Belgiens und Luxemburg am deutschen Devisenmarkt seit langer Zeit so konstant, daß durchaus von der Simulation einer gemeinschaftlichen Währung gesprochen werden kann. Und trotz dieser Unterschiede ist es offensichtlich möglich, daß Luxemburg und Belgien eine gemeinschaftliche und zunehmend wertstabile Währung haben können. So bleibt festzuhalten, daß ein starres Beharren auf den Kriterien finanzpolitischer Konvergenz - im Gegensatz zu dem Preis- und Zinskriterium - sowohl von theoretischer als auch empirischer Seite nur schwer zu rechtfertigen ist. Zu kritisieren ist vielmehr, daß ohne nachvollziehbaren ökonomischen Gehalt Kriterien festgelegt wurden, weil sie die Glaubwürdigkeit des Vertrages beeinträchtigen. Denn klar ist, daß Belgien mit der bereits genannten Staatsschuldenquote von 130 % an der Währungsunion teilnehmen wird, sofern sich an der Zins- und Preisniveauentwicklung der letzten zehn Jahre grundsätzlich nichts ändert. So erscheinen die Kriterien "weich", ohne daß bemerkt wird, daß es in diesem Punkt für "Härte" keinen Anlaß gibt. Die Währungsunion als Transferunion '?

Insgesamt versprechen die in Maastricht beschlossenen Sicherungen ein hohes Maß an Geldwertstabilität in der Europäischen Währungsunion. Die gegenwärtige Stimmung gegen die monetäre Integration ist auf dieser Grundlage daher kaum zu erklären. Es ist auch nicht die Sorge um die Geldwertstabilität allein, die die Menschen umtreibt, sondern befürchtet werden auch steigende Transfers von den reichen in die armen Länder der EG, sollte die Europäische Währungsunion Realität werden. Allerdings werden beide Befürchtungen - gerade in Deutschland - oft in einem Atemzug genannt und unter der Rubrik abgehakt: Es geht an unseren Geldbeutel; Deutschland wird zum ECU-Esel, trägt die Lasten, zahlt die Zeche der anderen. Sind diese Befürchtungen berechtigt? 7 Timmermann

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Der wirtschaftspolitische Kern einer Währungsunion besteht darin, daß Wechselkursanpassungen als Instrument der Wirtschaftspolitik aufgegeben werden. Das heißt: Es ist in einer Währungsunion nicht mehr möglich, über Wechselkursanpassungen Fehlentwicklungen im eigenen Land zu bekämpfen bzw. sich von Fehlentwicklungen in den Partnerländern abzukoppeln. Hierzu ein Beispiel. Angenommen, Italien treffe ein - wie es im Jargon der Wirtschaftstheorie heißt - spezifischer Schock. Der Einfachheit halber sei eine preistreibende Lohnpolitik der italienischen Gewerkschaften unterstellt, die Inflation in Italien nimmt zu. Für den Fall, daß Italien weiterhin am EWS teilnimmt, d.h. zwischen Deutschland und Italien feste Wechselkurse bestehen, verliert die italienische Volkswirtschaft an Wettbewerbsfähigkeit, was sich in einem zunehmenden Leistungsbilanzdefizit, steigender Arbeitslosigkeit und womöglich steigenden Budgetdefiziten des Staates bemerkbar macht. Gerät die italienische Lira deshalb an den Devisenmärkten unter Druck, muß die Bundesbank im Rahmen ihrer Interventionsverpflichtungen die Lira stützen. Ganz vereinfacht gesprochen: In Deutschland steigt die Geldmenge, sinken die Zinsen. Zusammen mit dem Nachfrageimpuls eines größeren Exportüberschusses gegenüber Italien wird dadurch Italiens Inflation nach Deutschland übertragen. Es ist unmittelbar einleuchtend, daß eine Wechselkursänderung im beiderseitigen Interesse sein sollte, weil sie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der italienischen Wirtschaft wiederherstellt und den deutschen Inflationsimport hemmt. Dasselbe Szenario sei nun für den Fall der Währungsunion unterstellt. In einer Währungsunion gibt es den Wechselkurs als Anpassungsinstrument nicht mehr. Es müssen deshalb andere Mechanismen wirksam werden, wenn vermieden werden soll, daß Fehlentwicklungen in Italien europaweit verbreitet werden. Der erste Mechanismus zielt auf die Lohnpolitik selbst: Die Währungsunion übt hier einen Disziplinierungszwang aus, weil auf lohnpolitische Fehler nicht mehr mit einer Abwertung reagiert werden kann. Die italienischen Gewerkschaften werden erkennen, daß lohnpolitische Abenteuer nur noch eine Folge haben werden: steigende Arbeitslosigkeit in ihrem Land bzw. in ihrer Region. Sie werden deshalb dazu übergehen, ihre Lohnpolitik an der Produktivitätsentwicklung in Italien, d.h. an der Wettbewerbsfähigkeit der italienischen Volkswirtschaft auszurichten. 20 20Vgl. O. Sievert, Geld, das man nicht selbst herstellen kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 225, 26. 9. 1992, S. 13.

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Was passiert aber, wenn dieser Zwang nicht wirksam wird? Zunächst entsteht als Folge der Lohnsteigerungen Arbeitslosigkeit. Dies belastet die öffentlichen Haushalte, weil die SteuereiIinahmen zurückgehen und die Ausgaben, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Subventionen etc. steigen. Kurz: Es entsteht ein Transferbedarf. Was sind Transfers? Transfers sind Leistungen, die abgegeben werden, ohne unmittelbar zurechenbare Gegenleistungen zu erhalten. Transfers können über öffentliche Haushalte oder über private Märkte organisiert werden. Im Zusammenhang mit der Europäischen Währungsunion lauten die entscheidenden Fragen: Wird dieser Transferbedarf befriedigt? Und wenn ja, wer muß diese Transfers leisten? Die Fragen sind deshalb von großer Bedeutung, weil im Vergleich zum System fester, aber veränderbarer Wechselkurse Italien in der Währungsunion die Möglichkeit versperrt ist, den Transferbedarf - wie bisher - zu einem großen Teil durch Geldschöpfung der Banca d'Italia abzudecken: Artikel 104 des Maastrichter Vertrages untersagt jede direkte oder indirekte Zentralbank-Finanzierung der Staatsausgaben der Mitgliedsländer oder der Gemeinschaft. Dies verlangt von der italienischen Regierung entweder die Transferleistungen bzw. andere Ausgaben zu kürzen oder den Transferbedarf über Steuererhöhungen abzudecken. Beides ist nicht sehr populär, aber wird in der Währungsunion eine unausweichliche Notwendigkeit. Kritiker befürchten, daß sich nationale Fiskalpolitiken diesem Disziplinierungszwang der Währungsunion nicht unterwerfen werden. Vielmehr sei zu erwarten, daß unter dem Deckmantel europäischer Solidarität Druck ausgeübt wird, einen europäischen Finanztransfer injene Länder zu leisten, in denen lohnpolitische Disziplin nicht eingehalten wird. Die Erfahrungen im Rahmen des EWS bestätigen diese Befürchtungen nicht: In den meisten Ländern der EG mit hohen Budgetdefiziten und Schuldenquoten lassen sich seit fast zehn Jahren deutliche Bemühungen zur Konsolidierung der Staatsfinanzen feststellen. Die meisten Staatshaushalte weisen bei den Primärbudgetsaiden, d.h. Budgetsaiden ohne Zinszahlungen, steigende Überschüsse auf. 21 Diese Primärsalden spiegeln die aktuellen Bemühungen um eine Konsolidierung der Staatsfinanzen weitaus deutlicher wider, als die gesamten Budgetsaiden, die von Zinszahlungen als Ergebnis laxer Budgetpolitik früherer Jahre belastet werden. Ausnahmen 21 Vgl. T. Gäckle, Die Begrenzung von Budgetdefiziten in einer Europäischen Währungsunion, in: Wirtschaftsdienst, 5/1992, S. 267 f.

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von dieser Regel zeigen sich allein in Deutschland als Folge der Wiedervereinigung sowie in Italien. Deshalb ist auch nur in diesen Ländern die Schuldenquote in den letzten Jahren weiter gestiegen. Außerdem ist im Maastrichter Vertrag eine klare Bestimmung enthalten, wonach weder die Gemeinschaft noch die einzelnen Mitgliedsstaaten für die Staatsschulden eines Mitgliedstaates haften. 22 Um von vornherein einen Zustand zu verhindern, der ein derartiges Eingreifen notwendig machen könnte, wurde zudem die EG-Kommission beauftragt, die Entwicklung der Haushaltslage und die Höhe des öffentlichen Schuldenstands in den Mitgliedsstaaten im Hinblick auf die Feststellung schwerwiegender Fehler zu überwachen und ggf. mit Sanktionen zu reagieren. Genannt werden eine Überprüfung der Darlehenspolitik der Europäischen Investitionsbank, die Hinterlegung einer unverzinslichen Einlage bei der Gemeinschaft bzw. Geldbußen in angemessener Höhe. Bleibt noch die Möglichkeit von Transfers über den EG-Haushalt. Der in Maastricht beschlossene Kohäsionsfonds 23 und die von Kommissionspräsident Delors vorgelegte finanzielle Vorausschau für den EG-Haushalt, die bis 1997 einen Anstieg des Haushaltsvolumens um real 20 Prozent vorsah, könnten den Verdacht aufkommen lassen, daß hier ein Schlupfloch offensteht, die lohn- und fiskalpolitischen Zwänge der Währungsunion außer Kraft zu setzen. Bereits bei der Tagung der EG-Finanzminister im Herbst 1992 wurde aber deutlich, daß die Nettozahler der Gemeinschaft, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, nicht bereit sind, diesen Plänen zuzustimmen. Aber wie wird die Zukunft in der Währungsunion aussehen? Soviel läßt sich sagen: Erst eine durchgreifende EG-Finanzreform könnte die Zwänge für die nationalstaatlichen Fiskalpolitiken lockern. Sie ist weder in Maastricht beschlossen worden, noch in absehbarer Zukunft zu erwarten. Klar ist aber auch, daß die Zwänge der Währungsunion nur greifen, wenn die gegenwärtige Finanzverfassung der EG in ihren Grundzügen Bestand hat. 24 Exkurs: Deutsch-deutsche und Europäische Währungsunion

Daß in Deutschland sowohl den Bestimmungen des Vertrages als auch den ökonomischen Überlegungen zur Fiskal- und Lohnpolitik in der eu22Vgl. Vertrag über die Europäische Union, Brüssel Luxemburg 1992, Artikel 104b, S.27. 23 Vertrag über die Europäische Union, Brüssel Luxemburg, 1992, Artikel 130d, S. 54 24Vgl. H. Flassbeck, Die Sprengkraft eines großen Lohnkartells, in: FAZ, Nr. 271, 21. November 1992, S. 15.

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ropäischen Währungsunion mißtraut wird, ist sicher mit den Erfahrungen der deutsch-deutschen Währungsunion zu begründen. Denn sowohl ein Anstieg der Inflationsrate als auch Transfers von West nach Ost in bisher unbekannten Größenordnungen sind als ökonomische Auswirkungen der Vereinigung festzustellen. Werden sich diese Erfahrungen in einer europäischen Währungsunion wiederholen? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Der Vergleich zwischen deutschdeutscher und europäischer Währungsunion ist absurd. Er beruht auf einer Verdrehung bzw. Ausblendung ökonomischer und politischer Fakten. 25 Die deutsch-deutsche Währungsunion hatte vier gravierende Besonderheiten: 1. Die Volkswirtschaft der damaligen DDR stand am Beginn eines Transformationsprozesses von der Plan- zur Marktwirtschaft. 2. Die reine Inlandswährung, Mark der DDR, wurde von einer führenden Weltwährung, der D-Mark ersetzt. 3. Die ostdeutsche Industrie wurde als Folge der Währungsunion in den Wettbewerb mit westlichen Unternehmen gestellt, dem sie nach vierzig Jahren sozialistischer Mißwirtschaft nicht gewachsen sein konnte. Zudem brach der Außenhandel mit den Comecon-Staaten aus verschiedenen Gründen zusammen. Das heißt: Die ostdeutsche Industrie verlor gleichzeitig alle Märkte, auf denen sie wettbewerbsfähig war. 26 4. Vorsichtig geschätzt fand mit der Währungsunion eine Aufwertung der Ost-Mark in einer Größenordnung von 400% statt. 27 Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Währungsunion selbst war ein gewaltiger Schock für die fünf neuen Bundesländer, der enorme Transferbedarf vorprogrammiert. Aber keine dieser vier Besonderheiten der innerdeutschen Währungsunion ist auch nur teilweise bei der Europäischen Währungsunion gegeben. Ländern wie Portugal und Griechenland würde Unrecht getan, wenn man in der Diskussion über die Europäische Währungsunion ihre Volkswirtschaften mit jener der ehemaligen DDR vergleicht. Für sie wäre eine Europäische Währungsunion, die nach dem Drehbuch von Maastricht erfolgt, kein Schock. Es gibt daher keinen öko25 Als Beispiel vgl. A. Schütz, Maastricht und die Folgen, in: Zeitschrift fiir das gesamte Kreditwesen, 45. Jg., Nr. 16, S. 729 - 736. 26Vgl. A. Winkler, Monetäre Probleme im Osthandel, Devisenmarktanalyse für das erste Vierteljahr 1992, Institut für Empirische Wirtschaftsforschung, Hagen 1992. 27Vgl. G. Sinn, H.-W. Sinn, Kaltstart: Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen 1991, S. 47.

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nomischen Grund, als Folge der Europäischen Währungsunion einen Anstieg des Transferbedarfs von den reichen in die armen Länder zu erwarten, der auch nur annähernd die Größenordnungen des West-Ost Transfers in Deutschland erreicht. Transferbedarf ist zudem nicht gleich Transfer. Wie weit der Transferbedarf befriedigt wird, ist eine politische Entscheidung. Aber auch auf dem Gebiet der Politik sind die Rahmenbedingungen zwischen deutschdeutscher und europäischer Währungsunion sehr unterschiedlich. Die Probleme der deutsch-deutschen Währungsunion als Teil der Wiedervereinigung müssen solidarisch gehandhabt werden, weil es sich gleichsam um eine Kriegsfolgelast handelt. Lediglich die "Gnade des Geburtsorts", hat in Deutschland über Freiheit, Glück und Wohlstand entschieden. Dies war und ist im Europa der Zwölf nicht der Fall. Aufschlußreich erscheint mir dagegen der Vergleich von Transfers zwischen den elf alten Bundesländern, und den zu erwartenden Transfers in einer zukünftigen europäischen Währungsunion. Zunächst zu den staatlichen Transfers, weil hier die Größenordnungen bekannt sind. So erhielt Rheinland-Pfalz im Jahre 1988 aus dem LänderFinanzausgleich 789,6 Mio. DM, das entspricht 0,71% des rheinlandpfälzischen Bruttoinlandsprodukts. Umgekehrt mußte Baden-Württemberg 1,92 Mrd DM, d.h. 0,56% seines Bruttoinlandsprodukts an die Empfängerländer abführen. Zum Vergleich: Der Nettobeitrag der Bundesrepublik Deutschland zum EG-Haushalt betrug 1991 0,7 % des westdeutschen Inlandsprodukts. Dagegen ist die Größenordnung der privaten Transfers und der Leistungsbilanzsalden innerhalb des Bundesgebietes unbekannt. Hier sind nur Schätzungen möglich, die allerdings - soweit sie dem Verfasser bekannt sind - nur für die sechziger Jahre vorliegen. 28 Dennoch sind die Ergebnisse interessant. So zeigt sich, daß in sechs Jahren hintereinander vier Bundesländer der D-Mark-Esel der Bundesrepublik Deutschland gewesen sind: Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Baden-Württemberg und Hessen haben an die anderen Bundesländer, auch an Rheinland-Pfalz, Transfers in der Größenordnung zwischen 7 und 1,5 % des im jeweiligen Bundesland erwirtschafteten Bruttoinlandsproduktes geleistet. Zum Vergleich: Der Leistungsbilanzüberschuß der Bundesrepublik Deutschland mit den EG-

28Vgl. R. Pohl, Regionale LeistungsbilanzsaIden in integrierten Wirtschaftsräumen, Berlin 1971.

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Staaten betrug 19902,7 und 1991 1,1 % des westdeutschen Bruttoinlandsproduktes. Keiner der vier Nettozahler forderte aber eine Neuordnung des Währungsgebietes. Dies ist auch verständlich, denn die Transfers haben der Effizienz der deutschen Wirtschaft insgesamt nicht geschadet. Und die Geberländer empfanden die Transfers nicht nur als Belastung: Ein gewisses Unternehmen in Untertürkheim bedauert es nicht, wenn es sein Erzeugnis mit dem Stern an Menschen im "armen" Rheinland-Pfalz verkauft und diese dafür Kredite aufnehmen. Sicher, Vergleiche hinken immer. Festzuhalten ist aber, daß in der alten Bundesrepublik zwischen den elf Bundesländern Transfers stattgefunden haben, die im Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungskraft nicht wesentlich von der Größenordnung abweichen, die der Nettotransfer der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Gemeinschaft aufweist. Festzuhalten bleibt, daß Transfers und Verschuldung sind nicht nur von Übel sind. Banken sind froh, wenn sie Kredite vergeben können, und Unternehmen, wenn sie Mittel zur Finanzierung von Investitionsvorhaben aufnehmen können. Es geht also nicht um Transfers schlechthin, es geht gegen ruinöse Transfers. Und hier ist der Inhalt des Maastrichter Vertrages eindeutig: Ruinöse Transfers wird es nicht geben. Die Krise des EWS und die Folgen für die monetäre Integration in Europa Vor den Turbulenzen im EWS hätten die Ausführungen mit dem Hinweis auf die Erfolgsgeschichte des EWS beendet werden können. Es ist nicht anzunehmen, daß dieser Wertung massiv widersprochen worden wäre. Heute nach dem Austritt Italiens und Großbritanniens aus dem Wechselkursmechanismus, der Wiedereinführung von Kapitalverkehrskontrollen in Spanien, Portugal und Irland, der massiven Stützungsaktion der Deutschen Bundesbank und der Banque de France zugunsten des französischen Franc sowie der 1992 erfolgten Abwertung der spanischen Peseta und des portugiesischen Escudos dürfte das anders sein. Es ist bereits hervorgehoben worden, daß ein System fester Wechselkurse eines Konsenses zwischen den Mitgliedsstaaten mit Blick auf die gesamtwirtschaftlichen Ziele, insbesondere des Ziels Preisniveaustabilität bedarf. Die Basis des EWS-Erfolgs in den achtziger Jahren war das gemeinsame Interesse aller EWS-Teilnehmer, die Inflation, die im Zuge. des zweiten Ölpreisschocks auftrat, zu bekämpfen. Ohne dieses gemeinsame Interesse wäre das EWS bereits früh zusammengebrochen; ohne den Kurswechsel der französischen Wirtschaftspolitik 1983 hätte dies auch kaum vermieden

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werden können. 29 Daß die D-Mark die Leitwährungsfunktion übernahm, ist angesichts der Reputation der Bundesbank mit Blick auf das Ziel Preisniveaustabilität nicht verwunderlich. Entscheidend ist vielmehr, daß dies von den Partnerländern nicht nur akzeptiert wurde, sondern ihnen auch handfeste Vorteile brachte: Sie konnten unter dem Zwang des Festkurssystems eine glaubwürdige Anti-Inflationspolitik betreiben, die sie ohnehin anstrebten. Diese Vorteile sind seit Ende der achtziger Jahre aber nur noch sehr gering. Denn inzwischen zählen die meisten Kernländer des EWS zur Stabilitätsgemeinschaft. Für die Leitwährungszentralbank, die Deutsche Bundesbank, bedeutet dies, daß sie mehr noch als in den Vorjahren darauf achten muß, inwieweit ihre geldpolitischen Vorgaben innerhalb des EWS konsensfähig sind. Dies gilt insbesondere für den von der Bundesbank geprägten Zinstrend in Europa. Die Probleme des EWS, die im September 1992 deutlich wurden, sind wesentlich darauf zurückzuführen, daß die deutsche Einheit in Deutschland eine konjunkturelle Sondersituation in Europa geschaffen hat. Während in den EWS-Partnerländern, ähnlich wie in den USA und Japan, die ökonomische Aktivität deutlich nachließ, die Arbeitslosenraten zunahmen, die Inflationsraten zurückgingen, kam es in Deutschland einigungsbedingt zu einem Boom, mit weiter sinkenden Arbeitslosentaten und zunehmender Inflation. Für die Deutsche Bundesbank bedeutete dies: Zinserhöhungen. In diesem Moment wird die Leitwährungsfunktion der Bundesbank zentral: Weil niemand eine Abwertung der D-Mark erwartet, können die anderen EWS-Länder kein Zinsniveau aufrechterhalten, das unterhalb des deutschen liegt, obwohl es die konjunkturelle Situation erlauben bzw. notwendig machen würde. Warum soll Frankreich mit einer stabilen Inflationsrate von 3 % eine anti-inflationäre Politik betreiben, d.h. dem Zinsanstieg in Deutschland folgen? Deshalb war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die folgende Frage von den Devisenmärkten mit "nein" beantwortet wird: Ist das Zinsniveau in Deutschland im Einklang mit der gesamtwirtschaftlichen Situation in den EWS-Partnerländern? Im September 1992 war dieser Zeitpunkt erreicht. Es ist keine neue Lehre: Jedes Festkurssystem zerbricht, wenn die Geldpolitik des Leitwährungslandes der gesamtwirtschaftlichen Situation in den Partnerländern nicht mehr angemessen ist. Der insbesondere von Großbritannien erhobene Vorwurf, die Bundesbank habe mit ihrer allein auf die deutsche Situation ausgerichteten Politik die Krise des EWS hervorgerufen, ist aber dennoch nicht berechtigt. 29"The decisive turnaround in the stabilization of the EMS occurred in March 1983 when the French Government radically changed its economic policy objectives." K. O. Pöhl, Zitiert aus C. Goodhart, a.a.O., S. 472.

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Denn alle Indizien weisen darauf hin, daß die Bundesbank die Partner frühzeitig auf dieses Dilemma hingewiesen und deshalb folgende Politikempfehlung abgegeben hat: Eine Aufwertung der D-Mark, verbunden mit einem dann nur moderaten Zinsanstieg. Eine Aufwertung der D-Mark hätte von der Importseite den Inflationsdruck in Deutschland gemildert, d.h. die Notwendigkeit stark steigender Zinssätze verringert. Niedrige Zinsen und steigende Exporte nach Deutschland hätten den Abschwung in den Partnerländern gedämpft. 3o Der Konflikt zwischen den geldpolitischen Erfordernissen im Leitwährungsland und den geldpolitischen Notwendigkeiten in den Peripherieländern ist eine wesentliche Ursache der aktuellen Probleme im EWS. Der zweite wichtige Grund liegt darin, daß seit Januar 1987, dem letzten großen Realignment, Leitkursänderungen im Vorgriff auf die angestrebte Währungsunion tabuisiert wurden. 31 Die Regel, daß Leitkurse von Zeit zu Zeit nach Maßgabe der zu beobachtenden Inflationsdifferenzen angepaßt werden, d.h. ungefähr den Kaufkraftparitäten folgen, wurde nicht mehr eingehalten. So war die italienische Lira vor der Freigabe des Wechselkurses gegenüber der D-Mark angesichts kontinuierlich höherer Inflationsraten in Italien um ca. 25% überbewertet. Manche Beobachter sehen in den 1992er Turbulenzen eine Rechtfertigung ihres Mißtrauens gegenüber dem in Maastricht eingeschlagenen Weg zur Währungsunion; andere nutzen sie, das EWS insgesamt in Frage zu stellen und fordern flexible Wechselkurse in Europa. Verdeutlichen die Ereignisse des September 1992 nicht die Notwendigkeit von Wechselkursänderungen, die bei einer Währungsunion gerade nicht mehr möglich sind? Ja und Nein. Für manche Länder gilt: Ja, solange sie - ihre Lohn- und Fiskalpolitik nicht in den Griff bekommen (Italien, Griechenland) , - von vornherein mit einer überbewerteten Währung in das System eingestiegen sind (Großbritannien). Für andere Länder, die BENELUX-Staaten, Dänemark und Frankreich gilt: Nein. Diese Länder haben in den letzten fünf Jahren die binnenwirtschaftlichen Voraussetzungen für ein einheitliches Währungsgebiet in 30Vgl. dazu auch N.N., Nightmare on ERM street II, in: The ECONOMIST, 28. 11. - 4. 12. 1992, S. 87. 31 Vgl. W. File, Voraussetzungen zur Wiederbelebung des ECU-Marktes, Beitrag für die öffentliche Anhörung des Subcommittee on Monetary Affairs of the Committee on Economic and Monetary Affairs and Industrial Policy, Brüssel, 4.-5. November 1992.

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Europa geschaffen. Hier bedarf es keiner Wechselkursänderungen, sondern einer gemeinsamen, europäischen Geldpolitik. Die Zusammenarbeit der Banque de France und der Deutschen Bundesbank zur Verteidigung des französischen Franc sowie die Zinssenkung in der Bundesrepublik Deutschland gehen in diese Richtung. Um erneut den Vergleich zur Währungsunion der elf alten Bundesländer aufzugreifen: Niemand würde empfehlen, daß die Bundesbank ihre Geldpolitik allein mit Blick auf den hochverschuldeten und inflationären Frankfurter Raum ausrichten würde. Zinserhöhungen mit dem Ziel der Inflationsbekämpfung in Frankfurt sind z.B. für den Raum Saarbrücken, wo eine niedrigere Inflationsrate herrscht, kontraproduktiv. Denn so schädlich Inflation für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ist, die negativen Auswirkungen einer Deflation auf realwirtschaftliche Größen sind nicht minder drastisch. Deshalb lautet der Auftrag für die Bundesbank, Preisniveaustabilität für ganz Deutschland zu sichern. Er sollte in der Praxis so schnell wie möglich auf die Kernländer des EWS ausgeweitet werden. Zwischen den Schwachwährungsländern und den EWS-Kernländern stehen Portugal, Spanien und Irland, die in den vergangenen Jahren zwar gewaltige Fortschritte erzielt haben, aus heutiger Sicht aber noch nicht reif für eine Europäische Währungsunion sind. Maastricht ist ein Versuch, das Europa der zwei Geschwindigkeiten, das es de facto gibt, nochmals hinauszuschieben. Bis 1996/98 wird jedem EG-Mitgliedsstaat Zeit gegeben, die in den Konvergenzbedingungen genannten Kriterien zu erfüllen. Gleichzeitig wird aber auch das Europa der zwei Geschwindigkeiten objektiviert und festgeschrieben: Wer bis 1996/98 die Kriterien nicht erfüllt, kann an der Währungsunion nicht teilnehmen. Es zeigt sich, daß dieser Spagat nicht ohne Risiken ist. Wenn sich der Erfolg dennoch einstellen soll, bedarf es einer nüchternen, auf die Realitäten ausgerichteten Politik. Bis zum September 1992 war diese Voraussetzung nicht gegeben, die Märkte mußten Vernunft erzwingen: Der Bundesbank wurde klargemacht, daß sie auch für Europa geldpolitische Verantwortung trägt; den Schwachwährungsländern wurde signalisiert, daß der Verzicht auf das Wechselkursinstrument angesichts nach wie vor unterschiedlicher gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen unglaubwürdig ist. Die Turbulenzen der September-Wochen waren heilsam, wenn beide Seiten diese Grundbedingungen eines Festkurssystems wieder beherzigen. Dann bestehen auch gute Chancen, daß der in Maastricht verabredete Weg zur Währungsunion eingehalten werden kann. Werden diese Grundbedingungen allerdings nicht beachtet, dann droht in Europa tatsächlich der Rückfall in die währungspolitische Desintegration der siebziger Jahre.

EG-Hilfe für den Osten Europas Von Karin Retzlaff Die wirtschaftliche Situation jenseits von Oder, Neiße oder Bayerischem Wald ist keine rein ökonomische Frage. Man denke an das Genscher-Wort, daß es dem Westen auf Dauer nicht gut gehen könne, wenn es dem Osten schlecht geht. Das gilt nicht nur für Deutschland, dies gilt für den gesamten Kontinent. Gegenläufige Entwicklungen setzen ganz Europa unter Hochspannung. Der Westen des Kontinents will noch näner zusammenrücken: Das Kürzel "EU" wird fortan auch für einen großen gemeinsamen Markt ohne Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten stehen. Die Weiterentwicklung ihrer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union wurde im Vertrag von Maastricht niedergeschrieben. Andere europäische Staaten haben bereits in Brüssel offzielle EG-Beitrittsanträge abgegeben. Die östliche Hälfte unseres Kontinents dagegen zerreißt es in immer mehr und kleinere Länder. Ein ohnehin schon unvergleichbar komplizierter Umgestaltungsprozeß wird dramatisch zugespitzt durch blutige Konflikte und Bürgerkriege. Aber auch in den Ländern ohne Blutvergießen und Granatenhagel ist der Bedarf an Hilfe schier grenzenlos. Es fehlt an Kapital. Es mangelt an Know-how - in Wirtschaft wie Verwaltung. Es braucht Konzepte, wie dieser totale Umbruch einer Gesellschaftsstruktur zu gestalten und zu verkraften ist. All das greift auch der Europäischen Union merklich ins Rad ihrer Entwicklung, denn was im Osten des Kontinents geschieht, befindet - obgleich nicht allein - über die Zukunft des ganzen Erdteils. Nicht nur, weil es eine Reihe der früheren Ostblockstaaten drängt, sich so schnell wie möglich so eng wie möglich an die EU zu binden. Die einschneidenden Veränderung im Osten zwingen auch die Zwölfer-Gemeinschaft, Vorstellungen zu Gesamteuropa zu entwickeln, sich über ihr Verhältnis und ihr Verhalten gegenüber den Reformstaaten wirklich schlüssig zu werden. Neue Fragen stehen an, für die bisherige Antworten nicht mehr taugen.

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"Der wichtigste Beitrag, den der Westen leisten könnte, wäre eine völlige Öffnung der westlichen Märkte für Exporte aus dem Osten", meint der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Prof. Dr. Siebert. "Selbst die Assoziationsabkommen der EG mit Polen, Ungarn und der CSFR enthalten zu viele protektionistische Schutzklauseln und Sonderregeln, mit denen sogar die Einfuhr polnischer Himbeeren begrenzt werden soll. Darüberhinaus wird vor allem westlicher Sachverstand benötigt. Großzügige finanzielle Hilfe sollte nur gewährt werden, wenn sie an glasklare Bedingungen über die Reformschritte geknüpft ist und somit die marktwirtschaftliche Ordnung stabilisiert." So sieht die Forderung des Kieler Wissenschaftlers an die Europäische Gemeinschaft aus. Und wie die Brüsseler Praxis? Im Großen und Ganzen setzt die Europäische Union auch bei der Unterstützung für den Osten unseres Kontinents auf ihr bewährtes Instrumentarium, wenngleich in modifizierter Form und mit Ergänzungen: Die EG hat auf akute Notsituationen mit Nahrungsmittel- und Medikamentenlieferungen reagiert - teils kostenlos, teils hat sie dafür Darlehen gewährt oder Kreditbürgschaften übernommen. Brüssel hat zwei große Hilfsprogramme, PHARE und TACIS, auf den Weg gebracht. Sie lehnen sich in den Prozeduren an Verfahrensweisen in der Entwicklungszusammenarbeit z. B. mit den AKP-Staaten an. Unter den Kreditgebern ist erwartungsgemäß die Europäische Investitionsbank zu finden, zudem die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Ungewöhnlich war allerdings die Gründung einer speziellen "Osteuropa-Bank" im April 1991. Und bis heute halten die Diskussionen ob der Notwendigkeit und klaren Abgrenzung des Auftrages dieser "Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung" in London an - u. a. wegen möglicher Aufgabenüberschneidungen mit der EIB in Luxemburg. Altes und Neues kennzeichnet auch die Vertragslage zwischen der EU und den früheren Ostblockstaaten. Wie sind die verschiedenen Bausteine der Brüsseler Osteuropa-Hilfe nun im Detail beschaffen? Eines sei diesen Einzelheiten aber vorangeschickt: Um welche Form des gemeinschaftlichen Engagements für die früheren Ostblockstaaten es auch immer geht, keine kann ihnen die eigene Verantwortung für ihre inneren Veränderungen und Einschnitte abnehmen. Um die Problematik z.B. im Bereich der ersehnten ausländischen Investitionen etwas greifbarer zu machen, sei hier auf ein Rechenmodell von "Du Pont de Nemours international", Genf, verwiesen, das verdeutlichen soll, warum Osteuropa und die Ex-Sowjetunion momentan als Investitionsstandorte - gemessen an Westeuropa - aus der Sicht eines Unternehmens so wenig attraktiv sind:

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Die Errichtung eines Werkes kostet nach Du Ponts Rechnung in Westeuropa 50 Mio. Dollar, erhält Subventionen von 45 % und ist mit einer angenommenen Unternehmenssteuer von 35 % ohne steuerfreie Jahre belastet. Der Cash-flow nach zwölf Jahren beträgt 110 Mio. Dollar, der Rückfluß des investierten Kapitals beträgt 38 %, und nach sechs Jahren ist die Investition zurückgezahlt. Die Errichtung einer Fertigungsstätte in der ehemaligen UdSSR wird mit 70 Mio. Dollar ohne Subventionsanteil veranschlagt, die Unternehmenssteuer mit 40,5 % beziffert und fünfjährlge Steuerfreiheit vorgegeben. Der Cash-flow nach zwölf Jahren wird mit 77 Mio. Dollar errechnet, der Rückfluß des investierten Kapitals beträgt 21 %, und nach elf Jahren hat sich die Investition bezahlt gemacht. Du Pont räumt ein, daß es osteuropäischen Ländern unmöglich sein dürfte, finanzielle Investitionshilfen zu geben, doch sollten sie trotzdem unentgeltlich Grundstücke und zehn Jahre Steuerfreiheit, gerechnet vom ersten erwirtschafteten Gewinn, oder vergleichbare Vergünstigungen geben. Nun zu einzelnen Elementen der Brüsseler Ostpolitik: Verträge

Handels- und Koopemtionsabkommen

Inzwischen sind mit fast allen mittel- und osteuropäischen sowie den baltischen Staaten derartige Verträge traditionellen Musters vereinbart. Anfang November 1992 wurde auch mit Slowenien als erstem der jugoslawischen Nachfolgestaaten ein Abkommen über den "Handel und die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit" paraphiert. Die ersten dieser Verträge stammen noch aus der Zeit vor der großen europäischen Wende. Die meisten haben eine zehnjährige Laufzeit. Obgleich sich diese Verträge im Detail natürlich unterscheiden, beinhalten sie doch eine Reihe gleicher oder ähnlicher Festlegungen, so die - Einräumung der Meistbegünstigung, - Aufhebung bzw. Aussetzung von mengenmäßigen Beschränkungen für bestimmte Produkte (wobei die "sensiblen" Erzeugnisse meist ausgespart sind), - Absprachen zur Schaffung von konkreten Voraussetzungen für eine unternehmerische Tätigkeit in Osteuropa,

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- handelspolitische Zusammenarbeit mittels Austausch von Handels- und Wirtschaftsdaten, Kontakten zwischen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden, Zusammenarbeit zwischen den Zollbehörden sowie Investitionsförderung. Europa-Abkommen

Sogenannte Europa-Abkommen wurden erstmals am 16. Dezember 1991 mit der CSFR, Polen und Ungarn geschlossen. Ihrem Charakter nach sind es Assoziierungsverträge. Die Handelsbestimmungen der Verträge wurden ab 1. März 1992 vorläufig in Kraft gesetzt. In den Europa-Abkommen erkennen die Vertragspartner an, daß die EU(EG- )-Mitgliedschaft der assoziierten Länder das Endziel ihres Zusammenwirkens ist und die Assoziation den Weg dazu ebnen soll. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Abkommen automatisch in einen EU-Beitritt münden. Sie sehen eine Übergangszeit von zehn Jahren vor. Danach sind die Verträge voll verwirklicht und laufen unbefristet weiter. Erstmals sind in diesen Assoziationsabkommen - über die handelspolitische und wirtschaftliche Kooperation hinaus - auch ein politischer Dialog und kulturelle Zusammenarbeit vorgesehen. Was die vereinbarte Herstellung des freien Warenverkehrs betrifft, so soll innerhalb von höchstens zehn Jahren eine Freihandelszone zwischen der EG und den mitteleuropäischen Vertragspartnern geschaffen werden. Die Zugeständnisse zur Liberalisierung des Handels mit gewerblichen Waren sind gegenseitig, aber asymmetrisch. Den drei Staaten wurde zumeist mehr Zeit fur die Offnung ihrer Märkte zugebilligt als der Gemeinschaft. Aber: Die Zugeständnisse der EG/EU bei den "sensiblen" Waren sind nicht gerade atemberaubend. Bei Textilien, Kohle- und Stahlerzeugnissen sowie den Agrarprodukten hielt die Gemeinschaft ihre Reihe eher eng geschlossen. Bemerkenswert ist zudem, daß das Maß der Kompromißbereitschaft seitens der Gemeinschaft gegenüber den drei Vertragspartnern z.T. erheblich differiert. Gegenstand der Abkommen ist auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, das Niederlassungsrecht und der Dienstleistungsverkehr. In puncto Freizügigkeit der Arbeitnehmer, eines der sensibelsten Verhandlungsthemen, zielen die Vereinbarungen in erster Linie nur auf eine Verbesserung der Lage derer ab, die bereits mit gültiger Aufenthaltserlaubnis in der Gemeinschaft wohnen. Was das Niederlassungsrecht angeht, so ist für alle Gesellschaften und selbständig Erwerbstätige der (bislang) 15 Vertrags-

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staaten vorgesehen, daß sie bei ihrer Niederlassung und Geschäftstätigkeit ab einem festgelegten Zeitpunkt wie Inländer behandelt werden. Vereinbart wurde auch die Freiheit des finanziellen Transfers, die schrittweise Anpassung der zur wirtschaftlichen Integration notwendigen Rechtsvorschriften an die der Europäischen Gemeinschaft sowie eine wirtschaftliche Zusammenarbeit, die es den assoziierten Staaten erleichtert, die Aufgaben der ökonomischen Umstrukturierung zu bewältigen und bis zum Ende der Übergangszeit wettbewerbsfähig zu werden. Inzwischen führte die Kommission auch mit Bulgarien und Rumänien Verhandlungen über ähnliche Assoziierungsabkommen, jenes mit Rumänien ist bereits paraphiert (1993). Partnerschafts- und Kooperationsabkommen

Neue Verträge stehen auch mit den GUS-Staaten an, denn die gegenwärtigen Beziehungen basieren auf dem im Dezember 1989 mit der Sowjetunion abgeschlossenen Handels- und Kooperationsabkommen. Nach und nach sollen mit ihnen Verträge geschlossen werden, die einerseits über die derzeit bestehenden Vereinbarungen hinausgehen, andererseits aber noch nicht die Qualität der Europa-Abkommen erreichen. Auch hier wird über die Handels- und Wirtschaftskooperation hinaus ein möglichst enger politischer Dialog angestrebt. Rußland, die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan stehen auf der Verhandlungsliste obenan. Trotz scharfer Ablehnung der meisten Mitgliedstaaten hat die EGKommission Ende Oktober 1992 offiziell den Vorschlag unterbreitet, alle Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion in das System der Allgemeinen Zollpräferenzen einzubeziehen. Die Kommission zog damit ein gerüttelt Maß an Mißmut auf sich, denn bislang war Deutschland der einzige Mitgliedstaat der Gemeinschaft, der sich für die Gewährung dieser Handelsvorteile einsetzte. Als die EG-Außenminister Anfang Oktober 1992 in Luxemburg der Kommission ein Verhandlungsmandat für die angesprochenen Partnerschaftsabkommen erteilten, war diese Frage offengeblieben. Allein Bonn hatte sich in einer gesonderten Erklärung für eine möglichst weitgehende Liberalisierung des Osthandels eingesetzt. (Das 1971 geschaffene System der Allgemeinen Zollpräferenzen war eigentlich Entwicklungsländern vorbehalten. Es gewährt für alle industriellen Fertig- und Halbfertigwaren einseitig eine vollständige Zollfreiheit. Für die sensiblen Bereiche Stahl, Textil und Landwirtschaft werden allerdings Kontingente festgelegt.)

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Mit kritischem Blick Richard Portes, Centre for Economic Policy Research, London:

Die Assoziierungsabkommen der EG mit den drei osteuropäischen Ländern (CSFR, Ungarn und Polen) umfassen viele konkrete und positive Maßnahmen. Die Abkommen beinhalten aber auch zahlreich Handelsbeschränkungen, insbesondere für sensible Produkte, die 35 % bis 40 % der Exporte in die EG ausmachen. Sie enthalten Antidumping- und Schutzbestimmungen, die das Vertrauen von potentiellen Investoren einer EG-orientierten Produktion eher untergraben. Richard Portes kritisiert vor allem die Fristen für den freien Zugang von vielen wichtigen Waren. Die Abkommen zeigen, daß sich die EG 1991 übermäßig um ihre eigene innere Entwicklung - den Prozeß von Maastricht - sowie um die UdSSR und Jugoslawien gekümmert hat. Jetzt sei eine langfristige Politik gegenüber den osteuropäischen Ländern zu einer dringenden Notwendigkeit geworden. Diese Länder brauchen eine politische Verbindung, wenn auch die meisten von ihnen viele Jahre lang nicht wirtschaftliche Mitglieder werden können. Die bisher abgeschlossenen Assoziierungsabkommen stellen also kein angemessenes politisches Signal dar. Aus: Agence Europe, 12./13. 10. 92 Prof. Wolfgang Kartte, ehemaliger Kartellamtspräsident:

Wir sind ja heute auf dem Wege dahin, den freien Welthandel aufzuteilen in Freihandelszonen. Das klingt auf den ersten Blick ganz toll: Europa entwickelt sich zur Freihandelszone, die USA und Kanada schließen sich zur Freihandelszone zusammen, der südamerikanische Kontinent wird zur Freihandelszone. Wie gesagt, das hört sich immer so gut an. Die Frage aber ist: Was passiert mit den Außenstehenden, zum Beispiel mit Estland, Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei? Ich habe diese Länder, wenn auch damals noch im wettbewerbspolitischer Hinsicht, beraten, und alle Politiker haben zu mir gesagt: ,,schenkt Euch Eure Gelder und was Ihr uns da an Krediten und Fördermitteln anbietet. Öffnet uns Eure Märkte." Den Ungarn für den Wein, den Polen für die Schweinehälften. Sie sagten: "Wir haben unsere Märkte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR, nach der Abschaffungen des Schwindelsystems 'Verrechnungsrubel' verloren. Wir müssen jetzt die Russen in Dollar für ihr Öl bezahlen und müssen unsere Produkte doch irgendwo absetzen." Ich frage mich: Um wieviel mehr könnte in Polen beispielsweise investiert werden, wenn es wäre, daß wir deren Produkte in unsere Märkte lassen? Was wir als Industrieländer da machen, ist fast ein Verbrechen. Besonders, wenn wir Produktionen schützen, die bei uns längst überholt und viel zu teuer sind wie die Kohle und die Landwirtschaft. Aus: Unternehmer Magazin, 11/92

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Ilko Eskenazy, stellvertretender bulgarischer Ministerpräsident:

Ilko Eskenazy hat sich im Gespräch mit der F.A.Z. stark enttäuscht über die Haltung von EG und EFTA in den Assoziierungsgesprächen geäußert. Er habe inzwischen den Eindruck gewonnen, daß die Zwölfergemeinschaft ihre relativ liberalen Abmachungen im Rahmen des Assoziierungsabkommens mit der Troika schon wieder bereue. Die EG schlage in den Gesprächen mit Bulgarien und Rumänien deswegen einen deutlich restriktiveren Kurs ein und sei nicht bereit, ihnen die gleichen Konditionen zu bieten. Noch restriktiver, so Eskenazy, sei die EFTA in den Verhandlungen. Es sei offensichtlich, daß beiden jedes politische Konzept für Osteuropa fehle. Vielmehr würde ihre Haltung von einzelnen Interessen ihrer Agrar- und Industrielobby diktiert. Sie produzierten alles selbst und seien entschieden gegen zusätzliche K onkurrenz. "Wir könnten theoretisch dorthin so viele Satelliten, Hochleistungscomputer und Luxusautos liefern, wie wir wollen ", klagt der vielsprachige und weltgewandte Jurist. Aber was Bulgarien produziere - leichtindustrielle Produkte, Textilien, Lederwaren und Nahrungsmittel-, werde nicht auf dem EFTA-Markt gelassen. Sein Land müsse sich zum Beispiel verpflichten, keine Subventionen mehr zu zahlen, und habe diese in der Tat auch in kürzester Zelt drastisch reduziert. Doch den garantiert nicht mehr subventionierten bulgarischen Agrarprodukten verschließe man alle Türen. Aus: Frankfurter Allgemeine, 20. 10. 92

Förderprogramme und Initiativen Schwerpunkt der EG-Hilfsprogramme für die Staaten Ost- und Mitteleuropas sowie die GUS ist die Technische Hilfe für ihren politischen und wirtschaftlichen Reformprozeß. Geleistet wird sie vor allem in Form von nichtrückzahlbaren Zuschüssen und über die beiden großen Initiativen PHARE (für Ost- und Mitteleuropa) und TACIS (für die GUS und Georgien).

PHA RE-Programm In das PHARE-Programm einbezogen sind derzeit Albanien, die baltischen Staaten, Bulgarien, die CSFR, Polen, Rumänien, Ungarn und seit August 1992 auch Slowenien. An Kroatien scheiden sich momentan noch die Gemeinschafts-Geister. Dem Programm wurden 1990 im EG-Haushalt 300 Mio ECU für Polen und Ungarn und weitere 200 Mio ECU für die anderen Empfängerländer bereitgestellt. 1991 belief sich die Gesamtsumme auf 785 Mio ECU, und 1992 standen 1 Mrd ECU bereit. 1993 standen im EG-Haushalt 1,162 Mrd. ECU verzeichnet. 8 Timmermann

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Konkret gibt es Zuschüsse für -

technische Hilfe durch Berater und Sachverständige, Anschubfinanzierungen, die Lieferung von Erstausrüstungen, humanitäre Hilfsaktionen.

Angesiedelt sein sollten die unterstützten Vorhaben vor allem in den Bereichen -

Landwirtschaft, Industrie, Investitionen, Energie, Ausbildung, Umweltschutz, Handel- und Dienstleistungen.

Die Funktionsweise des PHARE-Programm läßt sich vielleicht am besten mit der des Wassers vergleichen, das einer Gartenpumpe erst einmal verabreicht werden muß, damit sie einsatzfähig wird. In diesem Sinne werden vor allem Maßnahmen mit folgender Zielrichtung unterstützt: - Umwandlung der Produktions- und Distributionssysteme (Entflechtung der Staatsmonopole, Umstrukturierung und Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Förderung der Privatwirtschaft - vor allem des Mittelstandes, Bildung von joint ventures) - Herstellung einer juristischen und administrativen Infrastruktur für die Marktwirtschaft (Modernisierung der Finanzdienstleistungen, Neuorganisation der Banken, Aufbau der Wertpapier- und Kapitalmärkte, statistischer Ämter sowie des Versicherungssystems, Reform der Kredit-, Buchprüfungs- und Besteuerungssysteme) - Schaffung eines geeigneten Rechtsrahmen für den privaten Sektor (Entwicklung des Gesellschaftsrechts etc) - Förderung der für den privaten Sektor notwendigen flankierenden Dienstleistungen (Modernisierung der Telekommunikation, des Transports und des Energiesektors, Auf- und Ausbau der Berufsausbildung)

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- Entwicklung des Arbeitsmarktes und des sozialen Sektors (Neugliederung des Gesundheitsversorgung, Einrichtung von Arbeitslosenversicherungen usw.)

Hieran zeigt sich zugleich, daß PHARE kein Export- oder Investitionsförderprogramm ist. Es hat auch nicht die Unterstützung einzelner Geschäftsvorhaben oder Projekte zum Ziel. Die Zuschüsse sollen weder Kapital-, Beschaffungs- oder Modernisierungsausgaben noch Investitionen in kommerzielle Vorhaben bzw. Betriebskosten decken. Technische Beratung, Erstausrüstungen oder Anschubfinanzierungen (z.B. für joint ventures oder kleine und mittlere Unternehmen) können jedoch mit PHAREMitteln bestritten werden. Wie funktioniert das PHARE-Programm? Die Bereiche, in denen die Mittel eingesetzt werden, werden im wesentlichen von den Regierungen der Empfängerstaaten festgelegt. Sie vereinbaren jedes Jahr mit der EG-Kommission sogenannte Richtprogramme mit den inhaltlichen Schwerpunkten für das jeweilige Jahr. Diese Rahmenprogramme werden dann in sogenannte Sektorprogramme zerlegt, in denen die Aufgaben für den entsprechenden Bereich präzisiert und die dafür zur Verfügung stehenden Mittel ausgewiesen sind. Auf dieser Basis werden dann die daraus resultierenden Aufträge vergeben - je nach Art und Umfang freihändig, in beschränkten oder offenen Ausschreibungen. Dabei lautet die Kurzformei: Dienstleistungen - beschränkte oder freihändige Vergabe, Lieferungen - offene bzw. beschränkte Ausschreibung oder freihändige Vergabe. Die Durchführung der Sektorprogramme und der damit verbundenen Projekte sowie die praktische Vergabe der dazu notwendigen Aufträge obliegt in der Regel den PHARE-Staaten. JOPP - "Joint venture PHARE Programme"

Im Rahmen des PHARE-Programms will die EU auch direkt private Investitionen in Mittel- und Osteuropa fördern. Über JOPP unterstützt sie den Auf- und Ausbau von joint ventures zwischen Unternehmen aus der Union und Betrieben in den PHARE-Staaten. Diese Initiative soll insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen zugute kommen.

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Gefördert werden können - Projekt- und Partnersuche, - Arbeiten im näheren Vorfeld der Joint-Venture-Gründung (z.B. Durchführbarkeitsstudien, Vertragsverhandlungen mit den künftigen Partnern, Pilot- und Demonstrationsprojekte u.a.) - Deckung des Kapitalbedarfs (mittels Darlehen) - technische Hilfe zur Stärkung der Personalbasis eines joint ventures.

TAelS-Programm Das Programm "Technical Assistance for the Commonwealth of Independent States" (TACIS) müßte genaugenommen "Technische Hilfe für die Ex-UdSSR minus baltische Staaten" heißten, denn Georgien gehört bekanntlich nicht zur GUS, und auch das Parlament von Aserbaidshan hat es mehrheitlich abgelehnt, den Vertrag über den Beitritt zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu ratifizieren. 1991 wurden für TACIS 400 Mio ECU aus der Gemeinschaftskasse genommen, für 1992 stand ein Betrag von 450 Mio ECU zur Verfügung, 1993 waren es laut EG-Haushalt 520 Mio ECU. Das Gros der Millionen soll auch hier für Politikberatung, Erarbeitung von geeigneten rechtlichen und administrativen Rahmenbedingungen, Ausbildung sowie Beratung bei der Umstrukturierung bestehender und der Errichtung neuer Institutionen eingesetzt werden. Grundsätzlich konzentriert sich TACIS also auf den Transfer von Know-how. Bezuschußt werden zwar auch die Kosten für Ausrüstungsgüter, die zur Umsetzung der Beratung erforderlich sind. Generell aber ist die Technische Hilfe für die GUS im Unterschied zum PHARE-Programm - nicht für Anschubfinanzierungen oder die Anschaffung von Erstausrüstungen gedacht. In der Programmaufstellung gleichen sich PHARE und TACIS wiederum. Auch hier lauten die Schritte: Richtprogramme mit den einzelnen GUS-Staaten, Aktionsprogramme analog den Sektorprogrammen bei PHARE, Auftragsvergabe. Aus den 92er Richtprogrammen schälen sich folgende Schwerpunkte heraus:

- Aus- und Weiterbildung (insbesondere von Führungskräften in Politik und Wirtschaft)

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- Nahrungsmittelproduktion und -verteilung - Netzwerke (hinter diesem etwas schwammigen Begriff verbirgt sich eine mögliche Unterstützung der Verbesserung des Managementsystems und des organisatorischen, gesetzlichen und ordnungspolitischen Rahmens auf den Gebieten Energie, Transport, und Telekommunikation) - Umstrukturierung des Unternehmenssektors - Nukleare Sicherheit.

Was nun die Auftragsvergabe betrifft, so liegt diese beim TACIS- (im Unterschied zum PHARE-Programm) nicht bei den GUS-Behörden, sondern bei der EU-Kommission. Sie unterzeichnet Dienstleistungs- oder Lieferungsverträge. Vergeben wird auch hier freihändig oder über beschränkte bzw. offene Ausschreibungen. Zuschüsse und Hilfestellung in speziellen Bereichen

Der größte Teil der Zuschüsse fließt fraglos über PHARE und TACIS in Richtung Osteuropa. Gleichzeitig wurden auf einigen Sach- und Fachgebieten zusätzliche Möglichkeiten der Unterstützung eröffnet - teils über die Integration der mittel- und osteuropäischen Länder bzw. der GUS-Staaten in bestehende Förderprogramme und -initiativen, teils durch extra geschaffene Programme und Sonderaktionen.

* Auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung kann sich die Zusammenarbeit auch realisieren über: das " Gemeinschaftliche Rahmenprogramm für Forschung und technologische Entwicklung" (fünf der 15 zu diesem Rahmenprogramm gehörenden spezifischen Programme wurden für osteuropäische Staaten geöffnet) die "Europäische Kooperation in den Bereichen Wissenschaft und Technologie" (COST) (hieran beteiligt sind bislang Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien und Kroatien) - die Kooperation im Rahmen von EUREKA. Darüber hinaus wurde 1992 noch eine Sonderaktion gestartet, mit der u.a. der Wissenschaftleraustausch, die Einrichtung von Netzwerken, gemeinsame Forschungsprojekte, die Teilnahme an EG-Forschungs-

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programmen und COST-Projekten ermöglicht bzw. sollen.

erleichtert werden

Zum Komplex Forschungskooperation zu rechnen sind auch zwei Einrichtungen, die mit Hilfe der EG geschaffen wurden bzw. werden: - Internationales Wissenschafts- und Technologiezentrum. Die Gründung des IWTZ 1992 geht auf eine Initiative des deutschen, des russischen und des US-Außenministers zurück. Finanziert werden soll es vor allem von westlichen Industriestaaten. Als Grundausstattung sind zunächst 100 Mio Dollar vorgesehen. Davon werden die USA und die Europäische Gemeinschaft je 25 Mio Dollar aufbringen, Japan hat 17 Mio Dollar zugesagt, überdies beteiligen sich Kanada (2,5 Mio), Schweden 4 Mio) und die Schweiz (1,5 Mio) an diesem Projekt. Aufgabe des Zentrums wird es sein, Atomwissenschaftlern und Rüstungstechnikern aus der Ex-UdSSR zu helfen, Arbeit in der zivilen Wirtschaft zu finden bzw. sie entsprechend umzuschulen. Dies soll den Anreiz mindern, Tätigkeiten in anderen Staaten aufzunehmen, die zur Weiterverbreitung nuklearer, biologischer und chemischer Waffen z.B. in den Entwicklungsländern führen könnten. - Internationale Stiftung zur Förderung der Wissenschaften in den Neuen Unabhängigen Staaten (NUS). Die Stiftung zur Unterstützung der Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Instituten, Universitäten und Forschungszentren in der früheren Sowjet union soll gleichfalls verhindern helfen, daß massenhaft fähige Wissenschaftler abwandern. Für den Start hat die EG einen ersten Beitrag in Höhe von 4 Mio ECU zugesagt. Mit dieser neuen Form - einer Association nach belgischem Recht - wird für einen begrenzten Zeitraum (vorraussichtlich bis Ende 1994) ein flexibles Instrument zur Förderung der wissenschaftlichen Ost-WestKooperation zur Verfügung stehen.

Beide Einrichtungen, IWTZ und Stiftung, ergänzen sich in ihrem Anliegen und sollen möglichst eng zusammenarbeiten.

* Auf dem Umweltsektor bietet neben PHARE und TACIS vor allem das zu 20 % von der EG getragene "Regionale Umweltzentrum für Mittel - und Osteuropa" in Budapest diverse Möglichkeiten, bei der Lösung ökologischer Probleme Unterstützung zu erhalten. Dieses erste multilaterale Umweltgremium führt nicht nur die allgemein üblichen Konferenzen oder workshops durch, es unterstützt auch Nichtregierungsorganisationen, fungiert als Informationsquelle, hat eine "Legislative Task Force" geschaffen, um zur Entwicklung einer Umwelt-Gesetzgebung in Mittel- und Osteuropa

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beitragen zu können, und vergibt zudem Zuschüsse für Projekte. Das Zentrum hat inzwischen auch Außenstellen in Bratislava, Bukarest, Sofia und Warschau. Die Europäische Gemeinschaft hat sich überdies im Mal 1992 mit "LlFE" ein spezielles Finanzierungsinstrument für die Umwelt geschaffen, über das auch "technische Hilfsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit Drittländern des Mittelmeerraumes oder den Drittländern, die Anrainerstaaten der Ostsee sind", unterstützt werden können. Vorhaben außerhalb des EU-Gebietes sollen auf folgende Zwecke ausgerichtet sein: Förderung der im Umweltbereich notwendigen Verwaltungstrukturen; Einführung von Politiken und Aktionsprogrammen im Umweltbereich; Transfer geeigneter umweltfreundlicher Technologien; Hilfe in ökologischen Notlagen.

* Im Energiebereich wird die Zusammenarbeit künftig wohl vor allem von dem auf dem Münchner "G 7-Gipfel" geborenen Hilfsprogramm zur Reaktorsicherheit in der GUS und den vormals mit sowjetischen Kernkraftwerken ausgerüsteten Staaten geprägt werden. Doch hat diese Initiative noch keine so konkreten Formen angenommen, daß schon die praktische Umsetzung der Hilfe klar ersichtlich wäre. Umfassen soll das Programm - Verbesserungen der Betriebsführungs-Sicherheit (Kostenschätzung 360 Mio Dollar) - kurzfristige technische Verbesserungen (320 Mio Dollar) - Nachrüstung von Anlagen (120 Mio bis 180 Mio Dollar pro Block) - Verstärkung der behördlichen Kontrolle und Untersuchungen zu Ersatzenergien. Außerdem schlossen die EG-Kommission und die drei von der ReaktorKatastrophe am stärksten betroffenen Staaten Rußland, Weißrußland und die Ukraine im Juni 1992 das sog. Tschernobyl - Abkommen. Es soll ein umfangreiches Programm zur internationalen Zusammenarbeit bei der Beurteilung der Folgen des Unglücks im KKW von Tschernobyl auf den Weg bringen. Die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom), Japan, Rußland und die USA haben im Juli 1992 zudem ein Übereinkommen über die Zusammenarbeit bei der Erstellung eines detaillierten Entwurfs für einen Internationalen thermonuklearen Versuchsreaktor - ITER - unterzeichnet. Diese

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Kooperation steht unter der Schirmherrschaft der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA). Ein weiteres wesentliches Element der Ost-West-Kooperation in diesem Bereich ist die Ende 1991 in Den Haag unterzeichnete "Europäische Energiecharta ", die die Unterschrift von fast 40 europäischen Staaten sowie 12 der damaligen Sowjetrepubliken trägt. Nach Auffassung ihrer Initiatoren soll sie den Grundstein bilden für eine Neustrukturierung der Energiewirtschaft auf dem alten Kontinent. In der Charta erklären die Unterzeichnenden ihren Willen zur künftigen Kooperation bei der Gewinnung, dem Transport und der Vermarktung von Energie. Inzwischen sind auch die Verhandlungen über die diese Charta praktisch ausfüllenden Verträge erheblich vorangekommen. Ihre Arbeit in Mittel- und Osteuropa bereits aufgenommen haben rund zehn Europäische Energiezentren, die vor allem aus dem THERMIEProgramm der EU finanziert werden. Die Zentren sollen eine Plattform für den Austausch von Erfahrungen und Forschungsergebnissen bilden und u.a. Möglichkeiten der rationellen Energienutzung in Gebäuden, im Verkehrswesen und in der Industrie erarbeiten.

* Dem Mittelstand in Osteuropa wird ein Großteil der Kooperationsund Informationsinstrumente der Europäischen Union zur Verfügung gestellt: Kleine und mittlere Betriebe aus den mittel- und osteuropäischen Staaten können sich an den Initiativen EUROPARTENARIAT und Interprise beteiligen. Dies sind Aktionen der Union, über die sogenannte Firmen-Begegnungstage organisiert werden, die das Auffinden geeigneter Kooperationspartner erleichtern sollen. Bei der Suche nach Partnerfirmen können osteuropäische Betriebe auch auf das "Büro für Unternehmenskooperation" und das "Business Cooperation Network" (BC-Net) zurückgreifen. In Prag, Warschau und Budapest gibt es bereits eine östliche EICVariante - hier heißen sie Korrespondenzzentren. Die Euro-lnfo-Center (EIC) sind spezielle EG-Beratungsstellen für Unternehmen. Überdies sollen mit Brüsseler Hilfe auch osteuropäische BIC (Business and Innovation Center) aufgebaut werden. Unter dem Stichwort Mittelstand ist gleichfalls auf die demnächst anlaufende Unterstützung für eine spezielle Branche hinzuweisen, nämlich den Fremdenverkehr. Die EG hat im Juli 1992 einen "Aktionsplan der Gemeinschaft zur Förderung des Tourismus" beschlossen. Im Rahmen

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dieses dreijährigen Planes (1993 - 1995) soll auch der Ausbau der touristischen Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa gefördert werden. Unterstützungen finden soll der Know-how-Transfer in der Ausbildung, der Entwicklung von Strategien für Werbung und Marketing sowie zur Gründung von kleinen und mittleren Touristik-Unternehmen.

* Die Bildungskooperation zu erleichtern wurde von der EG extra ein Programm aufgelegt - das "Trans-European Mobility Scheme for University Studies", kurz TEMPUS. Formal ist es Bestandteil des PHAREProgramms, es hat jedoch seine eigenen Antragsverfahren, Bewerbungsbedingungen und Durchführungsbestimmungen. Neben den PHAREStaaten ist hier Kroatien bereits integriert. Mit diesem Programm soll die strukturelle Umgestaltung der Hochschulsysteme in den beteiligten mittelund osteuropäischen Ländern, die Zusammenarbeit mit Partnern in der EG, der Austausch von Studenten und Lehrkräften unterstützt werden. Über ein anderes Programm namens ACE für" Act Ion for Cooperation in the Field of Economies"wird der personelle und geistige Austausch speziell im Bereich der Wirtschaftswissenschaften gefördert. Außer TEMPUS und ACE wurde noch eine Reihe von Möglichkeiten in speziellen Bereichen eröffnet, beispielsweise zur Unterstü tzung der Berufsausbildung für öffentliche Verwaltungen, Banken und Finanzdienstleistungen.

* Regionen und Städte können sich bei ihren Bemühungen um ostwestliche Annäherung vor allem auf zwei (leider nicht allzu finanzkräftige Initiativen) stützen: Die Regionen können das "Ouverture-Netzwerk" nutzen, die Städte das "European City Cooperation System" (ECOS). Beide Programme werden aus dem Europäischen Regionalfonds finanziert. Die" Ouverture" - Initiative wurde Anfang 1991 von der Regionen Asturien, Piemont, Strathclyde und Saarland ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, innerhalb von drei Jahren ein Netz von Verbindungen zwischen Regionen und Gebieten der Europäischen Gemeinschaft sowie entsprechenden Partnern in Osteuropa zu knüpfen. Dieses Netzwerk soll die Kooperation in verschiedenen Bereichen, die in die Zuständigkeit der regionalen und lokalen Behörden fallen, unterstützen. "ECOS" geht auf einen Vorschlag des "Rates der Gemeinden und Regionen Europas" zurück und soll vor allem Städten und Gemeinden in den weniger begünstigten Gebieten der EU dabei helfen, mit Partnern in Osteuropa Verbindungen aufzunehmen und zusammenzuarbeiten.

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Darüber hinaus will die EU auch einige Vorhaben von "Eurocities" finanzieren. Dieser 1986 entstandenen Initiative haben sich bis heute über 40 Großstädte in Ost- und Westeuropa angeschlossen. Kredite und Bürgschaften Wie anfangs schon erwähnt, reichen sowohl die Europäische Investitionsbank in Luxemburg, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London als auch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Darlehen gen Osten aus - zu mehr oder weniger unterschiedlichen Zwecken und verschiedenen Bedingungen. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung

Die EBWE (mit 51prozentiger EG-Kapitalmehrheit) bietet zu Marktkonditionen folgende Finanzierungsarten: Darlehen (gesicherte/ungesicherte, nachgeordnete, konvertible oder elgenkapitalgebundene ) - Eigenkapital (die Osteuropa-Bank kann dann Eigenkapital finanzieren, wenn dies zur Durchführung von Transaktionen erforderlich ist, die andernfalls aufgrund fehlender Finanzierungsmittel nicht zustande kämen) - Bürgschaften und Emissionsgarantien

Sowohl beim Erwerb von Beteiligungen als auch bei der Vergabe von Darlehen geht es um Kofinanzierungen mit anderen internationalen Kreditinstitutionen sowie privaten und öffentlichen Unternehmen bzw. Banken. Die EBWE hat zwei Hauptabteilungen, in denen sich zugleich die der Bank übertragenen Hauptaufgaben widerspiegeln: - Merchant Banking (Unternehmenskredite für private und zu privatisierende Betriebe) - Development Banking (Entwicklungsdarlehen für Infrastrukturprojekte).

Mindestens 60 % aller Transaktionen sollen in Privatfirmen oder Staatsbetriebe auf dem Wege der Privatisierung gehen, maximal 40 % in öffentliche Infrastruktur- und andere Projekte. Was die Privatisierung angeht, so ist die Bank in den Ländern, die dafür schon den institutionellen Rahmen geschaffen haben, dabei, direkt Kapi-

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tal zu investieren. In anderen Staaten berät sie die Regierungen bei der Durchführung von Privatisierungsprogrammen und unterstützt die Erarbeitung entsprechender Strategien. Weitere Hauptfelder ihres Engagement sind: -

Energiesektor Transportwesen Telekommunikation Finanzbereich Umweltschutz Die Minimalgrenze für Darlehen oder Investitionen beträgt 5 Mio ECU. Europäische Investitionsbank

Die EIB wurde ermächtigt, Polen und Ungarn Darlehen bis zu einem Gesamtbetrag von 1 Mrd ECU zu gewähren. Außerdem kann die Bank in Bulgarien, Rumänien und der Tschechien und der Slowakei Mittel bis zu einem Volumen von insgesamt 700 Mio ECU einsetzen. Finanziert wird: - Infrastrukturprojekte, die eine Schlüsselrolle bei der Exportförderung und der Umstrukturierung des industriellen Sektors spielen - beispielsweise Vorhaben auf den Gebieten Energie, Fernmeldewesen, Verkehr und Umweltschutz - Industrieprojekte, insbesondere im Rahmen von joint ventures mit Unternehmen aus der EU.

Vorhaben im Bereich der sozialen Infrastruktur (z.B. Gesundheitswesen, allgemeines Bildungswesen, Wohlfahrtseinrichtungen) kommen für EIBFinanzierungen nicht in Betracht. Die Luxemburger Bank ist eine ergänzende Finanzierungsquelle, sie vergibt ihre Mittel also nur bei gleichzeitigem Einsatz von Eigenmitteln des Projektträgers und Geldern aus anderen langfristigen Finanzierungsquellen. Die EIB-Darlehen dürfen maximal 50 % der Projektkosten ausmachen. Kofinanzierungsmöglichkeiten bestehen mit den von der EG-Kommission verwalteten Haushaltsmitteln sowie mit anderen innerhalb des PHAREProgramms verfügbaren bilateralen und multilateralen Geldern.

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Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Die EG hatte bereits im Frühjahr 1990 beschlossen, Polen und Ungarn EGKS-Darlehen von bis zu 200 Mio ECU für Investitionen in der Kohleund Stahlindustrie bereitzustellen. In diesen Kreditrahmen wurden 1991 auch die CSFR, Bulgarien und Rumänien einbezogen. Welche Investitionen können finanziert werden:

- Investitionen, die die Ven.uendung von Gemeinschaftsstahl fördern, insbesondere Infrastrukturvorhaben und andere, einen Stahlverbrauch einschließende Projekte. - Im Stahlsektor Industrievorhaben, die im Rahmen von Kooperationen durchgeführt werden und an denen mindestens ein Unternehmen aus der EU beteiligt ist. - Im Kohlesektor Vorhaben, die im Rahmen von Kooperationen durchgeführt werden, an denen mindestens ein Unternehmen aus der Gemeinschaft beteiligt ist und die die Verbesserung der Umweltbedingungen, der Arbeitssicherheit und -bedingungen in Bergwerken bzw. die Umstellung dieses Industriezweiges betreffen. Die Mittel dürfen nicht zum Aufbau zusätzlicher Kapazitäten genutzt werden, denen kein entsprechender Zuwachs an Nachfrage gegenübersteht. Die Darlehensempfänger müssen überdies ausreichende Zusicherungen abgeben, sich beim Export von Kohle und Stahl an die GATT-Regeln zu halten. Rechnet man all die bislang genannten Darlehen, Bürgschaften und Zuschüsse - zuzüglich der gleichfalls gewährten Exportkredite, humanitären Sofort- und makroökonomischen Hilfe - zusammen, so kommt man für Mittel- und Osteuropa bis zum letzten Vierteljahr 1991 auf einen Betrag von rund 15 Mrd DM und für die GUS-Staaten bis Ende März 1992 auf die Summe von 12 Mrd DM.

Der heilige Benedikt und Europa Von Franz Grabe Sommerzeit ist Reisezeit. An den Wochenenden merken wir das auf den Autobahnen: Auto reiht sich an Auto. In den Ballungsgebieten dagegen wird es merklich leerer. Wer jetzt noch zur Arbeit fährt, kann ohne große Verkehrs behinderung in die Städte kommen. Deutschland ist unterwegs. Die Deutschen sind Weltmeister im Reisen. Nach Norden, Süden, Westen und neuerdings nach Osten zieht es die Menschen. Für viele ist die Urlaubszeit die "schönste" Zeit. Sie verlassen ihr gewohntes Umfeld, sammeln neue Eindrücke und können Fremdes kennenlernen. Viele haben in ihrem Feriengebiet so etwas wie eine zweite Heimat gefunden und reisen immer wieder zu denselben Zielen. Für die Zeit des Urlaubs tauchen wir ein in fremde Sitten und Gebräuche. Wir genießen es, unbelastet von allen Alltagssorgen das zu tun, wozu wir zu Hause keine Zeit haben. Für viele Urlauber gehört dazu, sich neben den Naturschönheiten auch die kulturellen, zeitgeschichtlichen und kirchlichen Zentren genauer anzuschauen. Viele Menschen berichten, daß sie in dieser Zeit auch ihre religiöse Seite neu entdeckt haben. Wenn man kreuz und quer durch Deutschland und Österreich oder auch weiter nach Italien, Frankreich, Spanien,England, in die nordischen Länder oder sogar nach Übersee fährt, macht man eine überraschende Erfahrung! Überall treffen wir auf ein bestimmtes Zeugnis des Glaubens: Wir finden die großen Klöster und Abteien, die nach der Regel des heiligen Benedikt leben. In aller Welt gibt es diese Gemeinschaften, die in unterschiedlicher Weise aus dem Geist des heiligen Benedikt wirken oder gewirkt haben. Die Rolle der Benediktiner und Zisterzienser als Kulturstifter in Zivilisation, Kunst und Landwirtschaft sind ausreichend. bekannt. Unsere Zeit ist von größter Mobilität und Unstetigkeit geprägt. Viele Menschen sind auf der Suche nach Orientierung. In den Klöstern können sie eine sehr beruhigende Erfahrung machen: Im Kontrast zur modernen Hektik erfahren sie dort die Konstanten europäischer Kulturgeschichte - benediktinische Ruhe und Gelassenheit, Stabilität mitten im Wandel der Zeit.

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Die Mönche des heiligen Benedikt sind es, die von jeher die Forderung des Evangeliums ernst genommen haben: "Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder und Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen." (Mt 19,29) Sie verlassen Haus und Hof, um sich im Kloster den Sorgen und Nöten der Menschen zu stellen. Und wie die Jünger Jesu ihren Missionsauftrag ernst genommen haben und in die gesamte damalige Welt gezogen sind, so haben die Benediktiner von Montecassino aus ganz Europa mit einem Netz von Klöstern und Abteien überzogen. Jedes Kloster wurde dabei zu einem Zentrum des kulturellen und religiösen Lebens. So verschieden das Wirken der Klöster war, so einheitlich haben sie doch aus dem Geist des heiligen Benedikt gelebt. Als Papst Paul VI. den heiligen Benedikt zum Patron Europas ernannt hat, konnte er keine bessere Wahl treffen. Benedikt, der am Ausgang der Antike lebte, ist Zeuge des Zerfalls des alten Weltbildes und Motor für die Entwicklung des "christlichen Abendlandes". Er steht an der Schwelle der neuen Zeit, an den Anfängen jenes Europa, das damals aus den Wirren der Völkerwanderung entstand. Auch seine Zeit war geprägt von großer Unsicherheit und Orientierungssuche. So schreibt Walter Nigg in seiner Hagiographie: "Montecassino wurde zu einem Symbol der abendländischen Geistesgeschichte" und zu einem Symbol, das "nicht auszulöschen" ist. Symbole müssen immer wieder neu interpretiert werden. Beim Zusammenwachsen Europas müssen Christen einen Beitrag leisten! Sie müssen darauf hinweisen, daß Europa mehr ist als nur eine wirtschaftliche Gemeinschaft. Die europäischen Wurzeln liegen nicht im Ökonomischen, sondern im Kulturellen, im Geistigen, in diesem Sinne auch im "Benediktinischen". Wertvorstellungen, auf denen die europäische Gemeinschaft aufgebaut ist, dürfen nie allein von Wirtschaftsinteressen getragen sein, sondern müssen sich an jenen Werten orientieren, die Benedikt für die Klostergemeinschaft in seiner Regel zusammengefaßt hat. Das benediktinische Erbe verpflichtet. Heute erinnert es uns daran, daß das ökonomische Denken nicht der alleinige Maßstab des Lebens sein kann. Der Mensch ist schließlich kein Wesen, das nur denkt und arbeitet. Der Mensch ist vielmehr ein Wesen, das auch singt, tanzt, betet, Geschichten erzählt und feiert. Wird der Mensch auch in Zukunft seinem Wesen entsprechen können, wenn der Sonntag zum Werktag, der Feiertag zum Arbeitstag wird und das Gebet von Arbeit und Leistung verdrängt wird? Maschinenlaufzeiten dürfen schließlich nicht den Lebensrhythmus der Menschen bestimmen. Das führt unweigerlich zu schweren " Rhythmusstörungen" .

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Zu Lebzeiten Benedikts wie heute war die Welt von einer Krise der Werte und Institutionen erschüttert. Sie hing mit dem Ende des römischen Reiches, der Völkerwanderung und dem Sittenverfall zusammen. Benedikt hat bei all seinen Plänen zur Reform der Gesellschaft vor allem auf den Menschen gesetzt. Er orientierte sich an drei Leitlinien: 1. Es ist der Respekt vor der Würde der Person! Es ist die Achtung vor dem Leben aller Menschen, die ein Zusammenleben erst ermöglicht!

2. Die Arbeit war für Benedikt gleichbedeutend mit der Sicherung der eigenen Lebensgrundlage und zugleich zentrale Möglichkeit, zu sich selbst zu finden, sein Leben frei zu entfalten. Arbeit war aber auch Antwort auf den Auftrag Gottes, seine Schöpfung zu hegen und zu pflegen, sie als Gottes Ebenbild zu beherrschen. 3. Für Benedikt war klar, daß nur der Mensch, der sich dem Anruf Gottes stellt und Gott im Gebet antwortet, auch zu sich selber finden kann. Er wußte: Jeder, der dem Anruf Gottes folgt, wird das ewige Leben gewinnen. (vgl. Mt 19, 29) Diese Grundsätze für das mönchische Leben, die prägend für die kulturelle Entwicklung des gesamten Mittelalters werden sollten, hat der heilige Radbert im 10. Jahrhundert auf den Punkt gebracht: Das "Ora et labora"bete und arbeite - will den Menschen zu einem Gleichgewicht zwischen Aktion und Kontemplation, zwischen Arbeiten und Beten, Sonntag und Werktag, Anspannung und Entspannung, bringen. Nur in diesem Gleichgewicht bleibt der einzelne Mensch als Person im Blickfeld. Nur so kann jeder Einzelne den Kulturauftrag weiter tragen. Damit sind aber auch Leitlinien für eine Weiterentwicklung in Europa gelegt. Wir leben in einer Gesellschaft, die so reich ist an wirtschaftlichen und technischen Mitteln, daß alles machbar erscheint. Wir erhalten Informationen aus den entferntesten Winkeln der Erde. Wir haben eine Mobilität gewonnen, die es uns ermöglicht, in kürzester Zeit überall hinzureisen. Gleichzeitig erleben wir Exklusivität und Gleichgültigkeit. Wir sind mit Enge und bedrückenden Grenzen konfrontiert. Zu den vielen Beispielen solcher Enge, Gleichgültigkeit und Egoismen gehören auch die gesellschaftlichen und politischen: Interessengegensätze, die rücksichtslos ausgefochten werden; soziale Barrieren, die Menschen ausgrenzen; die ungerechte Verteilung der Arbeit; die Grenze zwischen arm und reich. Dann aber erleben wir auch die schlimmen Grenzen, die Völker gegeneinander aufrichten und die Krieg und Gewalt und Blutvergießen zur Folge haben - in der Mitte Europas.

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Wir dürfen es nicht zulassen, daß aus Europa eine nur auf sich selbst bezogene Gruppe reicher Gesellschaften wird, deren Idol das "goldene Kalb" des wirtschaftlichen Wachstums ist. Mit seiner Regel wurde der heilige Benedikt zum Urheber der Einheit einer europäischen Kultur. Es ist die Einheit der Gemeinschaften, es ist die Gültigkeit von verbindlichen Werten, und es ist die Vision eines gemeinsam anzustrebenden Ziels. So teilen die Länder in Europa eine Geschichte, eine allen zugrundeliegende Kultur, und sie verdanken viel von ihrem Identitätsbewußtsein den Werten, die auf den Glauben an Jesus Christus und an seine Botschaft zurückzuführen sind. Der Aufbau eines modernen Europas verlangt von uns das Bekenntnis und den Einsatz für die Werte aus gen au dieser benediktinischen Tradition. Der Respekt vor der Person entzieht jedem elitären Denken den Boden. Wir müssen mit aller Kraft gegen jegliche rassische und gesellschaftliche Diskriminierung von einzelnen Gruppen Einspruch erheben. Einheit toleriert nicht nur die Verschiedenheit ihrer Mitglieder, sondern geht von der Pluralität aus und fördert sie. Erst wenn der Schutz des Lebens für alle und in allen Lebenslagen gesichert ist, hat auch Europa eine Chance zum Überleben. Damit fordert das benediktinische Denken zum lebhaften Protest gegen nationale Engstirnigkeit, gegen Krämergeist im Umgang der Europäer heraus! Schon im Prolog der Benediktinischen Regel finden wir den Psalmvers (Psalm 33, 14, 15): "Suche den Frieden, und jage ihm nach." Europa läßt sich nur aufbauen, wenn die enormen Energien, die für Rüstung und Waffen aufgewendet werden, für das Leben und für die Sicherung des gerechten Ausgleichs zwischen den Völkern eingesetzt werden. Dies fördert die Solidarität zwischen den unterschiedlichen Regionen Europas und für die eine Welt. Die Regel des Benedikt fordert zum Teilen mit anderen und zur Gewährung der Gastfreundschaft auf. "Europa" wird nur dann in der Welt einen guten Klang haben, wenn es sich nicht den Nöten und Bedürfnissen der Armen der Welt verschließt. Eine "Festung Europa" kann niemand akzeptieren. Diese würde zugleich das Ende der europäischen Kultur bedeuten. In Verantwortung gegenüber der einen Welt müssen die Europäer ihre Gewissen erforschen und ihr Denken und Sprechen überprüfen. Was rechtfertigt die Rede von der "ersten", "zweiten" und "dritten" Welt? Europa braucht eine ökologischorientierte, soziale Wirtschaftsform. Das verbindet sich fast automatisch mit den klassischen Bemühungen bene-

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diktinischer Klöster. Nirgendwo hat die Achtung vor der Schöpfung eine längere Tradition als in der Form der Landwirtschaft, wie sie die Benediktinerklöster verbreitet haben. Das engmaschige Netz von Klöstern bildete im damaligen Europa über alle Grenzen hinweg eine Infrastruktur für Handel und Wandel. Allerdings sind die modernen Widersprüchlichkeiten angesichts des benediktinischen Ideales nicht mehr zu überbieten: Da wird der spektakuläre Sieg von "Greenpeace" über "Shell" gefeiert und zugleich im Deutschen Bundestag das "Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz" mit einer Fristenlösung beschlossen. Dürfen wir menschliches Leben befristen? Wer für sauberes Meerwasser ist, müßte viel entschiedener für die ungeborenen Kinder eintreten. Diese doppelte Bio-Moral müssen wir entlarven. Und ein letztes macht die Regel des heiligen Benedikt für ein neu entstehendes Europa so wichtig. Nur wenn wir neben der vielfältigen Aktivität und Hektik des Alltags auch dafür Sorge tragen, daß Zeiten für Gebet und Muße bleiben, wird Europa ein menschliches Gesicht erhalten. "Ora et labora" heißt, daß neben den Zeiten der gemeinsamen Arbeit auch die Zeiten zu gemeinsamem Gebet und Kontemplation, zu Feier und Fest gesichert sind. Die Unterbrechung der Arbeitszeiten durch Ruhezeiten ist nicht nur ein religiöses Gebot und eine menschliche Notwendigkeit. Sie ist darüber hinaus für Europa ein Gradmesser, wieweit man sich dem Kalkül wirtschaftlicher Interessen unterwirft. Darum ist der Sonntag als Feiertag für uns unaufgebbar. Es ist also ohne Zweifel das Zusammenspiel der Werte, das für Europa wichtig ist! Der heilige Benedikt, der Patron Europas, bietet ein Modell der Lebensgestaltung, nicht nur auf diesem aUen Kontinent, sondern darüber hinaus für die ganze Welt. Er weiß sich dabei aufgefangen in der Gewißheit, daß der Geist der Einheit von Gott kommt. Auch wenn wir immer wieder daran scheitern, Grenzen zu überwinden, so hat Gott sie doch längst überschritten und eine tiefe Einheit der Menschen und Völker geschaffen. Und gerade dann, wenn wir uns selbst auf Reisen begeben, sollten wir uns von der Vielfalt menschlichen Lebens inspirieren lassen und die Orientierungen, die der heilige Benedikt uns gegeben hat und die in der biblischen Tradition begründet sind, wieder entdecken.

9 Timmermann

Autorenverzeichnis Prof. Dr. KrY3ZtoJ Baczkowlki

Jagiellonen-Universität Krakau

Prof. Dr. Friedrich Wilhe1m BaerKaupert

Europäische Akademie Otzenhausen

StefJen Bernhard

Jena

Heike Cloß

Industrie- und Handelskammer des Saarlandes

Franz Grabe

Weihbischof, Bistum Essen

Prof. Dr. Antoni Podraza

Jagiellonen-Universität Krakau

Dr. Karin RetzlafJ

Europäische Kommission, Bonn

Prof. Dr. Maciej Salamon

Jagiellonen-Universität Krakau

Prof. Dr. Dr. Heiner Timmermann

Europäische Akademie Otzenhausen und Universität Jena

Dr. Adalbert Winkler

Volkswirt, Frankfurt

Prof. Dr. Jerzy Wyrozumlki

Jagiellonen-Universität Krakau