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German Pages 291 [292] Year 2020
Externe Experten in Politik und Wirtschaft
Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)
beiheft 78 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin
Felix Selgert (Hrsg.)
Externe Experten in Politik und Wirtschaft
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Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Franz X. Stückle Druck und Verlag e.K., Ettenheim isbn 978-3-11-069363-8 e-isbn (pdf) 978-3-11-069373-7 e-isbn (epub) 978-3-11-069382-9
Inhalt
Vorwort
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Externe Experten in Politik und Wirtschaft: Einleitung // Felix Selgert
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„Enthousiasme et expertise“ – Der französische Präfekt Adrien de LezayMarnésia und sein Engagement für den kommunalen Wegebau im Rhein-Moseldepartement 1806–1810 // Regine Jägers Experten und Entscheiden. Eine Fallstudie zum preußischen Chausseewesen // Felix Gräfenberg Akademisches Expertenwissen als Ressource für die Politik. Die „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ als Think Tank der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik // Agnes Laba Einfluss und Rolle von Experten während der nordrhein-westfälischen Gebietsreform (1966–1975) // David Merschjohann
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Kompetenzen im Widerstreit. Unternehmensberater als Personalplaner der Deutschen Bundespost 1983–1985 // Alina Marktanner
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Externe Experten und räumliche Transformationsprobleme in den neuen Bundesländern // Jann Müller
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Internationale Experten in eigener Sache? Der Völkerbund und die Organisation der geistigen Zusammenarbeit in der Zwischenkriegszeit // Jonathan Voges
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Menschenrechtsexperten in der UNO – Berater, Diplomaten, Aktivisten? Die ambivalente Rolle von Völkerrechtlern bei der Entstehung des UNO-Menschenrechtsschutzes // Peter Ridder
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Von Lobbyisten zu Experten. Europas Universitätsleiter und die Anfänge europäischer Hochschulpolitik // Lars Lehmann Die Autorinnen und Autoren
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Vorwort
Der vorliegende Band geht auf eine Konferenz zurück, die vom 1. bis 2.Oktober 2018 am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn stattgefunden hat. Finanziert und durchgeführt wurde die Tagung vom Zentrum für die historischen Grundlagen der Gegenwart. Das interdisziplinäre Zentrum hat sich die Untersuchung der unsere Gegenwart strukturierenden Wandlungsprozesse zur Aufgabe gemacht. Zu diesen Prozessen zählt auch die Durchsetzung der Wissensgesellschaft im späten 19. und frühen 20.Jahrhundert und mit ihr die zunehmende Bedeutung von Experten für das Treffen komplexer Entscheidungen in privaten und öffentlichen Organisationen. Einer Untergruppe dieser Experten, nämlich den „Externen Experten in Politik und Wirtschaft“, haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz gewidmet. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die zum Gelingen der Konferenz beigetragen haben: den Referentinnen und Referenten, den Hilfskräften und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung für Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG) am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn. Ein besonderer Dank gilt auch den Herausgebern der Beihefte der Historischen Zeitschrift, Andreas Fahrmeir und Hartmut Leppin, die den aus der Konferenz entstandenen Sammelband in ihre Reihe aufgenommen haben. Nicht zuletzt danke ich den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen zum Gelingen des Bandes beigetragen haben, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung VSGW und der Redaktion der Historischen Zeitschrift in Person von Jürgen Müller
für ihre Unterstützung bei der Bearbeitung der Beiträge. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich eine angenehme und inspirierende Lektüre. Mainz, im November 2019 Felix Selgert
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Externe Experten in Politik und Wirtschaft: Einleitung von Felix Selgert
Keine Gesellschaft kommt ohne die Kulturtechnik des Entscheidens aus – dies gilt unabhängig von der Epoche. Im Gegensatz zu Entscheidungen, die sich auf das einzelne Individuum beziehen, handelt es sich bei Entscheidungen, die eine Gruppe von Menschen betreffen, meist um sehr komplexe Probleme. Diese Entscheidungsprobleme können in der Regel nur auf einer zwar breiten, aber auch sehr spezialisierten Wissensbasis gelöst werden. Diese Wissensbasis ist Voraussetzung, um Probleme zu identifizieren, Zielvorstellungen zu formulieren und Lösungswege zu entwerfen. Aus diesem Grund werden solche gesellschaftlichen Entscheidungen auch nicht von einer einzelnen Person, sondern kollektiv getroffen. Kollektiv meint nicht, dass alle Entscheidungen in allen Epochen demokratisch und transparent gefällt wurden und werden, sondern dass an der Lösung gesellschaftlicher Entscheidungsprobleme in der Regel mehrere Individuen beteiligt sind, die jeweils über einen spezifischen Teil des Wissens verfügen, der für die Lösung des Problems mitentscheidend ist. So hatten bereits die europäischen Fürsten des Mittelalters ihre Ratgeber. 1 Mit zunehmend komplexeren Staatsaufgaben und damit auch immer komplexeren Entscheidungsprozessen wurde die Rolle dieser Experten immer wichtiger. 2
I. Forschungsstand Experten sind heute aus der politischen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Die Bundesregierung lässt sich beispielsweise von zahlreichen Sachverständigen-
1 Stefan Fisch, Vom Fürstenratgeber zum Politikberater. Perspektiven einer Geschichte der Politikberatung, in: ders./Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive. (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 168.) Berlin 2004, 7–11, hier 8f. 2 Siehe dazu: William Ray Arney, Experts in the Age of Systems. Albuquerque 1991.
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gremien beraten. Experten melden sich aber auch von der Politik ungefragt, etwa in Fragen des Klimawandels, zu Wort. Expertenwissen wird jedoch nicht nur in politischen Entscheidungsprozessen nachgefragt; auch Unternehmen holen regelmäßig den Rat von Fachleuten, wie etwa Unternehmensberatern oder Marketingexperten, ein. Dabei handelt es sich nicht um ein Phänomen der jüngeren Zeitgeschichte. Seit der Mitte des 19.Jahrhunderts lässt sich verstärkt beobachten, dass Entscheidungen auf Grundlage einer breiten Wissensbasis getroffen wurden. Die Anfänge dieser Wissensgesellschaft reichen aber bis in die Vormoderne zurück. 3 Sie bilden sowohl die Grundlagen für die Entstehung des modernen Staates 4 als auch der Industriellen Revolution. 5 Trotz der tiefreichenden Wurzeln dieser Wissensgesellschaft muss ihr endgültiger Durchbruch im 19.Jahrhundert verortet werden. Erst mit der Entstehung professioneller staatlicher Verwaltungen und Unternehmen entwickelten sich immer mehr wissensdominierte Handlungsfelder. Hierzu zählen beispielsweise die Verkehrspolitik 6, aber auch die Bevölkerungspolitik 7 und eine frühe Umweltpolitik 8. Ein weiterer wichtiger Prozess innerhalb der longue durée war der Wandel des zunächst von persönlichen Beziehungen geprägten Verhältnisses von Produzenten und Rezipienten handlungsrelevanten Wissens hin zu institutionalisierten und verstetigten Strukturen. 9 Damit bewegte sich aber auch der Adressatenkreis der Experten von dem einzelnen Machthaber weg und auf eine breitere Öffentlichkeit zu. 3 Fisch, Fürstenratgeber (wie Anm.1); ebenfalls: Frank Rexroth/Teresa Schröder-Stapper (Hrsg.), Experten, Wissen, Symbole. Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen. (Historische Zeitschrift, Beihefte NF., Bd. 71.) Berlin/Boston 2018; Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. (Historische Zeitschrift, Beihefte NF., Bd. 57.) München 2012.
4 Peter Collin/Thomas Horstmann (Hrsg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis. (Rechtspolitologie, 17.) Baden-Baden 2004. 5 Joel Mokyr, A Culture of Growth. The Origins of the Modern Economy. (The Graz Schumpeter Lectures.) Princeton, NJ 2017. 6 Michael Hascher, Politikberatung durch Experten. Das Beispiel der deutschen Verkehrspolitik im 19. und 20.Jahrhundert. (Beiträge zur historischen Verkehrsforschung, 8.) Frankfurt am Main 2006. 7 Alexander Pinwinkler, Amtliche Statistik, Bevölkerung und staatliche Politik in Westeuropa, ca. 1850– 1950, in: Collin/Horstmann (Hrsg.), Das Wissen des Staates (wie Anm.4), 195–215. 8 Frank Uekötter, Die Kommunikation zwischen technischen und juristischen Experten als Schlüsselproblem der Umweltgeschichte. Die preußische Regierung und die Berliner Rauchplage, in: Technikgeschichte 66, 1999, 1–31. 9 Fisch, Fürstenratgeber (wie Anm.1); Wilfried Rudloff, Einleitung. Politikberatung als Gegenstand historischer Betrachtung. Forschungsstand, neue Befunde, übergreifende Fragestellungen, in: Fisch/Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik (wie Anm.1), 13–57.
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Nicht zuletzt professionalisierten sich die Produzenten handlungsrelevanten Wissens mit Beginn des 19.Jahrhunderts. 10 Erst jetzt also entstand der Sozialtypus des Experten, der im Mittelpunkt der Beiträge dieses Bandes steht. Für das 20.Jahrhundert hat Lutz Raphael dann die Verwissenschaftlichung des Sozialen ausgemacht. 11 Darunter versteht er die seit dem späten 19.Jahrhundert zunehmende Bedeutung sozialwissenschaftlichen Wissens für gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse. Träger dieses Wissens seien Wissenschaftler, aber auch akademisch gebildete Praktiker, deren zentraler Forschungs- beziehungsweise Handlungsgegenstand der Mensch in der Gesellschaft ist. Dass Experten ein Phänomen der Moderne sind, spiegelt sich auch in der Forschungslandschaft wider. Die meisten Arbeiten zu dem Themencluster Wissen, Experten, Entscheiden sind für das 19. und besonders das 20.Jahrhundert erschienen. Zwar gibt es auch Arbeiten zur Vormoderne, diese treten zahlenmäßig aber hinter die Literatur zur Moderne zurück. 12 Der Schwerpunkt der Forschung liegt auf dem 20.Jahrhundert, insbesondere dem Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik. Für die Zeit des „Dritten Reiches“ interessiert besonders die von der Forschung lange vernachlässigte Verstrickung der Wissenschaften in die Verbrechen des Nationalsozialismus. 13 In der zeithistorischen Forschung stehen insbesondere
10 Exemplarisch für die Ärzteschaft: Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19.Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußens. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 68.) Göttingen 1985. Außerdem: Alexandra Chmielewski, Auf dem Weg zum Experten. Die Herausbildung des psychiatrischen Berufsstandes in Süddeutschland (1800 bis 1860), in: Helmut Berding (Hrsg.), Kriminalität und abweichendes Verhalten. Deutschland im 18. u. 19.Jahrhundert. München/Göttingen 1999, 105–140. 11 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20.Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, 165– 193; ders., Experten im Sozialstaat, in: Hans Günter Hockerts (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 76.) München 1998, 231–258. 12 Wichtige Sammelbände zur Vormoderne sind: Alexander Kästner (Hrsg.), Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne. (Editionen + Dokumentationen, 1.) Leipzig 2008; Rexroth/Schröder-Stapper (Hrsg.), Experten (wie Anm.3); Reich/Rexroth/Roick (Hrsg.), Wissen (wie Anm.3). 13 Siehe den Sammelband von Doris Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Göttingen 2000. Außerdem: Ingo Haar, Experten – Ordnungsmodelle – Expertisen. Die Genesis der Endlösung aus dem Geiste der Wissenschaften, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 27, 2001, 423–465; Susanne Heim, „Vordenker der Vernichtung“: Wissenschaftliche Experten als Berater der nationalsozialistischen Politik, in: Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Ge-
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die 1960er Jahre im Fokus. Dieses Jahrzehnt erlebte den Durchbruch wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland, ja geradezu eine Wissenschafts- und Planungseuphorie. 14 Für die späteren Jahre nimmt das Interesse der Forschung wieder ab, nichtsdestoweniger existieren Werke, die nach der Rolle von Experten in der deutschen Wiedervereinigung 15 oder der österreichischen Medienlandschaft im Allgemeinen fragen. 16 Auch für die Weimarer Jahre ist die Literatur weniger dicht, meist werden die 1920er Jahre als Übergangszeit behandelt, die das 19.Jahrhundert mit dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik verbinden. 17 Eine Übergangszeit stellt auch das 19.Jahrhundert dar. Hier allerdings unter dem Vorzeichen des Wandels vormoderner zu modernen Experten. 18 sellschaft, 77–91; Sabine Schleiermacher, Experte und Lobbyist für Bevölkerungspolitik. Hans Harmsen in der Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik, in: Fisch/Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik (wie Anm.1), 211–238; Margit Szöllösi-Janze, Der Wissenschaftler als Experte. Kooperationsverhältnisse von Staat, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft 1914–1933, in: Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, 46–64. 14 Siehe exemplarisch das Themenheft des Archivs für Sozialgeschichte aus dem Jahr 2010: Anja Kruke/ Meik Woyke, Editorial. Rahmenthema: Verwissenschaftlichung von Politik nach 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 50, 2010, 3–10. Außerdem den Sammelband von Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Weilerswist 2004. Wichtige Einzelbeiträge: Gabriele Metzler, Demokratisierung durch Experten? Aspekte politischer Planung in der Bundesrepublik, in: ebd.267–287; dies., Versachlichung statt Interessenpolitik. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, in: Fisch/Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik (wie Anm.1), 127–152; Wilfried Rudloff, Verwissenschaftlichung der Politik? Wissenschaftliche Politikberatung in den sechziger Jahren, in: Collin/Horstmann (Hrsg.), Das Wissen des Staates (wie Anm.4), 216–257; ders., Wieviel Macht den Räten? Politikberatung im bundesdeutschen Bildungswesen von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren, in: Fisch/Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik (wie Anm.1), 153–188. 15
Florian Kohl, Nationalismus und Wiedervereinigung. Forscher als Experten und Vermittler: wissen-
schaftlicher Interdiskurs in ausgewählten deutschen und ausländischen Printmedien von 1989 bis 1990. Marburg 2008. 16
Brigitte Huber, Öffentliche Experten. Über die Medienpräsenz von Fachleuten. Wiesbaden 2014.
17
Jörn Happel, Der Ost-Experte. Gustav Hilger – Diplomat im Zeitalter der Extreme. Paderborn 2018; Ger-
hard A. Ritter, Berufsparlamentarier und Experten in deutschen Parlamenten des 19. und frühen 20.Jahrhunderts. Moritz Mohl, Paul Singer, Hermann Molkenbuhr, in: Archiv für Sozialgeschichte 47, 2007, 527– 552. Es gibt aber durchaus auch Studien, die sich auf die 1920er Jahre konzentrieren: Melanie Grütter, „Murder, they wrote“. Experten vor dem Strafgericht um 1920, in: Kästner (Hrsg.), Experten und Expertenwissen (wie Anm.12), 33–42; Wolfram Kaiser, Gesellschaftliche Akteure und Experten in internationalen Organisationen. Die Kartell-Debatte im Völkerbund 1925–1931, in: Michaela Bachem-Rehm (Hrsg.), Teilungen überwinden. München 2014, 317–328. 18
Eric J. Engstrom/Volker Hess/Ulrike Thoms, Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissen-
schaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19.Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Figurationen des
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Thematisch liegt der Fokus der meisten Arbeiten auf der wirtschaftspolitischen Politikberatung 19, hinzu kommen Umweltthemen 20 und die Beratung der Strafjustiz durch Experten 21. Die Bedeutung externer Experten in der Privatwirtschaft ist hingegen nur wenig untersucht. Eine wichtige Ausnahme stellen hier die Studien von Ruth Rosenberger über Personalexperten in der frühen Bundesrepublik sowie von Matthias Kipping zu Unternehmensberatern in Deutschland, Frankreich und Großbritannien dar. 22 Zudem fokussiert die Wissenschaft stark auf nationale Experten, die Rolle internationaler Experten in multilateralen Organisationen ist dagegen kaum erforscht. 23 Daher ist es umso erfreulicher, dass sich die Autoren des vorliegenden Sammelbands auch den bisher weniger stark untersuchten Zeiträumen und Themen widmen. So machen sich Regine Jägers und Felix Gräfenberg auf die Suche nach den Ursprüngen moderner Experten am Anfang des 19.Jahrhunderts, Alina Marktanner widmet sich der Frage, welche Rolle Unternehmensberater bei der PerExperten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19.Jahrhundert. (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 7.) Frankfurt am Main 2005, 7–18; Hascher, Politik.beratung (wie Anm.6); Pinwinkler, Amtliche Statistik (wie Anm.7); Ritter, Berufsparlamentarier (wie Anm.17) 19 Exemplarisch der Sammelband von Fisch/Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik (wie Anm.1); Happel, Ost-Experte (wie Anm.17); Hascher, Politikberatung (wie Anm.6); Alexander Nützenadel, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 166.) Göttingen 2005; Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982. (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 17.) Berlin 2007; Elke Seefried, Experten für die Planung? „Zukunftsforscher“ als Berater der Bundesregierung 1966–1972/73, in: Archiv für Sozialgeschichte 50, 2010, 109–152; Winfried Süß, „Rationale Politik“ durch sozialwissenschaftliche Beratung? Die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform 1966–1975, in: Fisch/Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik (wie Anm.1), 329–348. 20 Heiko Stoff, Hexa-Sabbat. Fremdstoffe und Vitalstoffe, Experten und der kritische Verbraucher in der BRD der 1950er und 1960er Jahre, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Me-
dizin 17, 2009, 55–83; Uekötter, Kommunikation (wie Anm.8). 21 Kästner (Hrsg.), Experten (wie Anm.12). 22 Matthias Kipping/Denis Saint-Martin, Between Regulation, Promotion and Consumption. Government and Management Consultancy in Britain, in: Business History 47, 2005, 449–465; Matthias Kipping, American Management Consulting Companies in Western Europe, 1920–1990, in: Business History Review 73, 1999, 190–220; ders., Consultancies, Institutions and the Diffusion of Taylorism in Britain, Germany and France, 1920s to 1950s, in: Business History 39, 1997, 67–83; Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland. (Ordnungssysteme, 26.) München 2008. 23 Kaiser, Akteure (wie Anm.17); Amy Verdun, Netzwerke der Währungspolitik. Die Rolle von Experten in Ausschüssen, in: Michael Gehler (Hrsg.), Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem. Von 1945 bis zur Gegenwart. (Historische Forschungen, 6.) Wien 2009, 151–164.
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sonalplanung der Deutschen Bundespost spielten, und Peter Ridder, Lars Lehmann und Jonathan Voges nehmen internationale Experten in den Blick.
II. Wer ist Experte? – Definitionen von Expertentum In der Forschung wird der Begriff des Experten unterschiedlich definiert. In einer recht engen Definition werden unter dem Begriff Träger von verwissenschaftlichtem Fachwissen verstanden, Experten sind in diesem Fall also Wissenschaftler oder zumindest akademisch ausgebildete Fachleute. 24 Legt man also den Maßstab der Verwissenschaftlichung an, kann von Experten erst ab dem ausgehenden 19.Jahrhundert gesprochen werden. In einer breiteren Definition des Begriffs sind Experten Träger von Spezial- oder Sonderwissen, das der Einzelne aufgrund der komplexen Umwelt nicht hat. Entscheidendes Kriterium der Definition ist somit die Abgrenzung des Fachmanns vom Laien über spezielle Wissensbestände. 25 Diese breitere Definition erlaubt es auch, andere Sozialtypen als den Akademiker unter den Expertenbegriff zu fassen. Diese müssen nicht zwangsläufig eine wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen haben. Hierzu können beispielsweise betriebliche Praktiker, Journalisten, aber auch vormoderne Träger von Spezialwissen zählen. Somit ist diese Definition nicht auf die Moderne beschränkt. Eine Ausweitung des Expertenbegriffs über den Akademiker hinaus bedeutet dann auch, dass Experten nicht ausschließlich Wissensproduzenten sind. Zentral ist vielmehr die Vermittlung spezialisierter Wissensbestände an einen bestimmten Adressatenkreis, und zwar in einer Form, die allgemeinverständlich und handlungsrelevant ist. 26 Experten übersetzen demnach Spezialwissen in alltagstaugliches Entscheidungswissen, wobei durch diese Übersetzungstätigkeit wieder neues Wissen
24
Raphael, Experten (wie Anm.11), 232; Christoph Strupp, Expert Cultures and Social Engineering in the
Nineteenth Century, in: Bulletin of the German Historical Institute, 2002, 95–100. 25
Thomas Busset/Beatrice Schumacher, „Der Experte“. Aufstieg einer Figur der Wahrheit und des Wissens,
in: Traverse 8, 2001, 15–26, hier 15; Huber, Öffentliche Experten (wie Anm.16), 22f.; Kästner (Hrsg.), Experten (wie Anm.12), 4f.; Reich/Rexroth/Roick (Hrsg.), Wissen (wie Anm.3), 7; Rosenberger, Experten (wie Anm. 22), 12. 26
Rosenberger, Experten (wie Anm.22), 25; Nico Stehr/Reiner Grundmann, Experts. The Knowledge and
Power of Expertise. London 2014; siehe auch: Happel, Ost-Experte (wie Anm.17), 32; Metzler, Demokratisierung (wie Anm.14), 268.
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entstehen kann. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. 1. Da Experten an der Schnittstelle zwischen Wissen und Entscheiden agieren, bezieht sich ihr Handeln immer auf einen Adressatenkreis. In der Tat ist es erst die Nachfrage bestimmter Akteursgruppen nach handlungsrelevantem Wissen, die Experten entstehen lässt. Experten können also nur durch Interaktion mit einer Öffentlichkeit existieren, die dem Wissen des Experten einen höheren Wert als anderen Wissensbeständen beimisst und der Person des Experten Legitimität zuschreibt. 27 Oftmals sind diese beiden Aspekte miteinander korreliert, es besteht aber keine simple Kausalität. So kann es einmal die Zuschreibung von Legitimität aus einer anderen Quelle sein, die dem Wissen des Experten einen höheren Wert als anderen Wissensbeständen verleiht. Auf der anderen Seite mag die öffentliche Hochschätzung bestimmter Wissensbestände die Quelle der Legitimität des Experten sein. Die Tatsache, dass Experten nur durch die Interaktion mit der Öffentlichkeit existieren können, bedeutet aber auch, dass sich Experten diese Öffentlichkeit schaffen können, indem sie etwa selbst aktiv Problembereiche definieren und Lösungsvorschläge unterbreiten. 28 2. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass die angesprochene Übersetzung spezialisierter Wissensbestände durch Experten nicht neutral ist. In vielen Fällen folgen Experten einer bestimmten Anreizstruktur, die darin bestehen mag, den eigenen Expertenstatus zu bewahren, aber auch einer bestimmten (politischen) Agenda folgen kann. 29 Experten sind somit oft Teil einer Advokatenkoalition, die in Bezug auf bestimmte Handlungs- und Politikfelder gemeinsame Wertvorstellungen und Lösungsansätze teilt und versucht, diese in gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen durchzusetzen. 30 Mit der Frage, wer als Experte gilt und wer sich als Experte Gehör verschaffen kann, sind also immer auch Machtfragen verbunden. 31 Prinzipiell können Experten in eine Organisation, etwa ein Unternehmen oder ein Ministerium, eingebunden sein, wie dies beispielsweise beim Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages der Fall ist. In vielen Fällen standen und ste-
27 Grütter, Murder (wie Anm.17); Busset/Schumacher, Experte (wie Anm.25). 28 So beispielsweise Happel, Ost-Experte (wie Anm.17), 32. 29 Vgl. Daniel Siemens, Forschung am lebenden Objekt. Kriminologie und Expertenwissen in Chicago zwischen 1900 und 1930, in: Kästner (Hrsg.), Experten und Expertenwissen (wie Anm.12), 43–56. 30 Paul A. Sabatier, An Advocacy Coalition Framework of Policy Change and the Role of Policy-Oriented Learning therein, in: Policy Sciences 21, 1988, 129–168. 31 So auch: Busset/Schumacher, Experte (wie Anm.25), 17.
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hen Experten jedoch außerhalb der Organisation, für die sie ihre Übersetzungsleistung erbringen. Für diese externen Experten interessiert sich der vorliegende Sammelband in besonderem Maße.
III. Fragestellungen und Beiträge In dem hier skizzierten Rahmen einer Definition externer Experten haben wir die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbands gebeten, über folgende Fragen nachzudenken. Zunächst waren wir daran interessiert, welche Rolle die zu behandelnden Experten in den untersuchten Entscheidungsprozessen spielten. Dienten sie als Wissenszulieferer vor der Entscheidung, Umsetzer nach der Entscheidung, Begründer gegenüber denjenigen, über die entschieden wurde, oder als Verhinderer von Entscheidungen? In diesem Zusammenhang müssen verschiedene Typen externer Experten unterschieden werden. Zum einen konnten Experten beratend aktiv werden, sie konnten aber auch selbst handeln. Zusätzlich konnten sich Organisationen externer Experten als Wissensspeicher bedienen. Daran schließt sich die Frage nach dem Adressatenkreis der behandelten Experten sowie ihrer Ziele und Motive und ihrer Macht, gehört zu werden, an. Gerade die Frage, inwiefern Expertenmeinungen auf Entscheidungsprozesse konkret wirken, ist noch wenig untersucht. 32 Der besondere Fokus dieses Bandes liegt auf den externen Experten. Dabei stellt sich die Frage, warum sowohl interne als auch externe Experten empirisch beobachtbar sind. Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge können ein Licht auf diese Frage werfen. Die Autorinnen und Autoren des Sammelbands sind diesen Fragestellungen an unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen und aus verschiedenen Perspekti-
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Dazu: Rudloff, Einleitung (wie Anm.9), 14–17. Eine praktische Untersuchung liefert: Felix Selgert, Die
politische Entscheidungsfindung im Mehrebenensystem des Deutschen Kaiserreichs. Der Fall des Aktienrechts (1873–1897), in: Gerold Ambrosius/Christian Henrich-Franke/Cornelius Neutsch (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive. Bd. 6: Integrieren durch Regieren. (Schriftenreihe des Instituts für Europäische Regionalforschungen, 29.) Baden-Baden 2018, 151–196; ders., Die politische Ökonomie des Investorenschutzes in Deutschland 1870–1937, in: Günther Schulz (Hrsg.), Ordnung und Chaos. Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Erträge der 26. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte / des 1. Deutschen Kongresses für Wirtschaftsgeschichte in Münster vom 11. bis 14.März 2015. Stuttgart 2019, 113–133.
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ven nachgegangen. Die hier versammelten Beiträge bündeln aktuelle Forschungen zum Gegenstand und schließen an wichtige und aktuelle Themenfelder an. Hierzu zählen Beiträge zur Rolle von Experten im Nationalsozialismus und in den 1960er Jahren (Agnes Laba, David Merschjohann). Besonders erfreulich ist es aber, dass die Autorinnen und Autoren auch neue Forschungsfelder erschließen, indem sie etwa den zeitlichen Horizont auf die 1980er und 1990er Jahre ausdehnen und neben Politikberatern auch Wirtschaftsexperten einbeziehen (Alina Marktanner, Jann Müller). Auch die internationale Perspektive, die Peter Ridder, Jonathan Voges und Lars Lehmann einnehmen, ergänzt den aktuellen Forschungsstand. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Beiträge von Regine Jägers und Felix Gräfenberg, die das frühe 19.Jahrhundert in den Blick nehmen. 1. Vom vormodernen zum modernen Experten – Experten im frühen 19.Jahrhundert Regine Jägers und Felix Gräfenberg betrachten die Rolle von Experten beim französischen beziehungsweise preußischen Wegebau im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert. Der Aufsatz von Jägers konzentriert sich dabei auf das kommunale Wegebauprojekt des französischen Präfekten Lezay-Marnésia im Rhein-Moseldepartement, dem späteren preußischen Regierungsbezirk Koblenz. Es zeigt sich, dass der sehr erfolgreiche kommunale Wegebau in dem wirtschaftlich rückständigen Departement auf die intensiven Bemühungen des Präfekten zurückging. Lezay-Marnésia wurde dabei zum mehrfachen Experten. Einmal eignete er sich autodidaktisch die technischen Grundlagen des Wegebaus an. Dabei blieb es aber nicht; Lezay-Marnésia zeigte auch hohes Verwaltungsgeschick und erkannte die Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit für die Umsetzung seines Wegebauvorhabens. So entwickelte sich Lezay auch zu einem Öffentlichkeitsexperten, dem es mit einer Kombination aus viel Zuckerbrot und ein wenig Peitsche gelang, die Bevölkerung des Departements von der Notwendigkeit guter Wege zu überzeugen und zur Kooperation zu motivieren. Lezay-Marnésia war damit sowohl Wissenszulieferer, Begründer der Baumaßnahmen und Umsetzer in einer Person. Sein Expertenstatus ist damit unbestritten. Trotzdem handelt es sich bei Lezay noch um einen Vortyp des modernen Experten, da seine Expertise nur auf wenigen formalen, nicht sehr komplexen Wissensbeständen beruhte. Um die Wende zum 19.Jahrhundert fehlte es dazu noch an einer voll ausgebildeten Wissensgesellschaft und spezialisierten Politikfeldern, die auf Expertenwissen angewiesen waren. Hier setzt die Untersuchung von Felix Gräfenberg an, der den Zusammenhang
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zwischen der Ausdifferenzierung von Politikfeldern und der Entstehung von Expertengemeinschaften anhand des preußischen Chausseebaus untersucht. Erfolgreicher Straßenbau war ohne die technische Expertise speziell geschulten Personals nicht möglich. Der noch ständisch geprägte Staat des ausgehenden 18.Jahrhunderts erkannte diese Notwendigkeit aber erst durch das Scheitern früher Straßenbauprojekte in der Provinz Magdeburg. In der Folge begann der preußische Staat technische Experten in den Entscheidungs- und Planungsprozess im Straßenbau fest einzubinden. Dazu musste sich der Staat jedoch zunächst seine Experten schaffen, indem er über entsprechende Bauschulen in deren Ausbildung investierte. Indem sie die komplexen lokalen Bedingungen des Straßenbaus in eine für Laien verständliche Sprache übersetzten, veränderten die technischen Experten sowohl den Entscheidungsprozess als auch die Semantiken des Entscheidens. 2. Nationale Experten im 20.Jahrhundert Agnes Laba beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Rolle der Publikationsstelle Berlin-Dahlem in der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik. 33 Die Publikationsstelle wurde 1931 auf Initiative des Generaldirektors der preußischen Staatsarchive, Albert Brackmann, gegründet. Ziel der Institutsgründung war es, der Politik Argumente zur Revision der durch den Versailler Friedensvertrag festgelegten Ostgrenze zu liefern. Dazu gehörte es auch, eine ähnlich gelagerte polnische ‚Wissenschaftspropaganda‘ zu beobachten und zu entkräften. Die Wissenschaftler stilisierten sich dabei gezielt als externe Experten und wurden so auch von der Politik wahrgenommen. Dies gelang ihnen zum einen aufgrund ihrer spezifischen Kenntnisse über die an Polen abgetretenen Ostgebiete. Zum anderen erklären aber auch persönliche Kontakte zwischen den Leitern der Publikationsstelle und der Ministerialbürokratie die Kooperation von Wissenschaft und Politik. Die Rolle der Wissenschaft in dieser Beziehung war es, die Politik mit einem ideologisch-theoretischen Unterbau zu versorgen. Darüber hinaus beteiligten sich die Experten der Publikationsstelle aber auch aktiv an der wissenschaftlichen Vorbereitung, Begleitung und Ausführung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Die Aufsätze von David Merschjohann, Alina Marktanner und Jann Müller beleuchten den Einsatz externer Experten in der Bundesrepublik und in den neuen Bundes-
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Dazu auch: Ingo Haar, Experten (wie Anm.13).
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ländern nach der Wiedervereinigung. David Merschjohann nimmt die nordrheinwestfälische Gebietsreform der Jahre 1966 bis 1973 in den Blick, um in vergleichender Perspektive den Einsatz von externen Experten zur Durchsetzung landespolitischer Ziele und zur Abwehr kommunalpolitisch ungewünschter Neugliederungen zu untersuchen. Er zeigt, dass die zahlreichen, vom Land eingesetzten Sachverständigenkommissionen dabei entscheidenden Einfluss auf die Neugliederung der Gemeinden nehmen konnten. Im Gegensatz dazu konnten nur größere und wohlhabende Gemeinden eigene Experten engagieren, um die Vorschläge des Landes zu prüfen. Dabei stellte sich jedoch teilweise heraus, dass die Vorschläge der Sachverständigenkommissionen durchaus sachgerecht gewesen sind. Alina Marktanner widmet sich in ihrem Beitrag dem Einsatz von Unternehmensberatern im öffentlichen Sektor. Exemplarisch behandelt sie das zwischen 1983 und 1985 stattfindende Engagement von Mummert + Partner bei der Bundespost, um das Personalbemessungssystem im Auftrag des neuen, christdemokratischen Postministers Schwarz-Schilling zu untersuchen. Dieser politische Auftrag stieß allerdings auf Widerstand, beispielsweise bei Gewerkschaften, aber auch bei den internen Experten der Bundespost. Durch dieses und ähnliche Mandate haben Unternehmensberater ein neues Marktpotential erschlossen. Der Grund für das Engagement der Unternehmensberater bei der Deutschen Bundespost sei aber wohl darin zu suchen, so Marktanner, dass es Schwarz-Schilling damit gelang, unliebsame Entscheidungen durch externe Experten abzusichern. Denn im Grundsatz kamen die externen Experten zwar zu Ergebnissen, die auch der Bundesrechnungshof schon ähnlich formuliert hatte, nun konnten die Ergebnisse aber publikumswirksam präsentiert werden. In seinem Beitrag beschreibt Jann Müller die Funktionen externer Experten in den fünf neuen Bundesländern im Bereich des Einzelhandels in den ersten Jahren nach dem Beitritt zur Bundesrepublik. Die von ihm als wichtig erachteten Expertenorganisationen sind die Industrie- und Handelskammern, die es teilweise schon vor der Wiedervereinigung gab, die nun nach der „Wende“ aber flächendeckend geschaffen wurden. Speziell im Feld des Einzelhandels trat 1993 das „Deutsche Seminar für Städtebau und Wirtschaft“ hinzu. Dieses wurde gegründet, weil sich der Einzelhandel vornehmlich auf großen Flächen und in den Vorstädten angesiedelt hatte, so dass die ostdeutschen Innenstädte anders als ihre westdeutschen Pendants zu veröden begannen. Damit kann Müller Evidenz dafür vorlegen, dass die Übertragung einer Rechts- und Wirtschaftsordnung alleine unzureichend gewesen ist, um eine
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erfolgreiche Transformation der Wirtschaft anzustoßen. Lediglich im Zusammenspiel mit externen Experten konnten vor Ort die notwendigen Wissensbestände aufgebaut werden, um die Innenstädte wieder zu beleben. 3. Internationale Experten Die Beiträge von Jonathan Voges, Peter Ridder und Lars Lehmann nehmen die bisher von der Forschung vernachlässigten internationalen Experten in den Blick. Zunächst beleuchtet Voges die Internationale Kommission für geistige Zusammenarbeit, die in der Zwischenkriegszeit unter dem Dach des Völkerbunds agierte. Die Kommission für geistige Zusammenarbeit wurde 1922 eingesetzt und vereinte einige der größten Wissenschaftler der Zeit, unter ihnen Marie Curie und Albert Einstein. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben wurde der Kommission zunächst ein von der französischen Regierung finanziertes Institut als ausführendes Organ zur Verfügung gestellt. Diese internen Experten wurden jedoch Ende der 1920er Jahre durch externe Experten ersetzt, als sich zeigte, dass die vielen unterschiedlichen Aufgaben der Kommission nicht durch einen festen, auf ein bestimmtes Feld spezialisierten Expertenstamm erfüllt werden konnten. Stattdessen setzte die Kommission nun auf aus externen Experten bestehende Unterkommissionen, die sich ganz unterschiedlichen Fragestellungen widmeten. Diese reichten von einer Aufnahme der Geschichte und Funktionsweise des Völkerbundes in den Schulunterricht bis hin zur Beratung der chinesischen Regierung in Fragen der Reform des chinesischen Bildungswesens. Der Einfluss dieser externen Experten auf konkrete politische Entscheidungen variierte stark und war dort am größten, wo es eine personelle Überschneidung von externen Völkerbundexperten und nationalen Entscheidungsträgern gab. Peter Ridder beschäftigt sich in seinem Beitrag mit zwei Menschenrechtsexperten, die als UN-Beamte, Professoren und Aktivisten sowohl Experten als auch Akteure bei der Formulierung und Institutionalisierung der Menschenrechte gewesen sind. Bemerkenswert ist, dass die verschiedenen Rollen teilweise gleichzeitig ausgeübt wurden und beide Experten dabei durchaus die eigenen Aktivistenziele als unabhängige Expertise im wissenschaftlichen Diskurs versteckten und damit die Neutralität der Beamtentätigkeit umgingen. Positiv gewendet waren diese Experten wichtige Bindeglieder zwischen der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und der Politik. Lars Lehmann zeigt schließlich in seinem Beitrag auf, dass westeuropäische Hoch-
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schulrektoren, die in den 1950er und 1960er Jahren noch Front gegen Eingriffe europäischer Institutionen in die Hochschulautonomie und den Aufbau konkurrierender europäischer Hochschulen gemacht hatten, an der Wende der 1960er zu den 1970er Jahren zu gesuchten Experten für die Formulierung und Umsetzung einer neuen europäischen Hochschulpolitik wurden. Das „Verbindungskomitee der nationalen Rektorenkonferenzen der Europäischen Gemeinschaften […] etablierte sich als Expertenvereinigung und beriet die europäischen Gemeinschaftsorgane“, so Lehmann. Das neue Expertengremium wurde fortan bei der Formulierung neuer Politiken angehört, und es gestaltete wichtige Initiativen, beispielsweise den Vorgänger des bekannten Erasmus-Programms, erfolgreich mit. Die hier skizzierten Beiträge halten somit einige übergreifende Einsichten in Bezug auf die oben formulierten Fragestellungen bereit. Darüber hinaus lassen sich bei der Lektüre der Beiträge weitere interessante Einsichten gewinnen.
IV. Ergebnisse und Beitrag zur Forschung 1. Funktionen externer Experten im Entscheidungsprozess Alle Beiträge zeigen externe Experten in ihrer Rolle als Wissenszulieferer beziehungsweise Übersetzer von Wissen im Entscheidungsprozess. Besonders ausgeprägt findet sich dies bei dem Präfekten des Rhein-Moseldepartements Lezay-Marnésia, der eigenhändig eine Anleitung für den Straßenbau erstellte und an die Maires seines Departements verteilte (Jägers). Ähnliches gilt für die preußischen Straßenbauexperten, die zunächst einmal das Wissen über den Bau von Kunststraßen für die Verwaltung speicherten, es jedoch auch für den konkreten Entscheidungsfall in eine von Laien verständliche Sprache übersetzten und damit überhaupt erst eine Entscheidung ermöglichten (Gräfenberg). Bei den preußischen Straßenbauexperten kommt noch hinzu, dass sie selbst eine Vielzahl an Daten zu der geologischen Beschaffenheit des Landes sammelten und damit auch als Erzeuger von Wissen auftraten. Als Wissensspeicher und darauf aufbauend als Berater agierten auch die Geografen, Historiker und andere Geisteswissenschaftler der Publikationsstelle Berlin-Dahlem (Laba), aber auch die Mitglieder der Sachverständigenkommission des Landes Nordrhein-Westfalen, die Mitte der 1960er Jahre die Landesregierung bei den Gebietsreformen unterstützten (Merschjohann). Experten dieses Typs begegnen uns zudem in den Unternehmensberatern von Mummert + Partner, die Mitte der
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1980er Jahre die Deutsche Bundespost in Bezug auf ihre Personalbemessung berieten (Marktanner), sowie bei den Industrie- und Handelskammern in den ostdeutschen Ländern während der 1990er Jahre (Müller). Auch die in diesem Band behandelten internationalen Experten, von den Völkerbundexperten (Voges) über die UNMenschenrechtsexperten (Ridder) hin zu den europäischen Hochschulrektoren (Lehmann), traten als Wissenszulieferer und Berater im Entscheidungsprozess auf. Das mag auch nicht weiter verwundern, da es ja gerade der spezialisierte Wissensbestand ist, der den Experten zum Experten macht. Es fällt aber auf, dass Wissenschaftler und Akademiker das Bild dominieren. So handelt es sich bei den von Laba beschriebenen Ostforschern um Geografen, Geschichtswissenschaftler und andere (Geistes-) Wissenschaftler. Im Fall der Sachverständigen des Landes NordrheinWestfalen (Merschjohann), der UN-Menschenrechtsexperten (Ridder) und der europäischen Hochschulrektoren (Lehmann) haben wir es ebenfalls mit Wissenschaftlern, in den ersten beiden Fällen meist mit Juristen, zu tun. Bei den von Marktanner untersuchten Unternehmensberatern von Mummert + Partner im Dienste der Deutschen Bundespost sind es gleichfalls akademisch ausgebildete Personen, gleiches trifft auf die Mitarbeiter der von Müller untersuchten Industrie- und Handelskammern zu. In der Prävalenz von Wissenschaftlern und Akademikern spiegelt sich die von Lutz Raphael beschriebene Verwissenschaftlichung des Sozialen also auch in den hier versammelten Aufsätzen. Die Beiträge der Autorinnen und Autoren decken aber auch vormoderne Expertentypen ab. Von einer Akademisierung des Wissens lässt sich bei dem von Jägers untersuchten Lezay-Marnésia nicht sprechen. Lezay war auf dem Feld des Chausseebaus Autodidakt, trotzdem liegt seiner Bereitschaft und seiner Fähigkeit, sich fremde Wissensbestände aneignen zu können, schon ein moderner Wissenschaftsimpetus zu Grunde. Ähnliches muss man wohl über die Baubeamten im preußischen Wegebau sagen, wobei jedoch in diesem Fall die Akademisierung schon mit der Gründung der Bauakademie im Jahr 1799 ihren Anfang nahm. Auch wenn die Rolle als Wissenszulieferer und Berater bei all den hier untersuchten externen Experten vorherrschend ist, wird sie von drei anderen Rollen überlagert. Die hier versammelten Beiträge beschreiben ihre Protagonisten erstens auch als Umsetzer von Entscheidungen. Allen voran gilt dies für den Präfekten des RheinMoseldepartements Lezay-Marnésia, der seine eigene Entscheidung, das Straßennetz seines Bezirks auszubauen, in der Umsetzung mit seinem erworbenen Wissen und Verwaltungsgeschick begleitete (Jägers). Ähnliches gilt zudem für die von Grä-
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fenberg untersuchten preußischen Straßenbauexperten, deren Aufgabe mitunter darin bestand, die herrschaftliche Entscheidung zum Bau einer Chaussee umzusetzen. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass Experten Entscheidungen verhindern konnten. Besonders deutlich wird dies in den Beiträgen von Müller und Lehmann. So beschreibt Müller, wie die Industrie- und Handelskammern in den frühen 1990er Jahren versuchten, Entscheidungen zu verhindern oder rückgängig zu machen, die auf den Bau von Einkaufszentren außerhalb der Stadtgrenzen hinzielten und die Verödung ostdeutscher Innenstädte zur Folge hatten. Den von Lehmann untersuchten europäischen Hochschulexperten gelang es aufgrund ihres Expertenstatus, europäische Universitäten und Vereinheitlichungen von Studiengängen und damit Eingriffe in ihre Autonomie zu verhindern. Eine zweite wichtige Funktion über die des Wissenszulieferers hinaus ist die des Begründers von Entscheidungen. Zwar wurden Experten immer auch aufgrund ihres Wissens in Entscheidungsprozesse mit einbezogen. In einigen Fällen sollte dies aber nicht der Entscheidung selbst, sondern der Begründung dieser eventuell bereits feststehenden Entscheidung dienen. Besonders anschaulich führt dies Marktanner in ihrem Beitrag aus. Die Entscheidung, die Personalbemessung der Bundespost zu ändern, stand im Prinzip schon vor dem Engagement von Mummert + Partner fest. Dem neuen christdemokratischen Postminister Schwarz-Schilling ging es bei dem Engagement der Unternehmensberater hauptsächlich darum, eine Argumentation gegen die Position der internen Personalexperten der Post und der Gewerkschaften aufzubauen. Zudem sollte die Öffentlichkeit auf einen Personalabbau bei der Post vorbereitet und dieser als betriebswirtschaftlich notwendig dargestellt werden. Eine ähnliche Motivation mag die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen bei der Aufstellung und Zusammensetzung der Sachverständigenkommission geleitet haben, die die Regierung bei der Neuordnung der Verwaltungseinheiten des Bundeslandes beraten sollte (Merschjohann). Auch hier stand die Entscheidung, insbesondere die kleineren Kommunen zusammenzulegen, mehr oder weniger fest. Die Aufgabe der Experten war es, möglichst neutrale Kriterien aufzustellen, welche Kommunen von der Zusammenlegung betroffen sein sollten. Indem man diese Entscheidung in eine Expertenkommission verlagerte und nicht im Landtag debattieren ließ, hat sich die Landesregierung wohl langwierige Diskussionen und Blockaden erspart. Drittens treten die von den Autorinnen und Autoren untersuchten externen Experten von sich aus als politisch handelnde Akteure auf. Das fällt besonders bei den
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UN-Menschenrechtsexperten auf, die Ridder in seinem Beitrag beschreibt. In diesem
konkreten Fall versuchten die Experten immer wieder, die politische Agenda zu bestimmen und ihre Ideen von Menschenrechten und einen Menschenrechtskommissar durchzusetzen. Wir finden diesen Expertentyp aber auch mit einer egoistischeren Motivation. Im Fall der von Laba untersuchten Ostwissenschaftler der 1930er und 1940er Jahre und der bei Lehmann behandelten europäischen Hochschulexperten werden die Experten aktiv, weil sie ihre eigene Position innerhalb der Gesellschaft erhalten wollen. 2. Angebot und Nachfrage nach Expertenwissen Die hier versammelten Beiträge zeigen eindrucksvoll, dass externe Experten nicht nur neutrale Wissenszulieferer im Entscheidungsprozess sind, sondern auch andere Rollen ausüben. Damit sind die Gründe angesprochen, die Experten motivieren, ihr Wissen anzubieten, beziehungsweise die deren ‚Auftraggeber‘ veranlassen, Expertenwissen nachzufragen. Auch auf diese Fragen liefern die Autorinnen und Autoren der hier versammelten Beiträge anregende Antworten. Die ‚Nachfrageseite‘ wird dabei zunächst davon bestimmt, dass die jeweilige Organisation das Expertenwissen benötigt, um eine Entscheidung treffen zu können. Das wird besonders bei der Lektüre der Beiträge von Gräfenberg und Laba deutlich. Ohne das Wissen der Wegebauexperten konnte die Entscheidung, welche Straßen gebaut werden sollten, nicht getroffen werden. Die von Laba untersuchten Ostexperten der Publikationsstelle Berlin-Dahlem lieferten dem nationalsozialistischen Regierungsapparat und dem Militär wiederum wichtige Informationen, die zur Verwirklichung einer rassistischen Ostpolitik genutzt wurden. Hier zeigt sich besonders eindrücklich, dass Expertenwissen eben nicht neutral ist und sich Experten an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt haben. Ein zweiter Grund, Expertenwissen nachzufragen, ist in der Tatsache zu suchen, dass Experten über spezielle Fähigkeiten verfügen, eine Entscheidung umzusetzen. Auch dies wird bei den von Jägers und Gräfenberg beschriebenen Straßenbauexperten besonders deutlich. Wenn oben von der Rolle externer Experten als Begründer von Entscheidungen die Rede ist, weist das gleichzeitig auf ein drittes wichtiges Motiv für die Nachfrage nach Experten hin. Die Nachfrage nach Expertenwissen ist eben auch darin begründet, das Prestige des Experten zur Produktion überzeugender Argumente für die Umsetzung einer Entscheidung zu nutzen. Die Einbindung von externen Experten in Entscheidungsprozesse ging jedoch
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nicht ausschließlich von den Entscheidungsträgern, sondern auch von den Experten selbst aus. So wurden beispielsweise die europäischen Hochschulrektoren von sich aus aktiv, um den Ideen der EWG-Kommission von einer europäischen Universität und dem Eingriff in die Lehrfreiheit der Universitäten entgegenzutreten (Lehmann). Im Fall der Publikationsstelle Berlin-Dahlem war es ebenfalls der Leiter dieser Organisation, Albert Brackmann, der über seine persönlichen Kontakte in die Regierung die Dienste der Wissenschaftler anbot (Laba). In beiden Fällen ging es den Experten um die Sicherung der eigenen Position. Darüber hinaus hatte Brackmann auch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung zum Ziel. Brackmann wollte der (subjektiv so empfundenen) Gefahr eines polnischen Wissenschaftspopulismus entgegentreten. Bei anderen in diesem Band untersuchten Experten waren die Motive utilitaristischer. Hier ist wieder der Präfekt des Rhein-Moseldepartements hervorzuheben, dem bewusst war, dass er die aus der Rückständigkeit seines Departements erwachsenden Probleme nur würde lösen können, wenn er ein funktionierendes Straßennetz aufbaute (Jägers). Utilitaristische Motive finden sich aber auch bei den Völkerbundexperten, denen es darum ging, einen liberalen Internationalismus, beziehungsweise einen Anti-Nationalismus, in den Köpfen der Öffentlichkeit einzupflanzen, etwa indem man den Völkerbund zum Thema des Geschichtsunterrichts machte (Voges). Ganz ähnlich verhält es sich bei den Menschenrechtsexperten, die Ridder in seinem Beitrag beschreibt. Im Fall der UN-Menschenrechtsexperten (Ridder) und des Präfekten des Rhein-Moseldepartements (Jägers) fällt bei der Lektüre noch etwas anderes auf: Hier wurden die Experten zu Agendasetzern, hier legten also nicht die Nachfrager, sondern die Anbieter spezieller Wissensbestände die Fragen fest, über die entschieden werden sollte. 3. Der Einfluss externer Experten auf das Ergebnis des Entscheidungsprozesses Inwiefern Experten auf das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses Einfluss nehmen können, ist bisher noch kaum systematisch untersucht worden. 34 Die Lektüre der hier versammelten Beiträge kann dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Die zeitliche und thematische Breite der Beiträge vermag dabei, ein umfassendes Bild des Einflusses externer Experten auf Entscheidungsprozesse zu zeichnen. Festzuhalten ist, dass die Expertise der hier behandelten externen Experten in 34 Rudloff, Einleitung (wie Anm.9), 14–17. Dazu jetzt: Selgert, Entscheidungsfindung (wie Anm.32); ders., Ökonomie (wie Anm.32).
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keinem Fall ungehört verhallte, auffallend ist jedoch die hohe Variation des Experteneinflusses. Im Fall der Industrie- und Handelskammern in den neuen Bundesländern lässt sich nur ein sehr geringer Einfluss auf die Entscheidungen der Kommunen, Handelsflächen außerhalb der Stadtkerne auszuweisen, feststellen (Müller). Ein ebenfalls nur geringer Einfluss findet sich im Fall der Unternehmensberater bei der Deutschen Bundespost. Das Engagement von Mummert + Partner hatte keine konkreten Konsequenzen für die Entscheidung über die Personalbemessung bei der Post. Allerdings trug der Bericht der Unternehmensberater dazu bei, die Beamten der Bundespost nach außen als unfähig und bequem darzustellen und die Öffentlichkeit auf den Umbau der Post nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten vorzubereiten (Marktanner). Diese argumentative Vorbereitung der Postreformen mag der eigentliche Grund für das Engagement der Unternehmensberater gewesen sein. Das ‚Verkaufen‘ einer Entscheidung mithilfe externer Expertise stand auch im von Merschjohann beschriebenen Fall der Gebietsreformen im Land Nordrhein-Westfalen im Vordergrund. Nichtsdestoweniger waren die Vorschläge der Expertenkommission auch auf einer technischen Ebene wertvoll, indem die Gutachten der Experten festlegten, nach welchen Kriterien Gemeinden für die Zusammenlegung identifiziert werden sollten. Auf dieser Ebene wirkte das Gutachten der von der Landesregierung eingesetzten Sachverständigenkommission auch auf die Gegengutachten einiger Kommunen. Auf der anderen Seite beschränkte sich der Einfluss der Gutachten der Sachverständigenkommission auf die kleineren Kommunen. Die Gutachten in Bezug auf eine Gebietsreform der größeren Städte und Regierungsbezirke gewannen dagegen keinen Einfluss. Hier gelang es anderen Interessengruppen, beispielweise einer Bürgerinitiative der Ruhrgebietsstädte, eine tiefgreifende Gebietsreform zu verhindern. Der heterogene Einfluss der Sachverständigenkommission auf den unterschiedlichen Verwaltungsebenen unterstreicht die Bedeutung konkreter Akteurskonstellationen für das Ergebnis eines Reformprozesses. 35 Zwar sprachen sich sowohl die Landesregierung als auch die Sachverständigen auf allen Verwaltungsebenen für die Zusammenlegung von Verwaltungseinheiten aus, jedoch bildeten sich auf den höheren Verwaltungsebenen ernstzunehmende Oppositionsgruppen, die eine Reform verhindern konnten. Auf der Ebene der kleineren Gemeinden gab es zwar auch Widerstände, die aber aufgrund ihrer Kleinteiligkeit überwindbar blie35
Zum Analyserahmen des akteurszentrierten Institutionalismus siehe: Fritz Wilhelm Scharpf, Interak-
tionsformen. Akteurszentrierter Institutionalismus in der Politikforschung. Wiesbaden 2006.
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ben. Auch im Fall des Völkerbundes entschieden Akteurskonstellationen über den Einflussgrad der Experten auf den Entscheidungsprozess. Den relativen Erfolg der Völkerbundexperten in Schulbuchfragen in Großbritannien erklärt Voges mit der Identität von internationalen Völkerbundexperten und nationaler Schulverwaltung. Die Unterstützung Chinas beim Aufbau eines nationalen Bildungssystems scheiterte jedoch an der Uneinigkeit und schlechten Organisation der zu diesem Zweck berufenen externen Expertengruppe. Die Beiträge von Ridder und Lehmann beleuchten zwei weitere Aspekte des Einflusses von Experten auf Entscheidungsprozesse. So beschreibt Ridder am Beispiel der UN-Menschenrechtsexperten Humphrey und van Boven, wie Experten durch eine stetige Lobbyarbeit bei Regierungen und in der Öffentlichkeit in der Lage waren, die politische Agenda langfristig zu bestimmen. Der Beitrag von Ridder zeigt darüber hinaus, dass der Erfolg der UN-Menschenrechtsexperten an Akteurskonstellationen und Umweltbedingungen gebunden war. Denn anfangs hatten weder die USA noch die Sowjetunion ein ehrliches Interesse an einer unabhängigen UN-Unter-
suchung von Menschenrechtsverletzungen auf ihrem Territorium. Dies änderte sich im Westen erst, als in den 1960er Jahren die Dekolonisationsprozesse zu Ende gingen und die Rassensegregation in den USA nachließ, wodurch die westlichen Demokratien weniger ‚verwundbar‘ wurden. Der Beitrag von Lehmann macht schließlich deutlich, dass es einer kleinen Interessengruppe von Hochschulrektoren gelang, die Reformbemühungen der EG-Kommission zunächst zu blockieren und dann erfolgreich in ihrem Sinne mitzugestalten. Man muss den europäischen Hochschulrektoren daher einen großen Einfluss auf die Hochschulpolitik der EWG konstatieren. Auch bei den von Gräfenberg und Jägers beschriebenen Straßenbauexperten kann man einen starken Einfluss auf den Entscheidungsprozess feststellen. Wobei der von Jägers untersuchte Fall eine Besonderheit darstellt – war der Departementspräfekt Lezay-Marnésia doch Experte und Entscheider in einer Person. Nicht zuletzt hatten auch die Ostexperten der Publikationsstelle Berlin-Dahlem einen großen Einfluss auf die Grenzziehungen in den besetzten Gebieten, auf Verhaftungen von Wissenschaftlern und die Rassen- und Vernichtungspolitik des NS-Staats.
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4. Warum existieren externe Experten? Anstoß für die Zusammenarbeit der Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes war die Frage nach der Rolle externer Experten, also außerhalb der entscheidenden Organisation stehender Personen, im Entscheidungsprozess. Die Frage, warum bestimmtes Expertenwissen nicht internalisiert wurde, stellt daher eine weitere Leitfrage der hier versammelten Beiträge dar. Bei der Lektüre fällt dabei auf, dass eine klare Trennung zwischen ‚externen‘ und ‚internen‘ Experten nicht immer möglich ist. In einigen Fällen wurde externes Expertenwissen in die Organisation eingebunden, in anderen Fällen beobachten die Autorinnen und Autoren die Transformation von internen zu externen Experten. Ein Beispiel für den ersten Fall findet sich im Beitrag Gräfenbergs – während die preußische Chausseeverwaltung im 18.Jahrhundert Expertise von außen nachfragen musste, konnte sie ihren Bedarf im frühen 19.Jahrhundert verstärkt durch interne Experten decken. Auch Laba beschreibt, wie die Publikationsstelle Berlin-Dahlem zunächst mit externen Mitarbeitern kooperierte, mit der Zeit aber immer stärker in die preußische Archivverwaltung integriert wurde und der feste Mitarbeiterstab wuchs. Der umgekehrte Fall findet sich bei der von Voges beschriebenen Kommission für geistige Zusammenarbeit des Völkerbunds. In diesem Fall wurde zunächst versucht, die Arbeit der Kommission über ein in Paris angesiedeltes Institut fest angestellter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu unterstützen. Zu Beginn der 1930er Jahre nahm man von diesem Verfahren wieder Abstand, und es arbeiteten der Kommission nun je nach Problemkreis neu zusammengestellte Unterkommissionen externer Experten zu. Eine sinnvolle Erklärung für die Existenz sowohl externer als auch interner Experten sowie für die von den Autorinnen und Autoren festgestellten Verschiebungen bietet der Transaktionskostenansatz 36: Eine Organisation wird dann bereit sein, Experten fest einzubinden, wenn sie regelmäßig auf deren Dienstleistungen zurückgreift, der Nutzen aus der Anstellung von Expertenwissen also deren Kosten übersteigt. So stieg der Nutzen der Geografen, Historiker und anderer Geisteswissenschaftler, die sich mit dem ehemals deutschen Osten Europas beschäftigten, mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten so stark an, dass es sich lohnte, diese Wissenschaftler fester in den Regierungsapparat zu integrieren. Umgekehrt rechnete es sich bei den sehr heterogenen Aufgabenfeldern der Kommission für geistige Zusam36
Douglass Cecil North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung. (Die Einheit der
Gesellschaftswissenschaften, 76.) Tübingen 1992.
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menarbeit nicht, auf Dauer fest angestelltes Personal zu beschäftigen. Die Aufgaben, die die Völkerbundkommission zu bearbeiten hatte, betrafen eine große Vielfalt an Wissensbeständen, die auf keinen Fall von den Institutsmitarbeitern in ihrer ganzen Breite abgedeckt werden konnte. Der Nutzen des Instituts war also im Vergleich zu seinen Kosten gering. Ein weiterer Grund, Expertenwissen fest in eine Organisation einzubinden, besteht aber auch dann, wenn dieses nicht regelmäßig gebraucht wird, und zwar, wenn die benötigten Spezialisten nur schwer auf dem Markt zu bekommen sind und sie daher selbst ausgebildet werden müssen. In diesem speziellen Fall muss jedoch der zusätzliche Nutzen aus dem Fachwissen der Experten sehr hoch sein, damit sich auch die Ausbildungskosten lohnen. Dies mag der Grund sein, warum beim staatlichen Wegebau im frühen 19.Jahrhundert kaum auf externe Expertise zurückgegriffen wurde, wie dies Jägers und Gräfenberg feststellen. Einerseits existierte nämlich noch kein Markt, auf dem das vorhandene Fachwissen günstig eingekauft werden konnte. Andererseits waren von einem guten Straßennetz sowohl große militärische als auch wirtschaftliche Vorteile zu erwarten. Mit der Bildungsexpansion des 19.Jahrhunderts nahm die Zahl, zunächst technischer, dann auch humanwissenschaftlicher Experten rapide zu. Mit dem steigenden Angebot fachwissenschaftlich und praktisch ausgebildeter Personen sanken zwar die Kosten von Expertenwissen. Gleichzeitig wuchs jedoch die Zahl der Handlungsfelder, auf denen private und staatliche Organisationen Entscheidungen treffen mussten. In dieser Situation schien es sich zu lohnen, das Expertenwissen, das nicht regelmäßig benötigt wurde, immer öfter nicht in die eigene Organisation einzubinden, sondern extern zu beziehen.
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„Enthousiasme et expertise“ – Der französische Präfekt Adrien de Lezay-Marnésia und sein Engagement für den kommunalen Wegebau im Rhein-Moseldepartement 1806–1810 von Regine Jägers
„Vier Jahre hindurch besaß das Rhein- und Moseldepartement in Lezay-Marnésia einen Präfekten, der fast vergessen ließ, dass er ein Fremder war.“ 1
I. Einleitung Der Gemeindewegebau spielt in der Infrastrukturforschung nur eine marginale Rolle. Ein Grund hierfür mag sein, dass der kommunale Wegebau spätestens seit den 1840er Jahren kaum mehr (verwaltungs)politisch debattiert wurde. Dies war zu Beginn des Jahrhunderts noch anders; in der behördlichen Überlieferung findet man immer wieder Gutachten von Sachverständigen, die dem Wegebau auf gemeindlicher Ebene einen bedeutenden Stellenwert zumessen. 2 Dieses Interesse in der ersten Jahrhunderthälfte beruhte unter anderem auf dem Vorbild des französischen Präfekten Lezay-Marnésia. Dieser hatte in seiner Zeit als oberster Verwaltungsbeamter des Rhein-Moseldepartements (1806–1810) zahlreiche wichtige Verbesserungen durchgesetzt, darunter auch den Ausbau des kommunalen Wegenetzes. Bemerkenswert ist, dass er dabei nicht nur als politischer Administrator in Erscheinung trat, sondern auch Leitfäden für den kommunalen Wege-
1 Clemens Theodor Perthes, Politische Zustände und Personen in Deutschland zur Zeit der französischen Herrschaft. Bd. 1. Gotha 1862, 314. 2 Zur wichtigen Rolle des gemeindlichen Wegebaus in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts vgl. Inga Brandes, Herrschaft ohne Kommunikationswege? Gemeindewegebau in Landgemeinden der preußischen Rheinprovinz bis 1850, in: Ralf Pröve (Hrsg.), Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600–1850. (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für die Geschichte Preußens, Bd. 2.) Berlin 2001, 211–228, hier 219.
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-003
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bau verfasste und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Die preußischen Bausachverständigen des frühen 19.Jahrhunderts, die Lezays Wirken noch aus eigener Anschauung kannten, bezogen sich in ihrem Werben für eine stärkere Berücksichtigung des kommunalen Wegebaus im Rheinland immer wieder auf das administrative, aber auch technische Know-how des Präfekten. Die vorliegende Studie möchte den Blick der Forschung auf diesen vernachlässigten Teil der Infrastrukturgeschichte des Straßenbaus lenken. Dabei soll es auch um die Frage gehen, welche „Figurationen des Experten“ 3 uns in Gestalt des Präfekten Lezay-Marnésia begegnen. Das heute gängige Bild eines externen Experten entspricht einer von staatlichen und wirtschaftlichen Interessen unabhängigen Persönlichkeit, die zudem über wissenschaftlich-technisches, akademisch erworbenes Fachwissen verfügt. Beides traf auf Lezay nicht zu – trotzdem wurde seine Expertise zu Beginn des 19.Jahrhunderts von keinem angezweifelt. Nach einem knappen biographischen Abriss wird das politische Wirken Lezays im Rhein-Moseldepartement kurz vorgestellt. Ausführlicher wird dann sein Engagement für den kommunalen Wegebau untersucht. Hier geht es zunächst um seine Motive und Ziele, sodann um die von ihm gewählten Strategien, Taktiken und Maßnahmen, die seinen Ruf als Straßenbauexperte begründeten. In einem abschließenden Kapitel sollen der Erfolg und die Nachhaltigkeit von Lezays Wirken diskutiert werden. Da es außer einer Biographie aus den 1950er Jahren keinerlei deutschsprachige, jüngere Studien zu Lezay-Marnésia gibt 4 und auch die Literatur zum kommunalen Wegebau recht dürftig ist 5, stützt sich diese Untersuchung vornehmlich auf gedruckte, zum Teil auch ungedruckte Quellen. Hilfreich waren vor allem die zeitgenössischen Publikationsorgane, die auf Initiative Lezays herausgegeben wurden: Das „Handbuch für das Rhein-und Mosel-Departement“ 6 und der „Rhein- und Mo-
3 Eric J. Engstrom/Volker Hess/Ulrike Thoms (Hrsg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19.Jahrhundert. (Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 7.) Frankfurt am Main 2005. 4 Egon Graf von Westerholt, Lezay-Marnesia. Sohn der Aufklärung und Präfekt Napoleons (1769–1814). Meisenheim am Glan 1958. 5 Z.B. Brandes, Herrschaft (wie Anm.2), 214. 6 Handbuch für das Rhein- und Mosel-Departement 1808–1810, 1812. Abrufbar unter: https://www.dilibri.de/rlb/periodical/titleinfo/95226?query=Handbuch%20f%C3%BCr%20das%20Rhein-%20und%20Mosel.
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selbothe“ 7, welcher als Sprachrohr des Präfekten diente. Hier wurden Verfügungen erläutert sowie Missstände, aber auch Fortschritte des Departements angesprochen, hier warb Lezay bei den Bewohnern des Departements für seine Projekte.
II. Die Person und der Werdegang Lezay-Marnésias Paul-François-Marie-Adrien de Lezay-Marnésia 8 (* 9.August 1769 in Moutonne 9; † 9.Oktober 1814 in Haguenau) war der Sohn des französischen Landadligen und Agronomen Marquis Claude-François-Adrien de Lezay-Marnésia (1736–1810). Sein Vater nahm früh seinen Abschied vom Militär, um sich den Naturwissenschaften und der Schriftstellerei zu widmen. Auf zahlreichen Reisen wurde er zum Kenner der Flora und der Gartenbaukunst, in seinen Schriften orientierte er sich an seinen Vorbildern Montesquieu, Voltaire und Rousseau. Adrien, der eine ältere Schwester, Claudine Françoise 10, und einen jüngeren Bruder, Albert, besaß, führte sein Ausbildungsweg früh (1785–1787) nach Deutschland, an das Collegium Carolinum in Braunschweig. 11 Dies war eine ungewöhnliche
7 Rhein- und Moselbothe (im Folgenden: RMB), 1807–1810. Die Zeitung erschien zweimal wöchentlich. Abrufbar unter: https://www.dilibri.de/rlb/periodical/titleinfo/1227720. 8 Vgl. zu den weiteren Ausführungen zur Biographie Lezay-Marnésias: Johann Christian von Stramberg, Denkwürdiger und nützlicher Rheinischer Antiquarius, welcher die wichtigsten und angenehmsten geographischen, historischen und politischen Merkwürdigkeiten des ganzen Rheinstroms von seinem Ausfluß in das Meer bis zu seinem Ursprunge darstellt, von einem Nachforscher in historischen Dingen. Abt. II, Bd. 2. Koblenz 1851, 213–244; Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 17–96. 9 Als Geburtsdatum liegen drei unterschiedliche Daten vor: Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 26, spricht vom 9.August 1769, Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8) nennt das Jahr 1770, bei Wikipedia schließlich findet sich der Eintrag: 18.Oktober 1769. 10 Die eheliche Verbindung seiner Schwester wurde mitentscheidend für seinen weiteren Lebensweg: Sie heiratete den Grafen Claude de Beauharnais, den Vetter Alexandre de Beauharnais’, des ersten Mannes der späteren Kaiserin Josephine. Diese wurde immer wieder zur Fürsprecherin der Familie Lezay-Marnésia. 11 Das Collegium Carolinum, gegründet 1745, war als Ausbildungsstätte für Beamte sowie zur Vorbereitung von Schülern auf ein Universitätsstudium (u.a. Gauß von 1792 bis 1795) konzipiert. Mit der Berufung von bedeutenden Literaturhistorikern an das Collegium Carolinum sowie Gotthold Ephraim Lessings an die Herzog August Bibliothek wurde das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel und mit ihm das Collegium Carolinum in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts für kurze Zeit zu einem intellektuellen Zentrum der Aufklärung in Deutschland; vgl. hierzu Walter Kertz/Peter Albrecht u.a. (Hrsg.), Technische Universität Braunschweig. Vom Collegium Carolinum zur Technischen Universität 1745–1995. Hildesheim/ Zürich/New York 1995.
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Wahl für einen französischen Adligen – vielleicht war die im Geist der Aufklärung geprägte Ausrichtung der Anstalt ausschlaggebend. Neben dem theoretischen Unterricht in Natur- und Geisteswissenschaften wurde auch praktisches Wissen über Forstwesen und Landwirtschaft vermittelt – Kenntnisse, die sich in seiner Zeit als Präfekt als nützlich erweisen sollten. Lezays anschließende Militärzeit im régiment du roi dauerte von 1787 bis 1789. Vermutlich noch vor Ausbruch der Revolution bereiste er zu Studienzwecken Deutschland, Spanien und England. Im Dezember 1791 führte er seine Ausbildung in Deutschland an der Universität Göttingen fort, was ihm den Vorwurf einbrachte, ein Emigrant zu sein, das heißt zu den Royalisten zu zählen 12 – ein Vorwurf, dem er vehement widersprach: Die Ausrichtung der Universität, „fameuse par la liberté de ses principes“ 13, habe den Ausschlag gegeben, das Land (Kurfürstentum Hannover) habe er sofort verlassen, als es in den Krieg gegen Frankreich eingetreten sei. Am 25.Juli 1792 verließ er Göttingen und kehrte nach Frankreich zurück. Mit seinem Bruder Albert hielt er sich zunächst – nahezu mittellos – im Kreise der Girondisten in Paris auf. Als die politische Situation unter Robespierre zu gefährlich wurde, flohen beide im Frühjahr 1793 ins ländliche Exil in die Normandie. Hier verfasste Adrien seine ersten politischen Abhandlungen, die bereits seine schriftstellerische Begabung und seinen ihm eigenen Stil erkennen lassen: Wie auch in seiner späteren dienstlichen Korrespondenz als Präfekt appelliert er an die Moral und die Vernunft seiner Leser. Die Darlegung seiner Gedanken ist didaktisch, um Verstehen bemüht, nahezu kein Gedanke bleibt unausgeführt. 1795 nach Paris zurückgekehrt, machte er mit politischen und aufklärerischen Schriften auf sich aufmerksam, in denen er eine Verbesserung und Vervollkommnung der Republik forderte. Dabei scheute er nicht vor Kritik an den politischen Zuständen unter dem Direktorium zurück. Diese kritische Haltung erzwang im Spätsommer 1797 erneut seine Flucht, dieses Mal in die Schweiz. Er nutzte die unfreiwillige Muße im Exil, um sich einer weiteren Leidenschaft, der deutschen Literatur, zu widmen. In kurzer Zeit übersetzte er Schillers „Don Carlos“ ins Französische. Wil-
12
Während seines Studiums in Göttingen trat das Emigrantengesetz in Kraft, welches bestimmte, dass
alle Franzosen, die bis zum 1.Mai 1792 nicht nach Frankreich zurückkehrten, als Emigranten angesehen wurden und ihre Güter demnach konfisziert werden konnten. 13
„Berühmt für ihre freiheitlichen Grundsätze“. Das Zitat findet sich im Antrag auf Streichung von der
Emigrantenliste, Archive nationale F7 5190, zitiert nach Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 32.
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helm von Humboldt berichtete Schiller hierüber: „Von Ihrem Don Carlos soll eine gute Übersetzung von dem bekannten Adrien Lezay im Manuskript vorhanden sein. Sie ist mir sehr gelobt worden, ich habe sie aber noch nicht zu sehen bekommen.“ 14 Die Liebe zur deutschen Literatur war für Lezay aber nicht das einzige Motiv für seine Übersetzung. Mit ihr konnte er sich aus dem Exil für die republikanischen Ideale, die Idee der Freiheit, in seinem Heimatland einsetzen. Ein von ihm verfasster, erläuternder Zusatz zu „Don Carlos“ spiegelt gleichsam die Grundüberzeugung seines Lebens: „C’est l’enthousiasme qui inspire le salut des peuples, les résolutions héroiques, et les dévouemens sans exemple.“ 15 Ende 1799, nach dem Sturz des Direktoriums durch Napoleon, kehrte Lezay aus dem Exil zurück. Zunächst stand er dem Ersten Konsul und dem neuen politischen System skeptisch gegenüber. Da sich in seiner Person aber Idealismus mit praktischer Veranlagung verband, obsiegte nach und nach die Bewunderung für Napoleons organisatorische Fähigkeiten. Insbesondere die neue starke und geordnete Verwaltung – von Lezay in zahlreichen seiner politischen Schriften immer wieder gefordert – überzeugte ihn. In der Zwischenzeit hatten sich Freunde und Bekannte bei Napoleon für ihn verwandt, unter anderem Josephine Beauharnais, seine Verwandte und nun Ehefrau Napoleons. 1802 hatte deren Fürsprache Erfolg. Im April des Jahres wurde Lezay von Napoleon beauftragt, die politischen und geographischen Zustände in der Schweiz und in Ungarn zu erkunden und darüber zu berichten. Diese Aufgabe muss er mit Bravour erledigt haben, denn im Juni 1803 erhielt er die Beförderung zum französischen Gesandten in Salzburg. 16 Bereits hier zeigten sich die Fähigkeiten und Interessen, die ihn auch als Präfekten des Rhein-Moseldepartements auszeichnen sollten: „Liebe zu Wissenschaften und große botanische Kenntnisse“ und ein „vortreffliches Herz“, durch welches er die Zuneigung der Bevölkerung gewann. 17 Allerdings rief 14 F. C. Ebrard, Neue Briefe Wilhelm von Humboldts an Schiller 1796–1803. Berlin 1911, 254, zitiert nach: Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 71. 15 „Es ist die Begeisterung, die das Heil der Völker, die edlen Vorsätze und die beispiellose Hingabe entfacht“, Anmerkung Lezays zu einer Szene (4. Akt, 21. Auftritt: Königin und Marquis von Posa) in „Don Carlos“, übersetzt von Lezay-Marnésia, 309, zitiert nach Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 39. 16 Das Kurfürstentum Salzburg war im Frieden von Lunéville als eine der Neuschöpfungen Napoleons entstanden und Erzherzog Ferdinand von Österreich als Entschädigung für die Toskana zugesprochen worden. 17 Medizinisch-chirurgische Zeitung Salzburg, 7.April 1808, zitiert nach Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 91.
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seine Berichterstattung nun nicht mehr Napoleons Wohlwollen hervor, da Lezay Sympathien für die Österreicher erkennen ließ. 18 Mit dem Beginn des Krieges und der Besetzung Salzburgs durch französische Truppen 1805 endete daher seine diplomatische Karriere. Am 15.Mai 1806 wurde er zum Präfekten des Département de Rhin-et-Moselle mit Sitz in Koblenz ernannt. Zunächst war er keineswegs begeistert, da er den Posten als Strafversetzung verstand, denn den neuen Departements eilte der Ruf voraus, Sammelstätte unliebsamer, wenig begabter Beamter zu sein. Er gestand später selbst, dass er „avec la plus grande répugnance“ 19 nach Koblenz gegangen sei. Hiervon war jedoch bei seinem Amtsantritt nichts zu spüren. Von Beginn an und während seiner gesamten Jahre im Rheinland engagierte er sich auf zahlreichen Feldern für das ihm anvertraute Departement. Aufgrund seiner erfolgreichen Tätigkeit im Rhein-Moseldepartement wurde Lezay von Napoleon am 1.März 1810 als Präfekt des größeren und bedeutenderen Departements Bas-Rhin nach Straßburg berufen. Hier starb er im Oktober 1814 – Ironie des Schicksals – an den Folgen eines unglücklichen Sturzes aufgrund schlechter Straßenverhältnisse: Bei einer Dienstreise scheuten seine Pferde und seine Kutsche stürzte über einen auf dem Weg aufgeschichteten Kieshaufen, „über den Stoff, worauf zum Theil [sein] Ruhm gegründet“ 20 war.
III. Das Wirken Lezay-Marnésias im Rhein-Moseldepartement 1806–1810 Als Lezay 1806 zum Präfekten des Rhein-Moseldepartements 21 ernannt wurde, war die politische und wirtschaftliche Situation im linken Rheintal insgesamt günstig. Das napoleonische Kaiserreich war auf dem Höhepunkt seiner politischen und
18
Insbesondere mit seinen Beschwerden gegen das Wüten der französischen Truppen in Salzburg hatte
er sich die Gunst des Kaisers verscherzt. Vgl. Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm. 8), 226. 19
„Mit allergrößtem Widerwillen“. Lezay an den Innenminister, 1.Februar 1807, Archive nationale F1BII,
Rhin et Moselle 1, zitiert nach Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 96. 20
Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 242.
21
Das Rhein-Moseldepartement war in weiten Teilen deckungsgleich mit dem linksrheinischen Teil
des nach 1815 gebildeten Regierungsbezirks Koblenz, der zur Rheinprovinz gehörte.
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wirtschaftlichen Macht, und die neuen Departements profitierten von dieser Situation. Etwas mehr Grautöne muss man dem Bild beimischen, wenn die Zustände im Rhein-Moseldepartement gezeichnet werden. Von den vier neu hinzugekommenen Departements auf dem linken Rheinufer fiel es sowohl hinsichtlich der Einwohnerzahl als auch der Wirtschafts- und Steuerkraft deutlich hinter die drei anderen rheinischen Departements, das Saardepartement (Trier), das Rurdepartement (Aachen) und das Donnersbergdepartement (Mainz), zurück. 22 Dies lag vor allem an den topographischen Gegebenheiten: Die bergigen, wenig fruchtbaren Regionen des Hunsrücks und der Eifel waren wirtschaftlich und politisch äußerst rückständig, da sie von den Zentren an Rhein und Mosel abgeschnitten waren. Zwar hatten bereits die drei Vorgänger Lezays (Boucqeau, Mouchard-Chaban und Lameth) versucht, den Rückstand des Rhein-Moseldepartements aufzuholen, jedoch waren ihre Bemühungen wenig erfolgreich gewesen. 23 Dem 37-jährigen Lezay hingegen gelang es in seiner Amtszeit mit viel Enthusiasmus, Tatkraft und Beharrlichkeit, die Zustände in seinem Departement zu verbessern. Dabei fühlte er sich nicht nur dem französischen Staat, sondern in aufklärerischer Manier auch dem Wohl der Bevölkerung verpflichtet. Geschickt verstand er es, die Spielräume zu nutzen, die ihm das Amt des Präfekten bot. 24 Sofort nach Amtsübernahme machte er sich auf einer Rundreise mit den Verhältnissen im Departement vertraut. Bereits bei dieser Gelegenheit stolperte er wohl – im wahrsten Sinne des Wortes – über das Projekt, welches zu seinem bedeutendsten werden sollte: über die Gemeindewege und ihren katastrophalen Zustand – denn die Reise sei, so der Chronist Stramberg, „bei der Mangelhaftigkeit der Communicationen […] eine sehr schwierige und kostspielige Arbeit“ gewesen. 25 Vordringlichste Maßnahmen waren jedoch zunächst die Reorganisation der Verwaltung und die Ordnung der Gemeindefinanzen, denn ein fähiger sowie loyaler Mit22 Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 105; Hansgeorg Molitor, Vom Untertan zum Administré. Studien zur französischen Herrschaft und zum Verhalten der Bevölkerung im Rhein-Mosel-Raum von den Revolutionskriegen bis zum Ende der Napoleonischen Zeit. (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt.Universalgeschichte, Bd. 99.) Wiesbaden 1980, 11f. 23 Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 105–107. 24 Zu den Befugnissen eines französischen Präfekten siehe: Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr 1808, 19–22, und Sabine Graumann, Französische Verwaltung am Niederrhein. Das Roerdepartement 1798–1814. (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 27.) Essen 1990, 46–48. 25 Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 230.
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Abb.1: Das Rhein-Moseldepartement (um 1800); Quelle: Jean Baptiste Joseph Breton, Voyage dans la ci-devant Belgique, et sur la Rive Gauche du Rhin: orné de treize cartes, de trente-huit estampes, et accompagné de notes instructives. Paris 1802, nach S. 149.
arbeiterstab und ein ausgeglichener Gemeindehaushalt waren die Voraussetzungen für Lezays reformerische Pläne. Bedeutsam war vor allem seine personelle Umbildung der Bürgermeistereiverwaltung. Für ihn, und hier finden sich nahezu zeitgleich Parallelen zu den Vorstellungen des Freiherrn vom Stein, waren die Gemeinden das Fundament eines Staatswesens. Dieses Fundament war in seinen Augen bei seinem Amtsantritt schwach, denn über zahlreiche Bürgermeister in seinem Departement fällte er in seinen Berichten an das Pariser Innenministerium ein vernichtendes Urteil. Mit dem renouvellement quinquenal gelang es Lezay zu Beginn des Jahres 1808 schließlich, fast ein Drittel aller Bürgermeister sowie weitere kommunale Beamte abzulösen und durch tüchtige und loyale Verwaltungsbeamte zu ersetzen. 26 26
Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 113f.; vgl. auch Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II,
Bd. 2 (wie Anm.8), 230f. Seine Reform der Bürgermeistereiverwaltung wurde von Paris kritisch verfolgt, so dass Lezay hier Kompromisse eingehen musste.
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Die Sanierung der Gemeindefinanzen war eine weitere dringliche Aufgabe, welche Lezay erfolgreich meisterte: Hatten 1807 die gesamten Gemeindeschulden des Departements noch bei neun Millionen Francs gelegen, wurden sie 1810 mit nur noch rund 80000 Francs angegeben. 27 Auch im kulturellen und sozialen Bereich war Lezay nicht untätig. 28 In seiner Amtszeit begann die gezielte Konsolidierung des Unterrichtswesens. Seine bildungspolitischen Initiativen verknüpfte er eng mit seinen agrarwirtschaftlichen Ambitionen: Ackerbau und Viehzucht, Obstanbau, Aufforstung etc. standen auf dem Unterrichtsplan. 29 Wichtig für die Wissensvermittlung – ganz im Sinne der Volksaufklärung – wurden die beiden offiziösen Publikationsorgane der Präfektur, die Lezay herausgeben ließ. Beide richteten sich an ein breites Publikum. 30 Das „Handbuch für das Rhein-Mosel-Departement“ informierte sachlich über alle den Bürger betreffenden Staats- und Verwaltungsorgane, der „Rhein- und Moselbothe“ hingegen diente als Sprachrohr des Präfekten. 31 Eine wirkliche Herzenssache für Lezay war es, das landwirtschaftlich geprägte, aber rückständige Rhein-Moseldepartement agrarwirtschaftlich in die Moderne zu führen. 32 Ziel war die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität und die 27 Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 116. Diesen Erfolg verstand Lezay in den kommenden Jahren durchaus zu instrumentalisieren, wenn es galt, Pläne im Departement umzusetzen, die in Paris umstritten waren. 28 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 232– 237. Zu Schule und Bildung als Mittel der Beeinflussung und Indoktrination in französischer Zeit vgl. Molitor, Vom Untertan (wie Anm.22), 65–80. 29 Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 143. 30 Ebd.Zur Problematik der Unterrichtung/Aufklärung des „einfachen“ Volkes mithilfe des gedruckten Wortes siehe: Wolfgang E. J. Weber, Aufklärung – Staat – Öffentliche Meinung oder: Die Räson des Räsonnements, in: Sabine Doering-Manteuffel/Josef Manĉal/Wolfgang Wüst (Hrsg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich. (Colloquia Augustana, Bd. 15.) Berlin 2001, 32–68, hier 49f. Optimistischer hingegen Holger Böning, Intelligenzblätter und Volksaufklärer, in: ebd.69–119, hier 76–78. 31 Zur Gründung des „Rhein- und Moselbothen“ durch Lezay vgl. Molitor, Vom Untertan (wie Anm.22), 86f.; Karl d’Ester, Die Presse im Kurfürstentum Trier bis zum Jahre 1813. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Meinung und Kultur unter dem Krummstab und der französischen Herrschaft, in: Trierisches Archiv 17/18, 1911, 100–166, hier 137–143. 32 Bereits lange vor seinem Amtsantritt hatte Lezay bei einer Audienz im Herbst 1801 dem Ersten Konsul seine Pläne für eine Verbesserung der Landwirtschaft vorgelegt. Diese suchte er nun im Rhein-Moseldepartement umzusetzen. Lezays Leidenschaft für die Landwirtschaft wird nicht nur anhand der Anzahl der Artikel mit landwirtschaftlichem Bezug im „Rhein- und Moselbothen“ deutlich (was zudem in der Tradition der Intelligenzblätter steht, die in erster Linie in ökonomischer Hinsicht aufklären wollten), sondern ist auch in seinen umfassenden Berichten über den Zustand des Departements durch die Reihung der Themen belegt. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 132–137.
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Schaffung eines (regionalen) Marktes für agrarische Produkte – und damit verbunden ein steigender Wohlstand der Bevölkerung. Dafür warb er in zahlreichen Artikeln im „Rhein- und Moselbothen“. Lezays Projekte waren auf vielfältige Weise miteinander verknüpft: Unterricht und Landwirtschaft, Landwirtschaft und Straßen, Straßen und medizinalpolizeiliche Initiativen – alles stand miteinander in Verbindung. Bei nahezu all seinen Bemühungen sah er sich im Einklang mit den Zielen der Pariser Regierung. Der französische Staat hatte nicht nur auf zentralstaatlicher Ebene bedeutende Reformen umgesetzt, auch in den Regionen regte er zahlreiche wirtschaftliche, kulturelle und soziale Verbesserungen an. 33 Bei der Implementierung half die Departementsverfassung, da alle regionalen Belange in der Hand des von Paris ernannten Präfekten zusammenliefen. 34 Dieser Umstand, kombiniert mit dem straff organisierten französischen Verwaltungssystem, welches klar definierte bürokratische Instanzenzüge geschaffen hatte, die – ohne Ausnahmen – vom Präfekten über die Unterpräfekten und Maires bis hin zum einfachen Bürger reichten, erleichterte zwar die Durchsetzung modernisierender Verwaltungsmaßnahmen, war indes kein Garant für den Erfolg. Das zeigen die Bemühungen von Lezays Vorgängern, die gleichfalls wirtschaftliche, kulturelle und soziale Verbesserungen angestoßen hatten, welche jedoch großteils im Sande verliefen. Aus Lezays wichtigstem Anliegen, die Agrarwirtschaft im Rhein-Moseldepartement zu modernisieren, entwickelte sich in der Folgezeit nahezu zwangsläufig sein großer Einsatz und sein Sachverstand auf dem Gebiet des kommunalen Wegebaus, denn, so gestand er selbst, „wer immer die Rolle begreift, welche die Wege in dem Zustande eines Landes spielen, sieht darin beinahe die gänzliche Civilisation desselben, und erstaunt über keine Aufopferung, welche ein Land macht, um sich Verbindungspunkte zu verschaffen, weil diese Aufopferungen einen vernünftigen Zweck haben“. 35 33 Vgl. die zahlreichen thematisch entsprechenden Verordnungen und Zirkulare der Pariser Zentralregierung, die sich im Bestand der Präfektur des Rhein-Moseldepartements im Landeshauptarchiv (künftig: LHA) in Koblenz befinden. 34 Zu den französischen Reformen vgl. z.B. Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763–1815. (Siedler Deutsche Geschichte, Bd. 7.) München 1998, bes. 566–570. Zur Präfekturverfassung in den vier neuen Departements siehe die Studie von Graumann, Französische Verwaltung (wie Anm.24), 46– 48. 35 Bericht Lezays über seine Umreise im Rhein-Moseldepartement im Mai und Juni 1808, in: RMB, 18. Juni 1808.
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IV. Der kommunale Wegebau im Rhein-Moseldepartement unter Lezay-Marnésia 1806–1810 1. Organisation des kommunalen Wegebaus Zu Beginn des 19.Jahrhunderts unterschied man im französischen Wegerecht, welches nun auch im Rhein-Moseldepartement galt, zwischen den Land- und Heerstraßen (grandes routes) und den chemins particuliers (Privatwegen) bzw. den Vicinalwegen (Gemeinde-/Nachbarwegen). Während für die grandes routes die Zentralregierung verantwortlich war, welche die Straßen mithilfe von Steuerzuschlägen bzw. einer für diesen Zweck erhobenen Salzsteuer, zwischenzeitlich auch mit Wegegeld, finanzierte, fielen Planung, Bau und Unterhalt der Vicinalwege in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. Um die Ausgaben möglichst gering zu halten, setzte man hier auf die Hand- und Spanndienste der Gemeindemitglieder. Schon in kurtrierischer Zeit waren die Wegearbeiten durch Fronpflichtige erledigt worden. 36 Dies galt für die gemeindlichen Wege, aber auch für den Bau überregionaler Straßen (Chausseen). Von diesen Pflichten waren jedoch in der ständischen Gesellschaft zahlreiche Bevölkerungsgruppen befreit, daher lag die Hauptlast auf den Schultern der ländlichen Bevölkerung. Der gegen Ende des 18.Jahrhunderts angestrebte systematische Ausbau der überregionalen Straßen zu modernen Chausseen nach französischem Vorbild erwies sich jedoch als kosten-, arbeits- und planungsintensiv, so dass 1776 der damalige Trierer Kurfürst Clemens Wenzeslaus nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten suchte und erstmals auch eine Abgabe, das Frondienstgeld, in Betracht zog, welches von allen Bevölkerungsgruppen entrichtet werden sollte. Die Planung konnte jedoch erst nach zähen Verhandlungen mit den Landständen umgesetzt werden, ergänzend wurde ein Chausseegeld, eine Art Wegezoll, eingeführt. Da jedoch bereits im Herbst 1792 französische Truppen das linke Rheinufer besetzten, wurden diese Vorhaben nur kurzzeitig umgesetzt. Die französischen Eroberer rüttelten zunächst nicht an der Fronpflicht im Wegebau. 37 Durch Gesetz vom 23.Dezember 1797 wurde den Bauern und Anwohnern die
36 Vgl. zum Folgenden: Nicole K. Longen, Fronarbeit zur Finanzierung von Infrastruktur. Der Ausbau des Straßennetzes im Kurtrierer Raum 1716–1841, in: Hans-Liudger Dienel/Hans-Ulrich Schiedt (Hrsg.), Die moderne Straße. Planung, Bau und Verkehr vom 18. bis zum 20.Jahrhundert. (Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung, Bd. 11.) Frankfurt am Main/New York 2010, 23–48, hier 34–36. 37 Hierzu und zum Folgenden vgl. ebd.36–38; zum französischen Wegerecht im Rheinland siehe auch
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Pflege der Wege, die durch ihre Gemeinden führten, auferlegt, auch wenn es sich um Land- und Heerstraßen handelte. Allein in der Zeit der Ernte und der Weinlese waren sie von dieser Aufgabe befreit. Erst im Dezember 1798 reduzierte man die Pflichten der Gemeinden auf die Ausbesserung und Unterhaltung der Vicinalwege. Am Wegfall dieser Dienste hatte selbst der aufgeklärte französische Staat nur wenig Interesse, da er finanziell und vermutlich auch institutionell nicht in der Lage gewesen wäre, diese sehr kleinteiligen, zudem in genossenschaftlichen Strukturen organisierten gemeindlichen Verpflichtungen zu kompensieren. 2. Motive für Lezay-Marnésias Wegebauprojekt Aufgrund der Überlastung der fronpflichtigen ländlichen Bevölkerung, der starken Nutzung der Straßen durch Truppenbewegungen während der Revolutionskriege, aber auch infolge eines verbreiteten Desinteresses traf Lezay bei seinen ersten Rundreisen nach Amtsantritt auf einen katastrophalen Zustand der Gemeindewege, denn „dieselben waren entweder nicht mehr vorhanden, oder waren kaum noch fahrbar“. 38 Vor allem der Hunsrück und die Eifel, „Gegenden, welche um bestehen zu können“, des Handels bedürfen, „haben gar keine Wege“. 39 Schon bald ging er dieses, in seinen Augen dringliche Problem an. „Endlich“, so Lezay zu Beginn des Jahres 1807 in seinem Brief an die Bürgermeister des Departements, „ist der Augenblick gekommen, sich mit voller Thätigkeit mit den Gemeindewegen zu beschäftigen. Nur eine allgemeine und rasche Anstrengung kann sie aus ihrer wirklich schimpflichen Lage ziehen, über die ich von allen Seiten Klagen der Landleute höre.“ 40 Er strebe an, mit Beginn des Frühjahrs „diese schändliche Kloacken, welche man Gemeindewege nannte, in sauber, sicher und zu jeder Zeit gangbare Wege umgeschaffen zu sehen“. 41 Lezays Pläne für den kommunalen Wegebau resultierten aus seinen Bemühun-
Fritz Ecker, Rheinisches Wegerecht. Darstellung der wegerechtlichen Verhältnisse der Rheinprovinz unter Berücksichtigung der geschichtlichen Entwickelung. Berlin 1906, 13–16. 38
Bericht Lezays über seine Umreise im Rhein-Moseldepartement im Mai und Juni 1808, in: RMB,
18. Juni 1808. 39
Bericht Lezays über seine Umreise im Rhein-Moseldepartement im Mai und Juni 1808, in: RMB, 3.Sep-
tember 1808. 40
Lezay in seinem Schreiben an die Maires des Departements vom 27.Februar 1807, in: RMB, 28.Februar
1807. 41
42
Aufruf Lezays, in: RMB, 4.März 1807.
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gen um eine Verbesserung der Landwirtschaft. 42 Bereits bei einer seiner ersten Rundreisen war ihm aufgefallen, dass die Preise für landwirtschaftliche Produkte verfielen, weil es auf Grund mangelnder Transportmöglichkeiten keinen funktionierenden Markt gab. Er beklagte, dass „die Transporte […] nur mit einem großen Aufwand von Zeit, mittels viel Zugvieh, und mit Schaden jeder Art gemacht werden [konnten]“. Es kam in vereinzelten Fällen sogar vor, dass der Verkäufer dem Käufer Entschädigung zahlen musste, weil er die bestellte Ware nicht pünktlich an den vereinbarten Ort hatte liefern können: „Ich sah in dem Kanton Rheinbach Gutseigenthümer, welche denjenigen, denen sie Frucht verkauft hatten, eine Entschädigung aus dem Grunde zahlen mußten, weil sie dieselbe an dem Orte nicht abliefern konnten, worüber man übereingekommen war. […] Beinahe in jeder Gemeinde blieb ein Theil des Gebietes ohne Dünger, aus Mangel der Wege.“
Er schlussfolgerte, dass „genau genommen, das Land nur von dem Augenblicke an[fängt], einigen Werth zu haben, wo es mit denjenigen, die seiner und deren es nötig hat, sich in Verbindung setzte. […] Man verschließe einer fruchtbaren Gegend alle Auswege, und eröffne deren einem armen Lande; es wird nicht lange dauern, so wird das arme Land das reiche, und das fruchtbare das arme seyn.“ 43 Lezay konzentrierte sich auf den Gemeindewegebau, da es ihm um die Schaffung regionaler Märkte für agrarische Produkte ging. Ohne eine größere Gewerberegion in unmittelbarer Nachbarschaft waren für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Rhein-Moseldepartements die regionalen Verbindungen maßgeblicher als überregionale in Form der grandes routes – zumal hier der Rhein als große Fernverbindung nahezu konkurrenzlos war. Erst die relativ leichte Möglichkeit der Vermarktung und des regionalen Austausches, so die Überlegung Lezays, könne die ländliche Bevölkerung anspornen, ihre Produktivität zu erhöhen und so den Wohlstand des Einzelnen und des Departements zu steigern. Auch wenn es ihm vor allem um die wirtschaftliche Teilhabe der ländlichen Regionen ging, darf man den politischen Aspekt nicht außer Acht lassen. Wie bereits dargelegt, hielt er die Gemeinden für das Fundament des Staatswesens. Das setzte 42 „Ueberhaupt sind unsre Wege dem Ackerbau und der Eröffnung der Auswege für denselben gewidmet“, Lezay in seinem Bericht über seine Umreise im Frühjahr 1808, in: RMB, 22.Juni 1808, vgl. auch Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 138. 43 Dieses und die vorhergehenden Zitate des Abschnitts im Bericht Lezays über seine Umreise im RheinMoseldepartement im Frühjahr 1808, in: RMB, 18.Juni 1808.
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politische Partizipation voraus, welche nur mittels einer funktionierenden Infrastruktur möglich war 44: Post und Nachrichtenorgane mussten ausgeliefert werden können; an den Sitzungen der kommunalen Selbstverwaltungsorgane sollten die Delegierten ohne größere Schwierigkeiten teilnehmen können; und selbst das von Lezay geschaffene Instrument der direkten politischen Kommunikation zwischen ihm und der Bevölkerung, seine täglichen Audienzen in der Präfektur, setzten die Erreichbarkeit für die ländlichen Bewohner voraus. 3. Strategien und Maßnahmen Lezay-Marnésias zur Realisierung seines Wegebauprojekts Auch unter französischer Herrschaft mussten die Gemeindewege allein durch die Hand- und Spanndienste der ländlichen Bevölkerung gebaut und unterhalten werden. Das war für Lezay Chance und Schwierigkeit zugleich: Chance, weil er für die Realisierung dieses Projekts kaum auf Unterstützung aus Paris angewiesen war – nicht politisch, aber vor allem nicht finanziell; Schwierigkeit, weil ihm das gelingen musste, woran schon die kurfürstliche Regierung und seine Amtsvorgänger gescheitert waren: die ländliche Bevölkerung vom Sinn und Nutzen des gemeindlichen Wegebaus zu überzeugen und so, trotz Zwangsdienst, gute Resultate zu erzielen. 3.1 Strategien und Taktiken Lezay wählte eine seit der Spätaufklärung an Bedeutung gewinnende Strategie: Er baute in hohem Maße auf Öffentlichkeitsarbeit 45: „Die lebhafte Theilnahme an der Ausbesserung der Gemeindswege reizt uns, ihm [dem Publikum, R. J.] fortdauernd die thatenreichsten Berichte der Weginspektoren mitzutheilen.“ 46 Dies kennzeichnete nicht nur seine Bemühungen im Wegebau, sondern bei all seinen Projekten. Er warb bei der Bevölkerung für seine Anliegen und appellierte an das Gemein-
44
Brandes, Herrschaft (wie Anm.2), 212, betont vor allem die Bedeutung der Gemeindewege für die
Durchdringung und Vereinheitlichung der neuen preußischen Provinz. Dieser Aspekt der Herrschaftsdurchdringung mag auch für Lezay eine Rolle gespielt haben. Ihm war dabei aber immer wichtig, dass der Informationsfluss in beide Richtungen gewährleistet war. 45
Zur Öffentlichkeitsarbeit Lezays vgl. d’Ester, Presse im Kurfürstentum Trier (wie Anm.31), 137–143.
Diese Taktik wandte auch die neue preußische Regierung nach 1815 an, war damit aber wohl wenig erfolgreich, vgl. Brandes, Herrschaft (wie Anm.2), 219f. 46
44
Lezay, in: RMB, 22.April 1807.
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wohl. Dabei wandte er sich, ganz im Sinne der Volksaufklärung, nicht nur an die verantwortlichen Beamten und Honoratioren, sondern bewusst auch an die einfachen Bewohner. Den Dank für geleistete Arbeiten richtete er ausdrücklich immer wieder an alle Beteiligten. 47 Er zeigte sich, wie Stramberg, der ihn noch persönlich gekannt hatte, es formulierte, „liebenswürdig in dem Verkehre mit den arbeitenden Classen“. 48 Diese Wesensart machte ihn bei der Bevölkerung beliebt. Daher erfüllten die Menschen seine Forderungen, wenn nicht immer klaglos, so doch zumeist ohne großen Widerstand: „Ueberall haben die Einwohner eifrig und von selbst, von der Nothwendigkeit und dem Nutzen ihrer Beschäftigung überzeugt, gearbeitet“ 49, wie Lezay selbst zu beobachten glaubte. Die gewünschte Öffentlichkeit stellte er auf dreierlei Weise her: Zum einen richtete er sich in regelmäßigen Artikeln im „Rhein- und Moselbothen“ an die Einwohner seines Departements. Berichte zum Wegebau finden sich monatlich, manchmal sogar mehrfach im Monat: „Unermüdet fahren wir fort, dem Publikum die Ausbesserungen der Gemeinden an ihren Wegen vorzulegen. Dieser Gegenstand hat dafür ein zu hohes Interesse, als daß sich ein Ueberdruck daran besorgen ließe.“ 50 Zum anderen blieb er durch seine regelmäßigen Rundreisen im Departement im persönlichen Kontakt mit der Bevölkerung: „Wenn der Präfect die Dörfer besuchte auf seinen vielfältigen Umreisen, dann verkehrte er mit dem geringsten Hirten, er befragte, 47 „Empfangen Sie, meine Herren, die Zusicherung meiner vollkommenen Zufriedenheit, ich ersuche Sie, diese Zusicherung ihren Gemeinden zu wiederholen“; Lezay an die Maires von Andernach und Rübenach, in: RMB, 18.März 1807; „Der Prefekt, in dem er seine äußerste Zufriedenheit darüber [Stand der Wegearbeiten, R. J.] dem Maire und den Adjunkten bezeugte, trug ihnen auf, selbige gleichermaßen den Bewohnern ihrer Gemeinden mitzutheilen“, in: RMB, 25.März 1807. Auch bei dem Bemühen Lezays, die Erlaubnis für die Herausgabe des „Rhein- und Moselbothen“ von der Pariser Regierung zu erhalten, betonte er, dass man als oberster Verwaltungsbeamter nicht nur die untergebenen Beamten, sondern das ganze Volk ansprechen müsse, vgl. Molitor, Vom Untertan (wie Anm.22), 87; d’Ester, Presse im Kurfürstentum Trier (wie Anm.31), 138. Dieses versuchte Lezay unter anderem dadurch zu erreichen, dass er den „Rheinund Moselbothen“, anders als von Paris gewünscht, zu großen Teilen in deutscher Sprache veröffentlichte, um so eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. 48 Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 237. 49 Lezay, in: RMB, 22.April 1807. 50 Lezay, in: RMB, 18.April 1807; Molitor, Vom Untertan (wie Anm.22), 92f., geht allerdings davon aus, dass die Breitenwirkung der Presseorgane nicht allzu groß gewesen sei, da zum einen die Lesefähigkeit zu gering, zum anderen die Kosten des Zeitungsbezugs zu hoch gewesen seien. Allerdings übersieht er dabei m.E., dass Zeitungen früher vor allem in öffentlichen Räumen zirkulierten und zudem auch laut vorgelesen wurden. Zu den Verbreitungsmöglichkeiten von Zeitungen siehe auch Böning, Pressewesen und Aufklärung (wie Anm.30), 84.
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er belehrte, er berieth ihn, er belauschte die öffentliche Meinung, er besprach die Bedürfnisse der Gemeinde.“ 51 Zugleich waren diese Reisen aber auch – neben den Berichten seiner Unterpräfekten, Distriktsinspektoren und Maires – ein effektives Kontrollinstrument. Und drittens führte er in seiner Präfektur in Koblenz tägliche Audienzen ein. So schildert Stramberg, dass „der Präfect […] sich vorzugsweise mit den untern Classen [beschäftigte], mit ihren Bedürfnissen, Wünschen, Beschwerden und Vorurtheilen. Hauptsächlich um seine Erfahrungen in dieser Hinsicht zu vervollständigen, führte er die Audienzen ein, in welchen […] ein jeder zu ihm gelangen, sein Anliegen mündlich vorbringen konnte.“ 52 Und auch die Taktik, die er wählte, war insofern anders als das, was die Bevölkerung bislang gekannt hatte, da er das Handeln seiner Verwalteten weitaus häufiger belohnte als bestrafte: Seine Überzeugungsarbeit wurde regelmäßig durch Anreize begleitet, vor allem in Form von Belobigungen, aber auch von Sachleistungen. 53 Mit anerkennenden Worten für die Maires und ihre Gemeinden begann beinahe jeder veröffentlichte Bericht über den Wegebau. Dabei wurden nahezu alle Beteiligten gelobt, namentlich jedoch die hervorgehoben, die sich besonders ausgezeichnet hatten. Die in diesen Artikeln hin und wieder formulierte Kritik erfolgte hingegen weitgehend anonym, so dass Lezay keinen bloßstellte, zugleich aber deutlich machte, dass ihm Missstände durchaus bekannt waren. 54 Spätestens im Herbst 1807 führt er als weiteren Anreiz finanzielle Belohnungen ein, „weil es gerecht ist, den Eifer zu belohnen“ 55 – vermutlich waren lobende Worte allein nicht Ansporn genug. Wo alle positiven Bemühungen fehlschlugen, scheute er indessen nicht davor zurück, seiner Verärgerung Luft zu machen, Strafen anzudrohen – und zu verhängen. Dies geschah manches Mal verbrämt 56, ein anderes Mal erzürnt 57, konnte aber auch
51
Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 237.
52
Ebd.230.
53
So sollten in den Gemeinden an der Mosel als Dank für ihre freiwillige Ausbesserung des Leinpfades
auf Kosten der Regierung eine Eisbreche in Cochem sowie zwei Brücken über die Mosel errichtet werden; zudem sollte die Stützmauer an der Mosel wiederhergestellt werden, in: RMB, 27.Mai 1807. 54
„In der Gegend von Simmern sind noch zwey Mairien, von denen wir nicht sprechen, deren wir aber
in zehn Tagen (ohne Zweifel rühmlich) erwähnen werden“; Bericht über die Inspektionsreise Lezays im Frühjahr 1807, in: RMB, 27.Mai 1807. 55
Schreiben Lezays an die Maires des Departements vom 27.August 1807, in: RMB, 5. September 1807.
Aus diesem erweiterten Belohnungsinstrument kann gefolgert werden, dass Belobigungen allein nicht immer den gewünschten Erfolg gezeitigt hatten. 56
46
„Die Verwaltung hat für alle ihre Untergebenen gleiche Gerechtigkeit, aber nicht gleiches Wohlwol-
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sehr direkt und scharf formuliert sein: „Gemeinden, welche die von ihren Nachbarn ausgebesserten Wege benutzen, ohne etwas zu thun, um denselben den nämlichen Vortheil zu verschaffen, sind doppelt straffällig.“ 58 Denjenigen, die sich nachdrücklich weigerten, an den Ausbesserungsarbeiten mitzuwirken, wurde der Prozess gemacht und das Urteil im „Rhein- und Moselbothen“ zur Abschreckung öffentlich verkündigt. Auch an dieser Stelle appellierte er wiederholt an das Gemeinwohl, denn solch „Widerspenstige“ würden sich vor allem an ihren Mitbürgern versündigen. 59 Charakteristisch für ihn waren also seine ehrgeizigen Pläne zum Wohle des Departements, seine Tatkraft und Energie, mit der er sie umsetzte, die Fähigkeit, seine Beamten und die Bewohner des Departements gleichermaßen zu überzeugen und auf diese Weise einzubinden, das Ganze jedoch immer zu begleiten mit Kontrolle und gegebenenfalls unerbittlicher Strenge: „Mit starker Hand erfaßte er die Zügel der Verwaltung, und scharf und unausgesetzt die ihm unmittelbar unterworfenen Beamten beaufsichtigend, erzwang er von ihnen die seinem allgemeinen System zusagenden Anstrengungen. Wer zurückblieb, wurde ohne Gnade abgeschafft, jeder Fehltritt unnachsichtlich bestraft.“ 60
3.2 Maßnahmen – institutionelle Aspekte, Organisation und Hierarchien Vorab, aber auch begleitend, schuf Lezay zunächst die verwaltungspolitischen und finanziellen Voraussetzungen für sein Wegebauprojekt: Die Mairien besetzte er mit Personen seines Vertrauens, die finanziellen Spielräume der Gemeinden erweiterte er durch die Sanierung ihrer Haushalte. Zwischen ihm, den Unterpräfekten und den Maires bestand eine Hierarchiekette, gekennzeichnet durch klare Verant-
len“, so Lezay in seinem Schreiben an die Maires des Departements, in: RMB, 9.Mai 1807. Auch drohte er den Maires bei Nichterfüllung ihrer Pflichten: „Müßte aber ein Opfer gebracht werden, so fühlt man wohl, daß jenes eines nachlässigen und ungehorsamen Beamten mich weniger kosten würde, als das eines großen angefangenen Unternehmens“; Lezay in seinem Schreiben an die Maires des Departements vom 29. November 1808, in: RMB, 30.November 1808. 57 „Für diese [die ihre Straße nicht sauber halten, R. J.] wäre die passendste Strafe, sie in ihrem Kothe stecken zu lassen, allein man wird eine andere Strafe finden“; Lezay in seinem Schreiben an die Maires des Departements, in: RMB, 9.Mai 1807. 58 Bericht Lezays über seine Umreise im Frühjahr 1808, in: RMB, 22.Juni 1808. 59 Vgl. Urteil gegen die Ackersleute Röder aus Wallersheim, in: RMB, 13.Juni 1807. 60 Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 231.
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wortlichkeiten. Den Maires und Adjunkten kam dabei eine Schlüsselrolle zu, mit ihnen stand er im regelmäßigen persönlichen und schriftlichen Kontakt. 61 Sie hatten die Planungen durchzuführen, das Budget zu berechnen, die Bewohner ihrer Mairie zur Arbeit anzuhalten, die Wegearbeiten zu organisieren, zu koordinieren und zu kontrollieren und dem Präfekten hierüber regelmäßig Bericht zu erstatten. „Alles hängt von ihrer guten Anwendung, ihrer wohl überdachten Austheilung, der unermüdeten und wohl eingerichteten Aufsicht ab.“ 62 Vorbildlich in den Augen Lezays war der Maire, der sich „durch Aufmunterung [seiner] Verwalteten, durch eigenes Beyspiel, durch kluge Leitung und Anwendung aller Mittel, durch Benutzung jeder dem Ackerbau nutzlosen Augenblicke, mit einem Worte durch Ausdauern, Klugheit, Ueberredung und Festigkeit“ 63 auszeichnete. „Ich fordere viel von Männern, die viel zu leisten im Stande sind“ 64, so die gleichzeitig anspornenden wie schmeichelnden Worte Lezays. Eine der schwierigsten Aufgaben der Maires lag darin, den Widerstand der Bewohner gegen die Fronarbeit zu brechen. Daher lobte Lezay wiederholt insbesondere durchsetzungsstarke, wohlorganisierte und gerechte Maires, die „mehr bedacht, ihren Verwalteten nützlich zu seyn, als sich in Gestalt von gefälligen Verwaltern zu zeigen, […] eben so gut die Widersetzlichkeit zu bezwingen [wußten], als den guten Willen zu benutzen“. 65 Nicht jeder Maire konnte oder wollte jedoch diesen hohen Anforderungen entsprechen. Manch ein Bürgermeister, der die ihm auferlegte Verpflichtung zur Wegearbeit nicht schaffen konnte (oder wollte), legte fingierte Verzeichnisse über durchgeführte Arbeiten vor, andere, schlecht organisiert, verpassten die für die Wegearbeit geeignete Jahreszeit und ließen den zum Straßendienst verpflichteten Bauern kaum Zeit für ihre Feldarbeit. Zudem waren die Arbeiten häufig mangelhaft durchgeführt, denn es war für die lokal Verantwortlichen schwer, geeignete Aufseher (Piqueure) zu finden, da diese, zumeist aus dem Kreis der Einwohner stammend, bei ihren Dorfgenossen unbeliebt waren.
61
In unmittelbarer Nachfolge der Maires übernahmen in rheinpreußischer Zeit die Bürgermeister der
neu gebildeten Samtgemeinden (die keine prinzipielle Trennung zwischen Stadt und Land mehr kannten) diese Schlüsselrolle im gemeindlichen Wegebau; vgl. Brandes, Herrschaft (wie Anm.2), z.B. 219, 227. 62
Lezay, in: RMB, 4.März 1807.
63
Lezay an den Maire von Rheinböllen, in: RMB, 17.Oktober 1807.
64
Lezay in seinem Neujahrsschreiben (1.Januar 1808) an die Maires des Departements, in: RMB, 10.Fe-
bruar 1808. 65
48
Rundschreiben Lezays an die Maires des Koblenzer Bezirks vom 10.März 1807, in: RMB, 11.März 1807.
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Daher schuf Lezay zur kontinuierlichen und strengeren Überwachung der Maßnahmen bereits im Frühjahr 1807 zwischen sich und den Maires eine weitere Aufsichtsebene, die Distriktsinspektoren. 66 Ernannt aus den Reihen besonders tüchtiger und loyaler Maires, hatten sie die Aufgabe, in ihren Bezirken (bestehend aus ca. vier bis fünf Mairien) zweimal im Jahr die erfolgten Wegearbeiten vor Ort in den Gemeinden zu überprüfen und dem Präfekten bzw. Unterpräfekten hierüber Bericht zu erstatten. Überdies oblag es ihnen, die Arbeiten auf den gemeindeübergreifenden Verbindungswegen zu organisieren. Spätestens ab 1807 hatte Lezay also ein dreifaches Kontrollsystem etabliert, das sich als sehr effektiv erwies: Die Maires mussten den Unterpräfekten ihres Arrondissements regelmäßig berichten, die ihrerseits diese Informationen gesammelt und mit einem Kommentar an den Präfekten weiterleiteten. Darüber hinaus musste jeder Maire dem Präfekten gesondert die Fortschritte im Wegebau in seinen Gemeinden anzeigen. Es war also ein leichtes, diese drei Informationsquellen – Unterpräfekt, Distriktsinspektor, Maire – wechselseitig auf Unstimmigkeiten zu überprüfen. Entsprechend der obengenannten Schwierigkeiten modifizierte Lezay nach und nach seine Organisationsweise. Mit viel Enthusiasmus und dem Glauben, dass dieser von allen geteilt würde, war er in das Projekt gestartet. Er setzte daher zu Anfang vor allem auf die Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden, allerdings seit Beginn gepaart mit Kontrolle: Die Entscheidung für einzelne Bauprojekte und ihre Finanzierung lag in der Verantwortung der Maires, Lezay verlangte jedoch regelmäßige Maßnahmen- und Kostenpläne, anhand derer er überprüfen konnte, ob das Arbeitsvorhaben realistisch war und ordnungsgemäß umgesetzt wurde. Erst wenn es zu eklatanten Mängeln kam, griff er ein, schlimmstenfalls mit Absetzung des verantwortlichen Personals. 3.3 Maßnahmen – technische Aspekte Im Prinzip beließ Lezay es bis zum Ende seiner Amtszeit bei diesem Selbstmanagement der Gemeinden, allerdings bekamen seine Schreiben an die Maires, deren Forderungen in organisatorischer und technischer Hinsicht zunächst sehr allge-
66 Die Distriktsinspektoren waren den Unterpräfekten zugeordnet. Im Koblenzer Raum war Lezay Präfekt und Unterpräfekt in Personalunion, so dass er die Distriktsinspektoren hier selbst auswählen konnte. Pro Unterpräfektur wurden rund fünf Distriktsinspektoren ernannt. Zu ihren Aufgaben vgl. z.B. Unterricht über die Ausbesserung und Unterhaltung der Gemeindswege 1808, Dritter Teil: „Personnel“.
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mein gehalten waren, einen immer stärker regulierenden Charakter. Zugleich wurden die Anweisungen von Brief zu Brief detaillierter. 67 Lezay hatte wohl erkennen müssen, dass er seine Beamten vor Ort überschätzt bzw. überfordert hatte 68, so dass er nun deutlich bestimmender und präzisierender in deren Arbeiten eingriff und so nach und nach auch die Rolle des (technischen) Wissensvermittlers, des technischen Experten, einnahm. Zunächst waren seine Anweisungen noch recht knapp gehalten. Doch schon früh erkannte Lezay, dass der Wegebau ohne standardisierende Vorgaben nicht erfolgreich sein konnte. Ein erster zusammenfassender Leitfaden erschien daher bereits im Februar 1807 – pünktlich vor Beginn der ersten Wegebausession (März 1807). Er enthielt 15 Punkte, die zahlreiche der späteren Bestimmungen bereits kurz anrissen. 69 Sie reichten von der Erstellung von Maßnahmen- und Kostenplänen (§ 1–3) über die Art der Auftragsvergabe (§ 4), die Weise, wie die Arbeiten technisch durchzuführen waren (Straßenbelag, Wegbreite, Abzugsgräben, § 7–10) bis hin zur Festlegung der Strafen bei nicht ordnungsgemäßer Durchführung oder Weigerung (§ 5 und 6). Relativ viel Raum nahm die Organisation der Kontrollmaßnahmen ein (Distriktsinspektoren, Kontrollreisen, Berichterstattung der Maires an die Inspektoren, § 11–15). Ein gutes halbes Jahr später erschien die vorab bereits angekündigte 70, erneuerte Publikation über den Gemeindewegebau, der „Unterricht über die Gemeindswege“ vom 9.September 1807. Dieser „Unterricht“ erreichte auf zweierlei Weise die Öffentlichkeit: zum einen als eigenständige publizistische Schrift 71, zum anderen als Abdruck im „Rhein- und Moselbothen“ 72. Vom Umfang nicht wesentlich erweitert
67
Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 139.
68
Es ist zu vermuten, dass Lezay von Beginn an, ohne sich bereits zum technischen Experten entwickelt
zu haben, deutlich mehr Wissen über den Wegebau besaß als seine deutschen Verwalteten, allein durch Kenntnis (und Anschauung) des fortschrittlichen französischen Wegebaus. Viele Dinge setzte er daher wohl stillschweigend voraus, bevor er feststellte, dass er auf Unkenntnis bei der ländlichen Bevölkerung in seinem Departement stieß. 69
Schreiben Lezays an die Maires des Departements vom 27.Februar 1807, in: RMB, 28.Februar 1807.
70
Im März 1807 wurde im „Rhein- und Moselbothen“ auf eine „Definitiv-Verordnung“ verwiesen, die
demnächst erscheinen solle (RMB, 28.März 1807), im August 1807 unterrichtete Lezay die Maires des Departements, dass sie „in wenigen Tagen […] eine vollständige Anweisung über die Materie erhalten [werden]“, in: RMB, 5.September 1807.
50
71
LHA Koblenz, Best. 714 (Publizistisches Schriftgut) / 9133.
72
RMB, 16. und 19.September 1807.
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(9 statt 7 Druckseiten), besaß die Schrift nun aber einen anderen Aufbau und Charakter. Sie war in vier Großthemen unterteilt, die den Wegebau Schritt für Schritt erklärend und detailliert erläuterten. Nur wenig sollte dem Zufall überlassen werden. Die Arbeiten erforderten zunächst einen sorgfältigen Budgetplan (Kap. 1: „Budget der Ausbesserungen an den Gemeindswegen, welche den Mairien obliegen“), dann wurden im zweiten Kapitel („Von den Arbeiten, welche die gänzliche Herstellung eines Gemeinde-Weges erfordert“) in genauer Reihenfolge die technischen Arbeitsschritte erläutert, die der Wegebau verlangte: Festsetzung der Wegbreite (unterschieden nach Wegen 1. und 2. Klasse), genaue Ausrichtung der Wegführung mit Schnur und Pflöcken, Schaffung einer festen Grundlage, Errichtung von Gräben (mit genauer Erläuterung derselben), Schaffung des Straßenbettes und Errichtung der Straßendecke. Das dritte Kapitel („Persönliche Verbindlichkeit zur Unterhaltung und Ausbesserung der Gemeindswege“) brachte einen neuen Aspekt in die Belehrung mit ein. Hier ging es um die Verteilung der Arbeiten auf die Gemeindemitglieder. 73 Auch die Maßnahmen bei Arbeitsverweigerung wurden in diesem Kapitel angesprochen. Kapitel 4 („Von der Leitung der Arbeiten“) befasste sich vor allem mit der wohlüberlegten Organisation der Wegearbeiten durch die Maires als „den gebohrne[n] Direktoren der Arbeiten“. 74 Was in diesem Leitfaden, anders als in der Belehrung vom Februar 1807, hingegen fehlte, war die Erläuterung der Kontrollmaßnahmen, was darauf hindeutet, dass dieser „Unterricht“ für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt war und dass man die Kontrollfrage als – bereits weitgehend gelöstes – internes Verwaltungsproblem verstand. Der „Unterricht“ von 1807 hatte jedoch nicht den von Lezay gewünschten Erfolg, denn bereits ein Jahr später (November 1808) veröffentlichte er einen deutlich erweiterten und modifizierten „Unterricht über die Ausbesserung und Unterhaltung der Gemeindswege“. 75 Er sei „entschlossen, dem Departemente die Wege zu geben, die ich ihm versprochen habe“, daher werde er mit dem neuen Leitfaden „diese Thätigkeit [den Wegebau, R. J.] so einrichten, daß ich bessern Erfolg durch geringere An-
73 Diese oblag dem Maire, der in seinem Budgetplan vorab die nötigen Tagarbeiten zur Herstellung der Wege zu errechnen und diese dann auf die Gemeindemitglieder, entsprechend ihrer Steuerleistung, zu verteilen hatte – je höher die Steuerleistung, desto mehr Tagarbeiten mussten verrichtet werden. Diese Tagarbeiten konnten in natura oder in Geld abgeleistet werden (in der Regel während der Monate März und September, später wurden die Arbeitszeiten flexibler gehandhabt), eine Tagarbeit entsprach 75 Centimen. 74 Unterricht, September 1807, 4. Kapitel, in: LHA Koblenz, Best. 714/9133. 75 Veröffentlicht im Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr 1809.
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strengung erhalte“. 76 Persönlich versprach er sich von dem neuen „Unterricht“, dass er „mit den Herren Maire[s] nicht mehr diesen ungeheuren Briefwechsel zu führen habe, der seit zwei Jahren über diesen Gegenstand besteht“. 77 Bereits in der Vorerinnerung zum Unterricht drückte er unverblümt sein Missfallen über einige Entwicklungen aus – ein erzieherisches Mittel, welches er nur selten einsetzte 78: „Von meiner Seite ward Alles gesagt, aber nicht alles von der ihrigen vollführt“, daher sehe er sich gezwungen, „heute zu wiederhohlen, was man seit lange wissen sollte“. 79 Damit nun keiner sein Fehlverhalten mehr mit Unwissenheit entschuldigen konnte oder – noch schlimmer –, weil er glaubte, auf dem Gebiet selbst Experte zu sein, „obwohl in einem Geschäfte, worin ihnen die Verfahrungsweise fremd war“, drang Lezay darauf, die vorgelegte Anleitung zum Wegebau wortwörtlich zu befolgen und auch die Mitarbeiter vor Ort darin gründlich zu unterweisen, denn „der Schweis des Landmanns [sei] zu theuer, um ihn unnützer Weise zu verschwenden“. Dies hatte zur Konsequenz, dass der „Unterricht“ nun tatsächlich jeden kleinsten Aspekt behandeln musste. 80 Er war daher mit knapp 70 Seiten deutlich umfassender, gleichzeitig aber auch didaktisch ausgefeilter aufgebaut, denn zum besseren Verständnis des Gesagten wurden technische Zeichnungen, z.B. Querschnitte des Straßenbettes, und tabellarische Übersichten über den Aufbau der Budget- und Maßnahmenpläne beigefügt. Der „Unterricht“ enthielt in fünf Großkapiteln (1. Vertheilung der Arbeiten, 2. Vertheilung der Arbeiten auf die verschiedenen Wege, 3. Personnel, 4. Allgemeine Verfügungen, 5. Materiel), die ihrerseits zwischen einem und 21 Paragraphen umfassten, alle wesentlichen Informationen über die Ar-
76
Unterricht, 1808, 25, in: Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr
1809. 77
Unterricht, 1808, 26, in: Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr
1809. Weiter führte er auf S. 60 aus: „Ich hoffe, daß die Details, in die ich so eben eingegangen bin, auch für diejenigen, denen man Alles erklären muß, hinreichen werden. Ich gestehe, daß ich dieselben für überflüssig gehalten haben würde, wenn die große Menge überflüssiger Fragen, die man über diesen Gegenstand ohne Unterlaß an mich gethan hat, mich nicht belehrt hätten, daß Alles gesagt werden müsse.“ 78
Dass er nur ungern öffentlich tadelte, wird auch in dieser Vorerinnerung deutlich, denn hier sprach
er davon, dass die schlechten Maires ihn „zu der immerhin sehr unglücklichen Nothwendigkeit gebracht [haben], ihr Verfahren laut zu mißbilligen“; Lezay in Vorerinnerung zum Unterricht, 1808, 24, in: Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr 1809. 79
Diese und die zwei folgenden Zitate, in: Unterricht, 1808, 23–26, in: Handbuch für die Bewohner des
Rhein- und Moseldepartements für das Jahr 1809. 80
52
Vgl. auch Zitat Anm.77.
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beitsorganisation, das einzusetzende Personal, das zu verwendende Material, über Anlage eines Weges und vieles mehr. Der „Unterricht“ von 1808 schrieb gegenüber den älteren Leitfäden auch bedeutende arbeitsorganisatorische Modifikationen fest. Dies betraf zum einen die zeitliche Ausgestaltung der Fronarbeiten. Die Erfahrung hatte Lezay gelehrt, dass es sinnvoll war, den Dienstpflichtigen zur Erledigung ihrer Arbeiten deutlich mehr Freiräume zu geben 81: Nicht das Wie, aber das Wann wurde nun weitgehend in ihre Hände gelegt; lediglich bei wenigen gemeinsamen Aufgaben gab es weiterhin feste Termine. Damit hoffte Lezay, den in den Gemeinden immer wieder anzutreffenden Widerstand gegen den Wegebau zu schwächen. 82 Diesem Zweck diente auch die rechtliche Garantie, dass kein Fronpflichtiger über das ihm ursprünglich zugeteilte Arbeitsmaß hinaus herangezogen werden dürfe (Tit. I, § 6). Zum anderen wurde nun die Frage des Unterhalts der Gemeindewege eindeutig geregelt. Neben dem Ausbau sorgte sich Lezay schon früh 83 um den langfristigen Erhalt des von ihm aufgebauten Wegenetzes. Ihm war bewusst, dass es leichter sein würde, Menschen kurzfristig zu großen gemeinsamen Anstrengungen zu motivieren, als langfristig ihren Eifer für eine Sache am Leben zu erhalten. Er forderte daher für jede Gemeinde die Einstellung fester, bezahlter 84 Wegewärter (Kantonniers). Nicht zuletzt auch aus Gründen der Arbeitseffizienz sei die Einstellung von Kantonniers unabdingbar: „Man stelle sich“, so führte er in einem Schreiben an die Maires aus, „eine Unterhaltungsweise vor, wo jedes neue Geleise [ausgefahrene Fahrspur, R. J.] einen neuen Befehl von Seiten des Syndiks erfoderlich [sic] macht, und vergleiche mit dieser sonderbaren Weise diejenige, wo zum Voraus für Alles Vorsehung getroffen, wo die Unterhaltung Angestellten anvertraut ist“, kurz: „die einzige, wirk-
81 Zuvor hatte es pro Jahr zwei Sessionen gegeben, im März und September (vor und nach der Feldarbeit), in denen die Wegearbeiten von allen Fronpflichtigen durchgeführt werden mussten. Nun teilte man das Jahr in drei Sessionen (3 mal 4 Monate). Für jede dieser Sessionen wurde dem Fronpflichtigen zu Beginn der Session ein fest bestimmtes Arbeitsmaß auferlegt. Nur ein Drittel dieser Arbeiten musste er zu festgesetzten Terminen ausführen, über die weiteren zwei Drittel konnte er frei bestimmen. 82 Lezay in seinem Schreiben an die Maires des Departements vom 3.November 1808, in: Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr 1809, 105f. 83 Dieses Problem war bereits seit Ende des Jahres 1807 in den Schriftwechseln mit den Bürgermeistern angeklungen. 84 Da er die prekäre Situation vieler Gemeindehaushalte kannte, regte Lezay für die Kantonniers als „Bezahlung“ die Befreiung von den Fronpflichten an. Damit dieses Angebot attraktiv wurde, sollten die Maires darauf achten, dass die Arbeitsbelastungen der Wegewärter geringer waren als die der Fronpflichtigen.
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same Unterhaltungsweise [ist] jene […], die auf den Dienst der Kantonniers sich gründet.“ 85 Ein dritter, neuer Schwerpunkt im „Unterricht“ von 1808 war die Forderung nach Organisation der Arbeit im Losverfahren. Dieses sah vor, dass jedem Fronpflichtigen zu Beginn einer Session ein bestimmter Wegabschnitt (Los) zur Ausbesserung zugewiesen wurde. Dies, so Lezay, sei sowohl für den Dienstpflichtigen als auch für die Verwaltung von Vorteil, da „nach zwei oder drei, unter einer guten Anführung geleisteten Tagarbeiten, […] jeder Arbeiter sein eigner Führer [werde]“ und der Obrigkeit, „nach der ersten Aufsicht […] nichts als die bloße Untersuchung der Arbeit“ bleibe, welche zwar arbeitsintensiv sei, aber einfacher und leichter, „als die beständige, tägliche und augenblickliche Aufsicht“ 86, die die Arbeiten im sonst üblichen Tagwerk erforderten. Neben einer Einweisung durch einen geschulten Piqueur (Aufseher) regte Lezay als Hilfsmittel für jede Wegebaumaßnahme die Errichtung von Modellklaftern an, die den Dienstpflichtigen als visuelle Leitfäden dienen sollten und zugleich eine Standardisierung der Wegearbeiten garantierten. Lezay selbst schätzte den Wert seines überarbeiteten „Unterrichts“ hoch ein: „In meinen und in den Augen aller, deren Meinung in dieser Materie einiges Gewicht hat, ist die neue Weise, von allen am besten auf den Zweck berechnet, führt mit der wenigsten Anstrengung dahin, und beseitiget am meisten die Hindernisse. […] Möchten die Herren Maire eben so viel Sorgfalt anwenden, diesen Unterricht zu verstehen und zu befolgen, als ich aufbot, ihn niederzuschreiben.“ 87
Der „Unterricht“ wurde, wie erhofft, ein Erfolg. So berichteten die Distriktsinspektoren, dass der Leitfaden beherzigt werde. Hierzu trug sicherlich bei, dass Lezay die Maires aufgefordert hatte, die Handreichung den vor Ort Verantwortlichen nicht nur zu übermitteln, sondern Punkt für Punkt zu erläutern. So konnte beispielsweise der Distriktsinspektor Muller auf seiner Rundreise im Spätherbst 1808 berichten: „J’ai vu avec plaisir, qu’il [der Maire von Mayschoß, R. J.] l’avait étudiée à fond, et que les syndics tâchent de s’en pénétrer aussi.“ 88 Ein Hinweis auf die Breitenwirkung
85
Lezay in seinem Schreiben an die Maires des Departements, in: RMB, 30.November 1808.
86
Unterricht, 1808, 39f., in: Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr
1809. 87
Unterricht, 1808, 66, in: Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr
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„Ich habe mit Freude gesehen, dass er ihn gründlich studiert hat, und dass auch die Syndiks versuchen,
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seines Leitfadens ist auch, dass er noch während seiner Amtszeit mehrfach aufgelegt wurde und nach dem Tod des Präfekten in den folgenden Jahren wiederholt im Druck erschien. 89 Was machte den Erfolg aus? Der „Unterricht“ umfasste alle wesentlichen Gesichtspunkte des Wegebaus und war dabei vergleichsweise kurz und vor allem verständlich formuliert. Lezay, ursprünglich selbst kein Fachmann, verstand es, den Adressatenkreis, die Bürgermeister und Verantwortlichen in den Gemeinden – also Laien auf dem Gebiet des Wegebaus – zu erreichen. Zum Vergleich: Der preußische Straßenbaubeamte Weserman verfasste kurze Zeit später (1814) ein „Taschenbuch für die Straßen- und Bergbaubeamten, Spediteurs und Landmesser zwischen dem Rheine und der Weser“, eine Abhandlung eines Experten für Experten, die rund 600 Seiten umfasste und allein aus diesem Grund keine Breitenwirkung erzielen konnte. 4. Expertise(n) des Präfekten Lezay wurde, aus der Erkenntnis heraus, dass er zum Wegebau nicht nur animieren, ihn organisieren, sondern ihn auch technisch lenken musste, zu einem dreifachen Experten: Sein rhetorisches Talent, sein Gespür für Öffentlichkeit hatte er bereits in jungen Jahren durch seine schriftstellerische Tätigkeit geschult, sein Talent als Administrator konnte er schon auf seinen früheren Posten unter Beweis stellen – das Amt des Präfekten gab ihm nun aber die Möglichkeit, diese Fähigkeiten voll zu entfalten. Anders war es mit seinem technischen Sachverstand. Diesen musste er sich, ebenso wie seine Verwalteten, erst nach und nach aneignen. In den Quellen sind keine Hinweise zu finden, wie er zu diesem Fachwissen gelangte. Man darf annehmen, dass er von seiner Kenntnis des fortschrittlichen französischen Wegebaus profitierte. Ansonsten war er vermutlich, wie viele seiner Zeitgenossen, Autodidakt, der sich durch Lektüre und Anschauung die für seinen Zweck sich damit zu befassen“; Bericht des Distriktsinspektors Muller an Lezay, in: RMB, 10.Dezember 1808. Auch über den Maire von Ringen konnte er berichten, dass dieser „cherche à suivre ponctuellement les instructions“ („versuche, die Anweisungen genau zu befolgen“), ebd. 89 Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 139. Beispielsweise erfolgte ein Nachdruck 1818 in Saarlouis. Auch in der Verordnung der Bezirksregierung Aachen über den kommunalen Wegebau vom 19.Juni 1822 wurde in § 6 wiederholt auf den „Unterricht“ Lezays als maßgeblich verwiesen: „Bei der Ausführung der Arbeiten […] werden die beim Kommunalwegebau konkurrirenden Beamten […] auf den bereits mitgetheilten von dem Präfekten Lezay-Marnesia verfaßten Unterricht […] hiermit neuerdings verwiesen“, in: W. Ulich, Das Communal-Wegewesen in Rheinpreußen in besonderer Beziehung auf die Eifel und namentlich auf den Kreis Schleiden. Trier [1833], Anhang, 57, überliefert in: LHA Koblenz, Best. 403/3589.
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besten Methoden aneignete. Hinzu kam, dass er sich vor Ort durch versierte französische Wegebauexperten beraten lassen konnte, denn der Oberingenieur des Brücken- und Straßenbaues für das Departement, Fournet, hatte seinen Dienstsitz gleichfalls in Koblenz. 90 Viel mehr als Beratung durfte Lezay allerdings nicht erwarten, da die ingénieurs de ponts et chaussées laut Dienstanweisung lediglich für die Landund Heerstraßen verantwortlich zeichneten, aber nicht für die Vicinalwege. 91 Nicht zuletzt aus diesem Grund musste Lezay, wie er in seinem „Unterricht“ von 1808 offen bekannte, seinen Leitfaden selbst verfassen. 92
V. Erfolg des Lezay’schen Wegebauprojekts? Ein abschließendes Urteil zu fällen, ob und wie erfolgreich Lezays Bemühungen um den kommunalen Wegebau waren, fällt schwer, da statistische Übersichten über die Vicinalwege im Rhein- und Moseldepartement gänzlich fehlen und die zahlreich überlieferten Akten (rund 200) zum Gemeindewegebau in französischer Zeit noch nicht systematisch ausgewertet wurden – eine Arbeit, die auch im Rahmen dieser knappen Studie nicht geleistet werden kann. Es gibt jedoch eine Reihe von Indizien, die dafür sprechen, dass Lezays Anstrengungen erfolgreich waren: 1. Seine eigenen Aussagen: Lezay konstatierte bereits im Juni 1808 lobend, dass „einer der Zweige, in dessen Verbesserung, wie es mir geschienen hat, die Mairien, welche ich bereist habe, seit zwei Jahren die meisten Fortschritte gemacht haben, […] die Ausbesserung, oder besser gesagt, die neue Anlage der Gemeinde-Wege [ist]“. 93
90
Vgl. z.B. Handbuch für die Bewohner des Rhein-und Moseldepartements für das Jahr 1808, 276. Hier-
auf spielt wohl auch der Hinweis Lezays in seinem „Unterricht“ von 1808 an, dass die von ihm empfohlene neue Verfahrensweise im Wegebau, auch „in den Augen aller, deren Meinung in dieser Materie einiges Gewicht hat“, unterstützt werde, vgl. Zitat Anm.87. 91
Vgl. Instruction aux ingénieurs des ponts et chaussées vom 3.Juni 1798, in: LHA Koblenz, Best. 714/
9073. 92
Vgl. Anm.87. Auf diese Aussage berief sich vermutlich 1814 der General-Gouvernements-Kommissär
des Rhein-Moseldepartements und spätere Oberpräsident der Provinz Westfalen, Freiherr von Vincke, in seiner Denkschrift über den Gemeindewegebau, in der er hervorhob, dass Lezay die „Unterrichtung“ eigenständig abgefasst habe; Schreiben des Freiherrn von Vincke an den Generalgouverneur des Mittelrheins, Justus Gruner, die Pflege der Gemeindewege betreffend, 7.Mai 1814, in: LHA Koblenz, Best. 349/58, 4. 93
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Schreiben Lezays an die Maires des Departements vom 10.Juni 1808, in: RMB, 18.Juni 1808.
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Und in seinem Abschiedsschreiben an die Bewohner des Rhein-Moseldepartements sprach er die Fortschritte im Wegebau an und appellierte, dass „nur noch ein Jahr […] nöthig [ist], und Sie [die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements, R. J.] werden sich in dem Genusse aller Aufopferungen sehen […]. Meine Ehre ist an die Vollendung meines Werks geknüpft. Ihnen vermache ich die Sorge, meine Ehre zu retten.“ 94 2. Aussagen der Zeitgenossen und der zeitgenössischen Literatur: Der Chronist Stramberg, der Lezay persönlich gekannt hatte (ihm aber keineswegs unkritisch gegenüberstand) 95, konnte, als er in den 1850er Jahren den „Rheinischen Antiquarius“ verfasste, noch berichten, dass „eine von Lezays Institutionen unverkürzt dem Lande geblieben [ist], ein ungeheures Netz von Feldwegen, die in der gleichen Vollkommenheit beinahe nirgendwo anzutreffen [sind], verbunden mit der durch ihn [Lezay, R. J.] dem Volke eingeimpften Leidenschaft für bequeme, sorgfältig unterhaltene Wege. Außerordentliche Opfer mußte die Provinz sich auflegen, um zu dem großartigen Resultate in ihrem Straßenbau zu gelangen.“ 96 Auch in weiteren Publikationen aus der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurde noch Bezug genommen auf den Lezay’schen Wegebau. So wird beispielsweise in einer Beschreibung Bad Bertrichs von 1847 erwähnt, dass sich „besonders der thätige Lezay-Marnésia um die Erhaltung und Verbesserung der Anlagen und Wege mannichfache Verdienste“ erworben habe. 97 Gerühmt wurde der Gemeindewegebau unter Lezay auch von seinem Nachfolger Douazan. In einem Schreiben an die Maires und Unterpräfekten von 1811 strich er die Einzigartigkeit des kommunalen Wegenetzes im Rhein-Moseldepartement heraus und appellierte: „Mögen wir immer dem Auge des größten
94 Lezay an die Bewohner seines Departements, in: RMB, 26.Februar 1810. 95 So berichtet Stramberg, dass Lezay ihn „angefeindet“ habe. Grund für Lezays Abneigung sei seine schlechte Menschenkenntnis gewesen; Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 231. Vermutlich hatte Stramberg sich als junger Mann bei Lezay um ein Amt beworben und war abgelehnt worden. 1810 wurde er dann Privatsekretär von Lezays Nachfolger Douazan. 96 Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 237; vgl. auch Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 140. 97 Bad Bertrich im Uesbachthale an der Mosel. Mit einleitenden Worten von A. von Humboldt, und einer geognostischen Uebersicht von H. von Dechen. Koblenz 1847, 8. Im rheinland-pfälzischen Digitalisierungsportal dilibri (https://www.dilibri.de/) stößt man unter dem Schlagwort „Lezay“ auf zahlreiche Texte aus dem 19. und beginnenden 20.Jahrhundert, in denen die Wegebautätigkeit Lezays lobend hervorgehoben wird.
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Herrschers der Erde [Napoleon, R. J.] die am besten unterhaltenen Wege seines Reiches aufweisen können.“ 98 3. Besonders glaubhafte Leumunde für die Verdienste Lezays um den kommunalen Wegebau sind die preußischen Beamten und Wegebauexperten der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, die den Zustand der Wege noch aus eigener Anschauung beurteilen konnten. Vor allem der spätere Oberpräsident der Provinz Westfalen, Freiherr von Vincke – selbst ein ausgewiesener Experte im Bereich des Straßenbaus –, war ein großer Bewunderer Lezays. In einer sieben Seiten umfassenden Denkschrift warb er im Mai 1814 beim damaligen Generalgouverneur des Mittelrheins, Justus Gruner, für die Fortführung des gemeindlichen Wegebaus: „Unter den vielen herrlichen Anstalten des ehemaligen Präfekten Lesay Marnesia ist der von ihm veranstaltete Bau der Gemeinde Wege eine der vorzüglichsten […]. Kein Departement des ehemaligen Frankreichs, vielleicht kein Land in der Welt, hat so gute Gemeinde-Wege wie das Rhein- und Mosel-Departement aufzuweisen. Alle bis auf die entlegensten und verstecktesten Orte sind den schwersten Frachtwagen zugänglich.“
Noch 1807 wären selbst die „bessern Gegenden des Departements […] nur mit Mühe und nicht ohne Gefahr“ zu befahren gewesen. „In zwey Jahren waren alle Hindernisse überwältigt, neue Wege angelegt, die beybehaltenen ausgebessert, Felsen und Anhöhen durchbrochen, reissende Waldströme eingedämmt, und der Uebergang zum Theil durch prächtige steinerne Brücken gesichert.“ 99
Auch der preußische Kommunalbaumeister Ulich nahm noch rund zwanzig Jahre später in seiner Schrift über „Das Communal-Wegewesen in Rheinpreußen“ Bezug auf den Erfolg des gemeindlichen Wegebaus in französischer Zeit: „Der genannte Herr Prefect [Lezay-Marnésia, R. J.] hat sich um das ehemalige Rhein- und Moseldepartement […] das unvergeßliche Verdienst erworben, die
98
Circular Nr.125 (1811) des Präfekten Douazan an die Unterpräfekten und Maires des Departements
vom 31.Juli 1811, in: Recueil des actes de la préfecture de Rhin-et-Moselle, 1811, 272. Auch 1812 verwies Douazan noch einmal auf die Errungenschaften Lezays: „Pflicht ist es für uns, das schönste Werk meines Vorgängers, welches unsere Gegend, in Ansehung der Schönheit der Gemeindewege in die erste Klasse setzt, vor Zerstörung zu bewahren“; Circular Nr.28 (1812) an die Unterpräfekten und Maires vom 25.Februar 1812, in: Recueil des actes de la préfecture de Rhin-et-Moselle, 1812, 67–69. 99
Schreiben des Freiherrn von Vincke an Justus Gruner, 7.Mai 1814, in: LHA Koblenz, Best. 359/58: Ge-
meindewege im Rhein- und Moseldepartement, 1f.
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so schwierige gründliche Reform des Kommunal-Wegewesens zu Stande zu bringen.“ 100
4. Einzelne Maßnahmen, die Lezay gegen Ende seiner Amtszeit anordnete, lassen ebenfalls darauf schließen, dass das Wegebauprojekt weit gediehen war. Im Januar 1810 schlug er den Maires seines Departements vor, „Ruhe-Bänke von Distanz zu Distanz auf den Gemeinde-Wegen für die Erleichterung der Reisenden und der Ackersleute“ zu errichten. 101 Da Lezay in der Regel planmäßig vorging und nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machte, weist dieser Vorschlag darauf hin, dass die meisten Gemeindewege 1810 nahezu vollendet gewesen sein müssen. 5. Auch die wenigen, bereits ausgewerteten Quellen aus einzelnen Bürgermeistereien legen, glaubt man den Ausführungen Westerholts, Zeugnis ab für den Erfolg der Lezay’schen Anstrengungen. 102 Ein – zugegeben etwas spekulatives – Rechenbeispiel soll versuchen, die uns immer wieder in den Quellen begegnenden Erfolgsmeldungen in Zahlen umzurechnen. Aus dem Bericht des Maire von St. Sebastian (bei Koblenz) vom Januar 1810 geht hervor, dass die Mairie in der Herbstsession des Jahres 1809 insgesamt rund 1,8 Kilometer Gemeindewege mit einer Breite zwischen 4,50 und 6,80 Meter fertigstellen konnte. 103 Unterstellt man, dass diese Bürgermeisterei und auch die Herbstsaison 1809 erfolgreiche Ausnahmen gewesen sind und nimmt demgegenüber eine zu schaffende Wegstrecke von einem bis anderthalb Kilometern als Normalfall für eine Mairie an, so könnten im Rhein-Moseldepartement pro Saison bei 90 Mairien zwischen 90 und 135 Kilometer Wegstrecke errichtet bzw. wieder gut befahrbar gemacht worden sein. Da Lezay in seiner Amtszeit, beginnend im Frühjahr 1807, mindestens sieben Wegebausessionen (1807 bis Frühjahr 1810) leitete, könnten folglich unter seiner Ägide zwischen 630 und 945 Kilometer wiederhergestellt bzw. neu gebaut worden sein. Dass diese Zahlen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, verdeutlicht ein Beispiel aus Bad Bertrich: Hier konnte man mit 300
100 Ulich, Communal-Wegewesen (wie Anm.89), 8 Anm.4. 101 Lezay in seinem Schreiben an die Maires des Departements, 7.Januar 1810, in: RMB, 17.Februar 1810. Auf den Nutzen dieser Ruhebänke und ihren drohenden Verfall nach dem Krieg verwies auch der GeneralGouvernements-Kommissar Sack in einer Verordnung bezüglich Pflege und Unterhalt der Gemeindewege vom 17.1.1816, in: Amtsblatt für das Rhein- und Moseldepartement, Jg. 1816, 47f. 102 Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 140. 103 Bericht des Maire von St. Sébastien, Schuller, über den Stand der Wegearbeiten in seiner Mairie, in: RMB, 6. Januar 1810.
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Leuten an nur einem Tag knapp 800 Meter Wegstrecke herstellen. 104 Noch eindrucksvoller werden diese Zahlen, wenn man sie mit den Leistungen im Staats- und Bezirksstraßenbau in preußischer Zeit vergleicht. Laut einem Verzeichnis aller Staats- und Bezirksstraßen im Regierungsbezirk Koblenz (welcher in seinen linksrheinischen Teilen mit dem Rhein-Moseldepartement nahezu deckungsgleich war) vom Juni 1829 war auf rund 188 Kilometern die Erhebung von Chausseegeld erlaubt, das heißt noch nicht einmal 200 Kilometer waren kunststraßenmäßig ausgebaut. 105 Auch die Studie Bösenbergs bestätigt indirekt die enorme Leistung im kommunalen Wegebau, die unter Lezay vollbracht worden war. Seinen Angaben zufolge konnten im westrheinischen Teil des Regierungsbezirks Düsseldorf zwischen 1817 und 1819, also in einer vergleichbaren Zeitspanne, nur rund 27 Kilometer Straßen neu gebaut werden. 106 6. Ein weiteres Indiz und Dreh- und Angelpunkt der Lezay’schen Bemühungen ist die landwirtschaftliche Produktivität. Für die Jahre 1806 bis 1810 liegen Zahlen vor, die deutlich machen, dass die Erträge (im Getreidebau) tatsächlich anstiegen. Tab. 1: Ertrags- und Konsumtionstabelle des Getreideanbaus im Rhein- und Moseldepartement 1804–1809 (ohne Maßangabe, vermutlich in Maltern) 1804
1805
1806
1807
1808
1809
Weizen Spelt Roggen Gerste Hafer Buchweizen
43 073 78 923 475 766 88 119 226 108
57 557 51 312 63 427 113 910 312 451
48 425 57 048 474 996 86 061 257 367
54 435 104 090 629 574 71 018 196 471
56 911 190 064 541 232 93 045 149 371 4 647
54 663 109 691 550 948 132 411 321 112 4 706
Gesamt
911 989
598 657
923 897
1 055 588 1 035 270 1 173 531
Quelle: Handbuch für die Bewohner der Rhein- und Moseldepartements für das Jahr 1810, 101f.
104 RMB, 28.März 1807. 105 Helmut Weinand, Die preußischen Staats- und Bezirksstraßen im Regierungsbezirk Koblenz bis zum Jahre 1876. (Rheinisches Archiv, Bd. 77.) Bonn 1971, 40. 106 Hans Bösenberg, Die Entwickelung der Provinzialstraßen der Rheinprovinz. Düsseldorf 1918, 16. Zwar war der Kunststraßenbau deutlich anspruchsvoller und damit arbeitsintensiver sowie teurer, nichtsdestoweniger ist der Unterschied der realisierten Wegstrecken unter Lezay und in preußischer Zeit beeindruckend.
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Dies war allerdings von vielen Faktoren abhängig, nicht zuletzt vom Wetter. 107 Doch sprachen die Zeitgenossen den Initiativen des Präfekten einen großen Anteil zu: „Die Landwirtschaft ist im Steigen, da die hohen Preise der ländlichen Produkte den Reiz zur vermehrten Hervorbringung derselben befördern, da Belehrung und Aufmunterung sich zur Bekämpfung so manchen alten Vorurtheils vereinigen. Wem fällt hierbei nicht ein, was seit drei Jahren für bessere Benutzung der Gemeinheiten […] [und] für die, dem ländlichen Verkehre so wichtige Erleichterung der Kommunikationen geschehen ist.“ 108
Wie gesehen, wollte Lezay mit dem Wegebau vor allem einen funktionierenden Markt für landwirtschaftliche Produkte schaffen. Leider liegen keine Absatzzahlen vor; auch ließen sich keine Angaben über Preise auf den lokalen Getreidemärkten finden, so dass sich die Effekte des Wegebaus auf diesem Gebiet nicht nachprüfen lassen. 7. Einen abschließenden Hinweis auf den Erfolg des kommunalen Wegebaus unter Lezay bieten die Verordnungen aus preußischer Zeit. Aus ihnen kann man ablesen, dass zahlreiche Organisationsstrukturen, die Lezay etabliert hatte, in preußischer Zeit übernommen wurden, beispielsweise das Amt des Wegewärters (Kantonniers), welches Lezay so am Herzen gelegen hatte. Insbesondere der von Lezay herausgegebene „Unterricht“ von 1808 wurde noch in preußischer Zeit beim kommunalen Wegebau regelmäßig herangezogen und wiederholt neu aufgelegt. 109 Aber war der kommunale Wegebau unter Lezay tatsächlich eine bleibende Erfolgsgeschichte, wie die oben angeführten Punkte glauben lassen? Der Vollständigkeit halber müssen auch die kritischen, besser: pessimistischen Stimmen Gehör finden: Die Aussagen in zahlreichen Quellen sprechen dafür, dass das Wegebauprojekt sehr an die Person Lezays gebunden war und es ihm nur bedingt gelang, das Bewusstsein für die Notwendigkeit guter Wege (und die damit verbundenen Anstrengungen) nachhaltig zu verankern. Schon unter seinem Nachfolger Douazan wurde dem Wegebau nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt. In den Bekanntmachungen der Präfektur finden sich 1811 und 1812 jeweils nur zwei Zirkulare, die den 107 Für das erste Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts konnten für den Rhein-Moselraum keine Wetterdaten ermittelt werden. Es lässt sich aus den Quellen lediglich darauf schließen, dass der Sommer 1807 sehr heiß gewesen sein muss. 108 Handbuch für die Bewohner des Rhein- und Moseldepartements für das Jahr 1810, 100f. 109 Westerholt, Lezay-Marnesia (wie Anm.4), 139; vgl. hierzu auch Anm.89.
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Wegebau zum Thema haben 110, diese sind zudem, gemessen an den Rundschreiben Lezays, recht knapp gehalten. Ab 1813, mit Ausbruch der Befreiungskriege, geriet das Thema „Wegebau“ endgültig aus dem Fokus. In den nun folgenden Kriegswirren wurde der Unterhalt der bestehenden Wege deutlich vernachlässigt, auch verursachten die Truppendurchzüge schwere Schäden. So musste der Freiherr von Vincke 1814 in seinem Plädoyer für den gemeindlichen Wegebau konstatieren: „Leider verfiel, wie so manche gute Anstalt des hochherzigen Lesay Marnesia auch diese unter seinem Nachfolger Doazan, einem Verwalter ohne Herz und Geist. Nur da erhielt sich das Gute, wo redliche und einsichtvolle Lokal-Beamte an der Spitze des Gemeinde-Wesens standen, und da wo die Bewohner durch sich selbst empfänglich genug waren, dasselbe zu würdigen, und das war zum Trotz der schlechten Oberverwaltung fast allgemein der Fall. Aber das beschränkte sich auch nur auf die Unterhaltung der schon vollendeten Wege. Keiner der neu angelegten oder der projektirten wurde fortgesetzt oder angefangen. Es fehlte an Anordnung, an Aufmunterung, an Leitung, das ist die Sache der höhern Behörde, die sich damit nicht beschäftigte.“ 111
Allerdings, und das bleibt festzuhalten, konnte das Rhein-Mosel-Gebiet von diesen infrastrukturellen Verbesserungen noch während der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts profitieren, auch wenn für den Straßenbau das Votum Strambergs hinsichtlich der Bemühungen um die Rheinanlagen in Koblenz gleichermaßen gelten kann: „Wie das Publikum wahrnahm, daß des vormaligen Präfecten Leidenschaft […] keineswegs von dem Nachfolger getheilt werde, da erlosch in überraschender Schnelligkeit die obligate Begeisterung der jüngstvergangenen Zeit.“ 112
VI. Fazit: Lezay-Marnésia: dreifacher Experte – eine Erfolgsgeschichte Das Rhein-Moseldepartement war, als Lezay es im Frühjahr 1810 verließ, mit einem dichten und gut verbundenen System kommunaler Wege versehen, welches
110 Recueil des actes de la préfecture de Rhin-et-Moselle, 1811–1813. 111 Schreiben des Freiherrn von Vincke an Justus Gruner, 7.Mai 1814, in: LHA Koblenz, Best. 359/58: Gemeindewege im Rhein- und Moseldepartement, 2f. 112 Stramberg, Rheinischer Antiquarius, Abt. II, Bd. 2 (wie Anm.8), 216.
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vermutlich erstmals unserem heutigen Verständnis eines funktionierenden Wegenetzes entsprach. Was hatte Lezay anders gemacht als seine Vorgänger und auch die nachfolgenden Regierungen? In seiner Person bündelte sich Sachverstand auf mehreren Feldern: Erstens war er „Organisationsexperte“, der gekonnt die gestalterischen Möglichkeiten nutzte, die ihm seine Stellung als Präfekt bot. Erleichtert wurden seine reformerischen Bemühungen durch das französische Verwaltungssystem mit seinen klaren Instanzenzügen und eindeutigen Verantwortlichkeiten. Lezay wurde zum Knotenpunkt der Reformbemühungen in seinem Departement, bei ihm liefen alle Fäden zusammen. Eine solche Struktur barg allerdings die Gefahr, dass die zentrale Figur zum ‚Flaschenhals‘ wurde, eine Gefahr, die Lezay durch ein hohes Arbeitspensum und Delegation (Distriktsinspektoren) umging. Die konsequente Nutzung von Öffentlichkeitsarbeit als Teil einer staatlichen Interessensvermittlung machte Lezay, zweitens, zu einem „Öffentlichkeitsexperten“. Öffentlichkeit stellte er im direkten Kontakt, aber vor allem durch das geschriebene Wort her. Dabei half ihm seine schriftstellerisch-aufklärerische Erfahrung. Und drittens entwickelte er sich auch ohne beruflich-formale Qualifikation zu einem „technischen Experten“. Lezay konnte keinen externen technischen Sachverstand einfordern, da zu dessen Finanzierung die ohnehin schon knappen Gemeindehaushalte hätten weiter strapaziert werden müssen. Viel entscheidender aber war, dass es zu Beginn des 19.Jahrhunderts aufgrund mangelnder technischer Ausbildungsmöglichkeiten keinen Markt für freie, unabhängige Experten gab. Die wenigen gut ausgebildeten technischen Fachleute, welche ihr Fachwissen häufig mit staatlicher Unterstützung erworben hatten, waren in aller Regel Teil der staatlichen Verwaltungen. Das galt auch für die französischen Wegebauingenieure, wie den Oberingenieur des Rhein-Moseldepartements Fournet, die ihre Ausbildung in der École Polytechnique absolviert hatten und danach dem französischen Staat unter anderem in den Brücken- und Straßenbauabteilungen der Departements dienten – allerdings, wie gesehen, mit einer ausschließlichen Verantwortlichkeit für die Land- und Heerstraßen. Lezay musste also, wollte er Fortschritte erzielen, sich selbst in diese, für einen Präfekten fremde Materie einarbeiten. Dies war möglich, weil die Wissensbestände im kommunalen Wegebau noch wenig komplex waren. Lezay konnte also das nötige technische Know-how recht leicht erwerben; dabei entwickelte er vor allem ein Gespür für die Optimierung verkrusteter Arbeitsprozesse. Durch die Publikation von allgemeinverständlichen Leitfäden vermittelte er dieses technische Wissen sei-
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nen Verwalteten und schuf so die Voraussetzung für die Professionalisierung und Standardisierung der Arbeiten und damit für das qualitativ hochwertige Wegenetz, für das das Rhein-Moseldepartement lange gerühmt wurde. Die Bündelung dieser drei unterschiedlichen Fähigkeiten – administrativer, publizistischer und technischer Sachverstand – in seiner Person war der Schlüssel seines Erfolgs.
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Experten und Entscheiden Eine Fallstudie zum preußischen Chausseewesen von Felix Gräfenberg
I. Einleitung Als 1787 die ersten Chausseebauprojekte, also der Bau von befestigten, mautpflichtigen Straßen, in Preußen umgesetzt wurden, war das herrschaftliche Entscheidungsgefüge noch hochgradig ständisch geprägt. 1 Die Planung sowie Bau und Unterhalt von Chausseen erfordern allerdings konkrete, technisch anspruchsvolle Wissensbestände. Die hierbei notwendige Einbindung von Experten in entsprechende Entscheidungsprozesse stellte folglich – so die Ausgangsthese – eine bedeutende Zäsur für die politische Kultur dar. Diese strukturelle Veränderung fügte sich in den größeren Prozess der Ausdifferenzierung von Politikfeldern als Rahmen politischer Sachentscheidungen im Laufe des „langen 19.Jahrhunderts“ ein und prägte diese Entwicklung maßgeblich mit. Die Folge war hierbei nicht nur die Inklusion, Institutionalisierung und Formalisierung von Expertise in das Entscheidungsgefüge sowie die damit einhergehende Professionalisierung, sondern auch der Übergang von einer ständisch geprägten Herrschaftsordnung hin zu einem funktional differenzierten politischen System. 2 Diese Entwicklung kann aber weder als selbstverständlich noch als in ihrem Verlauf eindeutig angesehen werden. 3 Vielmehr gilt es, dies genauer zu beleuchten.
1 Entscheiden wird hier als ein sozialer Prozess verstanden, der auf eine Entscheidung hin ausgerichtet ist. Entscheidungen hingegen markieren eine Zäsur im Sozialen. Während die bisherige Forschung zumeist die Entscheidung in den Blick nahm, soll hier der Fokus auf dem Prozess des Entscheidens selbst sowie auf dessen Produktivität im Sozialen liegen. 2 Diese Veränderungen fügen sich somit in eine allgemeine ‚Modernisierungserzählung‘ ein. Auf beide hier skizzierten Ebenen dieses Prozesses, sowohl die politisch-inhaltliche als auch die strukturelle, wird im Folgenden noch genauer eingegangen werden. Zu den konkreten Entwicklungen des Chausseewesens siehe Abschnitt III. Das Preußische Chausseewesen. Ein Überblick. Zu den strukturellen Veränderungen aus einer auch theoretischen Perspektive siehe Abschnitt II. Experten, Entscheiden und Politikfelder. 3 Der Aufsatz fügt sich hier in die aktuelle Forschung zur Kulturgeschichte des Politischen ein. Instruktiv hierfür grundsätzlich: Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einlei-
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-004
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Hierbei soll der Fokus auf zwei Problemkomplexen liegen: Konkret ist zum einen danach zu fragen, ob und inwiefern diese strukturelle Änderung als solche wahrgenommen und reflektiert wurde und wie sie schließlich konkret bewältigt wurde. Gleichzeitig ist zum andern darauf zu achten, wie sich die Inklusion von Experten in bestimmte Entscheidungsprozesse auf das gesamte Entscheidungsgefüge auswirkte; ob und wie Experten also den Prozess der Ausdifferenzierung mit beeinflussten. Ein besonderer Fokus muss entsprechend der Modellierung des Experten als speziellem Akteurstypen und der Entstehung eigener epistemischer Gemeinschaften im Zuge der Ausdifferenzierung von Politikfeldern dabei auf der Verschiebung von Deutungs- und Wahrnehmungshorizonten liegen. Da Experten zugleich relational in ihren sozialen Zusammenhängen zu betrachten sind und zudem kulturell bedingt in unterschiedlichen Figurationen auftreten, gilt es hierbei auch etwaige Wandlungsprozesse des Expertentypus, mutmaßlich in Wechselwirkung mit der Entstehung von Politikfeldern, im Auge zu behalten. Bevor sich diesen Fragen fundiert angenähert werden kann, gilt es zunächst, zweierlei zu tun: So sind zum einen wesentliche makroskopische, modernisierungstheoretisch fundierte Vorüberlegungen zu Experten, Entscheidungsprozessen und (sich ausdifferenzierenden) Politikfeldern sowie ihrem Verhältnis zueinander anzustellen. Hierbei wird aus dieser Perspektive auch dezidiert auf die besondere Eignung des Chausseewesens als Untersuchungsgegenstand einzugehen sein. Zum anderen erscheint es sinnvoll, einen kurzen Abriss über die grundsätzliche Entwicklung des preußischen Chausseewesens in seinem historischen Kontext anzubieten. In der Folge wird, als Kern dieser Studie, die Rolle von Experten beim Entscheiden im sich ausdifferenzierenden Politikfeld des Chausseewesens in Preußen im ausgehenden 18. und während der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts analysiert.
tung, in: dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (ZHF, Beiheft 35.) Berlin 2005, 9–24; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28, 2002, 574–606; hinsichtlich des Verfahrens als ‚modernem‘ Entscheidungsmodus in Politik und Recht aus historischer Perspektive vgl. André Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, in: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. (ZHF, Beiheft 44.) Berlin 2010, 35– 64; mit einem Fokus auf den strukturellen Wandel im Herrschaftsgefüge Roland Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der frühen Neuzeit. Köln 2005.
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II. Experten, Entscheiden und Politikfelder. Einige Vorüberlegungen Das ausgehende 18. und das 19.Jahrhundert brachten in Europa und Nordamerika massive gesamtgesellschaftlich relevante strukturelle Veränderungen, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, hervor, die oftmals unter dem Label der ‚Modernisierung‘ subsumiert werden. Hierzu gehören zweifelsohne die Entstehung des modernen National- und Flächenstaats und damit einhergehend die Ausbildung moderner Volkswirtschaften, die Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftsregimes sowie die Industrialisierung mit ihren weitreichenden Folgen. In diesen Kontext ist die Entstehung moderner Politikfelder nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich und kausal einzuordnen. So waren es gerade technisch anspruchsvolle, finanziell aufwendige Problemkomplexe aus dem Bereich der Wirtschaftspolitik, wie eben das Chausseewesen, entlang derer sich Politikfelder konstituierten und ausdifferenzierten. 4 Die Entstehung von Politikfeldern steht hierbei im engen Zusammenhang mit der grundsätzlichen funktionalen Ausdifferenzierung von Politik als eigenem System. Das Politische wird hier als kommunikativer Raum verstanden, der auf die entscheidungsförmige Organisation des Gemeinwesens sowie die Lösung entsprechend wahrgenommener und kommunizierter Problemstellungen hin ausgerichtet ist. 5 Die Ausdifferenzierung von Politik stellt mithin eine Verstetigung dieses kommunikativen Raums, die Herausbildung eigener Systemlogiken und die Herauslösung aus seiner Umwelt dar. 6 Die Konstituierung und Ausdifferenzierung von Politikfeldern kann hierbei als systemische Reaktion einerseits auf die zunehmende Komplexität der sozialen Wirklichkeit und andererseits auf die steigenden Rationalitätserwartungen der beteiligten Akteure an Entscheidungen angesehen
4 Dies zeigt eine in Arbeit befindliche historische Synthese zur Entstehung von Politikfeldern überhaupt, die aktuell im Rahmen desselben Projekts (B06) des SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ von Ulrich Pfister erarbeitet wird, siehe hierzu auch Anm.46. 5 Insbesondere Mergel, Kulturgeschichte (wie Anm.3), 587; vgl. Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte (wie Anm.3). 6 Eine gute Einführung in die Theorien sozialer Systembildung bietet Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. 3.Aufl. Wiesbaden 2007. Maßgeblich im Zusammenhang dieses Aufsatzes sind die Herausbildung eigener Wertsphären nach Max Weber sowie die funktionale Differenzierung nach Niklas Luhmann.
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werden. 7 Sie ermöglichen – so die Theorie – unter Rückgriff auf politikfeldimmanente Praktiken und Strukturen politisches Entscheiden entlang komplexer inhaltlicher Problemfelder 8; sie stellen mithin den Rahmen politischer Sachentscheidungen dar. 9 Hierbei bieten sie einerseits für einen spezifischen, klar umrissenen Problembereich auf struktureller Ebene konkrete Modi des Entscheidens. Das heißt, sie strukturieren den Ablauf des Entscheidungsprozesses und geben vor, wer in welcher Weise in die Entscheidungsfindung eingebunden ist und auf welche Weise die Entscheidung gefällt wird. Andererseits stellen Politikfelder auf semantischer Ebene konkrete Narrative des Entscheidens zur Verfügung. 10 Die Konstituierung und Ausdifferenzierung von Politikfeldern stellt folglich eine Vermittlung ebendieser Ebenen dar, so dass Modus und Narrativ des konkreten Entscheidungsprozesses miteinander im Einklang stehen und so der Entscheidung selbst Legitimation verschaffen. 11 Politikfelder, wie Rahmungen des Entscheidens grundsätzlich, leisten somit eine Vermittlung zwischen den beiden Ebenen und erzeugen damit eine gewisse Konsistenz der Entscheidung, die wiederum deren soziale Akzeptanz erhöht. 12 7 Grundlegend dazu Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1980. Zur Moderne als Entscheidungsgesellschaft vgl. Uwe Schimank, Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne. Wiesbaden 2005, insbes. Kapitel 2 „Rationales Entscheiden als Auftrag der Moderne“, 79–119. 8 Der deutsche Begriff von Politik wird im englischen Sprachraum in policy, politics und polity unterteilt. Diese Unterteilung hat sich mittlerweile auch in der deutschsprachigen Wissenschaft durchgesetzt. Policy stellt hierbei die inhaltliche Komponente von Politik dar. In diesem Zusammenhang werden Politikfelder als Nominalkategorie von policy verstanden. Vgl. hierzu: Adrienne Windhoff-Héritier, Policy-Analyse. Eine Einführung. Frankfurt am Main/New York 1987, 21f. Allgemein als Ausgangspunkt zur Begriffsklärung und Verortung von Politikfeldern im terminologischen Gefüge bietet sich etwa an: Sonja Blum/Klaus Schubert, Politikfeldanalyse. 2.Aufl. Wiesbaden 2011, 14–17, 33–35. 9 Allgemein zur Rahmung sozialer Situationen vgl. Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main 1989. 10
Alle drei hier benannten Dimensionen des Entscheidens, also Modi, Narrative und Rahmungen, ent-
stammen der konzeptionellen Arbeit des SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“. Vgl. hierzu Barbara Stollberg-Rilinger, Zur Einführung, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte. (Frühneuzeit Impulse, Bd.3.) Köln/Weimar/Wien 2015, 630–634; überarbeitet und weiterentwickelt bei Philip Hoffmann-Rehnitz/André Krischer/Matthias Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 45, 2018, 217–281. 11
Einen wesentlichen Beitrag hierbei stellt sicherlich die Verfahrensförmigkeit des Entscheidens bezie-
hungsweise die Autonomie dieser Verfahren dar, die typisch für moderne Entscheidungen in Politik und Verwaltung sind. Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main 1969. 12
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Zur Vermittlung von Struktur und Semantik vgl. Rudolf Stichweh, Semantik und Sozialstruktur. Zur
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Wenn sich nun Politikfelder durch ihre Konstituierung entlang spezifischer, tendenziell komplexer Problemstellungen auszeichnen, so liegt es nahe, dass die Inklusion epistemischer Gemeinschaften in das vorher vorrangig ständisch geprägte Entscheidungsgefüge maßgeblichen Einfluss auf diesen Prozess genommen hat. 13 Beim Chausseewesen lässt sich in dieser Hinsicht eine klare Zäsur beobachten: Während beim traditionellen, unbefestigten Wegebau die relevanten propositionalen Wissensbestände auch technisch ungeschulten Personen leicht zugänglich waren, so war dieses Know-how beim Bau und Unterhalt von Kunststraßen hochgradig an eine spezifische Ausbildung gebunden. 14 Das Auftauchen des Chausseebaus auf der politischen Agenda erforderte aus dieser theoretischen Perspektive folglich eine Anpassung des politischen Entscheidungs- respektive des Herrschaftsgefüges, das in einer vormodernen, ständischen Gesellschaft strukturell und semantisch stark generalistisch angelegt war; das heißt, ein inhaltlich weitgefächerter Kanon von Problemen war tendenziell ähnlichen Modi und Narrativen zugänglich. 15 Die historische Ausdifferenzierung von Politikfeldern soll vor diesem Hintergrund allerdings nicht als linearer, monokausaler Prozess verstanden werden, sonLogik einer systemtheoretischen Unterscheidung, in: Dirk Tänzler/Hubert Knoblauch/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. (Erfahrung – Wissen – Imagination. Schriften zur Wissenssoziologie, Bd. 8.) Konstanz 2006, 157–171; Alexander Durben/Matthias Friedmann/Laura-Marie Krampe/Benedikt Nientied/André Stappert, Interaktion und Schriftlichkeit als Ressourcen des Entscheidens (ca. 1500–1850), in: Ulrich Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen. (Kulturen des Entscheidens, Bd. 1.) Göttingen 2018, 168–208, hier 169f. Zur sozialen Zumutung des Entscheidens vgl. Niklas Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, in: Verwaltungsarchiv. Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik 84, 1993, 287–310; Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Basel/Stuttgart 1965, 118–140. 13 Zu epistemischen Gemeinschaften instruktiv Karin Knorr Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt am Main 2002. 14 Vgl. Jürgen Salzwedel, Wege Straßen und Wasserwege, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/ Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 2: Vom Reichdeputationshauptschluss bis zur Auflösung des Deutschen Bundes. Stuttgart 1983, 199–226, hier 223–225. Zur grundsätzlichen inhaltlichen Problematik der Bautechnik Uwe Müller, Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung. Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18.Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19.Jahrhunderts. (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 57.) Berlin 2000, 136f.; Maxwell G. Lay, Geschichte der Straße. Vom Trampelpfad zur Autobahn. Frankfurt am Main 1994, 88–109. 15 Anschaulich zeigen dies die in Arbeit begriffenen Studien zur kaiserlichen Herrschaftspraxis im Alten Reich im Hoch- und Spätmittelalter anhand Friedrichs II. und Friedrichs III. von Maximiliane Berger und Konstantin Maier (beide Münster).
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dern als komplexer, wechselseitiger Aushandlungsprozess zwischen dem ständischen Herrschafts- und Sozialgefüge auf der einen und der epistemischen Gemeinschaft der technisch geschulten Experten auf der anderen Seite, mit ihren jeweils eigenen Praktiken und sozialen Handlungslogiken. Auf struktureller Ebene bedeutete die Inklusion technisch geschulter Experten eine Veränderung des politischen Entscheidungsgefüges dahingehend, dass nicht mehr nur der Stand, sondern auch der persönliche Sachverstand zur Partizipation an der politischen Entscheidungsfindung hinreichen konnte. Dies implizierte eine qualitative Veränderung der Sozialstruktur des politischen Systems. Auf semantischer Ebene erzwang die Beteiligung von Experten eine Synthese der erprobten, tendenziell universellen Sprache des Politischen mit der epistemischen Fachsprache. Diese doppelte Inklusion des Experten in das Herrschafts- und Entscheidungsgefüge ist umso problematischer hinsichtlich deren sozialer Stabilität, als dem Experten – in seinem sozialen Zusammenhang gedacht – eine exponierte Stellung zukommt. So zeichnet sich der Experte durch seinen privilegierten Zugang zu Informationen aus. Ihm obliegt es somit, durch seinen spezifischen Umweltzugriff neue, nützliche und entscheidungsrelevante Wissensbestände zu erzeugen und bereitzustellen 16, wodurch er sozial wirksame Wahrheiten produziert 17; er ist mithin nicht ‚nur‘ ein weiterer Akteur im Entscheidungsprozess, sondern er besetzt – zumindest partiell – die Rolle eines VetoSpielers 18, haben Experten doch – jedenfalls auf ihrem Fachgebiet – Zugriff auf die Formulierung und Eliminierung von Alternativen. Die skizzierten theoretischen und makroskopischen Vorüberlegungen lassen vermuten, dass der Rationalisierung, Verwissenschaftlichung und Professionalisie-
16
Instruktiv zu Information als Kategorie historischer Forschung Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Su-
sanne Friedrich, Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung vom Wissensbegriff, in: dies. (Hrsg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. (Pluralisierung & Autorität, Bd. 16.) Berlin 2008, 11–44, hier insbes. 16–20. Zur Informationsgewinnung siehe auch Matthias Pohlig, Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg. (Externa, Bd. 10.) Köln/Wien/Weimar 2016, 32–38. 17
Aus wissenssoziologischer Perspektive zum Experten, auch hinsichtlich seines Zugangs zu Informa-
tion vgl. Michaela Pfadenhauer, Der Experte, in: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hrsg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Berlin 2010, 98–107. Der Beitrag bietet auch eine hilfreiche Abgrenzung zu Professionellem, Spezialist und Berater. 18
Folgend dem Konzept von George Tsebilis, Veto Players. How Political Institutions Work. Princeton
2002; erstmals ders., Decision Making in Political Systems. Veto Players in Presidentalism, Parlamentarism, Multicameralism, and Multipartyism, in: British Journal of Political Science 25, 1995, 289–325.
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rung – wie vielen anderen Entwicklungssträngen der Modernisierung – eine enorme soziale Sprengkraft innewohnte, die – so die These – durch die Herausbildung von Politikfeldern abgefedert und aufgefangen wurde. Ihre Entstehung ist somit als eine große kulturelle Leistung zu betrachten, die es zu historisieren gilt; das heißt, es ist nach ihren konkreten Umständen und Verläufen zu fragen. Dies kann sinnvollerweise im Rahmen von Fallstudien geleistet werden.
III. Das preußische Chausseewesen. Ein Überblick Die Inklusion technischer Experten in das politische Entscheidungsgefüge beschränkte sich aus historischer Perspektive nicht auf die ‚simple‘ Aushandlung entlang der Dichotomie Laien/Experten. Vielmehr fand sie in einer komplexen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Umwelt statt, in der sich sowohl die Experten als auch das Chausseewesen verorten mussten. Für eine fundierte Analyse der Rolle von Experten im Chausseewesen erscheint folglich ein konziser Überblick über die grundlegenden Entwicklungen des Chausseewesens angebracht. Dies soll hier in der gebotenen Kürze geschehen. Straßenbau und -verwaltung oblagen in Preußen traditionell den Provinzen. Als ab 1786/87 die ersten Chausseen in Preußen projektiert und umgesetzt wurden, bildete die Provinz folglich den institutionellen Rahmen. Entsprechend waren die ersten Chausseen zunächst auch vorrangig an regionalen Interessen und Bedürfnissen ausgerichtet – zumeist aus einem handelspolitischen und kameralistischen Kalkül. Zuvörderst können hier sicherlich die Straßen im Herzogtum Magdeburg genannt werden, die die ersten Chausseen Preußens überhaupt darstellten und eine grundsätzliche Anbindung Magdeburgs an Hamburg und Leipzig als bedeutende Handelsund Messestädte gewährleisten sollten. Auf das Magdeburgische wird entsprechend hinsichtlich der eigentlichen Frage später noch einzugehen sein. 19 Die Gegenden um die Residenzstädte Berlin und Potsdam stellten unter den Regionen mit frühem Chausseebau einen Sonderfall dar. So erfolgten die Bauten auf direkte Initiative des Königs, den weniger handelspolitische Überlegungen als solche der Repräsentation und des Prestiges antrieben. 20 19 Vgl. Herbert Liman, Preußischer Chausseebau. Meilensteine in Berlin. Berlin 1993. 20 Vgl. ebd.
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Die Zeit der napoleonischen Kriege war hinsichtlich der materiellen Erweiterung des preußischen Chausseenetzes eine Zeit der Stagnation. Nennenswerte Fortschritte gab es nur im Rheinland und Westfalen, die unter französischer Herrschaft standen und deren Chausseen nur ‚zufällig‘ in Folge der territorialen Neuordnung im Rahmen des Wiener Kongresses an Preußen fielen. Nichtsdestotrotz fanden in dieser Periode im Zuge der preußischen Reformen auch für das Chausseewesen wesentliche Weichenstellungen statt. Insbesondere die Homogenisierung der Verwaltungsstrukturen über die Provinzen hinweg bereitete den Weg für einen zentralistischeren Zugriff auf das Chausseewesen. Infolge dieser beiden großen Zäsuren, den preußischen Reformen und dem Wiener Kongress, geriet das Chausseewesen politisch unter zentralstaatliche Verantwortung. Konkret setzte Hans Graf von Bülow 1816, zunächst als Finanzminister, später als Leiter des neu gegründeten Ministeriums für Handel und Gewerbe, den Ausbau eines flächendeckenden Hauptstraßennetzes auf die politische Agenda. 21 Dieser Ausbau erfolgte dezidiert unter strukturpolitischen Vorgaben, die insbesondere von Friedrich Wilhelm III. vorangetrieben wurden. 22 In der Folge unterscheidet die bisherige Forschung zwischen zwei chausseepolitischen Regimes entlang der formalrechtlichen Dichotomie von staatlichem und nichtstaatlichem Chausseebau: Das erste lässt sich maßgeblich durch die Umund Fortsetzung des Bülow’schen Plans charakterisieren, der Staatsstraßenbau gleichermaßen zum Aufbau eines Infrastruktursystems im Zuge des nation building 23 sowie als strukturpolitische Maßnahme betrieb. Das zweite Regime zeichnet sich durch einen weitgehenden Rückzug des Staates aus dem Chausseebau und eine Beschränkung desselben auf grundlegende Regulierung aus. Der Bau von Neben- und Verbindungsstraßen durch nichtstaatliche Träger wie Aktiengesellschaften und private Unternehmer, aber auch Träger der öffentlichen Hand wie Kreise und Bezirke, die in chausseerechtlichen Belangen dem Staat als zentralistischem Akteur gegenübergestellt waren, stellte den Kern dieses Regimes dar. Staatliche Chausseebaupolitik erfolgte hier vorrangig unter einem Paradigma der Gewerbepolitik, das davon ausging, dass unter regionaler Initiative Chausseen bedarfsorientiert entstehen.
21
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (künftig: GStA PK), I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 1,
fol.80. 22
Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik (wie Anm.14).
23
Zu nation building vgl. Julia Stütz, ‚State-Building‘ aus theoretischer und praktischer Perspektive. Baden-
Baden 2008.
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Obwohl bereits ab 1809 die rechtliche Möglichkeit für diesen nichtstaatlichen Chausseebau bestand und der Plan Bülows eigentlich 1824 terminiert wurde – die Preußische Seehandlung übernahm vertraglich den Bau der noch ausstehenden Streckenabschnitte –, fand ein wirklicher, dafür vergleichsweise abrupter Regimewechsel erst in den 1840er Jahren statt. 24 Je nachdem, aus welcher Perspektive bisher geschaut wurde, stellt sich – so die bisherige Forschungsmeinung – diese Verzögerung beim nichtstaatlichen Chausseebau als Resultat von Staatsversagen, insbesondere hinsichtlich ‚guter‘ Regulierung oder dem Fehlen eines ‚starken‘ Unternehmertums dar. 25 Neue Erkenntnisse sprechen allerdings für einen schleichenden Übergang seit den 1820er Jahren, der infolge der finanziellen Krisensituation um 1820 durch die Entstehung früher ‚Public Private Partnership‘-Modelle angestoßen wurde. 26 Privatwirtschaftliche Initiative und Staatsstraßenbau schlossen sich in der Folge nicht aus, sondern brachten – zumindest für eine gewisse Zeit – die Entwicklung des preußischen Chausseenetzes symbiotisch voran. Mit der Fertigstellung der wesentlichen Hauptstraßenzüge in den gewerbereichen Regionen veränderte sich dieses partner-
24 Vgl. Uwe Müller, Der preußische Kreischausseebau zwischen kommunaler Selbstverwaltung und staatlicher Regulierung (1830–1880), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1999, 11–33. 25 Vgl. ders., Infrastrukturpolitik (wie Anm.14), 241–263; zur Regulierung vgl. auch Salzwedel, Wege (wie Anm.14), 215–225. Dies spiegelt sich auch in der regionalhistorischen Forschung wider. Zu Westfalen vgl. etwa: Wilfried Reininghaus, Vincke und der Straßenbau im südlichen Westfalen, in: Hans-Joachim Behr/Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen. Münster 1994, 350–364; Clemens Wischermann, Chausseebau und Landverkehr in Westfalen während der Frühindustrialisierung, in: Wilfried Reininghaus/Karl Teppe (Hrsg.) Verkehr und Region im 19. und 20.Jahrhundert. Westfälische Beispiele. (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 29.) Paderborn 1999, 71–94. 26 Zur krisenhaften Zuspitzung der preußischen Staatsfinanzen ab 1806 und der Konsolidierung der Staatsschulden 1820 vgl. Hanna Schissler, Einleitung. Preußische Finanzpolitik 1806–1820, in: Eckart Kehr/ Hanna Schissler (Hrsg.), Preußische Finanzpolitik 1806–1810. Quellen zur Verwaltung der Ministerien Stein und Altenstein. Göttingen/Zürich 1984, 13–64; dies., Preußische Finanzpolitik nach 1807. Die Bedeutung der Staatsverschuldung als Faktor der Modernisierung des preußischen Finanzsystems, in: Geschichte und Gesellschaft 8, 1982, 367–385; Ernst Klein, Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland (1500–1870). Wiesbaden 1974, 103–125. Die Einbeziehung privaten Kapitals zur Finanzierung von Staatsausgaben lässt sich auch in anderen Bereichen, insbesondere hinsichtlich der Infrastruktur im weitesten Sinne beobachten. Vgl. hierzu Bernhard Sicken, Privates Kapital für öffentliche Aufgaben. Aktiengesellschaften in Preußen zum Ausbau der militärischen Infrastruktur zwischen Vormärz und Reichsgründung, in: HZ 302, 2016, 644–676. Die dem zitierten Aufsatz zugrundeliegende Engführung auf Aktiengesellschaften wird im Rahmen dieses Projekts allerdings nicht geteilt.
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schaftliche Verhältnis – um im Bild zu bleiben – zunehmend zu einem ‚parasitären‘, indem private Unternehmer zusehends versuchten, staatliche Politikgestaltung aktiv zu ihren Gunsten und gegen die staatlicherseits formulierten Interessen zu beeinflussen. Aus dieser Perspektive erscheinen die administrativen Veränderungen, die in den 1830er Jahren stattfanden, und die Aufstellungen der Rother’schen Bedingungen, die als wichtige Vorleistung für die flächendeckende Etablierung nichtstaatlicher Projekte angesehen werden 27, als eine Reaktion auf das zunehmende Vordringen privatwirtschaftlicher Akteure in den Staatsstraßenbau und den wachsenden Bedarf an Neben- und Verbindungsstraßen in den gewerbereichen Regionen. 28
IV. Experten im Chausseebau 1. Professionalisierung und Regulierung vor 1816 Als 1786/87 die ersten preußischen Chausseen im Herzogtum Magdeburg projektiert und gebaut wurden, hatte man von herrschaftlicher Seite bereits die Erfahrung gemacht, dass ohne entsprechendes Fachwissen keine kunstmäßigen Straßen zu haben waren. 29 Auch wenn der Wechsel auf dem preußischen Thron im Jahre 1786 nach dem Tod Friedrichs II., dem der Ruf einer grundsätzlichen Abneigung gegenüber Kunststraßen anhing, üblicherweise als Beginn des Chausseewesens in Preu-
27
Vgl. etwa Uwe Müller, Der Beitrag des Chausseebaus zum Modernisierungsprozess in Preußen, in:
Hans-Liudger Dienel (Hrsg.), Die moderne Straße. Planung, Bau und Verkehr vom 18. bis zum 20.Jahrhundert. (Beiträge zur historischen Verkehrsforschung, Bd. 11.) Frankfurt am Main/New York 2010, 49–75, hier 56f. 28
Dies sind Ergebnisse aus dem laufenden Projekt. Eine detaillierte Analyse der Situation und des Re-
gimewechsels wird im Rahmen einer in Vorbereitung befindlichen monographischen Studie des Autors geliefert werden. Eine erste, konzise Darstellung bietet: Felix Gräfenberg, Chausseebau und frühindustrielles Gewerbe in Preußen. Zum Verhältnis von regionaler Wirtschaft und staatlicher Politik, ca. 1816 bis 1840. Unveröffentlichter Beitrag zum IX. Unternehmensgeschichtlichen Kolloquium, Chemnitz, 21./22. September 2018. 29
Der folgende Analyseteil weist vom Zugriff und der Quellenbasis starke Parallelen auf zu Constanze
Sieger/Felix Gräfenberg, Information als Ressource des Entscheidens in der Moderne (1780–1930). Entwicklungen und Konstellationen in preußischen Zentralbehörden und westfälischen Lokalverwaltungen, in: Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens (wie Anm.12), 333–355, insbes. 335–344, und kann als Weiterentwicklung desselben unter leicht verschobenen Vorzeichen gesehen werden.
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ßen angesehen wird 30, lohnt sich hinsichtlich der Genese und speziellen Rolle technischer Experten im Entscheidungsgefüge ein Blick über den Tellerrand der outputorientierten Ereignisgeschichte. Bereits am 21.Dezember 1768 hatte nämlich Friedrich II. in einem Reskript die Kriegs- und Domänenkammer in Magdeburg aufgefordert, einen Kostenvoranschlag für den Bau einer Chaussee zwischen Magdeburg und Calbe auf der Straße nach Leipzig zu erstellen. 31 Tatsächlich wurde in der Folge ein erster Anschlag samt dazugehörenden Zeichnungen erstellt und zur Prüfung eingereicht. Hierfür war das 1770 geschaffene Oberbaudepartement – ab 1804 die Oberbaudeputation – zuständig. Den Berliner Entscheidern stand somit bereits früh ein internes Expertengremium zur Verfügung, das relevante Informationen zwar nicht selbst erzeugen, aber auf ihre Qualität hin prüfen konnte. 32 Am 22.April 1771 – also nach über zwei Jahren Planungs- und Prüfungsprozess – beurteilte dieses den Anschlag als nicht „im mindesten solide und accurat“. 33 Vor allem beschwerte sich das Oberbaudepartement als begutachtende Behörde in Berlin über die nicht nachzuvollziehenden, inkonsistenten Rechnungen, die mit den angegebenen Grundlagendaten zu Längenmaßen, Preisen und Tagelöhnen nicht in Einklang zu bringen waren. Somit war in Berlin nicht ersichtlich, ob die Datenerhebung oder die Rechnung fehlerhaft waren, was eine Neuberechnung selbst unmöglich machte. In der Folge wurde ein neuer, „pertinente[r] Anschlag“ durch einen „andern[,] geschulteren Bau-Bedienten“ angefordert. 34 So wurde am 28.Mai desselben Jahres der Baurat Matthias Stegemann mit der Anfertigung eines neuen Kostenanschlags seitens der Kriegs- und Domänenkammer betraut. 35 Entgegen den Erwartungen der Spitzen von Politik und Verwaltung
30 Zur vermeintlichen Position Friedrichs II. vgl. Berthold Schulze, Das Preußische General-ChausseebauDepartement, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 47, 1935, 151–161, hier 151, 161; ders., Die Anfänge des norddeutschen Kunststraßenbaus, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte NF.84, 1938, 220–226, hier 221f.; Friedrich-Wilhelm Henning, Die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur in Brandenburg/Preußen als Teil der Staatsbaukunst von 1648 bis 1850, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte NF.7, 1997, 211–232, hier 221. 31 Landesarchiv Sachsen-Anhalt (künftig: LA SA), A8, Nr.137, fol.1. 32 Zur Geschichte der Oberbaudeputation vgl. Reinhart Strecke, Anfänge und Innovation der preußischen Bauverwaltung. Von David Gilly zu Karl Friedrich Schinkel. (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 6.) 2.Aufl. Köln/Weimar/Wien 2002. 33 LA SA, A8, Nr.137, fol.13f. 34 Ebd.fol.12f. 35 Ebd.fol.15.
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im Herzogtum, die davon ausgingen, dass die Fertigstellung rasch zu bewerkstelligen sei, zog sich der Prozess in die Länge. Nach mehrmaligen Erinnerungen bat Anfang 1773, also wiederum eineinhalb Jahre später, schließlich Stegemann um weiteren Aufschub. Er begründete dies damit, dass – insbesondere nach dem Gutachten der Oberbaudeputation – eine „local recherche“ notwendig sei, aber aufgrund anderer dienstlicher Verpflichtungen die Anschlagsfertigung noch ausstehe. 36 Fehlende Spezialisierung erschwerte somit bereits strukturell die konzentrierte Genese von Expertise und Expertentum. Statt der weiteren Planung der projektierten Chaussee wurden ab 1771, also dem Jahr der Feststellung sowohl der Mangelhaftigkeit des ersten Anschlags als auch der unzureichenden Ausbildung und/oder Fertigkeiten des zuständigen Personals, Instruktionen für Feldmesser in unterschiedlichen preußischen Landesteilen ausgearbeitet. Eine der ersten war diejenige für das Herzogtum Magdeburg, woran Stegemann maßgeblichen Anteil hatte. 37 Zudem begannen zeitgleich im Saale-Kreis umfangreiche Landvermessungen – die die Genese wesentlicher Informationen in Form der bisher fehlenden Grundlagendaten versprachen. 38 Auch wenn aus den Quellen kein direkter Bezug zwischen Chausseebau und Landvermessungsprogramm inklusive der dazugehörenden Reglements ersichtlich ist, so sprechen doch zeitliche und inhaltliche Verknüpfungen zumindest für einen mittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen ihnen. 39 Der Thronwechsel 1786 und die Neuberufung des Grafen von SchulenburgBlumberg zum Etats-Minister für das Herzogtum Magdeburg öffneten politisch ein Möglichkeitsfenster 40, das die Reaktivierung des Chausseewesens auf der politischen Agenda erfolgversprechend erschienen ließ, eine Chance, die der Letztge-
36
Ebd.fol.17.
37
Ebd.Nr.108.
38
Ebd.Nr.137, fol.17. Hierauf wurde bei der Planung der ersten Chausseen tatsächlich auch früh, näm-
lich bereits im Januar 1787, Bezug genommen, siehe: ebd.A7, Nr.16, fol.17. 39
Tatsächlich kamen die ersten Impulse, staatlicherseits kartografische Projekte in Preußen zu unter-
stützen, ab 1771 aus Magdeburg. Vgl. Wolfgang Torge, Geschichte der Geodäsie in Deutschland. 2.Aufl. Berlin/New York 2009, 85. Gleichzeitig fügt sich diese Bemühung in eine generelle Entwicklung ein. So gab es in anderen norddeutschen Territorien etwa zeitgleich ähnliche Bestrebungen. Vgl. Christian Fieseler, Der vermessene Staat. Kartographie und die Kartierung nordwestdeutscher Territorien im 18.Jahrhundert. Hannover 2013. 40
Das hier zugrunde liegende Konzept von Möglichkeitsfenstern beruht auf dem Multiple Streams-Mo-
dell von John W. Kingdon, Agendas, Alternatives, and Public Policies. 2nd Ed. Crawfordsville 2011.
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nannte zu nutzen wusste. Einerseits konnten durch den personellen Umbruch im Entscheidungsgefüge Ressourcen und Aufmerksamkeit neu alloziert werden, andererseits waren eben jene basal anmutenden bautechnischen Fragen, die den ersten Versuch scheitern ließen, nun geklärt und dementsprechend Schwierigkeiten, etwa bezüglich der Erstellung von Längenmaßen, überwunden. Nichtsdestotrotz fehlte es Preußen, auch in der Wahrnehmung der entscheidenden Zeitgenossen, noch an eigentlichen Chausseebauexperten, ohne die ein Bauvorhaben nicht zu realisieren war. So mangelte es in Preußen aufgrund fehlender Erfahrung nach wie vor an konkretem Wissen darüber, wie Chausseen eigentlich gebaut werden sollten. Um ein erneutes Scheitern des Projekts aufgrund von Problemen in der Planungsphase möglichst zu vermeiden, sollten diese schon im Voraus aus dem Weg geschafft werden. Friedrich Wilhelm II. verband seine Zustimmung wohl auch mit einem konsistenten Plan. 41 Innerhalb des komplexen Entscheidungsgefüges wählten mit dem für das Magdeburgische zuständigen Minister von SchulenbergBlumberg und Kammerpräsident Puttkammer die obersten Verantwortlichen sowohl auf der staatlichen Ebene als auch auf derjenigen der Provinz bewusst eine Kommunikation jenseits des Dienstwegs und entschieden somit wesentliche Planungsfragen. Gerade Personalfragen unterlagen somit nicht dem Dienstweg einer frühen Bürokratie, sondern einem ständisch geprägten Aushandlungsmodus via Privatkorrespondenz. 42 Hierbei gelang es zum einen, den thüringischen Bauaufseher Ulbricht anzuwerben, der sich bereit erklärte, „junge Leute [wegen der Wege-Verbeßerungen] zu unterrichten“ und zu diesem Zweck auch von der kursächsischen Verwaltung freigestellt wurde. 43 Die Aufgaben der so Ausgebildeten waren aber nun so konkret baupraktisch, dass sie sich auch dem kommunikativen Raum des Politischen entzogen. Sie sollten technische Vorgaben in die Praxis umsetzen, nicht aber den herrschaftlichen Entscheidern zuarbeiten. Die Rekrutierung eines externen ‚Experten‘ half somit zwar, praktisches Wissen in den preußischen beziehungsweise magdeburgi-
41 Liman, Chausseebau (wie Anm.19), 10. 42 LA SA, A7, Nr.16. Direkt im ersten Schreiben Schulenburgs an Puttkammer vom 18.Dezember 1786 bittet dieser: „Den Erfolg hiervon, sowohl als dasjenige, was überhaupt in dieser Angelegenheit vorgeht, und sonst in die Kammer Berichte zu inseriren gewesen wäre, wünsche ich Ewr. Wohlgebhrenen, wenigstens so lange, bis etwas würklich zur Ausführung komt, zu Beschleunigung der Sache bloß in Privat-Schreiben an mich zu faßen“ (ebd.fol.1). 43 Ebd.
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schen Verwaltungsapparat zu integrieren, schuf aber keineswegs im hier zugrundeliegenden Sinne neue, ‚interne Experten‘; ging es doch nicht um die Bereitstellung entscheidungsrelevanter Informationen, sondern lediglich um den Vollzug. Zum anderen wurde auf einer allgemeineren Ebene genau dies angestrebt: So erkoren Schulenburg-Blumberg und Puttkammer den bereits erwähnten Stegemann aus, eine Reise durch das deutsche und europäische Ausland zu machen und in den Territorien, die bereits Erfahrungen im Chausseebau hatten, entsprechende Informationen zu sammeln. Auf seiner Reise trug er in der Folge ein umfangreiches Corpus an Chausseereglements, Erfahrungsberichten, Briefen, Bauzeichnungen und dergleichen mehr zusammen. Nicht alles hatte gleichermaßen mit dem Chausseebau zu tun. Vielmehr hing der Inhalt stark vom jeweiligen Autor ab. Stegemanns Ansprechpartner wandten sich auch mit privaten Anliegen (etwa der Reise des Sohnes nach Magdeburg) an ihn, stellten Nachfragen zu den preußischen Salpeterminen oder präsentierten stolz technische Bauzeichnungen von einem Brunnen, der in einen Meilenstein eingearbeitet war. Alles fand gleichermaßen Einzug in die Sammlung. 44 Auf Grundlage dieser Kompilation, der es augenscheinlich an einer inhaltlichen Struktur mangelte (sortiert wurde nach Provenienz), wurden dann allgemeine Reglements und Instruktionen für unterschiedliche im Chausseewesen Bedienstete aufgestellt. 45 Hierbei bedienten sich die herrschaftlichen Entscheider der Vorstellung, dass aus einem umfangreichen Informationsangebot nach wissenschaftlichen Prinzipien allgemeingültige Regeln abgeleitet werden könnten. Die den Informationen zugrunde liegenden divergierenden Interpretationshorizonte sowie Strukturierungs- und Systematisierungsansätze wurden dabei ebenso wenig reflektiert wie die grundsätzliche Unterkomplexität von Normen gegenüber ihrer Umwelt, auf die diese angewandt werden sollen. 46 Entsprechend unterschiedlich trat Friedrich Wil-
44
Vgl. Liman, Chausseebau (wie Anm.19), 9; Schulze, Chausseebaudepartement (wie Anm.30), 155f. Die
Anweisung befindet sich in LA SA, A7, Nr.16, fol.73. Die gesammelten Dokumente finden sich in GStA PK, II. HA, GD, Abt.4, Tit. 34, Nr.1, Bd. 1–5.
45
LA SA, A8, Nr.149, Bd. 1–3.
46
Obrigkeit tritt hier als „information state“ auf, im Sinne von Peter Burke, Reflection on the Information
State, in: Brendecke/Friedrich/Friedrich (Hrsg.), Information in der Frühen Neuzeit (wie Anm.16), 51–63. Gerade die herrschaftlichen Entscheidungsträger bedienen sich hier noch einer alten, in der Frühen Neuzeit verankerten Informationssemantik. Ihren Ausgang nahm die veränderte Wahrnehmung von Information seit dem 18.Jahrhundert im Bereich der Landvermessung. Vgl. hierzu Lars Behrisch (Hrsg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raumes im 18.Jahrhundert. (Historische Politikforschung, Bd. 6.) Frankfurt am Main/New York 2006. Ulrich Pfister, Entscheiden wird selbstreferentiell und
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helm II. zu Beginn und Ende des Prozesses auf: So energisch er 1789 die Fertigstellung eines Allgemeinen Reglements einforderte, „[w]eil aber keine Sache von Wichtigkeit ohne Gesetze und Ordnung erhalten werden kann“ 47, so uninteressiert gab sich Friedrich Wilhelm II. bei der Bewilligung 1790, lag doch seinem Verständnis nach die Ausformulierung nicht in seiner Handlungssphäre: Er wollte mit den „weitläuffigen Reglements nicht […] behellig[t]“ werden und genehmigte diese entsprechend ‚blind‘. 48 Der Umstand, dass technisches Personal an die herrschaftlichen Entscheidungsträger entscheidungsfähige Berichte, Vorschläge und Pro Memoriae sandte, verursachte aus diesem Selbstverständnis heraus eine gewisse Irritation. Die von Seiten des Baupersonals wahrgenommene Kontingenz der Situation stand der Weltsicht der Obrigkeit entgegen. So leitete die Magdeburger Seite diese Dokumente entsprechend unkommentiert nach Berlin weiter, wo Friedrich Wilhelm II. die vorgeschlagenen Maßnahmen kurzerhand, gewissermaßen als letzten, aus dem Vorrangegangenen gesetzmäßig resultierenden Schritt eines (eindeutigen) Handlungsprogramms – ohne weiteres kommunikativ explizit gemachtes Abwägen der Alternativen bzw. Vor- und Nachteile – in geltende Vorschriften umwandelte. 49 Hier offenbaren sich gleichermaßen die unterschiedlichen Weltsichten von ständischer Obrigkeit und sachverständigem Baupersonal, wie auch die grundlegende Unsicherheit der Entscheidungsträger im Umgang mit dem neuen Problemkomplex sowie der damit einhergehenden neuen Akteursgruppe. Bereits zu Beginn des Projekts 1787 rief die Akademie der Wissenschaften in Berlin einen Wettbewerb aus, in dem nach dem besten Entwurf für die projektierten Straßen gefragt war. Auch wenn keine der Einsendungen die Jury überzeugen konnte – in der Begründung der Preisverleihung arbeitete sie sich vielmehr an deren Män-
reflexiv. Die Entstehung und Entwicklung von Politikfeldern. Unveröffentlichter Beitrag zum Workshop „Vom gesellschaftlichen Problem zum Politikfeld“, Universität Wien/Collegium Carolinum, Wien, 16.November 2018, argumentiert schlüssig, dass eine veränderte Wahrnehmung von Informationen und Wissensbeständen als wesentlicher Faktor bei der Herausbildung von Politikfeldern angenommen werden kann. Die hier angestellten Beobachtungen unterstützen diese These nun auch empirisch und zeigen die Diskrepanz zwischen den zwei Wahrnehmungssphären auf. Zum Verhältnis von Normen und Entscheiden zuletzt Maximiliane Berger/Clara Günzel/Nicola Kramp-Seidel, Normen und Entscheiden. Bemerkungen zu einem problematischen Verhältnis, in: Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens (wie Anm.12), 248–265. 47 LA SA, A8, Nr.149, Bd. 1, fol.8. 48 Ebd.fol.86. 49 Ebd.fol.163–165.
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geln schonungslos ab 50 –, wurden schließlich Stegemanns Einsendung zum Sieger gekürt und zwei weitere anonym mitpubliziert. 51 Gerade Stegemanns Entwurf wurden allerdings eklatante fachliche Mängel attestiert und die Preisverleihung mit dem Wissen über die lokalen Zustände begründet. 52 In der Folge wurde im Magdeburgischen die in die provinziale Verwaltungsstruktur eingebettete Chausseebaukommission gegründet, die unter der Leitung Stegemanns den Bau und Unterhalt der besagten Chausseen planen und umsetzen sollte. 53 Diese versammelte gleichermaßen bau- und finanztechnische Expertise. Mit Einrichtung der Kommission und der Zuschreibung weitreichender Kompetenzen bezüglich des operativen Geschäfts an diese entzog sich das Chausseewesen schließlich dem Politischen, galt doch alles Weitere (Kosten, Verlauf, Baumaterialien etc.) als technisch ableitbar. 54 Gemäß dem zugrundeliegenden wissenschaftspositivistischen, technokratischen Planungsparadigma sollte die Kommission auf Grundlage des Ergebnisses des Wettbewerbs das weitere Vorgehen planen (und überwachen), während die einfachen Baubeamten vor Ort auf Grundlage der entsprechenden Reglements für die Umsetzung zuständig waren. Selbst der Umstand, dass Stegemann einerseits von der Akademie unzureichende Kenntnisse attestiert wurden und andererseits Baubeamte die Offenheit der Situation den Entscheidungsträgern gegenüber aufzuzeigen suchten, ließ die herrschaftlichen Entscheidungsträger nicht von dieser Weltsicht abweichen. Dies mag zu großen Teilen in der Weltsicht selbst begründet liegen, die weder Stegemann noch die Akademie als Informationslieferanten für herrschaftliche Willensbildung und Entscheidungsfindung, sondern als Erfüllungsgehilfen herrschaftlichen Willens verstanden hat. Gleichzeitig offenbart dies die bestehenden fundamentalen Hemmnisse bei der Kommunikation zwischen
50
Vorrede der Akademie der Wissenschaften zu nachfolgenden drey Abhandlungen, in: Drey Abhand-
lungen über den Straßenbau. Wovon die erste den auf Sr. Königl. Majestät von Preussen allerhöchsten Befehl der königl. Academie der Wissenschaften ausgesetzten Preis erhalten hat, deren Verfasser der königl. Preußs. Krieges- und Domainen-Rath Herr Stegemann in Magdeburg ist, und wovon der zweyten und dritten das Accessit zuerkannt worden. Berlin 1788, III–XVI. 51
Ebd.
52
Ebd.
53
LA SA, A8, Nr.147, fol.4–8.
54
Dass dies nicht der Fall war, sondern situativ Probleme auftreten konnten, die weder bei der Planung
antizipiert worden waren noch in die Sphäre des Technischen fielen, mag wohl wenig verwundern. Diese Situationen führten teils zu größeren Krisen für das (entpolitisierte) Chausseewesen.
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der Sphäre ständisch geprägten Herrschaftshandelns und der Sprache von ‚Wissenschaft und Technik‘. Ab 1791 verlagerten sich – zumindest pro forma – alle Planungs- und Aufsichtspflichten bezüglich des Chausseewesens in ganz Preußen mit Ausnahme Schlesiens an den neu berufenen Generalchausseebauintendanten Moritz von Brühl, auch wenn sich dies in den konkreten Chausseebauprojekten nicht beobachten lässt. Der jüngste Sohn des verstorbenen sächsischen Ministerpräsidenten und Bruder des Gouverneurs des Kronprinzen, des späteren Königs Friedrich Wilhelm III., bewarb sich allem Anschein nach initiativ auf diesen bis dato nicht existenten Posten. Seine Berufung verdankte sich wohl maßgeblich seiner erfolgreichen Inszenierung als Chausseebauexperte. Inwiefern auch familiäre und sonstige, ständische Netzwerke dabei eine Rolle spielten, sei dahingestellt. So war er als Oberstleutnant in der französischen Armee mit dem Chausseewesen in Kontakt gekommen und hatte auch im Umfeld seiner sächsischen Heimat praktische Erfahrungen gesammelt. 55 Zum anderen wurde die Ernennung Brühls begünstigt durch die unbefriedigenden Ergebnisse, die bisher auf der Chaussee zwischen Berlin und Potsdam erzielt worden waren. 56 Durch die unmittelbare Verbindung zum König und die institutionelle Anbindung wäre durch Brühl – so möchte man meinen – eine Politisierung des Chausseewesens, also eine Überführung in einen diskursiven Raum über Nutzen, Ziele und Risiken des Chausseebaus, opportune Kosten und dergleichen mehr möglich gewesen. Allerdings scheinen wohl doch mehr finanzielle Überlegungen als ein spezielles Expertenethos für „Chaussee-Brühl“ handlungsleitend gewesen zu sein 57, so dass unter seiner Leitung wenig geschah. 58 Aber mehr noch: Selbst bei einem größeren Engagement Brühls stand seine Umweltwahrnehmung, die sich in großen Teilen mit dem im Magdeburger Fall skizzierten Verständnis der ständischen Obrigkeit deckte und einem vormodernen Wissenschafts- und Gestaltungsverständnis verpflichtet war, einer entsprechenden Entwicklung entgegen. Als das Chausseewesen 1809/10 reformiert wurde und dabei auch Brühls Posten abgeschafft wurde, fühlte dieser sich in seinem Selbstverständnis düpiert und „maß[te] [sich] [in diesem Zu-
55 Schulze, Generalchausseebaudepartment (wie Anm.30), 156f.; vgl. auch Liman, Chausseebau (wie Anm.19), 23f. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Schulze, Generalchausseebaudepartment (wie Anm.30), 158–161.
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sammenhang] […] unberufen [an, s]eine Stimme zu erheben“. 59 In der Folge argumentierte er gegen „das Nachteilige des collegialischen Ganges in Betracht des ChaußeeBaues“ und gleichermaßen für eine zentralistische wie technokratische Steuerung „unter der Direktion eines Mannes, der in allen Theilen der hier einschlagenden Baukunst erfahren ist“, das heißt durch einen ausgemachten ‚Experten‘, der er seinem Selbstbild nach war; er argumentierte insbesondere also auch gegen ein kommunikativ wechselwirkendes Gefüge aus Experten und Entscheidungsträgern. 60 Die Reform selbst zielte dann aber auch nicht auf Brühl als Person oder ‚Experten‘ ab – beratend blieb er dem Entscheidungsgefüge erhalten –, sondern ‚modernisierte‘ und entrümpelte die alten und überbordenden Verwaltungsstrukturen. 61 Gleichzeitig bereitete diese Reform die Neufiguration technischer Experten vor, wie sich im Folgenden noch zeigen wird. Aber auch auf anderer Ebene wurde der Schaffung eines neuen Expertentypus Vorschub geleistet: Dem eklatanten Mangel an fähigen Baubeamten, der den Chausseebau bedeutend hemmte und jenseits des neuen Chausseewesens in Preußen fast schon Tradition hatte 62, begegneten Preußen und seine Provinzen nicht nur mit der Rekrutierung von als besonders fähig angesehenen Persönlichkeiten in leitenden Positionen, sondern auch mit der Gründung der Bauakademie 1799 in Berlin. 63 Expertentum sollte in der Folge nicht mehr maßgeblich an der Persönlichkeit, sondern an einem klar formalisierten und standardisierten Wissenskanon, der in der Ausbildung vermittelt und geprüft wurde, ausgemacht werden. Hierdurch wurden technische Experten in einem breiteren Umfang für das Herrschafts-, Verwaltungs- und
59
GStA PK, I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 1, fol.2.
60
Brühls ‚Aufbäumen‘ lässt sich nachvollziehen in: ebd.fol.1–9. Tatsächlich verfasste er umfangreiche
„Freimütige Bemerkungen“ über diese Sache, ebd.fol.4–9, hier fol.4; außerdem in: GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr.28751. 61
Liman, Chausseebau (wie Anm.19), 24.
62
Eckhard Bolenz, Vom Baubeamten zum freiberuflichen Architekten. Technische Berufe im Bauwesen
(Preußen/Deutschland, 1799–1931). Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1991, 107–131. 63
Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 2, Nr.B1. Zur Ausbildung technischen Personals in
Preußen vgl. Peter Lundgreen, Die Ausbildung von Ingenieuren an Fachschulen und Hochschulen in Deutschland 1770–1990, in: ders./André Grelon (Hrsg.), Ingenieure in Deutschland 1770–1990. Frankfurt am Main/New York 1994, 13–78; Eckhard Bolenz, Baubeamte in Preußen 1799–1930. Aufstieg und Niedergang einer technischen Elite, in: Lundgreen/Grelon (Hrsg.), Ingenieure in Deutschland, 117–140, hier 124– 128.
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Entscheidungsgefüge als Ressource mobilisierbar. 64 Der ‚Staat‘ schuf sich somit in gewisser Weise seine Experten selbst. Dass sich dies nicht unmittelbar auf das Chausseewesen auswirkte, mag an drei Ursachen gelegen haben: Erstens dauert es offenkundig eine gewisse Zeit, bis eine kritische Masse an Baubeamten ausgebildet ist, um strukturell aufzufallen. Zweitens sind Strukturen oftmals träge. So kann eine gewisse Übergangszeit angenommen werden, bis der neue Expertentypus auch flächendeckend von den Mitentscheidern akzeptiert und abgerufen wurde. Schließlich bewirkten die napoleonischen Kriege ein jähes Ende für den preußischen Chausseebau, so dass dem neuen Expertentypus schlicht wenig Zeit blieb, sich zu etablieren. 2. Die Entstehung echter Experten und die Politisierung ab 1816 Als 1816 das Chausseewesen reaktiviert wurde, stellten sich die Rahmenbedingungen hierfür gänzlich anders dar: Die „defensive Modernisierung“ der preußischen Reformen hatte die Verwaltungsstruktur und so die Beziehung zwischen Zentralstaat, Provinzen, Regierungsbezirken und Kreisen vereinfacht und landesweit homogenisiert. 65 Die Abschaffung des Chausseebauintendanten kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. 66 Gleichzeitig hatte sich die preußische Monarchie territorial erweitert und damit auch das Chausseenetz einigermaßen ‚zufällig‘ vergrößert. 67 Schließlich öffnete sich mit dem Abschluss des Wiener Kongresses erneut ein politisches Möglichkeitsfenster, das auf Grundlage der Erwartung anhaltender äußerer und innerer Stabilität langfristigere Vorhaben opportun erscheinen ließ. In diesem Zuge setzte Hans Graf von Bülow 1816 den Bau eines preußischen Hauptstra-
64 Über die (soziale) Zusammensetzung des technischen Baupersonals kann im Rahmen dieser Studie keine fundierte Aussage getroffen werden. Eine entsprechende Untersuchung auf regionaler Ebene wäre sicherlich wünschenswert, steht allerdings noch aus. Einen Ansatzpunkt könnte bieten: Reinhard Strecke (Red.), Inventar zur Geschichte der preußischen Bauverwaltung 1723–1848. 2 Bde. (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bd. 7.) Berlin 2005. 65 Prägend hierfür Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München 1987. 66 Siehe Anm.61. 67 Ein Überblick zu den bestehenden Staatschausseen im Jahr 1816 findet sich bei Rudi Gador, Die Entwicklung des Straßenbaues in Preußen 1815–1875 unter besonderer Berücksichtigung des Aktienstraßenbaues. Berlin 1966, 52–54. Hier zeigt sich insbesondere der Vorsprung der westlichen Provinzen gegenüber denen im Osten der preußischen Monarchie.
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ßennetzes auf die politische Agenda. 68 Auch wenn dies nun möglich war, so war es doch nicht selbstverständlich oder gar zwangsläufig. Als mitentscheidend kann hierfür wohl Bülows spezifischer Wahrnehmungshorizont angesehen werden: So hatte er bereits während seiner Zeit als Kammerpräsident im Herzogtum Magdeburg entsprechende Verfahren administrativ begleitet. Später diente er während der vergleichsweise umfangreichen Chausseebauarbeiten unter dem Freiherrn vom Stein in Westfalen. 69 Dies führte dazu, dass er 1816 bereits gleichermaßen konkret den Nutzen kunstmäßiger Straßen beobachtet als auch praktische Erfahrungen bei deren Planung und Genehmigung gesammelt hatte. 70 Zwar hatte Bülow eine klare Vorstellung davon, welche Straßenzüge zu dem projektierten Hauptstraßennetz gehören sollten, für die konkrete Planung war er allerdings auf Zuarbeit der Baubeamten auf Ebene der Bezirksregierungen angewiesen. Bülows Aufgabe war es, in einem jährlichen Turnus Friedrich Wilhelm III. beschlussreife Anträge über die im kommenden Jahr zu bauenden Chausseen mit entsprechenden Kostenaufstellungen vorzulegen. 71 Diese mussten einerseits mit den größeren politischen Zielen, wie etwa strukturpolitischer Förderung in den östlichen Provinzen übereinstimmen, und mit den anderen Ressorts, vor allem denen des Kriegs und der Post, abgestimmt sein. Andererseits mussten die Projekte auch
68
So schrieb von Bülow am 1.Januar 1816 an Friedrich Wilhelm III.: „Nach der jetzt eingetretenen Ruhe
und festen Gründung der inneren und äußeren Verhältnisse, läßt sich erwarten, daß die bisher bestandene Hemmung der Betriebsamkeit und des Handels aufhören, und eine kräftige Belebung des Verkehrs anstehen wird. Hierzu wird aber die möglichste Erleichterung mittelst Land- und Wasserwegen erfordert, für deren Erhaltung und Erweiterung in den letzten neun Jahren nur wenig geschehen konnte. Die Vorschläge zur Verbesserung der Schiffahrt muß ich mir noch vorbehalten, weil hierzu weitläufige Vorarbeiten erfordert werden. Dagegen sind die zur Vervollkommnung der Landwege zwischen der Elbe und dem Memelstrom, und wegen der nothwendigen Verbindung dieser Wege am linken Elbufer, von mir bisher eingeleitete Ausmittelungen und Vorarbeiten soweit gediehen, daß ich mich im Stande befinde, [...] Eurer königlichen Majestät meine Vorschläge zur allerhöchsten Genehmigung vorzulegen.“ GStA PK, I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 1, fol.80. 69
Für den Magdeburger Fall zu beobachten etwa in LA SA, A7, Nr.97. Vgl. auch Jakob Caro, Bülow, Lud-
wig Friedrich Victor Hans Graf von, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 3. Leipzig 1876, 533–538. 70
Von einer möglichen Figuration von Bülows als internem, handelndem Experten wird hier Abstand
genommen, bezieht sich der gewählte Ansatz doch explizit auf Experten als Teil einer spezifischen, technisch ausgebildeten epistemischen Gemeinschaft. Zudem stellt von Bülow als Teil des Staatskabinetts dezidiert einen internen Akteur des politischen Entscheidungsgefüges dar. 71
Dieser Turnus lässt sich gerade mit Blick auf den planmäßigen Ausbau des Hauptstraßennetzes beob-
achten in GStA PK, I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 1–4. Der Turnus blieb tatsächlich in immer wieder leicht erweiterter Form aufrecht erhalten bis in die Ära von der Heydt.
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praktisch realisierbar sein. 72 Hierfür benötigte Bülow lokale Informationen. Zum einen mussten Streckenverläufe sowie die Wahl von Materialien und Bautechnik an die topographischen und geologischen Lokalbedingungen angepasst werden. Zum anderen hätte – auch bei unbegrenzten finanziellen Mitteln – aufgrund anderer einschränkender Faktoren baupraktischer Natur nur ein begrenztes Teilstück einer Strecke abgeschlossen werden können. Schließlich bedurfte es einer die jeweiligen regionalen Bedingungen berücksichtigenden Kostenkalkulation. All dies vermochten die Baubeamten Bülow in Form von standardisierten Anschlägen zu liefern; entsprechende Formulare fanden sich in den Anweisungen für die Baubediensteten. 73 Gerade diese Standardisierung (maßgeblich beruhend auf den Allgemeinen Reglements und Spezial-Instruktionen der Frühphase) 74 erlaubte es, technisch komplexe Sachverhalte für Laien verständlich aufzubereiten. Die enthaltenen Informationen sind dann, soweit feststellbar, ohne weitere Prüfung in die Anträge Bülows eingeflossen, der diese entlang politischer Opportunitäten und finanzieller Möglichkeiten zusammenstellte. (Die Oberbaudeputation blieb weiterhin prüfend beteiligt; formale Mängel und somit ein Einschreiten dieser ‚Expertenbehörde‘ blieben aber eine Seltenheit). Schließlich oblag es Friedrich Wilhelm III. über die Anträge zu entscheiden, wobei seine Entscheidungen nicht selten politisch motivierte Anpassungen beinhalteten. 75 Die technischen Daten sowie die daraus resultierenden Kostenstrukturen wurden über den politischen Entscheidungsprozess hinweg als gegeben angenommen. Dass die Baubeamten als regional verankerte Akteure eine eigene Agenda verfolgt haben könnten, wurde hierbei nicht problematisiert. Vielmehr erschienen die technischen Informationen selbst als objektiv gegeben. Die Überführung topographischer Gegebenheiten in standardisierte Formulare, die gleichermaßen durch die Oberbaudeputation überprüfbar und für die Entscheider verständlich waren, wurde wohl weiterhin als Ableitungspraxis verstanden. Sowohl die Anschläge als auch die
72 Zu den Zielen vgl. Müller, Infrastrukturpolitik (wie Anm.14), 199–238. 73 Etwa dem von 1816 siehe GStA PK, I. HA, Rep. 93 D, Nr.935, fol.135–149, Formulare ab fol.148. 74 Zwar wurden 1814 und 1816 sowie in der Folge einigermaßen regelmäßig (etwa im Zehn-JahresRhythmus) neue Anweisungen erlassen. Gerade die frühen bauten aber augenscheinlich stark auf denen der Frühphase auf, siehe ebd.fol.41–48 (Jahrgang 1814), 135–149. 75 Beispielhaft sei hier die Streckenführung der Chaussee Berlin-Breslau genannt, die Friedrich Wilhelm III. in Abweichung vom durch Bülow in Abstimmung mit der Militärverwaltung projektierten Verlauf abändern ließ; GStA PK, I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 1, fol.97–101, 103, 111f., 118–121.
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Baubeamten wurden somit einer Reflexion hinsichtlich einer möglicher Einflussnahme entzogen. 76 Auch wenn das Verständnis von Wissens- und Informationsgenese und somit das grundsätzliche Bild vom technischen Baubeamten zunächst noch im Wesentlichen unverändert blieben, so hatte sich doch die Einbettung in das Entscheidungsgefüge maßgeblich geändert: Gerade die standardisierten Formulare erlaubten eine beidseitig verständliche Kommunikation zwischen dem technisch geschulten Baupersonal und den politisch Verantwortlichen. 77 Durch den aktiven Rückgriff auf die Baubeamten der Bezirksregierungen zur Informationsbeschaffung entstanden so im Entscheidungsgefüge nun technische Experten im eigentlichen Sinne. 78 Dies wiederum ermöglichte erst den dezidiert politischen Zugriff auf den Chausseebau – oder erleichterte diesen maßgeblich: Indem Projekte untereinander vergleichbar und gegeneinander abgewogen werden konnten, stellten die bereitgestellten technischen Informationen die Grundlage dafür dar, einen politischen Entscheidungsraum zu kreieren. Trotz der mittlerweile standardisierten Ausbildung technisch geschulten Personals stellte der Personalmangel nach wie vor ein großes Problem für das preußische Chausseewesen dar: Während Friedrich Wilhelm III. als (Mit-) Entscheider und Vetospieler auf eine strukturpolitische Ausrichtung des Chausseewesens drängte 79, fehlte es gerade in diesen weniger erschlossenen Gegenden tendenziell an entsprechend geschulten, erfahrenen und „tüchtigen Baubeamten“. 80 Diese ungleiche Verteilung von Experten kann als ein Grund vermutet werden, warum entgegen der politisch vorgegebenen Stoßrichtung das Gros der Chausseebauvorhaben zunächst in den in gewerblicher und infrastruktureller Hinsicht entwickelteren Gegenden Preu-
76
Vgl. hierzu Sieger/Gräfenberg, Informationen (wie Anm.29), 341–343.
77
Vgl. Peter Becker/William Clark (Eds.), Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and
Bureaucratic Practices. Ann Arbor 2001. 78
Peter Collin, Die Organisation der binnenadministrativen Kommunikation in der preußischen Verwal-
tung des 19.Jahrhunderts, in: Peter Becker (Hrsg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20.Jahrhunderts. Bielefeld 2011, 335–359, hier 349, betont die Bedeutung einer wechselseitigen Kommunikationsbeziehung auch innerhalb hierarchisch organisierter, vertikaler Strukturen. Gerade die Informationsbeschaffung der subalternen Verwaltungseinheiten für die Verwaltungsspitzen stellt demnach einen elementaren Bestandteil bei der Erarbeitung von Gestaltungsprogrammen für die Verwaltungsspitzen dar. 79
Zur strukturpolitischen Ausrichtung vgl. Müller, Infrastrukturpolitik (wie Anm.14), 212–223, 228–
233; siehe auch GStA PK, I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 1, fol.285. 80
86
Vgl. etwa. GStA PK, I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 3, fol.192.
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ßens stattfand. 81 Friedrich Wilhelm III. zeigte sich hierbei regelrecht frustriert über die Diskrepanz der Baukosten pro Chausseemeile in den unterschiedlichen Provinzen, führte sie doch dazu, dass er aus finanzpolitischem Kalkül von seiner eigentlichen Linie abweichen ‚musste‘. 82 Aber selbst in den besser erschlossenen Gebieten herrschte ein akuter Mangel an Experten, so dass es nicht gelang, auf als besonderes wichtig erachteten Streckenzügen die notwendigen Anschläge rasch anzufertigen. Als besonders problematisch erwies sich die Situation beim Bau der Großen Rheinstraße, die die Elb- und Rheinprovinzen miteinander verbinden und so die Grundlage für die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschafts- und Verwaltungsraums, mithin eines modernen Flächenstaates, schaffen sollte. 83 Wegen topographischer Widrigkeiten auf einer potentiellen nördlichen Trasse durch das Hannover’sche und andauernder Verhandlungen mit Hessen bezüglich einer alternativen südlichen Trasse stagnierte die Planung des entsprechenden Chausseeabschnitts im östlichen Westfalen. 84 Mit der prekären finanziellen Situation der Staatsfinanzen um 1820 und der damit einhergehenden Öffnung des staatlichen Chausseebaus für private Investoren ergaben sich für eben diese Akteursgruppe neue Gestaltungsmöglichkeiten im Chausseewesen. So erbot sich 1821/22 Kaspar Heinrich von Sierstorpff, der in Bad Driburg das Kurbad betrieb, an diesem Ort einen Teilabschnitt der nördlichen Trasse auf Kredit für den Staat zu bauen. Der Abschnitt beinhaltete auch die Passage über den dortigen Stellberg, die als besonders aufwendig angesehen wurde. Entsprechend attraktiv musste das Angebot auf die zentralstaatlichen Akteure wirken, und so wurden auch entsprechende Maßnahmen ergriffen. Insbesondere wurde ein Bauinspektor dafür abgestellt,
81 Zu Umfang und Dichte des Chausseenetzes vgl. Müller, Infrastrukturpolitik (wie Anm.14), 457–459. Für die Phase zwischen 1816 und 1829 instruktiv auch der Geheime Rechnungsrat Horstmann, Ueber die Fortschritte des Chausseebaues im preußischen Staat während der Jahre 1816 bis 1829 einschließlich, in: Verhandlungen des Vereins zur Förderung des Gewerbefleißes in Preußen 9, 1830, 242–250. 82 Diese Entwicklung spitzte sich bei der Verwendung eines Etats aus der königlichen Spezialkasse zu, die in der Folge der Konsolidierung der Staatsschulden 1820 im Jahr 1822 notwendig wurde. Vgl. den entsprechenden Planungsprozess des Jahres 1821 in GStA PK, I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 3, fol.179–183, 188–193, 197–199, 203f., 228–230. Besonders erwähnenswert erscheint hier die Partizipation des gesamten Staatskabinetts. 83 1817 wurde diese in den (damals noch impliziten) Plan des Hauptstraßennetzes aufgenommen und so auf die politische Agenda gesetzt; GStA PK, I. HA, Rep. 74, K XVI, Nr.1, Bd. 1, fol.106–109. 84 Hierzu wie zu dem gesamten Bauvorhaben mit einem Fokus auf dem westfälischen Teil der Straße: GStA PK, I. HA, Rep. 93 B, Nr.3755, unpag.
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Sierstorpffs Angebot in formalisierte und somit beschlussreife Baupläne und Anschläge zu überführen. Hierdurch war allerdings bereits eine wesentliche Vorentscheidung getroffen: War der Baubeamte erst nach Bad Driburg abgestellt, so war eine Durchführung des Baus mindestens wahrscheinlich und somit auch eine Entscheidung für die nördliche Alternative (auch wenn später die südliche Trasse ins Hauptstraßennetz aufgenommen wurde und die nördliche nur als Nebenstraße fungierte). 85 Bei der Planung der Straße selbst, konkret der Passage über den Stellberg, trat nun auch für die Zeitgenossen der Interpretationsspielraum, der bei der Überführung örtlicher Gegebenheiten in standardisierte Anschläge und Baupläne entstand, offen zutage. Trotz der formalen Korrektheit des Anschlags lehnte nämlich die revidierende Behörde der Bezirksregierung den auf Sierstorpffs Vorstellungen beruhenden Anschlag ab und veranlasste eine neuerliche Begehung durch einen ihrer Bauräte. Zwar waren sich beide Seiten – also Sierstorpff und die königliche Regierung in Minden – bei der Analyse der örtlichen Gegebenheiten einig darüber, dass einerseits die Steigung der bisherigen Streckenführung von 20 Zoll pro Rute zu steil für die neue Chaussee sei und andererseits das übliche Maß von 8 Zoll pro Rute überschritten werden musste. Während Sierstorpff nun unter Verweis auf Einsparungen insbesondere bei notwendigen Enteignungen für eine kürzere, steilere Streckenführung plädierte, argumentierte die verantwortliche Behörde mit Blick auf schweres Fuhrwerk für eine flachere und folglich längere Streckenführung. Beides waren zunächst grundsätzlich innerhalb des staatlich verfolgten Chausseebauregimes wichtige zu beachtende Ansprüche an Chausseeneubauten. Infolgedessen wurde eine neuerliche Ortsbegehung durch einen Baurat anberaumt, auf deren Grundlage neue Pläne und Anschläge entstehen sollten. 86 Dass der preußische Staat hier einen nicht unwesentlichen Aufwand betrieb, um Sierstorpffs formal wohl haltbaren Antrag durch eine Ortsbegehung (und nicht nur anhand der Aktenlage) zu revidieren, spiegelt einerseits die vorherrschende Skepsis der politischen Entscheider in Berlin gegenüber Privatunternehmern wider und zeigt andererseits die maßgebliche Bedeu-
85
Siehe hierzu die Karte im Anhang von Horstmann, Chausseebau (wie Anm.81).
86
Gültig waren zu dem Zeitpunkt: o. A., Anweisungen zur Anlegung, Unterhaltung und Instandsetzung
der Kunststraße. Berlin 1816, zu finden in: GStA PK, I. HA, Rep. 93 D, Nr.935, fol.135–150. Diese Anweisungen beinhalten auch die Formulare zur Erstellung der Anschläge und sonstiger Bau- und Unterhaltsbelange.
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tung, die den Experten vor Ort hinsichtlich der Situationsdefinition konkret zukam, respektive die inhaltlich-fachliche Kompetenz, die ihnen staatlicherseits zugeschrieben wurde. 87 Vor allem zeigt dies aber auch einen grundlegenden Wandel hinsichtlich der Wahrnehmung von Informationen, nämlich als einer spezifischen Interpretation der Umwelt, was wiederum zu einer Veränderung des Aufgabenprofils und der Einbettung des Experten führte. Durch die Binnendifferenzierung der Experten konnte diesem neuen Verständnis von Informationen Rechnung getragen werden: Auf der einen Seite oblag es dem Bauinspektor nach wie vor, Anschläge auf der Grundlage örtlicher Gegebenheiten zu erstellen. Hierbei handelte es sich aber nicht mehr um eine eindeutige Ableitungspraxis, sondern vielmehr um eine Art ‚Dienstleistung‘, die sowohl der Topographie (und den entsprechenden Reglements) als auch den artikulierten Vorstellungen des ‚Auftraggebers‘ gerecht werden sollte. Dem Bauinspektor stand auf der anderen Seite mit dem Baurat ein Experte gegenüber, der vermochte, die Anschläge entsprechend zu lesen und dahingehend zu interpretieren, welche Ziele durch die jeweils projektierte Trasse verfolgt wurden, sowie schließlich dies den Entscheidungsträgern verständlich darzustellen. 88 Entsprechend änderte sich auch die Wahrnehmung auf die Wirkungsweise von Normen. Statt einer determinierenden wurde ihnen nun eine präjudizierende Wirkung zugeschrieben. 89 Aber nicht nur die Wirkung von Normen, sondern die Normen selbst erfuhren einen grundlegenden Wahrnehmungswandel seitens der politischen Entscheidungsträger. Dem Bewusstsein dafür, dass auch technische Normen einen gewissen Interpretationsspielraum zuließen, folgte die Erkenntnis, dass ihre Setzung nicht universellen Regeln und Kriterien entsprang, sondern wiederum von spezifischen Umweltbedingungen abhing. So sollten die 1834 neu aufgelegten
87 Zum zeitgenössischen Unternehmerbild vgl. Klaus J. Hopt, Ideelle und wirtschaftliche Grundlagen der Aktien-, Bank- und Börsenentwicklung im 19.Jahrhundert, in: Helmut Coing/Walter Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts um 19.Jahrhundert. Bd. 5: Geld und Banken. Frankfurt am Main 1980, 128–168; Sonja Scheffler, Das Bild des Unternehmers im Spiegel der Gewerbepolitik im nachnapoleonischen Preußen. (Volkswirtschaftliche Analysen, Bd. 15.) Frankfurt am Main 2009, insbes. 212–215. 88 Hier tritt dann der von Collin, Kommunikation (wie Anm.78), 353–355, angesprochene Netzwerkcharakter der inneradministrativen Kommunikation erstmals (?) offen zutage. 89 In der Sprache der Luhmann’schen Systemtheorie ließe sich sagen: Normen erfuhren eine Umdeutung von Handlungsprogrammen (Luhmann selbst spricht von Entscheidungsprogrammen. Da es sich hier nicht im eigentlichen Sinne um Entscheiden handelt, wird hier die Terminologie nicht geteilt) zu Entscheidungsprämissen. Vgl. Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung. 3.Aufl. Wiesbaden 2011, 222–278.
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Instruktionen „den jetzigen Bedürfnissen“ angepasst werden. 90 Dies wirkte sich auf die Erstellung der entsprechenden Verordnungen aus, bei der nun das technische Personal zusehends in der Rolle des Experten auftrat: 1842 erfolgte eine Revision der technischen Vorschriften, insbesondere der Mindestbreite und der maximal zulässigen Steigung. 91 Mittlerweile war auch auf politischer Ebene das Bewusstsein dafür geschärft, dass es hier durchaus sehr unterschiedliche Auslegungen geben konnte und gegeben hatte. Anlässlich der Überarbeitung und Neuausrichtung – der Chausseebau war zunehmend unter ein handelspolitisches Paradigma gestellt worden 92 – forderte nun der zuständige Finanzminister Ernst von Bodelschwingh bei den Bezirksregierungen Berichte ein, die einerseits die Bandbreite der gebauten Steigungen in den gebirgigen Regionen ihres Bezirks abbilden sollten und andererseits um eine entsprechende Stellungnahme zu den gemachten Erfahrungen angehalten wurden. Diese wurden schließlich wiederum zusammengefasst und gegenübergestellt und dienten in dieser komprimierten Form als Entscheidungsgrundlage für die Setzung neuer chausseebauspezifischer Reglements. Diese vollumfängliche Einbindung der Baubeamten als Experten, nämlich sowohl auf der materiellen als auch normativen Ebene der Politikgestaltung, ist ein starkes Zeichen dafür, dass sich mittlerweile ein geteilter Wahrnehmungshorizont eingestellt hatte, der auch kommunikativ vermittelbar war. Dies kann als wesentliches Merkmal für die Etablierung eines genuinen Politikfeldes angesehen werden. Es offenbart sich somit, dass Expertise – aus Sicht des zunehmend professionalisierten Staates mit seinen funktional differenzierten Ministerien und Behörden – nun nicht mehr allein durch die Fähigkeit ausgemacht wurde, auf der Grundlage topographischer Gegebenheiten Baupläne zu erstellen, sondern auch darin bestand, diese im möglichsten Interesse des Staates zu prüfen und zu gestalten. Wie andere Fälle – auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann – mehr noch als dieser zeigen, geht es hier nicht darum, politische Entscheidungen vorwegzunehmen, sondern die bestehenden Alternativen, also auch die der privaten Unternehmer, für die Entscheider mit ihrem Für und Wider verständlich zu machen. 93 Die soziale und
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GStA PK, I. HA, Rep. 89, Nr.28745, fol.2.
91
Hier und im Folgenden: ebd.Nr.28770, unpag.
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Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik (wie Anm.14), Kapitel „Handelspolitische Ziele“.
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So geschehen etwa beim nicht realisierten Chausseeprojekt des Grafen von Westphalen durch das ost-
westfälische Aftetal, GStA PK, I. HA, Rep. 93 B, Nr.3758, unpag.
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kulturelle Einbettung der Baubeamten in regionale Kontexte und folglich entsprechend bedingte Wahrnehmungshorizonte wurden allerdings nach wie vor nicht problematisiert und den Experten somit eine eigene Agenda implizit abgesprochen. Die Persönlichkeit fiel – zumindest kommunikativ – gänzlich hinter die Rolle des Beamten zurück. 94
V. Fazit Die heute trivial anmutende Feststellung, dass die Entstehung und Entwicklung des Chausseewesens in materieller und politischer Hinsicht maßgeblich von der Existenz und Einbindung technischer Experten abhing, erscheint – wie das Vorangegangene gezeigt hat – aus historischer Perspektive alles andere als selbstverständlich. So schufen erst der artikulierte Wille, Chausseen zu bauen, und in der Folge das Scheitern eines ersten Projekts ein tiefergehendes Bewusstsein im ständisch geprägten Herrschaftsgefüge für die Notwendigkeit technischer Expertise bei der erfolgreichen Implementierung des Chausseebaus in Preußen. Die darauffolgenden Entwicklungen zeichnen ein Bild wechselseitiger Beeinflussung der Entstehung und Entwicklung technischer Experten und ihrer jeweiligen Figuration auf der einen Seite und der vorherrschenden politischen Kultur auf der anderen Seite. Elementar für die Politisierung des Chausseewesens und in der Folge die Herausbildung eines eigenen Politikfelds erscheint überhaupt erst die Aufnahme von Experten (im eigentlichen Sinne eines Lieferanten von spezifischen Informationen) in das Herrschafts- respektive Entscheidungsgefüge. Hierbei hat sich gezeigt, dass das preußische Chausseewesen im Allgemeinen und die Rollen und Figuration des Experten im Großen und Ganzen ähnliche Konjunkturen und Zäsuren durchlebten. Insbesondere lässt sich – nicht gänzlich unerwartet – 1815/16 als bedeutende Zäsur identifizieren. Gerade hinsichtlich des Exper-
94 Dies hatte möglicherweise mit dem zugrundeliegenden Rollenverständnis des preußischen Beamten zu tun. Vgl. hierzu Andreas Fahrmeir, Beamte oder Persönlichkeiten? Kommunikation mit den Spitzen der Verwaltung des 19.Jahrhunderts in deutschen Staaten und in England, in: Becker (Hrsg.), Sprachvollzug im Amt (wie Anm.78), 209–217. Es ist denkbar, dass eben dieses Rollenverständnis, in dem die Persönlichkeit hinter die Rolle des Beamten zurückfällt, für das Vertrauen, das Collin, Kommunikation (wie Anm.78), 353–355, als konstitutiv für die Entstehung der inneradministrativen Kommunikationsnetzwerke ansieht, grundlegend war.
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ten als Akteur im Politischen stellt dieser Schnitt aber keine „Stunde Null“ dar. Vielmehr wurden weit vor 1816 wesentliche Grundlagen geschaffen, auf die mit dem Beginn eines gänzlich neuen Chausseebauregimes ab 1816 (einigermaßen selbstverständlich) zurückgegriffen wurde; zu nennen sind hier die Formalisierung durch die Allgemeinen Reglements und Instruktionen für Baubedienstete, der strukturelle Aufbau von entsprechenden Kommissionen bzw. Abteilungen sowie die Schaffung eines neuen Ausbildungssystems. Grundsätzlich kann die 1816 einsetzende und mit der Integration privatwirtschaftlicher Akteure sich verstärkende Neufiguration des Experten – ebenso wie die langfristig damit einhergehende Reflexion und Umdeutung von Normen – als wesentliche Voraussetzung für die politische Willensbildung entlang konkreter inhaltlicher Problemstellungen im Chausseewesen, mithin die Entstehung eines genuinen Politikfelds, angesehen werden. Maßgeblich erscheinen hier auf der Ebene der Modi die verfahrensförmige Integration des Experten in den Entscheidungsprozess und auf der Ebene der Narration die Integration des epistemischen Wahrnehmungshorizonts in Form der Anschläge und Baupläne. Grundlage hierfür bildete die Schaffung genuiner Fachverwaltungen im Rahmen der preußischen Reformen. Allerdings: Erst das Abweichen von einem technokratisch-deterministischen Weltbild und das Loslassen eines hierin fest verorteten ‚handelnden Experten‘ erlaubten die Öffnung eines kontingenten Möglichkeitsraums, der sich dem Politischen (als kommunikativem Raum) als zugänglich erwies und durch den neuen Expertentypus strukturiert und somit handhabbar wurde. Die Ursprünge des Experten im preußischen Chausseewesen waren bestimmt von einem hohen Maß an Wissenschaftspositivismus und einem umgreifenden Planungsparadigma. Technisches Personal wurde hierbei gewissermaßen als Automat gedacht, der auf der Grundlage universeller, wissenschaftlich fundierter Naturgesetze und allgemeiner Prinzipien den herrschaftlichen Willen umsetzte und in Form von Chausseen materialisierte. Seine Aufgabe bestand einerseits in der Erstellung allgemeiner Reglements auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und der entsprechend aus den Reglements und örtlichen Gegebenheiten abgeleiteten Planung neuer Chausseen. (Die praktische Umsetzung vor Ort erforderte zwar technisch geschultes Personal, das aber nicht als Experten anzusehen ist.) Durch diesen Blick auf die Welt wurde das Chausseewesen de facto der Sphäre des Politischen und so im Prinzip weitestgehend dem herrschaftlichen Entscheiden entzogen; entsprechend wurden weder im Politischen noch im herrschaftlichen Entscheiden (techni-
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sche) Experten eingebunden. Es blieb einzig die Entscheidung, dass beziehungsweise ob eine Chaussee zwischen zwei Orten zu bauen sei. Alles Weitere oblag der Zuständigkeit des entsprechenden technischen Personals. Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen – war die Genese von Expertise und Experten hochgradig ‚vormodernen‘ und ständischen Modi unterworfen. War der Chausseebau selbst in der zeitgenössischen Wahrnehmung nicht entscheidbar, so liegt es nahe, dass Personalentscheidungen für die ‚Herrschenden‘ der ‚natürliche‘ Zugriff auf die technische Sphäre waren. Auch wenn die Inklusion teils nichtständischer Akteure – wie Stegemanns – ins ständisch geprägte Entscheidungsgefüge nicht reflektiert wurde, so hingen Expertise und Expertentum doch stark an der jeweiligen Persönlichkeit. Die einsetzende Professionalisierung und Entpersonalisierung infolge der Formalisierung und Standardisierung der Ausbildung der Baubeamten mit der Gründung der Bauakademie spiegeln sich in den konkreten Entscheidungssituationen noch nicht wider. Die Neuausrichtung des Chausseewesens nach 1816 mit dem Fokus auf ein flächendeckendes Hauptstraßennetz unter zentralstaatlicher Regie ging mit einer Neufiguration vom handelnden zum beratenden Experten einher. Diese baute maßgeblich auf der schon vor 1816 angestoßenen Professionalisierung und Formalisierung auf. Nunmehr ‚persönlichkeitslose‘ Baubeamte lieferten verständliche, vergleichbare und relevante Informationen zur Planung des Hauptstraßennetzes und der jeweiligen jährlichen Schritte. In Form standardisierter Anschläge und Baupläne überführten sie die technisch komplexen Lokalbedingungen auf der Grundlage ihres epistemischen Wahrnehmungshorizontes in eine auch Laien zugängliche Darstellung und machten so technische Fragen einer politischen Kommunikation erst zugänglich. Hierdurch änderte sich aber auch die Wahrnehmung der entscheidenden Laien: Sie betrachteten projektierte Chausseen nun nicht mehr nur im Hinblick auf ihren erwarteten Nutzen, sondern auch in Relation zueinander. Erst dies ermöglichte eine Politisierung des Chausseewesens. Konkurrierende Ziele konnten und mussten nun politisch gegeneinander abgewogen werden, was sich konkret entlang der Konfliktlinie zwischen struktur- und finanzpolitischem Kalkül manifestierte. Dieser neue Expertentypus öffnete allerdings nicht nur den Entscheidungsraum für die politischen Entscheider durch seine Expertisen, sondern limitierte ihn auch. Durch den grundsätzlichen Mangel an Experten und ihre örtliche Gebundenheit konnten nicht alle politisch opportunen Chausseestrecken gleichermaßen projektiert werden. Experten wirkten somit nicht nur durch ihren in Form
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von Anschlägen und Bauplänen materialisierten epistemischen Wahrnehmungshorizont, sondern auch als knappe Ressource auf das Entscheidungsgefüge ein. Mit der Inklusion privater Gewerbetreibender und insbesondere infolge deren fortschreitender Emanzipation in einem zunehmend offenen Kampf um die Deutungshoheit in Fragen technischer Machbarkeit und politischer Sinnhaftigkeit von Straßenbauvorhaben und ihrer Kosten und Regulierungen ging eine neue Anpassung der Rolle des Experten einher. Hierbei lässt sich erstmals eine Reflexion des Interpretationscharakters der technischen Begutachtungen feststellen, war dies doch vorher als Ableitungspraxis wahrgenommen worden. Dies bringt eine graduelle Neuausrichtung des neuen Expertentypus mit sich. Baubeamte fungieren nun als Agenten des Staates, die einerseits private Anschläge begutachten und andererseits hierzu Alternativen formulieren. Es war nun nicht mehr ihre Aufgabe, implizit Entscheidungsräume zwischen Projekten zu konstituieren, indem sie diese politisch vergleichbar machten. Vielmehr zeigten sie nun innerhalb der jeweiligen Projekte den Raum des technisch Möglichen und formal Zulässigen – beziehungsweise Vertretbaren – für die politischen Entscheider (und technischen Laien) auf und machten die Projekte somit selbst politisch entscheid- und gestaltbar. Den (vorläufigen) Abschluss der Entwicklung bei der Herausbildung eines Politikfelds als stabilem Entscheidungsrahmen stellt die darauffolgende Neudeutung von Normen dar. Indem diese zunächst präjudizierend statt determinierend, später auch situativ statt universell wirkend betrachtet wurden, ermöglichte dies einen politischen (statt technokratischen) Zugang zur Normsetzung und schließlich den Einbezug technischer Experten in die normative Politikgestaltung.
Der Beitrag ist im Rahmen des Promotionsprojekts des Autors zur Entstehung moderner Politikgestaltung und der Ausdifferenzierung moderner Politikfelder anhand des preußischen Chausseewesens im ausgehenden 18. und 19.Jahrhundert entstanden. Dieses ist, unter der Leitung von Ulrich Pfister, Teil des DFGgeförderten SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ in Münster. Ein besonderer Dank gilt den dort eingerichteten Arbeitsgruppen „Politisches Entscheiden“ und „Experten und Entscheiden“, die einen anregenden Diskussionsrahmen für die hier vorgestellten Überlegungen boten.
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Akademisches Expertenwissen als Ressource für die Politik Die „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ als Think Tank der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik von Agnes Laba
I. Einleitung Für das ausgehende 19. und frühe 20.Jahrhundert sind Professionalisierungs-, Spezialisierungs- und Differenzierungsprozesse in der Politik feststellbar, in denen Expertenwissen zum integralen Bestandteil der (Außen-) Politik wurde. Zu Trägern dieses Expertenwissens und somit zu den Experten wurden dabei Menschen, die über ein spezialisiertes, zumeist akademisches Wissen, und damit verbunden über gewisse spezifische Kenntnisse verfügten 1, die sie der Politik zur Verfügung stellten. Eine besondere Gruppe von Experten, die so ihren Weg in die Nähe von politischen Macht- und Entscheidungszentren fanden, stellten dabei Personen dar, die den Osten Europas erforschten. Nicht erst im Kalten Krieg waren Kenntnisse über diejenigen Länder gefragt, die sich (dann) auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs befanden. Bereits während des Ersten Weltkrieges, nach der deutschen Kriegsniederlage und dem Friedensvertrag von Versailles und schließlich im Zuge der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges nahmen sogenannte Ost-Experten wichtige Funktionen in Politiknähe, meist im Umfeld des Außenministeriums ein und wurden auf diese Weise für eine bestimmte Zeitspanne, in einem bestimmten Kontext oder gar vor dem Hintergrund einer spezifischen (außen)politischen Aufgabe bzw. Problemlage zu externen Experten der Politik. Akademische Fachdisziplinen wie Geschichte, Sprachwissenschaften, Geographie und Kartographie erhielten so eine besondere politische Bedeutung. Sie begleiteten politische Ereignisse wie die Ostexpansion während des Ersten Weltkrieges, indem sie etwa Wissen über die okkupierten Gebiete im Osten 1 Jan Kusber, Expertenkulturen im Wandel. Osteuropaexperten und Politik im 20.Jahrhundert, in: Osteuropa 67, 2017, 59–66, hier 60.
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-005
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Europas für die Verwaltungen der Okkupationsbehörden aufbereiteten. 2 Sie versahen die veränderten politischen und territorialen Gegebenheiten in Folge der Kriegsniederlage von 1918/19 mit neuen Sinn- und Bedeutungsgehalten, was letztendlich entscheidend zur Etablierung und Aufrechterhaltung des deutschen Revisionsgedankens der Zwischenkriegszeit beitrug, und sie beteiligten sich, wie in diesem Artikel am Beispiel der Publikationsstelle Berlin-Dahlem aufgezeigt werden soll, im Sinne des Schlagwortes der „kämpfenden Wissenschaft“ 3 an der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik. Unter dem Schlagwort der „kämpfenden Wissenschaft“ etablierte sich in der Zwischenkriegszeit ein spezifisches Selbstverständnis unter den führenden Wissenschaftlern als politikberatende und -zuarbeitende Instanzen, die – so der allgemeine Grundtenor unter den Fachwissenschaftlern – trotz aller für sich proklamierten wissenschaftlichen Objektivität ihre Forschung im Sinne der Revision des Versailler Friedensvertrags und der Leitlinien der nationalsozialistischen Ideologie ausrichteten. Wie Arbeiten zur Geopolitik, zu Karl Haushofer oder zur Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung aufgezeigt haben 4, nahm die Entwicklung einer engen Zusammenarbeit zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen Politik und Wissenschaft bereits in den 1920er Jahren ihren Anfang. Dies äußerte sich nicht nur in der Gründung zahlreicher, zum Teil offen und zum Teil verdeckt staatlich finanzierter Institute und Zentren und in der Finanzierung von Buchpublikationen und Karten seit den 1920er Jahren. Führende Wissenschaftler wie der Geopolitiker Karl Haushofer oder der Geograph Albrecht Penck gerieten in die Nähe von politischen Entscheidungszentren und wurden so zu Teilhabern an politischen Entscheidungsfindungsprozessen. Die Vorbedingung ihrer Funktion als Experten für die Politik war dabei der Bedarf an Wissen über Fragestellungen, die die tagespolitische Agenda
2 Zur Rolle der Landeskundlichen Kommission für das Generalgouvernement Warschau als Expertenkommission zur Generierung von Wissen über die während des Ersten Weltkrieges vom Deutschen Reich besetzten Gebiete, die seit den Teilungen Polens unter Vorherrschaft des Zarenreiches gestanden hatten, vgl. Agnes Laba, Im Dienst der Expansion. Polenforschung im Ersten Weltkrieg, in: Osteuropa 67, 2017, 97– 105. 3 Zu den Diskussionen und Ideen, die hinter diesem Schlagwort steckten, vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten. Göttingen 2000. 4 Zur Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung vgl. Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“ Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933. Bochum 1994.
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bestimmten, über welches sie verfügten bzw. welches sie gezielt generieren und aufbereiten konnten. Bezeichnend war dabei, dass sie zwar eine gewisse Nähe zur Politik einnahmen, dass sie jedoch in der Regel nicht zu internen Mitgliedern von politischen Entscheidungszentren wurden. Ihr Status war derjenige von externen Experten, wobei sie in der Regel in institutionelle Kontexte eingebunden waren, zumeist Forschungsinstitute, Stiftungen, Universitäten etc., die auf finanzielle und/ oder strukturelle Art und Weise an die Politik rückgekoppelt waren. Während die Rolle von Institutionen wie der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig oder Einzelpersonen wie dem Geopolitiker Karl Haushofer von der Forschung mittlerweile ausgeleuchtet worden sind, stellt die Rolle, die die Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte) insbesondere innerhalb der Expansions- und Vernichtungspolitik im Osten Europas nach 1939 gespielt hat, in weiten Teilen noch ein Forschungsdesiderat dar. Ausgehend von der These, dass die PuSte die akademische Expertise für die Ostexpansion und den Völkermord der Nationalsozialisten lieferte, ja zu einem zentralen Think Tank der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik im Osten Europas wurde, in dem die Grundlagen für die sogenannte „völkische Flurbereinigung“ 5 erarbeitet wurden, jenem euphemistisch benannten Vorgang, der die rassistische Neuordnung Ostmitteleuropas umschrieb, soll im Folgenden aufgezeigt werden, inwiefern die PuSte und ihre Mitarbeiter nicht nur zu den „Vordenker[n] der Vernichtung“, sondern auch zu deren Verwaltern gezählt werden müssen. 6 Dabei soll danach gefragt werden, wie die PuSte und ihre Mitarbeiter sich als externer Expertenkreis für die Politik etablieren konnten und wie die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik in diesem Zusammenhang gestaltet war. In dieser Hinsicht soll der Artikel einen Beitrag zum Verständnis des Verhältnisses von Politik und Wissenschaft während des Zweiten Weltkrieges sowie zum Selbstverständnis führender Wissenschaftler in diesem Kontext und nicht zuletzt zur Funktion von akademischem Expertenwissen sowohl für die Politik als auch die Wissenschaft selbst leisten.
5 Michael Wildt, Völkische Neuordnung Europas, in: Themenportal Europäische Geschichte 2007, https://www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3332 (14.9.2018). 6 Vgl. Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Hamburg 1990.
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II. Expertise im Sinne der Revision des Versailler Friedensvertrags – Die Gründung der Publikationsstelle Berlin-Dahlem im Jahr 1931 Die Gründung der Publikationsstelle Berlin-Dahlem im Jahr 1931 ging auf die Initiative Albert Brackmanns (1871–1952) 7 zurück, der als Generaldirektor der preußischen Staatsarchive seit 1929 das Preußische Geheime Staatsarchiv leitete. Damit reihte sich die Gründung der PuSte in eine Reihe von Instituts- und Zentrumsgründungen ein, die seit den 1920er Jahren stattfanden und gespeist waren von einem geistigen Klima zahlreicher führender Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen und Vertreter von Bildungs- und Kultureinrichtungen, in welchen die Kriegsniederlage im Ersten Weltkrieg und die Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles als unrechtmäßig und ungerecht behandelt wurden. Die wissenschaftliche Beweisführung für die (vermeintliche) Unzulässigkeit der Vertragsbestimmungen wurde dabei als eine zentrale Aufgabe der deutschen Wissenschaft angesehen – eine Aufgabe, der, so auch Brackmann, die deutsche Wissenschaft seit 1919 nicht gerecht geworden sei, ein Manko, das die PuSte in seinen Augen ausgleichen konnte und sollte. Den so beschworenen Unzulänglichkeiten deutscher Wissenschaft stellte Brackmann die „Wissenschaftspropaganda“ polnischer Wissenschaftler gegenüber. 8 Polen, das in Folge des Friedensvertrags von Versailles zahlreiche territoriale Zugewinne aus ehemals deutschen Gebieten verzeichnen konnte, wurde in der Zwischenkriegszeit innerhalb der deutschen Diskurse zum regelrechten Staatsfeind Nr.1 stilisiert. Innerhalb dieser Argumentationszusammenhänge hatte nicht nur der polnische Staat sich, so der Grundtenor, vermeintlich auf Kosten von Deutschlands Staatsterritorium unrechtmäßig an Gebieten wie dem Industrierevier in Oberschlesien bereichert. Ferner attestierten zahlreiche deutsche Wissenschaftler ihren polnischen Kollegen auch einen gezielten Einsatz verfälschender wissenschaftlicher Publikationen und Landkarten bei den Friedensverhandlungen, um die bevölkerungspolitischen Gegebenheiten entlang der deutschen Ostgrenze irreführend und
7 Zur Biographie Brackmanns vgl. Hans Goetting, Brackmann, Albert, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118659715.html#ndbcontent (14.9.2018). 8 Martin Munke, Publikationsstelle Berlin-Dahlem, 2013, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53902.html (15.9.2018).
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somit zu polnischen Gunsten darzustellen und die Friedensmacher so zu täuschen. Damit hätten sie entscheidend mit dazu beigetragen, dass die Friedensmacher die territorialen und bevölkerungstechnischen Gegebenheiten in den deutschen Ostgebieten falsch bewertet und somit die für das Deutsche Reich nachteiligen territorialen Bestimmungen entworfen hätten. Das Ziel müsse es daher sein, so Brackmann, Voraussetzungen zu einer Art geistiger Abwehr der polnischen „Wissenschaftspropaganda“ zu schaffen, eine Aufgabe, die das von ihm anvisierte wissenschaftliche Institut – und er selbst – erfüllen sollte. Brackmann schien dabei die Leerstelle, die die Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung nach ihrer Auflösung im August 1931 hinterließ, sowohl mit Sorge um die Zukunft der Abwehr polnischer Wissenschaftspropaganda als auch als Gelegenheit, diese füllen zu können, zu betrachten. 9 Die Leipziger Stiftung war unter der Leitung der beiden Geographen Wilhelm Volz und Albrecht Penck in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu einer der führenden Institutionen der „deutschen Volks- und Kulturbodenforschung“ avanciert, die das deutsche Revisionsdenken durch wissenschaftlich erarbeitete Theorien und Argumente unterstützte, der Politik argumentativ zuarbeitete und ihre zentrale Stellung innerhalb der Forschungslandschaft einer strukturellen Nähe zur Politik zu verdanken hatte, die sich unter anderem durch eine versteckte Finanzierung durch das Auswärtige Amt (AA) und das Reichsministerium des Innern (RMI) speiste. 10 Nachdem sie im Jahr 1931 aufgelöst worden war, war die von ihr ausgefüllte privilegierte Stellung als Schaltzentrum der revisionistisch eingestellten Wissenschaften in der Nähe der politischen Macht wieder frei, und die von ihr gebündelte wissenschaftliche Expertise drohte verloren zu gehen. Für Brackmann schien so der Zeitpunkt gekommen zu sein, diese Position nun einnehmen zu können. Um sein Ziel zu erreichen, musste er die notwendigen Kompetenzen (selbstredend unter seiner Leitung) bündeln und stärken, was innerhalb eines in der Preußischen Archivverwaltung angesiedelten Instituts mit der dort dafür vorhandenen Infrastruktur eine geeignete Lösung zu sein schien. Um seinen Plan durchzusetzen, berief Brackmann am 15.Juli 1931 eine Sitzung im Preußischen Staatsministerium ein, an der neben ihm selbst auch hochrangige
9 Haar, Historiker (wie Anm.3), 108. 10 Agnes Laba, Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung, Leipzig 2015, ome-lexikon.unioldenburg.de/53872.html (23.8.2015).
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Osteuropahistoriker wie Otto Hoetzsch (1876–1946), Vertreter der Archive in den östlichen Großstädten des Reiches 11 sowie Vertreter des Auswärtigen Amtes teilnahmen. Unterstützt wurde er bei seinem Anliegen sowohl vom Preußischen Staatsministerium als auch vom Reichsministerium des Innern. 12 Als Folge dieser Sitzung wurde der Publikationsfonds für die Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen beim Preußischen Geheimen Staatsarchiv eingerichtet 13, woraus im Jahr 1933 die Gründung der Publikationsstelle Berlin-Dahlem erfolgte, die zunächst als eine Abteilung des Preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin-Dahlem angesiedelt war. Die PuSte unterstand zunächst direkt Albert Brackmann, nach dessen Emeritierung im Jahr 1936 wurde die Leitung seinem engen Mitarbeiter Johannes Papritz (1898– 1992) übertragen. 14 Brackmann führte aber auch nach seiner Emeritierung die Geschäfte der PuSte fort. 15 Während der Publikationsfonds zunächst noch eher als eine Einmannorganisation in der Person Brackmanns existierte, konnte dieser sich den politischen Machtwechsel im Jahr 1933 geschickt zunutze machen, um die PuSte bis zum Ende der 1930er Jahre als eine Zentralstelle für die wissenschaftliche Beratung des NS-Regimes zu etablieren. 16 So hatte Brackmann bereits durch den im August 1933 publizierten Sammelband „Deutschland und Polen“ 17 bei Vertretern der politischen Eli-
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Martin Munke, „… die Interessen des deutschen Volkes zu stützen und zu fördern“. Die Publikations-
stelle Berlin-Dahlem 1931/33 bis 1943/47, in: Sven Kriese (Hrsg.), Archivarbeit für den Nationalsozialismus. Die Preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933. Berlin 2015, 259–295. 12
Ein erster Schritt in diese Richtung war die Gründung des Instituts für Archivwissenschaft und ge-
schichtliche Weiterbildung (IfA) innerhalb des Geheimen Staatsarchivs als Ausbildungsstätte für Archivare und Historiker im Sinne von revisionistischen Forderungen gegenüber dem Versailler Vertrag; Haar, Historiker (wie Anm.3), 108. 13
Bundesarchiv (BArch), R 153 / Publikationsstelle Berlin-Dahlem Einleitung, http://www.argus.bstu.
bundesarchiv.de/R153–18329/index.html (10.2.2016). 14
Stellvertreter von Papritz war Wolfgang Kohte (1907–1984). Daneben waren stets mehrere Referenten
in der PuSte tätig, darunter wissenschaftliche Bibliothekare, Archivräte und wissenschaftliche Mitarbeiter, ferner beschäftigte die PuSte verwaltungstechnisches und technisches Personal. Die Referentenstellen wurden meistens in Form von Stipendien vergütet, nur selten hatten die Referenten Dauerstellen inne, während der Leiter und sein Stellvertreter als Beamte tätig waren; Munke, Publikationsstelle (wie Anm.8). 15
BArch, R 153/2, Organisatorische und räumliche Trennung der Publikationsstelle vom Geheimen
Staatsarchiv Berlin-Dahlem, 1936–1938, Aktennotiz vom 3.November 1936. 16
Thomas Schöbel, Albert Brackmann und die Publikationsstelle Berlin-Dahlem, in: Jessica Hoffmann/
Anja Megel/Robert Parzer/Helena Seidel (Hrsg.), Dahlemer Erinnerungsorte. Berlin 2007, 229–243. 17
Albert Brackmann (Hrsg.), Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen,
München 1933.
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ten Aufmerksamkeit generiert. Schon Ende des Jahres 1932 war er beim Auswärtigen Amt und dem Reichsministerium des Innern mit diesem Publikationsprojekt auf Interesse gestoßen und hatte erfolgreich finanzielle Unterstützung für die Honorare der Autoren und die Druckkosten akquirieren können. 18 Auch die neuen politischen Machthaber nach dem Regierungswechsel 1933 schienen Interesse an der Publikation zu haben. So war ein Exemplar des Sammelbandes im August 1933 direkt an Adolf Hitler geschickt worden, der durch seinen persönlichen Referenten seinen Dank ausrichten ließ. 19 Ebenfalls im Jahr 1933 gründete Brackmann zusammen mit anderen innerhalb der sogenannten Ostforschung 20 maßgeblichen Institutionen, wie dem Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) und dem Bund deutscher Osten (BDO), die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG). Die NOFG war die größte jener Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG), die
„seit etwa 1930 mit der Aufgabe entstanden, die Erforschung der landes- und volksgeschichtlichen und landes- und volkskundlichen Fragen in den deutschen Grenzlanden zu fördern und die Vertreter der an dieser damals aufblühenden Forschung beteiligten Fächer mit Vertretern der betreffenden Volksgruppen und der an Volkstumsfragen interessierten Reichsbehörden zusammenzuführen“. 21 Sie muss als zentral für den Ausbau und die Konzentration der Ostforschung nach der Machtübertragung auf Adolf Hitler und die NSDAP angesehen werden. Neben eigenen Forschungstätigkeiten sollte sie dabei im Sinne eines „einheitliche[n] politisch ausgerichtete[n] Wirken[s]“ die Zusammenarbeit der Wissenschaft mit den Reichs- und den preußischen Ministerien sowie der NSDAP koordinieren, was etwa auch die Bereitstellung von Finanzmitteln für Forschungsprojekte umfasste – eine Aufgabe, die vormals auch die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung übernommen hatte. 22 Zwischen der PuSte und der NOFG bestanden zahlreiche strukturelle und personelle Überschneidungen: So gehörten sowohl Brackmann als auch Papritz zur Leitungsebene der NOFG, die PuSte übernahm die Verwaltung der Finanzen der NOFG und leistete durch ihre Assistenten und Stipendiaten einen nicht un-
18 Munke, Interessen (wie Anm.11), 271. 19 Ebd. 20 Zur Ostforschung vgl. Hans-Christian Petersen, Ostforschung, 2015, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/ 53916.html (14.9.2018). 21 Zitiert nach Martin Munke, Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG), 2015, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32801 (1.9.2018). 22 Ebd.
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wesentlichen Anteil der wissenschaftlichen Arbeit. Dabei kann man davon ausgehen, dass die NOFG und die PuSte einander arbeitsteilig zuarbeiteten, wobei die NOFG sich eher auf theoretische Forschungsfragen konzentrierte, während die
PuSte für den Großteil der praktischen Arbeit zuständig war. 23 Durch diese Institutionenbildung baute Brackmann ein weitverzweigtes Netzwerk innerhalb der zentralen Einrichtungen der deutschen Ostforschung auf, in welchem er eine zentrale Position einnahm. So nutzte Brackmann seine neue Position geschickt, um ihm verbundene Kollegen mit Finanzmitteln für ihre Forschung zu versorgen 24, was wiederum neue Loyalitätsverhältnisse zur Folge hatte. Diese Vernetzung führte dazu, dass die PuSte durch Brackmanns und Papritz’ Personen und die damit verbundene enge Anbindung an die NOFG zu einer Art Knotenpunkt der Ostforschung werden konnte. Brackmann selbst hatte als Initiator und Organisator von diversen (Publikations-) Projekten und Konferenzen sowie als (Mit-) Herausgeber von Publikationen entscheidenden Einfluss auf die Ausrichtung und somit auch die Inhalte der innerhalb dieses Forschungsnetzwerkes betriebenen Forschung. Aufgrund ihrer zentralen Stellung innerhalb der Ostforschung muss man ferner davon ausgehen, dass die NOFG und die PuSte eine Orientierungsfunktion für Forschungstrends und inhaltliche und methodische Debatten hatten. Gemäß Brackmanns Ausgangsüberlegungen umfassten die Arbeitsgebiete der PuSte, die neben einer umfassenden Bibliothek außerdem über eine Kartenabteilung und eine Bildstelle verfügte, die Geschichte der deutschen Ostgebiete und der Gebiete östlich und nördlich des Deutschen Reiches sowie arbeitspraktisch die Beobachtung und Auswertung „der polnischen Wissenschafts-Propaganda“ und ihre Entkräftung durch eine „sachkundige und sprachliche Expertise“ 25 sowie die Beobachtung der Tätigkeit von wissenschaftlichen Instituten in Polen. 26 Beide Aufgabenbereiche basierten auf einschlägigen Sprachkompetenzen, die für die Übersetzung und Auswertung polnischsprachiger Publikationen sowie Communiqués polnischer Institute, wie dem Schlesischen Institut in Katowice, notwendig waren. Dabei wurden eigens Sprachkurse für die Mitarbeiter der PuSte organisiert, so dass diese 23
Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 232, 235.
24
Vgl. Haar, Historiker (wie Anm.3), 199.
25
BArch, R 153/2, Organisatorische und räumliche Trennung der Publikationsstelle vom Geheimen
Staatsarchiv Berlin-Dahlem, 1936–1938, Abschrift eines Briefes an den Reichs- und Preussischen Minister des Innern vom 19.Februar 1937. 26
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BArch, R 153/10, Geschäftsverteilung bei der Publikationsstelle, 1937–1942.
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ihre Sprachkompetenzen erweitern und festigen konnten. 27 Eine weitere Aufgabe der PuSte war die Unterdrückung von unerwünschten polnischen Publikationen, wie Johannes Papritz retrospektiv im Jahr 1963 darlegte, etwa durch die Verwehrung des Zugangs zu Archivgut in deutschen Archiven für polnische Wissenschaftler und auch für politisch missliebige Deutsche. 28 Zu den arbeitspraktischen Aufgaben gehörte ferner die Erstellung einer umfassenden Presseschau von polnischen, tschechischen, litauischen, lettischen und estnischen Pressematerialien, ein Übersetzungsdienst zentraler Presseartikel, die Sammlung von einschlägigen Bildern und anderen visuellen Materialien für Vorträge und Ausstellungen und die Pflege einer Kartei mit allen verfügbaren Informationen zu „Persönlichkeiten, Einrichtungen und Unternehmungen der polnischen, baltischen und tschechischen Wissenschaft, sowie sie sich auf deutsche Beziehungen erstrecken“, die im Jahr 1936 bereits rund 90000 Einträge umfasste. 29 Ferner legte die Publikationsstelle eine „Volkstumskartei“ an, die Reichsangehörige nichtdeutscher Volkszugehörigkeit und Ausländer erfasste und katalogisierte. 30 Die Mitarbeiter der PuSte erfassten außerdem slawische Ortsnamen im Deutschen Reich und erarbeiteten Vorschläge zu ihrer Umbenennung, bereiteten zudem die Konferenzen der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft vor, organisierten Forschungsreisen und wirkten bei der Vorbereitung von Ausstellungen mit. Insbesondere durch ihre Sammlungstätigkeit stellte die PuSte häufig Materialien für Ausstellungen, Vorträge und Publikationen zur Verfügung. 31 Daneben waren ihre Mitarbeiter durch eigene wissenschaftliche Publikationen und Konferenzteilnahmen in die deutschen Wissenschaftsdiskurse im Kontext der Ostforschung eingebunden.
27 Munke, Interessen (wie Anm.11), 273. 28 Ebd.274. Brackmann erreichte dieses Ziel durch einen umfassenden Publikationsplan. Er gab zahlreiche historische Arbeiten in Auftrag, was zur Folge hatte, dass die im Preußischen Staatsarchiv verfügbaren relevanten Akten (für die in Auftrag gegebenen Publikationen wurden diese großflächig in Anspruch genommen) vor der Fertigstellung dieser amtlichen Publikationen anderen Nutzern vorenthalten werden konnten. Auf diesem Umweg konnten polnische Wissenschaftler diese Aktenbestände nicht einsehen, ohne dass eine Verweigerung der Archivnutzung zwischen Deutschland und Polen bilateral verhandelt werden musste; Haar, Historiker (wie Anm.3), 115. 29 BArch, R 153/933, Arbeiten der Publikationsstelle, Übersicht, 1943–1944; BArch, R 153/2, Organisatorische und räumliche Trennung der Publikationsstelle vom Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem, 1936– 1938, Aktennotiz vom 21.September 1936. 30 Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 236. 31 Munke, Interessen (wie Anm.11), 274f.
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Binnen weniger Jahre konnte Brackmann so die von ihm geforderte wissenschaftliche Expertise im Sinne der Revision des Versailler Friedensvertrags und der Unterminierung der als antagonistisch und „deutschtumsfeindlich“ rezipierten polnischen Wissenschaftslandschaft stärken und konzentrieren. Sein weit verzweigtes Netzwerk, das darüber hinaus in der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft institutionalisiert worden war, verstärkte diese Konzentration und somit seine leitende Position innerhalb der Forschungslandschaft weiter. Die Nähe der NOFG zum nationalsozialistischen Politikapparat und ihre Vermittlungs- und Koordinationsaufgabe zwischen Politik und Wissenschaft ermöglichte es dieser, und somit auch Brackmann und Papritz, durch die Vermittlung von staatlichen Forschungsgeldern des AA und des RMI nicht zuletzt auch eine Art Wissenschaftsmanagement im Sinne der Revisionspolitik und der rassistischen Ideologie der NSDAP durchzuführen, indem sie als vermittelnde Instanz von Forschungsförderung zwischen dem Geldgeber Politik und der empfangenden Instanz Wissenschaft agierten.
III. Die PuSte als Schnittstelle zwischen den beiden gesellschaftlichen Teilbereichen Politik und Wissenschaft Dass die PuSte im Verlauf der 1930er Jahre zu einem führenden Institut der deutschen Ostforschung und darüber hinaus zu einem Think Tank nationalsozialistischer (Expansions-) Politik werden konnte, ergab sich aus dem komplexen reziproken Wechselverhältnis zwischen den beiden gesellschaftlichen Teilbereichen Politik und Wissenschaft, wie es sich im Verlauf der 1920er Jahre zwischen dem Forschungsfeld der deutschen Volks- und Kulturbodenforschung und dem RMI sowie dem AA entwickelt hatte. Wenn auch das Phänomen der akademischen Expertise als politikberatende Instanz keine Neuerung der 1920er Jahre war, erhielt sie in der Gestalt der revisionistisch ausgerichteten Forschungseinrichtungen der 1920er Jahre eine neue Qualität. So war während der Phase der Friedensverhandlungen um die Jahreswende 1918/19 akademische Fachexpertise, wie sie Historiker, Geographen oder auch Vertreter anderer akademischer Fachrichtungen anbieten konnten, von den politischen Entscheidungsträgern scheinbar nicht als relevant eingestuft worden, was offensichtlich auch dazu geführt hatte, dass diese innerhalb der Beratungsgremien zur Vorbereitung des kommenden Friedens keine prominente Stel-
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lung einnehmen konnten. Vielmehr, so Astrid Mehmel, müsse man von einem „Primat der Wirtschaft“ ausgehen, das kennzeichnend für die Auswahl der Experten innerhalb des deutschen Beraterstabs war, der sich überwiegend aus Vertretern von Banken, der Industrie, dem Schifffahrtswesen und Privatleuten aus der Wirtschaft zusammensetzte. 32 Dies änderte sich grundlegend im Verlauf der 1920er Jahre. Vor dem Hintergrund des plötzlichen Niedergangs der während des Weltkrieges erlangten deutschen Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent, vor allem im Osten Europas, dem Entstehen zahlreicher neuer Staaten auf Kosten der großen Imperien und im Falle Polens insbesondere auf Kosten des Deutschen Reiches, gewannen territoriale Fragestellungen sowie ihre geographischen, bevölkerungspolitischen und historischen Begründungszusammenhänge nach 1918/19 an besonderer Aktualität. Hatten Geographen, Kartographen und zum Teil auch Historiker während des Ersten Weltkrieges bereits ihre fachspezifischen Kenntnisse im Kontext der territorialen Eroberungen im Osten Europas einsetzen können, etwa bei der Gewinnung bevölkerungsstatistischer Daten als Grundlage für die Besatzungspolitik, wurden sie nun zu einem grundlegenden Pfeiler des deutschen Revisionismus. Für die akademischen Geowissenschaften und Einrichtungen wie der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung lässt sich dabei nachzeichnen, dass führende Vertreter wie Wilhelm Volz und Albrecht Penck gezielt an hochrangige Vertreter von RMI und AA herantraten und bei diesen nicht nur um finanzielle Förderung von einzelnen Publikationsprojekten warben, sondern auch wissenschaftlich aufbereitete Materialien wie Landkarten oder Bevölkerungsstatistiken an Vertreter dieser politischen Zentren übersandten. Aufbauend auf diesen Initiativen entwickelte sich eine weitverzweigte revisionistisch eingestellte außeruniversitäre Forschung, bei der die Leipziger Stiftung eine führende Rolle einnahm. Kennzeichnend war nicht nur, dass in den Verwaltungs- und wissenschaftlichen Beiräten dieser Einrichtungen Vertreter von politischen Institutionen saßen und somit direkt Einfluss auf den Wissenschaftsbetrieb nehmen konnten, sondern auch, dass die Haushalte dieser Einrichtungen versteckt durch das AA und das RMI bestritten wurden. 33 Entscheidend für die Involvierung der Ministerien in wissenschaftliche Institute war dabei, dass diese entsprechend ihrer ressortmäßigen Aufgaben tätig waren.
32 Astrid Mehmel, Deutsche Revisionspolitik in der Geographie nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geographische Rundschau 47, 1995, 498–505. 33 Laba, Stiftung (wie Anm.10).
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So unterstützte das AA nur Institute und Projekte, die sich mit außenpolitischen Belangen beschäftigten, zu denen etwa die Revision der Ostgrenze gehörte. 34 Während der 1920er Jahre etablierte sich somit eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden gesellschaftlichen Teilbereichen Politik und Wissenschaft, bei der die Trennung zwischen beiden aufgeweicht wurde – ein Faktor, an den Brackmann bei der Errichtung der PuSte anknüpfen konnte. Wie bereits dargelegt worden ist, war dieses Wechselverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft von beiden Seiten gewollt, gefördert und bereitwillig eingegangen worden. Wie Brackmanns Initiativen in den frühen 1930er Jahren jedoch verdeutlichen, ging dieses Wechselverhältnis wie bereits in den 1920er Jahren auf die Initiative von Vertretern des gesellschaftlichen Teilbereichs Wissenschaft zurück. In der Tat existierte demnach ein Bedarf an dem Expertenwissen, das Brackmann und seine (Fach-) Kollegen liefern konnten, doch erst Brackmanns persönliches Engagement für eine genauere Ausrichtung der deutschen Wissenschaft auf revisionistische Ziele und sein Netzwerken gaben den Anstoß dafür, dass die PuSte sich innerhalb der Wissenschaftslandschaft der Ostforschung erfolgreich als tonangebende Instanz etablieren konnte 35, womit zugleich bewirkt wurde, dass Brackmann und die PuSte in den Status von Experten gerieten. Neben seinem im Sinne der Revision erfolgreich durchgeführten Wissenschaftsmanagement waren es jedoch vor allem Brackmanns sehr gute persönliche Kontakte zu führenden Politikern im Innen- und Außenministerium, die ausschlaggebend für den Erfolg der PuSte waren. In dieser Hinsicht konnte er an das während der 1920er Jahre etablierte reziproke Wechselverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft anknüpfen, das die Basis für seinen Erfolg als externer Experte für die Politik bildete. Gleichzeitig arbeitete sein Konzept einer politisch engagierten Wissenschaft, die vor allem die wissenschaftlich fundierte Diskreditierung der polnischen Wissenschaft anstrebte, dem in der Weimarer Republik vorherrschenden Polenbild als Hauptstaatsfeind zu und bediente somit ein von Seiten der Politik und anderen
34
Aus den Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes (PA AA) wird deutlich, dass dieses in
den Fällen, in denen es eine ressortmäßig bedingte Absage an die Bitte um Finanzmittel geben musste, eine Weiterempfehlung an die zuständigen Reichsstellen verschickte, so etwa an das Reichsministerium des Innern, was in einigen Fällen erfolgreich war; vgl. PA AA, R 60.380, Brief des Reichsministers des Innern an das AA vom 3.März 1923. 35
Ingo Haar hat in seiner Studie „Historiker im Nationalsozialismus“ herausgearbeitet, dass Brackmann
ab 1932 zu einer „wichtigen Integrationsfigur der deutschen Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus“ wurde; Haar, Historiker (wie Anm.3), 106.
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gesellschaftlichen Teilbereichen genährtes Feindbild, was den politischen Nutzen von Brackmanns Forschung unterstrich. Nachdem bereits in den 1920er Jahren von zahlreichen Wissenschaftlern aufgezeigt worden war, inwiefern gerade die polnische Wissenschaft zur Diskreditierung der deutschen Anliegen in Versailles beigetragen hatte, stellte Brackmann mit den Aufgabenbereichen, die er als Kerngeschäft des von ihm anvisierten wissenschaftlichen Zentrums skizzierte, einen regelrecht fassbaren politischen Nutzen seiner wissenschaftlichen Arbeit in Aussicht. Brackmanns Legitimationsressource als Experte ging jedoch über seine akademische Ausbildung und die politischen Implikationen seiner Forschung hinaus und schien vor allem in seinen persönlichen Kontakten und Netzwerken zu liegen, führten sie doch dazu, dass Brackmann von Seiten der Politik als Experte wahr- und ernstgenommen wurde und seine Anliegen innerhalb einer weit verzweigten politisch involvierten Forschungslandschaft als relevant angesehen und somit gefördert wurden. So war Brackmann bereits im Jahr 1929 auf persönlichen Wunsch des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) zum Leiter des Preußischen Geheimen Staatsarchivs berufen worden. 36 Nachdem er diese Stelle angetreten hatte, sah er sich veranlasst, die Wissenschaft stärker politisch zu engagieren, wobei ihm das Preußische Ministerpräsidium zur Seite stand. 37 Franz von Papens am 1.Juni 1932 ins Amt gekommenes „Kabinett der nationalen Konzentration“ unterstützte Brackmanns Pläne nachdrücklich. Trotz der angespannten Haushaltslage sollten sie finanziell unterstützt werden, und die PuSte wurde in den Etat des RMI aufgenommen 38, wobei die finanziellen Mittel für den Haushalt der PuSte neben dem RMI auch durch das AA bereitgestellt wurden. Die NOFG erhielt auch während des Zweiten Weltkrieges Zuwendungen, während bei der Publikationsstelle der Mittelzufluss 1941 mit mehr als 415000 Reichsmark allein vom RMI seinen Höhepunkt erreichte 39, während zusätzlich zahlreiche Publikationsprojekte ebenfalls vom RMI finanziert wurden. 40 Was Brackmann im Vorfeld als Ziel des von ihm anvisierten Zentrums, das später die PuSte werden sollte, beschrieb, nämlich die wissenschaftliche Zuarbeit zu genu36 Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 229. 37 So unterstützte es Brackmann bei der Kündigung des Archivvertrages mit der Sowjetunion; Haar, Historiker (wie Anm.3), 108. 38 Ebd.113. 39 Munke, NOFG (wie Anm.21). 40 Munke, Interessen (wie Anm.11), 276.
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in politischen Zielen wie der Revision der Friedensvertragsbestimmungen, lässt sich für die Arbeit der PuSte schließlich auch konkret nachweisen. Dies äußerte sich nicht nur in einem wissenschaftlichen Publikations-Output im Sinne der Revision und Diskreditierung der polnischen Wissenschaft, vielmehr noch arbeiteten die Mitarbeiter der PuSte ganz praktisch Vertretern der Politik zu. So teilten sich die institutseigenen Publikationen der PuSte in zwei Gruppen auf. Die erste Gruppe umfasste diejenigen Publikationen, die für die wissenschaftliche Auseinandersetzung bestimmt waren und somit frei zirkulierten und von allen Interessierten rezipiert werden konnten, so etwa die von der PuSte herausgegebene Schriftenreihe „Deutschland und der Osten“ (1936–1943) oder die Zeitschrift „Jomsburg. Völker und Staaten im Osten und Norden Europas“ (1937–1943), ferner eigenständige Publikationen wie der im Jahr 1943 anlässlich des 70. Geburtstags Brackmanns erschienene Sammelband „Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem Ersten Weltkrieg“, der zahlreiche programmatische Schriften der deutschen Ostforschung versammelte. 41 Die zweite Gruppe der Publikationen war ausschließlich für den Dienstgebrauch vorgesehen und somit nur für eine ausgewählte Leserschaft zugänglich. Diese Publikationen wurden nur an Dienststellen und kooperierende Institute übersandt, die sich zuvor schriftlich zur vertraulichen Behandlung der Materialien verpflichtet hatten. Zu dieser Kategorie gehörten etwa die wöchentlichen Presseübersetzungen polnischer, tschechischer, litauischer, lettischer und estnischer Pressematerialien sowie Übersetzungen von wissenschaftlichen Arbeiten aus diesen Sprachen, Übersetzungen der Communiqués des Schlesischen Instituts in Katowice und des Baltischen Instituts in Gdingen bzw. Thorn, Mitteilungen der Publikationsstelle über aktuelle Themen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den östlichen Nachbarn und die kritische Berichterstattung über deren Veröffentlichungen sowie zahlreiche Bevölkerungsstatistiken und Karten für das Reich und Gebiete der im Osten angrenzenden Länder. Die zahlreich angefertigten Übersetzungen wurden dabei oftmals direkt von offiziellen Stellen
41
BArch, R 153/Publikationsstelle Berlin-Dahlem Einleitung; http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/
R153–18329/index.htm (10.2.2016); Hermann Aubin/Otto Brunner/Wolfgang Kohte/Johannes Papritz (Hrsg.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem Ersten Weltkrieg. 2 Bde. (Deutschland und der Osten. Quellen und Forschungen zur Geschichte ihrer Beziehungen, Bd. 20 u. 21.) Leipzig 1942/43. Weder die Publikationsstelle und die NOFG noch die Preußische Archivverwaltung wurden bei diesen Publikationen namentlich als Herausgeber genannt.
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der Regierung und Ministerialbürokratie in Auftrag gegeben, in anderen Fällen aber auch unaufgefordert oder als regelmäßige Informationen an diese übersandt. 42 Damit gerieten Mitarbeiter der PuSte als akademische Experten für Fragestellungen der im weitesten Sinne für die Revision des Versailler Friedensvertrags und des deutsch-polnischen Antagonismus relevanten Themenkomplexe nicht nur in die Nähe zur Politik, sie machten die Fülle an wissenschaftlicher Fachliteratur und der damit verbundenen Theorien und Argumente für Mitglieder von Regierung und Ministerialbürokratie größtenteils überhaupt erst verfügbar, indem sie aus der kaum überschaubaren Publikations- und Theorienflut relevante Sachverhalte auswählten und Vertretern der Politik als Grundlage für politische Entscheidungsfindungsprozesse zur Verfügung stellten. Auf diese Weise brachten sie sich durch die Nutzung ihres Expertenstatus aktiv in politische Entscheidungsfindungsprozesse ein. Durch diesen bewusst vorgenommenen Transfer von wissenschaftlichen Theorien in den gesellschaftlichen Teilbereich Politik diffundierte wissenschaftliches Wissen in Letzteren, wodurch es zu einem weiteren Aufweichen der Grenze zwischen beiden gesellschaftlichen Teilbereichen kam. Dass dieses Aufweichen nicht allein durch die Politik forciert worden war und die PuSte nicht lediglich das Opfer der jeweiligen gesellschaftspolitischen Verhältnisse war, als das sie von Papritz nach Ende des Zweiten Weltkrieges dargestellt wurde, wird deutlich, wenn man die anfänglichen Initiativen und das Engagement von Brackmann, aber auch die Tätigkeit der PuSteMitarbeiter seit Beginn des Zweiten Weltkrieges betrachtet. Brackmann, Papritz und die im Dunstkreis von PuSte und NOFG tätigen Wissenschaftler stilisierten ihre Forschung als Schlüsseldisziplin zur Wiedererlangung der politischen Vormachtstellung Deutschlands auf internationalem Parkett. Ihrer eigenen Person schrieben sie so den Status von Experten zu, deren Kenntnisse und Fertigkeiten nicht nur politische Relevanz besaßen, sondern unerlässlich für das Erreichen der revisionistischen Ziele waren. Diese Selbststilisierung kam somit einer Legitimationsstrategie gleich, die die Nähe zur Politik nicht nur rechtfertigte, sondern regelrecht unabdingbar machte. Die verantwortlichen Wissenschaftler der PuSte müssen so ihrem Elitenstatus entsprechend als bewusst und selbstbewusst handelnde Subjekte verstanden werden 43, die gezielt die Nähe zur politischen Macht suchten, um diese als Ressource zu mobilisieren und sich auf diese Weise als externe Experten für die Politik 42 Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 235. 43 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte
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anboten. Die Beweggründe für dieses politische Engagement von Brackmann, Papritz und den Wissenschaftlern, die in den 1930er Jahren gezielt die Nähe zur PuSte und der NOFG suchten, waren dabei unterschiedlicher Natur und können nicht als eine pauschale Anbiederung der Wissenschaft an die Politik erklärt werden. Neben einem persönlichen wissenschaftlichen Interesse an den Untersuchungsgegenständen der Ostforschung muss auch die Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für Forschung und wissenschaftliche Infrastruktur als ein Grund ausgemacht werden, wobei die Erfolgswahrscheinlichkeit dadurch erhöht wurde, dass Themen bearbeitet wurden, die auf der tagespolitischen Agenda standen. Nicht zuletzt wird in der angestrebten Nähe zur Politik auch eine Strategie zur Steigerung der gesellschaftlichen Stellung der eigenen Fachdisziplin, des eigenen Instituts und der eigenen Forschungspersönlichkeit gelegen haben. 44 Vertreter der Politik wiederum hatten offenbar die Relevanz der von Brackmann zu Beginn der 1930er Jahre umrissenen Forschungstätigkeit und der dahinterstehenden Fachexpertise erkannt und ließen diese Nähe nicht nur zu, sondern förderten diese und nahmen durch die Vergabe von Finanzmitteln Einfluss auf ihr Entstehen und ihre Entwicklung. 45 Vor diesem Hintergrund ist vor allem die Finanzierung der PuSte durch das Auswärtige Amt von besonderem Interesse, bedeutete diese doch, dass ihre wissenschaftliche Tätigkeit den deutschen außenpolitischen Interessen zuarbeitete. Die Finanzierung der PuSte durch das AA unterstützte in diesem Sinne nicht nur eine den revisionistischen außenpolitischen Zielen zuarbeitende Forschungs- und Publikationstätigkeit; sie führte auch dazu, dass die Etablierung der PuSte als Zentrum einer wissenschaftlichen Expertise im Sinne der deutschen Ostforschung im Verlauf der 1930er Jahre vor dem Hintergrund einer verdeckten staatlichen Wissenschaftsförderung im Sinne von Themenkomplexen der tagespolitischen Agenda gesehen werden muss. Die Finanzierung durch die Politik fungierte als diskursive Strategie quasi hinter der Bühne, indem sie entscheidend Einfluss auf die Etablierung und Stärkung von wissenschaftlicher Expertise und ihrem wissenschaftlichen Output nahm, der sich den Themen zuwandte, die im Sinne der Außen-
Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20.Jahrhundert. Stuttgart 2002, 32–51. 44
Vgl. Volker Roelcke, Auf der Suche nach der Politik in der Wissensproduktion. Plädoyer für eine histo-
risch-politische Epistemologie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33, 2010, 176–192. 45
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Vgl. Haar, Historiker (wie Anm.3), 23.
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politik als relevant erschienen. 46 Wissenschaftliche Expertise wurde somit von der Politik gefördert und gleichzeitig an diese gebunden, in dem nur untertsützt wurde, was als relevant für die eigenen politischen Zielsetzungen eingestuft wurde. Auf diese Weise wurde die PuSte zu einem Pool von Experten, die zentrale Stellen der Außenpolitik versorgten, und auf den diese nach Bedarf zugreifen konnte, wobei der Beamtenstatus der Leitung der PuSte förderlich war. Erst der Einbezug dieser vielfältigen Faktoren macht das spezifische Wissenschaftsverständnis plausibel, das bei Brackmann, Papritz und anderen Wissenschaftlern der Ostforschung vorherrschte. Der Anspruch, trotz aller nationalpolitischen Zielsetzung dennoch einer wissenschaftlichen Objektivität verpflichtet zu sein, lässt sich in den fachinternen Debatten immer wieder auffinden, so wie auch die Praktiken der Wissensgenerierung und -präsentation den wissenschaftlichen Standards der unterschiedlichen Fachdisziplinen verpflichtet blieben. Dazu gehörten weiterhin die wissenschaftliche Auswertung von Quellenmaterialien aus den preußischen Archiven durch die beteiligten Historiker sowie die Auswertung statistischen Materials und seine Überführung in (ethnische) Landkarten durch die beteiligten Geographen und Kartographen, wobei wissenschaftliche Monographien, Sammelbände und Zeitschriftenartikel sowie wissenschaftliche Tagungen weiterhin die Präsentations- und Diskussionsforen der Ergebnisse bildeten. 47 Hieraus lässt sich ein spezifisches Wissenschaftsverständnis ableiten, das zwischen nationalpolitischer Verpflichtung und wissenschaftlicher Objektivität angesiedelt werden kann, was in den Denkkategorien der leitenden Wissenschaftler offenbar keinen Widerspruch darstellte. Im Hinblick auf die Stellung der PuSte zur Politik muss somit festgehalten werden, dass diese Wissenschaftler in einem komplexen, aufeinander bezogenen Legi-
46 Inwiefern staatliche Wissenschaftsförderung auch heutzutage eine Art Steuerung der wissenschaftlichen Forschungsagenden darstellt, in der sich unter anderem gesellschaftspolitische Entwicklungen spiegeln, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Für eine umfassende Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik bzw. Öffentlichkeit sei hier auf die Arbeiten von Peter Weingart und Mitchell Ash verwiesen: Peter Weingart, Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, 2005, http://www.velbrueck-wissenschaft.de/pdf_ausfuehrlich/978–3-934730–03–8.pdf (22.8.2013); Ash, Wissenschaft (wie Anm.43). 47 Die Frage nach der Objektivität von Wissenschaft im Allgemeinen und im Kontext der Ostforschung nach 1933 kann in diesem Rahmen nicht diskutiert werden. Für die im Kontext der Ostforschung geführten Debatten um Objektivität, wissenschaftliche Theorienbildung und nationalpolitisches Engagement am Beispiel der Geschichtswissenschaften vgl. Haar, Historiker (wie Anm.3).
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timations- und Klientelverhältnis standen, bei dem politische und wissenschaftliche Zielsetzungen auf institutioneller und intellektueller Ebene miteinander verwoben wurden und bei dem es zu einer Verwischung der Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen Wissenschaft und Politik kam. Damit ist die Annahme widerlegt, Wissenschaft habe auch nach 1933 einen unpolitischen, wertneutralen Bereich der deutschen Gesellschaft dargestellt. Vielmehr war jeglichem wissenschaftlichen Handeln der im Kontext der PuSte und der NOFG tätigen Wissenschaftler stets auch eine politische Dimension inhärent 48, etwa durch die Mobilisierung finanzieller Ressourcen zur Wissensproduktion. Die akademisch ausgebildeten wissenschaftlichen Experten kamen dabei nicht nur einer durch die Politik geschaffenen Nachfrage nach, es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass sie die Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise zu einem großen Teil selbst schufen, indem sie Problemfelder selbst als solche definierten – so etwa, wenn Brackmann auf die Notwendigkeit der Abwehr der „polnischen Wissenschaftspropaganda“ aufmerksam machte –, um schließlich mit Hilfe ihrer spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten ein Bewältigungs- und Lösungsangebot anzubieten. 49 Vertreter der Wissenschaft boten ihre Forschung somit als Ressource an, um wiederum die Ressourcen, die Staat und Politik ihnen anzubieten hatten, zu mobilisieren.
IV. Die PuSte als Think Tank nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik Seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nahmen die Aufgabenbereiche sowie auch die Verantwortlichkeiten der PuSte rasch zu und mit ihnen auch die Anzahl der beschäftigten Mitarbeiter. Hatte sie als Einmannorganisation in der Person Brackmanns begonnen, arbeiteten im Jahr 1936 20 Mitarbeiter in der PuSte, im Fe-
48
Roelcke, Auf der Suche (wie Anm.44), 177. Roelcke verweist hier außerdem auf Bereiche staatlichen
Handelns, die seit der Neuzeit ohne Rückgriff auf „Wissenschaftliches“ nicht vorstellbar sind. Als Beispiele führt er die Statistik (in Form der Meinungsforschung) oder die Ökonomie, Geografie und Soziologie (im Hinblick auf Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarkpolitik) und die Medizin, Physik, Chemie und die Biowissenschaften (im Hinblick auf die Gesundheits-, Umwelt- und Energiepolitik) an. 49
Michael Fahlbusch/Ingo Haar, Völkische Wissenschaften und Politikberatung, in: dies. (Hrsg.), Völki-
sche Wissenschaften und Politikberatung im 20.Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas. Paderborn 2010, 9–38.
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bruar 1943 bereits 55. 50 Im Jahr 1934 übernahm die PuSte die Geschäftsführung der NOFG. Da ihre Aufgaben sich zunehmend von denjenigen eines Archivs unterschie-
den, arbeitete Papritz, seit Brackmanns Emeritierung 1936 Leiter der PuSte, vermehrt auf eine räumliche und organisatorische Loslösung der PuSte vom Geheimen Staatsarchiv hin. 51 Als Argument für die Notwendigkeit einer Selbstständigkeit der PuSte zog Johannes Papritz einmal mehr die rege wissenschaftliche Propagandatätigkeit der polnischen Wissenschaft heran, die, so Papritz, professionell und hauptamtlich von Universitätsprofessoren durchgeführt werden solle, während deutsche Wissenschaftler diesen Aufgaben zumeist nur neben ihren eigentlichen Aufgaben nachgehen könnten. Diesem Ungleichgewicht könne nur durch eine entsprechende Umstrukturierung der PuSte begegnet werden. 52 Mit der Emeritierung von Brackmann erhielt die Idee der Lostrennung der PuSte vom Geheimen Staatsarchiv schließlich neuen Aufwind, und zum 1.Oktober 1938 wurde sie vom Geheimen Staatsarchiv abgetrennt und zu einer selbstständigen Dienststelle der Preußischen Archivverwaltung erklärt, was verwaltungstechnisch dem Status eines preußischen Staatsarchivs entsprach. Bezüglich ihres Haushaltes und ihrer dienstlichen Aufgaben unterstand die fortan nur noch als Publikationsstelle geführte Dienststelle allein dem RMI, dort der Abt. VI, weshalb das RMI auch ihren Leiter ernannte. Der Leiter der Publikationsstelle, der damalige Archivrat und spätere Archivdirektor Johannes Papritz, und sein Vertreter Wolfgang Kohte wurden unter Beibehaltung ihrer Stellung als preußische Archivbeamte zur Publikationsstelle abgeordnet und waren direkt dem Reichsminister des Innern verantwortlich. Der preußische Ministerpräsident stellte im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern der Publikationsstelle auf Vorschlag ihres Leiters die nötigen Beamten zur Verfügung; diese unterstanden für die Dauer ihrer Tätigkeit in der Publikationsstelle ebenfalls dem Reichsminister des Innern. 53 Die Publikationsstelle führte auf Anweisung des Reichsministeriums des Innern auch weiterhin die Geschäfte der NOFG. 54
50 Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 233. 51 BArch, R153/2, Organisatorische und räumliche Trennung der Publikationsstelle vom Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem, 1936–1938, Aktennotiz vom 21.September 1936. 52 Ebd., Undatierte Aktennotiz. 53 BArch, R 153/7, Ausarbeitung einer Dienstanweisung für die Publikationsstelle und damit verbundene Änderung ihrer rechtlichen Stellung, 1938–1940, Aufgaben der Publikationsstelle [o. D.]. 54 Ebd., Dienstanweisung für die Publikationsstelle [o. D.]. Zeitgleich zu der organisatorischen Loslösung erfolgte auch die räumliche Trennung der PuSte vom Geheimen Staatsarchiv, die ihre Räumlichkeiten in
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Dieses Anschwellen der Arbeitsgebiete und des personellen Umfangs der PuSte muss im Kontext ihrer seit der Machtübergabe im Jahr 1933 immer konkreter werdenden Zuarbeit für politische Zwecke gesehen werden. Die im Verlauf der 1930er Jahre aufgebaute und konzentrierte Expertise der Mitarbeiter der PuSte bildete die „wissenschaftliche“ Grundlage für die Verfolgung und Ermordung von jüdischen Menschen im Reich nach 1933 und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik im Osten Europas nach 1939. Ihre umfassenden Übersetzungsarbeiten erhielten nach 1939 eine zusätzliche politische Brisanz, indem sie sich zunehmend auf Übersetzungen der polnischen und der tschechoslowakischen Exilpresse konzentrierten. Die so aufbereiteten Informationen dienten nicht nur der nationalsozialistischen Propaganda, sondern stellten auch kriegswichtige Informationen dar. Eine Tatsache, die sich auch an der veränderten Zusammensetzung der Empfänger dieser Übersetzungsdienste ablesen lässt, zu denen das Reichssicherheitshauptamt (RSHA), der Sicherheitsdienst der SS (SD) und die militärischen Oberkommandos gehörten. Schließlich wurden die in der Publikationsstelle vorhandenen statistischen und personenbezogenen Materialien nach der Besetzung Polens auch in die Erfassungsund Umsiedlungsmaßnahmen gegenüber der polnischen Bevölkerung eingebunden, wobei davon ausgegangen werden muss, dass neben der Kartei auch das in der PuSte gesammelte bevölkerungsstatistische Material und die zum Teil darauf aufbauenden Karten eine Grundlage für politische Entscheidungen darstellten. 55 So führte die PuSte bereits im Jahr 1938 die Erfassung sudetendeutscher Gemeinden durch. Nach dem Überfall auf Polen entwarf sie ein Gemeindeverzeichnis und eine Übersicht über die Verteilung der deutschen Bevölkerung in Polen. Darauf aufbauend verschickte sie am 11.Oktober 1939 die Denkschrift „Eindeutschung Posens und Westpreußens“ an das AA, das RMI und das Oberkommando der Wehrmacht (OKW). Darin empfahlen die Historiker Hermann Aubin und Albert Brackmann zusammen mit anderen Autoren die sofortige „Umsiedlung“ von 2,9 Millionen Polen und jüdischen Menschen, die bis dahin in den ehemaligen preußischen Gebieten in
der Archivstraße verließ und in die Gelfertstraße 11 in Berlin-Dahlem verlegt wurde. Vgl. Helmut Wilhelm Schaller, Eine Osteuropabibliothek in Oberfranken. Die letzte Station der ,Publikationsstelle Berlin-Dahlem‘, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 91, 2011, 277–286. 55
Zu einer entsprechenden Verwendung von Karten und statistischen Daten der PuSte in diesem Zu-
sammenhang vgl. Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 236. Siehe auch eine entsprechende Denkschrift von Papritz, in der dieser davon spricht, dass die PuSte für das „Umsiedlungsgeschäft“ entsprechendes „Material geliefert“ habe und weiterhin liefern werde. Vgl. Munke, Interessen (wie Anm.11), 280.
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Westpolen gelebt hatten. In Posen und Westpreußen sollte folglich eine „geschlossen siedelnde, alle Schichten umfassende deutsche Bevölkerung mit einer gesunden sozialen Ordnung“ angesiedelt werden. Neben Westpolen befasste sich die Denkschrift mit dem noch einzurichtenden polnischen „Reststaat“, für den die „Herauslösung des Judentums“ aus den Städten und die „Minderung der Gesamtbevölkerung“ empfohlen wurden. 56 Ähnliche Projekte führte die PuSte im weiteren Kriegsverlauf für die Ukraine durch. 57 Eine besondere Rolle für die deutsche Verfolgungsund Vernichtungspolitik gegenüber den als „volksfremd“ erachteten Personen im Reich und in den besetzten Gebieten im Osten Europas spielten die von der Publikationsstelle geführten Karteien. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Kartei mit Informationen zu Persönlichkeiten, Einrichtungen und Unternehmungen der polnischen, baltischen und tschechischen Wissenschaft nach 1939 den deutschen Besatzungsbehörden und der SS als umfassendes Informationsinstrument und als Grundlage bei der Identifizierung und Verhaftung von osteuropäischen Wissenschaftlern diente. 58 Neben der Sammlung und Kategorisierung von personenbezogenen Daten innerhalb der beiden Karteien der Publikationsstelle muss insbesondere ihrer Kartenabteilung eine hervorgehobene Rolle innerhalb des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieges im Osten Europas zugesprochen werden. Die Arbeit der Kartenabteilung umfasste sowohl die Sammlung von an anderen Stellen sowohl im Reich als auch in den Ländern im Osten Europas, insbesondere in Polen, hergestellten Kartenwerken, als auch Karten, die in der PuSte selbst erstellt wurden und deren Grundlage oftmals das in der Publikationsstelle gesammelte und ausgewertete statistische Material darstellte. Diese kartographische Expertise wurde nach 1938 zur Grundlage von politischen Entscheidungsfindungsprozessen, etwa bei der Erarbeitung der Grenzziehung zur Tschechoslowakei im Kontext des Münchener Abkommens. Außerdem fungierten Mitarbeiter der PuSte als Experten in den Grenzziehungskommissionen für die „Reichsgaue“ Danzig-Westpreußen und Wartheland. 59 Seit Kriegsbeginn war der Bedarf an Karten, vor allem an ethnischen Karten, gestiegen, was sich auch anhand der gesteigerten Kartenproduktion der PuSte ablesen lässt, de-
56 Zitiert nach Haar, Historiker (wie Anm.3), 11. 57 Munke, Interessen (wie Anm.11), 279f. 58 Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 236. 59 Munke, Publikationsstelle (wie Anm.8).
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ren Karten beim deutschen Militär und den jeweiligen Verwaltungsbehörden in den besetzten Gebieten rege Verwendung fanden und die notwendigen Informationen über Bevölkerungszusammensetzungen lieferten. So benutzte das Militär diese Karten etwa bei der Bombardierung Polens, um ukrainische Siedlungen verorten und verschonen zu können. Dass dabei nicht nur die in der PuSte gesammelten und produzierten Karten vom Militär und Besatzungsregime benutzt wurden, sondern ganz konkret Mitarbeiter der PuSte aktiv an den Planungsskizzen zu einer möglichen neuen Siedlungsstruktur im Rahmen der nationalsozialistischen „Ostpolitik“ beteiligt waren, zeigt das Beispiel des Leiters der Kartenabteilung, Franz Doubek, der seit 1942 auch für das Planungshauptamt VI/I von Konrad Meyer arbeitete, welches für den sogenannten „Generalplan Ost“ verantwortlich war. 60 Eine besonders hervorgehobene Stellung erhielt die wissenschaftliche Expertise der PuSte-Mitarbeiter im Kontext des nationalsozialistischen Kunstraubs in den besetzten Gebieten im Osten Europas. So war Papritz aufgrund seiner Ausbildung und Dienststellung als Leiter der Archivkommission in Lettland und Estland tätig und federführend für die Erfassung und Auswertung der dortigen Archivbestände zuständig, die von den nationalsozialistischen Besatzungsbehörden geraubt und für die eigene Besatzungsinfrastruktur nutzbar gemacht wurden. Der PuSte-Mitarbeiter Hermann Weidhaus war außerdem mit der Erschließung von Archivalien in Krakau beauftragt und leistete so einen entscheidenden Beitrag zum Kunstraub in der Stadt. 61 In diesem Zusammenhang waren Mitarbeiter auch in den Raub von Bibliotheksgut involviert, wobei die PuSte sich zahlreiche Buchpublikationen, die relevant für ihre Arbeitsgebiete waren, für ihre eigene Bibliothek aneignen konnte, wie etwa die „Bibliothèque Polonaise“ aus Paris zeigt, die ihr im Jahr 1940 kommissarisch übergeben wurde. Die Publikationsstelle sollte die ca. 130000 Bände umfassende Sammlung erschließen und wissenschaftlich auswerten, was aufgrund des Kriegsverlaufs jedoch nicht mehr umgesetzt werden konnte. 62 Zusammen mit Beständen aus Polen und dem Baltikum stellte die Bibliothek der PuSte zu diesem Zeitpunkt eine der umfassendsten Sammlungen zur Geschichte Osteuropas und des Baltikums dar. 63
60
116
Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 237.
61
Ebd.236f.
62
Munke, Publikationsstelle (wie Anm.8).
63
Schöbel, Brackmann (wie Anm.16), 237.
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Die intensivierte Tätigkeit der PuSte nach 1939, die sich unter anderem in einem stetigen Anwachsen ihres Personalbestandes äußerte, ist somit kein Zufall, sondern resultierte aus der strukturellen Nähe der in der PuSte tätigen Wissenschaftler zum nationalsozialistischen Machtapparat. Insbesondere die nationalsozialistische Expansionspolitik seit 1938 und die damit verbundene Bevölkerungspolitik und -kategorisierung, Umsiedlung und Ermordung von Bevölkerungsgruppen im Osten Europas erzeugte einen Bedarf an der wissenschaftlichen Expertise, die in der PuSte vereint war: bevölkerungspolitische, geographische und historische Kenntnisse über die in Folge des Versailler Friedensvertrags an Polen abgetretenen Gebiete sowie die Länder, die im Osten an das Deutsche Reich angrenzten und nun besetzt wurden, ferner die entsprechenden Sprachkenntnisse, um die in den besetzten Ländern vorhandenen Informationen auswerten und für eine Weiterverarbeitung durch politische Instanzen aufbereiten zu können sowie diejenigen methodischen Kenntnisse und Fertigkeiten, die auf die akademische (meist geisteswissenschaftliche) Ausbildung der Mitarbeiter der PuSte zurückgingen. Die bereits in der ersten Hälfte der 1930er Jahre etablierte strukturelle Nähe zwischen der PuSte und den politischen Entscheidungsträgern der Außenpolitik war dabei die Grundlage für eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen Experten und Vertretern der Politik seit den späten 1930er Jahren. Dass die PuSte eine selbstständige Dienststelle der Preußischen Archivverwaltung wurde, was verwaltungstechnisch dem Status eines preußischen Staatsarchivs entsprach, und ihr Leiter Papritz und sein Stellvertreter Kohte preußische Archivbeamte waren, erleichterte dabei verwaltungstechnisch den Zugriff auf die PuSte und ihre Mitarbeiter, die bei Bedarf einfach abgeordnet werden konnten. Man kann sogar davon sprechen, dass in der ersten Hälfte der 1930er Jahre regelrecht die wissenschaftliche Expertise aufgebaut wurde, die nach 1938/39 zielgerichtet nutzbar gemacht werden konnte. Hatten die in der PuSte arbeitenden Wissenschaftler in der Vorkriegszeit dabei vor allem argumentativ politischen Zielen zugearbeitet sowie wissenschaftliche Grundlagen für politische Entscheidungsfindungsprozesse geliefert, so waren sie ab 1938 immer stärker in die Umsetzung der deutschen Expansionspolitik eingebunden. Dass die PuSte und ihre Expertise für die deutschen Besatzungsbehörden von außerordentlicher Bedeutung waren, zeigt die Tatsache, dass nach dem Überfall auf Polen auf Wunsch des Generalgouverneurs im besetzten Polen, Hans Frank, in Krakau eine Nebenstelle der PuSte installiert wurde, zu deren Leiter der PuSte-Mitarbeiter Archivrat Gerhard Sappok ernannt wurde. Die Nebenstelle in Krakau sollte dabei
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explizit nicht als Verwaltungsstelle, sondern als eine Forschungsstelle fungieren. Als deren Aufgaben wurden festgehalten: „1) die bisherigen Arbeiten und Arbeitsmethoden, soweit sie Untersuchungen über das Gebiet des Generalgouvernements betreffen, für die Verwaltung des Generalgouvernements fruchtbar zu machen und notwendigenfalls derartige Arbeiten (Karten, Statistiken u.a.) neu anzufertigen. 2) an der Erschließung der in den Archiven und Bibliotheken des Generalgouvernements zur Geschichte der deutschen Leistung im Weichselraum vorhandenen Materialien mitzuarbeiten und für die Publizierung derartiger, in dringendem nationalpolitischem Interesse liegenden Untersuchungen und Arbeiten Sorge zu tragen.“ 64
Unter 1) fiel etwa die Anfertigung einer Karte über die Nationalitätenverhältnisse in den Kreisen und Gemeinden des Generalgouvernements, als wichtige Arbeiten zu 2) benannte der Generalgouverneur die Publikation deutscher Führer durch Krakau und andere Städte im Generalgouvernement. Außerdem war eine Publikation zur Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements vorgesehen, wofür der Generalgouverneur Sappok sowohl den notwendigen Zugang zu statistischem Material als auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit der Behörden und Ministerien garantierte. 65 Dass Sappok bei seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Generalgouvernement direkt mit den Besatzungsbehörden zusammenarbeitete, verdeutlicht seine Berufung zum Mitglied der Kommission für die Provinz Schlesien zur Bearbeitung von Ortsnamensänderungen in den eingegliederten Ostgebieten durch den Oberpräsidenten in Breslau. 66 Im Jahr 1943 wurde schließlich die endgültige strukturelle Eingliederung der
64
BArch, R153/1775, Errichtung einer Nebenstelle der Publikationsstelle beim Amt des Generalgouver-
neurs für die besetzten polnischen Gebiete, 1939–1940, Ziele und Aufgaben der beim Amt des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete geplanten Nebenstelle der Publikationsstelle des Reichsinnenministeriums Berlin-Dahlem. 65
Ebd.
66
BArch, R153/784, Nebenstelle der PuSte in Krakau, Brief der Publikationsstelle an Sappok vom 20.Fe-
bruar 1940. – Bereits im Frühjahr 1940 zeichnete sich ab, dass anstelle der errichteten Nebenstelle der PuSte in Krakau ein eigenständiges Institut unter der führenden Mitarbeit Sappoks eingerichtet werden sollte. Dies führte zur Gründung des Instituts für Deutsche Ostarbeit (IDO), das am 20.April 1940 auf Initiative Hans Franks in Gebäuden der im November 1939 aufgelösten polnischen Jagiellonen-Universität eingerichtet wurde; BArch, R 153/783, Geschäftstagebuch der Nebenstelle in Krakau, Bericht über den Abschluss der Tätigkeit der Nebenstelle Krakau der Publikationsstelle [o. D.]; Stefan Lehr, Institut für Deutsche Ostarbeit, Krakau, 2015, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53975.html (14.9.2018).
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PuSte in den nationalsozialistischen Verfolgungs- und Repressionsapparat vollzogen, als die ihr vorgesetzte Dienststelle wechselte und an die Stelle des Reichsministeriums des Innern das Reichssicherheitshauptamt, Abt. III, Dienststelle Wilfried Krallert, trat. 67 In den letzten Kriegsmonaten wurde die Publikationsstelle von Himmler aus dem Ministerialbereich ausgegliedert und einem Kuratorium untergeordnet, das wiederum dem Reichsführer SS unterstellt war. 68 Aufgrund von internen Auseinandersetzungen, unter anderem mit seinem langjährigen Stellvertreter Wolfgang Kohte, legte Papritz im Jahr 1944 kurzzeitig sein Amt nieder. Im April 1944 löste Eugen Oskar Kossmann (1904–1998) schließlich Kohte als stellvertretender Leiter der PuSte ab. 69
V. Die Hinüberrettung der akademischen Expertise zum Osten Europas in die Nachkriegszeit – Die PuSte nach 1945 Bemerkenswerterweise stellte das Kriegsende keine Zäsur, sondern lediglich eine kurzzeitige Unterbrechung in der Arbeit der PuSte und der von ihr akkumulierten Expertise zum Osten Europas dar. Unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen des sich abzeichnenden Kalten Krieges erhielt die PuSte bald wiederum eine politische Relevanz. Einmal mehr ging dies auf die Initiative eines führenden Wissenschaftlers, diesmal auf Johannes Papritz, zurück. Am 24.Juni 1946 wurde die PuSte im Rahmen des Gesetzes 52 der US-amerikanischen Militärregierung in Coburg unter Eigentumskontrolle genommen, ihre Bestände wurden beschlagnahmt. Harald Cossack, der am 1.Februar 1934 den Dienst bei der PuSte als Bibliothekar angetreten hatte 70, wurde zum Treuhänder ernannt, 67 BArch, R 153/Publikationsstelle Berlin-Dahlem Einleitung; http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/ R153–18329/index.htm (10.2.2016). 68 Nach schweren Bombenschäden an den Räumlichkeiten der PuSte in Berlin wurden schließlich beinahe die gesamte Belegschaft und das Inventar im November 1943 nach Bautzen evakuiert. Im Frühjahr 1945 erfolgte eine erneute Evakuierung nach Coburg. Die Gründe für diese erneute Verlegung müssen wohl in den Bemühungen gesehen werden, die Bestände der PuSte vor der heranrückenden Sowjetarmee in Sicherheit bringen zu wollen; Schaller, Osteuropabibliothek (wie Anm.54), 278–280. 69 Munke, Interessen (wie Anm.11), 286. 70 BArch, R 153/962, Ausweichstelle Coburg – Verhandlungen mit dem Property Control Board der Militärregierung und mit dem bayrischen Amt für Wiedergutmachung, 1945–1946, Lebenslauf Dr. Harald Cossack, 12.August 1946.
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dem sowohl die treuhänderische Verwaltung des Eigentums der Publikationsstelle als auch ihre Leitung oblagen. 71 Papritz, gegen den zunächst ermittelt wurde, wurde Anfang 1947 durch ein Spruchkammerurteil als offiziell entlastet eingestuft. Am 27. Juni 1946 wurde er von den zuständigen Behörden wieder in sein Amt als Leiter der Publikationsstelle eingesetzt 72, eine Entscheidung, die am 10.Juli 1946 wieder rückgängig gemacht wurde. Da die „flüssigen Mittel“ der PuSte nahezu erschöpft waren, die PuSte „andererseits, zur Zeit keine besonderen Aufgaben zu erfüllen hat“, war „das Personal mit Wirkung zum 31.7.46 nunmehr zu entlassen“. 73 Die PuSte hörte damit auf zu existieren. Ab November 1947 wurde die Sammlung der PuSte in die USA gebracht, wobei ein Großteil ihrer Sammlung in die Library of Congress in Wa-
shington gelangte. 74 Bereits seit dem Sommer 1945 engagierte sich Papritz für eine Weiterführung der Arbeit der PuSte in Form einer „Ausweichstelle“. Zwar sollte der Name der PuSte in „Institut für Geschichte und Länderkunde Nordosteuropas“ oder „Nordosteuropainstitut“ geändert werden, inhaltlich sollte jedoch weiterhin die Arbeit zu den deutschen Ostprovinzen im Vordergrund stehen. 75 Zu diesem Zweck führte Papritz Verhandlungen mit dem Property Control Board der Militärregierung und dem Bayerischen Amt für Wiedergutmachung. Außerdem stand er in Verhandlungen mit der Hessisch-Nassauischen Landesbibliothek in Wiesbaden über die Übernahme der Bibliothek und Kartensammlung der PuSte sowie mehrerer Mitarbeiter. 76 Weitere Verhandlungen in dieser Angelegenheit führte Papritz mit den Universitäten in Hamburg, Göttingen, Kiel und Münster, die jedoch alle ergebnislos blieben. Nach der Freigabe der Bestände der PuSte brachte Papritz diese im Staatsarchiv Marburg
71
Ebd., Brief des Bayerischen Landesamts für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Außen-
stelle Stadt- und Landkreis Coburg an die Publikationsstelle, 26.Juli 1946. 72
BArch, R153/963, Verhandlungen über die Zukunft der Publikationsstelle, vor allem Schriftwechsel
mit Universitäten und wissenschaftlichen Instituten, 1945–1946, Brief Papritz’ an den Rektor der Universität Münster, 28.Juni 1946. 73
Ausführungen der Außenstelle Stadt- und Landkreis Coburg des Bayerischen Landesamtes für Vermö-
gensverwaltung und Wiedergutmachung vom 26.Juli 1946; zitiert nach Schaller, Osteuropabibliothek (wie Anm.54), 281. 74
Munke, Interessen (wie Anm.11), 288.
75
Ebd.287.
76
BArch, R153/963, Verhandlungen über die Zukunft der Publikationsstelle, vor allem Schriftwechsel
mit Universitäten und wissenschaftlichen Instituten, 1945–1946, Bericht über meine Verhandlungen in der Nassauischen Landesbibliothek [o. D.].
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unter, wo er seit dem 1.Januar 1949 als Staatsarchivrat angestellt war und 1954 als Nachfolger Ludwig Dehios Direktor wurde. Im Jahr 1979 wurden die Bestände an das Bundesarchiv übergeben. 77 Zahlreiche Bücher, Zeitschriften und Karten waren schon Ende der 1950er und Mitte der 1960er Jahre an das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg gelangt, in dessen Trägereinrichtung, dem Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat, sich Papritz führend engagierte, und das nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem neuen Zentrum der wissenschaftlichen Expertise über den Osten Europas avancierte. 78
VI. Fazit Die Publikationsstelle Berlin-Dahlem ist ein aussagekräftiges Beispiel für das Verhältnis von (nationalsozialistischer) Politik und Wissenschaft während des Zweiten Weltkrieges. Ihre Geschichte verdeutlicht dabei am Beispiel ihrer Leiter Albrecht Brackmann und Johannes Papritz, wie führende Vertreter des gesellschaftlichen Teilbereichs Wissenschaft im Sinne eines Verständnisses von Wissenschaft als politikberatende Instanz gezielt die Nähe zur Politik suchten und sich somit zu externen Experten für die politischen Ziele der Revision des Versailler Vertrags und der Wiedererlangung einer deutschen Vormachtstellung in Europa stilisierten. Die Politik billigte der PuSte und ihren Mitarbeitern diesen Status zu, was ihnen die Möglichkeit gab, als Experten gehört zu werden. 79 Ihr Expertenstatus beruhte zum einen auf ihren fachspezifischen Kenntnissen, das heißt der akademischen Ausbildung als Geographen, Kartographen oder Historiker, welche die Generierung, Auswertung und Aufbereitung von bevölkerungsstatistischem Material über die besetzten Gebiete ermöglichte. Zum anderen – wie das Beispiel Brackmanns zeigt – waren es persönliche Kontakte und Netzwerke, die den Zugang zu den Ressourcen ermöglichten, welche die Politik anzubieten hatte. Der (nationalsozialistische) Politikapparat wie-
77 Munke, Publikationsstelle (wie Anm.8). 78 Vgl. etwa die Bestände der Kartensammlung des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung. Zahlreiche der Karten aus den späten 1930er und 1940er Jahren tragen Stempel der „Publikationsstelle“. 79 Kusber, Expertenkulturen (wie Anm.1), 60; vgl. auch Martin Kohlrausch/Katrin Steffen/Stefan Wiederkehr (Hrsg.), Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I. Osnabrück 2010.
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derum förderte das Entstehen einer wissenschaftlichen Expertise über Themen, die auf der tagespolitischen Agenda standen. Nicht zuletzt führte diese Annäherung von Politik und Wissenschaft zum Aufbau einer umfassenden außeruniversitären Forschungslandschaft mit einer ideologischen und strukturellen Nähe zum nationalsozialistischen Machtapparat. Die Politik konnte so gezielt auf die Expertise zugreifen, die die PuSte anzubieten hatte. Die PuSte ihrerseits konnte so eine Machtposition gegenüber wissenschaftlichen Konkurrenten und andersdenkenden Wissenschaftlern erlangen, die sie aufgrund der finanziellen und ideellen Ressourcen, die sie durch ihre Politiknähe mobilisierte, marginalisieren konnte. Auf diese Weise wurden die inhaltliche Uniformierung und die Anpassung der Wissenschaft an die nationalsozialistische Ideologie weiter befördert. Akademische Expertise als externes Expertentum für die nationalsozialistische Politik während des Zweiten Weltkrieges funktionierte somit nicht als einseitiger Fluss von Ressourcen, sondern beide gesellschaftlichen Teilbereiche, Wissenschaft und Politik, arbeiteten sich gegenseitig zu, indem sie dem jeweils anderen Ressourcen anboten und wiederum diejenigen, die der andere Teilbereich anzubieten hatte, mobilisierten. Die PuSte und ihre Mitarbeiter lieferten jedoch nicht nur den ideologisch-theoretischen Unterbau der Politik. Darüber hinaus waren sie auch aktiv an der wissenschaftlichen Vorbereitung, Begleitung und Ausführung der nationalsozialistischen Politik beteiligt, wie die Auflistung ihrer Arbeitsbereiche nach 1939 gezeigt hat. Somit müssen die PuSte und ihre Mitarbeiter nicht nur im Sinne Götz Alys und Susanne Heims zu den „Vordenker[n] der Vernichtung“, sondern auch zu deren Mitakteuren gezählt werden. 80
80
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Vgl. Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung (wie Anm.6).
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Einfluss und Rolle von Experten während der nordrhein-westfälischen Gebietsreform (1966–1975) von David Merschjohann
I. Einleitung Die 1960er Jahre, die als „Dynamische Zeiten“ 1 oder auch „als Wendezeit“ 2 charakterisiert werden, waren in der Bundesrepublik von Reformen und Planungen geprägt. Die „Entideologisierung“ 3 bzw. „Enttabuisierung“ 4 des Planungsbegriffs wurde von Theoretikern Mitte der 1960er Jahre vorangetrieben. In dieser bis zur Ölpreiskrise im Jahre 1973 dauernden stark ausgeprägten „Planungseuphorie“ sollten in erster Linie nicht mehr Politiker oder Regierungen für die Gestaltung der Zukunft verantwortlich sein, sondern Wissenschaftler, die aufgrund von rationalen, objektiven Maßstäben vermeintlich geeigneter hierüber urteilen konnten. 5 Ein Kind dieser Zeit waren die in den Bundesländern durchgeführten kommunalen Gebietsreformen. 6 Initiiert wurden diese gleichermaßen vom 45. Deutschen Ju-
1 Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 37.) Hamburg 2000. 2 Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 44.) 2.Aufl. Paderborn 2005. 3 Michael Ruck, „So viel Häßlichkeit und so wenig Schönheit“. Westdeutsche Ansichten über die Planwirtschaft Ost in der DDR, in: Detlev Brunner/Udo Grashoff/Andreas Kötzing (Hrsg.), Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte. Berlin 2013, 209–231, hier 211. 4 Michael Ruck, Planung als Utopie. Gesellschaftsutopien der 68er und gesellschaftliche Planungseuphorie in den sechziger Jahren, in: Vorgänge 181, 2008, 13–22, hier 16. 5 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20.Jahrhundert. (Europäische Geschichte im 20.Jahrhundert.) München 2014, 805–809, hier 807. 6 Zur Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen vgl. einführend Sabine Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform. Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965–2000. (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 85.) München 2012; Jan Nikolas Dicke, Reform und Protest. Kon-
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-006
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ristentag im Jahre 1964, auf dem über die Effizienz von Verwaltungen debattiert wurde. 7 Auch in Nordrhein-Westfalen wurde eine großflächige Gebietsreform durchgeführt. In der „Hochphase des Ausbaus der Beratung“, die von den späteren sechziger bis in die frühen siebziger Jahre andauerte 8, beauftragte die Landesregierung eine Sachverständigenkommission, welche Handlungsempfehlungen für die Neugliederung von Gemeinden, Städten und Kreisen sowie von Landesbehörden darlegen sollte. Welchen Einfluss dabei Experten nahmen und inwiefern diese Empfehlungen von den Protagonisten wie beispielsweise der Landesregierung, der Ministerialbürokratie, den Landtagsabgeordneten, aber auch von den Vertretern vor Ort in ihren Argumentationen aufgegriffen wurden, soll im Folgenden dargelegt werden. Dabei wird der Neugliederungsprozess der ostwestfälischen Städte Höxter und Paderborn beleuchtet. Es werden drei Thesen vorgestellt, die im Fazit konkretisiert werden. Bevor die Neugliederung in den beiden Städten untersucht wird, soll zunächst ein kurzer Überblick über die Gebietsreform mitsamt ihren Neugliederungsphasen gegeben werden. Anschließend werden die Mitglieder sowie die Ergebnisse der jeweils einberufenen Sachverständigenkommission vorgestellt.
flikte um die Neugliederung des Kreises Borken in den 1960er und 1970er Jahren. (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 74.) Paderborn 2013. 7 Vgl. Sabine Mecking, Regionale Disparitäten, Raumordnung und das Ideal der Chancengerechtigkeit in Westdeutschland, in: Stefan Grüner/Sabine Mecking (Hrsg.), Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischem Wandel in Deutschland 1945–2000. (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 114.) Berlin/Boston 2017, 77–89, hier 83. 8 Wilfried Rudloff, Geschichte der Politikberatung, in: Stephan Bröchler/Rainer Schützeichel (Hrsg.), Politikberatung. Stuttgart 2008, 83–103, hier 87. Siehe mehr zum „Aufstieg des ‚Experten‘ zu einer Leitfigur politischen Handelns“ bei Gabriele Metzler, Politik nach Plan? Konzepte und Zielvorgaben für die Modernisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, in: Bernd Rother (Hrsg.), Willy Brandt. Neue Fragen, neue Erkenntnisse. (Willy-Brandt-Studien, Bd. 5.) Bonn 2011, 189–206, hier 191. Vgl. auch die Rolle von Experten in unterschiedlichen Politikfeldern bei Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive. (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 168.) Berlin 2004; sowie die Rolle von Planung (und Experten) auf Bundesebene bei Elke Seefried/Dierk Hoffmann (Hrsg.), Plan und Planung. Deutsch-deutsche Vorgriffe auf die Zukunft. (Zeitgeschichte im Gespräch, Bd. 27.) Berlin/Boston 2018; Elke Seefried, Mehr Planung wagen? Die regierende Sozialdemokratie im Spannungsfeld zwischen politischer Planung und Demokratisierung 1969–1974, in: Axel Schildt/ Wolfgang Schmidt (Hrsg.), „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens. (Willy-Brandt-Studien, Bd. 6.) Bonn 2019, 105–124.
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II. Zur Rolle von Experten während der Gebietsreform 1. Phasen und Ablauf der Gebietsreform Grundsätzlich verlief die nordrhein-westfälische Gebietsreform in zwei Phasen: In das erste Neugliederungsprogramm (1967–1970) wurden vor allem Landkreise aufgenommen, „deren Gemeindestruktur besonders kleinräumig zersplittert war“. 9 Nach Abschluss des 1. Neugliederungsprogramms, zu dem unter anderem auch der Landkreis Höxter zählte, blieben von ursprünglich 2355 Kommunen schließlich 1276 Kommunen übrig. 10 In der zweiten Phase (1970–1975) teilten die Düsseldorfer Ministerialbeamten das Land in insgesamt acht Neugliederungsräume ein. Der für die Gebietsreform unter anderem im Innenministerium zuständige Leitende Ministerialrat Heinz Köstering 11 stellte rund 25 Jahre nach Abschluss der Reform die Einteilung in Räume als eine „bedeutsame Strategie“ dar. 12 Zwar waren die beiden Regierungsparteien SPD und FDP sowie die Oppositionspartei CDU grundsätzlich für die Reform, mit dieser „Salamitaktik“ 13 lief man allerdings nicht Gefahr, dass die Reform scheitern könnte. Die Abgeordneten stimmten regelmäßig über andere Regionen ab, sodass sich keine breite Oppositionsfront bilden konnte. Der vom Wattenscheider Textilunternehmer Klaus Steilmann gegründete Verein „Aktion Bürgerwille“ war hingegen ein sehr ernsthafter Versuch, die Gebietsreform zum Scheitern zu bringen. 14 So wurde im Februar 1974 das erste Volksbegehren in der Geschichte des Landes initiiert, welches allerdings aufgrund der nicht erreichten Unterschrif-
9 Heinz Köstering, Kommunale Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen 1967–1975, in: Martin Bünermann (Bearb.), Die Gemeinden und Kreise nach der kommunalen Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen. Ein Handbuch zur kommunalen Neugliederung mit Verzeichnissen der neuen Gemeinden und Kreise und der aufgelösten Gemeinden sowie einer Karte mit den neuen Verwaltungsgrenzen. (Kommunale Schriften für Nordrhein-Westfalen, Bd. 36.) Köln 1975, 1–25, hier 6. 10 Vgl. Martin Bünermann, Die Gemeinden des 1. Neugliederungsprogramms in Nordrhein-Westfalen. Ein Handbuch zur kommunalen Neugliederung mit systematischen Übersichten und Verzeichnissen der neuen und der aufgelösten Gemeinden. (Kommunale Schriften für Nordrhein-Westfalen, Bd. 32.) Köln 1970, 38f. 11 Heinrich (Heinz) Köstering, Jurist, seit 1966 Ltd. Ministerialrat (ab 1977 Ministerialdirigent) im NRWInnenministerium, vgl. Die Kabinettsprotokolle der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Biogramme (Online-Ressource), http://protokolle.archive.nrw.de/lvb/lvb.jsp?idTester=KoesteringHeinrich. 12 Heinz Köstering, Notwendige Reform mit vielen Opfern, in: Städte- und Gemeinderat 53, 1999, 6–9, hier 8. 13 Christoph Nonn, Geschichte Nordrhein-Westfalens. (Beck’sche Reihe, Bd. 2610.) München 2009, 101. 14 Vgl. hierzu Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform (wie Anm.6), 133–219.
D . MERSCHJOHANN, EINFLUSS UND ROLLE VON EXPERTEN
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tenanzahl scheiterte. Die Gemeinden sollten wieder ein Mitbestimmungsrecht in Bezug auf die Änderung von Gemeindegrenzen erhalten, nachdem dieses mit der Änderung der Gemeindeordnung im Jahre 1967 faktisch abgeschafft worden war. Am 1.Januar 1975 gab es in Nordrhein-Westfalen insgesamt 392 Kommunen, von ursprünglich 57 Landkreisen blieben 31 übrig. 15 Aufgrund von Verfassungsbeschwerden veränderte sich die Zahl wenig später auf insgesamt 396 Städte und Gemeinden – eine bis heute unveränderte Zahl. 2. Einberufung und Mitglieder der Sachverständigenkommission Der Landtag diskutierte Anfang der 1960er Jahre durchaus über eine Reform der kommunalen Landkarte. 16 Aber es war nicht eines der ersten Neugliederungsgesetze 17, welches den Beginn der umfassenden Verwaltungs- und Gebietsreform von über 2300 Gemeinden und 57 Landkreisen im Land Nordrhein-Westfalen markieren sollte. Der eigentliche Grundstein der Verwaltungs- und Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen wurde mit der Einberufung einer Kommission durch die Landesregierung am 5.Oktober 1965 gelegt. Diese sollte „die kommunale und staatliche Neugliederung aller Bereiche in Nordrhein-Westfalen untersuchen und ein Gutachten“ erstellen. 18 Die Landesregierung forderte die Kommission auf, Einschätzungen unter anderem über folgende Fragen zu geben: So sollten die Mitglieder prüfen, ob „die heutige räumliche Gliederung der Gemeinden und Landkreise den Erfordernissen einer modernen Verwaltung“ entsprach und in welchem Ausmaß „die Grenzen von Gemeinden und Landkreisen geändert“ werden mussten. 19 Ferner wurde um eine Einschätzung gebeten, ob bei einer entsprechenden Neuordnung noch Ämter notwendig waren und ob das Neugliederungsverfahren „gesetzlich einfacher geregelt
15
Vgl. Köstering, Kommunale Gebietsreform (wie Anm.9), 12f.
16
Vgl. beispielhaft die Zweite Lesung über Gesetzentwürfe hinsichtlich der Zusammenschlüsse von Ge-
meinden in den Landkreisen Ahaus und Unna, 9.6.1964, in: Archiv des Landtags NRW, 5. WP., Plenarprotokoll 05/38, Bd. 2, 1351–1353. 17
Vgl. hierzu Dritte Lesung zur Regierungsvorlage, Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung des Land-
kreises Siegen – Drucksachen Nr.831 u. 1020, 19.4.1966, in: Archiv des Landtags NRW, 5. WP., Plenarprotokoll 05/74, Bd. 3, 2729–2731. 18
Landesregierung NRW, Landespresse- und Informationsstelle, Pressenotiz. Landesregierung beruft
Kommission zur Untersuchung der kommunalen und staatlichen Neugliederung in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 5.10.1965, 1f., hier 1, in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt.Rheinland (im Folgenden abgekürzt als LAV NRW R), NW 370–497. 19
126
Ebd.1.
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werden“ konnte. 20 Nicht nur die Gemeinden und Landkreise sollten analysiert werden, auch die Mittelinstanzen wie die Landschaftsverbände, Landesbehörden, aber auch die sechs Regierungsbezirke sollten von einer potentiellen Neugliederung nicht befreit werden. 21 Die Landesregierung betonte in ihrer entsprechenden Pressemitteilung, dass „elf unabhängige Sachverständige aus Verwaltung, Wissenschaft und den kommunalen Spitzenverbänden“ in die Kommission einberufen werden sollten. 22 Tab. 1: Die Mitglieder der Sachverständigenkommissionen 23 Sachverständigenkommission (Abschnitt A)
Staatssekretär Adenauer, Düsseldorf (Vorsitzender); Hauptgeschäftsführer Dr. Berkenhoff, Düsseldorf; Geschäftsführendes Präsidialmitglied Dr. Bockelmann, Köln; Prof. Dr. Küchenhoff, Würzburg; Amtsund Stadtdirektor Liese, Meschede; Oberkreisdirektor Dr. Möcklinghoff, Lüdinghausen; Leitender Ministerialrat Dr. Müller, Düsseldorf; Staatssekretär a. D. Dr. Oermann, Düsseldorf; Prof. Dr. Salzwedel, Bonn; Prof. Dr. Schnur, Bochum; Staatssekretär Dr. Seeger, Düsseldorf; Ministerialrat Stührenberg, Düsseldorf
Sachverständigen-Kommission I
Staatssekretär a. D. Adenauer, Düsseldorf (Vorsitzender bis 5.1.1968, da-
(Abschnitt B)
nach Rücktritt); Staatssekretär Dr. Rietdorf, Düsseldorf (Vorsitzender ab 16.1.1968, Berufung durch Regierung); Hauptgeschäftsführer Dr. Berkenhoff, Düsseldorf; Oberbürgermeister a. D. Dr. h. c. Bockelmann, Köln (Mitglied bis 7.4.1968, Tod); Ministerialdirigent Dr. Eising, Düsseldorf; Landrat Girgensohn, Kamen; Prof. Dr. Küchenhoff, Würzburg; Amts- und Stadtdirektor Liese, Meschede; Oberkreisdirektor Dr. Möcklinghoff, Lüdinghausen; Prof. Dr. Gottfried Müller, Düsseldorf und München; Staatssekretär a. D. Dr. Oermann, Düsseldorf; Oberstadtdirektor Dr. Orth, Rheydt; Prof. Dr. Salzwedel, Bonn; Staatssekretär a. D. Dr. Seeger, Düsseldorf; Ministerialrat Stührenberg, Düsseldorf
Sachverständigen-Kommission II Staatssekretär Dr. Rietdorf, Düsseldorf (Vorsitzender); Oberbürger(Abschnitt C)
meister a. D. Dr. h. c. Bockelmann, Köln (Mitglied bis 7.4.1968, Tod); Leitender Ministerialrat Knop, Düsseldorf; Erster Landesrat Könemann, Köln; Erster Landesrat Dr. Naunin, Münster; Direktor des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk Neufang, Essen; Ministerialdirigent Dr. Niemeier, Düsseldorf; Direktor des Statistischen Landesamtes NordrheinWestfalen Dr. Schon, Düsseldorf; Universitätsprofessor Dr. Stern, Köln; Beigeordneter Dr. Wagener, Düsseldorf
20 Ebd.1f. 21 Ebd.2. 22 Ebd.1. 23 Namen enthalten in: Die kommunale und staatliche Neugliederung des Landes Nordrhein-Westfalen,
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Die Sachverständigenkommission tagte schließlich erstmals Ende Januar 1966 in Düsseldorf. Zu Gast war ebenfalls Ministerpräsident Franz Meyers (CDU), der die Bedeutung der eingesetzten Kommission für die anzustrebende Neugliederung hervorhob. Er sprach von „ein[em] neue[n] Kapitel in der Geschichte der öffentlichen Verwaltung“ des Landes, sobald die Gutachten vorlägen. 24 Zusätzlich appellierte er an die Kommissionsmitglieder, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden, dass mit ihrer Arbeit „eine entscheidende Voraussetzung für das künftige Schicksal der Verwaltung in Nordrhein-Westfalen“ geschaffen werden könnte. 25 Wurde in der Öffentlichkeit mittels der Pressemitteilung zunächst danach gefragt, ob die Verwaltungsgliederung noch zeitgemäß war, drückte sich Meyers in der internen Sitzung bereits deutlicher aus: Die Gutachter sollten bei ihren Vorschlägen von der Erkenntnis geleitet werden, welche zukünftigen Aufgaben die Verwaltungen zu bewältigen hätten. 26 Dass die Gebietsreform zu intensiven Diskussionen führen würde, war ihm ebenfalls frühzeitig bewusst. 27 Die Kommission begann sodann mit der Arbeit, um die vorliegenden Fragen der Landesregierung zu beantworten. Die Arbeit verlief äußerst geräuschlos, da die Bevölkerung keine nennenswerten Zwischenergebnisse erfuhr. Roman Schnur, als Mitglied der Kommission, begründete dies damit, dass die Kommission Maßstäbe zur Neugliederung selbst erarbeiten musste. Dies führte zu einem erheblichen Mehraufwand, weil sie auf keine bereits bestehenden Vorschläge der Wissenschaft zurückgreifen konnte. 28
Abschnitt A. Die Neugliederung der Gemeinden in den ländlichen Zonen. Gutachten erstattet am 22.November 1966 durch die von der Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen eingesetzte Sachverständigenkommission für die kommunale und staatliche Neugliederung des Landes Nordrhein-Westfalen. Siegburg 1966, 6; Die kommunale und staatliche Neugliederung des Landes Nordrhein-Westfalen, Abschnitt B. Die Neugliederung der Städte und Gemeinden in den Ballungszonen und die Reform der Kreise. Gutachten erstattet am 9.April 1968 durch die von der Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen eingesetzte Sachverständigen-Kommission für die kommunale Neugliederung des Landes NordrheinWestfalen. Siegburg 1968, 7; Die kommunale und staatliche Neugliederung des Landes Nordrhein-Westfalen, Abschnitt C. Die staatliche und regionale Neugliederung des Landes Nordrhein-Westfalen. Gutachten erstattet am 8.April 1968 durch die von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen eingesetzte Sach24 Redemanuskript Ministerpräsident Meyers anlässlich der konstituierenden Sitzung der Sachverstänverständigenkommission für die staatliche und regionale Neugliederung des Landes Nordrhein-Westfalen. digenkommission am 24.1.1966 in Düsseldorf, hier 2, in: LAV NRW R, NW 264–297. Köln 1968, 1f., für weitere beratende Mitglieder1–20, vgl. ebd.2f. 25
Ebd.2.
26
Vgl. ebd.11f.
27
Vgl. ebd.18.
28
Vgl. Westdeutscher Rundfunk, Verwaltungsreform und Verwaltungswissenschaft. Ein Gespräch zwi-
schen Prof. Roman Schnur und Walter Först, 17.12.1966, 1–18, hier 8f., in: LAV NRW R, NW 264–4.
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Weniger geräuschlos verlief allerdings das politische Geschäft in Düsseldorf im Jahre 1966. Die Wiederwahl von Ministerpräsident Meyers am 25.Juli 1966 gelang aufgrund einer Stimmenthaltung nicht auf Anhieb, sodass er sich erst im zweiten Wahlgang durchsetzen konnte. 29 Differenzen führten allerdings dazu, dass die CDU/FDP-Koalition einige Monate später aufgekündigt wurde und beide Parteien
mit der SPD koalieren wollten. Die SPD-Fraktion entschied sich in einer internen Sitzung mehrheitlich für eine Koalition mit den Liberalen. 30 Die politische Dauerfehde und der anschließende Koalitionswechsel sollten allerdings nicht zu einer Kehrtwende in der Thematik Gebiets- und Verwaltungsreform führen. Der neugewählte Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) 31 bekräftigte in seiner Regierungserklärung Mitte Dezember 1966, dass die Landesregierung „die Notwendigkeit einer kommunalen Gebietsreform an[erkennt]. Daher wird sie die Arbeit der Sachverständigenkommission weiter unterstützen.“ 32 Die Unterstützung bezog sich auf den Umstand, dass die Sachverständigenkommission zunächst nur ein Teilgutachten vorlegen konnte. Im November 1966 erfolgte nämlich das Gutachten A über die Neugliederung der Gemeinden in den ländlichen Zonen. Die vielfältigen Fragen der Landesregierung sollten getrennt voneinander bearbeitet werden; der Kommission erschien es zunächst sinnvoll, Empfehlungen für die Neugliederung auf unterster Ebene zu geben, nämlich die der Gemeinden. 33 Die Landesregierung beschloss daraufhin in ihrer Kabinettssitzung am 7.März 1967 eine Veränderung des Aufgaben- und Personalzuschnitts der Sachverständigenkommission: Fortan sollte die neue „Sachverständigen-Kommission I“ sich um die „kommunale Neugliederung des Landes“ kümmern und die „SachverständigenKommission II“ Vorschläge für „die staatliche und regionale Neugliederung des Landes“ erarbeiten. 34 Vorsitzender der Sachverständigenkommissionen war jeweils der Staatssekretär 29 Vgl. Wahl des Ministerpräsidenten, 25.7.1966, in: Archiv des Landtags NRW, 6. WP., Plenarprotokoll 06/1, Bd. 1, 5–7. 30 Vgl. „Soll er kommen“, in: Der Spiegel 50, 1966, 47. 31 Vgl. Wahl eines neuen Ministerpräsidenten, 8.12.1966, in: Archiv des Landtags NRW, 6. WP., Plenarprotokoll 06/7, Bd. 1, 106f. 32 Regierungserklärung, 13.12.1966, in: Archiv des Landtags NRW, 6. WP., Plenarprotokoll 06/8, Bd. 1, 111–116, hier 112. 33 Vgl. Die kommunale und staatliche Neugliederung, Abschnitt A (wie Anm.23), 7. 34 Christoph Nonn/Wilfried Reininghaus/Wolf-Rüdiger Schleidgen (Hrsg.), Die Kabinettsprotokolle der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen 1966 bis 1970 (Sechste Wahlperiode). Eingel. u. bearb. v. Andreas
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des NRW-Innenministeriums: nämlich die beiden Juristen Ludwig Adenauer und Fritz Rietdorf. 35 Generell waren fast alle einberufenen Kommissionsmitglieder ausgebildete, sogar promovierte Juristen. Die Mitglieder der im Januar 1966 einberufenen Sachverständigenkommission lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Neben den Ministerialbeamten Gottfried Müller 36, Josef Oermann 37, Julius Seeger 38 und Wilhelm Stührenberg 39, die als interne Experten gelten konnten, wurden darüber hinaus Mitglieder berufen, die sich durch unterschiedliche Tätigkeiten außerhalb des Ministeriums einen Namen machten. So legte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtebundes, Hans Albert Berkenhoff, eine Monographie über das Kommunalverfassungsrecht in Nordrhein-Westfalen vor, dessen Adressatenkreis angehende Verwaltungskräfte, Ratsmitglieder, aber auch das interessierte Publikum sein sollte. 40 Sehr dezidiert befasste er sich darin mit den Themen des Gemeindegebietes, Grenzstreitigkeiten, Gebietsänderungen und Gebietsänderungsverträgen; auch den
Pilger. (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Bd. 8.) Siegburg 2006, hier T. 1: Einleitung, Dokumente, 214–223, hier 216–219; die konkreten Fragestellungen vgl. ebd.217f. 35
Ludwig Adenauer, Jurist, Staatssekretär im NRW-Innenministerium von August 1962 bis Februar
1967; Dr. Fritz Rietdorf, Jurist, Staatssekretär im NRW-Innenministerium von März 1967 bis Juli 1970, vgl. jeweils Bernd Haunfelder, Nordrhein-Westfalen. Land und Leute 1946–2006. Ein biographisches Handbuch. Münster 2006, 34 u. 390f. – Adenauer leitete vorübergehend auch nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst die Sachverständigen-Kommission I. 36
Dr. Gottfried Müller, Wirtschaftswissenschaftler, Ministerialrat und Leiter der Gruppe „Landespla-
nung“ im NRW-Landesplanungsministerium von 1963 bis 1967, vgl. Heinrich Lowinski, Gottfried Müller – Wegbereiter für eine verwaltungs- und politikrelevante Landesplanung, in: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Beiträge zu Raumforschung, Raumordnung und Landesplanung. (Schriftenreihe Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Landesentwicklung, Bd. 1042.) Dortmund 1985, 9–14, hier 11–13. 37
Dr. Josef Oermann, Jurist, Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei von 1958 bis 1965, danach im Ru-
hestand, vgl. Haunfelder, Nordrhein-Westfalen (wie Anm.35), 347. 38
Dr.Julius Seeger, Jurist, Ministerialdirigent in der Staatskanzlei 1960, Staatssekretär in der Staatskanz-
lei von 1966 bis 1967 (im einstweiligen Ruhestand), vgl. Nonn/Reininghaus/Schleidgen (Hrsg.), Kabinettsprotokolle (wie Anm.34), T. 2: Dokumente, Verzeichnisse, Register, 1193f. 39
Wilhelm Stührenberg, Ministerialdirigent und Abteilungsleiter im Ministerium für Wirtschaft, Mit-
telstand und Verkehr, vgl. Kurt Düwell/Wolf-Rüdiger Schleidgen (Hrsg.), Die Kabinettsprotokolle der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen 1962 bis 1966 (Fünfte Wahlperiode). Eingel. u. bearb. v. Volker Ackermann. (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen. Reihe K: Kabinettsakten, Bd. 5.) Siegburg 2002, T. 2: Dokumente 181–344, Verzeichnisse, Register, 1043. 40
Vgl. Hans Albert Berkenhoff, Das Kommunalverfassungsrecht in Nordrhein-Westfalen. (Handbücherei
für die Ausbildung und Verwaltungspraxis, Bd. 1.) 2.Aufl. Siegburg 1965, 5.
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aktuellen Stand der Gesetzeslage von Ämtern und Landkreisen stellte er vor. 41 Darüber hinaus wurde Berkenhoff von der Ständigen Deputation zum stellvertretenden Vorsitzenden der Kommunalrechtlichen Arbeitsgemeinschaft beim 45. Deutschen Juristentag gewählt. 42 Auf dieser Veranstaltung wurde darüber diskutiert, ob „die gegenwärtige kommunale Struktur den Anforderungen der Raumordnung“ entspreche. 43 Allein die Tatsache, dass eine Person, die federführend die Arbeitsgemeinschaft mitgeleitet hat 44, nun Mitglied der Sachverständigenkommission war, unterstreicht, dass die Landesregierung mit Hans Albert Berkenhoff einen ausgewiesenen externen Experten zu diesem Thema einberufen hatte. Mit Werner Bockelmann wurde der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages berufen, der als Mann der Praxis gelten durfte. 45 Auch er brachte beim 45. Deutschen Juristentag seine persönliche Meinung als Jurist in die Diskussion ein: So schloss er sich der allgemeinen Auffassung an, dass die zahlreichen kleinen Gemeinden den Anforderungen der örtlichen Planung nicht mehr gewachsen waren. 46 Auch seine Teilnahme an dieser Veranstaltung belegt, dass Werner Bockelmann zweifellos als externer Experte zu diesem Thema gelten konnte. Bockelmann sollte sein Fachwissen und seine persönlichen Einschätzungen für die Durchführung einer Gebietsreform, der er bereits auf dem Juristentag positiv gegenüberstand, mit in die Arbeit der Sachverständigenkommission einbringen. Mit Günther Küchenhoff wurde ein Rechtswissenschaftler berufen, der auf dem juristischen Gebiet der Staatslehre zusammen mit Erich Küchenhoff ein Standardwerk herausgab. 47 Durch die Berufung von Jürgen Salzwedel und Roman Schnur gehörten dem Gremium zwei weitere Hochschullehrer an. Jürgen Salzwedel führte gemeinsam mit Günter Erbel das Werk des im Januar 1966 verstorbenen Hans Peters fort und beschäftigte sich mit dem Deutschen
41 Vgl. ebd.191–205 u. 221–238. 42 Vgl. Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages Karlsruhe 1964. (Sitzungsberichte, Bd. 2.) München/Berlin 1965, [J 5]. 43 Ebd. VIII. 44 Vgl. hierzu auch ebd.J 84–88. 45 Dr. Werner Bockelmann, Jurist, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages von 1964 bis 1968, vgl. Bruno Weinberger, Der Deutsche Städtetag in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, in: Deutscher Städtetag (Hrsg.), Im Dienst deutscher Städte 1905–1980. Ein kommunales Sachbuch zum 75jährigen Jubiläum. (Neue Schriften des Deutschen Städtetages, H. 40.) Stuttgart 1980, 13–72, hier 28. 46 Vgl. Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages (wie Anm.42), J 47. 47 Günther Küchenhoff/Erich Küchenhoff, Allgemeine Staatslehre. 4.Aufl. Stuttgart 1960.
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Staatsrecht. 48 Die Landesregierung vertraute des Weiteren auf die Fachkenntnisse von Roman Schnur, der zum Zeitpunkt der Einberufung durch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen Professor an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der RuhrUniversität Bochum war. 49 Grundsätzlich zeichnete er sich durch eine außerordentliche Affinität zur Verwaltung aus, nicht zuletzt durch seine vorherige Tätigkeit in der Staatskanzlei in Rheinland-Pfalz. 50 Er veröffentlichte Anfang des Jahres 1966 zudem eine Studie, die vor allem auf seinen Erfahrungen mit der Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz beruhte. 51 Schnur hielt fest, dass auch umfangreiche Reformen durchaus umgesetzt werden könnten, sofern sie strategisch gut vorbereitet seien. 52 Hans Liese 53 und Egbert Möcklinghoff 54 können als Vertreter der kommunalen Praxis gelten, die ihre Erfahrungen aus der täglichen Arbeit einbringen sollten. Beim Letztgenannten kam außerdem eine politische Tätigkeit hinzu, da er Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags war. 55 Die Mitgliederstruktur der dann eingesetzten Sachverständigen-Kommission I sah nur geringfügige Änderungen vor: Gottfried Müller erhielt im Jahre 1967 eine Professur für Raumforschung, Raumordnung und Landesplanung der TU München 56, blieb dem Gremium aber auch aufgrund seiner Fachkenntnisse in diesem für die Gebietsreform so strategisch bedeutsamen Bereich weiterhin erhalten. Der Leiter der Kommunalabteilung des Innenministeriums, Paul Eising, wurde nun
48
Hans Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung. Bearb. v. Jürgen Salzwedel
und Günter Erbel. (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, Abt.Rechtswissenschaft.) Berlin/ Heidelberg/New York 1969. – Jürgen Salzwedel wurde, genau wie Günther Küchenhoff, für den verstorbenen Hans Peters nachträglich am 25.Januar 1966 von der Landesregierung als Nachfolger in die Sachverständigenkommission einberufen, vgl. Düwell/Schleidgen, Kabinettsprotokolle (wie Anm.39), 1111. 49
Vgl. Heinrich Siedentopf, Nachruf, in: Rudolf Morsey/Helmut Quaritsch/Heinrich Siedentopf (Hrsg.),
Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur. Berlin 1997, 1–4, hier 3. 50
Vgl. hierzu ebd.3.
51
Roman Schnur, Strategie und Taktik bei Verwaltungsreformen. (Politik und Verwaltung, H. 2.) Baden-
Baden 1966. 52
Vgl. ebd.59.
53
Hans Liese, Gehobener Verwaltungsdienst, Amts- und Stadtdirektor von Meschede von 1956 bis 1976,
vgl. Stadtarchiv Meschede, Ehrenbürger der Stadt Meschede. Meschede [o.J.], 36f. 54
Dr. Egbert Möcklinghoff, Jurist, Oberkreisdirektor in Lüdinghausen von 1959 bis 1973, vgl. Landkreis-
tag Nordrhein-Westfalen, Dokumentation über die Landräte und Oberkreisdirektoren in Nordrhein-Westfalen 1945–1991. Düsseldorf 1992, 701.
132
55
Möcklinghoff (CDU) war von 1966 bis 1973 Mitglied des Landtages von NRW, vgl. ebd.701.
56
Vgl. Lowinski, Gottfried Müller (wie Anm.36), 13.
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ebenfalls Mitglied der Kommission. 57 Der Lehrer Jürgen Girgensohn war ein Vertreter aus der Politik. Neben seiner Funktion als Landrat des Landkreises Unna war er nämlich ebenfalls Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen. Es zeichnete sich bei seiner Berufung bereits ab, dass er kurze Zeit später als Abgeordneter über die Thematik mitentscheiden sollte, über die das Gremium der Kommission zunächst Empfehlungen abgeben sollte. 58 Darüber hinaus berief die Landesregierung einen weiteren erfahrenen Vertreter aus dem kommunalen Bereich: Josef Orth, den Oberstadtdirektor von Rheydt. 59 Die einberufenen Mitglieder der Sachverständigen-Kommission II unterschieden sich deutlich von denen der anderen beiden Kommissionen. Dies lag darin begründet, dass nun über die Mittelinstanzen diskutiert werden sollte. So wurden mit Will Könemann 60, Helmut Naunin 61 und Heinz Neufang 62 Angehörige dieser Instanzen in die Kommission einberufen. Mit Naunin wurde ein externer Experte berufen, der bereits auf dem Juristentag persönliche Äußerungen zur Landesplanung vortrug und auch grundsätzlich einer Verwaltungsreform positiv gegenüberstand. 63 Der Direktor des Statistischen Landesamtes von Nordrhein-Westfalen, Ewald Schon, wurde ebenfalls als externer Experte Mitglied der Kommission, wobei er durchaus eine Nähe zur Bürokratie vorzuweisen hatte, da er vor dieser Tätigkeit als Ministerialrat im Innenministerium von Nordrhein-Westfalen beschäftigt war. 64 Diese
57 Dr. Paul Eising, Jurist, Ministerialdirigent im NRW-Innenministerium, Leiter der Kommunalabteilung von 1959 bis 1977, vgl. Haunfelder, Nordrhein-Westfalen (wie Anm.35), 135. 58 Jürgen Girgensohn, Pädagoge, Landrat des Landkreises Unna von 1964 bis 1970 sowie Mitglied des Landtages von NRW von 1966 bis 1985 (SPD), vgl. Landkreistag, Dokumentation (wie Anm.54), 338. 59 Dr. Josef Orth, Jurist, Oberstadtdirektor von Rheydt von 1956 bis 1968, vgl. Christoph Waldecker, Rheydt 1815–1974, in: Wolfgang Löhr (Hrsg.), Loca Desiderata. Mönchengladbacher Stadtgeschichte. (Bd. 3/1.) Köln 2003, 241–372, hier 357f. 60 Will Könemann, Erster Landesrat beim Landschaftsverband Rheinland von 1956 bis 1969, vgl. Der LVR (Online-Ressource), https://www.lvr.de/de/nav_main/derlvr/geschichte/vor_1900/landesdirektoren/
liste_der_landesdirektoren_und_landesraete_3.jsp. 61 Helmut Naunin, Jurist, Erster Landesrat beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe von 1954 bis 1969, vgl. Haunfelder, Nordrhein-Westfalen (wie Anm.35), 333f. 62 Heinz Neufang, Verbandsdirektor des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk von 1967 bis 1978, vgl. Uwe Wick, Sportregion Ruhrgebiet – ein Beispiel für regionale Identitätsstiftung durch Sport?, in: Roland Naul/Arnd Krüger/Werner Schmidt (Hrsg.), Kulturen des Jugendsports. Bildung, Erziehung und Gesundheit. (Schriftenreihe des Willibald Gebhardt Instituts, Bd. 13.) Aachen 2009, 191–242, hier 208. 63 Vgl. Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages (wie Anm.42), J 38–42. 64 Dr. Ewald Schon, Jurist, Ministerialrat im NRW-Innenministerium von 1956 bis 1962, danach Direk-
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Nähe hatten unzweifelhaft auch die internen Experten Kurt Knop und Hans-Gerhart Niemeier. 65 Vor allem Letzterer zeichnete sich durch Publikationen im Bereich der Raumplanung aus und setzte sich auf dem 45. Deutschen Juristentag ebenfalls für eine Gebietsreform ein. 66 Frido Wagener, der zu diesem Zeitpunkt seine Habilitationsschrift zur Zukunft der Verwaltung verfasste, sowie Klaus Stern rundeten die Kommission mit ihren Fachkenntnissen in der Verwaltungs- und Rechtswissenschaft ab. 67 Die Mitglieder der jeweiligen Sachverständigenkommission können aufgrund ihrer beruflichen Erfahrungen und ihres Wirkens vor allem im Bereich der Verwaltung als Experten eingestuft werden. Dabei gilt es jedoch zu betonen, dass es sich hierbei nicht vollständig um externe Experten handelte. Vielmehr trat eine deutliche Vermischung aus beratenden und handelnden Experten auf: Die für eine Kommission strategisch wichtige Position des Vorsitzenden wurde jeweils durch den Staatssekretär des Innenministeriums ausgefüllt. Daneben wurden Leitende Ministerialräte und Staatssekretäre berufen. Sogar der Leiter der Kommunalabteilung des Innenministeriums, Ministerialdirigent Paul Eising, der die Gebietsreform später federführend durchführen sollte, war Kommissionsmitglied. Diese Personalauswahl unterstreicht deutlich, dass die Landesregierung Wert darauf legte, dass neben den Staatssekretären auch weitere führende Ministerialbeamte Mitglieder in der Kommission werden sollten. Dies lässt darauf schließen, dass sowohl die Landesregierung als auch die Beamten des Innenministeriums entweder über die Arbeit der Kommission stets umfassend Kenntnis hatten oder sogar die Arbeitsergebnisse entscheidend beeinflussen konnten.
tor des Statistischen Landesamtes NRW bis 1970, vgl. Nonn/Reininghaus/Schleidgen (Hrsg.), Kabinettsprotokolle (wie Anm.34), T. 2, 1193. 65
Kurt Knop, Jurist, seit 1955 (und ab 1965 Ltd. Ministerialrat) im NRW-Innenministerium; Dr. Hans-
Gerhart Niemeier, Jurist, seit 1951 (und ab 1957 Ministerialdirigent) im NRW-Wiederaufbauministerium, 1967 zur Staatskanzlei versetzt, vgl. beide in: Die Kabinettsprotokolle der Landesregierung von NordrheinWestfalen (wie Anm.11), http://protokolle.archive.nrw.de/. 66
Vgl. Hans-Gerhart Niemeier/Gottfried Müller, Raumplanung als Verwaltungsaufgabe. (Veröffentli-
chungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Bd. 43.) Hannover 1964; Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages (wie Anm.42), J 21–37. 67
Frido Wagener, Neubau der Verwaltung. Gliederung der öffentlichen Aufgaben und ihrer Träger nach
Effektivität und Integrationswert. (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 41.) Berlin 1969; Klaus Stern, Die verfassungsrechtliche Position der kommunalen Gebietskörperschaften in der Elektrizitätsversorgung. (Studien zum öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre, Bd. 1.) Berlin/Frankfurt am Main 1966.
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Als externe Experten stechen sicherlich die Professoren hervor: Auch das für die Gebietsreform wichtige Thema der Raumplanung wurde mit Gottfried Müller professionell abgedeckt. Er wurde jedoch erst im laufenden Verfahren zu einem externen Experten, da er erst im Ministerium arbeitete und dann später zum Professor berufen wurde. Ebenfalls hervorzuheben ist die Mitgliedschaft von Roman Schnur, dessen Erfahrungen aus Rheinland-Pfalz sicherlich wertvoll waren. Vertreter aus der kommunalen Praxis wie Hans Liese oder Josef Orth gelten ebenfalls als klassische externe Experten. Jedoch fällt bei näherer Betrachtung auf, dass sogenannte Vertreter der Praxis wie Landrat Jürgen Girgensohn oder Oberkreisdirektor Egbert Möcklinghoff gleichzeitig auch Mitglied des Landtages waren. Dies kann als ein strategischer Schachzug der Landesregierung bewertet werden, da Vertreter aus der Politik von Anfang an im Neugliederungsprozess eingebunden waren. 68 Nicht zuletzt waren die Kommissionsmitglieder, ob interne oder externe Experten, von der grundsätzlichen Notwendigkeit einer Gebiets- und Verwaltungsreform überzeugt. Beispielhaft hierfür steht der externe Experte Werner Bockelmann, der sich bereits auf dem Juristentag im Jahre 1964 hierfür aussprach. Dass die Landesregierung aufgrund der einberufenen Professoren um ein wissenschaftliches Ergebnis bemüht war, wie es Dicke formuliert, kann bestätigt werden. 69 Aufgrund der vorgenannten Verflechtungen kann den weiteren Ausführungen von Dicke, dass die Landesregierung im Unterschied zu Bayern „eine unabhängige Kommission […] einsetzte“ 70, nicht gefolgt werden. 3. Ergebnisse der jeweiligen Sachverständigenkommissionen Das wesentliche Ergebnis des Gutachtens A war der Vorschlag von zwei gemeindlichen Grundtypen, die in Nordrhein-Westfalen fortan gebildet werden sollten. So sollte eine Gemeinde des Grundtyps A mindestens 8000 Einwohner haben, wobei der Gesetzgeber in Ausnahmefällen auch weniger Einwohner zulassen konnte. Die Grenze von 5000 Einwohnern sollte aber möglichst nicht unterschritten werden. 71 68 Vgl. hierzu auch Schnurs Gedanken zur Bedeutung der Zusammensetzung einer Sachverständigenkommission; Schnur, Strategie und Taktik (wie Anm.51), 22f. 69 Vgl. Dicke, Reform und Protest (wie Anm.6), 29. 70 Ebd.29. – In Bayern setzte sich das Innenministerium mit Neugliederungsfragen auseinander, vgl. ebd. 71 Vgl. Die kommunale und staatliche Neugliederung, Abschnitt A (wie Anm.23), 26f.
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Die Gemeinde sollte eine eigene hauptberufliche Verwaltung haben sowie folgende Grundausstattungen für die Bürger bieten: Eine „Volksschule mit Lehrschwimmbecken und Turnhalle, Wasserversorgung, Kanalisation und Kläranlage, Müllabfuhr, Bücherei, Sportplatz, Freibad, Kindergarten […], Jugendheim, Gemeindepflegestation, Altenheim, Feuerwehr, Friedhof mit Leichenhalle […] [und ein] Verwaltungsgebäude“. 72 Die Gemeinde des Typs B sollte neben den Aufgaben des Typs A auch den „überörtlichen Versorgungsbereich“ abdecken können; zu nennen wäre beispielsweise ein zweizügiges Gymnasium oder auch ein Hallenbad. Die Sachverständigenkommission empfahl, dass eine solche Gemeinde mindestens 30000 Einwohner haben sollte sowie „zentrale Aufgaben“ zu erfüllen hatte. 73 Die Kommission vermutete allerdings, dass nicht alle Gemeinden einer Neugliederung zustimmen würden. Sie wies deutlich darauf hin, dass der Sinn der Neugliederung auf eine „bessere […] Versorgung der ländlichen Zonen“ abzielte, sodass dies nicht im Widerspruch zur „Verfassungsgarantie der Selbstverwaltung“ stand und die Neugliederung demzufolge nicht verfassungswidrig war. 74 Da bereits die Landesregierung danach gefragt hatte, ob Ämter noch zeitgemäß waren, empfahl die Sachverständigenkommission schließlich eine Auflösung der Ämter, da diese unter anderem nicht fähig seien, „die Unterversorgung der Bevölkerung zu beseitigen“. 75 Zudem könnten nach Ansicht der Kommission infrastrukturelle Maßnahmen eher von einer Großgemeinde als von einem Amt durchgeführt werden. 76 Ein nicht unerheblicher Vorschlag der Sachverständigenkommission war die Änderung der Paragraphen 14 bis 16 der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung. Das bisherige Verfahren zur Gebietsänderung war nach Ansicht der Kommission „recht umständlich […] und langwierig“, sodass eine Vereinfachung dringend geboten sei. 77 Das Gutachten B beschäftigte sich mit der Neugliederung der Städte und Gemeinden in den Ballungsrandzonen und der Reform der Kreise. Die Ergebnisse wurden im April 1968 vorgestellt. Dabei regten die Experten die Neugliederung der Städte im Ruhrgebiet an: Statt 15 kreisfreien und vier kreisangehörigen Städten empfahlen sie
72
Ebd.
73
Ebd.27.
74
Ebd.28f.
75
Ebd.39.
76
Vgl. ebd.38–40.
77
Ebd.41. – Zur Novellierung der Paragraphen 14 bis 16 der Gemeindeordnung siehe auch Mecking, Bür-
gerwille und Gebietsreform (wie Anm.6), 225–233.
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eine Reduzierung auf insgesamt sechs Städte. 78 Ferner sollte die Situation in den sogenannten städtischen Verflechtungsgebieten überprüft werden. Die Landesregierung bzw. der Landtag sollten entscheiden, ob Städte und Gemeinden in Verflechtungsgebieten zusammengeschlossen werden sollten oder ob auch eine Bildung von zwei oder drei neuen Städten und Gemeinden möglich wäre. 79 Mit der Zusammenlegung von Städten und Gemeinden in Ballungszonen und Verflechtungsgebieten waren nach Ansicht der Kommission optimale Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Die gemeinsame Analyse, Planung und Finanzierung von bestehenden Flächen, neuen Baugebieten und Wirtschaftsflächen waren hierfür entscheidende Merkmale. Somit waren größere Städte und Gemeinden unabdingbar. 80 Auch die bestehenden Landkreise mussten vergrößert werden, um für die Aufgaben der Zukunft gerüstet zu sein. Hierzu zählten das berufsbildende Schulwesen, der Straßenbau und die Verkehrserschließung sowie Aufgaben im Gesundheitswesen und im Sozialbereich. Die Kommission schlug mehrheitlich eine Reduzierung der kreisfreien Städte von 37 auf 18 sowie eine Reduzierung der Landkreise von 57 auf 31 vor. 81 Das dritte und letzte Gutachten wurde ebenfalls im April 1968 vorgestellt. Die Sachverständigen-Kommission II gab dabei Vorschläge zur staatlichen und regionalen Neugliederung des einwohnerstärksten Bundeslandes. Der Abschnitt C bildete damit das Pendant zu den anderen beiden Gutachten. Ein zentraler Vorschlag war, die beiden Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland aufzulösen und stattdessen drei Regionalverbände zu installieren, nämlich Westfalen-Lippe, Rheinland und Ruhrgebiet. Dabei sollten die Regionalverbände „deckungsgleich“ mit den Regierungsbezirken sein. Das hätte bedeutet, dass es fortan statt bisher sechs nur noch drei Regierungsbezirke gegeben hätte. 82 Ein durchaus interessantes „Rätsel“ löste das Mindener Tageblatt nach Bekanntgabe des Gutachtens B. Die Öffentlichkeit stellte sich nämlich die Frage, warum diese Kommission das Gutachten in verhältnismäßig kurzer Zeit präsentieren konnte:
78 Vgl. Die kommunale und staatliche Neugliederung, Abschnitt B (wie Anm.23), 42. 79 Vgl. ebd.43. 80 Vgl. ebd.197f. 81 Vgl. ebd.199. – An einigen Stellen kam es zu sogenannten Minderheitsgutachten von einigen Kommissionsmitgliedern, da diese nicht die Auffassung der Mehrheit teilten, vgl. ebd.30f., 120–129 u. 168–185. 82 Vgl. Die kommunale und staatliche Neugliederung, Abschnitt C (wie Anm.23), 230f. Vgl. auch hier das Minderheitsgutachten von Helmut Naunin zur vorgeschlagenen Dreiteilung des Landes, ebd.152–161.
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„Nicht die Gesamtheit der Kommission […] hat das Gutachten ausgearbeitet, sondern ihr stellvertretender Vorsitzender Dr. Paul Eising […] – mit ihm und unter seiner Leitung natürlich ein Stab von Ministerialbeamten.“ 83 Die Tageszeitung berief sich auf Aussagen des Kommissionsmitglieds Möcklinghoff. Für die Lokalzeitung stand aufgrund dessen fest, dass „das Innenministerium nicht nur ganz fest umrissene Vorstellungen von der Neugliederung der Ballungsgebiete und der Landkreise hat, sondern auch entschlossen ist, sie auf Biegen und Brechen durchzupauken“. 84 4. Der Neugliederungsprozess in Höxter und Paderborn 4.1 Allgemeine Einführung und Thesen Nachdem nun der Öffentlichkeit die drei Gutachten der jeweiligen Sachverständigenkommission vorlagen, wurden diese selbstverständlich von den Verantwortlichen intensiv analysiert. Im Folgenden wird nun anhand der beiden Neugliederungsbeispiele dargelegt, welchen Einfluss diese Gutachten der Experten auf die kommunale Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen nahmen. Dabei werden folgende drei Thesen aufgestellt: 1. Die Gutachten der jeweiligen Sachverständigenkommission dienten den Ministerialbeamten und der Landespolitik als entscheidendes Instrument, die Gebietsreform im Land zügig zu forcieren. 2. Die Ministerialbeamten der „fliegenden Kommission“ signalisierten nur eine vorgeschobene Diskussionsbereitschaft und Einbeziehung der Öffentlichkeit in den Planungsprozess. Sie diente dazu, die Gegenstimmen ruhigzustellen. 3. Vor allem finanz- und wirtschaftskräftige Kommunen holten sich ebenfalls die Expertise von externen Experten ein, sodass im Diskussionsverlauf auf beiden Seiten intensiv mit wissenschaftlich erstellten Zahlen und Fakten zu dem jeweils favorisierten Neuordnungswunsch argumentiert wurde. Die drei Parteien im nordrhein-westfälischen Landtag, SPD, CDU und FDP, hatten mit den vorgestellten Gutachten die Empfehlung erhalten, größere Einheiten so-
83
Beide Zitate in: Mindener Tageblatt, „Kein Zwang, so radikal zu reformieren!“ (11.5.1968), in: Gemein-
dearchiv Hille, Zeitungsausschnittsammlung 1968. – Im Gutachten B heißt es bereits im Vorwort: „Die Arbeit der Kommission wurde wesentlich gefördert durch die Mitarbeit der Herren Leitender Ministerialrat Köstering, Ministerialrat v. Loebell und Regierungsdirektor Mayweg. Ihnen sowie dem Geschäftsführer der Sachverständigen-Kommission, Herrn Regierungsrat Barbonus, spricht die Kommission Dank und Anerkennung aus.“ Die kommunale und staatliche Neugliederung, Abschnitt B (wie Anm.23), 7. 84
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Mindener Tageblatt, „Kein Zwang“ (wie Anm.83).
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wohl auf kommunaler als auch auf staatlicher Ebene zu bilden. Entsprechend positiv fiel auch das Urteil der Landesregierung zu den Gutachten B und C aus. Sie sah darin „eine wertvolle Grundlage, um eine Gesamtkonzeption für die Neugliederung der Verwaltung festzulegen“. 85 Der kommunale Flickenteppich von über 2300 Gemeinden sollte der Vergangenheit angehören – selbst die bestehenden sechs Regierungsbezirke waren den Experten zufolge ineffizient und sollten zusammengelegt werden. Die Vorschläge der Experten wurden zwar vom Gesetzgeber nicht vollständig übernommen, jedoch war dieser mit der grundsätzlichen Ausrichtung einverstanden. Insbesondere die Empfehlungen der Mindestgrößen von zukünftigen Städten und Gemeinden sowie das kommunale Angebot brachten die Düsseldorfer Beamten, unter anderem Eising und Köstering, in die anschließenden Diskussionen mit den kommunalen Vertretern vor Ort ein. Die Mindestgrößen führten dazu, dass die von den örtlichen Vertretern alternativ eingebrachten Neugliederungsvorschläge von der Ministerialbürokratie oftmals nicht berücksichtigt sowie folglich vom Landtag nicht verabschiedet wurden. Problematischer gestalteten sich allerdings die von der Sachverständigen-Kommission I im Gutachten B vorgeschlagenen sechs Städte. Die Neugliederung des Ruhrgebietes wurde im Vergleich zu allen anderen Regionen am intensivsten diskutiert. 86 Begründet werden kann dieses mit der Dominanz der zahlreichen Städte mit den entsprechend versierten Personen aus Verwaltung und Bürgerschaft, die sich gegen die Neugliederungspläne aus Düsseldorf intensiv zur Wehr setzten. Nicht zufällig lag hier auch der Ursprung des bereits erwähnten Vereins „Aktion Bürgerwille“. Letztendlich entschied sich der Landtag für ein Städte-Kreis-Modell zur Neugliederung des Ruhrgebiets: Die empfohlene Reduzierung auf sechs Städte wurde nicht umgesetzt, allerdings wurde auch hier die Anzahl der vorhandenen, sogar kreisfreien Städte deutlich vermindert. Die im Abschnitt C empfohlenen Grundsätze zur Neugliederung der Mittelinstanz wurden ebenfalls nicht bis zum Ende der Wahlperiode im Jahre 1975 umgesetzt. Die Umstrukturierung ganzer Regierungsbezirke war den Landtagsabgeordneten ein zu ‚heißes Eisen‘, sodass sie sich zunächst mit der Neugliederung der Kreise und Kommunen auseinandersetzten. 87 Der Landtag löste
85 Der Innenminister des Landes NRW, Pressenotiz, 10.7.1968, 1–5, hier 1, in: LAV NRW R, RW 180–1063. 86 Vgl. Köstering, Kommunale Gebietsreform (wie Anm.9), 10. 87 Für weitere Gründe vgl. Köstering, Notwendige Reform (wie Anm.12), 7.
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lediglich aufgrund der Verabschiedung des Aachen-Gesetzes den Regierungsbezirk Aachen auf. 88 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass den entsprechenden Neugliederungsvorschlägen, die der Innenminister im Landtag einbrachte, ein intensiver Entstehungsprozess vorausging. Dabei kam es häufig vor, dass im laufenden Verfahren Anfragen über bestimmte Neuordnungen einzelner Kommunen an das Innenministerium gestellt wurden, auf welche die Ministerialbeamten nicht (sofort) eingehen konnten. So konstatierte ein Journalist aus dem Paderborner Raum süffisant, dass die Reform wohl „nur in Mini-Schritten vorankommt“, da das Ministerium allein zwei Wochen benötigte, um lediglich darzulegen, dass ohne vorherige Prüfung des Sachverhaltes keine Stellungnahme abgegeben werden konnte. 89 Ein interner handschriftlicher Vermerk aus dem Innenministerium verdeutlicht jedoch den enormen Arbeitsaufwand der beteiligten Akteure in der Kommunalabteilung: „Westfalen Blatt soll sich von der Vorstellung befreien, daß sein Fernschreiben der einzige Eingang gewesen sei, und daß wir in 14 Tagen nichts anderes getan hätten, als über der Antwort auf das Fernschreiben zu brüten.“ 90 Über den Arbeitsaufwand der kommunalen Neugliederung gab Köstering rückblickend einen Einblick: Die beiden Arbeitsgruppen im Innenministerium – auch „fliegende Kommission“ oder „Köstering- bzw. Eising-Kommission“ genannt – bereisten „fast alle“ Städte, Gemeinden sowie Kreise des Landes und diskutierten „in etwa 150 öffentlichen Anhörungsterminen mit Räten, Behördenvertretern und der interessierten Bevölkerung – mit insgesamt etwa 60000 Teilnehmern und oft in aufgeheizter Stimmung“. 91 Insgesamt bestanden die Gesetzentwürfe aus ca. 30000 Druckseiten. Auch die Landtagsabgeordneten des Verwaltungs- und Reformausschusses führten Bereisungen durch. Nach Köstering konnten so für die Pläne der Landesregierung 80 Prozent Zustimmung seitens der Vertreter vor Ort erzielt werden. 92 Innenminister Willi Weyer (FDP) begründete die Einsetzung der „fliegenden
88
Vgl. Horst Romeyk, Kleine Verwaltungsgeschichte Nordrhein-Westfalens. (Veröffentlichungen der
staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Rh.C: Quellen und Forschungen, Bd. 25.) Siegburg 1988, 110f. 89
Westfalen-Blatt, „Langsame Mühle“ (11.5.1967), in: LAV NRW R, NW 486–401.
90
Vermerk des Innenministeriums auf dem Zeitungsartikel des Westfalen-Blattes vom 11.Mai 1967, in:
ebd.
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91
Köstering, Notwendige Reform (wie Anm.12), 8.
92
Vgl. ebd.
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Kommission“ damit, dass diese nach ihren Bereisungen „über eine gründliche Kenntnis der örtlichen Verhältnisse verfügt[e]“ und die Gesetze aufgrund eines engen Austausches mit den örtlichen Protagonisten entsprechend zügig vorbereiten konnte. 93 Paul Eising erläuterte in einer internen Sitzung vor seinen Verwaltungskollegen, dass „die Arbeitsgruppe die Kreise ohne vorgefaßte Meinung besuchen würde, daß sie nur Berater sein wolle und Vorschläge machen würde“. 94 Auch bei den Anhörungsterminen erläuterten die Ministerialbeamten stets, dass „[w]eder die Neugliederungskommission noch das Innenministerium noch die Landesregierung […] über die Neugliederung von Gemeinden entscheiden [würden]. Für die Entscheidung sei nur der vom Volk gewählte Landtag zuständig.“ 95 Die Kommission verdeutlichte beim Anhörungsverfahren im Mai 1973 in Paderborn, dass sie sich nicht als „letzte Instanz“ ansah, sie wollte sich vielmehr als „Aufbereiter des Stoffs“ ansprechen lassen. 96 Auch wenn die Ministerialbeamten in den Diskussionen unterstrichen, dass sie nicht das letzte Wort bei den Entscheidungen hatten und dass sie „ohne vorgefaßte Meinung“ zu den einzelnen Terminen reisten – ein interner Vermerk gibt Aufschluss darüber, dass für eine erfolgreiche Gebietsreform bis zum Ende der siebten Legislaturperiode ein zügig durchgeführtes Verfahren notwendig war. Für die acht Räume im 2. Neugliederungsprogramm war „ein straffer Zeitplan“ vorgesehen: „Die Widerstände werden vor allem im politischen Raum zunehmen, so daß Verzögerungen im Ablauf der Verfahren kaum zu vermeiden sein werden. Aber gerade wegen der politischen Widerstände sollte versucht werden, die Reform nicht durch uferlose Debatten im Vorverfahren schon in Frage zu stellen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde sind die gewählten Zeiträume relativ knapp gehalten.“ 97
Auch wenn der „straffe […] Zeitplan“ erst für das 2. Neugliederungsprogramm gel-
93 Die Welt, „,Fliegende Arbeitsgruppe‘ soll sanften Druck ausüben“ (20.1.1967), in: LAV NRW R, NW 370–570. 94 Niederschrift über die Regierungspräsidentenkonferenz, 15.3.1967, 1–20, hier 7, in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt.Ostwestfalen-Lippe (im Folgenden abgekürzt als LAV NRW OWL), D1–25524. 95 Niederschrift über die Bereisung des Kreises Lübbecke durch die Kommission des Innenministeriums zur Neugliederung der Gemeinden, 17.11.1970, 1–21, hier 4, in: LAV NRW R, NW 486–124. 96 Westfälisches Volksblatt, „Unsere Meinung. Nun Pause“ (8.5.1973), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, G-4696. 97 Internes Schreiben des Innenministeriums NRW, Zweites Neugliederungsprogramm 1970–1975, 12.9.1969, 1–9, hier 7, in: LAV NRW R, NW 484–153.
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ten sollte, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass die Ansicht einer zügig durchzuführenden Gebietsreform auch bereits für das 1. Neugliederungsprogramm gelten sollte. Zu diesem zählte die Stadt Höxter, die dem Landkreis Höxter angehörte. 4.2 Die Neugliederung der Stadt Höxter Der Landkreis Höxter bestand aus insgesamt 77 Gemeinden. Innenminister Weyer brachte das Gesetz zur Neugliederung des Landkreises Höxter am 13.Mai 1969 in den Landtag ein und verkündete, dass „zum erstenmal […] ein ganzer Landkreis auf Grund von freiwilligen Lösungen neu geordnet werden soll“. Er bekräftigte, dass die Freiwilligkeit der Gemeinden für einen Zusammenschluss „ein Beweis dafür [war], daß die Konzeption, die in den Gutachten festgelegt, von der Landesregierung und von den drei Fraktionen des Hauses gebilligt wurde, […] richtig ist“. Für Weyer stand fest, dass zum einen „die allgemeinen Grundsätze der Neugliederung“ sichtbar angewendet werden konnten, zum anderen auch in „schwachstrukturierten Gebieten die Neuordnung besonders dringlich und […] von unten aus den Gemeinden heraus gewünscht“ war. 98 Im Entwurf wurde unter anderem festgehalten, dass die Stadt Höxter mit den Gemeinden des Amtes Höxter-Land sowie der Gemeinde Bruchhausen (Amt Beverungen) zur neuen Stadt Höxter zusammengeschlossen werden sollten. Zum Amt Höxter-Land zählten Albaxen, Bödexen, Bosseborn, Brenkhausen, Fürstenau, Godelheim, Lüchtringen, Lütmarsen, Ottbergen, Ovenhausen und Stahle. 99 Da alle Gemeinden einen Gebietsänderungsvertrag unterschrieben hatten, war für die Landtagsabgeordneten die Neugliederungsthematik sehr einfach zu bearbeiten. Die Gemeinden des Landkreises Höxter wurden sogar für ihre Aufgeschlossenheit gelobt. So bescheinigte der Höxteraner Abgeordnete Dr. Heinrich Rosenbaum (CDU) den Menschen einen „sehr große[n] Elan und ein[en] Fortschrittswille[n]“ in Bezug auf die Neuordnung. 100 Dr. Alfred Stolle (FDP) ergänzte, dass der Kreis Höxter den Abgeordneten „keine großen Probleme aufgegeben [hat], obwohl
98
Alle Zitate in: Erste Lesung zur Regierungsvorlage, Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung des
Landkreises Höxter – Drucksache Nr.1203, 13.5.1969, in: Archiv des Landtags NRW, 6. WP., Plenarprotokoll 06/54, Bd. 3, 2188–2190, hier 2188. 99
Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung des Landkreises Höxter, 15.4.1969, in: Archiv des Land-
tags NRW, 6. WP., Drucksache 06/1203, Bd. 8, 3. 100 Zweite Lesung zur Regierungsvorlage, Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung des Landkreises Höxter – Drucksachen Nr.1203 u. 1525, 11.11.1969, in: Archiv des Landtags NRW, 6. WP., Plenarprotokoll 06/62, Bd. 3, 2580–2584, hier 2581.
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wir […] [diese] keinesfalls etwa verniedlicht wissen wollen. Wir haben den Kreis Höxter noch nicht einmal bereisen müssen“. 101 Der eingebrachte Gesetzentwurf wurde schließlich mit marginalen Änderungen in dritter Lesung einstimmig verabschiedet. 102 Der abgeschlossene Gebietsänderungsvertrag zwischen der Stadt Höxter und den Gemeinden des Amtes Höxter-Land bzw. der Gemeinde Bruchhausen sowie die lobenden Worte der Landtagsabgeordneten für die Akteure in Höxter bezüglich der Offenheit zur Neugliederung lassen bei einer genaueren Analyse erkennen, dass zuvor eine intensive und teilweise kontroverse Diskussion stattgefunden hatte. Im Gegensatz zu den Gemeinden des Amtes Höxter-Land stand die Stadt Höxter von Anfang an „jeder Neuordnung des hiesigen Raumes aufgeschlossen gegenüber“. 103 Die Stadt machte sich nicht so sehr Sorgen über die Neugliederung auf Gemeindeebene und verhielt sich in der Öffentlichkeit diesbezüglich ausgesprochen ruhig. Vielmehr konzentrierten sich die ehrenamtlichen Politiker auf die Zukunft des Kreissitzes. Dieser sollte unter allen Umständen in Höxter bleiben. Da es sich bereits abzeichnete, dass die Sachverständigenkommission in ihrem Gutachten B unter anderem eine Neugliederung der Kreise vorschlug, richtete sich der Fokus in der Folge hierauf. So forderten nämlich Höxters Kommunalpolitiker bei einer Zusammenlegung der Kreise Höxter und Warburg, dass der Kreissitz in Höxter sein sollte. Entsprechend fiel die einstimmige Resolution aus: „Rat und Verwaltung der Stadt Höxter erwarten […], daß die Bedeutung und die Interessen Höxters als Kreisstadt bei der Neugliederung der Landkreise gebührend berücksichtigt werden.“ 104 Amtsdirektor Bernhard Kemner informierte die Mitglieder der Amtsvertretung im Mai 1967 über das Gutachten A. Dabei ging er insbesondere auf die verschiedenen Gemeindetypen A und B ein. Er stellte fest, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass das Amt mit der Stadt zusammengeschlossen würde. Bei den Politikern führten diese Pläne in der anschließenden Aussprache „zu einem einstimmigen Protest“: „Man ist der einmütigen Ansicht, daß durch eine derartige Maßnahme der Gebietsreform
101 Dritte Lesung zur Regierungsvorlage, Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung des Landkreises Höxter, 11.11.1969, in: Archiv des Landtags NRW, 6. WP., Plenarprotokoll 06/62, Bd. 3, 2584. 102 Vgl. ebd.2584. 103 Resolution als Anlage zur Niederschrift über die Ratssitzung, 27.3.1968, 1f., hier 1, in: Stadtarchiv Höxter, C – Protokolle 1968. 104 Ebd.2.
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das blühende Eigenleben der Amtsgemeinden beseitigt würde.“ 105 Die Amtsvertreter einigten sich darauf, dass nach ihren Wünschen das Amt zwar erhalten bleiben sollte, die Gemeinden allerdings gewisse Kompetenzen an das Amt übertragen sollten. Man wollte in jedem Fall die Selbstverwaltung der Gemeinden erhalten. 106 Übertragbare Aufgaben an die Amtsverwaltung konnten zum Beispiel die Bauleitplanung und deren Durchführung oder Schulangelegenheiten sein. 107 Die Amtsvertreter bestätigten den Beschluss noch einmal einstimmig, dass Gemeinden des Amtes nicht in eine Großgemeinde Höxter übergehen sollten. Ferner wurde abgelehnt, dass zum Beispiel die Gemeinde Ottbergen nach Brakel eingegliedert werden sollte. Von dieser Empfehlung sollten auch alle Räte der amtsangehörigen Gemeinden Kenntnis haben. 108 Die Amtsvertreter unterließen es nicht, ihre Ansichten auch wissenschaftlich zu untermauern, indem sie ein externes Gutachten in Auftrag gaben. Dies lag darin begründet, dass einigen Amtsvertretern „eine sachliche Entscheidung“ schwerfiel, da Fachkenntnisse nicht vorhanden waren und sie sich von einem Gutachten Klarheit über „die zukünftige optimale Zuordnung der Gemeinden“ erhofften. 109 Die Einholung eines Gutachtens ist besonders vor dem Hintergrund der Tatsache bemerkenswert, „wie groß die Skepsis im ländlichen Bereich gegenüber ‚Gutachten‘“ war. 110 Die Amtsvertretung beauftragte schließlich das Planungsinstitut von Hartmut Scholz aus Osnabrück, der als Planer für Regionale Raumordnung, Landespflege und
105 Niederschrift über die Sitzung der Amtsvertretung, 2.5.1967, 76–79, hier 79, in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Amt-Protokolle-Hauptausschuss und Amtsvertretung Höxter-Land 1962–1969. 106 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Hauptausschusses und des Verwaltungsreform-Ausschusses der Amtsvertretung, 2.8.1967, 85–86, hier 85, in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Amt-ProtokolleHauptausschuss und Amtsvertretung Höxter-Land 1962–1969. 107 Vgl. ebd.86. Vgl. auch Westfalen-Zeitung, „Amtsvertretung Höxter-Land: Wesentlich gleiche und überörtliche Aufgaben der Gemeinden auf das Amt übertragen!“ (12.8.1967). 108 Vgl. Niederschrift über die Sitzung der Amtsvertretung, 8.8.1967, 87–89, hier 89, in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Amt-Protokolle-Hauptausschuss und Amtsvertretung Höxter-Land 1962–1969. 109 Beide Zitate in Niederschrift über die Sitzung der Amtsvertretung, 24.7.1968, 124–126, hier 125, in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Amt-Protokolle-Hauptausschuss und Amtsvertretung Höxter-Land 1962–1969 (Hervorhebung im Original). Scholz wurde ebenfalls auserwählt, da er im Gegensatz zum Mitbewerber das günstigere Angebot abgab und nur zwei statt sechs Monate Bearbeitungszeit einplante, vgl. ebd.126. 110 Schreiben des Amtsdirektors Kemner an die Wirtschaftsberatung AG. Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Düsseldorf, Betr.: Gutachten zu Fragen der territorialen Neugliederung im Amt Höxter-Land, 25.7.1968 (Abschrift), in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Amt-001–003.
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Abb.1: Strukturschema des Nahbereiches Höxter; Quelle: Planungsinstitut Dr. Hartmut Scholz, Raumordnungshinweis für die optimale Zuordnung des Amtes Höxter-Land, Osnabrück 1968, unpaginiert, in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Amt-001–004.
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Bauleitplanung agierte. 111 Scholz war für die Planungskonzeption zuständig, Rolf Conrad erarbeitete die im Gutachten angesprochenen Nahbereichskriterien. Darüber hinaus wirkten zwei Sondergutachter für bestimmte Bereiche mit, nämlich Hans Evers (Wirtschaftskraft) sowie Gottfried Müller (Regionalbeurteilung) 112, der auch an den Gutachten A und B der Sachverständigenkommission beteiligt war. In dem Gutachten stellte das Planungsinstitut schließlich fest, dass das Amt Höxter die Stadt Höxter „sichelförmig von Süd über West nach Nordost mit den Gemeinden Godelheim, Bosseborn, Lütmarsen, Brenkhausen, Albaxen und Lüchtringen direkt sowie mit den Gemeinden Ottbergen, Ovenhausen, Fürstenau, Bödexen und Stahle in zweiter Reihe [umschließt].“ 113 Für die Gutachter stand fest, dass das Amt Höxter-Land und die Stadt Höxter zusammengeschlossen werden sollten. Sie begründeten dies damit, dass das Amt zwar aus formalen Gründen selbstständig bleiben konnte (Einwohnerzahl), allerdings würde der geographische Mittelpunkt im Raum fehlen. Die Stadt Höxter benötige die Gemeinden im Amt zwingend „als Ergänzungsraum“. 114 Auch einzelne, kleinere Zusammenschlüsse von Gemeinden innerhalb des Amtes wären nicht sinnvoll, da diese die Merkmale des Grundtyps A nur schwer erfüllen würden. 115 In den Ausführungen der externen Gutachter wird deutlich, dass sich diese in ihrer Argumentation sehr stark am Gutachten A der Sachverständigenkommission aus Düsseldorf orientierten, an dem ebenfalls Müller beteiligt war. Dieses Ergebnis entsprach folglich nicht dem Wunsch der Amtsvertreter vom Mai 1967. Einige Amtsvertreter stellten dennoch fest, dass das Gutachten zu neuen Erkenntnissen führte und sie selbst fortan „weitsichtig“ handeln mussten. 116 Schließlich wurde sogar von der Stadt Höxter die Hälfte der Kosten von knapp 20000 D-Mark übernommen, auch weil das ScholzGutachten den gesamten Neugliederungsraum Höxter beleuchtete. 117
111 Vgl. Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung, Beiträge zu Raumforschung (wie Anm.36), 309. 112 Planungsinstitut Dr. Harmut Scholz, Raumordnungshinweis für die optimale Zuordnung des Amtes Höxter-Land. Osnabrück 1968, 1, in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Amt-001–004. 113 Ebd.3. 114 Ebd.55. 115 Vgl. ebd.55–57. 116 Westfalen-Zeitung, „Amt Höxter Land auf Tuchfühlung und Gutachter Dr. Scholz hielt Referat“ (13.9.1968). 117 Vgl. hierzu Schreiben des Planungsinstituts Dr. Hartmut Scholz an den Herrn Amtsdirektor Kemner, Betr.: Gutachten Höxter, 29.8.1968; sowie die beiden Rechnungen in der Anlage; Schreiben des Amtsdirek-
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Wie sehr die Lokalzeitung Partei ergriff, wird durch die Bewertung des vorgelegten Scholz-Gutachtens deutlich. Dieses hatte nach Ansicht der Westfalen-Zeitung allen Beteiligten im Raum Höxter „wertvolle Erkenntnisse vermittelt. Im Interesse der Bürger dieses in Jahrhunderten gewachsenen Raumes Höxter und ihrer künftigen Daseinsvorsorge wird es nunmehr Aufgabe der gewählten politischen Vertreter sein, hierfür die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen.“ 118 Währenddessen wurde auch in den Gemeinden weiter über die Zukunft der Neugliederung diskutiert. Besonders intensiv fand dies in den Gemeinden Albaxen, Stahle, Ottbergen und Bruchhausen statt. 119 Auch Höxters Oberkreisdirektor Paul Sellmann 120 schaltete sich in die Debatte ein, nachdem in der Zwischenzeit zwischen den kommunalpolitischen Vertretern aus der Stadt Höxter und dem Amt ein Gebietsänderungsvertrag erarbeitet wurde. 121 Sellmann machte deutlich, dass eine großräumige Neugliederung für die Gemeinden im Landkreis Höxter unumgänglich war. Der Verwaltungsbeamte sah einen Zusammenschluss des Amtes und der Stadt am sinnvollsten an und verwies in seiner Argumentation ebenfalls auf das Scholz-Gutachten, das zum selben Ergebnis kam. 122 In seinen Bereisungen der einzelnen Orte führte Sellmann auch wirtschaftliche und finanzielle Vorteile eines Zusammenschlusses – höhere Landesmittel – an. 123 Nachdem vor Ort die Neugliederung in Form von vereinzelt abgeschlossenen Gebietsänderungsverträgen bereits in Gang gesetzt wurde, bereiste nun auch die „Köstering-Kommission“ aus Düsseldorf im Oktober 1968 die Region, um sich ein Bild zu verschaffen. 124 In der Brakeler Stadt-
tors Kemner an den Herrn Stadtdirektor Dr. Kühn, kein Betreff, 13.9.1968; Schreiben des Stadtdirektors Dr. Kühn an die Amtsverwaltung Höxter-Land, Betr.: Beteiligung der Stadt Höxter an den Kosten des ScholzGutachtens, 31.12.1968, alles in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Amt-001–003. 118 Westfalen-Zeitung, „Vereint in eine erfolgreiche Zukunft“ (18.9.1968). 119
Vgl. Westfalen-Zeitung, „Noch eine Nachdenkpause für Albaxen“ (26.9.1968); Westfalen-Zeitung,
„Stahle möchte bei Westfalen bleiben“ (28.9.1968); Westfalen-Zeitung, „Quo vadis – Ottbergen?“ (7.10.1968); Westfalen-Zeitung, „Ratsherren standen Rede und Antwort“ (9.10.1968); Westfalen-Zeitung, „15 von 20 Gemeindevertretern aus Ottbergen und Bruchhausen stimmten für Höxter“ (10.10.1968). 120 Paul Sellmann, Jurist, Oberkreisdirektor in Höxter von 1968 bis 1996, vgl. Landkreistag, Dokumentation (wie Anm.54), 747. 121 Vgl. hierzu Niederschrift über die Besprechung über die kommunale Gebietsreform, 26.7.1968, 1f.; Niederschrift über die Besprechung der Fraktionssprecher der Amtsvertretung Höxter-Land und des Rates der Stadt Höxter, 17.9.1968 (inkl. Anlage), beides in: Stadtarchiv Höxter, C-I-1–139. 122 Vgl. Westfalen-Zeitung, „Amt und Stadt Höxter bald vereint?“ (20.9.1968). 123 Vgl. Westfalen-Zeitung, „Noch eine Nachdenkpause für Albaxen“ (26.9.1968). 124 Vgl. Westfalen-Zeitung, „Freiwilligkeit mit Einschränkungen“ (19.10.1968).
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halle lobte der Ministerialbeamte die bereits vollzogenen Gebietsänderungsverträge zwischen einzelnen Gemeinden. Er wies allerdings auch darauf hin, dass die sogenannten freiwilligen Zusammenschlüsse stets konform mit den Gutachten der Sachverständigenkommission sein mussten, welche die Landesregierung und der Landtag im Grundsatz für richtig hielten. 125 Köstering stellte ferner dar, dass insbesondere ‚reichere‘ Gemeinden darauf hinwiesen, dass sie aufgrund ihrer guten Steuerkraft selbstständig bleiben konnten und auch für umliegende Gemeinden nicht aufkommen wollten. Energisch verdeutlichte er, dass genau dies der Sinn der Reform war. Es sollte nämlich ein Ausgleich stattfinden, um die Lebensbedingungen der Bürger anzugleichen. 126 Für die weiteren Beratungen gab er den Vertretern noch einen grundsätzlichen Hinweis mit auf den Weg, da er unmissverständlich unterstrich, dass die Gebietsreform bereits eingeleitet wurde und der Landtag in dieser Frage „damit Ernst“ machte: „Sie kommen auch im Landkreis Höxter an dieser Frage nicht mehr vorbei. Deshalb ist es ganz sinnlos, sich stur auf den Standpunkt zu stellen: ‚Wir bleiben selbständig und alles andere interessiert uns nicht.‘“ 127 Diese deutlichen Worte blieben auch der Lokalzeitung nicht verborgen. Der Höxteraner Journalist Horst Wosnik resümierte in seinem Kommentar, dass die Gefühlslage bei den Beteiligten aus dem Höxteraner Raum gemischt ausgefallen sein dürfte. So konnten sie sich zum einen ein wenig über das Lob über die bereits geleistete Arbeit in Form der abgeschlossenen Gebietsänderungsverträge freuen, zum anderen dürfte aber „auch ein leises Unbehagen [zurückbleiben], [es] blieb der Verdacht, daß letztlich doch ‚oben‘ entschieden wird, was zu geschehen hat“. 128 Aufgrund der bekannten Rahmenbedingungen, nämlich dass die Reform auch im Landkreis Höxter vollzogen wurde, stimmten weitere Gemeinden über den vorliegenden Gebietsänderungsvertrag mit der Stadt Höxter ab. Es war dabei durchaus üblich, dass auch die Bevölkerung Interesse zeigte und an den entscheidenden Sitzungen rund um die Verabschiedung der Gebietsänderungsverträge rege teilnahm. Das Verfahren lief dabei ähnlich wie beispielsweise in Bosseborn ab. Zunächst erläuterte Amtsdirektor Kemner noch einmal das Verfahren der kommunalen Neuglie-
125 Vgl. Referat des Ltd. Ministerialrats Köstering am 16.10.1968 in der Stadthalle Brakel anlässlich der kommunalen Neugliederung des Landkreises Höxter, 1–12, hier 1, in: Stadtarchiv Höxter, C-I-1–139. 126 Vgl. ebd.7. 127 Ebd.8. 128 Westfalen-Zeitung, Kommentar: „Ein leises Unbehagen“ (19.10.1968).
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derung. 129 Daraufhin forderte Bürgermeister Heinrich Grewe den Rat und „die zahlreich erschienenen Bürger der Gemeinde Bosseborn“ auf, ihre Meinungen zu äußern. „Gegenstand der Diskussion waren […] der Zuschnitt der neuen Großgemeinde, die Sicherstellung des Schülerverkehrs, die Schaffung eines ausreichenden Sportplatzes und die Erweiterung des Friedhofes“. 130 Im Anschluss daran verabschiedete der Rat den Gebietsänderungsvertrag einstimmig. 131 Selbstverständlich berichtete auch die Lokalzeitung vom Geschehen und hielt fest, dass seitens der Bevölkerung ebenfalls keine Gegenstimmen zu verzeichnen waren, sodass letztendlich „die Bürgerschaft doch wohl einhellig hinter der Gemeindevertretung steht“. 132 Auch in Albaxen, das sich lange gegen einen Zusammenschluss mit Höxter gewehrt hatte, votierten die Gemeindevertreter „wenn auch nicht leichten Herzens – so doch einmütig“ für den Vertrag. 133 Stahles Gemeindevertreter, die ursprünglich entweder eine „kleine Lösung“ mit Albaxen und Bödexen oder einen Anschluss an Holzminden favorisierten, stimmten aufgrund der ausbleibenden Möglichkeiten für diese Lösungen einem Anschluss an Höxter „nach knapp fünf Stunden gegen 1 Uhr nachts“ letztendlich zu. 134 Auch die anderen Gemeinden hatten in der Zwischenzeit dem Gebietsänderungsvertrag mit der Stadt Höxter zugestimmt. Ende des Jahres 1968 kam es schließlich zu der abschließenden Sitzung zwischen den Amtsvertretern und der Stadt Höxter. Nachdem die Stadt Höxter dem Vertrag zustimmte, zogen die Amtsvertreter, „[w]enn auch schweren Herzens“, einstimmig nach. 135 Während im Mai des vorherigen Jahres ein Zusammenschluss noch vehement abgelehnt worden war, vollzogen sie damit letztendlich auch aufgrund der äußeren Umstände eine Kehrtwende: Zu nennen sind hierbei sowohl das eingeholte Gutachten als auch die Ausführungen der Düsseldorfer Kommission in der Brakeler Stadthalle. Oberkreisdirektor Sellmann, der noch im August 1968 die zahlreichen abgeschlossenen Ge-
129 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Rates der Gemeinde Bosseborn, 2.10.1968, 1–4, hier 2, in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – Bosseborn-Protokolle 1953–1969. 130 Ebd.2. 131 Vgl. ebd. 132 Westfalen-Zeitung, „Auch Bosseborn sagt ja. Einstimmig für Gebietsänderungsvertrag“ (4.10.1968). 133 Westfalen-Zeitung, „Albaxen nach Bedenkzeit ,Ja‘“ (30.10.1968); vgl. auch Niederschrift über die Sitzung des Rates der Gemeinde Albaxen, 28.10.1968, 1f., in: Stadtarchiv Höxter, D – Höxter Land – AlbaxenProtokollabschriften 1953–1969. 134 Neue Westfälische, „Nach fast fünf Stunden die Entscheidung: Stahle schließt sich Großgemeinde Höxter an“ (4.12.1968). 135 Westfalen-Zeitung, „Jetzt steht noch ein Amt aus. ,Für Höxter eine Magna Charta‘“ (21.12.1968).
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bietsänderungsverträge nicht für möglich gehalten hatte, zeigte sich erfreut und befand, dass die Kommunalpolitiker nach vorne schauen und alte Widerstände vergessen lassen sollten. 136 Angesichts der Tatsache, dass alle Gemeinden einen Gebietsänderungsvertrag abschlossen, fiel den Ministerialbeamten der entsprechende Gesetzesvorschlag besonders leicht. Dem schlossen sich die reformfreudigen Politiker im Landtag ebenfalls an. 4.3 Die Neugliederung der Stadt Paderborn Als Innenminister Weyer in der zweiten Lesung des Sauerland/Paderborn-Gesetzes im nordrhein-westfälischen Landtag danach fragte, „[w]er […] eigentlich vor Jahren daran gedacht [hätte], daß Städte wie […] Paderborn und Schloß Neuhaus sich eines Tages freiwillig vereinigen würden“ 137, legte er das größte Problem bei der Neugliederung der Gemeinden im Raum Paderborn dar. Der Konflikt zwischen der Gemeinde Schloß Neuhaus sowie der Gemeinde Sande aus dem Amt Schloß Neuhaus und der Stadt Paderborn zog sich über die gesamte Zeit des Neugliederungsprozesses hin. Dabei gilt es zu erwähnen, dass die Protagonisten in dem Konflikt vornehmlich aus Schloß Neuhaus stammten. Hierzu zählten in erster Linie der Bürgermeister von Schloß Neuhaus, Bernhard Hunstig, sowie der CDU-Fraktionsvorsitzende der Mehrheitsfraktion im Schloß Neuhäuser Gemeinderat Heinz Kamp. Fachliche Unterstützung erhielten die beiden von den jeweiligen Amts- und Gemeindedirektoren, den Juristen Erich Balks und (ab Anfang 1971) Franz-Josef Winter. 138 Schloß Neuhaus war schließlich deutlich größer als Sande, zudem war der Amtssitz des Amtes Schloß Neuhaus dort ansässig. Daher ist es nicht überraschend, dass Weyer im Landtag die Gemeinde Sande ausklammerte. Der Konflikt wurde erst im August 1974 beigelegt, nachdem kurz zuvor Signale aus Düsseldorf gekommen waren, dass ein Zusammenschluss der Gemeinden Schloß Neuhaus und Sande mit der
136 Vgl. ebd. 137 Zweite Lesung zur Regierungsvorlage, Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Sauerland/Paderborn (Sauerland/Paderborn-Gesetz) – Drucksachen Nr.7/3880 u. 7/4191, 25.9.1974, in: Archiv des Landtags NRW, 7. WP., Plenarprotokoll 07/110, Bd. 6, 4531–4559, hier 4537. 138 Dr. Franz-Josef Winter, Jurist, Amtsdirektor Schloß Neuhaus von 1971 bis 1974; Erich Balks, Jurist, Amtsdirektor Schloß Neuhaus von 1958 bis 1970, vgl. hierzu jeweils Westfälisches Volksblatt, „Franz-Josef Winter neuer Amtsdirektor“ (6.2.1971); Auszug aus dem Protokollbuch der Amtsvertretung Neuhaus, 8.9.1958, beides in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, G-1435 und G-1432.
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Stadt Paderborn im Landtag beschlossen werde. Die örtlichen Vertreter einigten sich nun gezwungenermaßen auf einen sogenannten „Eventual-Gebietsänderungsvertrag“. Bürgermeister Hunstig kommentierte die Lage dahingehend, dass die „Bataillone, die wir bislang auf unserer Seite hatten und fest zu haben glaubten, […] uns zum Teil im Stich gelassen“ hatten. 139 Als bedeutendste Punkte in diesem Vertrag können die Einrichtung eines Bezirksausschusses Schloß Neuhaus/Sande sowie einer Verwaltungsnebenstelle gelten. 140 Das Sauerland/Paderborn-Gesetz, zu dem auch die Neugliederung der Stadt Paderborn zählte, wurde am 27.September 1974 im Düsseldorfer Landtag bei 25 NeinStimmen und sieben Enthaltungen mehrheitlich verabschiedet. 141 So wurden die „Stadt Paderborn und die Gemeinden Benhausen, Dahl, Elsen, Neuenbeken […], Sande und Schloß Neuhaus […] zu einer neuen Gemeinde zusammengeschlossen. Die Gemeinde erhält den Namen Paderborn und führt die Bezeichnung ‚Stadt‘.“ 142 Wie auch die Stadt Höxter stand die Stadt Paderborn den Plänen einer großräumigen Gebietsreform von Beginn an positiv gegenüber. So begrüßte die Stadt Paderborn letztendlich auch den Neugliederungsvorschlag des Innenministers und wies auf die bevorstehenden „oberzentralen Funktionen“ hin, die sie für die gesamte Region zu verantworten hatte und anbieten musste. Für die Stadt Paderborn stand fest, dass für den „Ausbau eines großstädtischen Versorgungszentrums die Zusammenfassung der Gemeinden innerhalb des einpoligen städtischen Verflechtungsgebietes zu einer Stadt unabdingbare Voraussetzung“ war. 143 Zudem wies die Stadt Paderborn auf die bereits abgeschlossenen Gebietsänderungsverträge mit den Gemeinden 139 Neue Westfälische, „Prominenten-Gespräch in Schloß Neuhaus über Groß-Paderborn“ (8.8.1974), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2503. 140 Vgl. Gebietsänderungsvertrag, Unter Aufrechterhaltung ihrer bisherigen, dem Innenminister NW bekanntgegebenen unterschiedlichen Standpunkte schließen die Stadt Paderborn und die Gemeinden Schloß Neuhaus und Sande für den Fall, daß der Gesetzgeber sie zu der neuen Großstadt Paderborn zusammenschließt, gem. § 15 GO NW folgenden Gebietsänderungsvertrag, 9.9.1974, 1–11 (Kopie), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2504b. 141 Vgl. Dritte Lesung zur Regierungsvorlage, Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Sauerland/Paderborn (Sauerland/Paderborn-Gesetz), 27.9.1974, in: Archiv des Landtags NRW, 7. WP., Plenarprotokoll 07/112, Bd. 6, 4631–4639, hier 4639. 142 Bericht des Ausschusses für Verwaltungsreform zur Zweiten Lesung, Entwurf eines Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Sauerland/Paderborn, 19.9.1974, in: Archiv des Landtags NRW, 7. WP., Drucksache 07/4191, 73f. 143 Beide Zitate in: Niederschrift über die Sondersitzung der Ratsversammlung, 29.4.1974, 1–7, hier 3, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-5046.
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Elsen, Benhausen, Dahl, Neuenbeken und einem kleinen Bereich von Dörenhagen hin 144, die vergleichsweise geräuschlos vollzogen wurden. Insbesondere der bereits im Jahre 1971 abgeschlossene Gebietsänderungsvertrag zwischen der Gemeinde Elsen und der Stadt Paderborn war für die Reform im Raum Paderborn entscheidend. Die bis dato zum Amt Schloß Neuhaus gehörende Gemeinde Elsen bekundete den Wunsch, im Zuge der Gebietsreform mit der Stadt Paderborn zusammengeschlossen zu werden. So informierte Paderborns Stadtdirektor Wilhelm Sasse 145 den Leitenden Ministerialrat Köstering in Düsseldorf hierüber: „Ich weiss, dass im Augenblick natürlich keine Einzelregelungen gesetzlich behandelt werden, glaube aber, dass durch die jetzt getroffene eindeutige Entscheidung der Gemeinde Elsen auch praktisch die Vorentscheidung für die Gemeinde Schloss Neuhaus getroffen ist, so dass einer alsbaldigen Verwirklichung der landesplanerischen Konzeption im Raum der Stadt Paderborn nichts mehr im Wege stehen wird.“ 146
Der Ministerialbeamte zeigte sich erfreut über die Situation und kommentierte diese „Vorentscheidung“ mit einem handschriftlichen „gut!“ 147 Dass Elsen die Zukunft nicht zusammen mit Schloß Neuhaus und Sande gestalten wollte, deutete sich allerdings schon im Jahre 1969 an: So dokumentierten nur diese beiden Gemeinden mit dem Abschluss eines Gebietsänderungsvertrages, dass sie in Zukunft eine Großgemeinde bilden wollten. 148 Der CDU-Vorsitzende Kamp zeigte auf, dass der „Bereich Schloß Neuhaus – Elsen – Sande […] über eine leistungsfähige Verwaltung [verfügt], die nicht verbesserungs- oder stärkungsbedürftig ist“. 149 Kamp zählte des Weiteren die Vorteile auf, die die Gemeinden zum Abschluss eines Vertrages bewogen hatten. Er erwähnte damit aber auch gleichzeitig 144 Vgl. ebd.4. 145 Wilhelm Sasse, I. Stadtdirektor Paderborn von November 1952 bis September 1971, vgl. Karl Hüser, Die Großstadt Paderborn. Entwicklungslinien im Überblick (1975–1995), in: ders. (Hrsg.), Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region. Das 19. und 20.Jahrhundert. Traditionsbindung und Modernisierung. Bd. 3. Paderborn 1999, 402–421, hier 406. 146 Schreiben des Stadtdirektors Sasse an den Herrn Innenminister des Landes NRW, Betr.: Kommunale Neugliederung, hier: Abschluss eines Gebietsänderungsvertrages zwischen der Stadt Paderborn und der Gemeinde Elsen, 16.4.1971, in: LAV NRW R, NW 486–400. 147 Siehe handschriftliche Notiz Kösterings im Schreiben von Stadtdirektor Sasse, ebd. 148 Vgl. Neue Westfälische, „Keine Sperrlösung – gewichtiger Markstein zur angestrebten Großgemeinde“ (15.3.1969), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2503. 149 Westfälisches Volksblatt, „Respektiert diesen zusammengehörenden Bereich!“ (23.1.1969), in: Stadtund Kreisarchiv Paderborn, S, G-4687.
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Argumente, die gegen einen Zusammenschluss mit der Stadt Paderborn zu einem Oberzentrum sprachen: „Einheitlicher, räumlich in sich geschlossener Bereich mit gleicher Wirtschafts- und sozialer Struktur; bauliche Verflechtung der drei Gemeinden; ortsnahe Verwaltung; günstige Steuern und Abgabensätze in vielen Bereichen, wozu auch die Erschließungsbeiträge sowie die Straßenreinigung zu zählen sind; die Ortszentren können erhalten und evtl. noch gestärkt werden; schließlich der politische Einfluß.“ 150
Insgesamt wird deutlich, dass die Schloß Neuhäuser und Sander Vertreter den Anschluss Elsens an eine mögliche Großgemeinde noch nicht aufgegeben hatten. Die „fliegende Kommission“ aus Düsseldorf kündigte für Ende April 1973 offiziell ihren Besuch im Landkreis Paderborn an, um sich ein persönliches Bild von der Situation zu machen. 151 Inoffiziell war der anstehende Termin schon länger bekannt. Die lokale Tageszeitung erläuterte in einer Jahresvorausschau gar, dass 1973 „ein entscheidendes Jahr“ werde, da die Kommissionen im Raum zu Besuch sein würden. 152 Die Aussprache in der Paderborner Paderhalle mit den Lokalpolitikern und Verwaltungsbeamten fand schließlich Anfang Mai 1973 statt. Auf dieses Treffen bereiteten sich die Vertreter aus Paderborn im Vorfeld sehr intensiv vor. So erläuterte Stadtdirektor Wilhelm Ferlings 153 im Paderborner Stadtrat, dass „die Köstering-Kommission […] den hiesigen Raum bereisen werde. Diese Terminierung lasse es erforderlich werden, die von der Verwaltung erarbeitete und vom Ältestenrat und den Fraktionen eingehend beratene Stellungnahme heute zu verabschieden.“ 154 Konkret ging es um eine offizielle Stellungnahme, welche die Stadtverwaltung Paderborn erstellt hatte. 155 Dabei legte sie einen eigenen Neuglie-
150 Ebd. 151 Vgl. Schreiben des Oberkreisdirektors Henke an die Herren Stadt- und Amtsdirektoren des Kreises, Betr.: Fahrtroute für die Bereisung des Kreises Paderborn am 25.4.1973 durch die Arbeitsgruppe für kommunale Neugliederung des Innenministeriums, 20.3.1973, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2485a. 152 Vgl. Westfälisches Volksblatt, „Unser Kommentar. 1973 – entscheidend für die Gebietsreform“ (30.12.1972), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, G-4694. 153 Wilhelm Ferlings [Jurist], I. Stadtdirektor Paderborn von Oktober 1971 bis August 1991, vgl. Hüser, Die Großstadt Paderborn (wie Anm.145), 406. 154 Niederschrift über die Sitzung der Ratsversammlung, 1.3.1973, 1–9, hier 3, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-5044. 155 Den ersten Entwurf erstellte das Amt für Stadtplanung und Stadtentwicklung, welcher dann von Ferlings bearbeitet wurde, vgl. hierzu die Unterlagen in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2484a.
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derungsvorschlag vor, der von den Kommunalpolitikern einstimmig verabschiedet wurde. 156 Die Stadt Paderborn ließ in ihrem Vorschlag keinen Zweifel daran, dass „die Gemeinden Schloß Neuhaus und Elsen unstreitig zum städt[ischen] Verflechtungsgebiet gehör[t]en“. 157 Die Stadt Paderborn wollte also absolut keine Diskussion zulassen, dass die Gemeinden Schloß Neuhaus und Elsen nicht der neuen (Großstadt) Paderborn zugewiesen werden sollten. Schließlich sollten in einem städtischen Verflechtungsgebiet keine Gemeinden eines Typs B gebildet werden. Die Stadt Paderborn war ferner der Ansicht, dass die von ihr vorgeschlagene Lösung den allgemein aufgestellten Zielen der kommunalen Neugliederung am besten entsprach. Da die Landesregierung beabsichtigte, wirtschaftlich leistungsfähige Gemeinden zu gründen, wurde der Gedanke, dass neben der Großstadt Paderborn auch Schloß Neuhaus allein oder im Zusammenschluss mit anderen Gemeinden im Umkreis existieren konnte, gleich abgelehnt: „Es muß versucht werden, hinderliche Konkurrenzsituationen zu beseitigen oder befürchtete Konkurrenzen zu verhindern“, heißt es in der von den Verwaltungsexperten im Paderborner Rathaus erstellten Broschüre. 158 Die Stadt Paderborn betonte, dass sie mit den Vertretern aus Schloß Neuhaus bereits in einem seit 1970 gegründeten Planungsausschuss zusammenarbeitete. 159 Es gab zudem Beziehungen zwischen beiden Kommunen im Bereich baulicher Verflechtungen, im Straßennetz, bei den Pendlerströmen, im Bereich der Schulen, der Kultur, des Einzelhandels sowie der Krankenversorgung. 160 In allen genannten Bereichen waren die Verflechtungen derart intensiv, dass die Gemeinden bereits seit langer Zeit aufeinander zuwuchsen. 161 Es lag den Paderborner Verantwortlichen ebenfalls am Herzen, einheitliche Lebensverhältnisse für die Bewohner des gesamten – überwiegend ländlichen – Paderborner Raums zu ermöglichen, womit zwar nur indirekt, aber für versierte Experten
156 Vgl. Niederschrift, 1.3.1973 (wie Anm.154), 9, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-5044. 157 Stadt Paderborn – Der Stadtdirektor, Paderborn. Kommunale Neugliederung. Paderborn 1973, 10, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn. 158 Ebd.10. 159 Vgl. ebd.41. 160 Vgl. ebd.43–47. 161 Vgl. ebd.43.
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Abb.2: Berufseinpendler nach Paderborn. Herkunft und Zahl; Quelle: Stadt Paderborn – Der Stadtdirektor, Paderborn. Kommunale Neugliederung. Paderborn 1973, (65). Repro: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn.
der Materie sehr deutlich Kernforderungen der Sachverständigenkommission aus dem Gutachten A aufgegriffen wurden. 162 Auch die Verwaltungsexperten im Amt Schloß Neuhaus um Amtsdirektor FranzJosef Winter erstellten rechtzeitig vor dem Besuch der Kommission aus Düsseldorf eine entsprechende mit Daten und Fakten untermauerte Broschüre (April 1973), um die Ministerialbeamten und Landtagsabgeordneten von der Selbstständigkeit eines sogenannten „Mittelzentrums Schloß Neuhaus“ schriftlich zu überzeugen. Die Kernbotschaft „kommunalpolitischer[r] Arbeit“ lautete, dass „im Rathaus vom Bürger für den Bürger Kommunalpolitik gemacht wird. Die kommunalen Einheiten müssen für die Verwaltung überschaubar, für die Bürger und die Mandatsträger durchschaubar sein.“ 163 Nach Ansicht des Amtes Schloß Neuhaus war das städtische Verflechtungsgebiet von Paderborn „typisch zweipolig“, „weil Schloß Neuhaus […] auch einen
162 Vgl. ebd.52; sowie Die kommunale und staatliche Neugliederung, Abschnitt A (wie Anm.23), 17f. 163 Rat der Gemeinde Schloß Neuhaus, Mittelzentrum Schloß Neuhaus. Eine Dokumentation der Gemein-
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Abb.3: Freizeitmöglichkeiten im Mittelzentrum Schloß Neuhaus; Quelle: Rat der Gemeinde Schloß Neuhaus, Mittelzentrum Schloß Neuhaus. Eine Dokumentation der Gemeinde Schloß Neuhaus zur kommunalen Neugliederung im städtischen Verflechtungsgebiet von Paderborn. Schloß Neuhaus 1973, 44, in: Stadtund Kreisarchiv Paderborn, S, G-4649.
Großteil des Bedarfs der benachbarten A-Gemeinden abdeckt (z.B. höhere Schulen, Sonderschulen, Schwimmbäder, kulturelle Veranstaltungen, Büchereien, Krankenhaus, ärztliche Versorgung, Apotheken usw.)“. 164 Die Amtsverwaltung schlug drei verschiedene Neuordnungsmodelle vor, wobei
de Schloß Neuhaus zur kommunalen Neugliederung im städtischen Verflechtungsgebiet von Paderborn. Schloß Neuhaus 1973, 9, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, G-4649 (Hervorhebung im Original). 164 Ebd.11.
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der Zusammenschluss lediglich mit Schloß Neuhaus und Sande aufgrund der Einwohnerzahl von 17814 Einwohnern am wenigsten favorisiert wurde. 165 Es wurde festgehalten, dass sich auch bei dieser Lösung „noch eine gesunde Basis für ein Mittelzentrum [ergab]. Jedoch sollte […] auf eine Zuordnung der Gemeinde Elsen zum Mittelzentrum Schloß Neuhaus nur aus wirklich schwerwiegenden Gründen verzichtet werden.“ 166 Ferner wurde in der Dokumentation darauf hingewiesen, dass in Schloß Neuhaus zusätzlich noch 3367 Zivilangehörige der Stationierungskräfte vorhanden waren. Diese müssten in den Berechnungen ebenfalls noch berücksichtigt werden. 167 Hierbei nahm die Amtsverwaltung sicherlich Bezug auf die Mindesteinwohnerzahlen, die im Gutachten A der Sachverständigenkommission dargelegt waren. Darüber hinaus wurden in der Dokumentation Aussagen über die räumliche Entwicklung der beiden Kommunen getroffen: So ging die bauliche Entwicklung der Stadt Paderborn in Richtung Osten, Südosten und Süden, was sich an einem geplanten Industriegelände, der geplanten Trabantensiedlung „Auf der Lieth“ sowie der Gesamthochschule ablesen ließ. 168 Durch die geplante Bundesstraße 1, der anvisierten Westtangente und dem Grüngürtel zwischen Neuhaus und Paderborn, der erhalten bleiben sollte, gab es zudem klare naturgegebene räumliche Trennungen. 169 Die Schloß Neuhäuser Kommunalpolitiker schlossen sich einstimmig den Argumentationen der Dokumentation an. 170 Auch wurde seitens eines Ratsmitgliedes auf die bauliche Entwicklung der Gemeinde in Richtung Norden 171 sowie auf den finanziellen Aspekt einer Neugliederung im hiesigen Raum hingewiesen: „Die Stadt Paderborn brauche unser Finanzaufkommen, und dafür sei sich Schloß Neuhaus zu schade.“ 172 Die lokalen Protagonisten um Hunstig, Kamp und Ferlings trugen ihre bereits be-
165 Vgl. ebd.37–41. 166 Ebd.41. 167 Vgl. ebd.34. 168 Vgl. ebd.57. 169 Vgl. ebd.63. 170 Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Rates der Gemeinde Schloß Neuhaus, 18.4.1973, 1–8, hier 8, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, H Schloß Neuhaus-33. 171 Und damit konträr in die andere Richtung von Paderborn, das südlich von Schloß Neuhaus liegt, vgl. hierzu auch Abb.4. 172 Niederschrift, 18.4.1973 (wie Anm.170), 6, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, H Schloß Neuhaus-33.
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Abb.4: Nachweis der naturräumlichen Trennung; Quelle: Rat der Gemeinde Schloß Neuhaus, Mittelzentrum Schloß Neuhaus. Eine Dokumentation der Gemeinde Schloß Neuhaus zur kommunalen Neugliederung im städtischen Verflechtungsgebiet von Paderborn. Schloß Neuhaus 1973, 62, in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, G-4649.
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kannten Argumente auch noch einmal der Düsseldorfer Kommission in der Paderhalle mündlich vor. 173 Der Ministerialbeamte Köstering nahm zum Problem Stellung, ob es ein Mittelzentrum Schloß Neuhaus/Sande geben sollte oder ob die beiden Kommunen der Großstadt Paderborn hinzugefügt werden sollten. Dabei betonte er, dass der Anspruch des Bürgers auf eine bessere Versorgung, wie es auch im Gutachten der Sachverständigenkommission bereits geregelt wurde, im Vordergrund der Planungen seitens des Landes stand. Grenzveränderungen konnte es nur aus Gründen des öffentlichen Wohles geben. Eine Abwägung von Schaden und Nutzen einer Gebietsänderung würde immer vorgenommen. Ein abschließendes Urteil zur Zukunft der Gemeinden Schloß Neuhaus und Sande gab er noch nicht. 174 Für ihn stand fest: „Was von Neuhaus geschrieben worden ist, klingt vernünftig, aber auch die Paderborner Argumente sind überzeugend.“ 175 Auch wenn Kösterings Äußerungen zurückhaltend und diplomatisch klangen, so wollte das Westfälische Volksblatt aus seinen Ausführungen bereits eine Tendenz für einen Zusammenschluss zwischen Schloß Neuhaus und Paderborn erkannt haben. 176 So verwundert es nicht, dass sich Amtsdirektor Winter wenig überrascht zeigte, nachdem Weyer seinen Neugliederungsvorschlag ein knappes Jahr später der Öffentlichkeit präsentierte. 177 Die Paderborner Protagonisten um Bürgermeister Herbert Schwiete und Stadtdirektor Ferlings sahen sich mit dem Gesetzesvorschlag des Innenministers in ihren Ausführungen bestätigt. Die Einpoligkeit des Verflechtungsgebietes Paderborn – Schloß Neuhaus wurde seitens des Innenministeriums in Düsseldorf klar bestätigt. 178 Auch das Gespräch zwischen Bürgermeister Hunstig und den Düsseldorfer Land-
173 Vgl. hierzu Redemanuskript Bürgermeister Hunstig in der Paderhalle, 7.5.1973, 1–6; Rede Heinz Kamp, Ausführungen anläßlich des Anhörungstermins zur kommunalen Neugliederung im Raum Paderborn in der Paderhalle, 7.5.1973, 1–7; Kommunale Neugliederung im Raum Paderborn, hier: Erörterung am 7.5.1973, Stellungnahme des I. Stadtdirektors Wilhelm Ferlings, 1–12, alles in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, G-4630 bzw. B-2485b. 174 Vgl. Neue Westfälische, „Schicksalstag für 122 Gemeinden“ (8.5.1973), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2491. 175 Westfälisches Volksblatt, „Wir hätten kein Problem, wenn Schloß Neuhaus in Wünnenberg liegen würde“ (8.5.1973), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2491. 176 Vgl. Westfälisches Volksblatt, „Nun Pause“ (8.5.1973), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2491. 177 Vgl. Neue Westfälische, „Was halten Sie vom Innenministervorschlag zur Neuordnung im Raum Paderborn?“ (19.3.1974), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2491. 178 Vgl. Neue Westfälische, „Oberzentrum mit Sonderaufgaben“ (20.3.1974), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B-2491.
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tagsabgeordneten im Juli 1974 führte letztendlich zu keinen nennenswerten Änderungen des Gesetzesvorschlages für die Neugliederung der Stadt Paderborn. 179 Da die Schloß Neuhäuser Vertreter auch aufgrund dieses Gespräches Signale erhielten, dass eine Eigenständigkeit seitens des Landtags nicht mehr vorgesehen war, schlossen sie im August 1974 den bereits oben erwähnten „Eventual-Gebietsänderungsvertrag“ ab. Dem von der Ministerialbürokratie, der Landesregierung, dem Landtag und auch der Stadt Paderborn gewünschten Oberzentrum Paderborn stand damit nichts mehr im Wege.
III. Fazit In einer allgemein reformfreudigen Dekade Mitte der 1960er bis 1970er Jahre, in welcher Antworten auf die Fragen der Zeit mithilfe von Wissenschaftlern erfolgen sollten, war die Einberufung einer Sachverständigenkommission seitens der Politik nur logisch. Die beiden dargelegten Fallbeispiele um die Neugliederung der Städte Höxter und Paderborn verdeutlichen, dass die von der Landesregierung eingeholten Gutachten der Sachverständigenkommission einen hohen Einfluss hatten. Aufgrund der Biographien lässt sich festhalten, dass fast alle Kommissionsmitglieder ausgebildete, promovierte Juristen waren. Es wurde aufgezeigt, dass alle durch vielfältige Tätigkeiten und Kenntnisse im Bereich der Verwaltung, sei es in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht, die Befähigung hatten, als Experten zu agieren. So waren einige Mitglieder sogar Teilnehmer der Kommunalrechtlichen Arbeitsgemeinschaft beim 45. Deutschen Juristentag im Jahre 1964 und sprachen sich bereits dort für die Notwendigkeit einer Gebietsreform aus. Bei den Mitgliedern handelte es sich jedoch nicht ausschließlich um externe Experten. So wurde die strategisch bedeutsame Position des Vorsitzenden der jeweiligen Kommission durch den Staatssekretär des NRW-Innenministeriums ausgefüllt. Somit war sichergestellt, dass die Ministerialbürokratie über die Zwischenstände informiert war und auch beim Gesamtergebnis Einfluss nehmen konnte. Die Aussage des Kommissionsmitglieds Egbert Möcklinghoff, dass das Gutachten B im Wesentlichen von den Beamten des Innenministeriums erstellt wurde, ist ein Beleg dafür. 179 Vgl. Protokoll 66. Sitzung Ausschuss für Verwaltungsreform, 4.7.1974, in: Archiv des Landtags NRW, 7. WP., Ausschussprotokoll 07/1542, 1–97, hier 4–9.
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Auch arbeiteten beispielsweise die einberufenen Experten Paul Eising, Jürgen Girgensohn oder Egbert Möcklinghoff später an der Umsetzung der Gebietsreform im Ministerium bzw. im Landtag als handelnde Experten mit. Eine vollständige Unabhängigkeit der jeweiligen Kommission war aufgrund der Mitgliederstruktur nicht gegeben. Sowohl in den Diskussionen vor Ort als auch in Düsseldorf hatten die Ministerialbeamten, die Landesregierung und die Landtagsabgeordneten mit den Gutachten entscheidende Papiere eingeholt, auf welche sie sich argumentativ über den gesamten Neugliederungsprozess berufen konnten. Insgesamt diente die Einberufung einer Sachverständigenkommission durchaus dazu, sich auf die Erkenntnisse von anerkannten Personen des öffentlichen Lebens zu berufen. Das Kommissionsmitglied Roman Schnur wies auf diesen Aspekt bereits im Jahre 1966 hin und stellte fest, dass der Sachverstand einer eingesetzten Kommission, „um es vorsichtig zu formulieren, nicht viel größer [sei] als derjenige der Ministerialbürokratie“. 180 Aufgrund der Gutachten und wegen der Reformfreudigkeit aller drei im Landtag vertretenen Parteien konnte die Neugliederung der kommunalen Landkarte in Nordrhein-Westfalen zügig umgesetzt werden. Die landesplanerischen Zielvorgaben, warum eine Gebietsreform überhaupt notwendig gewesen war, sowie die Mindestanforderungen zum Beispiel hinsichtlich der Einwohnerzahlen von zukünftigen Gemeinden basierten auf den Empfehlungen der Gutachten. Diese Argumentationen trug beispielsweise der Leitende Ministerialrat Heinz Köstering auch in anderen Regionen Nordrhein-Westfalens vor, sodass auch dortige Neugliederungsalternativen letztendlich verworfen wurden. 181 Die vorgeschlagenen sechs Städte für eine Neugliederung des Ruhrgebietes (Gutachten B) stellten für die Landtagsabgeordneten aufgrund des intensiven Widerstandes der lokalen Protagonisten einen zu drastischen Einschnitt dar. Allerdings wurden mehrere Mittelstädte im Ruhrgebiet dennoch zu größeren Einheiten zusammengeschlossen, sodass die grobe Richtung der Empfehlungen umgesetzt wurde. Die angestrebte Reform der Mittelinstanz mit einer Reduzierung auf drei Regierungsbezirke (Gutachten C) wurde vorerst nicht verwirklicht. 182 180 Schnur, Strategie und Taktik (wie Anm.51), 23. 181 Vgl. auch Dicke, Reform und Protest (wie Anm.6), 155f. 182 Vgl. auch Wolfgang Gärtner, Der Landtag NRW und die kommunale Neugliederung in den sechziger und siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts, in: Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Der Kraftakt: Kommunale Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen. (Schriften des Landtags NordrheinWestfalen, Bd. 16.) Düsseldorf 2005, 15–53, hier 38–44.
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Mit der Einsetzung einer „fliegenden Kommission“, welche „fast alle“ 183 Gemeinden in Nordrhein-Westfalen besuchte, waren sich die Ministerialbeamten sicher, dass dieses Verfahren demokratisch war und „ein Höchstmaß an Beteiligung der betroffenen Gemeinden und Kreise“ sicherte. 184 Schließlich hörten sich die Kommissionsmitglieder die Ansichten vor Ort an, um dann zu betonen, dass diese bei der Aufstellung der Neugliederungsgesetze sorgfältig abgewogen würden. Hinsichtlich der Sitzungen erläuterten die Beamten, dass sie diese „ohne vorgefaßte Meinung“ 185 besuchen wollten und sich nur als „Aufbereiter des Stoffs“ 186 ansahen. Aufgrund der Analyse der beiden Fallbeispiele kann allerdings festgehalten werden, dass die Beamten im Vorfeld sehr intensiv über die Sachlage Kenntnis hatten und auch kontroverse Argumente ausgetauscht wurden. Die Journalisten der lokalen Tageszeitungen, welche die Sitzungen besuchten und darüber berichteten, wollten zudem bereits Tendenzen erkannt haben. Auch wenn die Beamten ferner stets betonten, dass „die Entscheidung über die Neuabgrenzung der Gemeinden und Kreise beim demokratisch gewählten Parlament […], nämlich im Landtag“ lag 187, wurden stets Stimmen laut, dass die kommunale Gebietsreform „vom ‚grünen Tisch‘“ der Ministerialbürokratie aus entschieden werde. 188 Diesem Vorwurf wurde von Köstering ebenfalls widersprochen, schließlich würde die Kommission mit den Besuchen beweisen, dass sie „an die ‚Front‘“ fahre. 189 Die Intensität der Verhandlungen vor Ort und die genauen Kenntnisse lassen dennoch darauf schließen, dass die „fliegende Kommission“ einen höheren Einfluss auf die Gebietsreform hatte, als sie mit der Äußerung „Aufbereiter des Stoffs“ vorgab. Circa 30000 Druckseiten wurden von den Beamten erstellt, sodass die kommunale Gebietsreform ohne Zweifel als ein „Kraftakt“ 190 angesehen werden kann. Zwar ent-
183 Köstering, Notwendige Reform (wie Anm.12), 8. 184 Neue Westfälische, „Für den Raum Bielefeld werden wir zu einer erheblich vom Gutachten B abweichenden Konzeption kommen“ (16.7.1971), in: LAV NRW R, NW 370–483. Vgl. hierzu auch Dicke, Reform und Protest (wie Anm.6), 36. 185 Niederschrift, 15.3.1967 (wie Anm.94), 7, in: LAV NRW OWL, D1–25524. 186 Westfälisches Volksblatt, „Unsere Meinung“ (wie Anm.96), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, G-4696. 187 Neue Westfälische, „Für den Raum Bielefeld […]“ (wie Anm.184), in: LAV NRW R, NW 370–483. 188 Neue Westfälische, „Vor der Entscheidung“ (19.3.1974), in: Stadt- und Kreisarchiv Paderborn, S, B2491. 189 Niederschrift, 17.11.1970 (wie Anm.95), 5, in: LAV NRW R, NW 486–124. 190 Die Präsidentin des Landtags, Der Kraftakt (wie Anm.182).
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schied der Landtag in letzter Instanz und veränderte durchaus die Gesetzesvorschläge an der einen oder anderen Stelle aufgrund von politischen Interessen, die großen Leitlinien in den Neugliederungsgesetzen entwickelten allerdings die Ministerialbeamten. Infolgedessen kann Webers Ansicht bestätigt werden, dass „[i]n einem modernen Staat […] die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden, noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums, des militärischen wie des zivilen [liegt]“. 191 Auch die rückblickenden Einschätzungen des Neugliederungsexperten der SPD-Fraktion, Franz-Josef Antwerpes, hinsichtlich der Zusammenarbeit mit den Ministerialbeamten zielen in diese Richtung: „Also das waren keine Leute, die auf ihrem Papier standen, aber sie beharrten schon auf ihren Vorschlägen, die wir dann änderten, […] zum Teil auch stärker geändert haben. Aber insgesamt muss ich sagen, der Einfluss des Ministeriums auf die einzelnen Neugliederungsvorschläge war doch unverhältnismäßig groß. Und für die Landtagsabgeordneten war es auch kaum möglich, diese riesigen Mengen von Papier und diese riesigen Mengen von Vorschlägen so zu sortieren, dass man sagen konnte, das ist gut oder schlecht.“ 192
Angesichts der kommunalen Alternativvorstellungen in den beiden Fallbeispielen und der Ankündigung, dass diese zwar wohlwollend im Rahmen der Aufstellung der entsprechenden Neugliederungsgesetze geprüft werden sollten, letztendlich aber konsequent zugunsten der größeren Einheit entschieden wurde, bleibt der Eindruck bestehen, dass seitens der „fliegenden Kommission“ nur eine vorgeschobene Diskussionsbereitschaft und Einbeziehung der Öffentlichkeit in den Planungsprozess bestand. Die dargelegten internen Schreiben und Vermerke seitens des Innenministeriums bestätigen diesen Eindruck. Schaut man genauer auf die Kommunen, die Alternativvorschläge zugunsten kleinerer Zusammenschlüsse von Gemeinden vorstellten, so fällt auf, dass dies vor
191 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. rev.Aufl., besorgt v. Johannes Winckelmann. Tübingen 1972, 825. 192 Ausschnitt aus dem Gespräch des Verfassers mit Dr. Franz-Josef Antwerpes, 19.6.2018. Dr. Franz-Josef Antwerpes, Volkswirt, Mitglied des Landtages von NRW von 1970 bis 1978 (SPD), Leiter des Planungsstabs der Stadt Duisburg von 1968 bis 1975, vgl. Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), 60 Jahre Landtag Nordrhein-Westfalen. Das Land und seine Abgeordneten. (Schriften des Landtags Nordrhein-Westfalen, Bd. 17.) Düsseldorf 2006, 157f.
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allem wirtschafts- und finanzkräftige Gemeinden waren. Diese hatten Angst, in einer Großgemeinde, die aus Zusammenschlüssen von beispielsweise zehn Gemeinden bestand, Geld für andere Gemeinden aufbringen zu müssen, sodass die Entwicklung vor Ort stagnieren könnte. Es lässt sich aus diesen Gründen daher festhalten, dass Gutachten, gleichgültig von welcher der beiden Seiten (Land oder Kommune) sie eingeholt wurden, selbstverständlich interessengeleitet waren. Angesichts der Kosten von ca. 20000 D-Mark holten sich vor allem reichere Gemeinden externe Gutachten ein, um mithilfe von dargelegten Zahlen und Fakten für den eigenen Neugliederungsvorschlag zu werben. 193 Im Raum Höxter trat der Fall ein, dass das eingeholte Gutachten des Amtes Höxter-Land sogar einen ungewünschten Effekt hatte: Dieses Gutachten, welches unter anderem der Raumplaner Hartmut Scholz, aber auch der frühere Ministerialbeamte Gottfried Müller als Sondergutachter für die Regionalbeurteilung erstellten, empfahl den Zusammenschluss mit der Stadt Höxter. Diese beteiligte sich daraufhin zur Hälfte an den Kosten des Gutachtens. Im Raum Paderborn benötigten die Gemeinden Schloß Neuhaus und Sande sowie die Stadt Paderborn keine Gutachten von externen Experten. Hier war sowohl die Mitarbeiteranzahl als auch die Fachkompetenz in den Verwaltungen so groß, dass diese internen Experten rechtzeitig vor dem Eintreffen der „fliegenden Kommission“ aus Düsseldorf eigens erstellte Dokumentationen vorlegten und zudem offiziell von den Gremien einstimmig verabschieden ließen. Gutachten waren übrigens auch in anderen Regionen Nordrhein-Westfalens ein übliches Mittel im Neugliederungsprozess 194, was zu einer „geradezu epidemische[n] Ausbreitung der Nachfrage[n] aus den Kommunalverwaltungen nach wissenschaftlichen Gutachten“ führte. 195 Die Durchführung einer Gebietsreform wurde von der Landesregierung, dem Landtag und der Ministerialbürokratie aufgrund von bestimmten Zielen wie einer Effizienz-, Leistungs- und Planungssteigerung von Gemeinden und Verwaltung vollzogen. Diese Ziele wurden im Neugliederungsverfahren auch gerichtlich als le-
193 Zu den Kosten vgl. auch Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform (wie Anm.6), 123. 194 Vgl. Dicke, Reform und Protest (wie Anm.6), 158–160. 195 Schreiben von Dr. Hermann F. Altrup an die Staatskanzlei des Landes NRW, Herrn Staatssekretär Prof. Dr. Halstenberg, Betr.: Kommunale Gebietsreform in NRW – Gründung eines Stabes von Planungsreferenten als „Eingreifreserve des Landes“ in Fällen unzulänglicher Verwaltungskraft von Kreisen und Gemeinden nach Neuordnung, 20.3.1971, 1–3, hier 1, in: LAV NRW R, NW 264–184.
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gitim angesehen und zwölf Jahre nach Abschluss der Gebietsreform sogar noch einmal von den Professoren Landwehrmann und Rottmann gutachterlich bestätigt. 196 Abschließend bleibt festzuhalten, dass die kommunale Gebietsreform angesichts nur unzureichender Personalausstattung der Verwaltung (zum Beispiel ein ehrenamtlicher Bürgermeister als Verwaltungschef) sowie fehlender Infrastruktur (zum Beispiel Kanäle) vor allem in ländlichen Gebieten überfällig war. Zudem war sie, auch wenn oftmals deutliche Kritik am Verfahren geäußert wurde, aufgrund der Umsetzung durch die demokratisch legitimierten Mitglieder des Landtages zweifelsfrei legitim. Nichtsdestotrotz, und das verdeutlichen auch die beiden Fallbeispiele, kann der Beurteilung Meckings durchaus zugestimmt werden, dass die nordrhein-westfälische Gebietsreform „für den Bürger, aber nicht mit dem Bürger“ umgesetzt wurde. 197
196 Vgl. Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform (wie Anm.6), 125–131 u. 384–390. 197 Ebd.457–460, hier 457 (Hervorhebungen im Original).
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Kompetenzen im Widerstreit Unternehmensberater als Personalplaner der Deutschen Bundespost 1983–1985 von Alina Marktanner
Das Gewerkschaftsblatt „Die Deutsche Postgilde“ nahm im Februar 1984 den Einsatz zweier Beratungsunternehmen bei der Deutschen Bundespost aufs Korn: „Belächelte man zunächst […] die Interimcoachs […], so empfindet man sie zunehmend als suspekt.“ 1 Hohe Defizite im Postwesen 2, eine Marktsättigung im Fernmeldewesen sowie die schwindende Unantastbarkeit des Berufsbeamtentums 3 hatten sich bereits seit Mitte der vorhergehenden Dekade zu einer drückenden Problemlage verdichtet. Offenbar wollte der Minister für das Post- und Fernmeldewesen der ersten Kohl-Regierung, Christian Schwarz-Schilling, diese nicht allein bewältigen. Die „Coachs“, die er zur Rettung engagiert hatte, waren die Beratungsfirmen Knight Wendling und Mummert + Partner. Das Schweizer Unternehmen Knight Wendling hatte ein strategisches Unternehmenskonzept für die Deutsche Post auszuarbeiten, während die Hamburger Firma Mummert + Partner das Personalbemessungssystem auf Verbesserungsmöglichkeiten hin prüfen sollte. Der geballte Unmut der unteren Verwaltungsebenen gegen die Berater von, bissig apostrophiert, „Mumpitz und Wendelin“ mündete in einem Aufruf zum Boykott der Projekte: „Was liegt da näher, als mit probaten Spielmethoden den millionenschweren Neuerwerbungen Abseitsfallen zu bauen, sie abzublocken, ins Leere laufen zu lassen oder sich einfach totzustellen.“ 4 Die Beratungsaufträge der 1980er Jahre bei der Deutschen Bundespost stehen bei1 Mumpitz und Wendelin, in: Die Deutsche Postgilde 1984, 2. 2 Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen (Hrsg.), Deutsche Bundespost. Geschäftsbericht 1980. Bonn 1980, 86; Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen (Hrsg.), Deutsche Bundespost. Geschäftsbericht 1981. Bonn 1981. 3 Mit seinem „Aktionsprogramm zur Dienstrechtsreform“ von 1976 führte der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer erstmals die Prinzipien der funktions- und leistungsgerechten Bezahlung in das öffentliche Dienstrecht ein. Vgl. Franz Kroppenstedt, Das Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Reform des öffentlichen Dienstrechts, in: Die öffentliche Verwaltung 1/2, 1977, 156. 4 Mumpitz (wie Anm.1), 2.
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-007
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spielhaft für ein Phänomen der jüngeren deutschen Geschichte, das sich mit dem Begriff Behörden-Consulting fassen lässt: die Beratung von Bund, Ländern und Gemeinden sowie öffentlicher Unternehmen durch Unternehmensberatungsfirmen. 5 Der Einsatz von Organisations- und Strategieberatungen in der staatlichen Verwaltung eröffnet eine Dichotomie öffentlicher und privater Logiken und ist am ehesten als Verquickung wechselseitiger Interessen zu verstehen. Unternehmensberater erschlossen mit staatlichen Kunden ein neues Marktsegment, während politische Entscheidungsträger ihr Tätig- oder Untätigsein mithilfe externer Gutachten abzusichern versuchten. Konnten sich Auftraggeber und Auftragnehmer auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit einigen, was nicht immer gelang, erreichten interne Behördenkonflikte durch die äußere Kontrolle jedoch erst recht ihren Höhepunkt. Im Falle der Deutschen Bundespost stellte Schwarz-Schilling externe Beratergutachten als für ein öffentliches Unternehmen notwendig und zeitgemäß dar. Die Beamten und Angestellten der Post- und Fernmeldeämter lehnten die Consultants dagegen als bedrohliche Eindringlinge ab. Der vorliegende Beitrag behandelt das Beratungsprojekt der Mummert + Partner Unternehmensberatung GmbH zum Personalbemessungssystem der Deutschen Bundespost in den Jahren 1983 bis 1985 und fragt: Wie kollidierten und wetteiferten unterschiedliche Wissensakteure und Interessensgemeinschaften im Streit um das Bemessungssystem der Deutschen Bundespost? Der Beitrag stützt sich auf Archivmaterial, zeitgenössische Veröffentlichungen der Verwaltungswissenschaften, einige Presseartikel sowie Zeitzeugengespräche mit ehemaligen Beratern. Im Zentrum steht eine spannungsgeladene Akteurskonstellation: Bundesminister SchwarzSchilling, der mit der Prüfung des Bemessungssystems darauf abzielte, Personalkosten zu sparen; die internen Bemessungsfachleute der Deutschen Bundespost, die ihre Kompetenz nicht in Frage gestellt sehen wollten; die Deutsche Postgewerkschaft, die Stellenstreichungen und Ansehensverlust der Belegschaft zu verhindern suchte; und die externen Berater, die durch die Gemengelage der Interessen navigier-
5 Siehe zum US-amerikanischen Fall Christopher D. McKenna, The World’s Newest Profession. Management Consulting in the Twentieth Century. Cambridge 2006, 80–110; zum französischen Fall Philippe Bezes, Réinventer l’État. Les réformes de l’administration française (1962–2008). Paris 2009; vergleichend zu Kanada, Großbritannien und Frankreich Denis Saint-Martin, Building the New Managerialist State. Consultants and the Politics of Public Sector Reform in Comparative Perspective. Oxford 2000; kritisch aus soziologischer Perspektive: Peter Richter, Ökonomisierung als gesellschaftliche Entdifferenzierung. Eine Soziologie zum Wandel des öffentlichen Sektors. Konstanz 2009.
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ten und gemäß ihres Auftrages die Rationalisierungsbemühungen des Ministers als alternativlos präsentierten. Ihre jeweiligen Interessen versuchten die unterschiedlichen Parteien mit einem diskursiven Manöver durchzusetzen: der (Selbst-) Zuschreibung und Aberkennung von Expertise. Die Beauftragung externer Berater, so zeigt der Beitrag, sollte die Postbeamten im Bemessungsbereich als voreingenommen und unternehmerischem Denken gegenüber verschlossen exponieren. Nachdem der Minister für das Post- und Fernmeldewesen die Prüfung seines eigenen Hauses veranlasst hatte, nahm die öffentliche Kritik an der Bundespost zu, und es entstand das Bild unfähiger und bequemer Postbeamter. Reibungsverluste für die Ministeriumsspitze ergaben sich dennoch, da die Belegschaft und ihre Sprachrohre weder bereit waren, den Consultants einen Expertenstatus zuzugestehen noch den eigenen beschneiden zu lassen. Indem Postgewerkschafter und Hauptpersonalräte die Gutachten von Unternehmensberatern als „fragwürdig“ und „praxisfremd“ abqualifizierten, versuchten sie ihrerseits, den Firmenvertretern ihre Kompetenz streitig zu machen und die eigene Deutungshoheit zu erhalten. 6 Letztlich begünstigte die Autoritätsverschiebung von verwaltungseigenen Sachverständigen hin zu äußeren Kontrollinstanzen aber die ministeriellen Sparpläne. Im Folgenden erläutere ich zunächst meinen Zugriff auf die Geschichte der Expertise als eine Geschichte von Selbst- und Fremdzuschreibungen. Danach zeichne ich nach, wie in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts das Bild des Unternehmensberaters als neutralem Außenstehenden in Wirtschaft und Verwaltung entstand. Im dritten Schritt analysiere ich den Vorlauf, die Durchführung und die Rezeption der Poststudie von Mummert + Partner 1983 bis 1985. Wichtige Knotenpunkte sind dabei Kompetenzstreitigkeiten, die posteigene Bemessungsfachleute sowie Gewerkschafter mit den Beratern suchten. Warum bröckelte der Expertenstatus der Beamten, und warum konnten sich Externe erfolgreich mit einem solchen schmücken?
6 Personalbemessung. Auf wackliger Grundlage, in: Deutsche Post, 20.6.1985, 12.
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I. Neue Anforderungen an externe Verwaltungsberater: Interessenvermittlung über Objektivität Studien der deutschen Zeitgeschichtsschreibung verstehen den Expertenbegriff als sozial und historisch geworden. Methodisch wird nicht von inhärent überlegenem Wissen ausgegangen, das Experten auf Organisationen „transferieren“. Stattdessen stellt sich die Frage, in welchen Akteurskonstellationen und Anwendungskontexten Expertenwissen entstand und welche Wechselwirkungen es in diesen entfaltete. 7 Das Beispiel des Behörden-Consultings ist symptomatisch für den erhöhten Legitimationsdruck, dem sich die Bundesregierung, die Landesregierungen und ihre Verwaltungsspitzen angesichts immer größerer Haushaltsdefizite etwa ab Mitte der 1970er Jahre ausgesetzt sahen. Mit der „großen Ernüchterung“ 8 hinsichtlich keynesianischer Wirtschaftsprognosen und staatlicher Steuerungsfähigkeit keimte gleichzeitig das Interesse von Bundes- und Landesministern auf, ihre Häuser von kommerziellen Beratungsfirmen auf Organisationsmängel prüfen zu lassen. Ähnlich wie in der Privatwirtschaft etwa eine Dekade früher zeichnete sich im Gemeinwesen eine aufkommende „Unsicherheit in Bezug auf die angemessene Form von Organisation und Führung“ ab. 9 Das verschärfte Gebot der Haushaltskonsolidierung stellte das Verhältnis der Sozialpartner auf die Probe und verlangte nach neuen Mechanismen der Vermittlung bei Interessenkonflikten. 10 Unternehmensberater versprachen dabei kein verlässlicheres Wissen als akademische Gremien, sondern „sozial robusteres“, wie es Peter Weingart und Kollegen formulieren. 11 Die externen Berater griffen die Sichtweisen unterschiedlicher Konfliktparteien auf und ließen in widersprüchlichen Gemengelagen auf praxisrelevante Lösungsvorschläge hoffen. Als ihr Produkt galt die Fähigkeit, Organisationen 7 Siehe Ruth Rosenberger, Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland. München 2008, 15 und die dort zitierte Literatur. 8 Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982. Berlin 2007. 9 Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution. Berlin 2019, 557. 10
Zum Aufstieg der „Konsolidierungskoalition“ in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit siehe Hans-
Peter Ullmann, Das Abgleiten in den Schuldenstaat. Öffentliche Finanzen in der Bundesrepublik von den sechziger bis zu den achtziger Jahren. Göttingen 2017, 275–300. 11
Peter Weingart/Martin Carrier/Wolfgang Krohn (Hrsg.), Nachrichten aus der Wissensgesellschaft. Ana-
lysen zur Veränderung der Wissenschaft. Weilerswist 2007, 299f.
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gleich welcher Art unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu analysieren und unter numerisch-quantitativen Aspekten aufzuschlüsseln. Gleichzeitig bedienten sie ein sich ausbreitendes „Fortschritts-, Modernisierungs- und Rationalisierungsparadigma“ 12, das ein neues, an ökonomischen Kennzahlen orientiertes Steuerungsvermögen versprach. Ihre Dienste bewarben sie als sachlich und interessenbefreit, indem sie sich auf einen bestimmten Wissenstypus zurückzogen: den sogenannten „gesunden Menschenverstand“. Oft synonym gebraucht mit dem Begriff der Effizienz, verbarg sich hinter dem Konzept des gesunden Menschenverstandes eine Ansammlung betriebswirtschaftlicher Prinzipien. Indem sie ihre Unkenntnis organisationseigener Spezifika plakativ zur Schau stellten, versahen Unternehmensberater intern gewachsenes Wissen implizit mit dem Makel der déformation professionnelle. In der Behördenberatung rührten sie damit an so manches Tabu um wohlgehütete Schätze der Verwaltung, wie das Berufsbeamtentum, und lieferten Begründungsnarrative für diejenigen Entscheidungsträger, die einen kosteneffizienten und leistungsorientierten Staat herbeisehnten. Die Gewerkschaften und Personalvertretungen der Deutschen Bundespost hatten Consultingfirmen wie McKinsey & Company bereits Mitte der 1970er Jahre als Rationalisierungsbeauftragte fürchten gelernt. 13 Entsprechend hatten sie sich bereits nach Strategien gegen angeordnete Betriebsprüfungen umgehört. 14 Die Beratungsprojekte der 1980er Jahre waren jedoch so umfassend angelegt, dass sie Pläne für eine Neuorganisation des öffentlichen Unternehmens nachhaltig zu befördern drohten. Besonders die Untersuchung der Firma Mummert + Partner zum Personalbemessungssystem wirkte in den Augen der Betroffenen wie ein Einfallstor für Stellenstreichungen und die gefürchtete Privatisierung. 15 Dies begründete sich im Hinblick auf die Kritik, die sich seit Mitte der 1970er Jahre an der geringen „Effizienz“ 12 Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 2006, 441. 13 Siehe zum Beispiel McKinsey & Company (Hrsg.), Möglichkeiten für eine Neuregelung der Busdienste von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Bundespost. Düsseldorf 1976. 14 Gefunden im Archiv der sozialen Demokratie, Bestand der Deutschen Postgewerkschaft: Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (Hrsg.), Arbeitsheft Rationalisierung für Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute. Achtung – McKinsey kommt! Düsseldorf 1981. 15 Bis dahin sollte der Weg aber noch lang sein. Vgl. Thomas Handschuhmacher, „Was soll und kann der Staat noch leisten?“ Eine politische Geschichte der Privatisierung in der Bundesrepublik 1949–1989. Göttingen 2018, 251–297.
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der öffentlichen Verwaltung verdichtet hatte. 16 Führende Verwaltungswissenschaftler und Organisationssoziologen, die selbst tragende Rollen in der Politikberatung bekleideten, kritisierten steigende Kosten insbesondere im öffentlichen Dienst und bemängelten eine gleichzeitig disproportionale „Produktivität“ der Behörden. 17 Ihre Schriften verfestigten das Bild des „Selbsterhaltungsstrebens“ von Behörden, das zu überhöhten Forderungen nach Personal und Sachmitteln und damit zu unverhältnismäßigen Staatsausgaben führe. 18 Das zwangsweise verstärkte Kostenbewusstsein in der öffentlichen Verwaltung richtete sich daher früh auf den Personalbestand in Behörden. In einer Studie zur „Personalbemessung in der Ministerialverwaltung“ für das Bundesministerium des Inneren beschrieben die Verwaltungswissenschaftler Siedentopf und Schmid Personalbemessung 1979 als Vorgehensweise, „die es erlaubt, die Zahl und Qualität der Arbeitskräfte zu ermitteln und festzulegen, die erforderlich sind, um räumlich und zeitlich bestimmte Aufgaben unter Beachtung betriebsspezifischer Eigenheiten zu erfüllen“. 19 Eine kriteriengestützte Berechnung des Personalbedarfs sollte eine „sachgerechte personalwirtschaftliche Planung“ ermöglichen und für einen „rationellen Personaleinsatz in allen Arbeitsbereichen der betrieblichen Organisation“ sorgen. 20 Siedentopf und Schmid stellten eine Auswahl an Bemessungsmethoden vor, die in privatwirtschaftlichen Unternehmen angewandt wurden, darunter statistische Erhebungen, Schätzverfahren und tayloristische Zeitstudien. 21 Diese Einblicke waren für die Bemessungsfachleute der Deutschen Bundespost nicht neu. Im Unterschied zu den meisten anderen staatlichen Organisationen stellte das öffentliche Unternehmen den Personalbedarf der Ämter schon seit Anbruch des 20.Jahrhunderts systematisch fest. 22 Die Tatsache, dass der Postminister das Bemessungssystem 1983 trotz dieses Wissensschatzes extern überprüfen ließ, zeugte
16
Renate Mayntz, Soziologie der öffentlichen Verwaltung. 2.Aufl. Heidelberg 1982, 126.
17
Volker Hauff/Fritz W. Scharpf, Modernisierung der Volkswirtschaft. Technologiepolitik als Struktur-
politik. Frankfurt am Main 1975, 102. 18
Mayntz, Soziologie (wie Anm.16), 129; Thomas Ellwein/Joachim Jens Hesse, Das Regierungssystem der
Bundesrepublik Deutschland. 6.Aufl. Opladen 1987, 342. 19
Heinrich Siedentopf/Karl-Rolf Schmid, Personalbemessung in der Ministerialverwaltung. Eine Vorstu-
die. (Speyerer Forschungsbericht, Bd. 6.) Speyer 1979, 2. 20
Ebd.
21
Ebd.4–6.
22
Kurt Gscheidle, Die Personalbemessung bei der Deutschen Bundespost, in: ders. (Hrsg.), Jahrbuch der
Deutschen Bundespost 1982. Bad Windsheim 1982, 12.
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von einer sich weitenden Kluft zwischen Behördenspitze und Belegschaft. Aufgrund hoher Personalkosten musste „[j]eder Postminister, der schwarze Zahlen schreiben wollte, […] Kostenbewusstsein im Personalbereich herstellen und durfte den Konflikt mit den mächtigen Personalräten und der Postgewerkschaft nicht scheuen“. 23 Als Chef der größten Bundesbehörde mit mehr als 500000 Mitarbeitern hatte SchwarzSchilling in der Tat zahlreiche interne Widerstände zu überwinden, wollte er auf den Stellenhaushalt einwirken. Dazu gehörten auch die für die Personalbemessung zuständigen Beamten und Angestellten. Die „viel beklagte ‚Macht des ministeriellen Apparates‘“ hatte schon sein Vorgänger Kurt Gscheidle unterstrichen. 24 Die fachliche Aufbereitung eines Themas durch die Referate bedingte die ministerielle Entscheidungsfindung bedeutend mit. Der politische Verantwortungsträger habe „meist nicht mehr die geringste Chance, sich eine eigene Meinung zu bilden und zu einem von der Entscheidungsempfehlung abweichenden Ergebnis zu kommen“. 25 Schwarz-Schillings Beraterprojekte der 1980er Jahre waren ein Versuch, größere Souveränität über die Beamtenschaft zu erringen, einen künftig geringeren Stellenbedarf zu errechnen und so die Finanznot des Postwesens in den Griff zu bekommen.
II. Unternehmensberater – Experten wofür? Unternehmensberater galten seit den Anfängen ihrer Branche im Deutschland der 1920er Jahre ausdrücklich nicht als Fachexperten. In Selbst- und Fremddarstellungen erschienen sie als Transferdenker, die in der Lage seien, Schwachstellen von Organisationen in vergleichender Perspektive zu erkennen und zu bewerten. Das Bild des „unabhängigen Beraters“, dessen „Hilfe“ an Stellen gefragt sei, an denen „die Gefahr der Betriebsblindheit“ bestehe 26, zeichnete zum Beispiel das Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW). Eine deutsche Delegation hatte 1953 in den USA mehrere Betriebsberatungsfirmen besucht und berichtete beein-
23 Werner Abelshauser, Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer. Bonn 2009, 536. 24 Kurt Gscheidle, Damit wir in Verbindung bleiben. Portrait der Deutschen Bundespost. Stuttgart-Degerloch 1982, 119. 25 Ebd. 26 Staatsarchiv Hamburg, 131–13/433, Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung, Ausschnitt aus den Mitteilungen der KGSt vom 25.Mai 1966, Nr.10.
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druckt, dass Deutschland am „Beispiel der amerikanischen Wirtschaft“ noch viel lernen könne. 27 Durch die Vielzahl seiner Aufträge und Vergleichsmöglichkeiten könne der Berater „wie ein Arzt an bestimmten, immer wiederkehrenden Symptomen vorhandene Fehlerquellen viel leichter und schneller diagnostizieren […] als selbst der tüchtigste Manager“. 28 In ihrer Absicht, das Beratungswesen in Deutschland zu stärken, hoben die Reisenden die Vorzüge einer Außen- gegenüber der betrieblichen Innenperspektive hervor. So „dürfte fast selbstverständlich sein, daß eine eingespielte Gruppe […], die Erfahrungen in mehreren Betrieben zu sammeln hatte, und die unbelastet von der laufenden Betriebsarbeit sich die Zeit nehmen kann, den auftauchenden Problemen nachzugehen, besser als die Betriebsangehörigen selbst erkennen wird, welche Änderungen des bestehenden Zustandes dem Betrieb Vorteile zu bringen versprechen“. 29 Anders als in den USA oder Großbritannien waren traditionell geführte Familienunternehmen in der Bundesrepublik jedoch nicht leicht von ihrem „Beratungsbedarf“ zu überzeugen. Wie der Einzelberater Walter Schleip 1958 beklagte, werteten Unternehmer das Engagement externer Consultants als Zeichen dafür, „daß sie nicht allein fertig würden“. 30 Kommerzielle Angebote hatten auch deswegen weniger Zulauf, da korporatistisch organisierte Beratungsstellen der Industrie- und Handelskammern, Wirtschaftsverbände und dem RKW für kleine und mittlere Unternehmen unentgeltlich oder gegen geringe Mitgliederbeiträge Betriebsbegehungen durchführten. 31 Der Bezeichnung des Unternehmensberaters fehlte zudem ein klar umrissenes Berufsbild. Deutsche Betriebsberater der Nachkriegszeit wie Gerhard Kienbaum stammten üblicherweise aus dem Ingenieurswesen und machten sich erst von Auftrag zu Auftrag mit der Materie der Unternehmensführung vertraut. 32
27
Herbert Strencioch/Bernhard Heitz/Egon Schlobig, Der Wirtschaftsberatungsdienst in den USA. Bericht
einer deutschen Studienreise Westberliner Unternehmensberater nach den Vereinigten Staaten von Amerika im Herbst 1953. (RKW-Auslandsdienst.) München 1957, o. A. 28
Ebd.24.
29
Ebd.o. A.
30
Walter Schleip, „…ich habe diese Brüder schon einmal dagehabt…“ Management Consultants. Ruf und
Beratungsgepflogenheit in der Bundesrepublik und im Ausland, in: Junge Wirtschaft 6, 1958, 278. 31
Michael Faust, Consultancies as Actors in Knowledge Arenas. Evidence from Germany, in: Matthias
Kipping/Lars Engwall (Eds.), Management Consulting. Emergence and Dynamics of a Knowledge Industry. Oxford 2002, 146–163. 32
Zur Biografie eines der ersten Branchenvertreter der Bundesrepublik siehe Gerhard Kienbaum, Am An-
fang war der Rat. Berlin 1995.
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Ein ehemaliger Vertreter der Schweizer Knight Wegenstein AG sagte über die Branchenverhältnisse der 1960er und 1970er Jahre, dass „[selbst] ein gelernter Kraftwerksingenieur wie ich […] mit etwas betriebswirtschaftlichem Zusatzwissen als Consultant reüssieren [konnte]“. 33 Mit der Festigung einer kommerziellen Consultingbranche ab Mitte der 1950er Jahre 34 begann die staatliche Verwaltung die Dienste nicht nur im Sinne der Wirtschaftsförderung zu stützen, sondern den Gebrauch auch zu eigenen Zwecken zu erwägen 35. 1964 fiel die Bilanz zur „unabhängigen Wirtschaftsberatung in Deutschland“ in einer Dissertation noch vorsichtig aus. Öffentliche Unternehmen nähmen Beratungsdienste zwar in Anspruch, jedoch deutlich seltener als private. 36 Mehrere verwaltungseigene Einrichtungen ermutigten Behörden jedoch bereits dazu, Unternehmensberater zu engagieren. Die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung, die beratend für Gemeinden tätig war, zitierte 1966 aus dem „Merkblatt für die Zusammenarbeit mit Unternehmensberatern“ des Deutschen Industrie- und Handelskammertags: „Niemand kann alles wissen. Gerade der kluge und fortschrittlich denkende Unternehmer lässt sich daher beraten.“ 37 Zum Verhältnis zwischen verwaltungseigenen Organisationsexperten und Consultants vermerkte der Leiter des Hamburger Organisationsamtes 1977, dass „zwischen internen und externen Beratern keine Konkurrenz besteht, sondern ein Verhältnis der Ergänzung“. 38 Bisherige Kontakte der öffentlichen Verwaltung zu Beratungsfirmen provozierten weitere Nachfrage, „weil die ‚eigenen Berater‘“, also die Beamten, „überhaupt erst herausfinden, worüber zu beraten ist“. 39 Die Forecasting-Unternehmen Prognos AG und METRA DIVO beauftragte das Organisationsamt 1973 nach
33 Bernhard Schwoerer, 50 Jahre Unternehmensberatung 1954–2004, in: TC Team Consult (Hrsg.), Management, Policing and Governance. Festschrift für Bernhard Prestel. Holzkirchen 2004, 19. 34 Unter anderem indiziert durch die Gründung des ersten deutschen Berufsverbandes, des Bundes Deutscher Unternehmensberater, siehe Heike Borchert-Dietz, BDU-Meilensteine. 50 Jahre Engagement für die Beraterbranche. Bonn 2004. 35 Vgl. Saint-Martins theoretische Annahme, die Praxis des Behörden-Consulting setze eine etablierte Beratungsbranche voraus; Saint-Martin, Managerialist State (wie Anm.5), 27. 36 Jost Hammerschmidt, Die unabhängige Wirtschaftsberatung in Deutschland. Stand und Ausbaumöglichkeiten unter Berücksichtigung ausländischer Erfahrungen. Nürnberg 1964, 74. 37 Staatsarchiv Hamburg, 131–13/433, Mitteilungen der KGSt (wie Anm.26). 38 Staatsarchiv Hamburg, 131–1 II, Nr.434, Notiz Ulrich Becker, Organisationsamt, 15.4.1977, 1. 39 Ebd.
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eigener Aussage zum „Erwerb des methodischen Rüstzeugs, um selbständig derartige Prognosen […] vorzunehmen“. 40 Während einzelne Referate bis Mitte der 1970er Jahre Consulting-Untersuchungen nach eigenem Ermessen und zum eigenem Erkenntnisgewinn in Auftrag gaben, wandelten sich die Kräfteverhältnisse im Zuge der vielfach diagnostizierten Strukturbrüche der 1970er Jahre. 41 Als Auftraggeber fungierten mit Bundes- und Landesministern oder deren Staatssekretären nun vermehrt die Behördenspitzen. Während die unteren Verwaltungsebenen ihrem Zwecke nach politische Problemlösungsprozesse beratend vorbereiteten, wurden sie nun selbst zum politischen Problem und zum Beratungsgegenstand. Unternehmensberater ersetzten dabei keine Beamten, sondern lieferten Bewertungsstandards, um die Arbeit der nachgeordneten Verwaltung kritisch beurteilen zu können. Für die Consultants stellte die zunehmende öffentliche Nachfrage zunächst nur eine weitere Verdienstmöglichkeit unter vielen dar. Kleinere Unternehmen witterten die Chance, sich mit dem neuen Marktsegment eine Nische zu sichern. Äußerungen der von Schwarz-Schilling beauftragten Firmen Knight Wendling und Mummert + Partner können exemplarisch dafür herangezogen werden. Im Geschäftsbericht 1975 stellten die Schweizer Berater von Knight Wegenstein (später Knight Wendling) einerseits in Frage, dass „man die vielfältigen Probleme“ der öffentlichen Hand „einfach damit lösen [könne], dass auch der Staat die sogenannten ‚bewährten Managementmethoden‘ der Wirtschaft einführt“. 42 Dennoch empfahlen sie Behörden eine betriebswirtschaftliche Gesundungskur. Von vornherein vereinbarte und messbare Ziele sowie ein individuelles Verantwortungsgefühl der Beamten für das Ergebnis der eigenen Handlungen sollten die Lasten der Bürokratie überwinden helfen. Der Geschäftsbericht von 1976 listete „weit verbreitete Symptome“ einer ineffizienten „Verwaltungswirtschaft“ auf. 43 Zum „[unterentwickelten]
40
Staatsarchiv Hamburg, 131–21, Nr.2216, Vermerk Organisationsamt zu Telefongesprächen mit v.
Plotho (Prognos) und Dr. Stöckmann (METRA DIVO) am 18.6.73, 20.6.1973, 1. 41
Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit
1970. Göttingen 2008; Morten Reitmayer/Ruth Rosenberger (Hrsg.), Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Essen 2008. 42
Knight Wegenstein Management Beratung und technische Beratung (Hrsg.), Geschäftsbericht 1975. Zürich
1975, 14. 43
Knight Wegenstein Management Beratung und technische Beratung (Hrsg.), Geschäftsbericht 1976. Zürich
1976, 16.
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Kostenbewusstsein“ der Mitarbeiter, den unklaren Verantwortungsstrukturen, unpräzisen Zielvorgaben und ungenügenden Ergebniskontrollen gesellte sich die „laienhafte Durchführung von Reorganisationsprojekten“. 44 „Wie man Reformen entscheidungsreif ausarbeitet, sie grundsätzlich durchsetzt und im Detail realisiert“, bedürfe eines „speziellen Know-[hows]“ – das sich die Verfasser augenscheinlich selbst zuschrieben. 45 Wie seine Wettbewerber nutzte das Unternehmen also das Instrument der öffentlichen Meinungspflege, um ungefragt Problemlagen von Unternehmen und Behörden zu diagnostizieren und deren Abhilfe in Aussicht zu stellen. Die Anfrage Schwarz-Schillings von 1983 beurteilte der Bereichsleiter von Mummert + Partner, Eckard Wohlgehagen, in einem Zeitzeugengespräch als „ein Highlight“ seiner Beraterkarriere. 46 Als erster Auftrag einer Bundesbehörde hatten die Postprojekte Signalwirkung: „Das war sicherlich einer der Wendepunkte, dass die Bundespost so nachhaltig auf die Berater zuging.“ 47 Seine Deutung, die Postler „wollten jetzt von der Wirtschaft lernen, jetzt zeigt ihr uns das mal“, blendete mögliche andere taktische Motivationen Schwarz-Schillings aus. 48 Durch zahlreiche Folgeaufträge, die ihn und seine Teams ganze acht Jahre beschäftigt hielten, betrachtete er sich schließlich selbst als „Leib- und Magenberater“ des Ministers – auch dies möglicherweise eine Überschätzung der Situation. 49 Dennoch stellten Schwarz-Schillings Berateraufträge als erste groß angelegte Consultingprojekte für eine Bundesbehörde die Weichen für die dauerhafte Etablierung des Behörden-Consultings.
III. Personalbemessung bei der Deutschen Bundespost: Zwischen Wirtschaftlichkeit und Dienstgüte Mitte der 1970er Jahre stand die Deutsche Bundespost, wie die sozialliberale Regierung Helmut Schmidts, vor finanzpolitischen Herausforderungen. Auf eine Phase wirtschaftlicher Hochkonjunktur folgte ab 1973 der Abschwung, was sich durch einen Rückgang der Nachfrage insbesondere im Fernmeldewesen ausdrück44 Ebd. 45 Ebd. 46 Eckard Wohlgehagen, interviewt von A. M., 25.7.2017. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Olaf Mummert, Mummert + Partner 1960–2000. Eine Firmengeschichte. Berlin 2002, 60.
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te. 50 Der Zuwachs an Fernsprechanschlüssen war mit drei bis vier Prozent deutlich hinter den Werten der Vorjahre zurückgeblieben und bescherte den handwerklichen Berufen im Fernmeldewesen weniger Arbeit als erwartet. 51 Hatte die Bundespost bis dato mit Personalmangel gekämpft, verzeichnete sie nun Personalüberhänge, was den Behördenhaushalt belastete. Die in Zeiten hoher Nachfrage gewonnenen Arbeitskräfte waren entweder unkündbare Beamte oder Auszubildende, die aufgrund der bisherigen Personalpolitik der Bundespost fest mit einer Übernahme rechnen konnten. 52 Insbesondere das Rationalisierungsschutzabkommen mit den Gewerkschaften von 1972 garantierte jedem Mitarbeiter einen sicheren Arbeitsplatz. 53 Personaleinsparungen konnten daher nur durch weniger Neueinstellungen erzielt werden. Arbeitswissenschaftliche Berechnungsmethoden sollten diese Bemühungen unterstützen. Laut Personalchef Bernrath würden ab Mitte der 1970er Jahre zunächst „der Aufbau des neuen Personalbemessungssystems und die Anwendung neuer Bemessungswerte zügig vorangetrieben“. 54 Eine zentrale Rolle spielte dabei die „Dienstanweisung für die Personalbemessung bei den Ämtern“ (DA Bem Ä). 55 Das Regelwerk hatte das Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen 1971 eingeführt, um zu bestimmen, wie viel Personal an den Schaltern der Post- und Fernmeldeämter gebraucht wurde. Zuvor hatten die Oberpostdirektionen auf der mittleren Verwaltungsebene den Personalbedarf geschätzt. 56 Auf einheitlicher Grundlage der DA Bem Ä sollten nun alle Postund Fernmeldeämter feststellen können, wie viele Arbeitskräfte sie für bestimmte Aufgaben benötigten. Die DA Bem Ä enthielt definierte Bezugseinheiten, die den Umfang bestimmter Tätigkeiten bemaßen, zum Beispiel die „Zahl der zu bearbeitenden Briefsendungen, Zugang an Fernsprechhauptanschlüssen, Länge und Stärke der
50
Hans G. Bernrath/Hubert Lange, Personalpolitik ohne Illusionen, in: Kurt Gscheidle (Hrsg.), Jahrbuch
des Postwesens 1975. Bad Windsheim 1976, 25. 51
Ebd.23.
52
Ebd.27f.
53
Gscheidle, Verbindung (wie Anm.24), 108f.
54
Bernrath/Lange, Personalpolitik (wie Anm.50), 36.
55
Arnold Dohmen, Die Dienstanweisung für die Personalbemessung bei den Ämtern der Deutschen Bun-
despost (DA Bem Ä), in: Kurt Gscheidle (Hrsg.), Jahrbuch des Postwesens 1972. Bad Windsheim 1972, 174– 268. 56
In Vorbereitung auf die Kriegswirtschaft hatte die wenig aufwendige Beobachtungsmethode 1937 das
stringentere Leistungszählverfahren nach Taylor ersetzt; Kurt Gscheidle, Die Personalbemessung bei der Deutschen Bundespost, in: ders. (Hrsg.), Jahrbuch der Deutschen Bundespost 1982. Bad Windsheim 1982, 12.
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auszulegenden Kabel“. 57 Jeder Bezugseinheit war mit der durchschnittlich benötigten Zeit je Arbeitsgang ein sogenannter Bemessungswert zugeordnet. Bezugseinheiten und Bemessungswerte sollten in repräsentativen Beispielämtern erhoben und den Ämtern als Anhang zur DA Bem Ä zur Verfügung gestellt werden. 1982, elf Jahre nach seiner Einführung, lobte der scheidende Postminister Kurt Gscheidle das Regelwerk als bundesweit einzig in seiner Art.Nur der Verband für Arbeitsstudien REFA könne sich auf ähnlich differenzierte Personalbemessungsmethoden stützen,
allerdings im industriellen Fertigungsbereich. 58 Diese Aussage tätigte Gscheidle in einem Klima, in dem das Bemessungsverfahren seines Hauses unter heftigem Beschuss stand. Der Bundesrechnungshof hatte zunächst begrüßt, dass der Personalbedarf mithilfe der DA Bem Ä „überschaubar, systematisch und möglichst objektiv“ festgestellt werden könne. 59 Dass die Bemessungsweise der Ämter haushaltswirtschaftlichen Grundsätzen jedoch nicht genügte, hatte das Verwaltungskontrollorgan bereits ab 1976 in seinen jährlich erscheinenden Bemerkungen gegenüber der Bundesregierung deutlich gemacht. Zentrale Bemessungswerte seien erst spät oder gar nicht erstellt worden, sodass viele Postund Fernmeldeämter fünf Jahre nach Einführung der DA Bem Ä trotz der veränderten konjunkturellen Lage noch über keine neuen Werte verfügten. 60 Die einheitliche Berechnung würde nicht nur verzögert, sondern auch fehlerhaft durchgeführt. Bezugseinheiten seien „nicht zutreffend oder zu ungenau ermittelt“ 61, und tausende streng genommen nicht benötigte Stellen würden auf die Berechnung aufgeschlagen, um komfortable Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. 62 Das Personalbemessungssystem in seiner damaligen Form beanstandete der Rechnungshof als „ungerecht und unwirtschaftlich“ 63 und hielt fest:
57 Ebd.14–16. 58 Ebd.13. 59 Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof. Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Bundeshaushaltsrechnung (einschließlich der Bundesvermögensrechnung) zum Haushaltsjahr 1976, BTDrucksache 8/2124. Bonn 1978, 75. 60 Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof zum Haushaltsjahr 1974, BT-Drucksache 7/5849. Bonn 1976, 100. 61 Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof zum Haushaltsjahr 1979, BT-Drucksache 9/978. Bonn 1981, 148. 62 Ebd. 63 Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof zum Haushaltsjahr 1977, BT-Drucksache 8/3238. Bonn 1979, 64.
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„Das mit der Personalberechnung vornehmlich verfolgte Ziel, nämlich den Personalbedarf möglichst frei von Ermessen nach betrieblichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten aufgrund anerkannter arbeitswissenschaftlicher Methoden zu ermitteln, ist nicht erreicht.“ 64
Trotz dieser Kritik stieg der Personalbestand im Post- und Fernmeldewesen von 1970 bis 1974 um 30000 Stellen pro Jahr an und reduzierte sich auch in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nicht. 65 Wie konnten die Mahnungen des Rechnungshofs bis zum Ende der Regierung Schmidt ungehört verhallen? Zum einen ist zu vermuten, dass das ehemalige Gewerkschaftsvorstandsmitglied Gscheidle den Großteil seiner Amtszeit eher den Forderungen der Belegschaft entgegenkam, als die finanzpolitischen Richtwerte zu priorisieren. 66 Zum anderen oblag die Auslegung der DA Bem Ä dem guten Willen der mittleren und unteren Verwaltungsebenen. Der Postminister geriet somit sowohl von „oben“ unter Druck als auch – unter anderen Vorzeichen – von „unten“. Die zahlreichen Gewerkschaften und Personalvertretungen im Post- und Fernmeldebereich stellten zähe Verhandlungspartner dar. Seit den frühen 1970er Jahren hatten sie so manches Privileg hinsichtlich der Bezahlung, der Sozialleistungen sowie der Arbeitsbedingungen erkämpft. Nun widersetzten sie sich nicht nur einer Einschränkung des Personalbestands, sondern auch der bloßen Neuberechnung des Personalbedarfs. 67 Dies setzte die Behördenspitze unter Druck, denn das Begehren von „Gewerkschaften und Personalvertretungen deckt sich im allgemeinen nicht mit den unternehmerischen Zielsetzungen zur Anpassung an die Abschwungphase“, wie Personalchef Bernrath bedauerte. 68 Erwartungen, die noch in der Zeit der Hochkonjunktur genährt worden waren, „machen es besonders schwer, dem Personal die Notwendigkeit unternehmerischen Handelns in einer veränderten wirtschaftlichen Lage
64
Unterrichtung 1979 (wie Anm.61), 147.
65
Unterrichtung 1974 (wie Anm.60), 98; Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof zum Haus-
haltsjahr 1980, BT-Drucksache 9/2108. Bonn 1982, 145; Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof. Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1985 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung, BT-Drucksache 10/ 4367. Bonn 1985. 66
Zu Gscheidles Laufbahn als Fernmeldetechniker, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Post-
gewerkschaft und SPD-Politiker siehe Herbert Uhl, Kurt Gscheidle, in: Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hrsg.), Kanzler und Minister 1949–1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen. Wiesbaden 2001, 280–284.
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67
Bernrath/Lange, Personalpolitik (wie Anm.50), 29.
68
Ebd.31.
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klarzumachen“. 69 Als Christian Schwarz-Schilling 1982 das Ressort des Post- und Fernmeldewesens übernahm, galt es also, die Arbeitnehmer auf veränderte haushaltspolitische Maßstäbe einzustimmen. 1. „Objektiv und realistisch“, „neutral und unvoreingenommen“: Kompetenzstreitigkeiten im Vorfeld der Studie Während Gscheidle gegenüber dem Bundesrechnungshof stets mit den Verpflichtungen der Deutschen Bundespost als sozialem Arbeitgeber argumentiert hatte 70, betonte der Unternehmer und ehemalige Mediensprecher der Christdemokraten Schwarz-Schilling ab 1983 den Unternehmenscharakter der Behörde. Bei einem Haushaltsvolumen von 66 Milliarden Mark müssten die Entwicklung der Dienste ständig beobachtet und „rechtzeitig entsprechende Maßnahmen [eingeleitet werden], um das Unternehmen ‚auf Kurs zu halten‘“. 71 Bereits als medienpolitischer Sprecher der Christdemokraten hatte sich Schwarz-Schilling für technologische Innovationen im Medien- und Kommunikationsbereich eingesetzt, zuletzt als Teil der Enquête-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken“. 72 Als neuer Ressortleiter wollte er diese Agenda fortsetzen. Da die Überschüsse im Fernmeldewesen jedoch statt in technologische Modernisierung in die defizitäre „gelbe Post“ mit Brief- und Paketwesen flossen, drang er auf Sparmaßnahmen im Postwesen. Mit diesem Vorhaben hatte Schwarz-Schilling keinen leichten Stand. Nicht nur die Deutsche Postgewerkschaft und zahlreiche weitere Interessenverbände im Postund Fernmeldewesen stellten sich Rationalisierungsbemühungen entgegen. Auch in den Medien waren Einschränkungen der Postdienste oder gar Gebührenerhöhungen verpönt. In einem Vortrag an der Universität Kiel im Dezember 1983 machte der Minister auf die Diskrepanz zwischen öffentlichem Anspruch und Unternehmenskapazitäten aufmerksam: „Wenn wir einmal eine Poststelle aufheben wollen, in der in der Woche gerade fünf Stunden Arbeit anfallen, wir aber diejenigen Leute, die dort tätig sind, für zwölf Stunden bezahlen müssen […], dann ist es wie bei der Bundesbahn:
69 Ebd.30f. 70 Gscheidle, Personalbemessung (wie Anm.22). 71 Bundesarchiv (künftig: BArch), B 257/61126, Sprechzettel für Verwaltungsratssitzung am 16.3.84, 1. 72 Siehe Zwischenbericht der Enquête-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken“. BT-Drucksache 9/2442.
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Große Proteste werden veranstaltet, meistens von Leuten, die dieses Amt noch nie gesehen, nie besucht haben.“ 73
Wirtschaftliches Handeln sei jedoch geboten, um wegweisende Investitionen im Fernmeldewesen zu tätigen. Helmut Kohl bot Schwarz-Schilling in diesen Fragen wenig Rückendeckung. In seiner „Wendeansprache“ von 1982 hatte der Kanzler zwar erklärt, er wolle „den Weg freigeben für die Anwendung moderner Techniken und die Entwicklung neuer Technologien, vor allem im Kommunikationswesen“. 74 Eine „besondere Verantwortung“ komme hierbei der Deutschen Bundespost zu „mit dem geplanten Ausbau der Kabelnetze, der Einführung neuer Dienste sowie der Einbeziehung der Satellitentechnik in ein modernes Kommunikationsnetz“. 75 Außer weiteren Absichtserklärungen ging vom Kanzler in den folgenden Jahren jedoch keine Initiative für eine veränderte Technologie- oder Finanzpolitik im Post- und Fernmeldewesen aus. Schwarz-Schilling mobilisierte daher interne und externe Schützenhilfe. Ein Jahr nach Amtsantritt ließ er die Leiter der sieben Abteilungen seines Ministeriums auf einer Klausurtagung zusammenstellen, welche Projekte in ihrem Fachbereich von Unternehmensberatungsfirmen bearbeitet werden könnten. Mögliche Untersuchungen sollten dazu beitragen, die „Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit“ der Post zu sichern und im Fernmeldewesen mit sich wandelnder Kommunikationstechnologie Schritt zu halten. 76 Die Initiative des neuen Postministers, ausgerechnet kommerzielle Unternehmensberatungsfirmen zu konsultieren, begründete dieser damit, dass diese „neutral“ und „unvoreingenommen“ seien. 77 Auch bei späteren Folgeaufträgen hieß es, das Engagement einer externen Unternehmensberatungsfirma sei für eine „objektive Analyse […] und realistische Ergebnisse […] notwendig“. 78 In besagter Klausurtagung wurden mehrere Geschäftsbereiche der Bundespost als verbesserungswürdig und für externe Beratungsaufträge geeignet identifiziert.
73
Christian Schwarz-Schilling, Die Rolle der Deutschen Bundespost im Rahmen der Wirtschaftspolitik
der Bundesregierung. Kieler Vorträge gehalten im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Tübingen 1984, 7. 74
Deutscher Bundestag (Hrsg.), Stenographischer Bericht, 9. WP, 121. Sitzung 1982, 7217.
75
Ebd.
76
BArch, B 257/61126, Brief vom Bundespostminister an den Vorsitzenden des Verwaltungsrates der
Deutschen Bundespost, 13.4.1984, 2.
182
77
BArch, B 257/61126, Protokoll Verwaltungsratssitzung.
78
BArch, B 257/61129, Vermerk zu Anschlußauftrag an Mummert + Partner, 17.7.86.
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Die Bemessungsexperten der Abteilung 3, die für die Personalwirtschaft zuständig war, hatte keine Projektvorschläge eingereicht. Mehrere andere Abteilungen hatten jedoch das Personalbemessungssystem auf die Liste der zu untersuchenden Bereiche gesetzt. Bereits in der Vorentscheidung für oder gegen ein mögliches Projekt kam es zu Kompetenzstreitigkeiten. So sprachen sich die Mitarbeiter von Abteilung 3 gegen eine Untersuchung des Personalbemessungssystems durch externe Unternehmensberater aus, da von einer solchen „u. E. keine praktikablen und betriebsgerechten Verbesserungsvorschläge“ zu erwarten seien. 79 Das Personalbemessungssystem nach der DA Bem Ä sei „fortlaufend Gegenstand kritischer Vergleiche und von Untersuchungen durch interne wie auch externe Instanzen“. 80 Eigene Erkenntnisse der Abteilung 3, Anregungen anderer Abteilungen sowie die Prüfungsergebnisse von „Revision, Vorprüfungsstellen, BRH, Rechnungsprüfungs- und Haushaltsausschuß des Bundestags“ vermöchten „wegen größerer Sachkunde und Betriebsnähe mit Sicherheit weitaus mehr zu Verbesserungen beizutragen als Hinweise postfremder Unternehmensberater“. 81 Abteilung 7, deren Vertreter unter anderem mit Erfolgskontrolle und Revision innerhalb der Behörde befasst waren, setzte dem entgegen, für eine Untersuchung seien keine Anwendungskenntnisse bezüglich des gegenwärtigen Bemessungssystems nötig. Vielmehr sei es an der Zeit, „daß aus objektiver Sicht das gesamte Instrumentarium der Personalbemessung einer kritischen Betrachtung unterzogen wird“. 82 Dazu gehöre neben der „dem System gegenüber notwendige[n] Objektivität des Untersuchers“ auch die „tatsächliche Möglichkeit und Fähigkeit, Vergleiche zwischen Dienstleistungen bei der DBP und solchen der freien Wirtschaft anzustellen“. 83 Zahlreiche Probleme des gegenwärtigen Systems machten es „notwendig und unabdingbar“, eine Untersuchung durch eine „unvoreingenommene, mit der nötigen Fachkenntnis ausgestattete Unternehmensberatungsfirma anstellen zu lassen“. 84 Die Zuschreibungen, die hier getätigt wurden, enthielten eine deutliche Kontrastierung zwischen organisationseigenen und organisationsfremden Kompetenzen. Die Fähigkeiten und Eigenschaften, die dem Beamten abgingen, schien der Unter79 BArch, B 257/61126, Brief von Abteilung 3 an Abteilung 7, 26.5.83, 2. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 BArch, B 257/61126, Brief von Abteilung 1 an Abteilung 7, 8.6.83, 1. 83 Ebd.2. 84 Ebd.
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nehmensberater in sich zu vereinen: Wirtschaftskompetenz und, wichtiger noch, Unparteilichkeit. Dem Versuch der Beamten aus Abteilung 3, auf der eigenen Sachkenntnis zu beharren, fehlte es an Durchschlagskraft, da er vornehmlich defensiv erschien. Somit wurde das Bemessungssystem auch gegen die Einwände der Personalbewirtschafter in den Katalog mit Untersuchungsvorschlägen aufgenommen. Nachdem die Abteilungsleiter aus ihrer Erfahrung heraus mögliche Problemstellungen benannt hatten, sollten diese nun mit der Sicht externer Akteure abgeglichen werden. Dazu ließ der Postminister ein separates Auftragsschreiben an sieben Consultingunternehmen versenden. Darunter befanden sich mit der Boston Consulting Group, P. A. Management Consultants, Arthur D. Little und McKinsey & Company die vier großen und namhaften Unternehmen amerikanischen Ursprungs. Aber auch drei bekannte Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum waren vertreten: Knight Wegenstein, Prognos und Mummert + Partner. 85 Diese sollten auf Basis eigener Recherchen Schwachstellen im Betriebsablauf feststellen und Projektvorschläge vorlegen. Das Auftragsschreiben, das sie in Schwarz-Schillings Namen erhielten, problematisierte den „Gegensatz zwischen öffentlichem Auftrag und betriebswirtschaftlicher Führung“, den der Minister öffentlich zum Thema gemacht hatte. 86 Die Behörde habe „zwar ein betriebswirtschaftliches Instrumentarium mit einem modernen Rechnungswesen, Personalbemessungssystem, mit Statistik, Prognosen, Unternehmensplanung […] entwickelt“. 87 Jedoch seien Gewinne und Verluste zwischen dem Post- und dem Fernmeldewesen gegenwärtig stark ungleich verteilt. Als möglicher Auftraggeber formulierte Schwarz-Schilling, welchen Ausweg er anvisierte: „Es werden also bessere Strategien benötigt, mit denen der ständig anwachsende interne Subventionsbedarf der Postdienste und damit die ökonomischen Behinderungen einer schnellen Ausbreitung der neuen Kommunikationstechniken und -dienste abgebaut werden können. Demgemäß müssen klare und durchsetzbare Zielvorstellungen für die Unternehmenspolitik der DBP entwickelt werden, die von den Anforderungen und Bedingungen des
Marktes ausgehen.“
85
BArch, B 257/61126, Vermerk Stab 301, Betreff: Unternehmenskonzept für die DBP, 12.8.1983, 2.
86
BArch, B 257/61126, Brief des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen. Betreff: Vorstudie
„Unternehmenskonzept für die DBP“ Angebotsanforderung, 1. 87
184
Ebd.
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Auf diesen Problemaufriss folgte eine lange Liste an Fragen, gruppiert um die Schlagworte Führung, Markt, Rationalisierung, Innovation und Organisation: „– Sind die vorhandenen verschiedenen Führungsinstrumente (z.B. die mittel- und langfristige Unternehmensplanung) bei der angeführten Doppelstellung der Post ausreichend, um flexibel am Markt operieren zu können? – Welche Instrumentarien müssen ggf. geschaffen werden, um sicherzustellen, daß die DBP neue Möglichkeiten am Markt schnell erkennt und ggf. umsetzen kann? – Ist sichergestellt, daß notwendige Innovationsanstöße rechtzeitig erfolgen? – Werden Rationalisierungsreserven erkannt und ausgeschöpft? – Wie kann die Dienstleistungs- und Gebührenpolitik so gesteuert werden, daß dem Prinzip der Kostendeckung der einzelnen Dienstzweige besser als im gegenwärtigen Zeitpunkt Rechnung getragen werden kann? – Bietet die vorhandene Organisation der DBP die geeignetste Voraussetzung dafür, das Unternehmen eigenwirtschaftlich zu führen und Bürger, Wirtschaft und Staat angemessen mit den notwendigen Kommunikationsleistungen zu günstigen Bedingungen zu versorgen? – Welche Vorteile wären von einem ausgeprägteren Produktmanagement zu erwarten? – Sind von einer weitgehenden Delegation von Entscheidungsbefugnissen Verbesserungen im internen Dienstbetrieb und positive Auswirkungen auf die Kunden der DBP zu erwarten?“ 88
Obwohl die Fragestellungen breit und teilweise unverbunden erschienen, hatten sie eines gemeinsam: Sie referierten Schwarz-Schillings Rahmung der Probleme und suggerierten, dass die Bundespost weit kostengünstiger und ertragreicher geführt werden könne. Das Schreiben schloss mit dem Hinweis auf die Rechtsform, an die Post- und Fernmeldewesen gebunden waren. Die Dienste sollten in einem Unternehmen verbleiben. Die Struktur der Deutschen Bundespost in unabhängige Konzerne aufzuteilen, war damit als Lösungsvorschlag ausgeschlossen. Außerdem sollte das Unternehmen weiterhin „an die Grundsätze der Politik der Bundesrepublik Deutschland“ gebunden sein. 89 Am öffentlichen Auftrag der Bundespost wurde hier also noch nicht gerüttelt.
88 Ebd.2f. 89 Ebd.3.
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Mit Arthur D. Little, Prognos, Mummert + Partner und Knight Wegenstein bekundeten vier Unternehmen Interesse an einem Beratungsprojekt für die Deutsche Bundespost. Sie alle erstellten eine Vorstudie, in denen sie unabhängig von den Abteilungsleitern die drängendsten Unternehmensprobleme identifizieren sollten. Dafür bewegten sich Firmenvertreter von September bis November 1983 im Bundespostministerium, führten Interviews in Mittelbehörden und in Post- und Fernmeldeämtern. 90 Reaktionen der übrigen drei Unternehmen sind nicht belegt. Es ist aber davon auszugehen, dass das einzige von Schwarz-Schilling formulierte Auswahlkriterium die größeren Firmen von einem Angebot abhielt: Aufträge für die Vorstudien würden „an die günstigsten Anbieter vergeben“. 91 Die Arbeit mit Behörden erforderte im Vergleich mit privatwirtschaftlichen Unternehmen zudem eine Sensibilität für politische Befindlichkeiten, was gerade Firmen mit hoher Sichtbarkeit zu heikel erschien. Nach Auswertung der vier Kurzberichte (von denen jeder um die einhundert Seiten umfasste) entschieden die Leiter der sieben Abteilungen gemeinsam mit dem Leiter der Abteilung 902 über den größeren Auftrag. Der Postminister und sein Staatssekretär wurden dabei durch ihre jeweiligen persönlichen Referenten vertreten. Nachdem das Auftragsschreiben unter Schwarz-Schillings Namen verfasst worden war, seien er und der Staatssekretär in Zukunft „nur bei wichtigen Entscheidungen einzuschalten“, wie die Abteilungsleiterrunde festhielt. 92 Dass die Runde die Auftragsvergabe nicht als „wichtig“ einstufte, indiziert die relative Austauschbarkeit der Firmen und Ergebnisse. Ausschlaggebend erschien vielmehr das Verfahren als solches. Den Zuschlag für die Prüfung des Personalbemessungssystems erhielt im Januar 1984 gegen ein Honorar von 1010000 Mark Mummert + Partner. 93 Mit der öffentlichen Ankündigung der Projekte machte Schwarz-Schilling seinen medialen und politischen Gegnern deutlich, dass er nicht von seinem restriktiven Haushaltskurs abzuweichen gedenke:
90
Aussage von Dietger Hamacher, Projektleiter bei der Knight Wegenstein AG, Archiv der sozialen De-
mokratie, 5/DPGA400078, HPersR beim BPM. Vermerk über die Besprechung am 4.11.83 Vorstudie „Unternehmenskonzept für die DBP“, 1. 91
BArch, B 257/61126, Angebotsanforderung (wie Anm.86), 3.
92
BArch, B 257/61126, Betreff: Entscheidung über die Vergabe der Aufträge zum Projekt „Unterneh-
menskonzeption der DBP“, Vermerk, 15.12.1983, 2. 93
186
BArch, B 257/61126, Vertrag, 26.1.1984, 5.
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„Um nicht von vornherein einen konzeptionellen Lösungsansatz im Kreuzfeuer der Kritik widerstreitender Interessengruppen zu ersticken und politisch zu ‚töten‘, habe ich vor kurzem einem namhaften Unternehmensberater den Auftrag erteilt, frei von politischen Einbindungen und Rücksichtnahmen ein Konzept zur Sanierung des Postwesens zu erarbeiten, wie es aus wirtschaftlicher Sicht erforderlich erscheint.“ 94
2. Kampf um die Deutungsmacht: Wer ist hier der Experte? Ihr geplantes Vorgehen hatten die Berater von Mummert + Partner bereits in ihrem Projektangebot dargelegt. Im Post- und Fernmeldeamt Münster wollten sie anhand des Betriebsablaufs beobachten, ob bestehende Bemessungswerte den tatsächlichen Personalbedarf widerspiegelten. Dafür definierten sie mehrere Untersuchungsbereiche: Abgang, Eingang und die Zustellung von Briefen und Paketen im Falle des Postamtes, sowie Baubezirke, Fernsprechentstörungsstelle und Planungsund Montagestellen für fernmeldetechnische Inneneinrichtungen beim Fernmeldeamt. 95 Neben der örtlichen Beobachtung sollte das Bemessungssystem nach DA Bem Ä einem Vergleich mit den Postverwaltungen der Schweiz und der Niederlande unterzogen werden. Anhand der erhobenen Daten plante das Team, Schwachstellen in der Personalbemessung zu identifizieren und Verbesserungsvorschläge zu machen. Wie kompetent das Consultingteam war und wie unparteiisch es sein konnte, verraten zum einen zeitgenössische Selbsteinschätzungen der Berater, zum anderen ihre jeweilige Distanz oder Nähe zu Interessengruppen in der Deutschen Bundespost. Von Personalbemessungsmethoden hatte das Beraterteam laut Mitarbeiter Manner, Diplom-Ingenieur, zunächst „keine Ahnung“. 96 Auch Projektleiter Wohlgehagen erinnerte sich an den Lernprozess, den das Beraterteam durchlief: „Durch ständiges Befassen mit dieser Materie wurden wir langsam so gut, wie wir zu Beginn vorgegeben hatten zu sein.“ 97 Den Auftrag hatte die Firma nach eigener Aussage durch „forsches Auftreten und vermeintliche Sachkompetenz“ erringen können. 98
94 Archiv für Christlich-Demokratische Politik, 01–824–6/1, Redemanuskript. Bundespostminister Schwarz-Schilling vor dem Verwaltungsrat, 16.3.1984, 6. 95 BArch, B 257/61126, Ergebnisprotokoll Tagung der Abteilungsleiter 3 in Freiburg im Breisgau, 6.3.1984. 96 Peter Manner, interviewt von A. M., 21.2.2018. 97 Mummert, Firmengeschichte (wie Anm.49), 60. 98 Ebd.
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Für die ersten sechs Wochen der zwölfmonatigen Projektlaufzeit hatten die Consultants also, wie bei Beratungsaufträgen in Wirtschaft und Verwaltung üblich, zunächst desk research eingeplant. 99 Für die Herausbildung der externen Urteilskraft wirkte der interne Sachverstand instrumental. Sieben höhere Postbeamte betreuten das Beraterteam im Rahmen einer „Projektgruppe Personalbemessungssystem“. Darunter befanden sich je zwei Ministerialräte und zwei Postdirektoren, je ein Vertreter vom Post- und vom Fernmeldetechnischen Zentralamt sowie der Münsteraner Oberpostdirektor Walgenbach. Letzterer wurde als „besonders befähigter und in Personalwirtschaftsfragen der DBP erfahrener Beamter“ zur Kontaktperson der Firma ernannt. 100 Schriftliches Informationsmaterial, das die Beamten den Externen zukommen ließen, sollte diese an den Untersuchungsgegenstand heranführen. Im Gegenzug lieferten Wohlgehagen und seine Mitarbeiter vierteljährliche Zwischenberichte und Zwischenpräsentationen, um über den Fortgang der Untersuchungen zu berichteten. 101 Die Mitglieder der Projektgruppe sorgten dafür, dass Schwarz-Schillings Erwartungen an den Auftrag genügend Beachtung fanden. So sei „bei allen Vorschlägen insbesondere darauf Wert zu legen, daß eine unangemessene Ausweitung des Personalkörpers vermieden wird“. 102 Die Forderung nach einer „hinreichenden, aber stets knappen Personalausstattung“ versahen sie mit Dringlichkeit: „1 % Veränderung im Personalbereich bewirkt eine Reduzierung bzw. Erhöhung von jährlichen Kosten um über 200 Mio. DM!“ 103 Die enge Zusammenarbeit zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer war in der Privatwirtschaft wie in der öffentlichen Verwaltung durchaus typisch. Wie die Firma in ihrem Angebotsschreiben formulierte, müsse der ständige Austausch zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer „nicht zwangsläufig zu einer Übereinstimmung der Meinungen führen“. 104 Dennoch stellte Wohlgehagen in der Rückschau fest, dass Berater und Beamten in der Projektgruppe „nachher alle in eine Richtung“
99
BArch, B 257/61126, Vertrag (wie Anm.93), 6.
100 BArch, B 257/61126, Vermerk von Referat 326. Personalbemessung der DBP; hier: Untersuchungsauftrag an eine Unternehmensberatungsfirma, 20.1.1984, 2. 101 BArch, B 257/61126, Vertrag (wie Anm.93), 2f. 102 BArch, B 257/61126, Ergebnisprotokoll (wie Anm.95), 3. 103 Ebd. 104 BArch, B 257/61126, Mummert + Partner Unternehmensberatung (Hrsg.), Projektangebot „Personalbemessung der Ämter der DBP“, 27.1.1984, 2.
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dachten. 105 Dafür mag zuträglich gewesen sein, dass Änderungen im Personalbemessungssystem allein die unteren Verwaltungsschichten betrafen und die Mitglieder der Projektgruppe für ihre Mitarbeit höhere Besoldungsstufen sowie Sachmittelzulagen in Form von Dienstwagen erhielten. Gegenüber dem Minister beschrieben die Consultants seinerzeit die Zusammenarbeit als „uneingeschränkt zufriedenstellend“. 106 Im Gegensatz zu Beamten des höheren Dienstes hatten Gewerkschaften und Personalvertretungen keinen Einfluss auf den Projektverlauf. Der alarmierte Hauptpersonalrat hatte Staatssekretär Florian Ende 1983 zwar das Versprechen abgerungen, „über Aufträge von besonderer Bedeutung“ informiert zu werden. 107 Als die Personalräte ein paar Monate später jedoch auf weitere Informationen über die Projekte von Knight Wendling und Mummert + Partner drangen, ließ ihnen das Ministerium mitteilen, „daß eine so frühzeitige Einbindung eines Personalratsvertreters in die Untersuchungen nicht zweckmäßig“ sei. 108 Grund für das Engagement externer Berater sei der Wunsch gewesen, „aus neutraler Sicht zentrale Problemfelder beurteilen zu lassen und nach Möglichkeit unbeeinflußt neue Lösungsvorschläge zu entwickeln“. 109 Ergebnisse würden am Ende der Projektlaufzeit vorliegen und könnten dann auch mit den Personalvertretungen diskutiert werden. Waren die Gewerkschafter doch einmal zu einer Zwischenpräsentation geladen, wurden ihre Hoffnungen auf Beteiligung enttäuscht. Ein Vermerk Georg Nißls für die Abteilung Personalwirtschaft der Deutschen Postgewerkschaft zeugt davon, dass er sich anlässlich einer Besprechung mit dem Beraterteam wie ein Zaungast vorgekommen war. Eine ursprünglich angesetzte Diskussion von eineinhalb Stunden habe nicht stattgefunden, stattdessen hätten die Erläuterungen der Berater den Großteil des dreistündigen Termins eingenommen. Zusätzlich missfallen hatte dem Protokollanten, dass Minister Schwarz-Schilling dem Gespräch „nahezu die ganze Zeit“ über beigewohnt hatte und so keine vertraulichen Fragen gestellt werden
105 Interview mit Eckard Wohlgehagen (wie Anm.46), 25.7.2017. 106 BArch, B 257/61126, Gesprächsprotokoll, Bundespostminister mit Auftragnehmer Mummert + Partner, 9.4.84, 4. 107 BArch, B 257/61126, Protokoll der 23. Sitzung des 11. Hauptpersonalrats am 23./24.November 1983. Gespräch mit dem Staatssekretär. 108 BArch, B 257/61126, Brief von Abteilung 7 an Hauptpersonalrat, 28.2.84, 1. 109 Ebd.
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konnten. 110 Auf den Beobachterposten verwiesen blieb den Gewerkschaftsvertretern nur übrig, sich für die Zukunft zu wappnen. Einige der von Mummert + Partner vorgestellten Analysen seien „nicht ungefährlich“, auch wenn das Gutachten erst 1985 fällig würde. 111 Düster schloss Nißl den Vermerk: „Wir werden uns auf einiges gefaßt machen müssen.“ 112 Im Mai 1985 lud Schwarz-Schilling überraschend und ohne vorherige Absprache mit den Personalvertretungen zu einer Pressekonferenz. Die Projektleiter von Knight Wendling und Mummert + Partner präsentierten die wesentlichen Ergebnisse ihrer jeweiligen Untersuchung und beantworteten an der Seite von Staatssekretär Florian Fragen von Journalisten. Eckard Wohlgehagen führte aus, die Bundespost könne im Postwesen „Personaleinsparungen von deutlich unter 10 %“ sowie im Fernmeldewesen „zweistellige Prozenteinsparungen“ verwirklichen. 113 Am folgenden Tag titelte die Süddeutsche Zeitung sogleich: „Gutachter empfehlen der Bundespost Personalabbau und höhere Gebühren; nach Ansicht von Unternehmensberatern kann Zahl der Beschäftigten um etwa zehn Prozent gesenkt werden.“ 114 Dies verdeckte, dass der Abschlussbericht von Mummert + Partner keine entscheidungsreifen Vorschläge enthalten hatte. Auftragsgemäß hatten die Consultants den aktuellen Zustand des Bemessungssystems wiedergegeben und diejenigen Probleme erneut aufgeworfen, die der Bundesrechnungshof in der Vergangenheit moniert hatte. Insbesondere nach der Pressekonferenz erschienen quantitative Richtwerte rein schematischer Natur zu sein, so zum Beispiel die im Bericht enthaltene Aufstellung, die Bundespost werde innerhalb der kommenden sechs bis acht Jahre im Postwesen 15 bis 20 Prozent und im Fernmeldewesen 30 bis 35 Prozent Personal einsparen können. 115 Wie es ein Oberpostdirektor in einer Stellungnahme
110 Archiv der sozialen Demokratie, 5/DPGA410138, Vermerk. Mummert + Partner: Projekt Personalbemessung bei der DBP; Zwischenpräsentation am 26.9.1984, 16.10.1984, 1. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Archiv der sozialen Demokratie, 5/DPGA400078, Vermerk über die Präsentation der Unternehmensberater Knight Wendling und Mummert + Partner anläßlich einer Pressekonferenz am 17.5.85, 10.30 Uhr in Bonn, Hotel Tulpenfeld unter Moderation des Pressesprechers des BPM, Jung, 3. 114 Gutachter empfehlen der Bundespost Personalabbau und höhere Gebühren. Nach Ansicht von Unternehmensberatern kann Zahl der Beschäftigten um etwa zehn Prozent gesenkt werden, in: Süddeutsche Zeitung, 18.5.1985, 114. 115 BArch, B 257/61127, Brief der Projektleitung „Personalbemessungssystem für die Ämter der DBP“ über Abteilungsleiter 3 an Staatssekretär, 30.9.1985, 2.
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zum Bericht ausdrückte: „Die eigentliche Gutachtertätigkeit […] muß jetzt beginnen.“ 116 Darin lieferte sich die Deutsche Postgewerkschaft mit der Projektgruppe Personalbemessungssystem mit dem Tag der Veröffentlichung einen Wettlauf. Kurt van Haaren, der Vorsitzende der Deutschen Postgewerkschaft, fand deutliche Worte für die Informationspolitik Schwarz-Schillings. Mit der öffentlichen Darstellung, „wir seien postalisch Neandertaler und fernmeldetechnisch ein Entwicklungsland“, habe der Minister den Eindruck erweckt, „Ingenieure, Verwaltungsexperten und wir alle seien unfähig, die Bundespost verantwortlich zu führen“. 117 Die externe Untersuchung wollte die DPG also als Anschlag auf die Kompetenz der Postverwaltung verstanden wissen und quittierte dies damit, die Befähigung der Berater ihrerseits anzuzweifeln. So attackierte die Gewerkschaftsschrift „Deutsche Post“ die Vorgehensweise von Mummert + Partner als fadenscheinig. Beispiele im Bericht seien „ganz gezielt aufbereitet“ worden, um einen „seriösen Eindruck zu erwecken“. 118 Die „personaleinsparende[n] ‚Verbesserungsvorschläge‘“ fußten jedoch nach Ansicht der Gewerkschafter auf „zweifelhaften Analysen und […] verzerrenden internationalen Vergleichen“. 119 Selbst ein Begleitband zur größten Protestaktion in der Geschichte der Deutschen Postgewerkschaft „Sichert die Post – Rettet das Fernmeldewesen“ nahm Bezug auf das Beratergutachten: „Wir erkennen die eindeutige Absicht, mit geänderten Bemessungselementen nicht mehr den erforderlichen Personalbedarf zu ermitteln und diesen zur Grundlage des Personalhaushalts zu machen. […] Die Beschäftigten können eine solche Entwicklung nicht akzeptieren“. 120 Öffentliche Publikationsorgane griffen die nachgereichte Kritik an dem Bericht jedoch kaum auf, sodass dem von Schwarz-Schilling lancierten Narrativ der verschwenderischen Bundespost wenig entgegenstand. Während die Deutsche Postgewerkschaft das Gutachten in ihrem Sinne auszudeuten versuchte, bat die Projektgruppe Personalbemessung die Referatsleiter für Personalwirtschaft bei den Oberpostdirektionen um ihre fachliche Beurteilung der Beratervorschläge. Ähnlich wie die Gewerkschafter fühlte sich auch die mittlere
116 BArch, B 257/61128, Stellungnahme zum Abschlußbericht der Unternehmensberatung Mummert + Partner, OPDir Dipl.-Ing. Werner Pohl, 28.8.85, 5. 117 Kurt van Haaren, Dokumentation. Sichert die Post – Rettet das Fernmeldewesen. o.O. 1986, 683. 118 Personalbemessung (wie Anm.6) in: Deutsche Post, 20.6.1985, 12. 119 Ebd. 120 Mit einer starken DPG. Sichere Perspektiven für Bundespost und Arbeitnehmer. Frankfurt am Main 1986, 126.
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Verwaltungsebene genötigt, die Daseinsberechtigung der eigenen Bemessungsfachleute zu bekräftigen. Unglaubwürdig wäre es gewesen, die von Mummert + Partner identifizierten, weithin bekannten Problemquellen als irrelevant zu verklären. Die Beanstandungen jedoch nur zu bestätigen, hätte die interne Expertise redundant erscheinen lassen. Die Personalwirtschafter billigten daher die generelle Stoßrichtung des Gutachtens, nur um den Großteil ihrer Rückmeldungen einer ausführlichen Methodenkritik zu widmen. Die Mängelanalyse des Bemessungssystems sei soweit vertraut, bleibe aber vage und lasse ein „Rezept“ zur Behebung der Schwierigkeiten vermissen. 121 Der von Mummert + Partner angestellte internationale Vergleich sei außerdem nicht zu werten, da die Rahmenbedingungen der Schweizer und niederländischen Postverwaltungen sich erheblich von denen der Bundespost unterschieden. Darüber hinaus verkannten die Berater aus Sicht der Beamten, dass Stellenreduzierungen nicht freiheraus verordnet werden konnten, sondern mit den Personalvertretungen abgestimmt werden mussten. Immerhin: Den Bericht ziere ein „profihaftes Layout“. 122 Die Gliederung sei übersichtlich, die Anlagen farbig und der „breite Rand neben dem Text“ eigne sich für persönliche Notizen. 123 Die vielfältige Kritik, die die Personalwirtschafter der Oberpostdirektionen an Mummert + Partners Schriftstück geübt hatten, blieb in der Bilanz der Projektgruppe lediglich implizit. Schließlich war es im Sinne des Ministers, die Notwendigkeit des kostspieligen Unterfangens gegenüber dem Bundesrechnungshof und dem Finanzministerium vertreten zu können. Nach mehrmonatiger Auswertung des 135 Seiten starken Berichts urteilten Walgenbach und sein Kreis: „Die Analyse des Istzustands [des Bemessungssystems] ist weitgehend richtig; die aufgezeigten Mängel müssen deshalb – bis auf einige Ausnahmen – anerkannt werden.“ 124 Positiv hob die Projektgruppe hervor, dass die Firma den „grundsätzlichen Ansatz“ des Bemessungssystems als „sachgerecht“ eingestuft hatte. 125 Die Verantwortung für hohe Personalbestände wurde damit erneut den unteren Verwaltungsebenen zugeschrieben – ein
121 BArch, B 257/61128, Schlußbericht der Unternehmensberatung Mummert + Partner, POR Dipl.-Ing. Rainer Friedrichowitz, 28.8.1985, 3. Ähnlich: BArch, B 257/61128, Postoberrat Dipl.-Ing. Perske, 2.9.1985; BArch, B 257/61128, Stellungnahme zum Schlußbericht der Unternehmensberatung Mummert + Partner, POR Dipl-Ing. Michael Strueß, 8.9.1985.
122 BArch, B 257/61128, Schlußbericht, POR Friedrichowitz (wie Anm.121), 1. 123 Ebd. 124 BArch, B 257/61127, Brief der Projektleitung (wie Anm.115), 2. 125 Ebd.
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schriftlicher Beleg, der den Minister entlastete und der sich in das Bild einfügte, das die Berichterstattung bereits gezeichnet hatte. Unberücksichtigt blieb dabei die Tatsache, dass Walgenbachs Projektgruppe selbst die verheißungsvollen Zahlenwerke der Berater intern ebenfalls skeptisch beurteilte. Eine Senkung des Personalbestands, so die Abwägung der Beamten, habe „in absehbarer Zeit negative Folgen auf den Arbeitsmarkt“, aber „auf Dauer positive Folgen für die Kunden, die Gebührenpolitik und die betriebliche Abwicklung“. 126 Die genannten Einspargrößen seien jedoch „weder durch die Feststellungen im Bericht belegt, noch entsprechen sie realistischen Einschätzungen.“ 127 Ein Redemanuskript des Parlamentarischen Staatssekretärs Rawe für eine Fragestunde im Deutschen Bundestag 1986 zeugt davon, dass die Behördenspitze auf Kritik gefasst war. Darin war notiert, dass „allein schon die innerhalb und außerhalb der DBP geführte Diskussion“ über das Gutachten dieses „bezahlt gemacht“ habe. 128 Die
Firma habe bekannte Punkte aufgeworfen, aber auch „zum Teil“ konzeptionell neue Vorschläge gemacht, die sich positiv auf das Bemessungsverfahren auswirken könnten. 129 In einem Schreiben an den Staatssekretär fand ein Postbeamter deutlichere Worte für den eigentlichen Erfolg der Untersuchungen aus Sicht der Unternehmensspitze: „Die zwar schon vorgesehene, aber schwierige Durchsetzung der Reduzierung [des Personals] wurde zweifellos beschleunigt, da mit dem Gutachten der Personalvertretung und den Gewerkschaften viel ‚Wind aus den Segeln‘ genommen war.“ 130
IV. Fazit: Unternehmensberater als Überbringer unbequemer Nachrichten Im Kampf zwischen Selbsterhaltung und Rationalisierung der Deutschen Bundespost rangen Anfang der 1980er Jahre zwei Arten entscheidungsvorbereitender
126 Ebd.3. 127 Ebd.2. 128 BArch, B 257/61128, Antwortvorschlag: Mündliche Fragestunde des Dt. Bundestages am 22./23.1.86, 1. 129 Ebd. 130 BArch, B 257/61129, Brief von Abteilung 2a an Staatssekretär. Antwort auf Schreiben von Staatssekretär vom 13.8.86, 2.10.1986.
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Wissensbestände miteinander: der gebietsbezogene Sachverstand der Beamten, der auf langjähriger Erfahrung beruhte und auf die öffentliche Daseinsvorsorge sowie auf Arbeitnehmerinteressen ausgerichtet war; und die ad hoc mobilisierte Intervention der Berater, die sich auf übergeordnete Organisationsprinzipien berief und das öffentliche Unternehmen unter wirtschaftlichen Vorzeichen betrachtete. Unter dem Deckmantel von Kompetenzstreitigkeiten ging es um die Fragen, wie viel staatliche Leistungen kosten durften und welcher Grad an Dienst- und Betriebsgüte gerechtfertigt war. Der Expertenstatus der Fachbeamten bei der Deutschen Bundespost wandelte sich in der Konfrontation mit Mummert + Partner auf ambivalente Art.Durch das Engagement externer Berater entzogen Schwarz-Schilling und sein Führungsstab den Beamten der Ministeriumsabteilung Personalwirtschaft Vertrauen. Dennoch trugen sie ihnen auf, die Gutachtervorschläge auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Ihre Sachkunde schien der Postminister seinen Untergebenen also nicht abzusprechen; wohl aber ihre Fähigkeit, angesichts eigener Ansprüche an die Dienst- und Betriebsgüte Objektivität walten zu lassen. Um ihr Gesicht zu wahren, blieb den Bemessungsspezialisten wenig anderes übrig, als die festgestellten Mängel als altbekannt abzutun und das Gutachten für mangelnde Exaktheit und damit fehlende Fachkenntnis zu kritisieren. Somit hatte die Verwaltungsspitze keine Handlungsdirektive gewonnen. Die Firma Mummert + Partner nahm sich der staatlichen Ratlosigkeit weiterhin bereitwillig an, da daraus bis 1988 zusätzliche Projekte für die Deutsche Bundespost resultierten und die Spitzen anderer Bundes- und Landesbehörden ebenfalls auf ihre Dienstleistung aufmerksam wurden. 131 Die Konzentration einzelner Firmen auf den öffentlichen Sektor ließ mit der Zeit das Bild der unbedarften Generalisten verblassen. Mit jedem Auftrag sammelten die Beratungsfirmen Referenzen, die ihre wachsende Kenntnis des rechtlichen Rahmens staatlicher Organisationen belegen und sie von Wettbewerbern abheben sollten. Die nähere Betrachtung hat gezeigt, dass Mummert + Partner nicht so „objektiv“ und „neutral“ vorgingen, wie von Schwarz-Schilling vorgegeben. Bewusst orientier-
131 Darunter das Land Nordrhein-Westfalen, das von 1991 bis 1999 in einer großangelegten Aktion Organisationsuntersuchungen in allen Landesbehörden anordnete. Mummert + Partner erstellten hier unter anderem eine Studie zur Lehrerarbeitszeit: Mummert + Partner Unternehmensberatung (Hrsg.), Untersuchung zur Ermittlung, Bewertung und Bemessung der Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer im Land Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1999.
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te das Consultingteam die Untersuchungsanordnung an den Vorgaben des Auftraggebers und ließ die Ergebnisdarstellung mit dessen Zielsetzung harmonieren. Die mediale Aufbereitung der Empfehlungen machte die Kompetenzzuschreibung jedoch wirksam und verschaffte dem Postminister in zweifacher Hinsicht taktische Vorteile. Zum einen konnte er sich die grundsätzliche Eignung des Systems gegenüber dem Bundesrechnungshof bescheinigen lassen und demonstrieren, dass er um eine wirtschaftlichere Haushaltsführung bemüht war. Zum anderen wurden lange bekannte Defizite des Personalbemessungssystems einer breiten Öffentlichkeit dargelegt, was die Belegschaftsproteste gegen Stellenstreichungen schwächte. Unternehmensberater lieferten politischen Entscheidungsträgern in den 1980er Jahren also nicht in erster Linie Expertenwissen, sondern vor allem Begründungsnarrative für einen nachdrücklicher verfolgten Konsolidierungskurs.
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Externe Experten und räumliche Transformationsprobleme in den neuen Bundesländern von Jann Müller
I. Einleitung Eine intensiv debattierte Frage im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung lautet, inwiefern es der ostdeutschen Transformation zuträglich war, dass sie im Wesentlichen durch die Übernahme des bundesdeutschen Modells bewerkstelligt wurde. Beispielhaft lässt sich dies an der Entwicklung des Einzelhandels in Ostdeutschland diskutieren. Philipp Ther konnte anhand der Transformationen im postsozialistischen Mittelosteuropa zeigen, dass der dortige Wandel nicht allein auf politisch implementierten Maßnahmen „von oben“ beruhte, sondern um die Aneignung neugewonnener wirtschaftlicher Freiheiten durch Kleinunternehmer ergänzt wurde. Dies erfolgte vor allem im Handelssektor, zum Beispiel in Form sogenannter Polenmärkte, deren Entstehung sich sogar in die Zeit vor dem Sturz der kommunistischen Regime zurückverfolgen lässt. Im deutschen Fall, so Ther, habe die Vereinigungspolitik es versäumt, die Transformation von unten zu stärken und lediglich die Absatzinteressen der westdeutschen Unternehmen im Blick gehabt. 1 Dies habe den Aufbruchsgeist in den neuen Ländern gelähmt und dazu geführt, dass sich ein Stereotyp des Ostdeutschen als unzufriedener Nörgler verfestigt habe. In seinen bereits 1995 erschienenen Beiträgen zur „Vereinigungskrise“ formulierte Jürgen Kocka, dass der wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch den Ostdeutschen zunächst in Gestalt einer „Revolution von außen und von oben“ erschienen sei, die sie zu „Objekten“ statt „Trägern“ des Geschehens gemacht habe. 2 Anders gewendet, war mit den zentralen Entscheidungen der Wiedervereinigung, die für die Ostdeutschen sehr viele und für die Westdeutschen zunächst nur wenige Veränderungen bedeuteten, eine Abhängigkeit entstanden: Die neuen Bundesländer wa-
1 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin 2014, 192. 2 Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart. Göttingen 1995, 147f.
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-008
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ren einstweilen angewiesen auf finanzielle Hilfen und Expertenwissen aus der alten Bundesrepublik. Kocka äußerte seine Überzeugung, dass „der Wiederaufbau und die Eingliederung Ostdeutschlands“ 3 in ganz erheblichem Maße von Westdeutschland abhängig seien. Welche Rolle spielten Experten schlussendlich in der ostdeutschen Umbruchgesellschaft? Der ostdeutsche Einzelhandel war nach der Wiedervereinigung von einer hohen Entwicklungsdynamik geprägt. Indessen galt der Handel bald als Beispiel für besonders folgenschwere Fehlentwicklungen im Rahmen der ostdeutschen Transformation. 4 Zum einen wurden Hoffnungen auf den Aufbau mittelständischer Existenzen jäh enttäuscht, zum anderen war binnen kurzer Zeit ein hoher Grad der Handelssuburbanisierung erreicht worden. Es fehlte infolgedessen einerseits an leistungsfähigen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die als Käufer und Mieter innerstädtischer Gewerbeimmobilien auftreten konnten, andererseits an einer Zentrenstruktur mit Innenstädten als bevorzugte Einzelhandelsstandorte, was negativ auf die Erfolgsaussichten von Existenzgründungen zurückwirkte. Dies wirft die Frage auf, warum es im Zuge der Übertragung des bundesdeutschen Staats- und Verwaltungsrechts, das auch das Städtebaurecht einschloss, in den neuen Ländern kaum gelang, Handelsansiedlungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Verträglichkeit mit lokalen Gewerbestrukturen beziehungsweise künftigen Entwicklungszielen zu steuern. Hätte mehr Expertenwissen verhindern können, dass die Expansion westdeutscher Einzelhandelsunternehmen mutmaßlich mit einer Beschränkung endogener Entwicklungspotentiale in Ostdeutschland einherging? Und inwiefern konnten externe Experten helfen, die eingetretenen Probleme zu überwinden? Im nachfolgenden Beitrag möchte ich zunächst einen Überblick über die Entwicklung des Einzelhandels in den neuen Bundesländern geben, da dieser als wichtigste Triebkraft für die Suburbanisierung ostdeutscher Städte in den 1990er Jahren gilt. Mit Blick auf die Frage, ob hinreichendes Expertenwissen zur Verfügung stand, beziehungsweise weshalb es nicht gelang, die räumlichen Transformationsproble-
3 Ebd.143. 4 Heike Jacobsen, Ungesteuerte Expansion auf der grünen Wiese: Der Einzelhandel, in: Roland Czada/Gerhard Lehmbruch (Hrsg.), Transformationspfade in Ostdeutschland. Beiträge zur sektoralen Vereinigungspolitik. (Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Bd.32.) Frankfurt am Main/New York 1998, 301–329; Peter Franz/Martin Junkernheinrich/Konrad Lammers u.a., Suburbanisierung von Handel und Dienstleistungen. Ostdeutsche Innenstädte zwischen erfolgreicher Revitalisierung und drohendem Verfall. Berlin 1996.
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me Ostdeutschlands frühzeitig im Rahmen bestehender städtebaulicher Planungsverfahren zu lösen, möchte ich anschließend kurz die Rolle der Industrie- und Handelskammern (IHKn) im Kontext der Handelstransformation darstellen. IHKn sind öffentlich-rechtliche Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung, denen mit Ausnahme des Handwerks sämtliche gewerblichen Unternehmen eines bestimmten Kammerbezirks angehören. 5 Ihre Entstehung im 19.Jahrhundert erfolgte auch in Anbetracht eines staatlichen Bedarfs an unternehmerischer Sachkenntnis, die behördenintern rar ist. 6 Für die zugehörigen Unternehmer gewährleisten die IHKn Partizipations- und Gestaltungsrechte, in denen zugleich ein Anreiz zur Mitwirkung besteht. 7 Die Sachkenntnis der Kammermitglieder wird ergänzt und unterstützt durch wissenschaftlich gebildetes hauptamtliches Personal, dessen Bedeutung im Laufe des 20.Jahrhunderts angesichts zunehmender Komplexität beständig stieg. 8 Mit dem Einigungsvertrag wurde das Verwaltungsrecht der Bundesrepublik weitgehend auf die neu entstehenden Länder übertragen. Den IHKn oblag es infolgedessen, im Rahmen der kommunalen Bauleitplanung, dem wichtigsten Instrument zur Steuerung städtebaulicher Entwicklungen, Stellungnahmen zu gewerblich relevanten Bauvorhaben abzugeben. Weshalb kam es dennoch in großem Umfang zu städtebaulich problematischen Ansiedlungen? Die erste Phase der ostdeutschen Transformation wurde von einer Übertragung des westdeutschen Ordnungsrahmens geprägt. „Expertenwissen“ bedeutete in diesem Zusammenhang vor allem korrespondierendes Anwendungswissen. Nachdem
5 Detlef Sack/Wolfgang Schroeder, Die Industrie- und Handelskammern im politischen System Deutschlands, in: Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels (Hrsg.), Handbuch der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland. 2.Aufl. Wiesbaden 2017, 85–109. 6 So sah jedenfalls Max Weber wirtschaftliches Sachverständnis als Gebiet, das sich der Aneignung durch den staatlichen Verwaltungsapparat entzog: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt am Main 2010, 732. 7 Gestaltungsspielräume bestehen erstens unmittelbar im Rahmen der Selbstverwaltung, zum Beispiel bei der Wahl der Leitungspersonen, und zweitens in Form formalisierter Mitsprachebefugnisse im Rahmen administrativer Entscheidungsprozesse; Winfried Kluth, Demokratische Legitimation in der funktionalen Selbstverwaltung – Grundzüge und Grundprobleme, in: Friedrich E. Schnapp (Hrsg.), Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip – am Beispiel der Sozialversicherung. Tagungsband zum 8. Fachkolloquium des Instituts für Sozialrecht am 28./29.Juni 2000 in Bochum. Frankfurt am Main 2001, 17–42, hier 38. 8 Ernst Jäkel/Werner Junge, Die deutschen Industrie- und Handelskammern und der Deutsche Industrieund Handelskammertag. (Ämter und Organisationen der Bundesrepublik Deutschland, Bd.11.) 3.Aufl. Düsseldorf 1986, 9ff.
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sich die allgemeine Erwartung als unzutreffend herausgestellt hatte, dass sich mit dem Transfer von Rechtsnormen und Ordnungskonzepten in Ostdeutschland ein autonom ablaufender Konvergenzprozess einstellen werde, kam es zu einer Neuausrichtung der „Transformation von oben“. Externe Experten wurden nun zu Impulsgebern, deren Rolle über die Anwendung, zum Beispiel des städtebaulichen Planungsrechts, hinauswies. Mit dem Deutschen Seminar für Städtebau und Wirtschaft (DSSW) wurde 1993 aus Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft ein Kompetenzzentrum gegründet, das die Revitalisierung 9 ostdeutscher Innenstädte beratend unterstützen sollte. Am Beispiel des DSSW möchte ich aufzeigen, wie sich die Rolle externer Experten im Verlauf der ostdeutschen Transformation gewandelt hat.
II. Der Einzelhandel als Triebfeder für die Suburbanisierung in den neuen Bundesländern Die Zukunft des ostdeutschen Handels hatte in der Frühphase der postsozialistischen Transformation keineswegs auf der Hand gelegen. Obgleich die Führung der DDR innerhalb des Ostblocks lange zu den skeptischen Kräften hinsichtlich wirt-
schaftlicher Reformen gezählt hatte und der private Sektor bis dahin unauffällig, eng in das sozialistische System eingebettet und strikten Reglementierungen unterworfen gewesen war, hatte es durchaus Anzeichen für unternehmerische Orientierungen gegeben. Lizenzen für den Betrieb privater Gewerbe waren in der DDR begehrt – schon bevor sich der politisch-gesellschaftliche Umbruch ankündigte. 10 Dass es am politischen Willen zur Durchsetzung von Reformen mangelte, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese hinter den Kulissen dennoch erörtert wurden. Den Hintergrund bildete die schleichende Krise, in der sich die realsozialistische Industriegesellschaft seit den späten 1970er Jahren befand und die in man-
9 Im vorliegenden Beitrag wird im Kontext des DSSW ggf. von „Revitalisierung“ die Rede sein. In der Raumforschung wird die Entwicklung der ostdeutschen Städte seit den 1990er Jahren unterdessen häufiger unter dem Begriff der „Reurbanisierung“ verhandelt, der verdeutlicht, dass bereits zu DDR-Zeiten Funktionsverluste der Städte zu verzeichnen waren; Karin Wiest, Reurbanisierung als Mainstream der ostdeutschen Stadtentwicklung? in: RaumPlanung 123, 2005, 237–242. 10
Anders Åslund, Private Enterprise in Eastern Europe. The Non-Agricultural Private Sector in Poland
and the GDR, 1945–83. London 1985, 202.
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chem Analogien zur Situation in Westeuropa aufwies. 11 In den Ministerien der DDR entstanden Analysen, die aufzeigten, dass von einer Eröffnung größerer privatwirtschaftlicher Freiräume Fortschritte bei der Entwicklung des Dienstleistungssektors zu erwarten waren. 12 Mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und der sich abzeichnenden Wiedervereinigung eröffneten sich dem Einzelhandel scheinbar glänzende Zukunftsaussichten: Umfassende finanzielle Transfers des Westens bescherten vielen Ostdeutschen plötzliche Kaufkraftgewinne. 13 Im Unterschied zum produzierenden Gewerbe schien das Problem vorrangig darin zu bestehen, rasch neue Kapazitäten in Betrieb zu nehmen: Ende 1989 hatte der ostdeutschen Bevölkerung pro Kopf nur ca. ein Drittel der Handelsfläche zur Verfügung gestanden, die Westdeutschen bereitstand. 14 Der Einzelhandel zählte in der alten Bundesrepublik zu den gründungsintensiven Branchen. Mit dem Übergang zur vollen Gewerbefreiheit im März 1990 galt dies in noch stärkerem Maße für Ostdeutschland, wo ein Boom an Unternehmensgründungen einsetzte, der vom Ausblick auf die Einführung der D-Mark kräftig befeuert wurde. 15 Bei Inkrafttreten der Währungsunion erreichte die Gründerwelle ihren absoluten Höhepunkt und ging bis Mitte 1991 nur wenig zurück. 16 In
11 Nach Ansicht von: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3.Aufl. Göttingen 2012, 26. 12 Heinz Hoffmann, Der Kommissionshandel im planwirtschaftlichen System der DDR. Eine besondere Eigentums- und Handelsform. (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens, Bd.2.) Leipzig 2001, 101ff. 13 Elvir Ebert, Einkommen und Konsum im Transformationprozeß. Vom Plan zum Markt – vom Mangel zum Überfluß. (KSPW: Transformationsprozesse, Bd.24.) Opladen 1997, 128. 14 Rolf Spannagel, Entwicklung der Verkaufsflächen im Einzelhandel, in: Josef Lachner/Thomas Nassua/ Rolf Spannagel (Hrsg.), Entwicklung des Handels in den neuen Bundesländern. Stand und Probleme der Systemtransformation im Groß- und Einzelhandel sowie in der Handelsvermittlung. (ifo Studien zu Handels- und Dienstleistungsfragen, Bd.47.) München 1995, 221–232. 15 Fabian Steil, Unternehmensgründungen in Ostdeutschland, in: Dietmar Harhoff (Hrsg.), Unternehmensgründungen – Empirische Analysen für die alten und neuen Bundesländer. (ZEW-Wirtschaftsanalysen, Bd.7.) Baden-Baden 1997, 29–72; Annegret Hauer/Thomas Kleinhenz/Liliane von Schuttenbach, Der Mittelstand im Transformationsprozeß Ostdeutschlands und Osteuropas. (Beiträge zur Mittelstandsforschung, Bd.1.) Heidelberg 1993, 91. 16 Unternehmensgründungen werden amtlich nur ungenau erfasst, da Gewerbeanmeldungen nicht immer mit einer Aufnahme wirtschaftlicher Tätigkeiten verbunden sind. Mit Blick auf die neuen Bundesländer weichen die Schätzungen hinsichtlich Unternehmensgründungen zum Teil erheblich von den erfassten Gewerbeanmeldungen ab; Letztere erreichten erst 1991 ihren Höhepunkt. Dies lässt sich damit erklären, dass die Umstrukturierung der sozialistischen Wirtschaft oftmals eine rechtliche Verselbständigung von Unternehmen beziehungsweise Unternehmensteilen beinhaltete. Eine Eintragung ins Handelsregis-
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der darauffolgenden Zeit, bis einschließlich 1994, lag zwar die Neigung zur Unternehmensgründung in Ostdeutschland über dem gesamtdeutschen Niveau, für den Handel galt dies aber nur noch mit Einschränkungen: Insgesamt entfiel ein knappes Drittel der Unternehmensgründungen zwischen 1990 und 1994 auf den Handel. Hierin enthalten waren allerdings heftige Ausschläge, die die allgemeine Richtung des Gründungsgeschehens stark beeinflussten 17: In den ersten zwölf Monaten nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, auf dem Höhepunkt des Booms, wurden besonders viele Handelsunternehmen gegründet. In der darauffolgenden Zeit, als die Zahl der Gründungen rückläufig war, war wiederum der Handel derjenige Wirtschaftszweig, der den stärksten Rückgang verzeichnete. 18 Im Einzelhandel vollzog sich ein rascher Umbruch, in dem Existenzgründer aber nur eine geringe Rolle spielten – und dies, obwohl zahlreiche Verkaufsstellen des staatlichen Handels der DDR von ostdeutschen Interessenten übernommen wurden. 19 Oft handelte es sich hierbei um Kleinstflächen, für die sich kaum Käufer gefunden hatten. Auch der Einfluss der Privatisierungspolitik blieb für die weitere Entwicklung des Handels daher eher gering. 20 Als bedeutende Akteure traten westdeut-
ter entsprach daher nicht immer einer Neugründung im engeren Sinne, auch wenn das eingetragene Unternehmen wirtschaftlich aktiv war. In qualitativen Auswertungen wird geschätzt, dass bei mehr als 1000000 Gewerbeanmeldungen, die zwischen 1990 und 1994 in Ostdeutschland verzeichnet wurden, nur in annähernd 500000 Fällen von Unternehmensneugründungen auszugehen ist. Vgl. Dietmar Harhoff/Fabian Seil, Die ZEW-Gründungspanels: Konzeptionelle Überlegungen und Analysepotential, in: Harhoff (Hrsg.), Unternehmensgründungen (wie Anm.15), 11–28, hier 16. 17
Seil, Unternehmensgründungen (wie Anm.15), 39. Seil erfasst sowohl Groß- als auch Einzelhandels-
unternehmen, wobei Letztere die große Mehrheit ausmachen. 18
So lag der Anteil der Gründungen im Handel in den ersten zwölf Monaten nach Einführung der D-
Mark bei über 35 Prozent, im Jahr 1994, dem letzten Jahr der Betrachtung, war der Anteil auf unter 25 Prozent gefallen. Um diese Veränderungen einzuordnen, lohnt ein Strukturvergleich mit Daten aus dem alten Bundesgebiet: Der Anteil, den Unternehmensgründungen im Handel ausmachten, lag 1990–1994 auch hier insgesamt bei ca. 31 Prozent. Schwankungen vollzogen sich allerdings in einer viel geringeren Spannbreite: Knapp 32 Prozent im zweiten Halbjahr 1990 und gut 29 Prozent im zweiten Halbjahr 1994 markierten den jeweils höchsten beziehungsweise niedrigsten Anteil; Seil, Unternehmensgründungen (wie Anm. 15), 38. 19
Peter Müller, Binnenhandelspolitische Herausforderungen in den neuen Bundesländern aus Sicht der
Leipziger Handelsforschung, in: Lachner/Nassua/Spannagel (Hrsg.), Entwicklung des Handels (wie Anm. 14), 57–74, hier 66. 20
Zur Privatisierung der staatlichen Handelsorganisation (HO) hatte die Treuhandanstalt eigens die Ge-
sellschaft zur Privatisierung des Handels (GPH) geschaffen. Die mit der GPH verbundene Hoffnung, durch Privatisierungen zur Entstehung mittelständischer Strukturen beizutragen, erfüllte sich indessen nicht;
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sche Handelsunternehmen in Erscheinung, denen sich mit den Ereignissen von 1989/90 schlagartig neue Marktchancen boten. Dies deuteten zahlreiche Einkaufsfahrten an, die Ostdeutsche ins alte Bundesgebiet unternahmen. 21 Der westdeutsche Einzelhandel zeichnete sich nicht nur durch ein großes Warenangebot aus, sondern auch durch spezielle Betriebsformen, zu denen es in der DDR keine vergleichbare Angebotsstruktur gegeben hatte. Dies galt vor allem für Discount- und großflächige SB-Verbrauchermärkte sowie Fachmärkte, die mit der Wiedervereinigung schnell
nach Ostdeutschland vordrangen. Häufig entstanden entsprechende Filialbetriebe als Teil neuer Einzelhandelszentren, meist außerhalb von Siedlungen, an verkehrsgünstigen Standorten in Ortsrandlagen, um sich an motorisierte „Kofferraumkunden“ zu wenden. 22 Bezogen auf Indikatoren wie die Pro-Kopf-Produktivität der Beschäftigten und die Handelsfläche pro Kopf der Bevölkerung, erlebte der Einzelhandel in den neuen Bundesländern einen kräftigen Aufschwung und schloss rasch zum westdeutschen Niveau auf. 23 Ein Vertreter des Bundesministeriums für Wirtschaft zog daher in einem 1995 veröffentlichten Fachbeitrag ein positives Zwischenfazit 24: Der Handel leiste einen wichtigen Beitrag zur Transformation in Ostdeutschland. Im Hinblick auf Preis, Qualität und Angebotsstruktur habe der Wirtschaftszweig aufgeholt, und von den Unternehmen würden über 5 Mrd. DM jährlich an Investitionen getätigt. Ihrer Vermittlungsfunktion für Produkte ostdeutscher Hersteller werde die Handelswirtschaft damit vollauf gerecht. Andere Analysen kamen zur etwa gleichen Zeit zu pessimistischeren Gesamtbewertungen: An die Stelle des Mangels seien mancherorts drastische Überkapazitäten getreten. 25 Im Unterschied zu westdeutHeike Jacobsen, Umbruch des Einzelhandels in Ostdeutschland. Westdeutsche Unternehmen als Akteure im Transformationsprozeß. Frankfurt am Main/New York 1999, 12. 21 Jacobsen, Ungesteuerte Expansion (wie Anm.4), 313; Rolf Spannagel, Die Entwicklung des Einzelhandels in den neuen Bundesländern, in: Volker Trommsdorff (Hrsg.), Handelsforschung 92/93. Handel im integrierten Europa. Wiesbaden 1993, 3–15, hier 5. 22 Eva den Hartog-Niemann/Klaus-Achim Boesler, Einzelhandelsstandorte des Verdichtungsraums Leipzig im Spannungsfeld zwischen kommunaler Entwicklung und räumlicher Ordnung, in: Erdkunde 48, 1994, 291–301. 23 Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit 1997. Drucksache des Deutschen Bundestages 13/ 8450, 52. 24 Aus Sicht des Bundeswirtschaftsministeriums: Hermann J. Jörissen, Der Transformationsbeitrag des Handels in Ostdeutschland, in: Lachner/Nassua/Spannagel (Hrsg.), Entwicklung des Handels (wie Anm. 14), 1–9, hier 8f. 25 Jacobsen, Umbruch (wie Anm.20), 15; Christian Huck, Der wirtschaftliche Strukturwandel in Thürin-
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schen Ballungsräumen, wo sich der Großteil der Handelsflächen in den Innenstädten befand, waren diese im Falle ostdeutscher Groß- und Mittelstädte überwiegend im Umland errichtet worden. 26 Vor allem wurden Hoffnungen, mittelständische Strukturen und Arbeitsplätze zu schaffen, deutlich verfehlt. Gemessen am Jahr 1989 war die Zahl der Arbeitsplätze im Handel bis 1995 um rund ein Drittel gesunken – trotz des starken Flächenwachstums sowie eines insgesamt höheren Konsumniveaus. 27 In Westdeutschland war der mittelständische Einzelhandel alles andere als wirtschaftlich unbedeutend: Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) beschäftigten die Mehrzahl aller Angestellten im Handel. 28 Da die KMU im Vergleich mit den Großunternehmen in der Summe ebenfalls erhebliche Investitionen tätigten, nahm es nicht wunder, welche weiteren Defizite im engen Zusammenhang mit der ostdeutschen Handelsentwicklung standen: In den ostdeutschen Städten fehlte es an Investitionen, sowohl in Gebäude als auch in die Verkehrsinfrastruktur. Zwar war eine erkleckliche Zahl neuer Handelsunternehmungen gegründet worden, viele dieser Betriebe waren wirtschaftlich allerdings kaum aktiv. 29 Zudem sank die Gründungsneigung überdurchschnittlich ab, und Geschäftsaufgaben häuften sich. Zweifellos war für Ostdeutschland mit einer Marktentwicklung zu rechnen gewesen, welche analoge Verhältnisse wie im alten Bundesgebiet hervorbringen würde, wo wenige Unternehmen den Großteil aller Umsätze auf sich vereinten. 30 In Bezug auf kleine und mittlere Handelsunternehmen schien das Vordringen großflächiger Handelsbetriebe in Ostdeutschland allerdings viel stärker auf ein „Entweder-oder“ hinauszulaufen als auf ein „Sowohl-als-auch“. Dies hatte mehrere Ursachen: Kleine und mittgen und seine Auswirkungen auf die Raumordnung und Stadtentwicklung – dargestellt an der Entwicklung des Einzelhandels von 1989 bis 1999 mit Schlussfolgerungen für eine zukünftige aktive Raumordnungs- und Stadtentwicklungspolitik für Thüringen. Dissertation. Weimar 2000, 77. 26
Im Raum Leipzig eröffnete 1992 ein Einkaufszentrum, das allein das damalige Flächenangebot in der
Leipziger Innenstadt bereits überstieg; den Hartog-Niemann/Boesler, Einzelhandelsstandorte (wie Anm.22), 295. 27
Jacobsen, Umbruch (wie Anm.20), 13.
28
Statistisches Bundesamt, Der Einzelhandel in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Strukturvergleich
zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Wiesbaden 1991, 26ff. 29
Seil, Unternehmensgründungen (wie Anm.15), 38; Spannagel, Entwicklung des Einzelhandels (wie
Anm.21), 7. 30
Vgl. Heinz Garsoffky, Einführung, in: Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Ein-
zelhandels e. V. (Hrsg.), Strukturentwicklung und Konzentration im Einzelhandel. Dokumentation eines BAG-Fachgesprächs. Köln 1987, 5–11, hier 10f.
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lere Händler in Ostdeutschland legten ihren Sortimentsschwerpunkt stärker auf Lebensmittel beziehungsweise Waren des Grundbedarfs. 31 Die Anpassung an die Konkurrenz westdeutscher Handelsketten, zum Beispiel durch eine Spezialisierung auf besondere Sortimente, Qualitätswaren und Dienstleistungen, stieß auf mehrere Hindernisse: Es fehlte sowohl an der Nachfrage nach entsprechenden Gütern als auch an geeigneten Standorten, derartige Konzepte zu erproben. Einkaufsmeilen, wie sie in Fußgängerzonen altbundesdeutscher Städte üblich waren, hatte es in der DDR kaum gegeben. 32
III. Die IHKn als externe Experten im Rahmen der kommunalen Bauleitplanung Mit dem Einigungsvertrag wurde ein Großteil des bundesdeutschen Verwaltungsrechts sowie der dazugehörigen Verfahrensbestimmungen auf die entstehenden neuen Länder übertragen. 33 Dies galt auch für das Städtebaurecht, das bau- und raumplanungsrechtliche Normen umfasste und dazu dienen sollte, städtebauliche Fehlentwicklungen zu verhindern. 34 Das Städtebaurecht hatte zunächst allerdings provisorischen Charakter, vor allem, da es an landesgesetzlichen Bestimmungen fehlte, insbesondere an Landesentwicklungsplänen, die raumordnungspolitische Ziele definierten. 35 Da diese Voraussetzung zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung
31 Albrecht Krockow, Branchen, Standorte und Verkaufsfläche im Einzelhandel, in: Wirtschaft und Statistik 3/1996, 156–165, hier 161f. 32 Von der „Kommerzialisierung“, derer man westdeutsche Städte zieh, hatte sich die sozialistische Stadtplanung überdies möglichst distanziert. Beispiele sozialistischer Flaniermeilen waren selten geblieben; Hartmut Häußermann, Stadtentwicklung in Ostdeutschland, in: Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Die Städte in den 90er Jahren. Demographische, ökonomische und soziale Entwicklungen. Wiesbaden 1997, 91–108, hier 92ff.; ders., Von der Stadt im Sozialismus zur Stadt im Kapitalismus, in: ders./Rainer Neef (Hrsg.), Stadtentwicklung in Ostdeutschland. Soziale und räumliche Tendenzen. Opladen 1996, 5–48, hier 11ff. 33 Vgl. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München 2009, 293ff. 34 Michael Brenner, Öffentliches Baurecht. 4.Aufl. Heidelberg 2014, 9; Sabine Lorenz/Kai Wegrich/Hellmut Wollmann, Kommunale Rechtsanwendung im Umbruch und Wandel. Implementation des Städtebaurechts in Ost- und Westdeutschland. Wiesbaden 2000, 46–62. 35 Rainer Winkel, Der Zauber des Neuanfangs. Ideen und Konzepte 1990/91, in: Thomas Weith/Christian Strauß (Hrsg.), „Im Plan oder ohne Plan?“. Raumplanung in (Ost-)Deutschland seit 1989/90. Münster/New York 2017, 21–34, hier 30.
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noch nicht gegeben war, sollte sich die kommunale Bautätigkeit gemäß dem Einigungsvertrag an den allgemeinen Grundsätzen des Raumordnungsgesetzes des Bundes (ROG) orientieren. Für Städte und Gemeinden schrieb das Baugesetzbuch (BauGB) die Bauleitplanung als Planungsinstrument vor. Als Genehmigungsbehörden fungierten untere Bauaufsichtsämter, die Teil der Kreisverwaltungen waren. 36 Kommunen, die Baugebiete planten, waren im Rahmen der Bauleitplanung verpflichtet, Träger öffentlicher Belange zu beteiligen, die von den Folgen etwaiger Ansiedlungen betroffen waren. 37 Die Aufgabe, gesamtwirtschaftliche Interessen aufzuzeigen, kam im bundesdeutschen Verwaltungsgefüge den IHKn zu. Als die deutsche Einheit am 3.Oktober 1990 in Kraft trat, existierten in Ostdeutschland bereits vierzehn IHKn, die sich mit Blick auf ihr Aufgabenverständnis eng an den westdeutschen Kammern orientierten und auch dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT), dem Dachverband der Kammern, schon beigetreten waren. 38 Die Entstehung der ostdeutschen Kammern ging auf das Engagement von Gewerbetreibenden zurück, die im Herbst 1989 nicht nur gegen Fehlentwicklungen der sozialistischen Planwirtschaft protestiert hatten, sondern dies auch mit einer Kritik am bevormundenden SED-Regime und am Kammersystem der DDR verbanden. 39 Die ostdeutschen IHKn entstanden parallel zur Einführung der Gewerbefreiheit sowie der Wiederherstellung der kommunalen Selbstverwaltung in der DDR. Vor diesem Hintergrund besaßen die IHKn – im Rahmen einer integrativen Grundausrichtung – eine relative Nähe zu den Problemlagen ostdeutscher Kleinunternehmer. Die Wiedervereinigung konfrontierte die IHKn schlagartig mit hohen Anforderungen. Die Territorialplanung der DDR war mit dem bundesdeutschen Planungsrecht kaum vergleichbar gewesen. 40 Allerdings erhielten die ostdeutschen Kammern frühzeitig umfassende personelle und ideelle Unterstützung, um sich zu pro-
36
Die Aufgabe der Bauaufsicht war in den ostdeutschen Kreisverwaltungen uneinheitlich organisiert.
Der Behördenaufbau orientierte sich anfangs stark am Vorbild jeweiliger westdeutscher Partnergemeinden; Lorenz/Wegrich/Wollmann, Rechtsanwendung (wie Anm.34), 63. 37
Ebd.37.
38
Zum Gründungsgeschehen: Jann Müller, Die Wiederbegründung der Industrie- und Handelskam-
mern in Ostdeutschland im Prozess der deutschen Wiedervereinigung. (VSWG, Beiheft 239.) Stuttgart 2017. 39
Die Handels- und Gewerbekammern der DDR hatten unter anderem dazu gedient, die Inhaber privater
Kleinbetriebe ideologisch anzuleiten. 40
Zur Territorialplanung in der DDR: Stephanie Reulen, Staatliche Institutionenbildung in Ostdeutsch-
land. Aufgaben, Interessen, Ideen. Wiesbaden 2004, 45f.
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fessionalisieren und der ihnen zugedachten Rolle gerecht werden zu können. Der Kenntnistransfer erfolgte zum einen über Qualifikationsmaßnahmen, die der DIHT für die Mitarbeiter in ostdeutschen IHKn organisierte. 41 Zum anderen übernahmen Kammern aus der alten Bundesrepublik sogenannte Patenschaften für ihre ostdeutschen Pendants. In diesem Rahmen sensibilisierten westdeutsche Experten ihre ostdeutschen Partner früh dafür, dass aus einer zu umfangreichen Ausweisung von Handelsflächen zukünftige Probleme für die räumliche Entwicklung erwachsen könnten. Da die Kenntnis des grundlegenden Verfahrens, der kommunalen Bauleitplanung, generell kaum vorhanden war, wurde sogar ein Leitfaden entwickelt, der sich an Anwender aus unterschiedlichen Behörden wandte. 42 Mit Blick auf den darauffolgenden Ausbau großflächiger Handelsstandorte wirft dies die Frage auf, warum das Steuerungsverfahren in Form gesetzlicher Bauvorschriften sowie Schulungen im entsprechenden Anwendungswissen nicht genügten, um die Handelstransformation besser zu steuern und gesamtgewerbliche beziehungsweise standortpolitische Erwägungen stärker zur Geltung zu bringen. Ein Defizit an fachlicher Expertise erscheint als durchaus plausible Erklärung, da die kommunalen Gebietsstrukturen in Ostdeutschland sehr kleinteilig waren 43: Auf vierzehn IHKn kamen 7653 Gemeinden in 189 Landkreisen beziehungsweise 27 kreisfreien Städten. Bis 1994 hatten 80 Prozent der ostdeutschen Gemeinden weniger als 5000 Einwohner, knapp 40 Prozent sogar unter 500. 44 Kompetenzdefizite sowie Rechtsanwendungsfehler schienen angesichts dieser Umstände erklärbar, ebenso eine Anfälligkeit für eine vielfach beklagte Geschäftemacherei unseriöser Investoren sowie dubioser externer Berater. 45 In der Frühphase der Wiedervereinigung 41 Müller, Wiederbegründung (wie Anm.38), 116. 42 Ralf Jahn/Alexander Zöller, Gewerbeflächenausweisung und kommunale Bauleitplanung in den neuen Bundesländern. (Schriften zur öffentlichen Verwaltung, Bd.34.) 2.Aufl. Köln 1991. 43 Auch auf kommunaler Ebene gab es Kooperationen, die das Ziel hatten, ostdeutschen Planungsbehörden Kompetenzen auf dem Gebiet der Raumplanung zu vermitteln – allerdings ohne durchschlagenden Erfolg; Winkel, Zauber (wie Anm.35), 31f.; Lorenz/Wegrich/Wollmann, Rechtsanwendung (wie Anm.34), 89f. 44 Häußermann, Stadt im Sozialismus (wie Anm.32), 21f. Zur Entwicklung der kommunalen Verwaltungsstrukturen in den neuen Bundesländern vgl. Hellmut Wollmann, Transformation der ostdeutschen Kommunalstrukturen. Rezeption, Eigenentwicklung, Innovation, in: ders./Hans-Ulrich Derlien/Klaus König u.a., Transformation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland. (Beiträge zu den Berichten zum sozialen und politischen Wandel in Ostdeutschland, Bd. 3/1.) Opladen 1997, 259–327, hier 260f. 45 Häußermann, Stadt im Sozialismus (wie Anm.32), 21f.
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blieb das neue Städtebaurecht oft wirkungslos, auch weil Aufsichtsbehörden und Gerichte im Nachhinein nur die gröbsten Verfahrensverstöße unterbanden beziehungsweise ahndeten. 46 Die Gründe für diesen Umstand waren indessen nicht allein Wissenslücken in Bezug auf Normen und Verfahren: Das Städtebaurecht „versickerte“ nicht zuletzt, weil es auf kommunaler Ebene bewusst missachtet beziehungsweise umgangen wurde. 47 Im Raum Leipzig waren zum Beispiel 70 Prozent aller bis 1993 errichteten Handelsflächen vor dem 3.Oktober 1990 genehmigt worden – Trägern öffentlicher Belange, zum Beispiel den IHKn, war damit jedwede Grundlage entzogen, Einwände im Rahmen formaler Planungsverfahren darzulegen. 48 Das Verwaltungshandeln ostdeutscher Kommunen war während der Wiedervereinigung durch eine spezifische Kultur geprägt, in der formale Regeln gegenüber einer Orientierung an Klientelen nachrangig erschienen. 49 Für die IHKn erwies sich dies als misslich: Als neue Institutionen mussten sie ihre Relevanz erst demonstrieren; erfolgreich waren sie darin meist dann, wenn sie mit lokalen Verwaltungen, Fachverbänden sowie mit den jeweiligen Landesregierungen stabile Kooperationsbeziehungen beziehungsweise Koalitionen bildeten. 50 In den neuen Bundesländern standen die Kammern vor der Herausforderung, eine entsprechende Zusammenarbeit erst etablieren zu müssen. Im Hinblick auf die Transformation des Einzelhandels bedeutete dies, dass das bundesdeutsche Städtebaurecht während der „heißen“ Phase 1990/91, als ein großer Teil der strittigen Ansiedlungsentscheidungen zugunsten großflächiger Standorte getroffen wurde, die ihm zugedachte Wirkung kaum entfaltete. Kritiker bemängeln bisweilen, dass die Rechtsübertragung im Zuge der Wiedervereinigung unvollständig gewesen sei, was es Antragstellern erleichtert habe, Baugenehmigungen zu erhalten, während die Möglichkeiten der Kommunen beschränkt worden seien, unerwünschte Investoren abzuweisen. 51 Hierbei wird dar46
Lorenz/Wegrich/Wollmann, Rechtsanwendung (wie Anm.34), 148ff.
47
Ebd.148ff.; Sabine Kuhlmann, Rechtsstaatliches Verwaltungshandeln in Ostdeutschland. Eine Studie
zum Gesetzesvollzug in der lokalen Bauverwaltung. Opladen 2003, 102. 48
den Hartog-Niemann/Boesler, Einzelhandelsstandorte, (wie Anm. 22), 295.
49
Kuhlmann, Verwaltungshandeln (wie Anm.47), 313f.
50
So die Ergebnisse für das alte Bundesgebiet; Boris Gehlen, Die Industrie- und Handelskammern im
Netzwerk der Kooperation von Wirtschaft und Staat, in: Hans Günter Hockerts/Günther Schulz (Hrsg.), Der „Rheinische Kapitalismus“ in der Ära Adenauer. (Rhöndorfer Gespräche, 26.) Paderborn 2016, 51–74, hier 64ff. 51
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Jacobsen, Expansion (wie Anm.4), 324; dies., Umbruch (wie Anm.20), 195.
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auf verwiesen, dass sich der Vollzug des Planungsrechts verbesserte, nachdem die ostdeutschen Länder Landesentwicklungspläne erlassen hatten und versuchten, aktiv auf die städtebauliche Entwicklung einzuwirken. Untersuchungen des kommunalen Rechtsvollzugs zeigen andererseits, dass eine lückenlose Übertragung des bundesdeutschen Städtebaurechts zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung nicht nur unter dem Blickwinkel der Machbarkeit, sondern auch in Bezug auf die kulturellen Dispositionen des Verwaltungspersonals weder erfolgversprechend noch problemgerecht war. 52 Die IHKn gewannen als Experten des wirtschaftlichen Gesamtinteresses zunächst nur wenig Einfluss auf die Handelstransformation, da sie auf eine zerklüftete Konstellation partikularer Interessen stießen. Übergeordnete Belange aufzuzeigen und auf Planungsverfahren zu insistieren, verfehlte nicht zuletzt vor diesem Hintergrund seine Wirkung. Insbesondere bei Vertretern von Umlandgemeinden großer und mittlerer Städte stießen externe Einwände gegen Flächenausweisungen auf taube Ohren. Die handelnden Lokalpolitiker standen unter öffentlichem Erwartungsdruck, die neuen Gewerbegebiete zu füllen und Arbeitsplätze zu schaffen. 53 Auch die IHKn wandten sich daher vermehrt an die allgemeine politische Öffentlichkeit, um vor den Gefahren des ungesteuerten Ausbaus großflächiger Handelsstandorte zu warnen, so zum Beispiel Ende 1992 in einem Positionspapier des Dachverbands DIHT, indem die Kammerorganisation forderte, die Multifunktionalität ostdeut-
scher Städte zu erhalten und eine Ansiedlung weiterer nicht-integrierter Einzelhandelszentren auf der „grünen Wiese“ zu untersagen. 54 Weitere Forderungen lauteten, das Planungsrecht strikter zu handhaben, mehr Gewerbeflächen in den Innenstädten zu schaffen und diese verkehrstechnisch besser zu erschließen. Außerdem traten die Kammern dafür ein, bei der Privatisierung von Handelsobjekten deren Mieter zu bevorzugen. Um 1994 galt der Handelssektor als Beispiel einer missglückten Transformation, die irreversible Fehlentwicklungen hervorgebracht habe. 55 Als sichtbares Zeichen
52 Kuhlmann, Verwaltungshandeln (wie Anm.47), 312. 53 Huck, Strukturwandel (wie Anm.25), 45. 54 Deutscher Industrie- und Handelstag, Neue Bundesländer: Handelsstandort Stadt in akuter Gefahr – notwendige nichtfinanzielle Maßnahmen. Positionspapier. Bonn 1992. 55 Eberhard von Einem/Martin Gornig/Christian Diller, Revitalisierung der Innenstädte Ostdeutschlands. Untersuchung im Auftrag des Deutschen Seminars für Städtebau und Wirtschaft Bonn. (DSSW-Schriften, 19.) Bonn 1995, 53ff.
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galt der Zustand der Städte, deren Zentren unsaniert geblieben waren. Während es 1990/91 ungeklärte Eigentumsverhältnisse gewesen waren, die Investoren abgeschreckt hatten, schien dies nunmehr durch einen Überhang an Handelsflächen zu geschehen, die im suburbanen Umland errichtet worden waren. Die dortigen Einkaufszentren entzogen den Stadtzentren im großen Umfang Kaufkraft. 56 Weiterhin fehlte es an kleinen und mittleren Handelsunternehmen, die als Träger der innerstädtischen Sanierung beziehungsweise als Mieter sanierter Immobilien in Frage kamen. Mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sowie dem Einigungsvertrag waren die maßgeblichen Bedingungen gesetzt worden, unter denen sich die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Ostdeutschland vollzog. Dieser zentralisierten Transformation „von oben“ hat der Politikwissenschaftler Gerhard Lehmbruch sekundäre Rationalitätsdefizite im Sinne nicht-intendierter Folgen vorgeworfen. 57 Die Übertragung des Planungsrechts der Bundesrepublik auf das Beitrittsgebiet kann insofern als Beispiel hierfür gelten, als es sich als untauglich erwies, die räumliche Entwicklungsdynamik zu steuern, die vor allem im Einzelhandel eingesetzt hatte.
IV. Externe Experten als Impulsgeber und Initiatoren lokaler Kompetenznetzwerke Die ostdeutschen Landesregierungen nahmen die Suburbanisierung des Einzelhandels früh als Problem wahr. Es dauerte allerdings bis 1992, ehe Raumordnungsgesetze verabschiedet wurden und das Städtebaurecht auch seitens der kommunalen Anwender sowie in den Aufsichtsbehörden stärkere Beachtung fand. 58 Dies bedeutete nicht, dass es von diesem Zeitpunkt an keine strittigen Ansiedlungspläne für neue Handelsstandorte mehr gab, die etwa dem raumordnerischen Grundsatz 56
Helmut Bunge/Rolf Spannagel, Standorte im Wettbewerb – Revitalisierung oder Auszehrung der Innen-
städte, in: Lachner/Nassua/Spannagel (Hrsg.), Entwicklung des Handels (wie Anm.14), 35–55, hier 44ff. 57
Gerhard Lehmbruch, Die ostdeutsche Transformation als Strategie des Institutionentransfers: Überprü-
fung und Antikritik, in: Andreas Eisen/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Institutionenbildung in Ostdeutschland. Zwischen externer Steuerung und Eigendynamik. (KSPW-Transformationsprozesse, 14.) Opladen 1996, 63–78; Gerhard Lehmbruch, Institutionentransfer im Prozess der Vereinigung. Zur politischen Logik der Verwaltungsintegration in Deutschland, in: Wolfgang Seibel/Arthur Benz/Heinrich Mäding (Hrsg.), Verwaltungsreform und Verwaltungspolitik im Prozeß der deutschen Einigung. Baden-Baden 1993, 41–66. 58
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Winkel, Zauber (wie Anm.35), 31; Lorenz/Wegrich/Wollmann, Rechtsanwendung (wie Anm.34), 153ff.
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der „zentralen Orte“ 59 zuwiderliefen. 60 Den IHKn gelang es aber zunehmend, Spielräume zu nutzen, die sich ihnen innerhalb formaler Befugnisse boten – und auf diesem Wege als Experten beachtet zu werden. Dies geschah unter anderem durch Beschwerden und Klagen gegen mangelhafte Entscheidungsprozesse und Bescheide, nicht selten im Verbund mit angrenzenden Kommunen, deren gewerbliche Entwicklung durch fragwürdige Bebauungspläne in Frage gestellt wurde. 61 Durch die striktere Anwendung von Verfahrensregeln ließen sich zahlreiche Bauvorhaben nachträglich verkleinern und in einigen Fällen verhindern. 62 Die Ergebnisse der ersten Transformationsphase ließen sich trotzdem nicht mehr revidieren. Das Ausmaß der 1990/91 erteilten Baugenehmigungen genügte nach Einschätzung einiger Beobachter, um den Ausbau großflächiger Einzelhandelsstandorte in Ostdeutschland bis zur Jahrtausendwende fortzusetzen. 63 Auch ohne diesen weiteren Ausbau schienen die Aussichten auf eine Belebung des Innenstadthandels sowie den Aufbau einer mittelständischen Einzelhandelsstruktur schlecht: Einkaufszentren auf der „grünen Wiese“ entzogen nahegelegenen Innenstädten nicht nur Kaufkraft. Mit ihnen verlagerten sich auch die Unternehmensgründungen in suburbane Standorte, indem Fachhändler sowie Friseur-, Nahrungsmittelund Reparaturhandwerker dort dringend benötigte Gewerbeflächen zu günstigen Mietkonditionen vorfanden. 64 Nichtsdestoweniger galt die Suburbanisierung als wachsendes Problem, auch im Hinblick auf die strukturelle Entwicklung des Einzelhandels. Als die Karstadt AG sich 1993 aus Brandenburg an der Havel zurückzog, wo das Unternehmen zuvor ein ehemaliges „Magnet“-Warenhaus übernommen hatte, wurde dies als Krisenphänomen wahrgenommen. 65 In diesen Kontext fiel, dass die
59 Das auch als „zentralörtliches System“ bezeichnete Prinzip geht auf den Geographen Walter Christaller (1893–1969) zurück und dient in der Raumplanung unter anderem dazu, Orte als Grund-, Mittel- beziehungsweise Oberzentren zu klassifizieren. Die neuen Bundesländer übernahmen entsprechende Grundsätze in ihre Gesetze zur Landesplanung, die sie zwischen 1991 und 1992 verabschiedeten. 60 Beispiele bei: Huck, Strukturwandel (wie Anm.25), 47. 61 Müller, Wiederbegründung (wie Anm.38), 158. 62 Im Regierungsbezirk Leipzig konnte die genehmigte Handelsfläche so von ursprünglich mehr als 2000000 qm, die beantragt worden waren, auf 750000 qm reduziert werden; Peter Franz/Raimar Richert/ Manfred Weilepp, Suburbanisierung von Handel und Gewerbe – Auswirkungen auf die Innenstädte und Maßnahmen zur Gegensteuerung, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 36, 1997, 48–72, hier 63. 63 von Einem/Gornig/Diller, Revitalisierung (wie Anm.55), 54. 64 Bunge/Spannagel, Standorte (wie Anm.56), 47. 65 Ebd.45.
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Bundesregierung zeitgleich eine Neufassung des Investitionszulagengesetzes beschloss, die den ostdeutschen Einzelhandel fortan von der Förderung ausnahm; Projekte, die vor Inkrafttreten der Änderung realisiert worden waren – zumeist galt dies für nicht-integrierte Einkaufszentren –, hatten somit von den alten Förderkriterien profitiert, während Investoren in innerstädtischen Lagen nun ohne Zulagen kalkulieren mussten. 66 Der Haushaltsausschuss des deutschen Bundestages begründete die Änderungen im Investitionszulagengesetz unter anderem damit, dass sich der Handel in Ostdeutschland im Zuge der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion günstig entwickelt habe. 67 Ostdeutsche Kommunalvertreter sowie die Geschäftsleitung der Kaufhof Warenhaus AG unternahmen kurz darauf, unabhängig voneinander, jeweils Vorstöße im Bundeswirtschaftsministerium, um die Regierungsvertreter dazu zu bewegen, ihre Auffassung in Bezug auf die Transformation des ostdeutschen Einzelhandels zu revidieren. Sie forderten politische Maßnahmen, um die wirtschaftlichen Grundlagen für eine Sanierung der ostdeutschen Innenstädte zu verbessern. 68 Die Warenhaus-Unternehmen hatten ebenfalls hohe Erwartungen in eine Expansion nach Ostdeutschland gesetzt, waren dabei aber von anderen Voraussetzungen ausgegangen als Discount- und Verbrauchermärkte. 69 Hierzu zählte, dass Warenhäuser üblicherweise belebte innerstädtische Standorte wählten und daher eigenständige Positionen in Bezug auf Fragen der Stadtentwicklung vertraten. Die Vorstöße der Kommunalvertreter sowie der Kaufhof Warenhaus AG mündeten in Gespräche, die vom Wirtschaftsministerium aus unter anderem mit den Spitzenverbänden des Einzelhandels, dem DIHT, der ostdeutschen Sparkassenorganisation sowie den kommunalen Spitzenverbänden geführt wurden. Hieraus entstand das Deutsche Seminar für Städtebau und Wirtschaft (DSSW), das als Kompetenzzentrum für die „Revitalisierung der ostdeutschen Innenstädte“ wirken sollte und
66
Bekanntmachung der Neufassung des Investitionszulagengesetzes 1993. Vom 23.September 1993, in:
Bundesgesetzblatt, Teil 1, 1993, 1650–1653. 67
Im Zuge der Neufassung des Investitionszulagengesetzes von 1993 wurden Handelsunternehmen mit
dieser Begründung von der Förderung ausgeschlossen; Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 12/126, 10869. 68
Diese Information erhielt der Verfasser aus einem Zeitzeugengespräch mit dem Geschäftsführer des
DSSW, Herrn Arnulf Marquardt-Kuron, am 14.August 2018.
69
Annette Grinôt, Engagement der führenden westdeutschen Warenhausunternehmen, in: Lachner/
Nassua/Spannagel (Hrsg.), Entwicklung des Handels (wie Anm.14), 245–264; Jacobsen, Umbruch (wie Anm.20), 53ff.
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räumlich in Bonn angesiedelt wurde. 70 Den Großteil der finanziellen Mittel stellte das Bundeswirtschaftsministerium bereit; organisatorisch erfolgte die Gründung unter dem Dach des Deutschen Verbands für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V., der dem Bundesbauministerium als halbformelles Expertengremium zuarbeitete. Die institutionelle Anbindung sowie die Beteiligung des Bauministeriums unterstrichen den ressortübergreifenden Anspruch des Kompetenzzentrums. Als Leistungsspektrum wurden drei Schwerpunkte definiert: Das DSSW sollte Forschungsaufträge vergeben, lokale beziehungsweise regionale Akteure beraten sowie den Austausch von Verwaltungen, Interessengruppen und der Wirtschaft verbessern. 71 Das DSSW wirkte auf Grundlage von Problemanalysen und fokussierte seine Tätigkeit auf Projekte zum Knowhow-Transfer. Hierzu waren die Experten auf Kooperationen mit lokalen beziehungsweise regionalen Multiplikatoren angewiesen, da das Kompetenzzentrum selbst nur über eine schlanke Organisationsstruktur mit wenigen festen Mitarbeitern verfügte. Zu den Veranstaltungsformaten des DSSW zählten themenzentrierte Expertengespräche, Diskussionsforen und Workshops, bei denen stets ein möglichst großer Kreis an Interessenten eingebunden wurde, vorrangig Handelnde und Betroffene, zum Beispiel kommunale Verwaltungen, Unternehmen, Verbände, Kammern und sonstige Vereinigungen. Die Themenwahl wurde von konkreten Bedürfnissen und lokalen Besonderheiten bestimmt, beispielsweise Fragen des Denkmalschutzes, der Gewerbeentwicklung in Neubaugebieten, des Managements gewerblicher Leerstände, der Umnutzung stillgelegter Bahnanlagen, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Grenzgebiet usw. 72 Als besonders wirksames Mittel des Knowhow-Transfers erwiesen sich Pilotprojekte, in denen Lösungskonzepte über einen längeren Zeitraum vor Ort diskutiert und erprobt wurden. 73 Auf eine große Nachfrage stieß das Konzept des Stadtmarketings. Erste Feldversuche waren im alten Bundesgebiet in den 1980er Jahren unternommen worden, um räumliche Entwicklungsprobleme zu adressieren, die im Zusammenhang standen mit nachlassendem Wachstum, einer zunehmenden Handelssuburbanisierung sowie einer schwindenden Anziehungs70 Deutscher Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V., Jahresbericht 1995/96. Berichtsstand April 1996. Bonn 1996, 21f. 71 Ebd. 72
URL: http://www.deutscher-verband.org/fileadmin/user_upload/documents/DV_Verbandsarbeit/
DSSW/Literaturliste_DSSW.pdf (aufgerufen am 11.9.2018).
73 Regionomica, Evaluierung DSSW-Projekt „Revitalisierung ostdeutscher Innenstädte“. Berlin 2001, 12.
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kraft kleiner und mittlerer Städte. 74 Gleichwohl blieb das Interesse am Stadtmarketing außerhalb von Fachkreisen der anwendungsorientierten Raumforschung lange Zeit überschaubar. Stadtmarketing zielte auf die Definition von Leitbildern, in deren Erarbeitung ein möglichst großer Kreis lokaler und regionaler Akteure einbezogen werden sollte. 75 Eine verbesserte Profilierung nach außen, zum Beispiel in Form eines griffigen Werbeslogans, war lediglich ein Teilaspekt. Vorrangig dienten Stadtmarketingprojekte dazu, um nach innen zu wirken. Neben der lokalen beziehungsweise regionalen Identitätsbildung zählte die Vernetzung der beteiligten Akteure zu den wichtigsten Elementen und diente dazu, den Austausch über die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen zu verbessern. Von 1994 an führte das DSSW jährlich ca. zwanzig entsprechende Projekte in den neuen Bundesländern durch. Eine Initialwirkung wurde hiermit zum Beispiel im Regierungsbezirk Chemnitz entfacht, wo fünf dieser Stadtmarketingprojekte unter Beteiligung von Kommunalvertretern, ortsansässigen Unternehmen, Gewerbevereinen und der IHK durchgeführt wurden. 76 Im Umfeld der IHK Südwestsachsen sowie mit deren logistischer Unterstützung bildete sich hier-
aufhin der „DSSW-Initiativkreis Südwestsachsen“, der die Arbeitskontakte, die im Rahmen der Pilotprojekte zwischen der Kammer, Kommunalvertretern sowie Unternehmern entstanden waren, auf regionaler Ebene fortführte. 77 1995 veranstaltete der Initiativkreis eine Forumsveranstaltung in Chemnitz, auf der sich weitere Vertreter von Politik, Verwaltung und Unternehmen zum Thema „Revitalisierung der Städte in Südwestsachsen“ austauschten. Unter Beteiligung des DSSW gab der Initiativkreis zudem eine Analyse der regionalen Entwicklungspotentiale in Auftrag. 78
74
Busso Grabow/Beate Hollbach-Grömig, Stadtmarketing – eine kritische Zwischenbilanz. (Difu-Beiträge
zur Stadtforschung, 25.) Berlin 1998, 9ff. 75
Regina Bruksch, Erfahrungen aus vier Modellprojekten zum Stadtmarketing in Städten von Sachsen-
Anhalt. Eine Studie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Lehrstuhl für Marketing. (DSSWSchriften, 10.) Bonn 1994, 1–5. 76
Industrie- und Handelskammer Südwestsachsen Chemnitz-Plauen-Zwickau, Jahresbericht 1994. Chemnitz
1995, 22. 77
Deutscher Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V. (Hrsg.), Jahresbericht 1996/97.
Berichtsstand April 1997. Bonn 1997, 18; Industrie- und Handelskammer Südwestsachsen Chemnitz-Plauen-Zwickau, Jahresbericht 1995. Chemnitz 1996, 24. 78
Peter Jurczek/Jörg Koopmann, Wirtschaftliche und soziale Grunddaten für die Revitalisierung der Städ-
te und die regionale Entwicklung in Südwestsachsen. Teil I: Bestandsaufnahme. (Beiträge zur Kommunalund Regionalentwicklung, 22.) Chemnitz 1996; dies., Wirtschaftliche und soziale Grunddaten für die Revi-
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Die Studie hob hervor, dass die Wirtschaftsförderung transparenter zu gestalten sei und Beratungsangebote stärker gebündelt werden sollten. 79 Vor allem wurde die Institutionalisierung eines Regionalmanagements angeregt, das durch den Verein „Südwestsachsen e. V.“ getragen werden sollte, der unter Federführung des Regierungspräsidiums Chemnitz sowie mit Beteiligung von Verbänden, Kammern, Kommunen sowie Hochschulen gegründet worden war. 80 Ergänzend regte die Studie an, in der IHK eine Abteilung zur laufenden Raumbeobachtung einzurichten, die regionsbezogene Daten sammeln und aufbereiten sollte, um weitere Vermarktungsmaßnahmen unterstützen zu können. Die Projekte des DSSW waren befristet und zielten auf lokale Kompetenzentwicklung. Eine Erfolgsmessung jenseits von Initiationseffekten fällt allerdings schwer und nimmt womöglich ungerechtfertigte Zuschreibungen vor. 81 Das DSSW richtete sich nicht unmittelbar an KMU, sondern an Verwaltungen sowie intermediäre Akteure wie Kammern und Verbände. In Südwestsachsen, wo vom DSSW eine offenkundige Initiationswirkung für die regionale Vernetzung ausging, trug indessen die verbesserte Zusammenarbeit zwischen der IHK, Unternehmern, kommunalen Verwaltungen und Politikern nachweislich Früchte: Auf Drängen des Netzwerks wurde der innerstädtische Einzelhandel von 1996 an wieder in die Investitionsförderung des Bundes einbezogen. 82 Verallgemeinerbare Aussagen zur Wirksamkeit des Stadtmarketings stehen unterdessen vor dem Problem eines fehlenden Vergleichsmaßstabs. Nach der ersten Phase der marktwirtschaftlichen Transformation in Ostdeutschland standen zahlreiche Stadt- beziehungsweise Ortszentren vor einer Problemkonstellation, die vom Flächenüberhang in suburbanen Lagen, stagnierenden Einkommen sowie sinkenden Bevölkerungszahlen gekennzeichnet war. Das Standortmarketing anhand von Leitbildern gewann an Bedeutung, weil das formale Planungsrecht als Ordnungsmechanismus im Kontext der Transformation an
talisierung der Städte und die regionale Entwicklung in Südwestsachsen. Teil II: Entwicklungsziele, Bewertung, Handlungsbedarf. (Beiträge zur Kommunal- und Regionalentwicklung, 23.) Chemnitz 1996. 79 Für diesen Bedarf erschien auch die DSSW-Arbeitshilfe „Förderfibel für den Innenstadthandel“, die 1996 erschien; Deutsches Seminar für Städtebau und Wirtschaft (Hrsg.), Förderfibel für den Innenstadthandel. DSSW-Arbeitshilfe. (DSSW-Schriften, 22.) Bonn 1996.
80 Jurczek/Koopmann, Grunddaten, Teil II (wie Anm.78), 158. 81 Dietrich Henckel/Ricarda Pätzold, Evaluation des Programms zur Revitalisierung ostdeutscher Innenstädte – DSSW. Endbericht. (DSSW-Materialien.) Berlin 2006, 53f. 82 Industrie- und Handelskammer Südwestsachsen Chemnitz-Plauen-Zwickau, Jahresbericht 1995, 23.
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seine Grenzen stieß. Dass der Begriff des Marketings namentliche Anklänge an zentralistische Vorgaben vermied, zählte in der postsozialistischen Transformationsund Umbruchsgesellschaft zu den Vorteilen dieses Ansatzes. Erfolge verbuchte das DSSW in Form zahlreicher Anfragen, die ein großes Interesse an den aufgezeigten Lösungskonzepten dokumentierten. 83 Inwiefern Maßnahmen des Knowhow-Transfers langfristige Wirkungen zeigten, hing unterdessen erheblich vom lokalen Engagement ab. Nicht in allen Fällen gelang es, die Impulse zu verstetigen, zum Beispiel in Form eines institutionalisierten Stadtmarketings. Diese Misserfolge ließen sich einerseits mit einer relativen Ressourcenknappheit erklären, unter der kleine und finanzschwache Kommunen in Ostdeutschland häufig litten. 84 Andererseits schien dies Kritikern recht zu geben, die bemängelten, dass Leitbilder als Planungsinstrumente in der Regel an eine Strategie des „Stärken Stärkens“ geknüpft waren und diese kaum geeignet seien, regionale Disparitäten einzuebnen – und zum Beispiel das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse zu realisieren. 85 Demnach folge eine leitbildorientierte Raumentwicklung in erster Linie ökonomischen Logiken. Ein ohnehin bestehender Trend zur Zentralisierung wirtschaftlicher Aktivitäten in Metropolregionen, vor allem in Großstadtzentren, werde daher tendenziell verstärkt statt abgefedert. 86 Tatsächlich erlebte Leipzig, das in den frühen 1990er Jahren als besonders drastischer Fall für die Suburbanisierung des Handels galt, nach der Jahrtausendwende eine rasche und nachhaltige Reurbanisierung. 87 Mittelstädte prägen die Siedlungsgeographie Ostdeutschlands unterdessen weit stärker als Großstädte. Chemnitz, ob-
83
Henckel/Pätzold, Evaluation (wie Anm.81), 41.
84
Ebd.22.
85
Jörg Knieling, Leitbilder und strategische Raumentwicklung. Planungstheoretische Einordnung und
Diskussion der neuen Leitbilder für die deutsche Raumentwicklung, in: Raumforschung und Raumordnung 64, 2006, 473–485, hier 481f. 86
Vgl. Martin Gornig/Marco Mundelius, Reurbanisierung und wissensbasierte Ökonomie, in: Klaus Bra-
ke/Günther Herfert (Hrsg.), Reurbanisierung. Materialität und Diskurs in Deutschland. Wiesbaden 2012, 130–150. 87
Bereits in den 1990er Jahren waren Leipzig trotz des hohen Grads der Handelssuburbanisierung ver-
gleichsweise gute Chancen zur Reurbanisierung attestiert worden. Schon frühzeitig hatte eine intensive Leitbilddebatte unter den Akteuren der Stadtgesellschaft eingesetzt; Annett Steinführer/Annegret Haase/Sigrun Kabisch, Leipzig – Reurbanisierungsprozesse zwischen Planung und Realität, in: Manfred Kühn/Heike Liebmann (Hrsg.), Regenerierung der Städte. Strategien der Politik und Planung im Schrumpfungskontext. Wiesbaden 2009, 176–194, hier 189ff.
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gleich zu den Großstädten zählend, durchlief insofern eine typischere Entwicklung. 88 Im Zentrum Südwestsachsens erfolgte die Wiederbelebung der Innenstadt unter weit schwierigeren Bedingungen als im benachbarten Leipzig. Die historische Altstadt war im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, weshalb die Chancen auf eine Reurbanisierung in den 1990er Jahren als wenig aussichtsreich galten. 89 Im ersten Anlauf hatte die Stadt überdies Rückschläge hinnehmen müssen, nachdem Ideenwettbewerbe zur Neugestaltung der Innenstadt in eine langwierige Entscheidungsfindung gemündet und potentielle Investoren abgesprungen waren. 90 Einen zweiten Anlauf unternahm die Stadt unter Einbindung der Methoden des Standortmarketings. Der 1997 gegründete Marketingverein wurde in die kommunale Stadtmarketing Chemnitz GmbH überführt, die 2002 schließlich in der CityManagement und Tourismus Chemnitz GmbH aufging. 91 Schon zuvor hatte die Stadt ihr Amt für Wirtschaftsförderung aufgelöst und die Aufgabe an die städtische Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH übertragen. Die Chemnitzer IHK führte in Zusammenarbeit mit einem privaten Marktforschungsinstitut 1999 einige Kundenbefragungen durch, um den Handlungsbedarf in der Stadtentwicklungspolitik weiter zu konkretisieren. 92 Die Chemnitzer Innenstadt verzeichnete 2002 nach einer langen Phase der Schrumpfung erstmals wieder Einwohnerzuwächse. 93 Während die Bevölkerung der Stadt bis 2011 insgesamt zurückging, wuchs das Zentrum somit zunächst auch zulasten des Umlands sowie der Randbezirke. Dieser Prozess kann auf eine erfolgreiche, breit angelegte stadtentwicklungspolitische Neuausrichtung zurückgeführt
88 Roland Fröhlich/Heike Liebmann, Zwischen Schrumpfung und Regenerierung – Entwicklungstypen ostdeutscher Mittelstädte, in: Kühn/Liebmann (Hrsg.), Regenerierung der Städte (wie Anm.87), 36–63, hier 53. 89 Jürgen Friedrichs, Die Entwicklung der Innenstädte: Chemnitz, Erfurt und Leipzig, in: Wendelin Strubelt/Joachim Genosko/Hans Bertram u.a., Städte und Regionen – Räumliche Folgen des Transformationsprozesses. (KSPW-Berichte, 5.) Opladen 1996, 357–408, hier 362. 90 Vera Denzer, Stadterneuerung und Revitalisierung. Strategien im innerstädtischen Restrukturierungsprozess am Beispiel sächsischer Großstädte, in: Jürgen Hasse (Hrsg.), Subjektivität in der Stadtforschung. Frankfurt am Main 2002, 245–276, hier 256. 91 Ebd. 92 IHK Südwestsachsen/MARWI, Kundenorientierung im Einzelhandel. Gemeinsame Studie der Gesellschaft für Markt- und Wirtschaftsforschung mbH (MARWI) und der IHK Südwestsachsen ChemnitzPlauen-Zwickau zur Situation der Chemnitzer Innenstadt. Berlin 1999. 93 Wiest, Reurbanisierung als Mainstream (wie Anm.9), 241.
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werden. 94 Sofern nach der Jahrtausendwende von einer „Renaissance der ostdeutschen Innenstädte“ 95 im Sinne einer erfolgreichen Re-Zentralisierung und Durchmischung städtischer Funktionen die Rede ist, so gilt dies uneingeschränkt allerdings nur für die Wohnnutzung sowie die Bereiche Kultur und Freizeit, während sich dies für den Einzelhandel lediglich bedingt konstatieren lässt. 96 Die Chemnitzer Innenstadt erhielt im Zuge ihrer Neugestaltung mit der Galerie „Roter Turm“ ein innerstädtisches Einkaufszentrum, das zu einer Belebung beitrug. 97 In Bezug auf die Fläche sowie die Zahl der ansässigen Betriebe blieben die Anteile der City am städtischen Einzelhandelsbestand gleichwohl auf einem niedrigen Niveau. 98
V. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die Transformation des ostdeutschen Einzelhandels vollzog sich in den frühen 1990er Jahren in hoher Geschwindigkeit. Hoffnungen, einen mittelständisch geprägten Innenstadthandel zu etablieren, wurden im Zuge dessen enttäuscht. Aufseiten ostdeutscher Händler lassen sich unternehmerische Defizite benennen, die zu den Gründen dafür zählen, weshalb trotz zahlreicher Neugründungen nur wenige dieser Betriebe überlebten. Neben einer Konzentration auf den wenig zukunftsträchtigen Handel mit Lebensmitteln schätzten Gründer nicht selten Standortkriterien falsch ein. 99 Unterdessen fehlte es in vielen ostdeutschen Städten an geeigneten Mietobjekten sowie an einer räumlichen Struktur, die eine qualitative Entwicklung des Einzelhandels beziehungsweise Standortverlagerungen einzelner Geschäfte
94
Beate Connert, Zukunft Chemnitz. StadtUmlandEntwicklung zwischen Wachstum und Schrumpfung,
in: Jahrbuch Stadterneuerung 2006/07, 65–82; Karin Grossmann, Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zum Wandel von Deutungsmustern in der Stadtentwicklung. Der Fall Chemnitz. Bielefeld 2007, 89f. 95
Gerd Hessert/Arndt Jenne, Zukunftsperspektiven des innerstädtischen Einzelhandels in ostdeutschen
Mittel- und Großstädten. Leipzig 2014, 13. 96
Ebd.17.
97
Tilo Richter, Chemnitz. Neue Bauten in der Stadtmitte 1990–2003. Ein Werkbericht. Leipzig 2003, 52–
55; Grossmann, Ende des Wachstumsparadigmas (wie Anm.94), 136. 98
Im Jahr 2014 ermittelten Hessert und Jenne, dass 18,3 Prozent aller Einzelhandelsbetriebe sowie 11,3
Prozent der Verkaufsflächen in der Stadt Chemnitz auf die Innenstadt entfielen; Hessert/Jenne, Zukunftsperspektiven (wie Anm.95), 74. 99
Rolf Spannagel, Entwicklung der kleinen und mittleren Unternehmen im Einzelhandel, in: Lachner/
Nassua/Spannagel (Hrsg.), Entwicklung des Handels (wie Anm.14), 199–220.
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überhaupt zuließ. Das bundesdeutsche Städtebaurecht, das eine Steuerung und nachhaltige Planung von Handelsansiedlungen hatte ermöglichen sollen, war mit dem Einigungsvertrag frühzeitig provisorisch auf die neuen Bundesländer übertragen worden. Gleichwohl war die erste Phase der Handelstransformation von einem massiven Aufbau neuer Einzelhandelsflächen geprägt, der zugunsten westdeutscher Handelsunternehmen überwiegend in suburbanen Standorten erfolgte und weitgehend ungeplant verlief. Rechtsnormen ließen sich zwar einfacher und schneller auf die neuen Bundesländer übertragen als das korrespondierende Anwendungswissen bei den ausführenden Verantwortlichen. Dass es an Sachkenntnis fehlte, erklärt allerdings nicht hinreichend, weshalb 1990/91 im großen Umfang Baugenehmigungen für nichtintegrierte Handelsstandorte erteilt wurden, die sich bald darauf als massives städtebauliches Problem erwiesen. Als Vertreter unternehmerischer Gesamtinteressen schlugen die IHKn frühzeitig Alarm, sowohl im Rahmen des Planungsrechts als auch öffentlich, und warnten vor negativen Folgen der kommunalen Planungs- und Genehmigungspraxis. In vielen Verwaltungen wurden die Planungsverfahren unterdessen missachtet, womit nicht nur das Städtebaurecht des Einigungsvertrags „versickerte“, sondern den Kammern auch die Anerkennung als Experten versagt blieb. Gravierender als die Lücken, die die provisorischen Bestimmungen des Einigungsvertrags auch in Bezug auf das Städtebaurecht zuließen, erwies sich zunächst die Verwaltungskultur in den neuen Bundesländern, die erheblich zur Suburbanisierung des Einzelhandels beitrug. IHKn wurden als externe Akteure häufig nicht in die Planung von Gewerbegebieten einbezogen und als Experten zunächst zu wenig anerkannt. 1993 wuchs der Druck auf die Bundesregierung, Maßnahmen zur Reurbanisierung der ostdeutschen Stadtzentren zu ergreifen, da die massive Suburbanisierung irreversibel zu werden drohte. Die Gründung des DSSW markierte einen Strategiewechsel im Transformationsregime. Als Kompetenzzentrum zielte das DSSW nicht auf einen Transfer westdeutscher Blaupausen, sondern arbeitete auf Grundlage von Vor-Ort-Analysen ostdeutscher Transformationsprobleme. Externe Expertise diente im Rahmen befristeter Projekte dazu, lokale Akteure zu vernetzen und den Aufbau eigener Kompetenzen zu fördern. Vor allem das Stadt- beziehungsweise Regionalmarketing stieß auf eine große Nachfrage und weckte Hoffnungen, die ostdeutschen Stadtzentren wiederbeleben zu können. Hiermit begann eine zweite Phase der Transformation von Stadt und Einzelhandel in Ostdeutschland. Die Rolle externer
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Experten bestand nun nicht mehr ausschließlich darin, Wissen für die formale Angleichung von Ost- und Westdeutschland bereitzustellen. An die Stelle der Erwartung, es komme zu einer autonom verlaufenden Konvergenz der Verhältnisse, wenn die formale Angleichung schnell vollendet sei, trat nun der Versuch, mithilfe von Expertenwissen innovative Lösungskonzepte für spezifisch ostdeutsche Problemlagen zu erarbeiten. Die Neuartigkeit dieses Ansatzes wurde unter anderem dadurch verdeutlicht, dass das DSSW in wachsendem Maße Anfragen aus dem alten Bundesgebiet erhielt und seine Tätigkeit nach der Jahrtausendwende vorübergehend auf Gesamtdeutschland ausweitete. 100 Auch in Westdeutschland standen mittelgroße Städte, vor allem in ländlichen Räumen, immer häufiger vor Problemen, die sich im Rahmen des planungsrechtlichen Instrumentariums nicht mehr bewältigen ließen. 101 Hierzu zählten Sättigungserscheinungen im Handel, mit denen der Wettbewerb in eine verstärkte Extension der bewirtschafteten Flächen übergegangen war. Außerdem konzentrierte sich die Wertschöpfung im Zuge der Tertiärisierung der Wirtschaft stärker auf Metropolregionen, was für ländliche Räume sowie für Klein- und Mittelstädte in abgelegenen Lagen mit Wanderungsverlusten und demographischen Überalterungserscheinungen einherging. Auch hier stellte sich die Frage, wie Ortszentren ihr Funktionsspektrum bei einer schrumpfenden Bevölkerung sowie einer zunehmenden Suburbanisierung von Handel und Dienstleistungen erhalten konnten. Im Zuge der Einführung der Marktwirtschaft in Ostdeutschland waren diese Probleme besonders drastisch hervorgetreten. Die Etablierung des Stadtmarketings in Ostdeutschland zählt zu den Erfolgen des DSSW, das im Rahmen zahlreicher Einzelprojekte Prozesse der Leitbilddefinition in-
itiierte. Leitbilder traten nicht an die Stelle herkömmlicher planungsrechtlicher Instrumente, ergänzten diese allerdings um informelle Austausch- und Abstimmungsprozesse und wirkten vorrangig nach innen. Hiermit schufen sie die mentalen Voraussetzungen für die Reurbanisierung, die sich nach der Jahrtausendwende
100 Henckel/Pätzold, Evaluation (wie Anm.81), 61. 101 Norbert Rehle, Leitbilder und Regionalentwicklung im gesellschaftlichen Umbruch – eine kritische Verortung, in: Burghard Rauschelbach/Peter M. Klecker (Hrsg.), Regionale Leitbilder – Vermarktung oder Ressourcensicherung? (Material zur angewandten Geographie, 47.) Bonn 1997, 47–53. Zur Geschichte der Raumplanung: Ariane Leendertz, Ordnung, Ausgleich, Harmonie. Koordinaten raumplanerischen Denkens in Deutschland 1920 bis 1970, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20.Jahrhundert. Bielefeld 2009, 129–152, hier 143ff.
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als Trend der Stadtentwicklung in den neuen Bundesländern durchsetzte. Dass sich die ostdeutschen Städte seither sehr unterschiedlich entwickelt haben, verdeutlicht, dass sich der Erfolg der externen Experten an allgemeinen Erwartungen – zum Beispiel einer Konvergenz von Ost und West – nur schwer bemessen lässt. 102
102 Manfred Kühn/Heike Liebmann, Prozesse und Strategien der Regenerierung – Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, in: Kühn/Liebmann (Hrsg.), Regenerierung der Städte (wie Anm.87), 334–347, hier 337.
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Internationale Experten in eigener Sache? Der Völkerbund und die Organisation der geistigen Zusammenarbeit in der Zwischenkriegszeit von Jonathan Voges
I. Einleitung In den frühen 1930er Jahren wandte sich das arg bedrängte China mit einer Anfrage an den Völkerbund. Um bildungs- und wissenschaftspolitisch an den internationalen Standard anschließen zu können, forderte die chinesische Regierung Unterstützung an. 1 Das Sekretariat des Völkerbunds vermittelte diese Anfrage an die Internationale Kommission für geistige Zusammenarbeit, die über das ihr zugehörige Institut in Paris eine Expertenkommission mit ausgewiesenen Fachleuten zusammenstellte, die selber keine Angehörigen einer Völkerbundinstitution, damit also „externe Experten“, waren. Diese sondierten zum einen die Lage in China, begleiteten zum zweiten chinesische Besucher bei einer Tour durch europäische Bildungseinrichtungen 2 und verfassten drittens am Ende ein Memorandum, wie dem chinesischen Bildungssystem der Anschluss an den Westen gelingen könnte. 3 Ge1 Vgl. Jürgen Osterhammel, „Technical Co-Operation“ between the League of Nations and China, in: Modern Asian Studies 13, 1979, 661–680, hier 665. 2 Das Ziel der Expertenexkursion war: „Perfectionner le système d’enseignement chinois et […] faciliter les échanges entre les centres intellectuels de la Chine et des pays étrangers.“ Geschickt wurden Carl Heinrich Becker (Deutschland), Paul Langevin (Frankreich), Marian Falski (Polen). Die Expertenkommission sprach mit Lehrern und Beamten, besuchte Universitäten und Volksschulen, schaute sich vor allem die technische Ausbildung an und führte ein längeres Gespräch mit dem Bildungsminister. Im Anschluss an den Besuch in China reisten chinesische Experten durch Bildungsinstitutionen in Europa (Polen, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Dänemark, Österreich). Vgl. L’année 1932 de la coopération intellectuelle, in: Société des Nations, Institut de Coopération Intellectuelle, 1932. Paris 1933, 13–143, hier 38 ff. 3 Henri Bonnet, der Direktor des Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit (Institut international de coopération intellectuelle, IICI) schrieb nach der Expertenreise an den amerikanischen Vertreter der Kommission: „I returned from China a few days ago after an extremely interesting but, as you may well guess, somewhat difficult visit. The mission of educationists which the League of Nations sent to that country was, I am glad to say, able to pursue its enquiry unhampered in those provinces of China where the first measures of reform could be introduced and was able to draw up an excellent report which shall
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-009
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gen den erklärten Willen Japans, das zeitgleich daran ging, aus Anlass der Mandschurai-Frage gegen China in den Krieg zu ziehen 4, organisierte die Völkerbundkommission die technische Hilfe, die gerade in der konflikthaften Situation einen durchaus politischen Charakter hatte. Jürgen Osterhammel geht geradezu davon aus, dass die technische Unterstützung die ausgebliebene politische Hilfe in Vollversammlung und Rat des Völkerbunds kompensieren sollte – was von Japan auch so verstanden wurde. 5 Auch wenn von den entwickelten Plänen wegen der anhaltend instabilen Situation in China nicht allzu viel umgesetzt werden konnte 6, so zeigt sich doch, welch bedeutende Rolle der Völkerbund, der lange Zeit (und vielleicht bis heute) sowohl geschichtskulturell als auch geschichtswissenschaftlich einen eher schlechten Leumund hatte 7, als Organisationsinstanz und Vermittlungsinstitution von externem Expertenwissen spielte – das, wie das Beispiel Chinas zeigte, auch selbstbewusst nachgefragt wurde. 8 Und das gilt für eine Vielzahl von Themenfeldern: So waren es über den Völkerbund organisierte Finanz- und Wirtschaftsexperten, die in den frühen 1920er Jahren am Ende erfolgreiche Lösungen für das bankrotte Österreich entwickelten 9 und in den 1930er Jahren (unter dem Deckmantel rein technischer Aktivitäten) auch eine gegen den protektionistischen Trend gerichtete politische Agenda des Freihandels verfolgten. 10 Die Hygiene-Organisation versammelte Ärzte und Gesundheitspolitiker, um sich der drängenden Fragen globaler Epidemien anzuneh-
be published in March.“ Brief von Henri Bonnet an James T. Shotwell vom 3.Februar 1932, in: UnescoArchiv, Box A I 40. 4 Vgl. Sabine Dabringhaus, Geschichte Chinas im 20.Jahrhundert. München 2009, 69. 5 Vgl. Osterhammel, „Technical Co-Operation“ (wie Anm.1), 679. 6 Vgl. ebd.680. 7 Vgl. dazu und zum langsamen Umdenken Susan Pedersen, Back to the League of Nations, in: The American Historical Review 112, 2007, 1091–1117. 8 Für das Beispiel China vgl. Liang Pan, National Internationalism in Japan and China, in: Glenda Sluga/ Patricia Clavin (Eds.), Internationalisms. A Twentieth Century History. Cambridge 2016, 170–190, hier 179 ff., u. Norbert Meienberger, China and the League of Nations, in: The United Nations Library (Ed.), The League of Nations in Retrospect. Proceedings of the Symposium. Berlin/New York 1983, 313–318, hier 314. 9 Vgl. Frank Beyersdorf, „Credit or Chaos“? The Austrian Stabilisation Programme of 1923 and the League of Nations, in: Daniel Laqua (Ed.), Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements Between the World Wars. London/New York 2011, 135–157. 10
Vgl. Patricia Clavin/Jens-Wilhelm Wessels, Transnationalism and the League of Nations. Understanding
the Work of Its Economic and Financial Organisation, in: Contemporary European History 14, 2005, 465– 492.
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men, deren Ausbreitung sich wegen der Zunahme des internationalen Verkehrs (den wiederum eine eigene Kommunikations- und Transitorganisation thematisierte 11) rasch beschleunigte. 12 All diesen Kommissionen, Unterkommissionen, Organisationen, Sektionen etc. 13 ist gemein, dass sie Personen versammelten, die auf Grundlage ihrer wissenschaftlichen Expertise dazu berufen waren, sich den Problemen ihres Fachgebiets auf internationaler (bzw. transnationaler) Ebene zu widmen. 14 Eine interessante Ausnahme davon ist allerdings die Internationale Kommission für geistige Zusammenarbeit. Diese versammelte eben nicht Wissenschaftler aus einer bestimmten Disziplin zum Gedankenaustausch und zur Entwicklung von Plänen und Memoranden, sondern machte es sich geradezu zum Ziel, ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher Disziplinen abzudecken. 15 Eine kleine Auswahl mag das verdeutlichen: In der 1922 eingesetzten Kommission fanden sich mit Marie Curie und Albert Einstein zwei Physiker, Kristine Bonnevie aus Norwegen war Zoologin, Gilbert Murray Professor für griechische Literatur, Gonzague de Reynold lehrte in der Schweiz romanische Literatur, der Starphilosoph Henri Bergson präsidierte, aus den USA kam ein Astronom, aus Indien sollte ein Ökonom vertreten sein usw. 16Auch wenn sich die Fachgebiete der versammelten Geistesgrößen also nur in
11 Vgl. Frank Schipper/Vincent Lagendijk/Irene Anastasiadou, New Connections for an Old Continent. Rail, Road and Electricity in the League of Nations, in: Alexander Badenoch/Andreas Fickers (Eds.), Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe. Basingstoke/New York 2010. 113– 143. 12 Vgl. Iris Borowy, Coming to Terms with World Health. The League of Nations Health Organisation 1921–1946. Frankfurt am Main 2009. 13 Clavin/Wessels, Transnationalism (wie Anm.10), 469, argumentieren überzeugend, dass diese Vielzahl von Benennungen strategisch gewollt war, um insbesondere die Nationalstaaten bewusst im Unklaren über die Arbeit des Völkerbunds zu lassen und so eventuell mehr von der eigenen, internationalen Agenda durchsetzen zu können. 14 Vgl. allgemein auch Victor-Yves Ghebali, The League of Nations and Functionalism, in: A. J. R. Groom/ Paul Taylor (Eds.), Functionalism. Theory and Practice in International Relations. New York 1975, 141–161. 15 „Ihre Mitglieder, zu denen nach ausdrücklichem Beschluß auch Frauen gehören sollten, setzten sich aus 12 (später 14) Gelehrten zusammen, die in Anbetracht ihrer wissenschaftlichen Bedeutung ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit gewählt wurden […].“ Margarethe Rothbarth, Internationale geistige Zusammenarbeit, in: Julius Hatschek/Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie. Bd. 3. Berlin/ Leipzig 1929, 873–884, hier 874. 16 Zur Zusammensetzung vgl. z.B. Brief von Eric Drummond an Marie Curie vom 17.Mai 1922, Bibliothèque nationale de France (künftig: BnF), Marie Curie Papiers XXI: Lettres reçues. Société des Nations – Swajcer, 34.
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Einzelfällen überschnitten, so hatten sie doch eines gemeinsam: Sie alle galten als Experten für das „Geistesleben“ in all seinen Schattierungen. Was dies bedeutete und wie die Kommission arbeitete, wird im Folgenden erläutert. Dazu werden zunächst die Kommission, ihre Unterkommissionen und die angeschlossenen Institutionen vorgestellt und im historischen Kontext der 1920er und 1930er Jahre verortet. Im Anschluss geht es um die Frage der AkteurInnen: Wer wurde zu was berufen? Abschließend wird die Frage diskutiert, was eigentlich getan wurde und warum gerade diese Problemfelder ausgewählt wurden.
II. Intellektuelle Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbunds Lange Zeit wurde die Satzung des Völkerbunds vor allem auf ihre Schwächen hin untersucht, die sich vor allem in der Lösung internationaler Konflikte zeigten; Einstimmigkeit bei der Entscheidungsfindung, wenig konkrete Aussagen darüber, wie im Konfliktfall einzugreifen sei und auch in den Abrüstungsfragen schwammige Begrifflichkeiten – zuzüglich zur Nichtratifizierung des Vertrags durch die USA – machten aus dem Bund ein schwaches Gebilde. „Der Völkerbund hatte keine
Chance“, so Anselm Doering-Manteuffel in seiner Suche nach dem „historischen Ort des Völkerbunds“. 17 Allerdings geht es in der Satzung nicht ausschließlich um die Frage, wie die Weltgemeinschaft im Konfliktfall reagieren sollte. Vielmehr wollte der Völkerbund auch die friedliche Kooperation im Frieden organisieren, gerade auch um Konflikte möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen bzw. friedliche Kooperation als normalen Modus internationaler Beziehungen durchzusetzen. 18 17
Anselm Doering-Manteuffel, Kollektive Sicherheit, Demokratie und Entspannungspolitik. Der histori-
sche Ort des Völkerbundes in der Geschichte, in: Michaela Bachem-Rehm/Claudia Hiepel/Henning Türk (Hrsg.), Teilungen überwinden. Europäische und Internationale Geschichte im 19. und 20.Jahrhundert. Festschrift für Wilfried Loth. München 2014, 305–316, hier 315. 18
Schon in seinem Entwurf für eine Völkerbundsatzung forderte der südafrikanische Politiker und Völ-
kerbundunterstützer Smuts: „It is not sufficient for the League merely to be a sort of deus ex machina, called in in very grave emergencies when the spectre of war appears; if it is to last, it must be much more. It must become part and parcel of the common international life of States [sic!], it must be an ever visible, living, working organ of the polity of civilisation. It must function so strongly in the ordinary peaceful intercourse of States that it becomes irresistible in their disputes; its peace activity must be the foundation and guarantee of its war power.“ Jan Christiaan Smuts, The League of Nations. A Practical Suggestion. London 1918, 30.
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In der Satzung selbst finden sich eher zufällige Bestimmungen von dafür möglichen Aufgabenfeldern: Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Verbesserung der Behandlung indigener Bevölkerungen, der Kampf gegen Opium-, Frauen- und Kinderhandel, die Beseitigung ansteckender Krankheiten usw. 19 Themenbereiche, deren Aufnahme in den Satzungstext sich wohl vor allem durch die erfolgreiche Lobbyarbeit entsprechender Pressure-Groups erklären lassen. 20 Keine Rede war allerdings von der Förderung der Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem oder kulturellem Gebiet im Allgemeinen. Ebenso wie die Fragen der Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und finanziellen Fragen 21 kam dieser Bereich erst später dazu; allerdings wurde schon in der ersten Vollversammlung der Auftrag an den französischen Politiker und Völkerbundunterstützer Léon Bougeois erteilt, ein Konzeptpapier zum Bereich der „coopération intellectuelle“ vorzulegen. Nach Beratungen im Jahr 1921 wurde 1922 die Internationale Kommission für geistige Zusammenarbeit eingesetzt („Comité de coopération intellectuelle de la Société des Nations“). 22 Diese traf sich einmal im Jahr (zeitgleich mit den Sitzungen der Vollversammlung) in Genf (sodass Eric Drummond Marie Curie guten Gewissens versichern konnte, dass die Arbeit die Physikerin auch bei angeschlagener Gesundheit nicht übermäßig belasten würde 23), beschloss das Arbeitsprogramm, das zunächst einmal in einer breit angelegten und statistisch unterfütterten Gesamterhebung der globalen Situation von „Geistesarbeitern“ gewidmet war 24, und merkte recht bald, dass sie mit ihren Möglichkeiten an ihre Grenzen stieß. Noch stärker als der Völkerbund selbst litt die Arbeit der Kommission unter 19 Es handelt sich dabei um Artikel 23 der Satzung. Vgl. Pacte de la Société des Nations avec Annexe / Covenant of the League of Nations with Annex. Genf 1930, 14ff. 20 Vgl. für den Bereich des Kampfs gegen Prostitution und Frauenhandel Sheila Jeffreys, The Idea of Prostitution. Melbourne 2008, 7, und Thomas Fischer, Frauenhandel und Prostitution. Zur Institutionalisierung eines transnationalen Diskurses im Völkerbund, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54, 2006, 876– 887, hier 877. 21 Vgl. Clavin/Wessels, Transnationalism (wie Anm.10), 470. 22 Für einen Überblick zur Geschichte vgl. Jean-Jacques Renoliet, L’UNESCO oubliée. La Société des Nations et la coopération intellectuelle (1919–1946). Paris 1999. 23 Vgl. Brief Eric Drummonds an Marie Curie vom 7.Juni 1922, BnF, Marie Curie Papiers XXI: Lettres reçues. Société des Nations – Swajcer, 11f. 24 Die daraus hervorgegangenen Publikationen sind eine schier unerschöpfliche Quelle für all diejenigen, die sich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive mit vergleichenden Fragen zur Wissenschaftsund Bildungsgeschichte befassen. Vgl. dazu aus der Perspektive eines der Mitglieder der Kommission auch Gozague de Reynold, Mes mémoires. Tome 3. Genf 1963, 385.
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chronischem Geldmangel; zwar verpflichtete sich eine Elite der globalen Kultur dazu, Arbeitskraft und vor allem ihren guten Namen im Dienste des Völkerbunds einzusetzen 25 – umsetzen ließ sich allerdings wenig von dem, was in den Sitzungen diskutiert wurde. Auch stellt sich bei den Angehörigen der Kommission die Frage, ob es sich bei ihnen um interne, externe oder eine dritte Form von ExpertInnen handelte – schließlich waren sie nominell Mitglied einer Kommission des Völkerbunds, tatsächlich aktiv wurden sie in dieser Rolle aber nur für wenige Tage, höchstens einige Wochen im Jahr. So wussten sie zwar aus eigener Erfahrung sehr gut, woran es im internationalen Wissenschaftsgeschehen mangelte, nur scheiterten sie fast durchgängig dabei, dieses Wissen auch in konkrete und erfolgreich durchgeführte Projekte umzuwandeln. Marie Curies postuniversitäres Stipendienprogramm, das vielversprechende WissenschaftlerInnen der ganzen Welt auch ohne Festanstellung in der Wissenschaft halten sollte 26, wurde zwar begrüßt, versandete aber. Versuche, bibliographische Arbeiten an sich zu ziehen, scheiterten am Widerwillen der Fachverbände und von disziplinär gebundenen Zeitschriftenredaktionen, die sich diese Kompetenzen nicht von der Völkerbundkommission nehmen lassen wollten. 27 Heikle Bereiche wie die Frage nach Schulbuchrevisionen, um vor allem den Geschichts- und Geographieunterricht nicht mehr zu einem Ort nationalistischen Hasses werden zu lassen, scheiterten ebenso, auch wenn detaillierte Pläne zur Durchführung von den Völkerbundexperten (in diesem Fall vom Spanier Casares) ausgearbeitet wurden. 28 Gerade diese Probleme führten dazu, dass 1923 die Kommission unter Bergson 25
Vgl. dazu auch Jonathan Voges, Scientists as Diplomats. The Commission for Intellectual Co-Operation
of the Society of Nations. Vortrag bei der Konferenz „Science and the First World War: the Aftermath“ an der Royal Society, London, am 13.9.2018. 26
Vgl. dazu die gesammelten Unterlagen Curies, BnF, Marie Curie Papiers LXXVII: Documents concer-
nant le Comité de coopération intellectuelle de la Société des Nations, 120ff. Interessanterweise setzte die Kommission auch zur Prüfung dieser Frage eine Expertenkommission ein, die sich vor allem der Frage widmete, wie das bislang national gehandhabte Stipendiensystem auf die internationale Ebene übertragen werden könne. Vgl. Resolution unique: Réunion d’experts pour la question des bourses post-universitaires vom 17.März 1930, ebd.120. 27
So hatte z.B. das amerikanische National Research Council schon 1922 ein „system of abstracts“ für die
Naturwissenschaften entwickelt; die Arbeiten der Kommission in dieser Richtung kamen also arg spät. Vgl. Note de Prof. Hale, August 1922, ebd.5. 28
Vgl. dazu auch Maria Cristina Giuntella, Enseignement de l’histoire et revision des manuels scolaires
dans l’entre-deux-guerres, in: Marie-Christine Baquès/Anne Brute/Nicole Tutiaux-Guillon (Eds.), Pistes didactiques et chemins d’historiens. Paris 2003, 161–189.
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einen Hilferuf in die Welt sandte, in dem man die Nationen zur finanziellen Unterstützung aufforderte, um damit die Arbeit der Kommission auf solide Füße stellen zu können. 29 Diesem Hilferuf folgte vor allem Frankreich, dass 1924 das Angebot machte, dem Völkerbund ein in Paris anzusiedelndes Institut zuzueignen, das als ausführendes Organ der Kommission wirken sollte – und selbst wiederum eine nicht unbeträchtliche Anzahl von ExpertInnen dauerhaft (immerhin auf Basis von Verträgen mit einer bis zu fünfjährigen Laufzeit) in Paris zusammenbrachte. 30 Auch wenn nun tatsächlich eine Vielzahl neuer Aufgaben angegangen werden konnte, führte die Zweiteilung zwischen Paris und Genf jedoch auch zu neuen Konflikten. Aus den Kreisen der Kommission wurde bald der Vorwurf laut, dass das Institut unter dem Direktor Julian Luchaire allzu eigensinnig agiere und eben nicht nur die Weisungen der Kommission ausführe. 31 Ende der 1920er wurde ein Studienkomitee eingesetzt, das sich mit der Umgestaltung der Organisation für intellektuelle Zusammenarbeit befasste und Resolutionen vorlegte. 32 Experten der Kommission wurden also zu Gutachtern über die eigene Arbeit berufen – und kamen interessanterweise zu einer überaus kritischen Einschätzung. Das war weniger ein Zeichen von besonders guter Kritikfähigkeit der eigenen Person gegenüber, sondern vor allem die Grundlage, um die Kompetenzen des Pariser Instituts zu beschneiden. Zum einen wurde Luchaire infolge dieses Gutachtens seines Postens enthoben und durch Henri Bonnet ersetzt, der nach 1945 eine Karriere als französischer Bot-
29 Vgl. dazu auch Margarethe Rothbarth, Das Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris, in: Völkerbundfragen 3, 1926, 134–139. 30 Vgl. zum Angebot der französischen Regierung: Projet de loi apporté par la chambre des députes. Portant création de l’Institut international de coopération intellectuelle à Paris. Sénat session extraordinaire No.768. Paris 1924. In dem Text wird sehr deutlich gemacht, dass Frankreich sich mit der Stiftung zwar zur Internationalität bekenne, dass man sich aber dennoch auch etwas davon verspreche. Wenn es Frankreich gelinge, in diesem Bereich „un rôle premier“ zu spielen, werde es zum Zentrum der globalen intellektuellen Welt – ein nicht unbeträchtliches Guthaben in Sachen auswärtiger Kulturpolitik (ebd.2). Allerdings führte dieser Vorschlag der französischen Regierung, der immerhin mit der Stiftung von drei Millionen Franken für die Völkerbundinstitution verbunden war, dazu, dass heftige Diskussionen im Senat folgten, die die Gründung des Instituts bis 1926 verzögerten. Vgl. Rothbarth, Institut (wie Anm.29), 134. 31 Vgl. dazu die intensiven Briefwechsel, die der Untergeneralsekretär Albert Dufour-Feronce mit dem deutschen Mitglied der Kommission, Hugo Andres Krüss (dem Nachfolger Einsteins) führte, Staatsbibliothek zu Berlin, Acta PrSB, Nr.143, Völkerbund III, Vol.13, IV. 32 Im Archiv des Instituts waren die Akten der Studienkommission als „confidentiel“ klassifiziert. Luchaire bemühte sich vorab intensiv darum, bei den Mitgliedern der Kommission Einsicht in die jeweiligen Gutachten zu erhalten. Vgl. Unesco-Archiv, Box A I 54.
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schafter in den USA machte. 33 Zum anderen (und hier kam den Reformern das Spargebot angesichts der weltweiten Finanzkrise entgegen) wurde der feste Mitarbeiterstamm abgebaut; interne MitarbeiterInnen wurden also entlassen (bzw. ihre Verträge nicht verlängert). Stattdessen sollte die Arbeit verstärkt mit temporär eingesetzten Expertenkomitees erfolgen, die sich eines von der Kommission bestimmten Problems annehmen und dazu Lösungsvorschläge erarbeiten sollten. 34 Spätestens seit den frühen 1930er Jahren waren so externe Experten das Mittel der Wahl, die oben angesprochene Hilfsaktion für China war genau eine solche nur temporär zusammengerufene Expertenkommission.
III. Von Intellektuellen zu Experten? Personalauswahl Die Mitglieder des schon angesprochenen Studienkomitees waren in ihrer Einschätzung im Grunde einer Meinung; so sprach Marie Curie davon, dass zeitlich begrenzte Expertentreffen das beste Mittel der Arbeit der Kommission seien: „Elles permettent de demander l’avis de personalités compétentes sur un sujet détérminé et d’acquérir ainsi des collaborateurs dévoués dont le concours et l’appui sont d’autant plus précieux qu’ils représentent, dans bien des cas, l’opinion d’un groupement professionnel ou d’une Association scientifique.“ 35
Beinahe wortgleich, wenn auch in der Begriffswahl vielleicht noch schärfer, urteilte Einstein: „Die Fehlkonstruktion des Instituts beruht auf der unrichtigen Vorstellung, dass fachliche Arbeit von universaler Mannigfaltigkeit mit einem permanenten Personenstab geleistet werden kann. Es ist nicht möglich, derart vielfältigen Sachverstand an einer Stelle dauernd zu vereinigen.“
33
Und auch weiterhin zu Fragen der internationalen Kooperation publizierte, diesmal allerdings auf an-
deren Gebieten. Vgl. Henri Bonnet, Les institutions financières internationales. Paris 1966. Auch versuchte Bonnet schon während des Zweiten Weltkrieges, seine Erfahrungen am Institut in die Nachkriegsplanungen einzuspeisen; ders., Outlines of the Future. World Organization Emerging from the War. Chicago 1943. 34
In den Unterlagen Curies finden sich einige der Stellungnahmen, die zum großen Teil eben auf diesen
Umbau – weg von permanenten, hin zu projektbezogen engagierten – MitarbeiterInnen abzielten. Vgl. die Gutachten von Curie, Einstein und Bonnevie, BnF, Marie Curie Papiers LXXVII : Documents concernant le Comité de coopération intellectuelle de la Société des Nations, 134–163. 35
Marie Curie, Sur la Commission Internationale et l’Institut international de coopération intellectuel-
le. Typoskript von 1930, ebd.134–148, hier 148.
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Auch Einstein schlug als „Arbeitsmethode“ die Bildung von „Arbeitsausschüssen“ vor, „die aus einem oder mehreren Mitgliedern der Kommission und berufenen Sachverständigen unter einem frei gewählten Vorsitzenden bestehen und die nicht permanente gutachtende Organe nach Art der bisherigen Unterkommissionen sind, sondern zeitlich begrenzt für die Durchführung ganz bestimmter Aufgaben eingesetzt werden.“ 36 Die Kommission in Genf sollte nur noch die Agenda der Arbeit bestimmen, das Institut als Koordinierungsinstanz und „centre of international cooperation“ fungieren, wie es Kristine Bonnevie in ihrem Gutachten ausdrückte, dessen Leitgedanke ebenfalls die Verschlankung war (wobei sie auch direkt zwei Themen vorschlug, denen man sich widmen sollte: die „investigation of primitive human races in danger of extinction“ und „the investigation of migration birds“). 37 Neben der Einsparung von festem Personal, das an gegenwärtige Praktiken im wissenschaftlichen Arbeitsmarkt erinnert, und dessen Ersetzung durch temporär Beschäftigte, fällt vor allem eines auf: die Betonung, dass die Arbeit nur noch erfolgreich weitergeführt werden könne, wenn für die ausgewiesenen Aufgaben gezielt jene Personen unter Vertrag genommen würden, die nachweislich die entsprechende Expertise mitbrachten. 38 Interessanterweise zeigte sich die Umorientierung hin zu speziell auf bestimmten Gebieten ausgebildeten Experten auch schon vorher – und auch schon bei der Besetzung permanenter Stellen. Deutlich wird dies zum Beispiel bei der Berufung einer Sektionsleitung beim Institut mit einem deutschen Staatsbürger. Auch wenn die Nationalität als Einstellungsvoraussetzung nicht unbedingt der Maßgabe entsprach, ausschließlich nach Eignung zu berufen, hatte man – noch vor dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund und noch vor der Beendigung des Boykotts deutscher Wissenschaftler durch die Alliierten und die Nachkriegswissenschaftsorgani-
36 Albert Einstein, Die Internationale Geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes. Typoskript von 1930, ebd.149–157, hier 151. 37 Kristine Bonnevie, ohne Titel, Typoskript von 1930, ebd.158–163, hier 159ff. 38 Interessanterweise kam Ranshofen-Wertheimer, hochrangiger Mitarbeiter im Sekretariat des Völkerbunds, bei der Bestimmung der wichtigsten Eigenschaften für ein internationales Sekretariat der Zukunft zum genau entgegengesetzten Schluss: „[Q]uality of leadership“ nannte er als wichtigste Eigenschaft. „Expert qualicifation should come second.“ Egon F. Ranshofen-Wertheimer, The International Civil Service of the Future, in: International Conciliation 417, 1946, 60–100, hier 70.
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sationen 39 – durch Vermittlung Einsteins Gerhart von Schulze-Gaevernitz 40, einen polyglotten und insbesondere auch im anglophonen Sprachraum bekannten und geschätzten Sozialwissenschaftler 41, zum Leiter der Wissenschaftssektion benannt. Allerdings trat dieser nur kurz darauf wieder von seinem Amt zurück und musste ersetzt werden – wiederum durch einen Deutschen: „Herr Luchaire bat um meine Vermittlung bei der Beschaffung eines deutschen Nachfolgers für Schulze-Gaevernitz. Es würde entweder ein in wissenschaftlichen Kreisen bewanderter Verwaltungsbeamter oder, was im deutschen Interesse vorzuziehen wäre, ein jüngerer Wissenschaftler mit Verwaltungsgeschick in Frage kommen. Die äußeren Bedingungen sind ungünstig (50000 franz. Franken Jahresgehalt). Es wird nötig sein, deutscherseits etwas zu diesem Einkommen beizutragen, wenn wir eine tüchtige Kraft stellen wollen.“ 42
Was deutlich wird an den Bewerbungskriterien, ist, dass es nun eben nicht mehr um einen bekannten und möglichst international geschätzten Allrounder ging, sondern um einen Experten, der sich insbesondere in Fragen des universitären Austauschs auskannte. Einen solchen fand man, durch Vermittlung des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, in Werner Picht, der vom akademischen Austauschdienst nach Paris ging. 43 Eine ähnliche Entwicklung hin zum Expertentum, weg vom Intellektuellen – de-
39
Vgl. dazu auch mit Bezug auf die Völkerbundkommission Brigitte Schroeder-Gudehus, Pas de Locarno
pour la science. La coopération scientifique internationale et la politique étrangère des États pendant l’entre-deux-guerres, in: Relations internationales 46, 1986, 173–194. 40
Über diese Berufung zeigte man sich seitens des Auswärtigen Amts verstimmt; so beklagte man sich
darüber, dass man bei der Berufung durch das Sekretariat des Völkerbundes nicht gefragt worden sei und mochte auch nicht glauben, dass das in keinem Fall der am Institut beschäftigten MitarbeiterInnen geschehen sei. Vgl. Brief Aschmann an Heilbron 4.8.1925, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (künftig: PA AA), R65506: Das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris.
41
Noch zu seinem Tod 1943 erschienen in britischen Zeitschriften Nachrufe, die von der Ehrerbietung
dem deutschen Wissenschaftler gegenüber geprägt waren; vgl. E. Rosenbaum, Gerhart von Schulze-Gaevernitz, in: The Economic Journal 53, 1943, 450–453. 42
Brief Soehring an Staatssekretär a. D. von Rheinbaben, Ministerialdirektor Schäffer u. Legationsrat
von Bülow 17.September 1926, PA AA, R 65508: Das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris. 43
Vgl. Volkhard Laitenberger, Der DAAD von seinen Anfängen bis 1945, in: Peter Alter (Hrsg.), Der DAAD
in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben. Vierzehn Essays. (Spuren in die Zukunft. Der Deutsche Akademische Austauschdienst 1925–2000, Bd. 1.) Berlin 2000, 21–48, hier 28. Becker selbst war – neben seiner Berufung in das Expertenkomitee zum chinesischen Bildungssystem – auch in anderen For-
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finiert als Person, die ihr in einem kulturellen oder wissenschaftlichen Bereich erworbenes Prestige in politischen Fragen einsetzt, die nicht unbedingt ihr genuines Aufgabenfeld sind 44 – lässt sich auch in der Kommission selbst beobachten. Versammelte diese zunächst tatsächlich zwölf Intellektuelle von (zumindest zeitgenössischem) Weltruhm, wandelte sich das Bild mit der Zeit. Zum einen sorgte das faschistische Italien dafür, dass mit Alfredo Rocco nicht ein „freischwebender Intellektueller“ (Karl Mannheim), dessen Position man – mit den Worten Romain Rollands – „au dessus de la mêlée“ 45 des politischen Alltagsgeschäfts verorten könnte, sondern ein aktiver Minister (und nicht einmal einer, der für Bildungs- oder Kulturfragen zuständig war, sondern dem faschistischen Justizministerium vorstand) Mitglied wurde. 46 Einstein lieferte sich offenbar zahlreiche Scharmützel mit Rocco, wovon er später auch stolz berichtete. 47 Interessanter im Sinne der Fragestellung ist allerdings ein anderer Austausch von Mitgliedern, und der betrifft Einstein selbst. Dessen Geschichte in der Kommission war insbesondere zu Beginn nicht konfliktfrei, er trat auf Grund der Ruhr-Besetzung durch Frankreich aus der Kommission aus, zierte sich wegen des grassierenden Antisemitismus in Deutschland zunächst vor dem Wiedereintritt 48, und arbeitete dann ab Mitte der 1920er Jahre durchaus aktiv mit. Ende der 1920er Jahre allerdings – zunehmend enttäuscht vom Völkerbund (was verwundert, denn es war ja immerhin die Post-Locarno-Ära) und gesundheitlich angeschlagen – blieb er nun häufiger den Sitzungen fern und ließ sich von Hugo Andres Krüss vertreten. 49 Auch wenn
men für die Völkerbundkommission tätig; vgl. Guido Müller, Weltpolitische Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908–1930. Köln 1991, 4. 44 Vgl. zu dieser Definition des Intellektuellen Michel Winock, Les générations intellectuelles, in: Vingtième Siècle 22, 1989, 17–38, hier 17. 45 So betitelte Rolland seine Schriften aus dem Ersten Weltkrieg, die er im schweizerischen Exil geschrieben hatte; vgl. Romain Rolland, Au dessus de la mêlée. Paris 1915. 46 Vgl. dazu aus der Perspektive eines Beobachters aus dem Dunstkreis der Völkerbundkommission Jean Rudolf von Salis, Grenzüberschreitungen. Ein Lebensbericht. T. 1: 1901–1939. 2.Aufl. Zürich 1978, 237. Zur Popularität Roccos in Europa angesichts der wachsenden Beliebtheit des faschistischen Korporatismus, den er in Gesetze zu gießen versuchte, vgl. Matteo Pasetti, Corporatist Connections. The Transnational Rise of the Fascist Model in Interwar Europe, in: Arnd Bauerkämper/Grzegorz Rossoliński-Liebe (Eds.), Fascism without Borders. Transnational Connections and Cooperation between Movements and Regimes in Europe from 1918 to 1945. New York/Oxford 2017, 65–92. 47 Vgl. Albrecht Fölsing, Albert Einstein. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1995, 677. 48 Vgl. Jürgen Neffe, Einstein. Eine Biographie. Reinbek 2005, 309. 49 „Damit Sie nicht immer anfragen müssen, wollen wir es als abgemacht betrachten, dass Sie mich bei
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Einstein es noch zu verhindern suchte (er fragte zum Beispiel bei Harry Graf Kessler an, ob er nicht anstelle des „eitlen und dämlichen Herrn Krüss“ 50 das Amt übernehmen wolle 51), wurde dieser zu Beginn der 1930er Jahre auch Einsteins offizieller Nachfolger in der Kommission. Weit entfernt davon ein internationaler anerkannter Intellektueller wie Einstein zu sein 52, war Krüss auf anderem Wege in den Dunstkreis der Kommissionsarbeit gekommen: über den Umweg der Unterkommission für Bibliothekswesen. 53 Selber zwar kein ausgebildeter Bibliothekar, sondern nur auf Grund eines parteipolitisch motivierten Postengeschachers im Preußischen Kultusministerium in diese Position gelangt 54, verschrieb er sich jedoch bald nach seiner Berufung der „bibliothekarischen Außenpolitik“ 55, repräsentierte die Preußische Staatsbibliothek, dessen Generaldirektor er war, bei internationalen Bibliothekskongressen 56 und war eben auch der Ansprechpartner für den Völkerbund, als es in den 1920er Jahren um Fragen der Vereinheitlichung von Bibliographien und den internationalen Leihverkehr (bei dem das Deutsche Reich trotz Boykott führend als verleihende Nation war) 57 ging.
den Sitzungen des Instituts stets vertreten, wenn ich Ihnen keine Mitteilung zukommen lasse. Dagegen wäre es mir lieb, wenn wir uns wieder einmal sprechen könnten, damit wir in den in Betracht kommenden Fragen denselben Standpunkt einnehmen.“ Brief Einstein an Krüss vom 3.Mai 1928, Staatsbibliothek zu Berlin, Acta PrSB, Nr.141: Völkerbund. 50
So Einstein in einem Brief über Krüss von 1931. Zitiert nach Siegfried Grundmann, Einsteins Akte. Ein-
steins Jahre in Deutschland aus der Sicht der deutschen Politik. Berlin 1998, 305. 51
Vgl. Harry Graf Kessler, Das Tagebuch. Bd. 9: 1926–1937. Hrsg. v. Sabine Gruber/Ulrich Ott. Stuttgart
2010, 370. 52
Für einen ersten biographischen Abriss zu Krüss vgl. Werner Schochow, Hugo Andres Krüß – letzter Ge-
neraldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, in: Mitteilungen der Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz 4, 1995, 47–59. 53
So hat Krüss schon 1926 als Experte am Unterausschuss für Bibliothekswesen der Kommission mit-
gewirkt; vgl. Deutsches Konsulat Amtsbezirk: Die Kantone Genf, Neuenburg, Waadt, Wallis an das AA 4.8.1926, PA AA, R 65508: Das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris. 54
Vgl. Werner Schochow, Hugo Andres Krüß – Generaldirektor von 1921 bis 1945. Seine Berufung 1925
und die Folgen, in: ders., Die Berliner Staatsbibliothek und ihr Umfeld. 20 Kapitel preußisch-deutscher Bibliotheksgeschichte. Frankfurt am Main 2005, 191–216, hier 195. 55
Vgl. Werner Schochow, Hugo Andres Krüß und die Preußische Staatsbibliothek. Seine Berufung zum
Generaldirektor 1925 und die Folgen, in: Bibliothek. Forschung und Praxis 19, 1995, 7–19, hier 14. 56
Und das bis weit in die 1930er Jahre hinein; so beim großen Bibliotheks- und Dokumentationskon-
gress anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1937, bei dem er eines der Hauptreferate hielt. Vgl. Hugo Andres Krüss, Die Beherrschung des Wissens, in: Congrés mondial de la documentation universelle. Paris, 16–21 Août 1937. Compte rendu des travaux. Paris 1937, 31–33. 57
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Vgl. Marcel Godet, Le prêt international des livres et manuscrits. Etude accompagnée de tableaux et
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Krüss gerierte sich ausgehend von seinem Amt als international agierender Wissenschaftsmanager, der durchaus auch im Sinne der auswärtigen Kulturpolitik 58 des Reichs wirken wollte (und deshalb auch konstant in engem Kontakt mit dem Außenministerium handelte, sich anders als Einstein fortlaufend mit dem Amt abstimmte und darüber hinaus auch als geheim klassifizierte Dossiers über die Arbeit der Kommission und einzelne Mitglieder nach Berlin schickte). 59 Gerade in Bibliotheksfragen gelang es ihm so, prestigeträchtige Projekte – wie den Index Bibliographicus, eine Bibliographie der Bibliographien – nach Berlin zu holen und mit Experten aus dem eigenen Haus zu besetzen 60 und so das Deutsche Reich als bibliothekarische Großmacht in internationalen Foren bekannt zu machen. 61
cartes statistiques suivie de la résolution adoptée par le IIe Congrès international des bibliothèques. (Publikationen der Vereinigung der schweizerischen Bibliothekare, Bd. 15.) Bern 1937. Godet wiederum war einer der Bibliotheksexperten, der auch in den entsprechenden Unterkommissionen des Völkerbunds mitarbeitete. 58 Zur Begrifflichkeit vgl. Volkhard Laitenberger, Organisations- und Strukturprobleme der auswärtigen Kulturpolitik und des akademischen Austauschs in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Kurt Düwell/ Werner Link (Hrsg.), Deutsche auswärtige Kulturpolitik seit 1871. Geschichte und Struktur. (Beiträge zur Geschichte der Kulturpolitik, Bd. 1.) Köln/Wien 1981, 72–100. 59 Im April 1933, als Krüss eigentlich nicht mehr zu den Sitzungen des Völkerbundinstituts nach Paris reisen wollte, ließ er sich doch vom Auswärtigen Amt umstimmen, zu fahren: „Ich habe daraufhin sofort an Krüss einen Brief geschrieben und ihm eindringlich nahe gelegt, doch auf jeden Fall nach Paris zu kommen, um selbst Rede und Antwort zu stehen. In einer Lage wie der gegenwärtigen müsste jeder von uns, der über Wirkungsmöglichkeit im Ausland verfügt, die Gelegenheit suchen, an den Andern heranzutreten.“ Brief von W. Schmiede (?) vom Völkerbund an Kamphöver vom Auswärtigen Amt vom 4.4.1933. Nach der Rückkehr von Krüss sandte dieser eine Aufzeichnung an das Auswärtige Amt, in der er darauf hinwies, mit welchen „Persönlichkeiten von Bedeutung“ er gesprochen habe: „Ich traf überall auf den Wunsch, unabhängig von tendenziös gefärbten Pressenachrichten authentisch unterrichtet zu werden, und habe durchweg weitgehendes Verständnis für meine Darlegungen gefunden. In erster Linie interessierte die Judenfrage. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Judenfrage in Deutschland nicht allein unter rassenmässigen, sondern auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt werden müsste.“ Beide Briefe in: PA AA, R 65745: Das Pariser Institut. 60 Vgl. Joris Vorstius, Der Plan einer Neuauflage des „Index Bibliographicus“, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 47, 1930, 130–133. 61 Vgl. Hugo Andres Krüss, Deutschland und die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit. Gehalten im Sitzungssaale der ungarischen Akademie der Wissenschaft in Budapest am 29.November 1927. Budapest 1928, 19.
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IV. Arbeitsweise Eng mit dem Wandel des eingesetzten Personals verbunden sind auch die behandelten Themen und Arbeitsweisen. Schaut man sich zum Beispiel die Arbeit an der schon angesprochenen Enquête an und vergleicht diese mit den folgenden Projekten, so wird dies augenfällig. Zwar entwickelte die Kommission (in enger Abstimmung mit der zuständigen Abteilung des Sekretariats) einen standardisierten Fragebogen, der anschließend an dafür geeignete Stellen in der Welt verschickt wurde 62, die eigentliche Forschungsarbeit, die in die veröffentlichten Berichte einfloss, erfolgte allerdings zeitgleich zum Teil auf sehr unkonventionellen Wegen. So setzte Gonzague de Reynold, der seitens der Kommission die Enquête koordinierte, für die Informationsgewinnung in Deutschland seinen zu dieser Zeit dort studierenden Schüler Rudolph de Salis ein. 63 Ein derart informelles Verfahren war auch deshalb notwendig geworden, weil sich die deutschen Universitäten den Umfragen verweigerten. 64 De Salis allerdings erregte in Berlin Misstrauen, es wurden Vermutungen laut, es handele sich bei ihm um einen Spion, der in den Diensten Frankreichs stehe und dessen Ziel es sei, bei einer Verringerung der Zahl deutscher Universitäten mitzuhelfen 65 – ganz davon abgesehen, dass man zunächst erst einmal Probleme damit
62
Vgl. dazu und zur Rolle de Reynolds, der am Ende aus den Berichten eine Gesamtdarstellung machen
sollte: Tätigkeit des Völkerbundes 4, 1924, 10. 63
Vgl. von Salis, Grenzüberschreitungen (wie Anm.46), 171.
64
Das sah auch Krüss, der zu dieser Zeit noch im Preußischen Kultusministerium arbeitete. Er schrieb,
„daß ich es nach wie vor für inopportun halte, wenn von seiten des Völkerbundes mit Fragebogen an die Universitäten und sonstigen wissenschaftlichen Institutionen in Deutschland herangetreten würde oder wenn solche Fragebogen von uns an diese Stellen versandt würden. Es würde sicher zu erwarten sein, daß die Mehrzahl der deutschen Stellen die Beantwortung ablehnen würde. Dadurch würde dann wiederum eine Verstimmung beim Völkerbund erzeugt werden und wir würden der Sache mehr schaden als nützen. Als besten Weg, das Organ des Herrn Oprescu mit Material über Deutschland zu versehen, sehe ich immer nur den Weg, den ich seinerzeit vorgeschlagen habe, nämlich ihm von hier aus und vorzugsweise unter Benutzung des beim Akademischen Auskunftsamt eingehenden Materials gewisse Auskünfte und Unterlagen mitzuteilen.“ Brief Krüss vom Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Heilbron vom Auswärtigen Amt vom 9. April 1925, PA AA, R65514: Völkerbundkommission für intellektuelle Zusammenarbeit. 65
„[V]on dem Obmann des Auswärtigen Ausschusses vom Verbande Deutscher Hochschullehrer, Herrn
Professor Franke, ist mir kürzlich ein für die deutschen Universitäten bestimmter Fragebogen, nebst einem Kommentar hierzu, von einem von Sahlis [sic!], Berlin, Juli 1923 gezeichnet, übergeben worden. Professor Franke nimmt an, dass hier Spionage vorliegt; nach einer von ihm eingezogenen Auskunft ist von Sahlis Schweizer, Vertrauensmann des Professor Reynold, der als Mitglied der Commission de coopération intel-
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hatte, überhaupt zu ermitteln, um wen es sich bei seiner Person überhaupt handelte. 66 Einige der weiteren Themen der Arbeit der Kommission wurden schon benannt. Ich greife nur eines heraus, um die Arbeitsweise deutlich zu machen – das Sachverständigenkomitee für Schulfragen, ein schon früh eingesetztes und eben nicht permanentes Expertengremium. Dessen Gründung ging ein Beschluss der Vollversammlung des Völkerbunds (1924) voraus, „daß die Jugend im Völkerbundgeiste erzogen werden sollte“. Um die Frage zu erörtern, wie dies geschehen könne, wurde die Internationale Kommission für geistige Zusammenarbeit dazu ermächtigt, einen Sachverständigenausschuss einzuberufen, „der aus Schulmännern zusammengesetzt ist und das gesamte Problem eingehend und gründlich besprechen soll“. So trafen sich in Genf Mitglieder der Unterrichtsverwaltungen aus England, Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, Serbien, Dänemark, Kuba, Indien und Deutschland und diskutierten insbesondere die Frage, wie man den Völkerbund zu einem Thema des Schulunterrichts machen könne. Dabei war man sich bewusst, dass weder das Expertengremium noch der Völkerbund selbst über die Machtmittel verfügten, die erarbeiteten Vorgaben auch umzusetzen. Ihre Rolle als Experten definierten die „Schulmänner“ dabei als informierte Ratgeber; es gehe um eine Beschränkung auf Empfehlungen und Anregungen, „und zwar solche, die sich auf direkte amtliche Mittel der einzelnen Staaten stützen können und solche indirekter Natur“. 67 Der Völkerbund möge ein knappes Schulbuch zu seiner Struktur und Geschichte in verschiedenen Sprachen herausgeben, das in den Schulen genutzt werden könne, was so auch tatsächlich umgesetzt wurde. 68 Der Lehrer- und Schüleraustausch müsse ge-
lectuelle angehört. In diesem Zusammenhange habe ich im Hinblick auf angebliche Bestrebungen französischer Akademiker, die Zahl der deutschen Universitäten auf die Zahl der französischen Universitäten zu reduzieren, bisher lediglich nur feststellen können, daß der Chirurg Hartmann, Doyen der medizinischen Fakultät in Paris 1921, gegenüber dem bekannten Chirurgen Dr. Karl Beck-Chicago sich dahin geäussert hat, ‚die Deutschen haben zu viele Universitäten, man muss sie auf 6–7 reduzieren‘.“ Kerkhof vom Auswärtigen Amt an das Reichsministerium des Innern 12.10.1923, PA AA, R65511: Völkerbundkommission für intellektuelle Zusammenarbeit. 66 Vgl. Brief des Deutschen Konsulats für die Kantone Genf, Neuenburg, Waadt, Wallis an das Auswärtige Amt vom 5.12.1923, ebd. 67 Alle Zitate: Erziehungsarbeit im Völkerbunde, in: Völkerbundfragen 4, 1927, 811. 68 Vgl. dazu den Konferenzbericht Hugo Lötschert, Völkerbund und Schule, in: Deutsches Philologenblatt 38, 1930, 60.
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fördert, das Wissen über andere Nationen erweitert und die Bedeutung internationaler Kooperation verbreitet werden. Was von den Experten kam, war somit nicht nur die Bündelung technischen Wissens, sondern auch die Entwicklung einer politischen Agenda (im Sinne des liberalen Internationalismus der Zwischenkriegszeit) und einer Strategie, wie diese auch umzusetzen sei. Bewusst grenzten sie sich allerdings von den politischen Entscheidern ab, wohl auch um schon im Vorhinein den (häufig gerade in Schulfragen formulierten) Vorwurf abzufedern, der Völkerbund entwickele sich zu einer technokratischen Superbehörde, die in die Souveränität der Nationalstaaten eingreife. 69 Obwohl gerade der Bereich der Schulbuchrevision und die Frage der Internationalisierung des Lehrplans vor allem im Fach Geschichte hoch umstritten waren, erzielte die damit befasste Expertenkommission in den 1920er Jahren Erfolge. Dies vor allem in Preußen, aber auch anderswo, zum Beispiel in Großbritannien. Gerade der britische Fall ist dabei besonders spannend, weil hier deutlich wurde, dass die Umsetzung der Expertenratschläge genau dort besonders reibungslos funktionierte, wo enge personale Netzwerke oder individuelle Doppelfunktionen in Schulbehörden, an Universitäten und Schulen auf der einen und der Völkerbundkommission auf der anderen Seite bestanden. So waren viele Personen, die beim Board of Education arbeiteten, gleichzeitig auch Mitglieder der britischen League of Nations Union (LNU) und fungierten in dieser vor allem im Bereich der Bildungsarbeit im Sinne des Völkerbunds. Sie formulierten in der einen Funktion also die Ratschläge, die sie in der anderen an die Schulen zur Umsetzung weiterleiteten. Gleichzeitig waren sie so interne (in der Behörde) und externe (in der zivilgesellschaftlichen LNU) Experten und wussten beide Rollen situativ im Sinne ihrer Überzeugung eines liberalen Internationalismus einzusetzen. Das Murren einiger Lehrer, die sich in ihrer professionellen Autonomie seitens einer derart geballten und mit dem Brustton der Überzeugung auftretenden Expertenschar herausgefordert fühlten, war zwar vernehmbar,
69
Vgl. zur Kritik z.B. Gertrud Bäumer, Geschichtsunterricht als Mittel oder Hemmung der Völkerver-
ständigung, in: Pädagogisches Zentralblatt 9, 1929, 575–583. Interessanterweise äußerte sich mit Bäumer eine Kommentatorin, die ihrerseits als Expertin für Völkerbundfragen wie auch für Schulfragen angesehen werden kann. Vgl. Angelika Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft. Köln 2000, 198ff.
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der Völkerbund aber in den 1920er Jahren noch derart beliebt, dass solche Stimmen nur vereinzelt hörbar wurden. 70 Was nicht überrascht, ist, dass die Arbeit der Kommission und ihrer Unterkommissionen von den Beteiligten immer als „unpolitisch“ klassifiziert wurde 71, was sie de facto (oder nur angesichts eines sehr engen Politikverständnisses) aber nicht war. Diese Politisierung im Sinne eines liberalen Internationalismus, dem sich viele MitarbeiterInnen (insbesondere auch in den Unterkommissionen) verpflichtet fühlten 72, stieß auch kommissionsintern auf Kritik, vor allem bei Gonzague de Reynold, der keine Probleme damit hatte, den Völkerbund und seine Kommissionsarbeit in den Dienst eines rechtskonservativen Katholizismus (inklusive Verehrung des portugiesischen Diktators Salazar 73) zu stellen 74 und den Völkerbund, dessen Kommission er immerhin Zeit ihres Bestehens angehörte, als Projekt von Freimaurern und Sozialisten zu diskreditieren. 75 De Reynold kritisierte einige seiner KollegInnen in der Kommission scharf und warf ihnen vor, sie seien nichts als „Ideologen“, die die Kommissionsarbeit dazu benutzten, ihre politischen Anliegen voranzutreiben. „Doch glücklicherweise war noch eine andere Tendenz vorhanden: die der wahren Gelehrten, der vernünftigen Intellektuellen. Sie segeln nicht in den Wolken, zwingen die Wirklichkeit nicht in die enge, hartwandige Schachtel einer voreingenom-
70 Vgl. dazu auch das instruktive Kapitel in: Mary McCarthy, The British People and the League of Nations. Democracy, Citizenship and Internationalism, c. 1918–45. Manchester 2011, 103–122. 71 Selbst noch im Jahr 1933, nach dem Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund, antwortete die am Institut in Paris arbeitende Margarethe Rothbarth auf den Aufruf, ihre Stelle niederzulegen, weil man sich aus allen Institutionen des Völkerbundes zurückziehe, dass sie das als Jüdin nicht könne, weil man ihr im Reich wohl kaum eine adäquate Ersatzstellung anbieten würde. Ihre Arbeit sei „rein technisch und erfordert infolgedessen von mir nicht die geringste politische Stellungnahme“. Brief Margarethe Rothbarth an die deutsche Botschaft in Paris vom 20.November 1933, PA AA, R 65746: Das Pariser Institut. 72 Besonders prominent vielleicht der Vizedirektor des Pariser Instituts, Alfred Zimmern, der gerade wegen seines Liberalismus in der klassischen politikwissenschaftlichen Forschung zur internationalen Politik der Zwischenkriegszeit besonders schlecht wegkam, galt er doch als Träumer und Utopist. Vgl. Edward Hallett Carr, The Twenty Years’ Crisis, 1919–1939. An Introduction to the Study of International Relations. New York 1964 (zuerst 1939), 36. 73 Vgl. zur Vorliebe de Reynolds für den portugiesischen Diktator Aram Mattioli, Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur. Gonzague de Reynold und die Tradition der autoritären Rechten in der Schweiz. Zürich 1994, 229ff. 74 Vgl. Gonzague de Reynold, La pensée catholique et le monde contemporain, in: La revue générale, 15.2.1924, 128–152. 75 Vgl. M. L., La coopération intellectuelle internationale, in: La quinzaine diocésaine de Cambrai 9, 1926, 565–569.
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menen Lehre. Sie gehen von Tatsachen aus.“ 76 Sie seien die einzigen, die das Aufgabenfeld der Kommission richtig verstanden – denn nur sie wirkten als Experten in eigener Sache und gingen daran, die wissenschaftliche Arbeit zu erleichtern und nach einer genauen Problemanalyse Hilfestellungen zu entwickeln.
V. Experten auf Reise Um einen genaueren Einblick in die Personalpolitik und Arbeitsweise der Völkerbundkommission zu bekommen, bietet es sich an, zur in der Einleitung angesprochenen Rundreise europäischer Experten durch China zurückzukehren. Diese zeigt zum einen deutlich, wie die Völkerbundkommission (über das Institut) die Auswahl der Experten traf, wie diese sich anschließend an die Arbeit machten und welche Folgen diese zeitigte. So berief das Institut zunächst nur den vormaligen preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, der inzwischen im Ruhestand war (und deshalb über die entsprechende Zeit verfügte). Eine eigentliche China-Expertise brachte er zwar nicht mit, war er doch als Orientalist eher mit dem Nahen als dem Fernen Osten befasst gewesen. Eine solche Expertise war aber auch gar nicht vonnöten, schließlich suchte man einen Fachmann für allgemeine Bildungsverwaltung. Ihm zur Seite gestellt wurden drei weitere Experten mit spezifischeren Kenntnissen: einer für die höhere Bildung, einer für Grundschulfragen und einer mit einer besonderen Expertise in der universitären Ausbildung von Naturwissenschaftlern. In die chinesischen Verhältnisse arbeiteten sich die Experten erst während der Überfahrt nach China ein. Das Völkerbundinstitut hatte dafür gesorgt, dass sich eine Bibliothek mit Literatur zu China an Bord befand. In China selbst besuchten sie (neben den sicher unvermeidlichen Staatsbanketten etc.) Bildungseinrichtungen und Schulverwaltungen, sprachen mit Lehrern, Professoren und Beamten. Aus all dem versuchten sie einen gemeinsamen Bericht für den Völkerbund zu schreiben, der anschließend der chinesischen Regierung zugeleitet werden sollte. Doch schon beim Abfassen des Berichts zeigten sich die Probleme, die entstehen können, wenn es eben externe Experten sind, die sich damit zu befassen hatten – Pro76
Gonzague de Reynold, Der Anteil der Schweiz an der internationalen geistigen Zusammenarbeit, in:
Schweizerische Rundschau 27, 1927, 227–236, hier 228.
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bleme, die noch dadurch potenziert wurden, dass das Gremium international zusammengesetzt war. So trafen die vier Personen nach der Reise nicht mehr zusammen, Teilmanuskripte trafen verspätet ein, die Koordination durch Becker verlief eher chaotisch. Das alles hatte zur Folge, dass sich schon kurz nach der Veröffentlichung einer der vier Mitarbeiter von dem Produkt ihrer Arbeit zu distanzieren begann, den Vorwurf erhob, vor der Veröffentlichung nicht noch einmal konsultiert worden zu sein, und darauf drang, dass seine Kritik an prominenter Stelle zu publizieren sei. Der einzige der Experten mit tatsächlicher China-Expertise fürchtete ganz offenbar um seinen Ruf, sollte der Bericht unwidersprochen bleiben. Es ging bei der Beschwerde vor allem um den als zu bedeutend und problematisch gekennzeichneten Einfluss der USA auf das Bildungssystem Chinas, und gerade mit den USA wollte es sich auch das Institut nicht verderben, hing es doch im Grunde am Tropf der amerikanischen Stiftungen (Rockefeller und Carnegie). Gleichzeitig formierte sich auch Kritik von Seiten Chinas; zwar nahm man einige Kritikpunkte der berufenen Experten auf, anderes behandelte man bewusst dilatorisch, bevor die weitere Verschärfung des Konflikts mit Japan jegliche Reform im Bildungssektor ohnehin unmöglich machte. 77 Wurde die Arbeit der Expertenkommission so durch die Völkerbundgremien als Ausweis der eigenen Wichtigkeit gefeiert und als neue Stufe der internationalen geistigen Zusammenarbeit gewertet, die nun soweit sei, Expertenwissen direkt an bedürftige Staaten zu vermitteln, so zeigten sich doch an ihr auch die Probleme: Ratschläge konnten zwar erteilt und in Berichtform der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wenn aber der politische Willen, die wirtschaftlichen Möglichkeiten oder der historische Kontext sich wandelten, blieben die Expertenratschläge das, als was Johan Huizinga, der seinerseits der Kommission in den 1930er Jahren angehörte 78, die Arbeit der Kommission bezeichnete: „zu 99 % Papier und Geplauder und nur zu einem Prozent wertvolle Ergebnisse“. 79
77 Dieser Abschnitt basiert zum Großteil auf der minutiösen Nachzeichnung der Expertenrundreise bei Ernst Neugebauer, Anfänge pädagogischer Entwicklungshilfe unter dem Völkerbund in China. Hamburg 1971. 78 Siehe dazu Christophe de Voogd, Johan Huizinga en de Coopération intellectuelle internationale: „een intellectueel ambassadeur“ van Nederland in de crisisjaren, in: De gids 168, 2005, 159–169. 79 Brief Johan Huizinga an Auguste Schölvinck vom 3.7.1937, in: Johan Huizinga, Briefwisseling. Bd. 3: 1934–1945. Hrsg. v. Léon Hanssen, W. E. Krul u. Anton van der Lem. Utrecht/Antwerpen 1991, 185 (Übersetzung J. Voges).
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VI. Schluss Die neuere Völkerbundforschung ist sich im Grunde einig: Zwar wird auch die politische Bilanz heute nicht mehr ganz so dunkel gesehen wie noch von den Zeitgenossen oder in den Arbeiten direkt im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg – bei denen es zuweilen den Anschein hatte, als benötige man den Völkerbund als negative Kontrastfolie, vor der die UN nur desto heller scheinen konnte. Bedeutender ist heute allerdings die Perspektive, die vor allem „les succès de l’œuvre technique“ in den Blick nimmt. 80 Schaut man genauer auf diese „technischen Arbeiten“, so wird deutlich, dass Genf mit dem Völkerbund nicht nur zum Zentrum der Weltdiplomatie der Zwischenkriegszeit wurde 81, sondern – angesichts des tatsächlich zum Großteil dem Internationalismus verpflichteten Sekretariats – auch einer „Weltbürokratie“ 82 und wegen der zahlreichen Kommissionen, Organisationen und Unterkommissionen auch dem „World Brain“ nahekam, das der Science Fiction-Autor Herbert G. Wells sich für die Zukunft wünschte. 83 Der Völkerbund war ein Knotenpunkt zahlreicher internationaler Expertennetzwerke, die sich mit unterschiedlichsten Themen auseinandersetzten und dabei zum Teil nützliche Arbeiten erledigten, die allerdings erst in der Nachfolgeorganisation, den UN, wirklich zum Tragen kamen. 84 Diesem Konzept lagen zwei Gedanken zugrunde: Zum einen hatte man erkannt, dass sich viele Probleme nur noch durch internationale Zusammenarbeit lösen ließen, auch gerade deshalb, weil sowohl Ursachen als vor allem auch Folgen nicht mehr allein national zu lokalisieren waren. Zum zweiten ging es darum, über die Zusammenarbeit zwischen Experten internationale Kooperation zum Normalfall wer-
80
Vgl. die wohl beste Kurzeinführung zur Geschichte des Völkerbunds von Michel Marbeau, La Société
des Nations. Paris 2001, 81. 81
Vgl. ebd.30.
82
So noch anerkennend der ansonsten (inzwischen durchaus völkerbundkritische) deutsche Journalist
Willy Rupp, Genfer Götterdämmerung. Werden, Wirken und Versagen des Völkerbundes. 2.Aufl. Stuttgart 1940, 13. 83
Herbert George Wells, World Brain. London 2006 (zuerst 1937).
84
Vgl. zu einer solchen Perspektive auf den Völkerbund auch Christiane Sibille, LONSEA. Der Völkerbund
in neuer Sicht. Eine Netzwerkanalyse zur Geschichte internationaler Organisationen, in: Zeithistorische Forschungen 8, 2011, 475–483. Zum Übergang der Völkerbundkommission für geistige Zusammenarbeit in die Unesco vgl. Jean Thomas, Les Français et l’Unesco, in: Mémoires de l’Académie des sciences, belleslettres et arts de Lyon 1979, 129–130.
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den zu lassen. 85 Eine internationale Elite von wissenschaftlich gebildeten Sachverständigen sollte so zum Vorbild für die nationalen Gesellschaften werden, Internationalität und nicht Nationalismus als hohes Gut anzuerkennen. 86 Gerade im Bereich der geistigen Zusammenarbeit, in dem die Verantwortlichen zum einen vom Prestige der Wissenschaftsstars der Zeit zu profitieren suchten und gleichzeitig die Idee des wissenschaftlichen und kulturellen Universalismus 87 auf die politische Organisation des Völkerbunds übertragen wollten, wird das besonders deutlich. Die Struktur, statt eines dauerhaft beschäftigten Mitarbeiterstabs auf anlassbezogen einberufene Sachverständigenkomitees zu bauen, erweiterte das Aufgabenfeld und die Expertise des Völkerbundes enorm. Gleichzeitig führte diese Arbeitsweise dazu, dass eine noch größere Anzahl von Personen im Laufe der Zeit für den Völkerbund arbeitete. Seien es Journalisten (so bei der Untersuchung der Rolle der Presse für das Geistesleben 88), seien es Musikwissenschaftler (so bei Recherchen zur Rolle der Volksmusik in den unterschiedlichen Nationen 89), Archivare und Historiker (bei der Feststellung der Bedingungen zur Archivrecherche in internationaler Perspektive 90) oder Lehrfilmexperten und Kinosachverständige. 91 85 In einer Selbstdarstellung zum Völkerbund heißt es dementsprechend über die Internationale Kommission für geistige Zusammenarbeit: Die Kommission dient der „Förderung der Zusammenarbeit der Völker auf allen Gebieten des geistigen Lebens und ist bemüht, das gute Einvernehmen zwischen ihnen zu gewährleisten“; Informationsabteilung des Völkerbunds, Kleines Handbuch des Völkerbundes. Genf 1935, 189. 86 Explizit findet sich dieser Gedanke in Schriften Johan Huizingas aus den 1930er Jahren, als dieser Mitglied sowohl der Kommission wie auch der Unterkommission für Literatur und Kunst war. Vgl. z.B. Johan Huizinga, Geistige Zusammenarbeit der Völker, in: ders., Verzamelde Werken 7. Haarlem 1950 (zuerst 1937), 436–440. 87 Vgl. dazu Elisabeth Crawford, The Universe of International Science, 1880–1939, in: Tore Frängsmyr (Ed.), Solomon’s House Revisited. The Organization and Institutionalization of Science. Canton 1990, 251– 269. 88 Der deutsche Vertreter in dieser Expertenkommission war der Paris-Korrespondent der Frankfurter Zeitung Friedrich Sieburg; vgl. Institut International de Coopération Intellectuelle (Ed.), Le rôle intellectuelle de la presse. (Société des Nations, Cahiers, Vol.1.) Paris 1933. 89 Vgl. Institut International de Coopération Intellectuelle (Ed.), Musique & Chansons Populaires. Paris 1934. 90 Institut International de Coopération Intellectuelle (Ed.), Guide International des Archives. Europe. Paris/ Rom o.J. 91 Diese Arbeit allerdings wurde wieder auf permanenter Ebene durchgeführt, was daran lag, dass die italienische Regierung, strukturgleich zum Institut in Paris, dem Völkerbund die Mittel für ein internationales Lehrfilminstitut zur Verfügung stellte. An diesem Institut sollten sich zum einen Experten zum Thema ansiedeln, zum anderen sollte das Institut entsprechendes Filmmaterial sammeln und vorrätig halten. Vgl. Christel Taillibert, L’Institut international du cinématographie éducatif. Regards sur le rôle du cinema éducatif dans la politique internationale du fascisme italien. Paris 1999.
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Menschenrechtsexperten in der UNO – Berater, Diplomaten, Aktivisten? Die ambivalente Rolle von Völkerrechtlern bei der Entstehung des UNOMenschenrechtsschutzes von Peter Ridder
In der Geschichte der Menschenrechte im 20.Jahrhundert spielten Menschenrechtsexperten eine zentrale Rolle. Dieser Beitrag geht der Frage nach, welchen Einfluss Menschenrechtsexperten auf politische Entscheidungsprozesse nahmen, wie sie die Entstehung des UNO-Menschenrechtsschutzes beeinflussten und welche Folgen das für die Entwicklung internationaler Menschenrechtsdiskurse hatte. Personen wie der Kanadier John P. Humphrey oder der Niederländer Theo van Boven arbeiteten als Berater, Sonderberichterstatter, Diplomaten und UNO-Beamte. Zugleich waren sie aber auch Aktivisten, die mit ihren Ideen und ihrem Handeln die Politik der Staaten beeinflussten, der UNO Akteursqualitäten verliehen und den internationalen Menschenrechtsschutz nach ihren Vorstellungen formten. Dabei bauten sie transnationale Netzwerke auf, in denen Regierungen, NGOs und internationale Organisationen zusammenwirkten, um das System zum Schutz der Menschenrechte in den Vereinten Nationen zu stärken. 1 Darüber hinaus waren sie aber auch Professoren, die in ihrer Lehre und ihren Publikationen akademische Debatten vorantrieben und zur Verankerung der Menschenrechte in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft beitrugen. Sie brachten ihre Erfahrungen aus der UNO mit an die Universitäten, etablierten neue Forschungsbereiche und bildeten zukünftige Generationen von Menschenrechtsexperten aus, die für Regierungen, NGOs, internationale Organisationen oder in der Wissenschaft arbeiteten. Diese ‚Verwissenschaftlichung‘ der Menschenrechte war eng mit dem zivilgesellschaftlichen und politischen Engagement für Menschenrechte verzahnt und bildete eine wichtige
1 John P. Humphrey, Human Rights & the United Nations. A Great Adventure. Dobbs Ferry 1984; A. J. Hobbins, Humphrey and the High Commissioner. The Genesis of the Office of the UN High Commissioner for Human Rights, in: Journal of the History of International Law 3, 2001, 38–74.
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-010
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Triebfeder bei der Institutionalisierung der Menschenrechte in Politik und Gesellschaft im 20.Jahrhundert. Das Ziel dieses Beitrages ist es, anhand von Humphreys Einsatz für einen Hochkommissar für Menschenrechte in den 1960er Jahren sowie van Bovens kontroversem Engagement gegen Menschenrechtsverletzungen in Südamerika zwischen 1976 und 1982 die vielschichtigen Funktionen von Experten und die daraus resultierenden Spannungsverhältnisse mit Blick auf die Entwicklung des UNO-Menschenrechtsschutzes offenzulegen. Humphrey studierte in den 1920er Jahren Jura an der McGill University in Montreal, bevor er 1929 im Rahmen eines Fellowships nach Paris kam, wo er seine Frau Jeanne Godreau kennenlernte und Kontakte zu französischen Intellektuellen knüpfte. Nach seiner Rückkehr praktizierte er für kurze Zeit als Rechtsanwalt, bis er Mitte der 1930er Jahre eine akademische Karriere als Professor für Internationales Recht an der McGill University einschlug. 2 Dort traf er Anfang der 1940er Jahre Henri Laugier wieder, den Präsidenten des „Centre national de la recherche scientifique“, der vor den Nationalsozialisten geflohen war. Über Laugier knüpfte Humphrey Kontakte zu René Cassin und Egon Schwelb, die sich intensiv mit der Idee der Menschenrechte beschäftigten und aktiv an der Konzeption einer neuen Nachkriegsordnung arbeiteten. Wie andere liberale ‚Internationalisten‘ leisteten sie in dieser Zeit Lobbyarbeit für die Gründung der Vereinten Nationen und die Implementierung der Menschenrechte in der UNO-Charta. Zugleich bildeten diese Personen die erste Generation von UNO-Beamten, die die Weltorganisation aufbauten. 3 Henri Laugier wurde 1946 „Assistant Secretary General for Social Affairs“ und warb noch im gleichen Jahr Humphrey als Direktor der Menschenrechtsdivision an. Das war die Abteilung, die den gesamten UNO-Menschenrechtsbereich organisieren und verwalten sollte. Humphrey machte Egon Schwelb zu seinem Stellvertreter. Fortan arbeiteten sie als „International Civil Servants“, die unabhängig und neutral die Interessen der Organisation vertreten sollten und nicht die ihres jeweiligen Heimatlandes. 4 Allerdings waren die Grenzen zwischen persönlichen und politischen Interessen
2 Biographische Daten online: http://humphreyhampton.org/biography.html (abgerufen am 29.8.2019). 3 Humphrey, Human Rights (wie Anm.1), 1–4; Glenn Mitoma, Human Rights and the Negotiation of American Power. Philadelphia 2013, 17–44. 4 Humphrey, Human Rights (wie Anm.1), 7f.
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von Beginn an fließend. Sie arbeiteten weiterhin eng mit Cassin, der nun als Diplomat Frankreich in der Menschenrechtskommission repräsentierte, und Eleanor Roosevelt zusammen, die für die USA den Vorsitz über die Kommission übernahm. Gemeinsam setzten sie die Ausarbeitung einer „International Bill of Rights“ in Gang, mit der ein umfassendes Menschenrechtssystem bestehend aus einer unverbindlichen Deklaration, einer verbindlichen Konvention und den notwendigen Überwachungsmechanismen aufgebaut werden sollte. In seiner Doppelfunktion als Menschenrechtsexperte und als UNO-Beamter schrieb Humphrey zusammen mit Cassin im Anschluss den Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Zugleich nutzte er seine Stellung als Direktor der Menschenrechtsdivision, um bei den Staaten für die notwendige Unterstützung zu werben, sodass diese 1948 von der Generalversammlung angenommen wurde. 5 Die Menschenrechtskommission war ein politisches Gremium, und sowohl Cassin als auch Roosevelt waren Diplomaten, die die Entscheidungen ihrer Regierungen umsetzen mussten. Die verschiedenen Funktionen dieser Experten führten zu Konflikten und Dilemmata. Das zeigte sich bereits auf der ersten Sitzung der Kommission 1947. Die Mitglieder sollten entscheiden, wie sie in Zukunft mit den vielen tausend Individualbeschwerden umgingen, die die UNO seit ihrer Gründung erhielt. Weltweit schrieben Menschen Briefe, in denen sie von Menschenrechtsverletzungen berichteten und um Hilfe baten. Während Laugier und Humphrey für die Schaffung eines Individualbeschwerdeverfahrens waren, mit dem die unzähligen Briefe ausgewertet und den darin beschriebenen Menschenrechtsverletzungen nachgegangen werden sollte, sahen die meisten UNO-Mitgliedsstaaten darin eine Gefahr. Die Sowjetunion betrachtete den Schutz der Menschenrechte damals als innerstaatliche Angelegenheit, und die westlichen Staaten fürchteten, den sozialistischen Staaten gegenüber im Nachteil zu sein. Während es für Menschen in Osteuropa schwierig war, Briefe an die UNO zu schicken, rechneten die USA und Großbritannien mit Tausenden Beschwerden ihrer Bürger aus den Kolonien und aufgrund der Rassentrennung in den südlichen US-Bundesstaaten. 1947 folgte Roosevelt der Anweisung des State Department und verkündete als Vorsitzende der Menschenrechtskommission, dass diese kein Gericht und deshalb
5 Hobbins, Humphrey (wie Anm.1), 23f.; Roger Normand/Sarah Zaidi, Human Rights at the UN. The Political History of Universal Justice. Bloomington 2008, 139–177; Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern. Göttingen 2014, 95–109.
P. RIDDER , MENSCHENRECHTSEXPERTEN IN DER UNO
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nicht befugt sei, Individualbeschwerden zu behandeln. Die Mehrheit der Mitglieder schloss sich dieser Meinung an, und noch im selben Jahr entschied die Kommission, dass die Menschenrechtsdivision die eingehenden Beschwerden archivieren und die Kommission lediglich davon in Kenntnis setzten sollte. 6 Humphrey akzeptierte diese Entscheidung nur widerwillig und bemerkte dazu in seinen Memoiren: „It was probably the most elaborated wastepaper basket ever invented.“ 7 Je mehr sich der Kalte Krieg und die Dekolonisierung verschärften, umso größer wurden die politischen Spannungen in der Kommission. Für Humphrey, Cassin und Roosevelt wurde es immer schwieriger, ihre idealistischen Ziele gegen die sicherheitspolitischen Bedenken der Staaten durchzusetzen. Ost und West nutzten nun die Debatten über Menschenrechte, um sich gegenseitig anzugreifen. Zugleich kämpften die Westeuropäer in Indochina, Kenia und Algerien um die Rückeroberung und Stabilisierung ihres Kolonialreiches, während die Sowjetunion ihre Herrschaft in Osteuropa mittels Gewalt und Repressionen festigte, wie in Ostberlin 1953 oder in Ungarn 1956. In den USA entbrannte zudem ein innenpolitischer Streit über die Befugnisse des US-Präsidenten und die Auswirkungen des internationalen Rechts auf föderale Strukturen. Viele US-Amerikaner sahen in den Menschenrechten eine Bedrohung ihrer Unabhängigkeit und eine Gefahr für die Segregation. Die einzigen, die sich zu dieser Zeit für den universellen Menschenrechtsschutz einsetzten, waren die wenigen dekolonisierten Staaten, die das Thema für ihren Kampf gegen den Kolonialismus nutzten. Mitte der 1950er Jahre wurden die Experten in der Kommission durch Karrierediplomaten ersetzt, und die Einführung der „International Bill of Rights“ geriet ins Stocken. Der Ost-West-Konflikt und die Dekolonisierung dominierten fortan die Kommission, und die Großmächte hatten an einem System zum Schutz der Menschenrechte kein Interesse mehr. 8 Erst in den 1960er Jahren kam wieder Bewegung in die Debatten, als die zahlreichen neuen Staaten in Afrika und Asien die Mehrheit der UNO Mitglieder stellten und das Thema wieder aufgriffen. 9 Zugleich verlagerte sich die Konfrontation zwi-
6 ORUN (Official Records of the United Nations), ECOSOC-Resolution 75 (V) vom 5.8.1947. 7 Humphrey, Human Rights (wie Anm.1), 28. 8 Jennifer Amos, Unterstützen und Unterlaufen. Die Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948–1958, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte und Gegenwart. Göttingen 2010, 142–169; Normand/Zaidi, Human Rights (wie Anm.5), 197–243. 9 Steven Jensen, The Making of International Human Rights. The 1960s, Decolonization, and the Recons-
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schen Ost und West mit der Détente zu dieser Zeit in die „Dritte Welt“. 10 Der direkte Konflikt zwischen Washington und Moskau wandelte sich zu einer indirekten Konkurrenz, und beide Seiten fingen an, sich über das Thema Menschenrechtsschutz zu profilieren. 11 1960 präsentierte Nikita Chruschtschow vor der Generalversammlung eine Deklaration gegen den Kolonialismus, mit der sich die Sowjetunion hinter die Forderungen der dekolonisierten Staaten stellte und diese in ihrem Kampf gegen Rassendiskriminierung, die Apartheid und den europäischen Kolonialismus unterstützte. 12 Im Gegenzug forderte John F. Kennedy 1963 vor der Generalversammlung die Schaffung eines effektiven Systems zum Schutz der Menschenrechte. 13 Durch den stufenweisen Abbau der Segregation verloren die USA ihre Angst, sich in Menschenrechtsdebatten zu exponieren. Zugleich erkannte man, wie wichtig das Thema für die dekolonisierten Staaten war, und versuchte darüber wieder mehr Einfluss zu nehmen. Im State Department begann man daraufhin, sich mit der Ausweitung des Menschenrechtsschutzes auseinanderzusetzen. Humphrey und seine Mitstreiter erkannten dies als Chance, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Bereits 1947 hatte Cassin die Idee eines „Attorny-General for Human Rights“, der Menschenrechtsverletzungen untersuchen und anklagen sollte. 14 1963 griff man im State Department diese Idee auf und beriet über die Einführung eines UNO-Menschenrechtskommissars. Dabei gab es immer noch Bedenken, dieser
könnte als „watchdog“ der Generalversammlung dem Willen der afroasiatischen Mehrheit folgen und gegen die Interessen der USA handeln. Um dem entgegenzuwirken, wollte das State Department den Menschenrechtsschutz vom politischen
truction of Global Values. Cambridge 2016, 275–282; Roland Burke, Decolonization and the Evolution of International Human Rights. Philadelphia 2010, 145–151. 10 Odd Arne Westad, The Global Cold War. The Third World Interventions and the Making of Our Times. Cambridge 2005. 11 Peter Ridder, Konkurrenz um Menschenrechte. Die Auswirkungen des Ost-West-Konfliktes auf die Entstehung des UN-Menschenrechtsschutzes in den Vereinten Nationen 1966–1993. Diss. Phil. Köln 2018. 12 Steven Jensen, „Universality Should Govern the Small World of Today“. The Cold War and UN Human Rights Diplomacy, 1960–1968, in: Rasmus Mariager/Karl Molin/Kjersti Brathagen (Eds.), Human Rights During the Cold War. London 2014, 56–73. 13 Rede von John F. Kennedy vom 20.9.1963 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York, online: https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-before-the-18th-general-assembly-the-united-nations (abgerufen am 29.8.2019). 14 Roger S. Clark, A United Nations High Commissioner for Human Rights. The Hague 1972, 39–59.
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Einfluss der anderen Staaten abschirmen und stattdessen die Stellung der Menschenrechtsdivision und des Generalsekretärs stärken, da man auf diese nach eigener Einschätzung besser Einfluss nehmen konnte. 15 Im Rahmen dieser Debatte wendeten sich Mitarbeiter des State Department auch an Humphrey. Dieser nutzte die Gelegenheit und präsentierte seine Idee für einen Hochkommissar für Menschenrechte. 16 Nach dem Tod Kennedys verloren die USA ihr Interesse, doch Humphrey machte weiter und nutzte dabei seine guten Kontakte zu NGOs. Als im Sommer 1963 der Präsident des American Jewish Committee Jacob Blaustein an Humphrey herantrat und um Unterstützung beim Verfassen einer Rede für die Dag Hammarskjöld Series bat, schrieb Humphrey einen Entwurf, in den er das Konzept eines Hochkommissars für Menschenrechte einfügte. Blaustein übernahm diesen Entwurf und hielt seine Rede Anfang Dezember 1963 in New York vor Vertretern verschiedener NGOs. 17 Die Idee eines Hochkommissars für Menschenrechte fand großes Interesse unter den Zuhörern. Steven Benenson und Sean McBride, die Gründer von Amnesty International, baten Humphrey daraufhin um ein offizielles Treffen, um über die Umsetzung dieser Idee zu beraten. Humphrey wusste, dass er als „International Civil Servant“ vorsichtig vorgehen musste, denn eine zu enge Kooperation mit diesen NGOs hätte aus Sicht mancher Staaten seine neutrale Stellung gefährden können. Für die Sowjetunion waren diese Gruppen westliche Agenten, und auch andere Staaten misstrauten zivilgesellschaftlichem Engagement. Humphrey fragte deshalb vorher im Sekretariat in New York um Erlaubnis. Dieses gab grünes Licht, solange das Treffen auf Einladung der NGOs stattfinde und nicht umgekehrt. 18 Auf dem Treffen im Juli 1964 schrieben die Beteiligten einen Resolutionsentwurf für die Einrichtung eines Hochkommissars, der auf der nächsten Sitzung der Menschenrechtskommission vorgestellt werden sollte. Humphrey übernahm dabei als Menschenrechtsexperte nicht nur die Federführung, sondern suchte in seiner Funktion als Direktor der Menschenrechtsdivision auch nach einem geeigneten Staat, der die Resolution einbringen konnte. Dieser musste eine neutrale Stellung haben
15
FRUS (Foreign Relations of the United States) 1961–1963, Vol.25: Organization of Foreign Policy, In-
formation Policy, United Nations Document 301, Memorandum from Sisco to Gardener, 4.9.1963.
250
16
Humphrey, Human Rights (wie Anm.1), 296–301; Hobbins, Humphrey (wie Anm.1), 44.
17
Ebd.
18
Ebd.
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und bereit sein, sich dieses brisanten Themas anzunehmen. Nigeria, Afghanistan, die Philippinen und Costa Rica waren mögliche Kandidaten, die bei Ost und West gleichermaßen angesehen waren und zu dieser Zeit in dem Ruf standen, sich für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen. Aufgrund seiner persönlichen Kontakte zu dem costa-ricanischen Vertreter Fernando Volio Jiminez entschied sich Humphrey schließlich für Costa Rica. Jiminez war sofort überzeugt, und wenige Tage vor Beginn der Sitzung der Menschenrechtskommission reichte Costa Rica die Resolution ein. 19 An diesem Punkt wurden die USA wieder aufmerksam. Im State Department erkannte man die Möglichkeit, ein System zu etablieren, mit dem die USA wieder mehr Kontrolle über die Menschenrechtsdebatten und die Fragen des Menschenrechtsschutzes gewinnen konnten. Washington wies seine UNO-Delegation daraufhin an, für das Vorhaben zu stimmen und in den Reihen der Mitglieder um Unterstützung zu werben. Dabei hielten sich die USA absichtlich im Hintergrund und versuchten möglichst viele Unterstützer aus den Reihen der afroasiatischen Staaten zu gewinnen. 20 „No objection in principle US co-sponsorship proposal in ECOSOC but Department not convinced that our co-sponsorship with only UK and Chile would be as helpful as that of number of LDCs [Less Developed Countries, P. R.].“ 21 Damit sollte der Anschein vermieden werden, dass es sich bei dem Hochkommissar um eine Initiative westlicher Staaten handelte. Die US-Diplomaten trafen sich auch mit Humphrey, um über die Einführung eines Hochkommissars zu beraten. Dabei wurde deutlich, warum die USA auf einmal für einen Hochkommissar waren. Humphrey riet, inhaltliche Fragen vorerst auszuklammern und sich darauf zu konzentrieren, wer der erste Hochkommissar werden sollte. Am besten sei ein ehemaliger Justizminister, wobei er zugleich mehrere Kandidaten vorschlug. Darüber hinaus informierte er die US-Delegierten darüber, dass er noch im selben Jahr von seinem Amt als Direktor der Menschenrechtsdivision zurücktreten wolle, um sich in Zukunft wieder der Lehre und Forschung an der McGill University zu widmen. Diese Entscheidung lässt vermuten, dass Humphrey sich selbst als Kandidaten ins Spiel bringen wollte, auch wenn er das in seinen
19 ORUN, E/CN.4/891, Jahresbericht der 21. Sitzung der Menschenrechtskommission im Jahr 1965, 7, § 9. 20 NARA (National Archives and Records Administration), RG 59, Central Foreign Policy Files 1964– 1966, Box 3203, File SOC 14 4/1/65: Memorandum von Read an Bundy vom 20.4.1965. 21 Ebd.Telegramm des Außenministers Dean Rusk an die US-Botschaft in New York vom 16.6.1965.
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Memoiren später bestritt. „This is a great honor but a) they need a bigger man and b) I doubt whether I have the physical strength to take it on.“ 22 Tatsächlich dauerte es noch bis Anfang der 1980er Jahre, bis Humphrey sich zur Ruhe setzte. Der Kanadier war ein überzeugter Menschenrechtsaktivist, der seine Vorstellungen vom Menschenrechtsschutz durchsetzen wollte. Den USA kam das Mitte der 1960er Jahre entgegen. Sie erhofften sich mit Humphrey als Hochkommissar einen Vorteil gegenüber den anderen Staaten. Schließlich arbeitete dieser Hand in Hand mit ihnen zusammen, das zeigte sich auch im weiteren Verlauf des Treffens. Humphrey informierte die US-Delegierten über das geplante Vorgehen der Sowjetunion in der bevorstehenden Abstimmung über die beiden Menschenrechtspakte 23: „As to the Soviet position on the implementation provision of covenants, Humphrey said he had heard rumors that the Soviets would encourage separation of the implementation provisions from the substantive articles and placing them in an additional protocol. (The result of this procedure would of course be that the Russians could accede to the treaties without facing the possibility of international complaints for their failure to implement them.) A further rumor Humphrey had heard (one that we regard as highly unlikely to be true) was that the Russians might propose inclusion of an implementation procedure analogous to the Committee of 24.“ 24
Humphrey versuchte damit die USA zu mehr Engagement zu bewegen, indem er die Konkurrenz zwischen Ost und West ausnutzte. Das verdeutlicht die Motivation beider Seiten, miteinander zu kooperieren. Humphrey instrumentalisierte die USA, um seine Ideen vom Menschenrechtsschutz durchzusetzen und die USA instrumentalisierten Humphrey, weil sie hofften, dadurch Einfluss auf die UNO ausüben zu können. Dabei war Humphrey nicht der einzige. Auch seine Nachfolger, der Belgier Marc Schreiber, der Niederländer Theo van Boven und der Österreicher Kurt Herndl, pflegten enge Kontakte zu US-Diplomaten und versorgten diese regelmäßig mit ver-
22
Zitiert nach Hobbins, Humphrey (wie Anm.1), 62.
23
Peter Ridder, Die UN-Menschenrechtspakte. Ein langer und steiniger Pfad zur Einigkeit, in: Zeitge-
schichte online, Dezember 2018, https://zeitgeschichte-online.de/themen/die-un-menschenrechtspakteein-langer-und-steiniger-pfad-zur-einigkeit (abgerufen am 5.2.2020). 24
NARA, RG 59, Central Foreign Policy Files 1964–1966, Box 3203, File SOC 14 4/1/65: Telegramm der
US-Botschaft an das Department of State vom 4.10.1965.
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traulichen Informationen aus dem Sekretariat. 25 Darüber hinaus setzten sie sich dafür ein, dass sowjetischen Mitarbeitern der Zugang zu sensiblen Informationen verwehrt blieb. 26 Auch die Generalsekretäre misstrauten ihren sowjetischen Angestellten und besetzten wichtige Ämter nur mit vertrauten Personen, die überwiegend aus westlichen Ländern stammten. 27 So schrieb Generalsekretär U Thant (1962–1972) über seinen engsten Mitarbeiter Ralph Bunche 28 in seinen Memoiren: „As I learned from the nearly ten years we worked together after I became Secretary-General, Bunche was an international civil servant in the true sense of the word, and I cannot think of anyone in the upper echelon of the Secretariat dealing with political matters who was less nationalistic in his concept and his approach to problems. This was not true, however, of his Soviet opposite number, Undersecretary Georgi Arkadev, who, perhaps inevitably, represented his government’s point of view.“ 29
Auch Kurt Waldheim (1972–1982) zweifelte an der Loyalität seiner sowjetischen Mitarbeiter: „Moskau schickte zwar durchaus kompetente Leute, und wir bemühten uns stets, ihre Loyalität gegenüber der Weltorganisation einfach vorauszusetzen. Dennoch hatten wir immer wieder Zwischenfälle mit dem amerikanischen Sicherheitsdienst (FBI), der die Tätigkeit der Sowjets genau überwachte, sobald sie in Verdacht gerieten, ihre Anwesenheit in New York für andere Zwecke als für ihre UNO-Arbeit zu nutzen.“ 30
Pérez de Cuéllar (1982–1992) wurde sogar noch konkreter und gab offen zu: 25 Zu Kurt Herndl siehe: FOIA (Freedom of Information Act), Case Number F-2014–09980, Doc. C06801863, Telegramm der US-Botschaft in Genf an das Department of State vom 26.5.1983; zu Theo van Boven siehe: ebd.Doc. C06201839, Telegramm der US-Botschaft in Genf an das Department of State vom 14.1.1982; zu Mac Schreiber siehe: NARA, RG 59, Central Foreign Policy Files 1970–1972, Box 3039, File SOC 14 1972 ECOSOC, Telegramm der US-Botschaft in New York an das Department of State vom 27.4.1972. 26 Hobbins, Humphrey (wie Anm.1), 70. 27 U Thant, View from the UN. London 1977, 113; Kurt Waldheim, Im Glaspalast der Weltpolitik. Düsseldorf/Wien 1985, 87; Javier Pérez de Cuéllar, Pilgrimage for Peace. New York 1997, 7. 28 Der US-Bürgerrechtler und ehemalige US-Diplomat Ralph Bunche arbeitete seit 1946 für die Vereinten Nationen und erhielt 1950 den Friedensnobelpreis für seine Rolle als Vermittler im ersten arabisch-israelischen Krieg. Ab 1954 war er Untersekretär für politische Angelegenheiten und vermittelte in verschiedenen Konflikten rund um den Globus. U Thant machte ihn 1961 zusammen mit dem Russen Georgi Petrovitch Arkadev zu seinen persönlichen Beratern; Brian Urquhart, Ralph Bunche. An American Life. New York 1998. 29 U Thant, View (wie Anm.27), 113. 30 Ebd.87f.
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„As long as the Cold War continued, Soviet staff members, whether KGB or not, owed their first loyalty to Moscow rather than to the United Nations. It was expected that any information they obtained would be reported to the Soviet Mission. As a result, and to their understandable frustration, the Soviet nationals in my office were excluded from sensitive functions.“ 31
Dabei gaben auch Mitarbeiter aus anderen Staaten Informationen an ihre Regierungen weiter oder kooperierten mit westlichen Geheimdiensten. Die USA verfügten über ein gut ausgebautes Netzwerk an Informanten im Sekretariat, welches sie umfassend informierte. 32 1979 wurde sogar der stellvertretende Direktor der UNOMenschenrechtsdivision Pierre J. Sanon verdächtigt, im Auftrag der CIA seinen Vorgesetzten Theo van Boven zu bespitzeln. 33 Noch bis Anfang der 1990er Jahre stellten die westlichen, südamerikanischen und asiatischen Staaten das meiste Personal im Sekretariat und hatten damit einen entscheidenden Vorteil gegenüber den sozialistischen Staaten. 34 Deswegen wollten die USA die Stellung des Sekretariats stärken und waren 1965 für einen Hochkommissar für Menschenrechte. Sie hofften, dadurch wieder mehr Einfluss auf Menschenrechtsdebatten zu nehmen und langfristig den Fokus vielleicht sogar auf die Sowjetunion lenken zu können. 35 An dieser Stelle übernahmen die USA 1965 die Führung beim Thema Hochkommissar, und Humphrey kehrte an die McGill University zurück. Doch seine Abwesenheit währte nicht lange. 1968 wurde er als kanadischer Menschenrechtsexperte in die Unterkommission zum Schutz von Minderheiten entsandt, wo er 1970 federführend an der Entwicklung der ECOSOC-Resolution 1503 beteiligt war, mit der die UNO-Menschenrechtskommission ein Verfahren entwickelte, mit dem Individual-
beschwerden ausgewertet und Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten öf-
31
De Cuéllar, Pilgrimage (wie Anm.27), 8.
32
NARA, RG 59, Central Foreign Policy Files 1964–1966, Box 3203, File SOC 14 1/1/66, Telegramm der US-
Botschaft in New York an das Department of State vom 2.2.1966. 33
UNARM (United Nations Archives and Records Management), De Cuellar: S-1051–12–5: Centre for
Human Rights 1982, Zeitungsartikel der Frankfurter Rundschau vom 18.2.1982, Titel: „Wer hat Angst vor Theodor van Boven?“. 34
ORUN, A/6487, Report of the Secretary-General – Personal Question – Composition of the Secretariat
26.10.1966; ebd.A/8831 (1972); ebd.A/35/528 (1980); ebd.A/48/559 (1993), Reports of the Secretary-General – Personal Question – Composition of the Secretariat. 35
FRUS 1961–1963, Vol.25: Organization of Foreign Policy, Information Policy, United Nations Docu-
ment Doc. 301: Memorandum from Sisco to Gardner, 4.9.1963; mit NARA, RG 59, Central Foreign Policy Files 1964–1966, Box 3203, File SOC 14 4/1/65: Memorandum von Read an Bundy vom 20.4.1965.
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fentlich verhandelt werden konnten. Zugleich veröffentlichte er in seiner Funktion als Wissenschaftler Artikel in juristischen Fachzeitschriften, in denen er für einen Hochkommissar oder die Berücksichtigung von Individualbeschwerden argumentierte. Er nutzte akademische Debatten, um seine politischen Forderungen zu untermauern. Zudem arbeitete er ab Mitte der 1970er Jahre als Menschenrechtsexperte für Amnesty International. 36 Humphrey war ein Aktivist, Wissenschaftler und internationaler Beamter, der Zeit seines Lebens für die Umsetzung seiner Ideen zum Schutz der Menschenrechte kämpfte und die Entwicklung dieses Bereiches prägte. Obwohl es noch bis 1993 dauerte, ehe die UNO-Mitglieder für die Einrichtung eines Hochkommissars für Menschenrechte stimmten, beeinflussten Humphreys Ideen die Entwicklung des UNO-Menschenrechtsschutzes nachhaltig. So wurde eine Kernfunktion des Hochkommissars seit Ende der 1960er Jahre von den Generalsekretären bereits übernommen. Sowohl U Thant als auch Waldheim und de Cuéllar setzten ihre guten Dienste in Menschenrechtsfragen ein und verhandelten im Geheimen mit Regierungen über die Freilassung politischer Häftlinge oder die Ausreise jüdischer Menschen aus Osteuropa. 37 Auch die Einrichtung von Arbeitsgruppen und die Einberufung von Sonderberichterstattern ab 1975 kompensierte eine Kernfunktion des Hochkommissars, indem sie Menschenrechtsverletzungen untersuchten und sichtbar machten. 38 Humphreys Einfluss war entscheidend. Er entwickelte 1963 die Idee und nutzte seine guten Beziehungen zu NGOs, um diese in Umlauf zu bringen. Anschließend warb er in seiner Funktion als Direktor der Menschenrechtsdivision bei den Staaten um Unterstützung. Dabei überschritt er die Grenzen eines „International Civil Servant“, indem er immer wieder den Kontakt zu einzelnen Regierungen suchte und mit diesen zusammenarbeitete, um seine Vorstellung vom UNO-Menschenrechtschutz durchzusetzen. Obwohl er sich als UNOBeamter eigentlich den Interessen der internationalen Staatengemeinschaft unterwerfen sollte, folgte er seiner eigenen Agenda. Wie kontrovers dieses Engagement war, zeigte sich vor allem im Vergleich mit seinem Nachfolger, dem Belgier Schreiber. Bereits 1966 warnte Humphrey die USDiplomaten vor diesem:
36 Amnesty International Report for 1977, 53. 37 Bertrand G. Ramcharan, Humanitarian Good Offices in International Law. The Good Offices of the United Nations Secretary General in the Field of Human Rights. The Hague/Boston/London 1983. 38 Ridder, Konkurrenz (wie Anm.11).
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„As for reported favored candidate Marc Schreiber, Humphrey had feeling Narasimhan 39 had personal commitment to him. Humphrey made it abundantly clear that in his view Schreiber inadequate for task. He said he would not be surprised if Legal Division wanted ,get rid‘ of Schreiber; Pointed out that, when Schwelb 40 retired as Deputy Director of Human Rights Div. Schreiber was considered possible successor. However, at that time Stavropoulos 41 (UN Legal Counsel) gave such picture of Schreiber that he did not get post. Thus Humphrey ironically stated Schreiber not good enough to be Deputy Director but good enough to be Director HR Division. Humphrey was sure that if appointment of Director UN HR Div were made through UN appointments and promotions board, Schreiber would not get post. Humphrey said reservations had been expressed about Schreiber candidacy by certain delegations, by some in strong terms.“ 42
Später machte Humphrey Schreiber sogar persönlich für das Scheitern des Hochkommissars verantwortlich. 43 Auch westliche Diplomaten beschwerten sich bei ihren Botschaften, Schreiber sei ein unkreativer Technokrat, der kein Engagement zeige und sich nicht für ihre politischen Ziele einsetze. 44 Obwohl auch Schreiber enge Kontakte zu westlichen Regierungen unterhielt und diesen vertrauliche Informationen zukommen ließ, hielt er sich aus politischen Debatten heraus. 45 Dabei muss man berücksichtigen, dass Schreiber von 1966 bis 1977 Direktor der
39
Chakravarthi Vijayaraghava Narasimhan (1915–2003) war indischer Staatsbürger und diente von
1956 bis 1978 in den Vereinten Nationen, seit 1961 in leitender Funktion als Under Secretary General; C. V. Narasimhan Passes Away, in: The Hindu Times, 3.11.2003. 40
Egon Schwelb (1899–1979) wurde in Prag geboren und war Jurist, Publizist, Politiker und Experte für
internationale Beziehungen. Er war von 1947 bis 1962 stellvertretender Direktor der UNO-Menschenrechtsdivision, danach weiterhin als Menschenrechtsexperte in verschiedenen Bereichen tätig und arbeitete zudem als Professor für Internationales Recht und Menschenrechtsschutz an der Yale University; Nürnberger Menschenrechtszentrum, http://www.menschenrechte.org/lang/de/verstehen/menre-geschichte/ egon-schwelb (abgerufen am 29.8.2019). 41
Constantin A. Stavropoulos (1905–1984) aus Griechenland arbeitete über dreißig Jahre als Rechts-
berater und leitete die Abteilung für Rechtsfragen der Vereinten Nationen; Constantin A. Stavropoulos, On the U.N. Staff for 30 Years, in: The New York Times, 6.11.1984. 42
NARA, RG 59, Central Foreign Policy Files 1964–1966, Box 3203, File SOC 14 1/1/66, Telegramm der US-
Botschaft in New York an das Department of State vom 28.1.1966. 43
Humphrey, Human Rights (wie Anm.1), 296–302.
44
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), B30, Zwischenarchiv, 121144, Bericht der BRD-Bot-
schaft in Genf an das Auswärtige Amt in Bonn vom 16.3.1976. 45
NARA, RG 59, Central Foreign Policy Files 1964–1966, Box 3203, File SOC 14 1/1/66: Telegramm der US-
Botschaft in New York an das Department of State vom 12.5.1966.
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Menschenrechtsdivision war. Damit hatte er nach Humphrey die zweitlängste Amtszeit, und das in einer Phase, in der die Mehrheit der Mitglieder die eigene wirtschaftliche Entwicklung über den Schutz der Menschenrechte stellte. Für viele Staaten war Schreiber gerade wegen seiner Zurückhaltung, mangelnden Kreativität und fehlendem Engagement der richtige Kandidat für das Amt des Direktors der Menschenrechtsdivision. Selbst die USA setzten sich 1972 dafür ein, dass Schreiber im Amt blieb, weil sie seine Loyalität schätzten und ihnen seine Performance genügte. 46 Das änderte sich Mitte der 1970er Jahre. Zwar war die Mehrheit der UNO-Staaten immer noch nicht demokratisch und zeigte auch weiterhin kein Interesse am Schutz der Menschenrechte. Dafür erlebten diese in westlichen Gesellschaften einen Bedeutungsgewinn, und Millionen Menschen engagierten sich in NGOs und forderten von ihren Regierungen mehr Einsatz für Menschenrechte. 47 Hinzu kam, dass sich einige westeuropäische Staaten seit Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit konsolidierten. 48 Demokratie und Menschenrechte wurden zum Markenzeichen ihrer Außenpolitik, die vor allem die Entspannungspolitik im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa prägen sollten. Immer mehr westliche Regierungen engagierten sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre für die Menschenrechte und profilierten sich innen- und außenpolitisch mit der Forderung nach einem besseren Schutz dieser Rechte. Sie setzten sich nun für einen Direktor in der Menschenrechtsdivision ein, der ihre Ziele unterstützte und den UNO-Menschenrechtsbereich stärkte. Dieser war durch den spektakulär inszenierten Auftritt Idi Amins auf der Generalversammlung 1975 und die „Zionismusresolution“, in der Zionismus mit Rassismus gleichgesetzt wurde, zunehmender Kritik ausgesetzt. Der Menschenrechtsexperte Theo van Boven sollte dem entgegenwirken und den Einfluss westlicher Staaten auf das Sekretariat stärken. 49 46 NARA, RG 59, Central Foreign Policy Files 1970–1972, Box 3039, File SOC 14 1972: Telegramm der USBotschaft in New York an das Department of State vom 27.4.1972. 47 Eckel, Ambivalenz (wie Anm.5), 347–423; Samuel Moyn, The Last Utopia, Human Rights in History. Cambridge 2010, 120–176. 48 Jeremi Suri, Détente and Human Rights. American and West European Perspectives on International Change, in: Cold War History 8, 2008, 527–545; Jussi M. Hanhimaki, Détente in Europe, 1962–1975, in: Melvin Leffler/Odd Arne Westad (Eds.), The Cambridge History of the Cold War. Vol.2. Cambridge 2010, 198– 219; Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte. Frankfurt am Main 2014, 195–203. 49 PA AA, B30, Zwischenarchiv, 121144, Telegramm der BRD-Botschaft in Genf an das Auswärtige Amt in Bonn vom 10.6.1976.
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Der Jurist van Boven wurde 1967 an der Universität Leiden promoviert und arbeitete seit 1960 für das niederländische Außenministerium. Zeitgleich war er von 1967 bis 1977 Dozent für Menschenrechte an der Universität von Amsterdam. Ab 1970 arbeitete er als Diplomat und Menschenrechtsexperte und vertrat sein Land in der Menschenrechtskommission und der Generalversammlung. 50 1975 setzte er sich für die Einrichtung einer Ad-Hoc-Arbeitsgruppe der UNO-Menschenrechtskommission ein, um die Menschenrechtsverletzungen in Chile untersuchen zu lassen. 51 Er machte sich einen Namen als leidenschaftlicher Verfechter eines effektiven Systems zum Schutz der Menschenrechte und repräsentierte damit die Politik seines Landes. Seit 1973 regierte der Sozialdemokrat Joop den Uyl in den Niederlanden, und gemeinsam mit seinem Außenminister Max van der Stoel rückte er die Menschenrechte ins Zentrum seiner Außenpolitik. Van Boven trug diese Politik in die UNO und prägte damit das Image der Niederlande als Staat, der sich für die Menschenrechte einsetzte. 52 Aus Sicht der anderen westlichen Regierungen qualifizierte ihn genau das, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie wollten den Menschenrechtsschutz der UNO verbessern, um damit das Ansehen der Organisation aufzuwerten und sich gegenüber den sozialistischen Staaten als Hüter von Recht und Demokratie zu präsentieren. 53 Als 1976 ein neuer Direktor für die Menschenrechtsdivision gesucht wurde, bewarben sich Kanada, Italien, die Niederlande, Großbritannien und die USA mit ihren Kandidaten für das Amt. Da der Posten des stellvertretenden Direktors zu diesem Zeitpunkt schon mit einem Afrikaner besetzt war, kam für das Amt des Direktors traditionell nur ein Kandidat aus Ost oder West in Betracht. Dabei war der Westen im Vorteil, denn die sozialistischen Staaten zeigten zu dieser Zeit kein Interesse an dem Amt. So konnten sich die westlichen Staaten frühzeitig untereinander absprechen, um ihren Wunschkandidaten durchzusetzen. 54 Dazu mussten sie aber zunächst Generalsekretär Waldheim überzeugen, den Niederländer zum Nachfolger Schreibers zu ernennen. Der Österreicher übernahm
50
Biografische Daten online: http://legal.un.org/avl/faculty/van-Boven.html (abgerufen am 29.8.2019).
51
ORUN, E/CN.4/1179: Jahresbericht der 30. Sitzung der Menschenrechtskommission des Jahres 1975, 26
§111. 52
Eckel, Ambivalenz (wie Anm.5), 440–462.
53
Jensen, The Making (wie Anm.9), 247; PA AA, B30, Zwischenarchiv, 121144, Vermerk, Neuer Leiter der
VN-Menschenrechtsabteilung Theo van Boven vom 22.6.1977.
54
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Ebd.Weisung des Auswärtigen Amtes in Bonn an die BRD-Botschaft in Genf vom 15.6.1976.
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1972 den Posten von U Thant, nachdem seine Wahl zum Bundespräsidenten im Jahr zuvor gescheitert war. Der Berufspolitiker Waldheim nutzte das Amt des Generalsekretärs fortan, um sich als großer Staatsmann zu inszenieren und seine Chancen für eine Rückkehr in die österreichische Politik zu verbessern. Dabei bediente er sich auch der Menschenrechte. So übernahm er die Praxis der guten Dienste und setzte diese wie sein Vorgänger in Menschenrechtsfällen ein. Allerdings legte er einen besonderen Schwerpunkt auf Fälle in der BRD und engagierte sich für politische Häftlinge und Ausreisewillige in der DDR. 55 Mit diesen Fällen präsentierte er sich dann als konzilianter Vermittler in der Öffentlichkeit. 56 1972 schlug er zudem vor, die UNO-Menschenrechtsdivision von New York nach Genf zu verlegen, um Geld zu
sparen und der stetigen Expansion des Menschenrechtsbereiches in der UNO gerecht zu werden. Die meisten Staaten begrüßten den Vorschlag, die UNO-Menschenrechtsdivision in einem neutralen Staat anzusiedeln. Nur die USA waren dagegen. Offiziell fürchtete Washington, dass die Menschenrechte dadurch an Bedeutung verlieren könnten. Inoffiziell hieß es jedoch: „The point is that the United Nations Secretariat is physically bursting at the seams and that unless it can enlarge its available space more and more of its subdivisions will be transferred to Geneva or elsewhere with consequent damage both to the Secretary General’s capabilities for coordination and United States influence on the Organization.“ 57
Aus finanzieller Sicht wurde der Umzug aber zu einem Debakel. Der Kurssturz des US-Dollars zu Beginn des Jahrzehnts und der Kursgewinn des Franken führten zu einer Kostenexplosion. Zugleich fielen die geplanten Einsparungen viel geringer aus als angenommen. Danach scheute Waldheim heikle Themen und zögerte wichtige Entscheidungen hinaus. 58 So auch im Fall van Bovens. Nicht demokratische Staaten wie die Sowjetunion oder China lehnten eine Stärkung des UNO-Menschenrechtsschutzes ab und waren
55 UNARM, SG Waldheim, S-0986–11–1: Human Rights Summary Index 1973: Memorandum von Wolfgang Ischinger an Georg Hennig vom 10.7.1973. 56 Kurt Waldheim, Der schwierigste Job der Welt. Die UNO, die beste aller Chancen. München 1979, 10– 21 u. 71–81. 57 FRUS 1969–1972, Vol.5: United Nations, Doc. 3: Letter from Yost to Kissinger 19.8.1969. 58 UNARM, SG Waldheim, S-0913–4-9: Memorandum von USG George F. Davidson für SG Waldheim vom 23.3.1973; ebd.S-0913–4-8, Memorandum von USG George F. Davidson für SG Waldheim vom 18.5.1973; sowie Yearbook of the United Nations 1973, 869f.
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gegen den Niederländer. Waldheim brauchte die Stimmen dieser Sicherheitsratsmitglieder jedoch für seine Wiederwahl zum Generalsekretär. Zugleich wusste er, wie wichtig das Thema für die westliche Öffentlichkeit war. Deshalb verlängerte er zunächst Schreibers Vertrag um ein weiteres Jahr. 59 Die westlichen Staaten einigten sich inzwischen darauf, mehrere Kandidaten ins Rennen zu schicken, die gegen den Niederländer auf jeden Fall unterliegen würden, um van Bovens Chancen zu erhöhen. „[…] bei der Entscheidung des VN-GS (voraussichtlich Waldheim) ist mit der Neigung zu rechnen, dem schwächsten, die geringste Opposition auslösenden Kandidaten den Vorzug zu geben. Wir haben daher ein Interesse daran, dass sich die EG und der Westen auf einen weniger aussichtsreichen Kandidaten einigen wird und damit die Wahlmöglichkeiten des GS einschränkt.“ 60
Dem italienischen Kandidaten fehlte es an Fachkompetenz, und sowohl der Kanadier als auch der US-Kandidat schieden aufgrund ihrer Nationalität aus. Ernste Konkurrenz bot nur die britische Kandidatin, doch London zog ihre Bewerbung zugunsten van Bovens wieder zurück. 61 Nachdem Waldheim Ende 1976 wiedergewählt wurde, ernannte er im Frühjahr 1977 van Boven zum Direktor der UNO-Menschenrechtsdivision. Dieser machte sich unverzüglich daran, Arbeitsabläufe innerhalb der Organisation zu verbessern. 62 Bereits nach einem Monat meldete die westdeutsche Botschaft in Genf: „Schon jetzt zeigt sich eine Beschleunigung der Arbeit und Dezentralisierung der Verantwortlichkeit.“ 63 Zudem zeigte der Niederländer auch in politischen Fragen Eigeninitiative. Nachdem die sozialistischen Staaten zusammen mit einigen bündnisfreien Staaten 1975 eine Resolution auf den Weg brachten, mit der die Zusammenarbeit zwischen NGOs und der UNO beim Menschenrechtsschutz eingestellt werden sollte, warb van Boven aktiv bei den Staaten dafür, die Resolution nicht anzunehmen. Darüber hinaus bediente er sich derselben Taktik, die auch Humphrey angewendet hatte. Er veröffentlichte Artikel in juristischen Fachzeitschriften, in de-
59
Ridder, Konkurrenz (wie Anm.11).
60
PA AA, B30, Zwischenarchiv, 121144, Telegramm der BRD-Botschaft in Genf an das Auswärtige Amt in
Bonn vom 10.6.1976. 61
Ebd.
62
Ebd.Brief der westdeutschen Botschaft in Genf an das Auswärtige Amt vom 22.6.1977, Betr.: Neue Lei-
tung der VN-Menschenrechtsabteilung. 63
260
Ebd.
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nen er für die Notwendigkeit der Kooperation zwischen NGOs und der UNO argumentierte und politisch Stellung bezog. 64 Sein Hauptaugenmerk legte van Boven aber auf die Ermittlungsverfahren der UNO. 1975 wurde die erste Arbeitsgruppe der Menschenrechtskommission im Rah-
men des „Charter Based Monitoring“ eingesetzt, um Menschenrechtsverletzungen in Chile zu untersuchen. Die Arbeit der Gruppe gestaltete sich anfangs schwierig, da die chilenischen Behörden ihre Kooperation verweigerten. In den folgenden Jahren wurden noch weitere Arbeitsgruppen gebildet und Sonderberichterstatter eingesetzt, die sich auf spezielle Formen von Menschenrechtsverletzungen spezialisierten wie das ‚Verschwindenlassen‘, Folter oder willkürliche Hinrichtungen. Im Fokus standen dabei vor allem die Diktaturen in Südamerika. 65 Van Boven war als Direktor der Menschenrechtsdivision selbst kein Mitglied dieser Arbeitsgruppen, er setzte sich aber persönlich dafür ein, dass diese ihre Aufträge effektiv umsetzen konnten. Er stellte die nötigen Ressourcen zur Verfügung und vermittelte Kontakte zwischen NGOs und den UNO-Ermittlern. Dabei traf er sich auch selbst mit Aktivisten und Oppositionellen und setzte seine guten Dienste bei Regierungen ein, um die Arbeit der Arbeitsgruppen und Sonderberichterstatter zu unterstützen. Unter seiner Führung entwickelten sich diese Verfahren zu einem effektiven und politisch akzeptierten Instrument, um Menschenrechtsverletzungen durch die UNO untersuchen zu lassen. 66 Allerdings machte sich van Boven damit zugleich viele Feinde. Im Sekretariat in New York beschwerten sich Staaten, der Niederländer würde mit „Terroristen“ zusammenarbeiten und sich in ihre inneren Angelegenheiten einmischen. Sein Engagement sei nicht mit der neutralen Stellung eines „International Civil Servant“ zu vereinbaren. Hinzu kam, dass van Boven anders als Humphrey schon in seiner aktiven Zeit immer wieder die Öffentlichkeit suchte und in den Medien über die Ermittlungen berichtete. 67
64 Theo van Boven, Partners in the Promotion and Protection of Human Rights, in: Netherlands International Law Review 24, 1977, 55–71. 65 UNARM, SG Waldheim, S-0913–6-5: Interoffice Memorandum von Buffum an Waldheim vom 30.3.1981. 66 Ridder, Konkurrenz (wie Anm.11). 67 PA AA, B30, Zwischenarchiv, 121144, Telegramm der BRD-Botschaft in Genf an das Auswärtige Amt vom 13.5.1982; ebd.Vermerk vom 12.2.1982; UNARM, SG Waldheim, S-913–23–5: Note for the File, 22.1.1981 sowie ebd.Aide Memoire. Beschwerde der argentinischen Regierung o. D.; sowie Theo van Boven,
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Sein offensives öffentliches Auftreten brachte ihn schließlich zu Fall. 1982 eröffnete er die Sitzung der Menschenrechtskommission mit einer emotionalen Rede und provozierte damit einen Skandal, der ihn schließlich sein Amt kostete. Darin kritisierte er die abstrakten Debatten innerhalb der Kommission. Während weltweit Menschenrechtsverletzungen begangen würden, stritten die Staaten in Genf über philosophische oder rechtliche Aspekte der Menschenrechte. Dabei beließ er es nicht bei vagen Andeutungen, sondern präsentierte konkrete Zahlen, wobei er sich auf die Untersuchungsergebnisse der Arbeitsgruppen und Sonderberichterstatter stützte. Chile, Uganda, Äquatorialguinea, El Salvador, Guatemala, Kambodscha, der Iran und Argentinien wurden von ihm an den Pranger gestellt. 68 Zudem kritisierte er, dass die Staaten, die der Kommission Selektivität und Doppelstandards vorwarfen (wie die USA), selbst für diese verantwortlich waren, indem sie verbündete Regime schützten. Am Ende beklagte er noch, wie frustrierend die Arbeit des Direktors der Menschenrechtsdivision sei. Jeden Tag würden sich Menschen an ihn wenden und um Hilfe bitten, jeden Tag würden er und seine Mitarbeiter zahlreiche Informationen über Menschenrechtsverletzungen zusammentragen, obgleich sie wussten, dass sie diesen Menschen nicht helfen konnten. 69 „Of one thing I am sure, though, that is: unless the Commission of Human Rights considers these questions urgently and takes appropriate and meaningful action, then it will hardly be deserving of its name and the cries, and the tears, and the anguish of people on the edge of their survival will be upon our heads, all of us.“ 70
Eine Woche nach dieser Rede verkündete van Boven vor der Kommission, dass er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem Sekretariat aus seinem Amt ausscheiden werde. 71 Zugleich rechtfertigte er sein Handeln: „I have always felt that our primary duty is towards the people in whose name the United Nations Charter was written and I have maintained that whenever
The Role of the United Nations Secretariat in the Area of Human Rights, in: New York University Journal for International Law & Politics 24, Nr.69, 1991, 69–107, hier 96f. 68
ORUN, Press Release HR/1140, Address of Mr. Theo van Boven, Director of the United Nations Division
of Human Rights at the Opening of the 38th Session of the Commission on Human Rights, 1.2.1982. 69
Ebd.
70
Ebd.
71
ORUN, E/CN.4/1982/SR.14: Summary Record des 14. Meetings der 38. Sitzung der Menschenrechts-
kommission am 10.2.1982, 13f.
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necessary we must speak out on matters of principle, regardless of whom we please or displease within or outside the organization.“ 72
Ein Sprecher der Vereinten Nationen bemerkte dazu: „Unfortunately, however, on more than one occasion, Mr. van Boven made public statements not wholly in keeping with his status as an international civil servant. In order to be effective, all UN officials dealing with important and sensitive matters must assure that statements they deliver reflect a considered and coordinated policy decision.“ 73
Was heute normal ist, nämlich, dass UNO-Mitarbeiter Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedsstaaten öffentlich ansprechen, führte damals noch zu einem Skandal. Van Boven schuf mit seiner Rede 1982 einen Präzedenzfall, der langfristig den Umgang der UNO mit Menschenrechtsverletzungen veränderte. Fortan rückte das Thema Menschenrechtsverletzungen ins Zentrum der Debatten der Menschenrechtskommission und dominierte ab Mitte der 1980er Jahre die Sitzungen in Genf. 74 Nach seinem Ausscheiden aus der Division widmete sich der Niederländer wieder seiner Professur in Maastricht. Zugleich arbeitete er nun selbst als Sonderberichterstatter und Menschenrechtsexperte für die UNO. Er beteiligte sich aktiv an der juristischen Aufarbeitung der Diktatur in Argentinien und der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Darüber hinaus nutzte er seine wissenschaftliche Arbeit, um seine Ideen zum Schutz der Menschenrechte zu verbreiten und kommende Generationen von Menschenrechtsexperten auszubilden. 75 Anfang der 1990er Jahre wurde an der Universität Maastricht das „Centre for Human Rights“ gegründet, ein interdisziplinäres Institut, in dem sich Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen mit den Menschenrechten und deren Schutz beschäftigen. Bis heute engagiert sich van Boven für die Menschenrechte – in der UNO, zivil und in der Wissenschaft. 76 Letzteres entfaltete langfristig eine ganz eigene unterschwellige Wirkung. Die meisten Menschenrechtsexperten der UNO waren Professoren und nutzten diese Stellung, um ihre Ideen und Vorstellungen über den internationalen Menschen-
72 Zitiert nach: PA AA, B30, Zwischenarchiv, 121144: Telegramm der BRD-Botschaft in Genf an das Auswärtige Amt in Bonn vom 10.2.1982. 73 Ebd.Telegramm der BRD-Botschaft in Genf an das Auswärtige Amt in Bonn vom 11.2.1982. 74 Ridder, Konkurrenz (wie Anm.11). 75 Biografische Daten online: http://legal.un.org/avl/faculty/van-Boven.html (abgerufen am 29.8.2019). 76 Institutshomepage: https://www.maastrichtuniversity.nl/MCfHR (abgerufen am 29.8.2019).
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rechtsschutz auch außerhalb der Vereinten Nationen zu verbreiten. Damit beeinflussten sie nicht nur politische Debatten, sondern beförderten auch die Institutionalisierung der Menschenrechte. Sie brachten ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus der UNO mit an die Universitäten und etablierten neue Forschungsbereiche, in denen künftige Generationen von Menschenrechtsexperten ausgebildet wurden. Zugleich wuchs durch die Ausweitung des UNO-Menschenrechtsschutzes in den 1970er Jahren der Bedarf an Juristen, Soziologen und Politikwissenschaftlern, die sich in diesem Bereich auskannten und für Regierungen, NGOs oder internationale Organisationen arbeiteten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Menschenrechten war eng mit ihrer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung verbunden und entfaltete im Laufe der Zeit einen symbiotischen Effekt. 77 Während sich in den 1930er und 1940er Jahren vor allem Geisteswissenschaftler mit der Idee der Menschenrechte beschäftigten, wurde das Thema mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 zum Gegenstand des Völkerrechts. 78 Juristen dominierten fortan die akademischen Debatten über Menschenrechte, und mit der Entstehung des Menschenrechtsschutzes entwickelten sie juristische Verfahren zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen. Erst in den 1970er Jahren und im Zuge der aufkeimenden Debatten über eine „Neue Weltwirtschaftsordnung“ begannen Soziologen und Politikwissenschaftler sich des Themas anzunehmen. Mit den „Transitional Justice“-Prozessen der 1990er wurden Kriminologen, Forensiker und Psychologen zu Menschenrechtsexperten. 79 Die Geschichtswissenschaft hat erst zur Jahrtausendwende begonnen, die Menschenrechte zu historisieren, beteiligt sich damit aber ebenso an deren Institutionalisierung. 80 Diese ‚Verwissenschaftlichung‘ der Menschenrechte war ein wichtiger
77
Ridder, Konkurrenz (wie Anm.11).
78
Mitoma, Human Rights (wie Anm.3), 17–44.
79
Vgl. exemplarisch Hersch Lauterpacht, Human Rights and International Law. London 1950; Egon
Schwelb, Human Rights and the International Community. The Roots and Growth of the Universal Declaration of Human Rights, 1948–1963. Chicago 1964; John P. Humphrey, The United Nations Sub-Commission on the Prevention of Discrimination and the Protection of Minorites, in: The American Journal of International Law 62, Nr.4, 1968, 869–888; Jeane Kirkpatrick, Dictatorships and Double Standards. Rationalism and Reason in Politics. New York 1982; Daniel Patrick Moynihan/Suzanne Weaver, A Dangerous Place. Bombay 1971. 80
Lasse Heerten, Menschenrechte und Neue Menschenrechtsgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-
Zeitgeschichte, 31.01.2017, http://docupedia.de/zg/Heerten_menschenrechte_v1_de_2017 (abgerufen am 29.8.2019).
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Faktor ihrer Entwicklung im 20.Jahrhundert. Er trug dazu bei, dass sich das System in den 1980er Jahren verselbstständigte und eine transnationale Menschenrechtsszene aus Aktivisten, Mitarbeitern internationaler Organisationen, Diplomaten und Wissenschaftlern herausbildete, die sich für die Menschenrechte in der internationalen Politik einsetzten. 81 Experten wie Humphrey und van Boven spielten dabei eine Schlüsselrolle. Sie fungierten als Bindeglied zwischen der Zivilgesellschaft, der Politik und der Wissenschaft und etablierten transnationale Netzwerke, welche bis heute die internationale Menschenrechtsszene prägen. Zugleich nutzten sie ihre Doppelfunktion als UNO-Beamte und Experten, um den UNO-Menschenrechtsschutz nach ihren eige-
nen Vorstellungen zu formen und Einfluss auszuüben. Damit überschritten sie aber zugleich die Grenzen der Neutralität, die „International Civil Servants“ gesetzt wurden. Sie arbeiteten mit einzelnen Regierungen zusammen und versuchten sie gegeneinander auszuspielen oder deren Entscheidungen zu beeinflussen. Gleichzeitig machten sie sich zu Instrumenten der Außenpolitik westlicher Staaten. Indem sie die Entwicklung des UNO-Menschenrechtsschutzes förderten, trugen sie dazu bei, dass sich Demokratie und Menschenrechte in den 1990er Jahren zu den „Global Rules“ der internationalen Gemeinschaft entwickelten, die die westliche Vormachtstellung in der Welt sicherten. 82 Humphrey und van Boven waren damit zugleich exemplarisch für die Rolle von Experten in der Geschichte internationaler Organisationen, die durch ihre Netzwerke und ihr persönliches Engagement deren Entwicklung beeinflussten und die UNO zu einem Akteur in der Geschichte machten. 83 Ihre Geschichten verdeutlichen, dass die UNO mehr war als eine Bühne für die multilaterale Politik von Staaten. Sie bildeten eine „institutionalisierte Kontaktzone“ 84 in der Akteure unterschiedlichster Herkunft, mit unterschiedlicher Profession und Motivation zusammenwirkten und die Arbeit und die Entwicklung dieser Organisationen prägten. Zugleich zeigen sie, wie in der UNO machtpolitische Interessen von Staaten auf zivilgesellschaftliches
81 Ridder, Konkurrenz (wie Anm.11); Eckel, Ambivalenz (wie Anm.5), 803–825. 82 James E. Cronin, Global Rules. America, Britain and a Disordered World. New Haven/London 2014, 1– 4. 83 Akira Iriye (Ed.), Global Interdependence. The World after 1945. Boston 2014; Madeleine Herren, Internationale Organisationen und globale Ordnung. Darmstadt 2009; Iris Schröder, Die Wiederkehr des Internationalen. Eine einführende Skizze, in: Zeithistorische Forschung 8, 2011, 340–349. 84 Ebd.342.
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Engagement trafen. Beides entfaltete im Zusammenspiel eine ganz eigene Dynamik, von der beide Seiten profitierten und die langfristig die Welt sowie das Zusammenleben der Menschen veränderte.
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Von Lobbyisten zu Experten Europas Universitätsleiter und die Anfänge europäischer Hochschulpolitik von Lars Lehmann
I. Einleitung Heute unterliegt die Hochschulpolitik in der Europäischen Union dem Prinzip geteilter Verantwortlichkeiten. Zwar werden auf europäischer Ebene gemeinsame Handlungsrahmen erarbeitet und Zielvereinbarungen beschlossen. So lässt sich etwa auf das für zehn Jahre angelegte Wirtschaftsprogramm der Europäischen Union verweisen. Mit ihrer sogenannten Europa-2020-Strategie verfolgt die EU beispielsweise bis zum Jahr 2020 das Ziel, die Anzahl der Anfang Dreißigjährigen mit Hochschulabschluss von bisher 31 Prozent auf über 40 Prozent zu erhöhen. 1 Trotz solcher Zielsetzungen ist die Bildungspolitik allerdings keine Gemeinschaftskompetenz. Die Europäische Union koordiniert zuvörderst freiwillige Kooperationen ihrer Mitgliedstaaten, ohne die Möglichkeit zu haben, wirkmächtige Sanktionen zu verhängen. 2 Im Gegensatz dazu liegt die Hauptkompetenz in den meisten europäischen Staaten auf nationaler Ebene, in denen Bildungs- oder Wissenschaftsminister formell die Geschicke im Hochschulwesen lenken. In Staaten wie etwa der Bundesrepublik Deutschland ist die Bildungspolitik noch weiter föderalisiert; die Entscheidungsgewalt für das Hochschulwesen obliegt hier den Bundesländern, die jeweils eigene Prioritäten innerhalb dieses Politikressorts setzen können. 3 Zugleich sind in die gegenwärtige Ausgestaltung hochschulpolitischer Aktivitä1 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission. Europa 2020. Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum. Brüssel, den 3.März 2010, http://ec.europa.eu/eu2020/pdf/COMPLET%20%20DE%20SG-2010–80021–06–00-DE-TRA-00.pdf (abgerufen am 14.April 2018).
2 Lars Lehmann/Markus J. Prutsch, European and International Education Policies. Part III: Introduction, in: Markus J. Prutsch (Ed.), Science, Numbers and Politics. Basingstoke 2019, 265–270. 3 Die meisten bildungspolitischen Aktivitäten der EU werden heute über die sogenannte „Open Method of Coordination“ durchgeführt. Dabei arbeiten die EU-Mitgliedsstaaten auf freiwilliger Basis zusammen. Vgl. Ase Gornitzka, Coordinating Policies for a „Europe of Knowledge“. Emerging Practices of the „Open Method of Coordination“ in Education and Research, in: Arena Working Paper 16, 2005; Martin Humburg,
HTTPS :// DOI . ORG / 9783110693737-011
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ten auf europäischer Ebene auch unmittelbar Angehörige der Hochschulen eingebunden. Davon zeugt etwa der Bologna-Prozess, bei dem Vertreter der Hochschulen beratend und gestaltend involviert sind. Aufgrund der Mitwirkung verschiedener politischer Ebenen und der Einbindung von Nichtregierungsakteuren kann die heutige europäische hochschulpolitische Praxis als ein Musterbeispiel für eine Politik auf Basis geteilter Verantwortlichkeiten gelten. Dieses Prinzip war in der europäischen Hochschulpolitik allerdings bis zu Beginn der 1970er Jahre keinesfalls selbstverständlich. Es ist vielmehr das Ergebnis von rund zwei Jahrzehnten der Auseinandersetzungen: Auf der einen Seite standen Akteure der Europäischen Gemeinschaften – insbesondere die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft. Auf der anderen Seite befanden sich Repräsentanten europäischer Universitäten – hier sind vor allem Rektoren und Vizekanzler zu nennen, die in den späten 1950er Jahren unter dem Dach der Westeuropäischen Union, ab den 1960er Jahren mit dem Europarat sowie im Rahmen der regierungsunabhängig agierenden Europäischen Rektorenkonferenz (ERK/CRE) kooperierten und um die Deutungshoheit im Hochschulwesen konkurrierten. Vertreter der EG und der Hochschulen vertraten anfänglich konträre Positionen und standen sich als Opponenten gegenüber. Erst seit den späten 1960er Jahren näherten sie sich an und etablierten Mechanismen für eine dauerhafte inhaltliche Zusammenarbeit. Ihre Annäherung legte die Grundlage für spätere Hochschulaktivitäten auf der Basis geteilter Verantwortlichkeiten. In diesem Beitrag wird ihre Annäherung nachvollzogen und dabei ein besonderes Augenmerk auf das sich wandelnde Rollenverständnis der Hochschulrepräsentanten auf europäischer politischer Ebene geworfen. Es ist die zentrale These dieses Beitrages, dass die Annäherung zwischen EG und Universitäten mit einem sich wandelnden Ethos der Hochschulrepräsentanten einherging: Während sie anfänglich als Lobbyisten für den Status quo und damit für den Erhalt nationalstaatlicher Hochschulsysteme auftraten, entwickelten sie sich in den 1970er Jahren zu Hochschulexperten in beratender und gestaltender Funktion. Um dies herauszuarbeiten, sind zahlreiche Quellen aus den Archiven der Europäischen Union in Brüssel und Florenz sowie des Europarates in Straßburg ausgewertet worden. Zudem konnte die Perspektive der Hochschulleiter durch ArchivaThe Open Method of Coordination and European Integration. The Example of European Education Policy, in: Berlin Working Paper on European Integration 8, 2008.
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lien aus den Universitätsarchiven in Genf, Manchester und Köln in den Blick genommen werden. Zusätzlich sind Publikationen der Europäischen Rektorenkonferenz (ERK) ausgewertet worden, in denen sich die Positionen der Hochschulleiter zu europäischen politischen Vorhaben widerspiegeln. 4 Auf Grundlage dieser Quellen zielt der Beitrag darauf ab, die Positionen der Regierungs- und Hochschulvertreter gleichermaßen in den Blick zu nehmen und die Entstehungsgeschichte der EGHochschulpolitik auf der Basis geteilter Verantwortlichkeiten aufzuzeigen.
II. Universitäten und die EG als Opponenten In den 1950er und 1960er Jahren kam es zu mehreren Auseinandersetzungen, bei denen sich Hochschulverbände sowie Rektoren und Vizekanzler europäischer Universitäten einerseits und Vertreter von Regierungen und internationalen Regierungsorganisationen andererseits mit unversöhnlichen Positionen gegenüberstanden. Bereits die ersten Initiativen für europäische Rektorenversammlungen, die nicht aus Eigenantrieb der Hochschulleiter, sondern auf Anregung der BrüsselerPakt-Organisation und der Westeuropäischen Union (WEU) eingeleitet wurden, führten zu Dissens zwischen Universitäts- und Regierungsakteuren. 5 Während die administrative Spitze sowie Abgeordnete der parlamentarischen Versammlungen der WEU auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Hochschulleitern und der NATO in den Bereichen Natur- und Technikwissenschaften drangen 6, verwahrten sich involvierte Rektoren und Vizekanzler gegen diese Forderungen und beharrten auf
4 Hanns-Albert Steger (Hrsg.), Das Europa der Universitäten. Entstehung der Ständigen Konferenz der Rektoren und Vize-Kanzler der europäischen Universitäten. Eine Dokumentation. Bad Godesberg 1964; Walther Zimmerli (Hrsg.), Die optimale und maximale Größe der Universität. Protokoll der III. Generalversammlung der Ständigen Konferenz der Rektoren und Vizekanzler der europäischen Universitäten. Göttingen 1966. 5 Dusan Sidjanski, Rapport sur la Communauté Universitaire Européenne, in: Carl J. Friedrich (Hrsg.), Politische Dimension der europäischen Gemeinschaftsbildung. Köln 1968, 105–224, hier 170; Jürgen Fischer, Origine et mission de CRE (1952–1964), in: CRE Information 47/3, 1979, 8–13, hier 9; Activities of W.E.U. in the Cultural Field – Report, Dokument 21, in: The Assembly of Western European Union. Proceedings, Second Session III. Orders of the Day – Minutes of Proceedings. Straßburg 1956, 62. 6 Vgl. Report – Activities of Western European Union in the Cultural Field, 5th July 1958, Dokument 96, in: Assembly of Western European Union, Proceedings, Fourth Ordinary Session, Second Part III, Assembly Documents. Straßburg Dezember 1968, 12.
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einer universitären Autonomie, die solcherlei enge politische Bindungen nicht zulasse. 7 Mitglieder des WEU-Universitätsausschusses erläuterten 1959 nach Beendigung ihrer Zusammenarbeit mit der WEU: „Our universities have always endeavoured to steer clear of politics.“ 8 Die involvierten Hochschulleiter nahmen also bereits zu Beginn ihrer staatenübergreifenden Zusammenarbeit eine kritisch-distanzierte Haltung gegenüber den Regierungsakteuren ein und versuchten eine Trennung zwischen europäischer Politik und Europas Universitäten sicherzustellen. Diese Haltung spiegelt sich auch in zwei Auseinandersetzungen, die über Hochschulbestrebungen der Europäischen Gemeinschaften entstanden und die im Folgenden im Mittelpunkt stehen werden: Zum einen zeigte sich die Europäische Atomgemeinschaft seit Mitte der 1950er Jahre bestrebt, mindestens eine supranationale Universität zu gründen, die als Vorbild weiterer Europa-Universitäten hätte dienen sollen. 9 Zum anderen zielte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre darauf ab, eine europaweite Harmonisierung von Studiengängen und Prüfungsleistungen herzustellen und durch gemeinsame Richtlinien einheitliche europäische Standards einzuführen. Beide Bestrebungen scheiterten nach langwierigen Debatten. 1. Eine Kontroverse um supranationale Universitäten In der Mitte der 1950er Jahren hatte sich die Europäische Atomgemeinschaft auf Vorschlag Walter Hallsteins darum bemüht, eine supranationale Universität zu gründen. 10 In seinem Messina-Memorandum, das Hallstein im Juni 1955 an die fünf 7 Dies wird insbesondere aus der Studie „The Universities and the Shortage of Scientists and Technologists“ deutlich, die Rektoren und Vizekanzler des Universitätsausschusses erstellten. Vgl. The Universities and the Shortage of Scientists and Technologists, in: Western European Union (Ed.), Second Conference of European University Rectors and Vice-Chancellors Held at Dijon, 9–15 September 1959. Report of Proceedings. London 1960, 26–47. 8 European Universities Committee of Western European Union, Past and Future. Report of the Committee to the 2nd Conference of University Rectors and Vice-Chancellors (Draft), Dijon, September 1959, in: Manchester University Library, Mansfield Cooper Papers, Box 35, Folder: W.E.U. Correspondence, 1955– 1960. 9 Vgl. Jean-Marie Palayret, A University for Europe. Prehistory of the European University Institute in Florence (1948–1976). Rom 1996; ders., Une grande école pour une grande idée. L’institut universitaire européen de Florence et les vicissitudes d’une identité „académique“ de l’Europe (1948–1990), in: Marie-Thérèse Bitsch/Wilfried Loth/Raymond Poidevin (Eds.), Institutions européennes et identités européennes. Brüssel 1998, 477–501. 10
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Erste Überlegungen bezüglich einer supranationalen Universität kursierten bereits seit den späten
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Partnerstaaten der Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gerichtet hatte, forderte er ein bildungspolitisches Novum: „Die Bundesregierung gibt dem Wunsche Ausdruck, gegenüber der Jugend durch die Gründung einer Europäischen Universität, welche von den sechs Mitgliedsstaaten der Montangemeinschaft geschaffen werden sollte, sichtbar den Willen zur Europäischen Einigung zu bekunden.“ 11
Mit seinem Memorandum war Walter Hallstein der erste hohe Staatsrepräsentant, der sich für die Gründung einer europäischen Gemeinschaftsuniversität aussprach und im Namen der Adenauer-Regierung das Bestreben bekundete, die bis dahin meist national – im Falle der Bundesrepublik Deutschland sogar auf Länderebene – organisierten Hochschulwesen durch eine supranationale Einrichtung zu ergänzen. Der deutsche Ökonom und Politiker Alfred Müller-Armack, der zu den Unterstützern Hallsteins gehörte, schrieb in seinen Memoiren, dass die geplante Hochschule eine „erste Modell-Universität“ 12 hätte werden und weiteren ähnlichen Gründungen als Vorbild hätte dienen sollen. Die geplante Hochschule sollte damit die erste einer ganzen Reihe europäischer Universitäten werden. Für das Vorhaben fand Hallstein Unterstützung unter seinen europäischen Kollegen. Die Regierungen der Benelux-Staaten und Italiens signalisierten ihre Zustimmung. Die Frage war nicht ob, sondern wie das Universitätsprojekt realisiert werden würde: Niederländische Staatsvertreter bestanden in erster Linie darauf, die Kosten niedrig zu halten, während italienische Staatsvertreter den Wunsch äußerten, die Universität in Italien anzusiedeln. 13 Auch die französische Regierung war nicht abgeneigt und stimmte den Verhandlungen über das Projekt zu. Die allgemeine Zustimmung der Regierungsvertreter führte zu einer vertraglichen Verankerung des Hochschulprojektes. In Artikel 9 Absatz 2 des EWG-Vertrags vereinbarten die sechs Unterzeichnerstaaten, eine „Institution im Range einer Universität“ 14 zu gründen. 1940er Jahren, vgl. Hans Walter Menje, Die Europäische Universität, Institute in Florence (1948–1976), in: Archiv der Europäischen Union, Florenz, EUI 884. 11 Memorandum der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die Fortführung der Integration, überreicht am 1.Juni 1955, in: Bulletin des Presse- und Informationsdienstes der Bundesregierung 1955, 880. 12 Alfred Müller-Armack, Auf dem Weg nach Europa. Erinnerungen und Ausblicke. Tübingen 1971, 177. 13 Vgl. Kandidatur der Stadt Florenz für den Sitz der Europäischen Universität, in: Generaldirektion Parlamentarische Dokumentation und Information (Hrsg.), Die Europäische Universität. Dokumentensammlung. Luxemburg 1967, 9. 14 Vgl. Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, Paragraph 9, Absatz 2.
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Die Funktionsweise der Hochschuleinrichtung sollte von der EURATOM-Kommission ausgearbeitet und den Außenministern vorgelegt werden, die schließlich mit einer „qualifizierten Mehrheit“ über den Vorschlag der Kommission entscheiden sollten. 15 Zu diesem Zweck richtete die Europäische Kommission 1958 einen Interimsausschuss ein, der hochrangige Beamte und nationale Delegierte zusammenführte, um die spezifische Funktion und Arbeitsweise der Universität zu klären. Die von der Europäischen Atomgemeinschaft angestrebte Umsetzung sah vor, eine Volluniversität mit dem Schwerpunkt auf der Atomwissenschaft sowie angrenzenden naturwissenschaftlichen Fächern aufzubauen. 16 Konkret schrieb der vorgesehene Lehrplan während des ersten akademischen Jahres obligatorisch Unterrichtseinheiten in Kernphysik, Geophysik, Chemie, Mathematik und Biologie vor. Fächer der Geistes- und Sozialwissenschaften waren dagegen kein integraler Bestandteil. Sie wären erst in den späteren Studienjahren als Spezialisierungsmodule hinzugekommen. 17 Neben theoretischer und experimenteller wissenschaftlicher Forschung sollte die Universität auch anwendbare Produkte und Werkzeuge für den gemeinsamen Markt entwickeln, die der Erhöhung des wirtschaftlichen Wohlstands in den Mitgliedstaaten zuträglich gewesen wären. In die Entscheidungsfindung der Europäischen Atomgemeinschaft waren bis dahin keine Repräsentanten der Universitäten eingebunden worden. Westeuropäische Hochschulleiter, die zu dieser Zeit bereits mit hohen Beamten unter dem Dach der Westeuropäischen Union (WEU) zusammenarbeiteten, organisierten sich daher gegen diese Pläne. Sie sprachen sich in Memoranden, Briefen und in Gesprächen gegen die Universitätsgründung aus. Den Ausgangspunkt dieses Protests setzte die Westdeutsche Rektorenkonferenz. Aus einem Protokoll einer WRK-Sitzung vom Juni 1959 geht hervor, dass sie sich anschickte, den „Initiatoren ein ‚Halt‘ im Namen der Rektorenkonferenz“ zuzurufen. 18 Hierfür versuchte sie, sich die Solidarität an-
15
Ebd.Artikel 216.
16
Diese Ziele spiegeln sich beispielhaft in den Ausführungen zu den Leitsätzen, die Enrico Medi, Vize-
präsident des Rates der Europäischen Atomgemeinschaft, vorstellte, vgl. Enrico Medi, Ausführungen zu den Leitsätzen für die zu gründende Universität, Brüssel, den 30.Mai 1958, in: Archiv der Europäischen Kommission (Brüssel) [künftig: AEK Brüssel], BAC 118 86 N 2192/2. 17
Europäische Kommission, Leitsätze für die zu gründende Universität, Brüssel, 30.Mai 1958, in: AEK Brüs-
sel, BAC 118 86 N 2192/2. 18
Protokoll der 39. Westdeutschen Rektorenkonferenz am 26./27.Juni 1958 in Freiburg im Breisgau, in:
Bibliothek der Hochschulrektorenkonferenz, WRK Plenum, Protokolle 38–50 [6.1.1958–10.7.1963].
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derer europäischer Hochschulrepräsentanten zu sichern. Die Hintergründe ihres Protests brachte der Kölner Rektor Hermann Jahrreiß in einem Bericht zum Ausdruck, den er an europäische Amtskollegen sandte. Die Rektoren „wollten nicht zusehen, wie unter Verkennung des Wesens der in Europa bestehenden Universitäten sozusagen eine Universität für spätere ‚Europäer 1. Klasse‘ gegründet und so eine Deklassierung der in strengster Selbstzucht der Wahrheitssuche dienenden Universitäten in Europa vorgenommen würde, jener Universitäten, die sich mühen, vielen Hunderttausenden von jungen Menschen den Weg zum wissenschaftlichen Denken zu weisen.“ 19
Mit ihrer Kritik positionierten sich die Hochschulleiter als Interessenvertreter des Status quo und damit für den Erhalt nationalstaatlich orientierter Hochschulwesen. Um eine Marginalisierung ihrer Hochschulen durch neue, als europäisch deklarierte Universitäten zu vermeiden, stellten sie sich dem Vorhaben entgegen. Ein zentraler Kritikpunkt, der von zahlreichen Hochschulleitern aus den sechs EURATOMStaaten geteilt wurde, war ihre Kritik an ihrer Nichtberücksichtigung in den Aushandlungsprozessen. In einer gemeinsamen Stellungnahme, die eine Vielzahl europäischer Hochschulleiter aus dem WEU-Universitätsausschuss erarbeitete, erklärten sie: „It would seem inconceivable that a project which directly and closely concerns all the universities of Europe should be put into effect, or even so much as adopted and given a definite form, without their being previously consulted on the desirability and provisions of the plan.“ 20
Die ablehnende Haltung aus den Hochschulen gegen die Absichten der Europäischen Atomgemeinschaft blieben nicht ungehört. Bereits die anfängliche Kritik aus deutschen Universitäten hatte die europapolitischen Adressaten erreicht. MüllerArmack schrieb in seinen Memoiren: „Wir hatten geglaubt, die Dinge ohne viel Federlesens durch einen Ministerratsbeschluß über die Bühne ziehen zu können. Aber nun begann das Verhängnis. Die deutschen Rektoren lehnten empört das Projekt einer europäischen Universität ab.“ 21 19 Hermann Jahrreiß, Gründung einer sogenannten ‚Europäischen Universität‘. Bericht über den Stand der Verhandlungen, insbesondere über die Tagung der Sachverständigen-Gruppe in Rom am 8.–9.Januar 1964, in: Manchester University Library, Mansfield Cooper Papers, Box 33: Proposals for a European University in Florence. 20 Ebd. 21 Müller-Armack, Auf dem Weg nach Europa (wie Anm.12), 178f.
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Der US-Diplomat und Journalist Shepard Stone stellte nach einem Gespräch mit den Europapolitikern Max Kohnstamm, Etienne Hirsch und Walter Hallstein fest: „They recognize, of course, that there is a powerful opposition to the establishment of such an institution in many European universities.“ 22 Die verantwortlichen politischen Akteure mussten erkennen, dass die Hochschulpläne in ihrer bestehenden Form nicht ohne weiteres realisierbar waren beziehungsweise nur gegen den Willen der meisten Hochschulrepräsentanten durchgesetzt werden könnten. Regierungsvertreter und die Europäische Kommission zeigten sich daher gewillt, die bislang bewusst außen vor gelassenen Repräsentanten der Hochschulen anzuhören. Vor allem der französische Außenminister Couve de Murville und seine Delegation, die bereits mit französischen Rektoren auf nationaler Ebene zusammengetroffen waren, beschlossen Ende 1959, Universitätsvertreter nach Brüssel einzuladen, damit das akademische Europa seine Meinung in den Verhandlungen darlegen könne. 23 Marcel Bouchard, der 1959 zum ersten Präsidenten der im Zuge der Kontroverse über eine supranationale Universität gegründeten Europäischen Rektorenkonferenz gewählt worden war, reiste mit anderen französischen Rektoren aus Paris und Lille nach Brüssel, um der Europäischen Kommission und den Regierungsdelegierten die kritische Haltung der Universitäten gegenüber dem EURATOM-Projekt zu verdeutlichen. 24 Während des Treffens in Brüssel warben die Hochschulleiter um Bouchard dafür, die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaften in Fragen der Hochschulbildung nicht auszubauen und den nationalstaatlichen Rahmen für alle künftigen Forschungs- und Ausbildungsbestrebungen zu bewahren. 25 Die bis dahin 22
Vgl. Shepard Stones „Talk with Etienne Hirsch“ vom 13.Oktober 1959, hier zitiert nach Giuliana Ge-
melli, Western Alliance and Scientific Community in the Early 1960s. The Rise and Failure of the Project to Create a European M.I.T., in: Laurence Moore/Maurizio Vaudagna (Eds.), The American Century in Europe. Cornell 2003, 71–192, hier 179. 23
Vgl. Palayret, A University for Europe (wie Anm.9), 83.
24
Die Kontroverse um die supranationale Universität beeinflusste die 1959 beschlossene und bis 1964
umgesetzte Gründung der Europäischen Rektorenkonferenz maßgeblich. Gründungsmitglieder nannten die Hochschulkontroverse die „wichtigste Manifestation“ für die Notwendigkeit ihrer neugegründeten Vereinigung. Vgl. Report of the European Universities Committee of Western European Union to the Second Conference of European Rectors and Vice-Chancellors, in: Hanns-Albert Steger (Hrsg.), Das Europa der Universitäten. Entstehung der Ständigen Konferenz der Rektoren und Vize-Kanzler der Europäischen Universitäten 1948–1962. Bad Godesberg 1964, 252–258, hier 254. 25
Westdeutsche Wissenschafts- und Hochschulvertreter verweigerten die Teilnahme am Brüsseler
Treffen; sie verfassten dafür ein weiteres Memorandum, in dem sie ihre Kritik an dem Vorhaben erneuerten. Vgl. Anstalt mit Universitätsniveau im Rahmen oder außerhalb des EURATOM-Vertrages. Gemeinsa-
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meist auf informellem Wege vorgebrachte Kritik brachten Hochschulvertreter damit nach mehreren Jahren ihrer Opposition auch erstmals in dem formellen Verhandlungskontext der Europäischen Atomgemeinschaft zum Ausdruck. Eine wachsende Zahl an europapolitischen Akteuren änderte in dieser Zeit ihre Position und betonte die fehlende Durchsetzbarkeit des Gründungsvorhabens. Neben den französischen wendeten sich vor allem die niederländischen und belgischen Regierungen gegen die einst vereinbarten Ziele und versagten ihre künftige Unterstützung. 26 Im Juni 1960 setzte der französische Außenminister Couve de Murville bei einer Tagung des Europäischen Rates den Schlusspunkt unter die Kontroverse: Er lehnte die Verwendung des Begriffs Universität ab, argumentierte gegen ein Gemeinschaftsbudget der Hochschule und erteilte jedwedem weiteren Versuch, eine Hochschule in supranationalem Rahmen anzustreben, eine klare Absage. 27 Seine Intervention gegen das Projekt setzte den jahrelangen Debatten über Hallsteins ursprüngliche Idee einer supranationalen Universität ein Ende. 2. Eine Kontroverse über die Harmonisierung von Studienstrukturen Eine weitere Kontroverse, in der sich Vertreter der Europäischen Gemeinschaften und der Hochschulen gegenüberstanden, entbrannte in den späten 1960er Jahren über Harmonisierungsbestrebungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). In zwanzig Richtlinienvorschlägen ergriff die Europäische Kommission die Initiative, Ausbildung und Studium für die freien Berufe auf Gemeinschaftsebene zu harmonisieren. Die rechtliche Grundlage dafür hatte ihr der EWG-Vertrag gegeben. In Artikel 57 des Vertrages hatten die Vertragsparteien erklärt: „Um die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten zu erleichtern, erläßt der Rat der EWG […] einstimmig und danach mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Versammlung Richt-
mes Memorandum der Westdeutschen Rektorenkonferenz, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und des Hochschulverbandes vom 1.Februar 1960, gebilligt von der 42. Westdeutschen Rektorenkonferenz, Stuttgart, 11./12.Februar 1960, in: Westdeutsche Rektorenkonferenz (Hrsg.), Stellungnahmen, Empfehlungen, Beschlüsse 1960–1989. Bd. 6. Bonn 1991, 3. 26 Vgl. Anne Corbett, Ideas, Institutions and Policy Entrepreneurs. Towards a New History of Higher Education in the European Community, in: European Journal of Education 38/3, 2003, 319. 27 Palayret, A University for Europe (wie Anm.9), insbes. 93–98; Lars Lehmann, The Controversy Surrounding the Idea of a European Supranational University, in: Lennaert van Heumen/Mechthild Roos (Eds.), The Informal Construction of Europe. London/New York 2019, 75–91, hier 85.
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linien für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise.“ 28
Es dauerte bis in die späten 1960er Jahre, bis sich die EWG-Kommission anhand ihrer Richtlinienvorschläge bestrebt zeigte, diesen Artikel umzusetzen. Ein besonderes Charakteristikum dieser Richtlinienvorschläge lag darin, eine Vergleichbarkeit über zahlenbasierte Festlegungen zu erreichen. Bereits der erste Richtlinienvorschlag, den die Europäische Kommission im März 1969 für die Zahnmedizin vorlegte, verdeutlicht dieses Charakteristikum. Er sah vor, das Studium der Zahnmedizin auf mindestens fünf Jahre festzulegen. In dieser Zeit müssten Studierende insgesamt 5000 Unterrichtsstunden besuchen. Jedes europaweit anerkannte Zahnmedizinstudium müsse von dieser Gesamtzahl 300 Stunden für die Grundfächer der Chemie, Physik und Biologie vorsehen. Zudem sollten 1500 Stunden auf allgemein-medizinische Fächer einschließlich Mathematik und Statistik entfallen; weitere 2800 Unterrichtseinheiten müssten für die speziellen zahnmedizinischen Fächer der Prothetik, der zahnärztlichen Materialkunde sowie der Zahnheilkunde eingeplant werden. In Bezug auf die Zahnheilkunde nannte der Entwurf konkrete Fachbereiche, die es innerhalb dieses Studienbereiches zu unterrichten gelte; hierzu zählten die Chirurgie, die Pathologie, die Kinderzahnheilkunde und die Kieferorthopädie. Innerhalb der 2800 Einheiten sollte in der Studienordnung darüber hinaus eine gewisse Stundenzahl für Berufskunde sowie Standesordnung und Gesetzgebung festgeschrieben sein. Die danach noch übrig bleibenden 400 der insgesamt 5000 Unterrichtsstunden sollten den Universitäten zur freien Gestaltung bleiben. 29 Die in ihrem Entwurf formulierten Vorgaben machen deutlich, dass die Kommission plante, Studiengänge über zahlenbasierte Vorgaben zu standardisieren und die Gleichwertigkeit von Diplomen und Studienleistungen über quantitative und nicht qualitative Vorschriften zu erreichen. 28
Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Rom, 25.März 1957), Artikel 57,
Absatz 1, in: CVCE, https://www.cvce.eu/en/obj/vertrag_zur_grundung_der_europaischen_wirtschaftsgemeinschaft_rom_25_marz_1957-de-cca6ba28–0bf3–4ce6–8a76–6b0b3252696e.html (abgerufen am 30.4.2018). 29
Der Rat der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag einer Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften für die selbständige Tätigkeit des Zahnarztes, Bonn, den 25.März 1969, in: Deutscher Bundestag. 5. Wahlperiode, Drucksache V/4012; Der Rat der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag einer Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung der zahnärztlichen Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, Bonn, den 25.März 1969, in: Deutscher Bundestag. 5. Wahlperiode, Drucksache V/4012.
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Die Formulierung zahlenbasierter Vorgaben für die Zahnmedizin blieb kein Einzelfall: Ähnliche Richtlinien wurden von der Europäischen Kommission für rund zwanzig freie Berufe vorgesehen und meist im Eiltempo ausgearbeitet. Neben dem Vorschlag für die Zahnmedizin legte die Kommission im März 1969 auch einen für Allgemeinmedizin sowie für die Architektur vor. 30 Im Mai 1969 folgten Vorschläge für das Ingenieursstudium; im November 1969 lagen zudem Richtlinienvorschläge für die Berufe der Apotheker und Optiker vor. Im Januar 1970 kamen Vorschläge für die Berufe der Krankenpfleger und Hebammen hinzu. Am 3.Juni 1970 folgte ein Richtlinienvorschlag für Tierärzte. Im Juli 1970 fuhr die Kommission mit Richtlinien für Studiengänge zum Steuerberater und zum Juristen fort. 31 Allein die zeitliche Datierung dieser Richtlinienentwürfe zeigt auf, in welchem Tempo die Europäische Kommission am Übergang der 1960er zu den 1970er Jahren daran arbeitete, Einfluss auf die Bereiche Ausbildung und Studium zu nehmen und diese Bereiche unter eine europäische Gesetzgebung zu stellen. Wie bei den Auseinandersetzungen über die supranationale Universität wurden Hochschulrepräsentanten in die Entstehung und Ausarbeitung der Pläne nicht einbezogen. Nach Bekanntwerden der ersten Richtlinienvorschläge organisierten sie sich daher gegen die EWG-Initiative. Neben der Westdeutschen Rektorenkonferenz protestierten auch die Hochschulverbände Frankreichs und Italiens „mit Nachdruck gegen diese Entwürfe“, indem sie ihren jeweiligen staatlichen Stellen deutlich machten, dass die Pläne der EWG „schwerste Rückwirkungen negativer Art auf die in Gang befindlichen Hochschulreformen“ hätten. 32 Ihre ablehnende Haltung brachten die Hochschulrepräsentanten auch unmittelbar gegenüber der EWG-Kommission zum Ausdruck. Rund 150 Personen kamen Ende Oktober 1970 zu einem Kolloquium in Grenoble zusammen, um über die Zukunft einer europäischen Hochschulkooperation zu debattieren. Namhafte Politi-
30 Der Rat der Europäischen Gemeinschaften, Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung der ärztlichen Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, Bonn, den 25.März 1969, in: Deutscher Bundestag. 5. Wahlperiode, Drucksache V/4012. 31 Stand der Arbeit betreffend die Anwendung des Artikels 57 des Romvertrags, o. A. 1971, in: Universitätsarchiv Genf [künftig: UA Genf], CRE, Associations et Divers. Groupe d’experts pour les questions concernant des Com. Européennes. 32 Walter Rüegg, Bericht über das Kolloquium Grenoble, welches vom 29.–31.10.1970 stattfand, vom 26.3.1971, Frankfurt am Main, in: UA Genf, CRE, Associations et Divers. Groupe d’experts pour les questions concernant des Com. Européennes.
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ker nahmen an der Veranstaltung teil. Hierzu gehörten Vertreter der Europäischen Kommission sowie nationale Spitzenpolitiker; der ehemalige französische Ministerpräsident Pierre Mendes-France nahm ebenso Teil wie der belgische Erziehungsminister Henri Janne. 33 Im Namen aller europäischen Universitäten verdeutlichten Hochschulrepräsentanten unter der Leitung Walter Rüeggs ihre „einhellige Ablehnung jeglicher zentralistischer Harmonisierungstendenzen auf dem Gebiet der Hochschulausbildung und -forschung“. 34 Ebenso widerholten sie ihre Kritik aus früherer Zeit, dass die Umsetzung solcher hochschulpolitischen Pläne ohne die Einbeziehung von Hochschulrepräsentanten inakzeptabel sei. Die Kritik aus den Universitäten ging nicht spurlos an der Europäischen Kommission vorüber. Intern stellte sie zwar fest, dass die Kritik der „traditionell feindseligen Haltung“ entspräche, die insbesondere in westdeutschen Rektoraten „gegenüber jeglichem Versuch gemeinschaftlicher Lösungen im Hochschulbereich“ vorherrsche. 35 Zugleich signalisierte sie aber ab 1971, dass sie „vielleicht ‚zu weit gegangen‘ sei“. 36 Im Jahr 1973 stellten westdeutsche Hochschulrepräsentanten zufrieden fest, dass die „Schwerverdaulichkeit“ der Richtlinienentwürfe „den Verantwortlichen in Brüssel mittlerweile allgemein klar geworden“ sei. 37 Die Europäische Kommission verfolgte sie in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr weiter.
III. Die sich wandelnde Rolle der Hochschulleiter Die späten 1960er Jahre, in denen die Kontroverse über die Harmonisierung von Hochschulstrukturen geführt wurde, gingen mit einem generationellen Wandel unter Europas Hochschulleitern einher. So verabschiedeten sich prägende Figuren
33
Westdeutsche Rektorenkonferenz, Rundschreiben Nr.593 über das Kolloquium „Die Zusammenarbeit
zwischen den europäischen Universitäten“ in Grenoble vom 29.–31.Oktober 1970, in: UA Genf, CRE, Associations et Divers. Commission des Com. Européennes. 34
Walter Rüegg, Bericht (wie Anm.32).
35
Schreiben von Hartmut Offele, Mitarbeiter des Verbindungsbüros der Europäischen Gemeinschaften
in Bonn, an Maurice Gibon, Hauptberater in der Generaldirektion XII der Europäischen Gemeinschaften, vom 5.Juni 1970 bezüglich des Memorandums der WRK gegen die Harmonisierungspläne, in: AEK Brüssel, IUE 878.
36
Ebd.
37
Warten auf Dahrendorf. Programmansätze über Einzelprojekte? Hochschulen arrangieren sich über
Verbindungsausschuß, in: Deutsche Universitätszeitung vereinigt mit dem Hochschul-Dienst 9, 1973, 378.
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der Aufbaujahre der Europäischen Rektorenkonferenz, die gegen die supranationale Universität gekämpft und sich gegen Harmonisierungsbestrebungen verwahrt hatten. Zu den scheidenden Persönlichkeiten gehörten unter anderem der 1898 geborene erste ERK-Präsident Marcel Bouchard und der 1894 geborene Kölner Rektor Hermann Jahrreiß. 38 Mit ihrem Ausscheiden kamen jüngere Personen in führende Positionen innerhalb der Europäischen Rektorenkonferenz und anderer, eng verbundener europäischer Gremien, insbesondere des Europarats. Zu den neuen Führungsfiguren im Kreis der Hochschulleiter gehörte der 1918 geborene Walter Rüegg. Der Schweizer Altphilologe und Soziologe wurde im Jahr 1961 ordentlicher Professor in Frankfurt am Main; er hatte dort zwischen 1965 und 1970 das Amt des Rektors inne. Im Amtsjahr 1967/68 fungierte er als Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz und wurde daraufhin in der Europäischen Rektorenkonferenz sowie im Europarat aktiv. 39 Neben Rüegg ist Albert E. Sloman zu nennen, der im Jahr 1921 in Cornwall geboren worden war. Sloman fungierte 1962 als erster Vizekanzler der neugegründeten Essex-Universität, die unter seiner Führung als Campus-Universität realisiert wurde. Unter seiner bis 1987 fortdauernden Amtszeit suchte die Essex-Universität enge Bindungen an die Industrie. 40 Sloman übernahm die Präsidentschaft in der Europäischen Rektorenkonferenz für die Jahre 1969 bis 1974. Mit ihm trat erstmals der Leiter einer Reformuniversität an die Spitze der Europäischen Rektorenkonferenz, was aufzeigt, dass die späten 1960er Jahre als eine Transformationsphase in der europäischen Zusammenarbeit der Hochschulleiter aufgefasst werden können, da fortan auch neue reformerische Ideen allmählich auf Akzeptanz stießen. Diese personelle Neuaufstellung ging mit einer inhaltlichen Neupositionierung gegenüber der europäischen politischen Ebene einher. Es setzte ein Annäherungsprozess zwischen den Europäischen Gemeinschaften und den Hochschulen ein, der seit Mitte der 1970er Jahre die Grundlage für die erfolgreich implementierten EGHochschulpolitiken bildete. Diese Annäherung wird im Folgenden an drei Beispielen verdeutlicht: Erstens zeigte sie sich in der Gründung des in Brüssel ansässigen 38 Vgl. Yale Professor Is New Head of University, in: The Guardian, 15.Juli 1955; Jacques Courvoisier, De Dijon à Genève, in: CRE Information 3/47, 1979, 39–42. 39 Vgl. Stefan Rebenich, Humanismus und Demokratie. Zum Tod des Historikers und Soziologen Walter Rüegg, in: Neue Zürcher Zeitung, 5.Mai 2015. 40 Vgl. Nachruf auf Sir Albert Sloman, in: The Telegraph, 5.August 2012, https://www.telegraph.co.uk/ news/obituaries/9454139/Sir-Albert-Sloman.html (abgerufen am 1.2.2018).
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„Verbindungskomitees der nationalen Rektorenkonferenzen der Europäischen Gemeinschaften“. Dieses Komitee etablierte sich als Expertenvereinigung und beriet die europäischen Gemeinschaftsorgane fortan in Hochschulfragen. Zweitens spiegelte sie sich in einer neuen hochschulpolitischen Agenda, die unter Einbeziehung zahlreicher Hochschulvertreter erarbeitet wurde. Drittens wird die weitere Annäherung in dem 1976 verabschiedeten „Joint Study Programme Scheme“ deutlich. 1. Die Gründung eines Verbindungskomitees Noch im Zuge der Kontroverse über die Harmonisierung von Studienstrukturen einigten sich Rektoren unter Leitung Walter Rüeggs mit der Europäischen Kommission auf gemeinsame Gespräche in Brüssel. 41 Aus dem Gesprächsprotokoll der Kommission über ein Treffen mit Hochschulrepräsentanten vom 15.Juli 1971 wird eine gegenseitige Annäherung deutlich: Theodor Vogelaar, der als EG-Generaldirektor für den Binnenmarkt fungierte, rechtfertigte die Richtlinienentwürfe der Kommission und verteidigte das quantitative Vorgehen. Offen erklärte er die Zahlenfixiertheit der Kommission für „notwendig, da sie für eine Beurteilung nach qualitativen Maßstäben keine ausreichende Sachkenntnis im Hochschulbereich habe“. 42 Walter Rüegg erwiderte darauf: „Aber wir als Hochschulexperten haben diese Sachkenntnis und sie steht Ihnen zur Verfügung.“ 43 Dieser Meinungsaustausch steht beispielhaft dafür, dass beide Seiten von den informellen Treffen zu profitieren gedachten: Während die Kommission aufgrund fehlender bildungspolitischer Expertise auf Sachkenntnisse von außen angewiesen war, eröffnete sich den Universitätsleitern eine Tür in die Kommission, um ihre Positionen unmittelbar vortragen und damit Einfluss auf die Ausgestaltung hochschulpolitischer Vorhaben gewinnen zu können.
41
Ab 1971 setzte ein anhaltender Austausch von Hochschulvertretern mit Kommissaren und Mitarbei-
tern der Europäischen Gemeinschaften ein. Auf Seiten der Universitäten nahmen neben Walter Rüegg meist Alois Gerlo, Rektor der Brüsseler Vrije Universität, sowie die Rektoren Carnacini aus Bologna, Roche aus Paris und van Trier aus Eindhoven teil. Außer aus Luxemburg, das zu dieser Zeit noch keine Universität hatte, entsandte damit jeder nationale Hochschulverband einen Rektor als stellvertretenden Repräsentanten der nationalen Hochschulverbände. Bereits auf ihren Zusammenkünften mit EG-Vertretern diskutierten die Gesprächsteilnehmer über die Möglichkeit dauerhafter Konsultationen. 42
Aktennotiz über das Gespräch vom 15.Juli 1971 in Brüssel der Europäischen Kommission, vertreten
durch die Herren Haferkamp, Vogelaar, de Crayencour und Wegenbauer sowie den Universitätsvertretern aus den EG-Mitgliedsstaaten, in: AEK Brüssel, BDT 64/84 (1657), Conférence permanente des recteurs et vice-présidents des universités européennes (CRE) 1971–1979. 43
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Ebd.
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Den Hochschulleitern wurde damit erstmals von der EG-Kommission die Rolle als externe Experten in beratender Funktion zugeschrieben. Wie aus den ausgewerteten Unterlagen hervorgeht, diskutierten die Kommissare und Hochschulrepräsentanten zwei Modi der Zusammenarbeit. Erstens verhandelten sie über eine formelle Einbindung der Universitätsleiter in hochschulpolitische Entscheidungsfindungsprozesse und damit über eine politisch konstituierte und nach außen kommunizierbare und sichtbare Zusammenarbeit; zweitens diskutierten sie über eine zwar institutionalisierte, aber zugleich informell und damit unter dem Radar der interessierten Öffentlichkeit bleibende Zusammenarbeit. Für erstere Variante warb Walter Rüegg: Der ehemalige WRK-Präsident forderte auf einer Sitzung im April 1972 gegenüber der Kommission eine „institutionelle Beteiligung“ 44 und ein „Mitspracherecht“ 45 für die Universitäten der EG-Staaten in allen hochschulrelevanten Aushandlungsprozessen. Auf Seiten der Kommission wurde mit Blick auf eine solche formelle Beteiligung allerdings Skepsis formuliert und dagegen für die zweite informelle Variante geworben. Wilhelm Haferkampf, der von 1970 bis 1973 als Kommissar für Energie und Binnenmarkt sowie als Vizepräsident der Europäischen Kommission fungierte, brachte gegenüber den Rektoren zum Ausdruck, dass eine Institutionalisierung der Zusammenarbeit „mit einem langwierigen Gründungsprozeß“ verbunden sein würde. Daher schlug er vor, die Treffen informell zu halten, aber zugleich in einen festen Rahmen zu packen. Er warb dafür, dass in einem etwa vierteljährlichen Turnus Beratungen in Brüssel auf der Grundlage festgelegter Tagesordnungen stattfinden sollten. 46 Theodor Vogelaar, Generaldirektor für den Binnenmarkt, sah eine formelle Einbindung ähnlich kritisch und plädierte für eine informelle Zusage einer kontinuierlichen Zusammenarbeit, was von Seiten der Kommission als ein „Gentlemen Agreement“ angesehen und künftig eingehalten werden würde. Vogelaar versicherte, eine solche informelle Lösung sei für die Universitäten nützlicher als eine formelle Zusammenarbeit, da „allzu offizielle Gründungstexte“ dazu führten, dass „EG-Mitgliedsländer die Zu-
44 Protokoll der Expertengruppe für Fragen der Europäischen Gemeinschaften von ihrer Sitzung vom 15.April 1972 in Nizza, in: UA Genf, CRE, Associations et Divers. Groupe d’experts pour les questions concernant des Com. Européennes. 45 Ebd. 46 Bericht der Expertengruppe für Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaften (EG) im Hochschulbereich. Entwurf vom 20.10.1971, in: UA Genf, CRE, Associations et Divers. Groupe d’experts pour les questions concernant des Com. Européennes.
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sammensetzung des Gremiums bestimmen wollten“. 47 Gerade über eine informelle Zusammenarbeit könnte dagegen sichergestellt werden, dass die Universitäten ihr Gewicht in den hochschulrelevanten europäischen Entscheidungsprozessen dauerhaft einbringen könnten. Eine informelle Arbeitsweise schien den Universitätsrepräsentanten vorläufig eine annehmbare Lösung zu sein. Walter Rüegg hatte bereits bei der Gesprächsrunde mit Kommissaren im Mai 1971 erklärt, dass es den Hochschulen zuvörderst um „Zweckmäßigkeitserwägungen“ gehe und sie daher nicht auf eine formelle Institutionalisierung fixiert seien. 48 Im Frühjahr 1972 stellte Rüegg bereits zufrieden fest, dass die Treffen zwar informell abgehalten würden, allerdings „‚offiziösen‘ Charakter“ entwickelten. 49 Vertreter der Europäischen Gemeinschaften und der Universitäten schufen sich also institutionalisierte, aber vorerst informell gehaltene Bindungen, die andauern sollten. Auf der Grundlage dieses Modus entschieden die involvierten Hochschulvertreter, in Absprache mit der Europäischen Rektorenkonferenz und ihren nationalen Verbänden, eine neue Vereinigung zu gründen, die von Brüssel aus agieren und auf die hochschulpolitischen Debatten der Europäischen Gemeinschaften zugeschnitten werden sollte. 50 Diese Vereinigung arbeitete fortan unter dem Namen „Verbindungskomitee der Rektorenkonferenzen der Europäischen Gemeinschaften“. Es entwickelte sich im Laufe der 1970er Jahre zu einem von der Europäischen Kommission anerkannten und dauerhaft konsultierten Beratungsorgan für europäische Hochschulaktivitäten. 51 Alan A. Bath, der in leitender Funktion für die Generaldi47
Aktennotiz über das Gespräch am 6.Mai 1971 in Brüssel zwischen dem Vizepräsidenten der Kommis-
sion der Europäischen Gemeinschaften (EG), Herrn Haferkamp, begleitet von Herrn Th. Vogelaar, Generaldirektor, Generaldirektion XIV der Kommission, von Herrn F. Froschmaier, Berater des Vizepräsidenten der Kommission, von Herrn M. Kohnstamm, Präsident des Instituts der EG für Hochschulstudien einerseits und dem Vizepräsident der WRK, Herrn Professor Rüegg, begleitet von den Herren G. von Götz, Internationale Abteilung der WRK, und Professor Gerlo, Rektor der Freien Universität Brüssel und Beauftragter der Belgischen Rektorenkonferenz andererseits, in: UA Genf, CRE, Associations et Divers. Groupe d’experts pour les questions concernant des Com. Européennes. 48
Ebd.
49
Protokoll der Sitzung der Expertengruppe für Fragen der Europäischen Gemeinschaft vom 21.Januar
1972 in Genf, in: UA Genf, CRE, Associations et Divers. Groupe d’experts pour les questions concernant des Com. Européennes. 50
CRE, Procès-verbal de la réunion du 11 Janvier 1973 à Genève, in: AEK Brüssel, BDT 64/84 (1657), Con-
férence permanente des recteurs et vice-présidents des universités européennes (CRE) 1971–1979. 51
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Die Dauerhaftigkeit der Bindungen spiegelt sich in Stellungnahmen, die die Europäische Kommis-
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rektion für Forschung, Wissenschaft und Bildung der Europäischen Kommission tätig war, stellte am 21.Oktober 1977 fest: „We have built up a relationship of mutual confidence with the Liaison Committee, and it is most important that they should not feel that the Commission is insensitive to their respective nation Conferences’ interest in these important areas.“ 52
Der Annäherungsprozess zwischen Hochschulleitern und den Brüsseler Gemeinschaftsorganen mündete damit in eine Institutionalisierung der Hochschulzusammenarbeit, um die Funktion des externen Experten in weiteren hochschulpolitischen Entscheidungsprozessen der EG wahrnehmen zu können. 2. Eine neue hochschulpolitische Agenda Neben der Institutionalisierung der europäischen Zusammenarbeit der Hochschulverbände wirkten Hochschulangehörige auch an der Erarbeitung einer neuen hochschulpolitischen Agenda mit. Anstelle supranationaler Universitäten oder einer radikalen Harmonisierung traten neue Themen in den Fokus, die für die EG und die Universitäten gleichermaßen als tragbar erschienen. Entscheidende Weichen stellte hierfür der ehemalige belgische Erziehungsminister und Professor für Soziologie, Henri Janne. Auf Anfrage der Kommission vom 19.Juli 1972 arbeitete Janne an einem Bericht über neue Wege für eine künftige europäische Bildungspolitik. Bei der Erarbeitung des Berichts, den er 1973 dem ersten für Bildung zuständigen Kommissar Ralf Dahrendorf vorlegte, band er zahlreiche Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Bildung und Gesellschaft ein. Zu der Expertengruppe, die Janne berief, gehörten nicht nur ehemalige Wissenschafts- und Bildungsminister, sondern auch Forscher, Journalisten und Direktoren außeruniversitärer Forschungseinrichtungen. 53 Eine besonders gewichtige Gruppe innerhalb der rund 30-köpfigen Expertengruppe stellten die Hochschulleiter dar. Zu den mitwirkenden Universitätsrepräsion in den späten 1970er Jahren abgab. Vgl. Note of a Meeting with the Liaison Committee of the Rector’s Conferences of Member States of the European Communities Held on 18 November 1974 at the Fondation Universitaire, Brussels, in: AEK Brüssel, BDT 64/84 (1658), Conférence permanente des recteurs et vice-présidents des universités européennes (CRE) 1971–1979. 52 Brief aus der Generaldirektion für Forschung, Wissenschaft und Bildung der Europäischen Kommission von Alan A. Bath an Herr Jones vom 21.Oktober 1977, in: AEK Brüssel, BDT 64/84 (1660), Conférence permanente des recteurs et vice-présidents des universités européennes (CRE) 1971–1979. 53 Henri Janne, For a Community Policy on Education, in: Bulletin of the European Communities, Supplement 10, 1973, 58f., hier 58.
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sentanten gehörte Eric Ashby, der als ehemaliger Vizekanzler der Cambridge University die erste große europäische Rektorenkonferenz 1955 ausgerichtet hatte. Außerdem gehörte Maurice Niveau dazu, der von 1966 bis 1975 das Amt des Rektors an der Universität Grenoble bekleidete. Ferner war Hans Löwbeer in die Ausarbeitung des Berichtes eingebunden, der von 1969 bis 1980 als Kanzler der Stockholmer Universität fungierte. Hinzu kamen Hendrik Brugmans, Rektor des in Brügge angesiedelten „College of Europe“, sowie Asa Brigs, der von 1967 bis 1976 als Vizekanzler der Essex-Universität fungierte. Zu dem Expertenkreis um Janne gehörte außerdem Albert E. Sloman, der von 1969 bis 1974 als Präsident der Europäischen Rektorenkonferenz fungierte und damit als Stellvertreter einer Vielzahl europäischer Hochschulen eingebunden wurde. Allein diese Aufzählung macht deutlich, dass bei den Bemühungen um eine Neuausrichtung der EG-Bildungsagenda erstmals Vertreter tertiärer Bildungseinrichtungen unmittelbar und frühzeitig Gehör fanden und mit einem beratenden Expertenstatus in die Verhandlungen eingebunden wurden. Zentraler Gedanke der Expertengruppe bezüglich des Hochschulwesens war die Neuausrichtung auf eine lockere Rahmensetzung durch die europäische Ebene, die durch selbstverantwortlich eingebundene Hochschulakteure auf freiwilliger Basis ausgestaltet werden sollte. 54 Nicht europäische Richtlinien oder Direktiven sollten zu einer Europäisierung im Hochschulwesen führen, sondern eine von den Hochschulen selbst vorangetriebene Förderung des Austauschs von Lehrenden und Lernenden. Die Autoren um Janne stellten in ihrem Bericht fest: „At university level, the forming of consortia with well-defined goals seems to be the best method for exchanges and the best framework for mobility. Here, the Communities must play the role of promoters, particularly by creating the necessary means, encouraging the preparatory contacts and suggesting objectives.“ 55
Die europäischen Gemeinschaftsorgane sollten also Impulse in einem flexiblen Rahmen setzen und damit zu einer auf universitärer Ebene selbstständig initiierten Mobilität beitragen. Hierfür sollte die EG finanzielle Anreize setzen, damit eine freiwillige Mitwirkung der Hochschulen Realität werden würde. Den EG-Organen fiele
54
European Commission, For a Community Policy on Education. Summary of the Report by Professor
Henri Janne. Information Memo P-53/73, October 1973, http://aei.pitt.edu/30203/1/P_53_73.pdf (abgerufen am 19.2.2018). 55
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Janne, Community (wie Anm.53), 58.
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die Rolle des Rahmen- und Impulsgebers staatenübergreifender Hochschulaktivität zu, während nationale und regionale politische Akteure sowie Hochschulangehörige für die praktische Ausgestaltung und Umsetzung zuständig sein sollten. 56 Der Janne-Bericht steht beispielhaft für die Neuausrichtung der bildungspolitischen EG-Bemühungen, die am 9.Februar 1976 von den Bildungsministern der EG-Staaten
aufgegriffen und in einer Resolution zu einem „Aktionsprogramm im Bildungsbereich“ 57 verabschiedet wurden. 58 Darin führten die Minister aus, dass es auf europäischer hochschulpolitischer Ebene darum gehen müsse, die „Kontakte zwischen verschiedenen Hochschulen“ zu fördern und „Hindernisse […] der Mobilität“ von Forschenden, Lehrenden und Studierenden zu beseitigen. Zweitens sah ihre Resolution vor, zur Steigerung der Mobilität Finanzmittel auf europäischer Ebene zur Verfügung zu stellen. Einzelstaatliche Stipendiensysteme sollten damit durch europäische Fördermaßnahmen ergänzt werden. Drittens legte die Resolution einen Schwerpunkt auf die Selbstständigkeit der Hochschulen. Die Resolution hob nicht nur die „Autonomie“ der Universitäten hervor, welche es bei europäischen Hochschulaktivitäten zu achten gelte. Es wurde außerdem betont, dass eine „Aussprache mit Verantwortlichen des Hochschulbereichs“ durchzuführen sei und es den Universitäten selbst obliege, die Mobilitätsmaßnahmen konkret auszugestalten. Die von der Expertengruppe um Janne ausgearbeitete neue Agenda wurde damit von den Regierungen der Gemeinschaftsstaaten bestätigt. 3. Das „Joint Study Programmes Scheme“ von 1976 Die Annäherung von Universitätsleitern und Hochschulverbänden einerseits und den Europäischen Gemeinschaften andererseits führte nicht nur zu gegenseitigen Konsultationen und einer neuen Agenda, sondern wurde 1976 auch erstmals in praktische Maßnahmen überführt. Denn die Grundgedanken der Resolution spiegelten sich in dem sogenannten „Joint Study Programmes Scheme“, das als dezentral
56 Zusätzlich sollten sich die Europäischen Gemeinschaften auf die Förderung der Fremdsprachenkenntnisse und auf den europaweiten Austausch von Informationen und Dokumentationen konzentrieren. Diese zusätzlichen Bereiche waren dazu angetan, die Mobilität mit sprachlichen und organisatorischen Kenntnissen über die europäische Hochschullandschaft zu vereinfachen. 57 Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen vom 9.Februar 1976 mit einem Aktionsprogramm im Bildungsbereich, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 19.Februar 1976, Nr.C38/1. 58 Ebd.
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durchzuführendes Mobilitätsprogramm angelegt war. Es handelte sich um einen flexiblen Rahmen, in dem es den Hochschulen möglich gemacht wurde, sich mit eigenen Mobilitätsprogrammen zu bewerben und damit Finanzmittel für selbstverwaltete Initiativen des grenzübergreifenden Austauschs von Hochschulangehörigen einzuwerben. Der Rahmen des „Joint Study Programmes Scheme“ sah eine konzentrierte Förderung auf drei Feldern vor: Erstens sollten Programme von Hochschulen gefördert werden, bei denen Studierende einen Teil ihrer Studien in europäischen Partnereinrichtungen durchführen würden. Um an Fördergelder der EG zu kommen, mussten die sich bewerbenden Hochschulen sicherstellen, dass die im EG-Ausland absolvierten Studienteile ihrer Studierenden anerkannt würden und integraler Bestandteil der Studienordnung seien. Ohne standardisierte Vorgaben auf europäischer Ebene zu machen, konnte sich die Europäische Kommission auf diese Weise erhoffen, maßgeblich zur gegenseitigen Anerkennung von Studienleistungen beizutragen. Zweitens sollten Programme gefördert werden, in denen ein Teil der Kurse durch Lehrende von Partnereinrichtungen aus dem europäischen Ausland unterrichtet wurde. Universitäten konnten sich folglich nicht nur mit Programminitiativen bewerben, die sich an Studierende richteten, sondern auch mit solchen, welche die Hochschullehrer verschiedener Staaten zusammenbrachten. Drittens sollten Unternehmungen einer Hochschule gefördert werden, welche darauf zielten, die Hochschuleinrichtungen anderer EG-Länder vorzustellen und damit die Grundlage für einen Austausch zu schaffen. 59 Hierbei verzichteten die Europäischen Gemeinschaften auf die Voraussetzung, dass Studierende oder Lehrende eingebunden sein mussten. Europäische politische Akteure setzten damit abstrakte Rahmenvorgaben und gaben finanzielle Anreize, wobei sie es den Hochschulen überließen, wie sie ihre Kooperationsvereinbarungen konkret ausgestalten wollten. Die Akzeptanz der EG-Programminitiative in den Hochschulen lässt sich an einigen Statistiken ablesen. Während im Jahr 1977 insgesamt 67 Bewerbungen eingereicht wurden, waren es 1982 bereits 240 und damit mehr als drei Mal so viele Bewerbungen. 60 Bis zu dessen Ablösung durch das bis heute bestehende Erasmus-Pro-
59
Second Plenary Conference on Joint Study Programmes 27–29 November 1985, Brussels, in: The Joint
Study Programme Newsletter of the Commission, 1/1985, 2, http://aei.pitt.edu/80579/1/1985_Volume_1_Joint_Study_Programme.pdf (abgerufen am 27.1.2018). 60
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Guy Neave, The EEC and Education. Trentham 1984, 91.
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gramm (seit Mitte der 1980er Jahre) wurden insgesamt 467 Förderungen bewilligt. In 269 Fällen hatte es sich um „Joint Study Programmes“ gehandelt, an denen drei bis vier Fakultäten unterschiedlicher Universitäten zusammenarbeiteten. 61 Die Europäische Kommission unter Jacques Delors wertete daher das Zustandekommen des „Joint Study Programmes Scheme“ rückblickend als die Initialzündung für die späteren bildungspolitischen Unternehmungen der Europäischen Gemeinschaften wie das Erasmus-Programm. Der irische Kommissar Peter Sutherland urteilte 1985 über die Etablierung des Hochschulfeldes auf europäischer Ebene: „higher education […] [is] a sphere of activity which has seen notable successes for the Commission since the introduction of the 1976 Action Programme“. 62 Die Akzeptanz des Programmschemas lässt sich auch anhand der Ratschläge ablesen, welche die Vertreter der nationalen Rektorenkonferenzen der Europäischen Kommission in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erteilten. Europas Hochschulverbände stellten nicht mehr das EG-Engagement prinzipiell infrage, sondern bemühten sich vielmehr, die auf europäischer Ebene zur Verfügung stehenden Gelder in eine Ausweitung der Programmfinanzierung und ähnlicher Förderaktivitäten fließen zu lassen. 63 Dieses Bestreben spiegelt sich beispielhaft in einer Stellungnahme des „Committee of the Heads of the Irish Universities“, die nach der 1973 vollzogenen Norderweiterung ebenfalls davon profitierten und die Europäischen Gemeinschaften im April 1977 aufforderten, eine noch aktivere hochschulpolitische Rolle zu spielen und dabei das Augenmerk konsequent auf die Programmfinanzierung für den Austausch von Studierenden und Lehrenden zu richten. Für Forschungsaufenthalte fehle meist finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite, weshalb die Europäischen Gemeinschaften gerade darauf aus sein sollten, diese Lücken zu schließen. 64 Zugleich empfahlen sie der Kommission, sich verstärkt um eine Informa-
61 Für das akademische Jahr 1977/78 eröffnete die Europäische Kommission zudem einen weiteren Förderzweig über ihr „Short Study Visits Scheme“, das es Angehörigen der Hochschulverwaltungen erlaubte, eine Partnerverwaltung im europäischen Ausland für bis zu vier Wochen finanzieren zu können. 62 Peter Sutherland, Foreword, in: The Joint Study Programme Newsletter of the Commission, 1/1985, http://aei.pitt.edu/80579/1/1985_Volume_1_Joint_Study_Programme.pdf (abgerufen am 27.1.2018). 63 Liaison Committee of Rectors’ Conferences of Member States of the European Communities, Eleventh Meeting, Held in Edinburgh, on Wednesday 20 April 1977. Minutes, in: AEK Brüssel, BDT 64/84 (1660), Conférence permanente des recteurs et vice-présidents des universités européennes (CRE) 1971–1979. 64 Note by the Irish Delegation on ‚co-operation in the field of education‘, Dublin, 17 February 1975, in: AEK Brüssel, BDT 64/84 (1660), Conférence permanente des recteurs et vice-présidents des universités européennes (CRE) 1971–1979.
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tionsinfrastruktur zu kümmern, die es den Universitäten möglich mache, miteinander in Kontakt zu treten und Programmvereinbarungen auszuhandeln. Die Ratschläge des irischen Hochschulverbandes stehen beispielhaft für das neue Verhältnis zwischen Universitätsleitern und den Europäischen Gemeinschaften in den 1970er Jahren. Das „Action Study Programme Scheme“ lässt sich damit als ein finanziell ausgestattetes europäisches Rahmenprogramm verstehen, das von den Universitätsleitern gefordert und gefördert wurde. Diese Forderung und Förderung des „Action Study Programme Scheme“ wurde durch die schlechter werdende nationalstaatliche Finanzierung der Hochschulen erleichtert. ERK-Präsident Albert E. Sloman sprach im September 1974 gegenüber europäischen Universitätsleitern auf einer Rektorenkonferenz in Bologna von einer wirtschaftlichen Krisenzeit, die die Forschung und Lehre an den Hochschulen in fast allen Teilen des Kontinents bedrohe und neue Auswege aus dieser Krise nötig werden lasse. 65 „It is that universities should more and more look beyond their national boundaries to ensure their health, even perhaps their survival. […] The potential gravity of the present crisis has given new impetus, and a new urgency, to European university solidarity and co-operation.“ 66
In diesem Sinne schien einer der Auswege aus der Krise eine Annäherung an die Europäischen Gemeinschaften darzustellen, die sich dank neuem hochschulpolitischem Profil und durch die Bereitstellung von Geldmitteln zur Hochschulförderung zu einem für die Hochschulleiter akzeptablen Partner entwickelt hatten.
IV. Fazit – Universitätsleiter als Hochschulexperten? Die in den Blick genommenen Hochschulleiter begannen sich in den 1950er und frühen 1960er Jahren aus den Konflikten mit internationalen Regierungsorganisationen zu einer eigenen Interessengemeinschaft zu formieren. Aufgrund des anfänglich fehlenden Einflusses versuchten sie sich bis in die späten 1960er Jahre insbeson-
65
Albert Sloman Official Opening Ceremony, 1 September 1974, in: CRE (Ed.), The European Universi-
ties 1975–1985. 5th General Assembly of the Standing Conference of Rectors and Vice-Chancellors of the European Universities Convened in Bologna from 1 to 7 September 1974. Oxford 1975, 3. 66
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Ebd.
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dere über Lobbyarbeit auf informellen Wegen bei den Europäischen Gemeinschaften Gehör zu verschaffen. Dabei handelten sie aus dem Motiv, alte nationalstaatliche Hochschulsysteme zu erhalten und ihre nationalstaatlichen Privilegien auch in einem neuen europäischen Gefüge zu bewahren, da sie fürchteten, dass ihre Universitäten durch ausgreifende überstaatliche Politiken marginalisiert und in ihren Rechten beschnitten werden könnten. Daher organisierten sie sich gegen supranationale Universitätspläne und gegen Harmonisierungsbestrebungen der Europäischen Kommission. Erst im Zuge der Annäherung an die Europäischen Gemeinschaften in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren wurde es ihnen möglich, eine neue Rolle zu übernehmen und als externe Experten für die EG zu fungieren. Diese neue Rolle eröffnete sich ihnen in zweifachem Zuschnitt: Zum einen übernahmen sie die Rolle von beratenden Experten, die ihre Expertise noch vor der Ausformulierung von Politiken zur Verfügung stellten. So waren sie zentrale Akteure bei der Neuformulierung einer EG-Hochschulagenda. Zum anderen kam ihnen die Rolle des handelnden Experten zu, was nach Verabschiedung des „Joint Study Programmes Scheme“ deutlich wurde, bei dem sie eigeninitiativ Kooperationen in die Wege leiten und über europäische Fördertöpfe finanzieren lassen konnten. Diese neue Expertenrolle nahmen sie auch aufgrund veränderter politischer, wirtschaftlicher und personeller Rahmenbedingungen an. So waren die Europäischen Gemeinschaften von ihren weitreichenden Politikvorstellungen einer Harmonisierung und Supranationalisierung abgerückt. Die meist nationalstaatlich organisierten Hochschulen mussten damit nicht weiter befürchten, durch europäische Hochschulmaßnahmen marginalisiert oder in ihren akademischen Freiheiten beschnitten zu werden. Ebenso zeigten sich Universitätsleiter in zunehmendem Maße bereit, eine Expertenrolle anzunehmen, um die erstmals zur Verfügung gestellten Geldmittel der EG für das Hochschulwesen für sich in Anspruch nehmen zu können. Europäische Fördergelder wurden als ein attraktives Angebot bei sonst klammen Hochschulkassen angesehen. Außerdem führte ein generationeller Wandel unter den Hochschulakteuren dazu, dass zunehmend Hochschulangehörige auf europäischer Ebene aktiv wurden, die EG-Hochschulpolitiken nicht grundsätzlich ablehnten. So erwuchs in den 1970er Jahren ein neuer europäischer Modus operandi für Hochschulpolitiken, bei der Akteure mehrerer politischer Ebenen und Akteure aus den Hochschulen in die Entscheidungsfindungs- und Ausgestaltungsprozesse beratend und gestaltend eingebunden wurden. Damit war eine europäische Hochschulpolitik auf Grundlage geteilter Verantwortlichkeiten geschaffen.
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Die Autorinnen und Autoren
Felix Gräfenberg, Westfälische Wilhelms-Universität Münster (SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“), Domplatz 6, 48143 Münster, E-Mail:[email protected] Dr. Regine Jägers, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Konviktstraße 11, 53113 Bonn, E-Mail: [email protected] Dr. Agnes Laba, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften – Geschichte, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, E-Mail: [email protected] Lars Lehmann, M. A., Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Leonrodstraße 46b, 80636 München, E-Mail: [email protected] Alina Marktanner, M. A., Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Paulstraße 3, 50676 Köln, E-Mail: [email protected] David Merschjohann, M. A., Universität Paderborn, E-Mail: [email protected] Dr. Jann Müller, Bonn, E-Mail: [email protected] Peter Ridder, M. A., Berliner Kolleg Kalter Krieg am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Zimmerstraße 56, 10117 Berlin, E-Mail: [email protected] PD Dr. Felix Selgert, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für
Geschichtswissenschaft, Abteilung Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Konviktstraße 11, 53113 Bonn, E-Mail: [email protected] Dr. Jonathan Voges, Leibniz Universität Hannover, Historisches Seminar, Im Moore 21, 30167 Hannover, E-Mail: [email protected]
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