Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive [1 ed.] 9783428515653, 9783428115655

Das Thema "Politikberatung" findet in der deutschen Öffentlichkeit momentan Beachtung wie selten zuvor. Extern

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German Pages 385 Year 2004

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Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive [1 ed.]
 9783428515653, 9783428115655

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 168

Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive

Herausgegeben von

Stefan Fisch und Wilfried Rudloff

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 168

Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive

Herausgegeben von

Stefan Fisch und Wilfried Rudloff

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-11565-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Stefan Fisch Vom Fürstenratgeber zum Politikberater: Perspektiven einer Geschichte der Politikberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wilfried Rudloff Einleitung: Politikberatung als Gegenstand historischer Betrachtung. Forschungsstand, neue Befunde, übergreifende Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Christof Kraus Vorformen und Anfänge wissenschaftlicher Politikberatung im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Margit Szöllösi-Janze Politisierung der Wissenschaften – Verwissenschaftlichung der Politik. Wissenschaftliche Politikberatung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus

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André Steiner Wissenschaft und Politik: Politikberatung in der DDR? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Gabriele Metzler Versachlichung statt Interessenpolitik. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Wilfried Rudloff Wieviel Macht den Räten? Politikberatung im bundesdeutschen Bildungswesen von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Bernd-A. Rusinek Die Rolle der Experten in der Atompolitik am Beispiel der Deutschen Atomkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Sabine Schleiermacher Experte und Lobbyist für Bevölkerungspolitik. Hans Harmsen in Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Detlef J. Blesgen Der Nationalökonom als Politikberater. Thema und Variation am Beispiel von Erich Preiser (1900–1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

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Inhaltsverzeichnis

Hans Peter Mensing Ein „Gehirntrust“ für Adenauer? Beraterstäbe, Meinungsbildung und Politikstil beim ersten Bundeskanzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Daniela Münkel „Das große Gespräch“. Willy Brandt und seine Berater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Clemens Albrecht Expertive versus demonstrative Politikberatung. Adorno bei der Bundeswehr . 297 Frank Bösch Werbefirmen, Meinungsforscher, Professoren. Die Professionalisierung der Politikberatung im Wahlkampf (1949–1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Winfried Süß „Rationale Politik“ durch sozialwissenschaftliche Beratung? Die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform 1966–1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Alexander Schmidt-Gernig Das „kybernetische Zeitalter“. Zur Bedeutung wissenschaftlicher Leitbilder für die Politikberatung am Beispiel der Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Carl Böhret Hofnarren, Denkfabriken, Politik-Coach: Chancen und Schwierigkeiten der Politikberatung damals und heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

Vom Fürstenratgeber zum Politikberater: Perspektiven einer Geschichte der Politikberatung Von Stefan Fisch Die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (DHV), die einzige reine Postgraduiertenhochschule in Deutschland, ist 1947 durch die französische Besatzungsmacht gegründet worden, ein Jahr nach der École Nationale d’Administration in Paris und gewissermaßen als deren petite soeur. Nachdem von Preußen-Deutschland drei Kriege gegen Frankreich ausgegangen waren, wollte Frankreich einen neuen Typus deutscher Verwaltungsbeamter heranziehen, der ganz anders geprägt sein sollte als zuvor. In Speyer, in der geographischen Mitte der französischen Besatzungszone (von Rolandseck bis Lindau), sollte solch eine neue Verwaltungselite herangebildet werden, die nicht nur zu juristischem Denken, sondern auch zu geschichtlichen, politischen und soziologischen Einsichten befähigt sein sollte. Der Lehrstuhl für Geschichte gehört so zum Grundbestand der interdisziplinär angelegten Hochschule. Die Entwürfe der Beiträge dieses Bandes wurden im Oktober 2001 auf einer Tagung des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung (FÖV) bei der DHV Speyer vorgestellt und intensiv diskutiert. Im Mittelpunkt steht der Schub an Verwissenschaftlichung, der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfolgte. Über die spezifischen Fragestellungen und Ergebnisse der einzelnen Beiträge unterrichtet der folgende Aufsatz meines Mitarbeiters und Mitherausgebers Wilfried Rudloff. Die Veranstaltung wurde ganz entscheidend durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Für diese Unterstützung und die bewährte Zusammenarbeit mit Hochschule und Forschungsinstitut danken die Herausgeber den Institutionen und den darin arbeitenden Menschen, und sie danken den Beiträgern für ihre Mühen und die Geduld, die erforderlich war, um möglichst alle Autoren im Boot zu behalten. Das Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung sieht seine Aufgabe mit einer knappen Formel als „Forschung für und über Verwaltung“. Es geht dabei um Wissenschaft, die sich analytisch mit Entscheidungen in Politik und Verwaltung beschäftigt, und um Wissenschaft, die für solche praktisch-politischen Entscheidungen Vorarbeiten leistet – und damit sind wir mitten im Thema der Tagung und des vorliegenden Bandes, der Vermessung desjenigen Tätigkeitsbereiches von Wissenschaft, der mit Beratung von Politik zu tun hat.

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Stefan Fisch

Die Übergänge zwischen der Entscheidung in der Politik und ihrer Exekution durch die Verwaltung sind in der Tat diffus, wie der Blick auf ein begriffsgeschichtliches Beispiel zeigt. Das Kernpersonal der deutschen Verwaltung stellen bis heute „Räte“ dar, Regierungsräte, Bauräte, Forsträte, Medizinalräte, früher auch noch Bundesbahn- und Posträte, und nicht zuletzt die unentbehrlichen Amtsräte. Auch bei der Europäischen Kommission in Brüssel lautet die amtliche Übersetzung für den administrateur principal in deutscher Sprache „Hauptverwaltungsrat“. Diese Vielzahl von Räten in der Verwaltung von heute berät freilich längst nicht mehr, sie implementiert vor allem. Die „BindestrichRäte“ von heute stellen eine Schwundform der echten Fürstenratgeber dar, der Geheimräte des 19. Jahrhunderts und mehr noch der consiliarii secreti absolutistischer Fürsten. Diese Räte früherer Zeit waren „beratende Räte“ in einem doppelten Sinn. Beratung bedeutete zunächst Beratung untereinander, also die Geltung des kollegialischen Prinzips statt des von Max Weber so sehr als modern hervorgehobenen hierarchischen. Beratung war aber immer auch das Erteilen von Rat an den Fürsten bei der Vorbereitung und Findung seiner Entscheidungen. Auch in den frühneuzeitlichen Republiken gab es dieses Phänomen, nur brauchte man andere Bezeichnungen für diese hauptamtlich Beratenden, weil das Wort „Rat“ hier ja schon besetzt war für den Träger der Souveränität, das Äquivalent zum Fürsten. So versah in der freien Reichsstadt Speyer ein secretarius oder Stadtschreiber diese Funktion der Beratung des Rats und der Umsetzung seiner Beschlüsse, und in Basel und einigen anderen Schweizer Kantonen trägt bis heute der höchste Beamte die Amtsbezeichnung Staatsschreiber. Allen bekannt ist schließlich erste Handbuch der Politikberatung, dem sein Autor ausdrücklich wünschte, daß es in der Späre der Macht gelesen und bedacht werde,1 „Il Principe“. Das Buch ist aus der Verwaltungspraxis seines Verfassers Niccolò Machiavelli erwachsen. Er war lange Jahre Sekretär der zweiten Kanzlei der Segretaria della Repubblica fiorentina und in dieser Leitungsfunktion engster Berater des gonfaloniere a vita der Republik Florenz, Piero Soderini. Die Räte und die Sekretärinnen in den Verwaltungen von heute erinnern somit noch von ferne an die geheimen Ratgeber der Frühen Neuzeit. Rat zu geben und Rat anzunehmen ist essentiell für politisches Entscheiden und Handeln. Diese Beratung im engeren Sinne unterschied sich von dem, was die mittelalterliche Formel von Rat und Hilfe der Stände für ihren Herrscher zu suggerieren suchte. Sie verdeutlichte in Wirklichkeit den festen Anspruch von Mit-Beteiligten auf Mit-Entscheidung – unter Berücksichtigung der eigenen Interessen, der sich auf ihre finanzielle oder militärische Beihilfe gründete. Politikberatung im anderen, engeren Sinne des sachlichen, vielleicht noch nicht wissenschaftlichen Rats entstand schon vor dem Aufkommen des egalitär-demokra1 In der Widmung des „Principe“ erwartet Machiavelli von seinem ersten Leser Lorenzo di Medici, daß sein Büchlein „fia diligentamente considerato e letto“.

Vom Fürstenratgeber zum Politikberater

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tischen Verfassungs- und Rechtsstaates und ebenso schon vor dem Durchbruch der modernen empirischen Wissenschaften und der damit einhergehenden Verwissenschaftlichung unseres gesamten Lebens. Die Folge waren grundlegende Veränderungen in den Prozessen der Beratung, in der Qualität des Rates und nicht zuletzt in den Wirkungen der Politikberatung, die bei der Tagung und in diesem Band besonders untersucht werden sollten. Von den Anfängen der Politikberatung in der Frühen Neuzeit ausgehend, zeigen sich dabei für die Moderne drei große Problemfelder: I. Moderne Institutionalisierung eines individuellen Beratungsprozesses „Ein Fürst muß sich stets beraten lassen, aber nur, wenn er will, nicht, wenn die anderen wollen.“2 Diese Betonung des einen absoluten Willens in Machiavellis Grundsatz paßt nicht mehr zur Realität der Moderne. Ein gewaltenteilend organisiertes politisches System, das demokratisch an die Gesellschaft rückgekoppelt ist, hat einen entsprechend ausgebauten Entscheidungsvorbereitungsund Durchführungsapparat. Heute hat kein Alleinherrscher mehr ein Monopol darauf, um Rat zu fragen. Es gibt vielmehr einen Wettbewerb von Ratschlägen und Ratgebern. Enquête-Kommissionen der Parlamente, Beiräte der Ministerien und unabhängige Sachverständigenräte sind pluralistisch zusammengesetzt und stehen miteinander in einem vielschichtigen Verhältnis von Verflechtung und Konflikt. Alle diese Formen der Beratung sind hochgradig institutionalisiert. Das wirft einige Fragen auf für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik: – Verträgt sich Wissenschaftlichkeit mit bloßer Widerspiegelung von gegenläufigen Meinungen in der Gesellschaft, und verträgt sie sich mit institutioneller Etabliertheit? – Ist mit der Institutionalisierung von pluralistischer Beratung durch Beraterkollektive auch ihre Unterordnung unter konkrete Interessen einhergegangen? II. Moderne Entpersönlichung, Objektivität und Parteilichkeit Der moderne institutionalisierte Wettbewerb der Ratschläge baute das persönliche Verhältnis zwischen dem Berater und dem Entscheider ab. Machiavelli konstatierte noch ein delikates Gleichgewicht zwischen ihnen und verlangte, daß ein Ratgeber „nie an sich denken [darf], sondern immer nur an den Fürsten, und [ihm] nie etwas raten darf, was nicht in seinem [nämlich des Fürsten] Interesse ist“.3 Im Gegenzug erwartete er vom Fürsten, daß er „nicht müde wer2 Il Principe, c. 23: „Uno principe, per tanto, debbe consigliarsi sempre, ma quando lui vuole, e non quando vuole altri.“ 3 Il Principe, c. 22: „. . . quello che ha lo stato d’uno in mano, non debbe pensare mai a sé, ma sempre al principe, e non li ricordare mai cosa che non appartenga a lui.“

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Stefan Fisch

den darf, die Wahrheit anzuhören“4 und daß er mit seinen Ratgebern so umgeht, „daß jeder merkt, er werde um so beliebter sein, je freier und offener er redet“5. Gerade die Suche nach Wahrheit und die Freiheit des Denkens konstituieren auch moderne Wissenschaft. Die Probleme entstehen daraus, daß Machiavelli das Verhältnis zwischen Berater und Beratenem noch weiter beobachtet und für seine Zeit eine persönliche Bindung und ein gegenseitiges Vertrauen feststellt.6 Eine derartige Bindung beruhte auf der Erfüllung von Interessen des Beraters durch den Fürsten. Solche Gegenleistungen sind Ehren, Reichtümer und schließlich sogar – grundlegende Dialektik der Politikberatung – Teilhabe an der Macht.7 Auch diese Beobachtung leitet zu weiteren Fragen: – Führt die moderne Entpersönlichung im Prozeß der Beratung in Verbindung mit der expliziten Neutralität moderner Wissenschaften zu einer stärkeren Versachlichung der Beratung? – Oder führt die Pluralisierung der Beratung, die damit verbundene Vielfalt von beteiligten Interessen und nicht zuletzt das Durchschlagen von Erkenntnisinteressen, die vor der Wissenschaft liegen – die Dialektik von Parteilichkeit und Objektivität – zu einer zunehmenden Vermengung von Wissenschaftlichkeit und Interessengeleitetheit? – Was bedeutet in diesem Zusammenhang Max Webers beiläufige Feststellung: „Überlegen ist der Sachkenntnis der Bürokratie nur die Sachkenntnis der privatwirtschaftlichen Interessenten [. . .], weil für sie die genaue Tatsachenkenntnis direkt wirtschaftliche Existenzfrage ist.“8 Wird Rat unausweichlich zum Transportmittel für konkurrierende Interessen und Machtansprüche? – Und ins Konkrete gewendet: Ist es für die Auswahl der Berater wichtiger, daß sie Wissenschaft an sich einbringen oder eine bestimmte Richtung von Wissenschaft mit bestimmten Grundannahmen und Ergebnissen? III. Öffentlichkeit und Geheimnis Mit der Beratung des frühneuzeitlichen Fürsten setzte im Grunde die moderne Machtteilung ein bis hin zu der Machtdiffusion und -auflösung, die den modernen Beratungs- und Politikprozeß bestimmt. Die Trennung von Rat und 4

Il Principe, c. 23: „. . . lui debbe bene esser [. . .] paziente uditore del vero.“ Il Principe, c. 23: „. . . che ognuno cognosca che quanto piú liberamente si parlerà, tanto più li fia accetto.“ 6 Il Principe, c. 22: „possono confidare l’uno dell’altro“. 7 Il Principe, c. 22: „. . . onorandolo, facendolo ricco, obligandoselo, participandoli li onori e carichi.“ 8 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Kapitel IX: Herrschaftssoziologie, 2. Abschnitt: Bürokratische Herrschaft. 5

Vom Fürstenratgeber zum Politikberater

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Entscheidung, von Wissenschaft und Politik ist ein ganz altes Problem, das für Machiavelli nur durch seine unhinterfragte Voraussetzung lösbar war, daß der Fürst selbst weise und wissend sein müsse: „Es ist eine allgemeine Regel, die nie trügt, daß ein Fürst, der nicht an sich weise und wissend ist, nicht gut beraten werden kann“.9 Für ihn sind die beiden Funktionen von Rat und Dezision noch sauber getrennt. Dabei spielt sich die Beratung in der Sphäre eines doppelten Geheimnisses ab; der Fürst hört verschiedene Ratgeber unabhängig voneinander und trifft dann für sich alleine seine Entscheidung. In der Moderne rücken die Vorgänge der Beratung durch Institutionalisierung und Pluralisierung ins Licht der Öffentlichkeit, wie die öffentliche Diskussion der Gesellschaft überhaupt auf den politischen Prozeß und ihre auf Zeit ins Amt berufenen „Fürsten“ permanent zurückwirkt. Auch dieser Strukturwandel der Öffentlichkeit wirft eine Reihe von Fragen auf: – Wenn moderne Beratung und Politik vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden, nutzt dann mehr die Politik die Wissenschaft als Legitimationsstifterin, oder bemächtigt sich eher die Wissenschaft der Entscheidungsmacht? – Geht andererseits die Leitfrage der Tagung und dieses Bandes, welche Wirkungen denn Beratung konkret entfaltet hat, nicht implizit davon aus, daß der politische Prozeß für die zeitgenössische Öffentlichkeit durchaus nicht angemessen durchschaubar war? – Führt also die ex-post-Betrachtung der einzelnen Fälle von Beratung und Entscheidung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu einer Neuvermessung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik im Medium der Beratung und macht so einen „Mehrwert“ nachträglicher historischer Betrachtung deutlich?

9 Il Principe, c. 23: „. . . questa è una regola generale che non falla mai: che uno principe, il quale non sia savio per sé stesso, non può essere consigliato bene.“

Einleitung: Politikberatung als Gegenstand historischer Betrachtung. Forschungsstand, neue Befunde, übergreifende Fragestellungen Von Wilfried Rudloff Das Thema Politikberatung ist momentan in aller Munde. Wo gestern noch die Beratungsresistenz deutscher Politiker beklagt wurde, erscheinen sie heute von Beratern regelrecht umzingelt1. War eben noch von der „ratlosen Republik“ die Rede, begegnet nunmehr überall das Wort von der „Räterepublik“2. Tatsächlich beanspruchen seit den späten neunziger Jahren immer neue Sachverständigenkommissionen die Aufmerksamkeit der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Zugleich hat es den Anschein, als würden sich die politischen Akteure immer weniger zutrauen, aus eigener Kraft – oder mit Hilfe der Ministerialbürokratie – die notwendigen Konzepte hervorzubringen, die für den Umbau der Sozialsysteme, die Reorganisation von Staat und Verwaltung oder die Beantwortung der aktuellen biotechnologischen Grundsatzfragen benötigt werden. Expertengremien wie die Hartz- und die Rürup-Kommission verhelfen ihren Namensgebern wenn schon nicht zu ungeahnter Popularität, so doch zu ungewohnter Publizität. Wie viel davon den natürlichen Prozess historischen Vergessens überdauern wird, lässt sich heute noch nicht sagen. Es darf aber angenommen werden, dass von der aktuellen Blüte der Sachverständigenkultur nur dann etwas im Gedächtnis haften bleiben wird, wenn es den Politikberatern gelingt, konkrete Spuren politischer Wirksamkeit zu hinterlassen. Wie der vorliegende Band zeigt, bietet die historische Erfahrung mancherlei Anschauungsmaterial, um hier vor allzu hochgesteckten Erwartungen zu warnen. Politikberatung hat eine lange Geschichte, und ihre Konjunkturen sind manchmal eher Konjunkturen der Wahrnehmung als solche der tatsächlichen Beratungsintensität. Genauer gesagt: Über der mitunter nur kurzlebigen Bekanntheit einzelner Beratungsgremien darf nicht übersehen werden, dass unabhängig von den Amplitudenschwankungen medialer Aufmerksamkeit der Ratschlag der Sachverständigen lange schon zu einem selbstverständlichen Be-

1 Nina Grunenberg, Einflüstern, steuern, manipulieren. In der Hauptstadt boomt das Geschäft der Besserwisser, in: Die Zeit, 5.7.2001. 2 Marcus Albers/Miriam Hollstein, Die ratlose Republik, in: Welt am Sonntag, 27.7.2003.

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Wilfried Rudloff

standteil des politischen Prozesses geworden ist. Für Politik und vor allem Verwaltung ist der Austausch mit externen Experten eine ebenso unverzichtbare Ressource wie eingespielte Gewohnheit. Was durch die gegenwärtige Hausse der Politikberatung bestätigt wird, ist indes der Erfahrungssatz, dass sich in Krisen- und Umbruchphasen das Nachfrageprofil nach sachverständigem Ratschlag verändert: Nicht mehr nur pfadangepasstes Detailwissen für wenig dehnbare Handlungskorridore wird benötigt, die politischen Möglichkeitsräume verschieben sich vielmehr, es entsteht Bedarf und Nachfrage nach alternativen Ziel- und Handlungsoptionen. Und noch ein Befund übergreifender Natur wird durch die gegenwärtige Entwicklung bestätigt: Die Einrichtung von Sachverständigengremien dient nicht immer nur dem Zweck, den politisch Verantwortlichen mit Wissensvorräten und Urteilsvermögen auszuhelfen. Indem die Expertenrunden selbst die Quersumme aus verschiedenen Denkschulen und Gruppenperspektiven ziehen, haben sie oft auch die Funktion, Konsensmöglichkeiten zu ergründen, die politisch auszuloten die erforderlichen Ansatzpunkte fehlen. Idealiter eröffnen sie damit neue Handlungschancen. Ob dies auch realiter der Fall ist, bleibt jeweils im Einzelfall zu untersuchen. In Amerika ist gelegentlich bereits von den „scientific advisors“ als „the fifth branch of government“ die Rede3. Für die Bundesrepublik dürfte es eher fraglich sein, ob die wissenschaftliche Politikberatung in der öffentlichen Wahrnehmung (nachdem sich die Medien den Titel der „vierten Gewalt“ längst gesichert haben) zur „fünften Gewalt“ aufsteigen wird. Dem steht schon entgegen, dass Wirken und Wirkung der sachverständigen Ratgeber durchschnittlich sehr viel schwieriger abzuschätzen sind, als dies bei den übrigen „Gewalten“ der Fall ist. In der Politikberatung handelt es sich nicht um einen geschlossenen Akteur, das Wirken der Berater ist – wie das Wissen, das sie vermitteln sollen – hochgradig fragmentiert und vollzieht sich zumeist im Verborgenen. Hinzu kommt das Zurechnungsproblem: Aufgrund der Komplexität der Entscheidungsprozesse ist auch dort, wo Politikberatung zweifellos eine Rolle spielt, der ursächliche Anteil des sachverständigen Ratschlags am politischen Handeln selten eindeutig auszumachen. Welche Bedeutung der wissenschaftlichen, semi-wissenschaftlichen oder auch nicht-wissenschaftlichen Expertise im politischen Prozess zukommt, liegt deshalb noch vielfach im Dunkeln. Auch wenn seit den sechziger Jahren unablässig beteuert wird, Politik und Verwaltung kämen ohne die Unterstützung des externen Sachverstands bei der Erledigung ihrer immer komplexeren Aufgaben nicht mehr zu Rande, ist über die realen Wirkungsströme zwischen den beiden Polen an empirisch Gesichertem nur wenig bekannt. Den Adressaten der Politikberatung selbst fällt es oft schwer, sich über Wert und Wirkung des sachverständigen Ratschlags schlüssig zu werden. Schon die 3 Sheila Jasanoff, The fifth branch. Science advisers as policymakers, Cambridge/ Mass. 1990, S. 3.

Einleitung: Politikberatung als Gegenstand historischer Betrachtung

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Antwort auf gelegentliche Anfragen des Bundestags, wie viele Gremien und Berater dem Regierungsapparat denn nun eigentlich zur Verfügung stünden, bereitete dem Bundesinnenministerium erhebliche Mühen. Nach den beiden offiziellen, dabei wohl eher ungenauen Zählungen in der Mitte und am Ende der großen Aufschwungphase bundesdeutscher Politikberatung waren es 1969 203 Gremien mit über 3000 Experten (davon allerdings nur ein Drittel Wissenschaftler4), 1977 dann sogar 358 Gremien mit 5600 Beratern5. Ungleich schwerer musste es fallen, ein Gesamtbild der politischen Wirksamkeit jener Beratungsgremien zu erstellen, also den realen Einfluss der Politikberatung auf die politischen und administrativen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse abzuschätzen, und sei es auch nur in groben Zügen. Wollte man neben dem Gremienwesen dann auch noch alle anderen Formen der Beratung mit einbeziehen – von den staatlichen Forschungsinstituten über die zahlreichen ad hocKommissionen bis hin zu einzelnen Gutachtenaufträgen oder vertraulichen Kamingesprächen –, so verkomplizierte sich die Urteilsbildung bis hin zur Aussichtslosigkeit. Und vollends galt dies, wenn man neben der Bundesebene schließlich noch Länder und Städte6, ja auch die wachsende Zahl der nichtstaatlichen Akteure berücksichtigte, die den Markt der Politikberater in An4 Regierung in Bonn hat 3000 Experten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.8.1969. 5 Deutscher Bundestag, Drucks. V/4585: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Holzmeister, Baier und Genossen betr. Beratungsgremien in und bei den Regierungsressorts, 14.7.1969; Deutscher Bundestag, Drucks. VIII/484: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, 26.5.1977; wie schwierig es jedoch war, bei der Zählung der Gremien zu zuverlässigen Ergebnissen zu gelangen, zeigte der Umstand, dass lediglich ein halbes Jahr nach der Umfrage des Bundesinnenministeriums von 1969 bei einer neuerlichen Umfrage festgestellt werden musste, dass etwa 30% mehr Beiräte bestanden, als damals gemeldet worden waren, Bundesinnenministerium an Chef des Bundeskanzleramtes, 3.12.1969, BArch B 136/5008. Aufgrund einer Befragung der Bonner Ministerien ging Murswieck für 1992 von 294 Beratungsgremien mit ungefähr 2875 Beratern aus, vgl. Axel Murswieck, Wissenschaftliche Beratung im Regierungsprozeß, in: ders. (Hg.), Regieren und Politikberatung, Opladen 1994, S. 103–119, hier S. 112; Renn wiederum sprach 1999 von über 1000 wissenschaftlichen Beratungsgremien in der bundesdeutschen Politik, vgl. Ortwin Renn, Sozialwissenschaftliche Politikberatung. Gesellschaftliche Anforderungen und gelebte Praxis, in: Berlinern Journal für Soziologie 9 (1999), S. 531–548, hier S. 542; vgl. auch Alexandra Unkelbach, Vorbereitung und Übernahme staatlicher Entscheidungen durch plural zusammengesetzte Gremien. Empirische und rechtliche Eckdaten des deutschen Gremienwesens auf Bundesebene, Speyer 2001, S. 12 f.; zur Erfassungsproblematik ferner Sven T. Siefken, Expertengremien der Bundesregierung – Fakten, Fiktionen, Forschungsbedarf, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 24 (2003), S. 483–504, hier S. 484 ff. 6 Man denke nur an die Bedeutung, welche die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) für die Modernisierung der kommunalen Verwaltung besaß (und auch weiterhin besitzt); vgl. insgesamt Heinrich Siepmann, Wissenschaftliche Beratung der Kommunen, in: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. Hg. von Günter Püttner. Bd. 1: Grundlagen, Berlin/Heidelberg/New York 1981, S. 37–54.

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Wilfried Rudloff

spruch nahmen. So ließen sich zwar hier und dort ressortbezogene Sichtschneisen in den Beratungsdschungel schlagen, vollständig lichten ließ sich das dichte Gestrüpp nie. Es konnte deshalb auch nicht verwundern, wenn sich die einen Beobachter mehr und mehr um die unkontrollierte Macht der Experten zu sorgen begannen, während die anderen nach wie vor befanden, dass die externe Beratung der Politik keineswegs weit genug getrieben werde7. Wie sich schnell zeigen sollte, litten fast alle Versuche, die Austauschbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik auf einen einfachen Nenner zu bringen, an Unterkomplexität. Die Wirkungsströme, die von den vielfältigen Varianten der Politikberatung ausgehen, sind ebenso heterogen wie ihre Erscheinungsformen vielfältig, die Arenen ihres Auftretens mannigfach, und die politischen Randbedingungen uneinheitlich. Wenn es um die Setzung regulativer Normen in gesundheits- oder umweltpolitischen Fragen geht, kann davon ausgegangen werden, dass sich das wechselseitige Verhältnis oft inniger (deshalb aber nicht unbedingt einfacher) ausnimmt als in Bereichen wie der Außenpolitik, wo sich die „in-house“-Experten streckenweise eher selbst genügen8. Wenn eine gründliche Problemanalyse gefordert ist, hat die Wissenschaft meist mehr zu bieten, als wenn es sich um die handlungsorientierte Formulierung politisch passfertiger Lösungen handelt9. In der Wahrnehmung der Abnehmer, auch das spielt eine Rolle, zeichnet sich der Ratschlag je nach wissenschaftlicher Disziplin durch einen unterschiedlichen Grad an Verlässlichkeit aus (nach einer Befragung bei Bonner Ministerialbeamten 1975 wurde den Ergebnissen von Physik und Mathematik auf einer bis 100 reichenden Rangskala der Verlässlichkeit jeweils der volle Wert zugesprochen, den Befunden der Soziologie hingegen nur von 23, der Politikwissenschaft von 1710). Es gibt, kurzum, gün7 Vgl. bspw. Josef Kölble, Sachverstand und Verantwortung im Hinblick auf die Aufgabenkomplikation in der Ministerialverwaltung, in: Sachverstand und Verantwortung in der öffentlichen Verwaltung, Vorträge und Diskussionsbeiträge des 34. Staatswissenschaftlichen Fortbildungskursus der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer 1966, Berlin 1966, S. 27–60, hier S. 54 ff. 8 Manfred Mols, Politikberatung im außenpolitischen Entscheidungsprozess, in: Wolf-Dieter Eberwein/Karl Kaiser (Hg.), Deutschlands neue Außenpolitik. Bd. 4: Institutionen und Ressourcen, München 1998, S. 253–264; Achim Schmillen, Politikberatung in der Außenpolitik, in: Gerhard Kümmel (Hg.), Wissenschaft, Politik und Politikberatung. Erkundungen zu einem schwierigen Verhältnis, Strausberg 2002, S. 101–113; für die Entwicklungspolitik vgl. Franz Nuscheler, Illusionen der Politikberatung – am Beispiel der Entwicklungspolitik, in: Uwe Jens/Hajo Romahn (Hg.), Der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik, Marburg 2002, S. 95–106; vgl. auch: Hartmut Ihne, Entwicklungsforschung und Politik. Warum lassen sich die Politiker zu wenig beraten? in: Entwicklung und Zusammenarbeit (E+Z) 43 (2001), S. 68 f.; Entwicklungspolitik und Entwicklungsforschung. Wie hilfreich ist die Wissenschaft für die Politik? Ein Rundgespräch, in: ibid. 45 (2004), S. 12–19. 9 Dies verhält sich genau umgekehrt zu den Funktionsbedürfnissen des politischen Apparates, vgl. B. Guy Peters/Anthony Barker, Introduction: Governments, Information, Advice and Policy-making, in: dies. (Hg.), Advising West European Governments. Inquiries, Expertise and Public Policy, Edinburgh 1993, S. 1–19, bes. S. 18.

Einleitung: Politikberatung als Gegenstand historischer Betrachtung

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stige wie ungünstige Wirksamkeitsbedingungen und effektive wie uneffektive Fälle von Politikberatung. All dies spricht für Untersuchungsformate, die nicht so sehr auf das Ganze, sondern auf signifikante Teilbereiche der Gesamtthematik ausgerichtet sind. Sie dominieren deshalb auch in diesem Band. Und wie immer kommt es ganz wesentlich auf die Bewertungsmaßstäbe an, anhand derer das Wirken der Experten beurteilt wird. Genauso wie die Vorstellung, „that scientists can speak truth to power in a value-free manner“11, besitzt auch die von der politischen Realität hinlänglich widerlegte Erwartungshaltung, der Ratschlag der Experten werde erteilt, um originalgetreu im politischen Prozess umgesetzt zu werden, nur noch geringe Überzeugungskraft. Die politische Wirklichkeit ist meist sehr viel komplexer, und komplexer müssen deshalb auch die verwandten Untersuchungskategorien sein. * Die angedeutete Unübersichtlichkeit hat die wissenschaftliche Anziehungskraft des Untersuchungsgegenstandes nicht unbedingt gemindert, ja eine Zeitlang wohl eher noch verstärkt. Politikberatung ist deshalb auch keine wissenschaftliche terra incognita geblieben. Die Sozial-, Politik- und Verwaltungswissenschaften haben sich des Themenfeldes angenommen und eine Reihe von Untersuchungen vorgelegt, die sich mehrheitlich auf bestimmte Politikfelder konzentrierten12. Daneben traten eher querschnittartig angelegte Arbeiten, die 10 Wolfgang Bruder, Sozialwissenschaften und Politikberatung. Zur Nutzung sozialwissenschaftlicher Informationen in der Ministerialbürokratie, Opladen 1980, S. 63; hier dürften inzwischen zumindest insofern Veränderungen eingetreten sein, als auch die Naturwissenschaften ihren Verlässlichkeitsnimbus eingebüßt haben. 11 Jasanoff, The fifth branch, S. 17; vgl. auch Robert Hoppe, Policy analysis, science and politics: from „speaking truth to power“ to „making sense together“, in: Science and Public Policy 26 (1999), S. 201–210. 12 Wendelin Wilhelm, Wissenschaftliche Beratung der Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Probleme wissenschaftlicher Beiräte bei Bundesministerien unter besonderer Berücksichtigung des Wohnungswirtschaftlichen Beirats beim Bundeswohnungsministerium, Frankfurt a. M. 1968; Regina Molitor (Hg.), Zehn Jahre Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Eine kritische Bestandsaufnahme, Frankfurt a. M. 1973; Rolf Berger, Zur Stellung des Wissenschaftsrats bei der wissenschaftlichen Beratung von Bund und Ländern, Baden-Baden 1974; Claus Wegner, Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1963 bis 1974), Diss. Aachen 1974; Jürgen Krüger, Wissenschaftliche Beratung und sozialpolitische Praxis. Die Relevanz wissenschaftlicher Politikberatung für die Reformversuche um die Gesetzliche Krankenversicherung, Stuttgart 1975; Irmtraud Schlingmann, Zur Funktion des Wissenschaftsrates als wissenschafts- und bildungspolitisches Steuerungsinstrument, Diss. phil. Berlin 1975; Ulla Kleemann, Der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen, Frankfurt a. M. 1977; Wissenschaftszentrum Berlin (Hg.), Interaktion von Wissenschaft und Politik. Theoretische und praktische Probleme der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften,

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eine umfassende Bestandsaufnahme der institutionellen Ordnung wissenschaftlicher Politikberatung mit Überlegungen zu deren Weiterentwicklung verbanden13 oder aber anhand sozialwissenschaftlicher Befragungsmethoden empirischen Aufschluss darüber zu erlangen suchten, wie die Ministerialbürokratie die Angebote des wissenschaftlichen Sachverstands wahrzunehmen pflegte („wahrnehmen“ im doppelten Wortsinn: einerseits perzipierte, andererseits nutzte)14. Eine frühe, breit angelegte und ressortübergreifende Erhebung bei Bonner Ministerialbeamten ergab für das Jahr 1966 unter anderem, dass gut die Hälfte der Befragten der wissenschaftlichen Beratung einen „teilweisen Einfluss“ zuerkennen wollten, zwei Fünftel hingegen von wenig oder keinem Einfluss ausgingen, während nur 7% von einem hohen Einfluss sprachen15. Die starke Stellung der Ministerialbürokratie im politischen Entscheidungsprozess, also die gatekeeperRolle der internen Experten, wurde so als die zentrale Barriere identifiziert, die verhinderte, dass die Beratungsfunktion der externen Experten über untergeordnete Hilfs- und Unterstützungsdienste hinaus ging16. Gerade weil sich ihre Einschätzungen mitunter deutlich widersprachen, war auch die Rückschau von Wissenschaftlern mit eigener Beratererfahrung oft aufschlussreich17. Regelmäßig zur Sprache kam dabei als Kernproblem, dass WisFrankfurt a. M./New York 1977, S. 166–188; Thomas Schneider, Die wirtschaftspolitische Beratung im Vergleich Frankreich und Bundesrepublik Deutschland. Am Beispiel des Conseil Economique et Social und des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Pfaffenweiler 1989; Gerhard I. Timm, Die wissenschaftliche Beratung der Umweltpolitik. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Wiesbaden 1989. 13 Gottfried T. W. Dietzel, Wissenschaft und staatliche Entscheidungsplanung. Rechts- und Organisationsprobleme der wissenschaftlichen Politikberatung, Berlin 1978; als Bestandsaufnahme auch Peter Loviscach, Beiräte bei Verwaltungsbehörden. Eine Untersuchung über die in Beiräten institutionalisierten Beziehungen zwischen Verwaltungsbehörden und Interessenten und Sachverständigen. Phil. Diss., FU Berlin 1968; als frühe Problemsondierung vgl. auch Arnd Morkel, Politik und Wissenschaft. Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Beratung in der Politik, Hamburg 1967. 14 Hannes Friedrich, Staatliche Verwaltung und Wissenschaft. Die wissenschaftliche Beratung der Politik aus der Sicht der Ministerialbürokratie, Frankfurt a. M. 1970; vgl. auch Bruder, Sozialwissenschaften. 15 Friedrich, Staatliche Verwaltung, S. 196 ff. 16 Friedrich, Staatliche Verwaltung, zusammenfassend S. 446 ff. 17 Vgl. etwa als Auswahl aus einer sehr viel größeren Zahl von Beiträgen von Wirtschaftswissenschaftern: Erwin von Beckerath, Der Einfluß der Wirtschaftstheorie auf die Wirtschaftspolitik [1956], in: Ernst Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, 2. Aufl. Köln/Berlin 1965, S. 497–510; Woldemar Koch, Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft, in: Erwin von Beckerath/Herbert Giersch (Hg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, Berlin 1963, S. 405–420; Olaf Sievert, Die wirtschaftliche Beratung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Grundsatzprobleme wirtschaftspolitischer Beratung. Das Beispiel der Stabilisierungspolitik, Berlin 1968, Kurt Schmidt, Warum guter Rat teuer ist. Kritisches und Selbstkritisches zur wissenschaftlichen Politikberatung, in: Franz Xaver Bea/Wolfgang Kitterer (Hg.), Finanzwissenschaft im Dienste der Wirtschaftspolitik.

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senschaft und Politik unterschiedlichen Rationalitäten gehorchen, schwer überwindlichen Kommunikationshemmnissen und divergierenden Anreizstrukturen unterliegen und dass bestenfalls gehofft werden konnte, durch Anpassungen der institutionellen Spielregeln des Beratungswesens die Einflusschancen der Wissenschaft ausweiten zu können. Viele wissenschaftliche Untersuchungen älteren Datums machten im übrigen von dem Kategoriengerüst Gebrauch, das Jürgen Habermas bereit gestellt hatte, als er 1964 auf normativer Grundlage die drei Modelle der „dezisionistischen“ Interaktion (Entscheidungsprärogative der Politik, instrumentelle Verwendung von Wissenschaft, dabei Dissoziation von Sachlogik und Wertsphäre), der „technokratischen“ Interaktion (Souveränität des Fachmanns und des Sachzwangs, die Politik sinkt zum ausführenden Organ einer wissenschaftlichen Intelligenz herab) und der „pragmatistischen“ Interaktion von Wissenschaft und Politik herauspräparierte18. Den letztgenannten Beziehungstypus kennzeichnete Habermas als denjenigen, der aufgrund seines dialogisch-iterativen Kommunikationsmodus und aufgrund des Einbezugs einer kritischen Öffentlichkeit den Anforderungen demokratischer Meinungsbildung als einziger gerecht zu werden versprach19. Für die Zwecke einer generellen Einordnung immer wieder verwandt, blieben der Aufschließungskraft der drei Habermasschen Kategorien, sobald es um die Binnenanalyse des Beratungsprozesses ging, Grenzen gesteckt20. Politikberatung bewegt sich vielfach in einem Zwischenreich zwischen dezisionistischer Instrumentalisierung der Wissenschaft und technokratischer Indienstnahme der Politik, ohne dass deshalb dem pragmatistischen Modell schon Genüge getan würde. Hier bedarf es zusätzlicher begrifflich-analytischer Ordnungskategorien, um die Funktionen, Spielregeln und Wirkungsmechanismen der Interaktion von Expertise und Politik genauer herausschälen zu können. Dieter Pohmer zum 65. Geburtstag, Tübingen 1990, S. 3–18; S. 27–67; Otto Schlecht/ Ulrich van Suntum (Hg.), 30 Jahre Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Krefeld 1995; Hans-Jürgen Krupp, Wirtschaftswissenschaft und Politikberatung, in: Karlheinz Bentele/Bernd Reissert/Ronald Schettkat (Hg.), Die Reformfähigkeit von Industriegesellschaften. Fritz W. Scharpf – Festschrift zu seinem 60. Geburtstag, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 308–325; Klaus-Werner Schatz, Erfolge und Fehlschläge der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung, in: Wirtschaftsdienst 1999, S. 146–150; Wolfgang Franz, Wirtschaftspolitische Beratung: Reminiszenzen und Reflexionen, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 1 (2000), S. 53–71; Bert Rürup/Kilian Bizer, Der Sachverständigenrat und sein Einfluss auf die Politik, in: Jens/Romahn, Der Einfluss, S. 59–73. 18 Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung (1964), in: Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a. M. 1969, S. 120–145. 19 Vgl. hierzu auch Klaus Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik. Ein Beitrag zur Theorie anwendender Sozialwissenschaften, Göttingen 1966, bes. S. 134 f. 20 Vgl. Göttrik Wewer: Politikberatung und Politikgestaltung, in: Klaus Schubert/ Nils C. Bandelow (Hg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse, München/Wien 2003, S. 361–390, hier S. 366 ff.

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Vor allem in den achtziger Jahren haben in den Sozialwissenschaften die Anstöße der amerikanischen „research utilization“-Forschung Beachtung gefunden. In Deutschland unter dem Begriff der „Verwendungsforschung“ weitergeführt, richtet dieser Forschungsansatz sein Augenmerk weniger auf die Akteurskonstellationen oder die Spielregeln des Austauschs. Die „Verwendungsforschung“ spürt vielmehr im Hinblick auf unterschiedlichste Praxiszusammenhänge dem „Einsickern“ sozialwissenschaftlicher Wissensbestände in die handlungsleitenden Wissensgrundlagen der Akteure nach, um auf solche Weise auch die mittelbaren, schwieriger zu identifizierenden, oft verschlungenen, ja nicht selten versteckten Spuren der Diffusion wissenschaftlich generierten Wissens in den Blick zu bekommen21. Gegenüber einer vornehmlich instrumentell gedachten „engineering function“ wird die „enlightenment function“ des Wissenstransfers betont: Nicht mehr so sehr um den unmittelbaren Beitrag zur Lösung konkreter politischer Probleme geht es hier, sondern darum, wie sozialwissenschaftliche Wissensbestände im Zuge von kontinuierlichen Lernprozessen die „kognitive Landkarte“ der politischen Akteure beeinflussen22. Als Generalthese diente den deutschen Hauptvertretern dabei die Annahme, dass sich Wissen im Prozess der Aneignung bis hin zur Unkenntlichkeit verändern kann – das machte nun allerdings die Erforschung und Bewertung nicht gerade einfacher. Zwar stand die politische Arena in der deutschen Verwendungsforschung nicht im gleichen Maße wie in der amerikanischen „research utilization“-Forschung im Blickpunkt. Gleichwohl lassen sich die Einsichten der Verwendungsforschung auch fruchtbringend auf das Feld der Politikberatung übertragen23. Mit ihrer Adap21 Matthias Wingens, Soziologisches Wissen und politische Praxis. Neue theoretische Entwicklungen der Verwendungsforschung, Frankfurt/New York 1988; maßgeblich im deutschen Raum war hier v. a. Ulrich Beck/Wolfgang Bonß, Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? Zum Strukturwandel von Sozialwissenschaft und Praxis, in: dies. (Hg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung. Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt a. M. 1989, S. 7–45; vgl. auch dies., Soziologie und Modernisierung, in: Soziale Welt 35 (1984) S. 381–406; Christoph Lau/ Ulrich Beck, Definitionsmacht und Grenzen angewandter Sozialwissenschaft. Eine Untersuchung am Beispiel der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, Opladen 1989. 22 Carol H. Weiss, The Circuitry of Enlightenment. Diffusion of Social Science Research to Policymakers, in: Knowledge: Creation, Diffusion, Utilization 8 (1986), S. 274–281; von Weiss vgl. auch als Typologie von Verwendungsmodellen: dies., The Many Meanings of Research Utilization, in: Martin Bulmer, u. a., Social Science and Social Policy, London 1986, S. 31–40; für das „rationale“ und das „enlightenment“Modell vgl. auch Martin Bulmer, The Policy Process and the Place in it of Social Research, in: ibid., S. 3–30. 23 Volker Ronge, Politikberatung im Licht der Erkenntnisse soziologischer Verwendungsforschung, in: Heine von Alemann/Annette Vogel (Hg.), Soziologische Beratung. Praxisfelder und Perspektiven, Opladen 1996, S. 135–144; ders., „Ressortforschung“ als Modus der Verwendung (sozial)wissenschaftlichen Wissens, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 9 (1988), S. 161–176; vgl. auch Michael Krautzberger/Hellmut Wollmann, Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens im Gesetzgebungsverfahren. Zur Gesetzgebungsarbeit des Bundesbauministeriums, in: ibid., S. 177–189.

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tion verändern sich vor allem die Bewertungskriterien, anhand derer Einflusschancen und Wirkungsmechanismen gemessen werden. Noch kaum in das operative Begriffs- und Analyseinstrumentarium der bundesdeutschen Politikberatungsforschung eingegangen sind indes die Prämissen der amerikanischen „science and technological studies“, die einem konstruktivistischen Wissenschaftsbegriff verpflichtet sind24. Hervorgegangen aus Mikrostudien zur Erzeugung wissenschaftlicher Befunde im Beobachtungsfeld des Labors wurden Erkenntnisprozesse hier als kontingente Operationen der sozialen Konstruktion und des Aushandelns gedeutet. Wissenschaftlichem Wissen wird kein privilegierter kognitiver Status mehr zuerkannt, Wissenschaft und Politik bilden folgerichtig auch keine distinkten Welten. Dass wissenschaftlicher Ratschlag oft das Ergebnis komplexer Verhandlungsprozesse darstellt – der Berater unter sich, aber auch von Beratern und Beratenen –, bildet als empirisch vielfältig erhärtete Beobachtung eine auffällige Parallele zu den Grundannahmen der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie. Sie könnte dazu einladen, die analytischen Potentiale des in seinem radikalen Relativismus freilich auch problematischen Ansatzes stärker auszuloten25. Zwischenzeitig auf kleinerer Flamme fortgesetzt, lebt die Diskussion in letzter Zeit wieder auf. Dabei handelt es sich offenkundig um einen Rückkopplungseffekt des hohen öffentlichen Aufmerksamkeitswerts, den Politikberatung momentan genießt. Zugleich dürfte aber auch ins Gewicht fallen, dass das in aller Munde befindliche Generalparadigma der „Wissensgesellschaft“ das Interesse an der Frage neu belebt hat, wie denn jenes Wissen erzeugt, erneuert, verbreitet und umgesetzt wird, von dem angenommen wird, dass nicht nur die gesellschaftlichen Akteure, sondern auch staatliche Agenturen mehr denn je darauf angewiesen sind26. Von den Wirtschaftswissenschaften sind in letzter Zeit 24 Vgl. als Überblick Sheila Jasanoff/Gerald D. Markle/James C. Petersen/Trevor Pinch (Hg.), Handbook of Science and Technology Studies. Revised Edition, Thousand Oaks, London, New Delhi 2001. 25 Zur Auseinandersetzung mit der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie vgl. etwa Peter Weingart, Wissenschaftssoziologie, Bielefeld 2003, S. 67 ff.; Hans-Willy Hohn, Kognitive Strukturen und Steuerungsprobleme der Forschung. Kernphysik und Informatik im Vergleich, Frankfurt a. M./New York 1994, S. 40 ff. 26 Als Auswahl einschlägiger Publikationen zum Thema „Wissensgesellschaft“: Gernot Böhme/Nico Stehr (Hg.), The Knowledge Society. The Growing Impact of Scientific Knowledge on Social Relations, Dordrecht 1986; Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt 1994; ders., Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt a. M. 2003; Helmut Willke, Supervision des Staates, Frankfurt a. M. 1997; ders., Dystopia, Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002; als Überblick: Martin Heidenreich, Die Debatte um die Wissensgesellschaft, in: Stefan Böschen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 25–51; vgl. demnächst auch Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates. Wissensbasierte Organisation in Verwaltung und Regierung, Baden-Baden 2004 [im Druck].

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Diskussionsbeiträge vorgelegt worden, die ausgehend von den Grundannahmen der Public Choice-Theorie und geleitet von institutionenökonomischen Ansätzen in eine Reihe von präskriptiven Aussagen vergleichbarer Stoßrichtung einmünden. Den Politikberatern wird geraten, sich stärker der Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit zu bedienen, um durch gesteigerte „Konsumentenfreundlichkeit“ ihre Einflussmöglichkeiten erhöhen zu können27. Oder es wird nahegelegt, eine Unterscheidung zu treffen zwischen Politikerberatung, die unter Berücksichtigung des principal-agent-Problems auch die Anreizstrukturen ihrer Adressaten zu reflektieren habe (sprich: die Wiederwahlrestriktion), und Politikberatung, die sich an die Bürger wende, in der Annahme, dass deren konsensfähiges Gesamtinteresse sich weit eher darauf beziehe, „gemeinsame Besserstellung durch kollektives Handeln zu realisieren.“28 Die nicht immer unproblematischen Voraussetzungen, die in solche und ähnliche Modelle eingeflossen sind, brauchen hier nicht weiter diskutiert zu werden29. Deutlich wird jedenfalls, dass sie die schwer zu vereinbarenden Eigengesetzlichkeiten von Wissenschaft und Politik stärker in Rechnung zu stellen bemüht sind, als dies eine „naive Politikberatung“30 zuvor getan hat. Von größerem Nutzen für einen historischen Zugriff dürften freilich Analyseraster von der Art sein, wie sie Harald Heinrichs in seiner vergleichenden Untersuchung der umweltpolitischen Beratungssysteme in Deutschland und den USA vorgelegt hat. Sein Frage- und Einordnungsschema beruht auf vier Bestimmungsfaktoren: Die Kategorie „politische Distanz“ nimmt das Ausmaß der Einflussnahme ins Visier, welche die Politik auf die Beratung ausübt, wobei dann Gesichtspunkte wie die Themenvorgabe, die Selektion der Disziplinen, die Rekrutierung der Mitglieder oder auch die unmittelbare Mitwirkung am Beratungsprozess im Mittelpunkt stehen. Die Kategorie „politische Funktion“ wird in die vier Verwendungsmuster Entscheidungsvorbereitung, Argumentations27 Thomas Apolte/Thomas Wilke, Größere Effizienz der Wirtschaftspolitik durch institutionalisierte wissenschaftliche Politikberatung? in: Dieter Cassel (Hg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Bd. 57), Stuttgart 1998, S. 770–789. 28 Susanne Cassel, Politikberatung und Politikerberatung. Eine institutionenökonomische Analyse der wissenschaftlichen Beratung der Wirtschaftspolitik, Bern/Stuttgart/Wien 2001, Zitat S. 77. 29 Vgl. als Literaturbericht und kritische Durchleuchtung Karsten Mause/Klaus Heine, Ökonomische Analysen wissenschaftlicher Politikberatung, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS) 44 (2003), S. 395–440; als weitere Beispiele für das neuerwachte Interesse der Wirtschaftswissenschaften an der Politikberatung vgl. im übrigen auch Katrin von Wulffen, Politikberatung in der Demokratie. Zur Anwendung institutionenökonomischer Konzepte auf die Gesellschafts- und Unternehmenspolitik, Berlin 1996; Ulrich Albertshauser/Hermann Knödler (Hg.), Ökonomie und Politikberatung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, Berlin 2000. 30 Carl Christian von Weizsäcker, Wissenschaftliche Beratung der Wirtschaftspolitik, in: Wirtschaftsdienst 1999, S. 143–146.

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hilfe, Ideenpool, Hintergrundwissen untergliedert. Auch der „Umgang mit Wissens-, Werte- und Interessenpluralismus“ wird als implizite oder explizite Maßgabe des Beratungsgeschehens zu einem zentralen Bestimmungsfaktor. Die letzte Kategorie „Kommunikation, Interaktion, Inklusion“ bezieht sich auf die interne wie externe Kommunikation, im letzteren Fall unter Gesichtspunkten wie Öffentlichkeits- und Medienarbeit, Transparenz oder Kommunikationsstil31. Bei variabler Verwendung ist damit ein analytisches Strukturierungsmuster gegeben, das sich auch auf andere Beratungskontexte übertragen lässt. In der Politikwissenschaft wird ganz allgemein dem Faktor „Ideen“ als selbständiger, nicht ableitbarer Einflussgröße seit einiger Zeit wieder mehr Beachtung geschenkt32. Auch für die Politikwissenschaft gilt also, dass „Wirklichkeitskonstruktionen“, „Überzeugungssysteme“, handlungsleitende Deutungsmuster, normativ-ideelle Präferenzen oder eben Expertenwissen gegenüber institutionalistischen, interessenorientierten und rational choice-Ansätzen neuen Stellenwert gewonnen haben33. Neben die interessengeleiteten Verhandlungsprozesse treten damit als Komponenten des politischen Prozesses wissensbasierte Lernprozesse34. Indem Ideen und Überzeugungssysteme als Erklärungsvariablen politischer Veränderungen wieder ernst genommen werden, rücken Politikberatung und Expertise neu ins Blickfeld, und sei es auch nur, weil sie Interessen- und Verteilungskonflikte in „ideelle Güterkonflikte“ zu transformieren vermögen35. * 31 Harald Heinrichs, Politikberatung in der Wissensgesellschaft. Eine Analyse umweltpolitischer Beratungssysteme, Wiesbaden 2002. 32 Vgl. Frank Nullmeier, Wissen und Policy-Forschung. Wissenspolitologie und rhetorisch-dialektisches Handlungsmodell, in: Adrienne Héritier (Hg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung. Opladen 1993, S. 175–196; auch ders., Interpretative Ansätze in der Politikwissenschaft, in: Arthur Benz/Wolfgang Seibel (Hg.), Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft – eine Zwischenbilanz, Baden-Baden 1997, S. 101–144; Dietmar Braun, Der Einfluß von Ideen und Überzeugungssystemen auf die politische Problemlösung, in: PVS 39 (1998), S. 797–818; Paul A. Sabatier, Advocacy-Koalitionen, Policy-Wandel und Policy-Lernen, in: Héritier, Policy-Analyse, S. 116–148. 33 Als Versöhnungsangebot vgl. Andreas Busch, Durch Wandel zur Annäherung? Politische Ideen und rational choice, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 10 (2000), S. 999–1014. 34 Vgl. z. B. Michael Böcher, Umweltpolitisch reformunfähige Demokratie? PolicyLernen, Diffusion von Wissen und die Rolle der wissenschaftlichen Politikberatung als Voraussetzungen für umweltpolitischen Instrumentenwandel, in: Andrea Grund/Thomas Noetzel (Hg.), Zukunft der Demokratie in Deutschland, Opladen 2001, S. 399– 415; allg. Nils C. Bandelow, Policy Lernen und politische Veränderungen, in: Schubert/ders., Lehrbuch, S. 289–331. 35 Vgl. Braun, Der Einfluss, S. 803 ff. und 813 ff., Zitat S. 815; für eine wissenspolitiologische Betrachtung von Politikberatung, die den Akzent auf die Öffnung und Schließung „innerpolitischer Kommunikationsräume“ legt, vgl. auch Karen Jaehrling, Der Einsatz wissenschaftlicher Beratung zur Strukturierung der politischen Kommuni-

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Mit dem Vorstoßen der Zeitgeschichtsforschung in die sechziger und siebziger Jahre wird das Thema Politikberatung auch für Historiker absehbar an Gewicht gewinnen. Viele der Reformprozesse jener Jahre, man denke nur an die Strafrechts-, die Psychiatrie- oder die Bildungsreform (allesamt von historischer Seite noch kaum gründlich erforscht), lassen sich angemessen nur beschreiben, wenn man die Rolle der Sachverständigen und damit den Dialog zwischen Expertentum und politisch-administrativen Apparat berücksichtigt. Auch wenn sich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik auf anderen Politikfeldern eher episodisch ausnehmen mochte, hat man es insgesamt in jenen Jahren mit einer Entwicklung zu tun, die erwartungsvoll als „Verwissenschaftlichung“ der Politik beschrieben wurde. Das war zwar, wie sich bei genauerer Betrachtung bald zeigen sollte, eine durchaus problematische Charakterisierung36, umschrieb zumindest aber den evidenten Grundtatbestand, dass nicht nur Politik für die Wissenschaft, sondern auch Wissenschaft für die Politik zu einer immer wichtigeren Ressource wurde37. Spannt man den analytischen Rahmen noch ein Stück weiter auf, handelte es sich bei all dem zugleich um einen Teilausschnitt jener säkularen „Verwissenschaftlichung des Sozialen“, die Lutz Raphael beschrieben hat38. Solange jedenfalls die Vorstellung, gesellschaftlicher Wandel sei mehr als bisher plan- und gestaltbar, die nachhaltigen Ernüchterungsprozesse noch nicht durchlaufen hatte, wie sie seit den siebziger Jahren die Oberhand gewannen39, war auch der Gedanke, den politischen Prozess durch Bereitstellung wissenschaftlicher „Entscheidungshilfen“40 auf eine neue Rationalitätsstufe heben zu können, weit verbreitet. Der Soziologe Hans Paul Barth sprach 1963 die Erwartung aus, die neuen Herausforderungen der Politik würden „in kation – eine „informelle“ Funktion am Beispiel der Wehrpflichtdebatte, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), S. 686–699. 36 Wilfried Rudloff, Verwissenschaftlichung der Politik? Wissenschaftliche Politikberatung in den sechziger Jahren, in: Collin/Horstmann, Das Wissen des Staates. 37 Vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51. 38 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. 39 Vgl. dazu Klaus Lompe, Wissenschaft und politische Steuerung. Ein einführender Überblick über die Entwicklung und die heutigen Probleme der Politikberatung, in: ders./Hans Heinrich Rass/Dieter Rehfeld, Enquête-Kommissionen und Royal Commissions. Beispiele wissenschaftlicher Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien, Göttingen 1981, S. 10–69, hier S. 39 ff.; für ein Vier-Phasen-Modell der Entwicklung sozialwissenschaftlicher Politikberatung in der Bundesrepublik bis zur Ära Kohl vgl. Ferdinand Müller-Rommel, Sozialwissenschaftliche Politik-Beratung. Probleme und Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25/ 1984, S. 26–39. 40 Carl Böhret, Entscheidungshilfen für die Regierung. Modelle, Instrumente, Probleme, Opladen 1970.

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absehbarer Zeit einen Grad an Mitwirkung der Wissenschaft an der Entscheidungsvorbereitung erzwingen, der hierzulande noch unbekannt“ sei. Wie an der Entwicklung fortgeschrittenerer Länder abgelesen werden könne, sei dafür der Ausdruck „wissenschaftliche Beratung“ eigentlich noch viel zu schwach41. Der rapide Ausbau der sich zugleich immer mehr diversifizierenden Infrastruktur bundesdeutscher Politikberatung schien ihm bald Recht zu geben42. Neue und neuartige Wissensbestände (Demoskopie, soziale Indikatoren, politische Kybernetik, Prognosemethoden, Planungsverfahren, Systemforschung, EDV, moderne Führungs- und Managementtechniken etc.43) wurden auf ihre politische Verwertbarkeit hin durchleuchtet. Bevor die zunehmende Politisierung der Expertise solche Erwartungen weitgehend wieder zunichte machte, schien Aussicht zu bestehen, die Politik im Zeichen ihrer Verwissenschaftlichung wenn nicht entpolitisieren, so doch zumindest entideologisieren zu können44. Im einzelnen ist dies hier nicht weiter zu vertiefen, zumal eine ganze Reihe der in diesem Band versammelten Beiträge Themenausschnitte des angedeuteten Gesamtzusammenhangs behandeln. Es bleibt aber festzuhalten, dass bislang weder die Hochphase der Politikberatung noch deren Vorgeschichte und Nachfolgeperioden hinreichend zum Gegenstand systematischen Forschens der Historiker gemacht worden sind45. Immerhin, für die Gesamtentwicklung der Politikberatung in der Bundesrepublik liegt mit der politikwissenschaftlichen Darstellung von Peter Krevert eine erste, weitwinkelig angelegte, deshalb in manchem eher grobkörnige, zumeist aber sehr nützliche Untersuchung vor, die als Plattform für weitere Expeditionen in ein noch wenig gesichertes Terrain genutzt werden kann46. Davon und von wenigen weiteren Ausnahmen abgesehen47 stehen breit angelegte Untersuchungen aus historischer Perspektive indes noch aus. 41 Hans Paul Bahrdt, Forschung und Staat, in: Atomzeitalter 1963, S. 84–89, hier S. 86. 42 Vgl. als Gesamtüberblick für die sechziger und frühen siebziger Jahre Rudloff, Verwissenschaftlichung der Politik? 43 Siehe auch die Beiträge von Bösch, Schmidt-Gernig und Süß in diesem Band. 44 Klassisch: Robert E. Lane, The decline of political ideology in a knowledgeable society, in: American Sociological Review 31 (1966), S. 649–662, bes. 658 f. 45 Gabriele Metzler bezeichnet die Geschichte der Politikberatung in den sechziger Jahren als eines der größten Desiderate in der Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik, vgl. dies., Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 57–103, hier S. 81, dort, S. 81 ff., auch weitere Ausführungen zum Thema. 46 Peter Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien, Probleme und Perspektiven im Kooperationsfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Münster/Hamburg 1993; zum Thema Politikberatung aus politikwissenschaftlicher Sicht vgl. im übrigen Axel Murswieck, Regieren und Politikberatung, Opladen 1994; ders., Policy Advice and Decision-making in the German Federal Bureaucracy, in: Peters/Barker, Advising West European Governments, S. 87–97; Rainer Fey, Politikwissenschaft und Politikberatung, in: Jürgen Bellers/Rüdiger Robert (Hg.), Politikwissenschaft I. Grundkurs, Mün-

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Einen Zeitabschnitt deutscher Geschichte freilich wird man von einer solchen Mängelanzeige inzwischen ausnehmen müssen. Denn am eindringlichsten und ertragreichsten hat sich bislang die NS-Forschung des Gegenstandsfeldes angenommen, ob nun unter dem Begriff der „Politikberatung“ oder unter anderer Begrifflichkeit. Gerade in letzter Zeit wurde, wiewohl vornehmlich mit Blick auf die Angebotsseite der Beratung, die Verstrickung einzelner Wissenschaftler und Wissenschaftszweige in die Planungen und Herrschaftspraktiken des NSRegimes sehr intensiv erforscht48. Das neue Licht, das dabei auf die Bereitschaft vor allem junger und aufstrebender Wissenschaftler gefallen ist, ihr Wissen und ihre Expertise in den Dienst der NS-Bevölkerungs-, Besatzungs-, Expansions- und Vernichtungspolitik zu stellen, hat gleichsam an den dunkelsten Seiten des hier zu erörternden Problems vor Augen geführt, dass Politikberatung keine Erfindung der zweiten Jahrhunderthälfte war49. Ganz allgemein ist ster 1990, S. 224–243; Hellmut Wollmann, Politikberatung, in: Lexikon der Politik. Hg. von Dieter Nohlen, Bd. 2: Politikwissenschaftliche Methoden, München 1994, S. 301–308. 47 Als Beispiele aus jüngster Zeit sind etwa noch zu nennen: für die Gründungsgeschichte eines prominenten Sachverständigengremiums Alexander Nützenadel, Wissenschaftliche Politikberatung in der Bundesrepublik. Die Gründung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage [sic] 1963, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89 (2002), S. 288–306; für das Wirken einer bundesdeutschen „Denkfabrik“ Daniel Eisermann, Außenpolitik und Strategiediskussion. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 1955 bis 1972, München 1999; für die Biographie eines langjährigen Politikberaters Detlef J. Blesgen, Erich Preiser – Wirken und wirtschaftspolitische Wirkungen eines deutschen Nationalökonomen (1900–1967), Berlin u. a. 2000. 48 Vgl. besonders Michael Burleigh, Germany turns eastwards. A study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Mechtild Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum“. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin 1990; Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991 (mit einigen Überzeichnungen); Karl Heinz Roth, Intelligenz und Sozialpolitik im „Dritten Reich“. Eine methodisch-historische Studie am Beispiel des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront, München 1993; Mechtild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hg.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993; Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996; Jörg Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“, Münster 1996; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999; Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999 (bes. die Beiträge von G. Aly, W.J. Mommsen, I. Haar, M. Fahlbusch u H. Mommsen); Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000. 49 Die These, die NS-Zeit habe in Deutschland eine lange Tradition der Politikberatung unterbrochen, lässt sich angesichts des neueren Forschungsstandes so kaum mehr halten, vgl. hingegen noch immer Martin Thunert, Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949, in: Ulrich Willems (Hg.), Demokratie und Politik in der Bundesrepublik 1949–1999, Opladen 2001, S. 223–242, hier S. 225.

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vielmehr anzunehmen, dass der moderne Interventionsstaat, wie er seit dem späten 19. Jahrhundert entstand, den Nährboden geschaffen hat, auf dem jene politische Expertenkultur gedeihen konnte, von der dieser Band handelt. Zugleich zeichnet sich immer mehr ab, dass die Verschränkung von Sachverstand und Politik nicht etwa als eine lineare Entwicklung zu verstehen ist. So haben beispielsweise die beiden Weltkriege auf je eigene, dabei aber durchaus reversible Weise die Vernetzung von Expertenwissen und Politik verstärkt. Da der Krieg unter dem Gebot einer restlosen Ressourcenmobilisierung stand, drängte alles in Richtung einer breiten Ausschöpfung wissenschaftlich-technologischer Rationalitätsreserven, gleich wie sich der Umstand, dass die neuen Ordnungsaufgaben der Besatzungspolitik allein mit den überkommenen innerbürokratischen Wissensressourcen und Handlungsroutinen nicht mehr zu bewältigen schienen, zugunsten einer engen Indienstnahme sozialtechnokratischer Expertise auswirkte (handele es sich nun um interne Ressourcen der neuen Herrschaftsapparate oder aber eben um externe Beraterstäbe und Sachverständige). Dass die technokratische Aufrüstung dann vielfach an den idiosynkratischen Realitäten einer widersprüchlichen, bisweilen auch chaotischen Organisation der Kriegsverwaltung abprallte, bildete die nicht zu übersehende Kehrseite desselben Zusammenhangs und darf aus einer etwaigen Gesamtbilanz nicht ausgeblendet bleiben. Wie erst jüngst an punktuellen Tiefenbohrungen für die Zeit der Weimarer Republik und des NS deutlich geworden ist50, dürfte es jedenfalls als lohnende Aufgabe angesehen werden, das Verhältnis von Wissenschaft, Expertise und Politik auch für die Zeitperioden vor 1945 stärker unter die Lupe zu nehmen – nicht nur als „Gelehrtenpolitik“, sondern als realer, politisch wirksamer Austauschprozess. * Zu welchen Periodisierungen und sektoralen Differenzierungen man dabei auch immer kommen wird: Wie die Beiträge dieses Bandes verdeutlichen, lassen sich schon jetzt umrissartig einige der langen historischen Entwicklungslinien skizzieren, die das Verhältnis von externen Experten und Politik bestimmten. Von den frühen Anfängen eines informellen, fast durchweg persönlichen Beratertums führte der Trend im 20. Jahrhundert zur Institutionalisierung und Verstetigung des Austauschs von Sachverstand und Politik. Aus punktuellen Kontakten wurden so nach und nach komplexe Netzwerke. Vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mehrten sich sowohl die ad-hoc berufenen wie auch die auf Dauer gestellten Gremien und Beiräte auf außerordentliche Weise. Zugleich entstand ein immer dichteres Netz an staatlichen, ressortnahen For50 J. Adam Tooze, Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001.

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schungsinstitutionen, das Mitte der achtziger Jahre allein auf Bundesebene 12.000 Mitarbeiter in Forschung und Entwicklung beschäftigte. Es bietet heutet, wie ein Experte jüngst bemerkt hat, „das größte Potential an wissenschaftlicher Beratung“51. Schließlich erklommen auch die einzelnen Gutachten und Forschungsaufträgen zugedachten Haushaltsmittel der Bundes- und Länderressorts vormals unbekannte Höhen – über sie ist bisher am wenigsten Systematisches bekannt52. Die fortschreitende Institutionalisierung der neuen Sachverständigenkultur darf indes nicht mit einer parallel dazu verlaufenden Bedeutungs-, Einfluss- und Wirksamkeitszunahme der Beratungsgremien gleichgesetzt werden: Das persönliche Beratertum alten Musters – weniger prozeduralisiert, meist auf einem besonderen Vertrauensverhältnis beruhend – hatte aufgrund des kurzen Drahts zur Macht mitunter sehr viel wirksamer zu sein vermocht als die nun in großer Zahl in Bewegung gesetzten, dabei aber doch eher langsam mahlenden Mühlen der Gremienberatung. Wer so wie Hermann Josef Abs oder Robert Pferdmenges im Falle Konrad Adenauers mit seinem Rat das Ohr des Kanzlers fand, besaß ungleich höhere Einflusschancen als mancher renommiert zusammengesetzte, aber doch eher ins Leere sprechende wissenschaftliche Beirat. Unterdessen fächerte sich auch die Typologie des Expertentums weiter auf. Neben die Sachverständigen mit expliziter Interessenverankerung, neben den älteren Typus des politischen Professors und neben die Wissenschaftsgrößen mit gelegentlicher Berührung zu den politischen Eliten trat mehr und mehr die Kommissionskoryphäe, ein Expertentypus, dessen Beitrag weniger in der Innovation als in der Transmission bestand, traten die Experten als öffentlichkeitswirksame opinion-leader, als drittmittelgeförderte Modellbastler, als politische Ideenmakler, als Berater im gewerblichen Hauptberuf, als Wissenschaftler in der Politik53. Dem Aufstieg der Figur des Experten folgte der des „Gegenexperten“. Als ein aus ähnlichen Erkenntnisquellen schöpfender Antagonist, dessen Urteil jedoch der vorherrschenden Problemsicht widerspricht, übertrug der 51 Das Zitat nach Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001, S. 158; vgl. im übrigen Hans-Willy Hohn/Uwe Schimank, Konflikte und Gleichgewichte im Forschungssystem. Akteurskonstellationen und Entwicklungspfade in der staatlich finanzierten außeruniversitären Forschung, Frankfurt a. M./New York 1990, S. 57; mit weiter zurückreichendem Untersuchungszuschnitt vgl. auch Peter Lundgreen/Bernd Horn/Wolfgang Krohn/Günter Küppers/Rainer Paslack, Staatliche Forschung in Deutschland 1870–1980, Frankfurt a. M./New York 1986. 52 Als Gesamtüberblick vgl. auch Hellmut Wollmann, Policy Analysis in West Germany’s Federal Government: A Case of Unfinished Governmental and Administrative Modernization? in: Governance 2 (1989), S. 233–266. 53 Für eine Typologie anhand des amerikanischen Beispiels vgl. James A. Smith, The Idea Brokers. Think Tanks and the Rise of the New Policy Elite, New York u. a. 1991, S. 224 f. („scholar-statesman“, „policy specialists“, „policy consultants“, „government experts“, „policy interpreters“, „policy entrepreneurs“).

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„Gegenexperte“ den kontroversen, unabgeschlossenen Charakter des wissenschaftlichen Prozesses in die politische Arena und verkörperte so die politische Vieldeutigkeit des verfügbaren Wissens54. In der Gremienberatung bildete die dominierende Gestalt nicht der rein aus Wissenschaftlern gebildete Beirat, sondern der gemischte Ausschuss, der sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen aus Wissenschaftlern, Interessenvertretern, Politikern, Ministerialbeamten oder Praktikern rekrutierte. Die Gründe hierfür lagen auf der Hand: Weder verfügte die Wissenschaft über ein Informations-, Wissens- und Deutungsmonopol, noch kam man dort, wo es um die Einleitung von Konsensprozessen ging, um die Einbeziehung eines weiter gefassten Akteurskranzes herum55. Der Kreis der Anbieter von Beratung dehnte sich im übrigen auch dadurch weiter aus, dass seit den sechziger Jahren eine Reihe von „Denkfabriken“ gegründet wurden, die mehr oder weniger deutlich dem Vorbild der amerikanischen think tanks nachempfunden waren. Bekannte Beispiel sind die „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (1965) oder das Wissenschaftszentrum in Berlin (1969). Dazu traten dann noch private Forschungsinstitute mit sozialwissenschaftlichem Zuschnitt wie Batelle, Infas, Infratest, Prognos oder Allensbach. Der Markt der Politikberater, auf dem sich inzwischen auch die privaten Unternehmensberatungen tummeln, ist heute bunter und vielgestaltiger, der Wettbewerb unter den Beratern härter denn je56. Schwergewicht und Profil der Beratung unterlagen zeittypischen Schwankungen. Von den sich verändernden Randbedingungen einmal abgesehenen – Krisenzeiten erfordern ein anderes Beratungsprofil als weniger stürmische Zeitperioden – beruhten solche Paradigmenwechsel zumeist auf dem Zusammenspiel von drei Bewegungsfaktoren: Ideen, Mediatoren und Netzwerken. Neue Ordnungsideen, die nicht immer nur der akademischen Welt entspringen mussten, blühten auf, gewannen politische Durchschlagskraft und lösten überkommene Deutungsansätze ab. Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik übernah54 Vgl. – auch zur historischen Einordnung – Dieter Rucht, Gegenöffentlichkeit und Gegenexperten. Zur Institutionalisierung des Widerspruchs in Politik und Recht, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 9 (1988), S. 290–305; Bernhard Badura, Gegenexpertise als wissenschaftssoziologisches und wissenschaftspolitisches Problem, in: Soziale Welt 31 (1980), S. 459–473; Wolfgang von den Daele, Objektives Wissen als politische Ressource: Experten und Gegenexperten im Diskurs, in: ders./Friedhelm Neidhardt (Hg.), Kommunikation und Entscheidung. Politische Funktionen öffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren (WZB-Jahrbuch 1996), Berlin 1996, S. 297–326. 55 Zu den weit ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Wurzeln der gemischten Beiräte und Kommissionen vgl. am gründlichsten Loviscach, Beiräte; ferner Friedrich, Staatliche Verwaltung, S. 47 ff.; Paul Hacker, Die Beiräte für besondere Gebiete der Staatstätigkeit im Deutschen Reich und in seinen bedeutenderen Gliedstaaten, Tübingen 1903, hier bes. S. 26 ff.; und Friedrich Zahn, Verwaltungsbeiräte, in: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. 2. Aufl., hg. von Max Fleischmann, 3. Bd., Tübingen 1914, 727–732. 56 Zu den jüngsten Entwicklungen vgl. bes. Thunert, Politikberatung.

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men wichtige Vermittlungs- und Übersetzungsfunktionen. „Diskurskoalitionen“, zusammengesetzt aus Wissenschaftlern, Politikern, Beamten, Interessenvertretern und Publizisten, machten sich zu Advokaten der neuen Leitkonzepte57. Die Rolle der „Kathedersozialisten“ in der Entstehungsphase des modernen Interventionsstaates, die Leitbildverschiebungen, die mit dem Aufkommen sozialund erbbiologischer Ordnungsvorstellungen seit der Jahrhundertwende in Verbindung standen, die kurze Blüte keynesianischer Steuerungsvorstellungen und sozialwissenschaftlicher Planungskonzepte in den sechziger und frühen siebziger Jahren oder die Übertragung betriebswirtschaftlicher Managementideen auf die öffentliche Verwaltung (New Public Management) seit den neunziger Jahren – all dies sind Beispiele für das Entstehen von „advocacy coalitions“, die sich mehr oder weniger lose um ein Bündel von Kernanliegen formierten58. Auch die nachgefragten Wissensformate änderten sich kontinuierlich. So verschob sich seit den späteren siebziger Jahren das Beratungsprofil, in deutlicher Umkehr zur vorhergegangenen Trendperiode, von den großen Masterplänen und Zukunftsentwürfen zu einer eher kleinformatigen, problemorientierten und damit auch konkreteren „Unterfütterung aktueller Entscheidungssituationen“59. In jüngerer Zeit scheint das Pendel wieder mehr in die entgegengesetzte Richtung auszuschlagen. Als im Anschluss an den sozialliberalen Reformenthusiasmus 57 Peter Wagner, Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870–1980, Frankfurt a. M./New York 1990; für einen historischen Überblick zum Verhältnis von anwendungsorientierter Sozialwissenschaft und Politik vgl. auch Peter Wagner/Hellmut Wollmann, Beyond Serving State and Bureaucracy: Problem-Oriented Social Science in (West) Germany, in: Knowledge and Policy 4 (1991), S. 56–88. 58 Vgl. etwa für die Kathedersozialismus: Dietrich Rueschemeyer/Ronan van Rossem, The Verein für Sozialpolitik and the Fabian Society. A Study in the Sociology of Policy-Relevant Knowledge, in: Dietrich Rueschemeyer/Theda Skocpol (Hg.), States, Social Knowledge, and the Origins of Modern Social Policies, Princeton/New York 1996, S. 117–162; auch (relativierend) Wilfried Rudloff, Politikberater und opinionleader? Der Einfluß von Staatswissenschaftlern und Versicherungsexperten auf die Entstehung der Invaliditäts- und Altersversicherung, in: Stefan Fisch/Ulrike Haerendel (Hg.), Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherung im Sozialstaat, Berlin 2000, S. 93–119; für die bundesrepublikanische Entwicklung Otto Singer, Policy Communities und Diskurs-Koalitionen: Experten und Expertise in der Wirtschaftspolitik, in: Héritier, Policy-Analyse, S. 149–174; ders., Knowledge and Politics in Economic Policy-making. Official Economic Advisors in the USA, Great Britain and Germany, in: Peters/Barker, Advising West European Governments, S. 72–86. 59 Ernst-Hasso Ritter, Perspektiven für die wissenschaftliche Politikberatung. Beobachtungen aus der Sicht der Praxis, in: Joachim Jens Hesse (Hg.), Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft, Opladen 1982, S. 458–464, S. 459; Reimut Jochimsen, Anmerkungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik, in: Neue Sammlung 21 (1981), S. 370–381; vgl. auch Ferdinand Müller-Rommel, Sozialwissenschaftliche Politik-Beratung. Probleme und Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25/ 1984, S. 26–39, hier S. 28 f.; Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 393 ff.; ders., Politikwissenschaftliche Politikberatung in Geschichte und Gegenwart, in: Jens/Romahn, Der Einfluss, S. 75–94.

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der siebziger Jahre deutlich wurde, dass sich den gesetzgeberischen Steuerungsambitionen vielfältige Umsetzungshindernisse in den Weg stellten, wurde die gesetzesvorbereitende durch die Evaluations- und Implementationsberatung ergänzt. Etwas später trat nach amerikanischem Vorbild die Technikfolgenabschätzung hinzu, in noch sehr begrenztem Maße zuletzt dann auch die Gesetzesfolgenabschätzung60. Anfang der neunziger Jahre beschäftigte sich, Murswieck zufolge, nur noch rund ein Viertel der Beratungsgremien mit Aufgaben der Programmformulierung, drei Viertel hingegen waren Durchsetzungstätigkeiten gewidmet61. Derweilen war neben die Konsultation hinter verschlossenen Türen eine Beratung getreten, die stärker die Öffentlichkeit mit einbezog oder diese gar als ihren eigentlichen Resonanzkörper verstand62. Als frühes Beispiel hierfür kann der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1963) gelten, der zu den Adressaten seiner Beratung auch die breitere Öffentlichkeit zählte. Durch neue Instrumente wie die Anhörung, die wissenschaftlichen Dienste der Parlamente oder die parlamentarische Enquete wurde seit Anfang der siebziger Jahre versucht, die gouvernementale Schieflage des Zugriffs auf Sachverstand und Expertise auszugleichen63. Dabei waren es gerade Hilfsmittel wie die Enqueten, die potentiell in den öffentlichen Raum hinein ausstrahlen konnten64. Nicht mehr so sehr die Gewährleistung wissenschaftlicher Zweifelsfreiheit und die Klarheit der politischen Handlungsgrundlagen, als vielmehr die Offenlegung von Unsicherheiten und die Ausleuchtung von Ungewissheiten bestimmten seit den achtziger Jahren den Ton. Die sich ausbreitende Tendenz zur „In60 Carl Böhret/P. Franz, Die Institutionalisierung der Technikfolgenabschätzung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, in: Klaus Lompe (Hg.), Techniktheorie – Technikforschung – Technikgestaltung, Opladen 1987, S. 268–288; Carl Böhret/Götz Konzendorf, Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung (GFA). Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, Baden-Baden 2001. 61 Murswieck, Wissenschaftliche Beratung, S. 112. Dem steht die Auffassung Beymes gegenüber, der Einfluss der Wissenschaft sei am größten in der Phase der Entscheidungsvorbereitung, am schwächsten in der Phase der Programmumsetzung, Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opaden 1997, S. 156 f. 62 Dies betont u. a. Krevert, Funktionswandel. 63 Hierzu zuletzt Ralf Altenhof, Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, Wiesbaden 2002; auch Fank Hampel, Politikberatung in der Bundesrepublik: Überlegungen am Beispiel von Enquete-Kommissionen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 22 (1991), S. 111–133. 64 Thunert sieht in der Parlamentsberatung die tiefgreifendste und innovativste Neuerung auf dem Feld der Politikberatung seit den späten sechziger Jahren, vgl. Thunert, Politikberatung, S, 228 und 232. Andere Autoren haben vormals betont, dass auch der Ausbau der Parlamentsberatung zu Beginn der siebziger Jahre die Ungleichgewichte, die im Zugriff auf Expertise zwischen Exekutive und Legislative bestanden, nicht auszugleichen vermochte; vgl. Klaus Lompe, Politikberatung, in: Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Hg. von Kurt Sontheimer und Hans H. Röhrig, 2. Aufl., München/Zürich 1978, S. 493–502, hier S. 497 f.

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flationierung wissenschaftlicher Expertise“ hatte im Gegenzug zur Folge, dass deren Autorität an Kurswert einbüßte65: Die Figur des an Sachverstand überlegenen Experten, der aus einer – anderen nicht zugänglichen – Höhenlage des Wissens zu urteilen vermag, fand sich weitgehend „entzaubert“. Eine paradoxale Situation trat zutage: Während ohne die kognitiven Ressourcen der Wissenschaft Politik immer weniger möglich zu sein schien, nahm das öffentliche Vertrauen in den epistemisch privilegierten Status der Wissenschaften ab: „Die Krise des Wissens unterminiert die kognitive Rationalität, für die die Wissenschaften früher unangefochten standen.“66 Hatte man sich vormals vom Beitrag des wissenschaftlichen Sachverstandes eine Entschärfung politischer Konflikte und Kontroversen versprochen, so unterlagen die Experten nun selbst dem Sog der politischen Konflikte. Die neue Verunsicherung, von Ulrich Beck als Ausdruck des Übergangs von der „einfachen“ zur „reflexiven“ Verwissenschaftlichung interpretiert67, hatte neben komplexeren Ursachen auch einen ganz schlichten Grund: Denn wie sich gerade in wissenschafts- und technologiepolitischen Fragen immer öfter zeigen sollte, waren, wie die Dinge nun einmal lagen, Beratungsbedarf und Legitimationsbedürfnis „der Politik gerade dort am stärksten [. . .], wo auch die Wissenschaft auf schwankendem Boden“ stand68. In den hochkontroversen umweltpolitischen und biotechnologischen Fragen, die seit den siebziger und achtziger Jahren erhebliche Bedeutung erlangten, führte der Wettstreit der politischen Lager um das jeweils neueste Expertenwissen in die vordersten Linien der Forschungsfront hinein, dorthin also, wo das Wissen noch unsicher und seine Deutung am stärksten umstritten war69. Hier zeigte sich im übrigen, dass bei der Behandlung von Streitfragen, für die trotz des unaufhebbaren Dissenses der Experten politisch eine Entscheidung gefällt werden musste, ungeachtet aller Wissenschaftsabhängigkeit beträchtliche Spielräume für die Politik bestehen blieben: Wo die Rationalität wissenschaftlicher Expertise zu keinem eindeutigen, politisch verwertbaren Ergebnis gelangte, kam es dann doch zuletzt auf eine genuin politische Entscheidung an70.

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Weingart, Die Stunde der Wahrheit, S. 159 ff. Helga Novotny, Es ist so. Es könnte auch anders sein. Über das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1999, S. 37. 67 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 259 ff. 68 So der Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz in seinem Schlusswort auf deren Jahresversammlung 1988, Westdeutsche Rektorenkonferenz (Hg.), Wissenschaft und Politik, Erkennen und Entscheiden in gegenseitiger Verantwortung (Dokumente zur Hochschulreform 62/1988), Bonn-Bad Godesberg, S. 305–312, hier 306 f. 69 Peter Weingart, Scientific expertise and political accountability: paradoxes of science in politics, in: Science and Public Policy 26 (1999), S. 151–161, hier S. 158. 70 Vgl. Alexander Bogner/Wolfgang Menz, Wissenschaftliche Politikberatung? Der Dissens der Experten und die Autorität der Politik, in: Leviathan 30 (2002), S. 384– 399. 66

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Freilich: Zu all den hier beschriebenen Trends lassen sich leicht Abweichungen und Gegentrends ausmachen, ihre Aussagekraft sinkt in dem Maße, in dem man sich einzelnen Politikfeldern und Problembereichen zuwendet. * Was sich als generalisierungsfähig erweist, ist jedoch ein spezifisches Ensemble an Grundproblemen, das in verschiedenen Mischungsverhältnissen immer wieder in Erscheinung tritt, wenn vom Austausch zwischen externen Experten und Politik die Rede ist. Im Kern handelt es sich um acht zentrale Gesichtspunkte, die sich sowohl durch die Gegenwartswahrnehmung wie auch die wissenschaftliche Analyse ziehen. Kurz gefasst dreht es sich dabei um folgende Fragen: 1.

Rekrutierung und Legitimation der Experten: Wie und von wem werden die Ratgeber ausgewählt und auf Grund welcher Auswahlkriterien? Was sagt dies aus über die politische Qualität der Beratung?

2.

Varianten der Beratung: Auf welche Formen der Beratung wird im Einzelfall zurückgegriffen? Welche Gründe sind dafür ausschlaggebend? Welche übergreifenden Institutionalisierungsmuster prägen sich aus71?

3.

Spielregeln und Arbeitsstil: Welche formellen und informellen Verfahrensweisen liegen dem Beratungsprozess zugrunde? Welche Interaktionsmuster zwischen den Akteuren lassen sich beobachten? Wie stark werden dadurch die Wirksamkeitsbedingungen von Politikberatung beeinflusst?

4.

Wissenschaftsverständnis und Wissensformate: Welche Bilder und Vorstellungen von Wissenschaft treten im Beratungsgeschehen zutage, mit welchen Erwartungen sieht sich der Sachverstand konfrontiert? Welche Arten von Wissen werden jeweils nachgefragt72?

5.

Zugeschriebene und ausgeübte Funktionen: Welche politischen Funktionen werden der Politikberatung von Seiten ihrer Auftraggeber zugedacht? Wel-

71 Zu den verschiedenen Organisationsformen vgl. als Überblick etwa Klaus Mayer/ Roswitha Görgen, Die wissenschaftliche Beratung der Bundesministerien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 38/1979, S. 31–38. 72 Hier lässt sich beispielsweise unterscheiden zwischen den Wissensformaten der begutachtenden Problemsondierung, der informativen Aufbereitung empirischer Handlungsgrundlagen und der Empfehlung von politischen Handlungsoptionen, zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Problemperspektiven, zwischen den unterschiedlichen Größenordnungen der Problemstellung (von der punktuellen Entscheidungshilfe bis zum integralen Masterplan) oder zwischen dem optionalen Entwurf alternativer Szenarien und der Empfehlung punktgenauer Lösungsansätze. Denkbar wären auch Qualifizierungen inhaltlicher Natur wie etwa die Unterscheidung zwischen Organisationsberatung, technischer Fachberatung, materieller Politikberatung und strategisch-kompetitiver Politikberatung, vgl. dazu Wewer, Politikberatung, S. 370 ff.

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ches politische Selbstverständnis entwickeln die Berater? Welche Funktionen üben sie tatsächlich aus73? 6.

Einordnung in das politische Gefüge: Welche Stellung nimmt die Politikberatung im Kräftefeld der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung ein? In wiefern beeinflusst sie die Machtbalance zwischen den politischen Einflussfaktoren?

7.

Kommunikation mit und Wahrnehmung in der Öffentlichkeit: Wie viel Transparenz herrscht im Beratungsgeschehen? In wiefern wird die Öffentlichkeit als Ansprechpartner, Resonanzkörper oder gar Beteiligter am Beratungsprozess verstanden? Welche Kommunikationsmuster bilden sich nicht nur im Verhältnis zu den politischen Adressaten sondern auch zur breiteren Öffentlichkeit aus?

8.

Wirkungsweisen und -grade, -chancen und -hindernisse: Welche Wirkung geht von den Empfehlungen, Stellungnahmen und Gutachten der Berater aus? Welche Barrieren stellen sich dem sachverständigen Ratschlag entgegen? Welche begünstigenden oder hinderlichen Rahmenbedingungen sind für den jeweiligen Einfluss verantwortlich?

Diese acht Leitaspekte, die untereinander eng verknüpft sind und in mannigfache kausale Wechselbeziehungen eintreten, tauchen auch in dem im vorliegenden Band versammelten Aufsätzen immer wieder auf, wobei sich versteht, dass 73 In der Literatur werden Funktionskataloge in großer Zahl vorgeschlagen, von denen hier nur einige genannt werden können: Von Beyme unterscheidet zwischen vier Funktionen von Politikberatung: Frühwarnsystem und Problemerkennung, Schlichtungsagentur, Kontrolleinrichtung bei getroffenen Entscheidungen, Legitimation bereits getroffener Entscheidungen, vgl. Klaus von Beyme, Politik und wissenschaftliche Information der Politiker in modernen Industriegesellschaften, in: ders., Der Vergleich in der Politikwissenschaft, München 1988, S. 347–368, hier S. 355 f.; Mai ergänzt diese Funktionen i. w. um weitere vier: Grundlageninformation, Bereitstellung konkreter Fakten, Zeitgewinn, Selbstdarstellung, vgl. Manfred Mai, Wissenschaftliche Politikberatung in dynamischen Politikfeldern. Zur Rationalität von Wissenschaft und Politik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), S. 659–673, hier S. 662 f.; Renn wiederum unterscheidet wie von Beyme zwischen vier, allerdings anders zugeschnittenen Funktionen: „enlightenment function“, „pragmatic or instrumental function“, „interpretativ function“, „catalytic function“, vgl. Ortwin Renn, Style of using scientific expertise: a comparative framework, in: Science and Public Policy 22 (1995), S. 147– 156, hier S. 147; Boehmer-Christiansen nennt nicht weniger als zehn Funktionen, darunter über die bereits genannten hinausweisend etwa die „scapegoat“-, die „centralising decision-making-“ und die „problem solver“-Funktion, vgl. Sonja BoehmerChristiansen, Reflections on scientific advice and EC transboundary pollution policy, in: ibid., S. 195–203, hier S. 197 f.; differenzierte Funktionskataloge entwerfen auch Dietzel, Wissenschaft, S. 100 f. (13 Funktionen), und Friedrich, Staatliche Verwaltung, S. 140 f. und 162 f. (14 Funktionen); Brohm hingegen genügen i. w. drei Funktionen: Beratung, Integration und Kontrolle, vgl. Winfried Brohm, Sachverständige Beratung des Staates, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II: Demokratische Willensbildung – Die Staatsorgane des Bundes, Heidelberg 1987, S. 207–248, hier S. 220 f.

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nicht immer alle und nicht immer alle gleichmäßig behandelt zu werden brauchen. Je nach Zuschnitt der Sektionen und je nach Art des Untersuchungsgegenstandes treten einige Gesichtspunkte stärker hervor, andere hingegen in den Hintergrund. Zwar steht im Mittelpunkt des Bandes die Politikberatung in der Bundesrepublik. Um zugleich jedoch auch Ansatzpunkte für eine synchrone und diachrone Einordnung zu schaffen, widmet sich die erste Sektion Rückblicken auf frühere Epochen sowie einem Seitenblick auf die DDR. Der Beitrag von Hans Christof Kraus skizziert anhand von Beispielfällen aus der Verfassungs-, Sozial-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik „Vorformen und Anfänge wissenschaftlicher Politikberatung“ im 19. Jahrhundert. Kraus betont den noch geringen Institutionalisierungsgrad der Politikberatung. Vorerst waren es vornehmlich einzelne, meist hochrangige Gelehrte, die als Ratgeber Bedeutung erlangten. Im Falle der Berliner Universitätsgründung wurde allerdings schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Bestreben sichtbar, dadurch, dass zum gleichen Gegenstand eine ganze Reihe von parallelen Denkschriften eingeholt wurde, kontroverse Standpunkte und konkurrierende Stellungnahmen kennen zu lernen. Zu den spezifischen Begleiterscheinungen des personalisierten Beratertums, die Kraus vor allem anhand des „Systems Althoff“ veranschaulicht, gehörte nicht nur das Geheimnisvolle und Undurchsichtige, das sie umgab – und bei Außenstehenden leicht Anlass zu Argwohn, Mutmaßungen und Missgunst gab –, sondern auch die Machtasymmetrie, die sich zwischen Beratenen und Beratern einstellte. Im Hinblick auf weitere Spielformen der Politikberatung lenkt Kraus die Aufmerksamkeit auf die Medien einer „indirekten Politikberatung“. Sie werden an Gustav Schmollers Versuchen illustriert, durch öffentliche Meinungsbildung, Fortbildungsmaßnahmen für Beamte oder prominent zusammengesetzte Diskussionszirkel politischen Einfluss auszuüben. Die Grenzen zwischen Gelehrtenpolitik und Politikberatung waren insofern fließend. Margit Szöllösi-Janze, die vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg ebenfalls einen weiten zeitlichen Bogen spannt, unterstreicht wie Kraus den hohen Stellenwert, den zunächst noch das individuelle Beratertum besaß. Sie beleuchtet am Beispiel Fritz Habers eine spezifische Rollenanforderung, der sich wissenschaftliche Experten meist ausgesetzt sahen, wollten sie in der Arena der Politikberatung reüssieren: Sie mussten die Rolle des Mediators und Übersetzers beherrschen, der zwischen zwei Sphären vermittelte, die verschiedenartigen Rationalitäten folgten und nach Sprachhaushalt, Relevanzkriterien, Komplexitätsbedürfnis, Arbeitsstil und Zeithorizont unterschiedlich organisiert waren. Darüber hinaus erhellt Szöllösi-Janze aber auch neue Formen einer institutionellen Verfestigung und Verstetigung der Beratung, die besonders im Ersten Weltkrieg zu beobachten waren. Sie erinnert an die seit dem 19. Jahrhundert entstandenen staatlichen Forschungsanstalten als sektoral bedeutsame Gelenkstellen zwischen Wissenschaft und Politik, und sie weist auf die „unreinen“, nämlich korpora-

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tistischen Formen der Beratung hin, die für das Weimarer Staatswesen – und nicht nur für dieses – so charakteristisch waren. Im Einklang mit neueren Forschungen unterstreicht sie darüber hinaus, dass gerade im Bereich der Wirtschaft für die Weimarer Republik ein gesteigerter Austausch zwischen den Sphären von Wissenschaft und Politik festgestellt werden kann, was erst dann richtig deutlich wird, wenn man nicht so sehr auf die Wissenschaftler als Akteure, sondern mehr auf die Wissensbestände achtet, die von Seiten der Wissenschaft bereit gestellt wurden – und von dort in die ministeriellen Amtsstuben einsickerten. Der doppelte, sich wechselseitig verstärkende Prozess einer „Politisierung der Wissenschaften“ und „Verwissenschaftlichung der Politik“, von dem Peter Weingart gesprochen hat, verfügt, wie Szöllösi-Janze vor Augen führt, über weit zurückreichende Wurzeln. Die wechselseitige Inanspruchnahme setzte sich gerade auch in den Jahren des NS-Regimes weiter fort. Wo es ihnen von Nutzen war, machten die Exponenten des Regimes von wissenschaftlicher Expertise bereitwillig Gebrauch, und gerade junge, aufstrebende Wissenschaftler wussten die so entstehende Nachfrage nicht nur zu bedienen, sondern auch ihrerseits zu stimulieren. Auf Szöllösi-Janzes Vorschlag, das Konzept der „Wissensgesellschaft“ zu historisieren und mit seiner Hilfe die Zeitgeschichte neu zu erschließen, wird noch zurückzukommen sein. Ein Gegenlicht zur bundesdeutschen Entwicklung bietet auch der Beitrag von André Steiner zur Politikberatung in der DDR, einem von der DDR-Forschung bislang noch kaum systematisch betrachteten Untersuchungsfeld. Steiner erinnert zunächst daran, dass die SED den Marxismus-Leninismus als Wissenschaft verstand und ihre Politik damit ohnehin als wissenschaftlich geleitete Politik. Gerade dies verstärkte jedoch die Unterordnung der Wissenschaften unter die Rationalitätskriterien der Politik – je ausgeprägter die Nähe der jeweiligen Wissenschaften zum ideologischen Glaubenssystem war, um so mehr. Hieraus ergaben sich gegenläufige Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik: Aufgrund des allumfassenden Primats und Gestaltungsanspruchs der Politik war die Dichte der Berührungspunkte zwischen beiden Handlungsbereichen an sich sehr hoch. Betrachtete man das Verhältnis jedoch unter dem Gesichtspunkt der wechselseitigen Offenheit, also der Durchlässigkeit für die immanenten Kriterien des anderen, nahm es bisweilen extrem asymmetrische Züge an. Steiner hält denn auch eine Modellannahme, nach der Wissenschaft und Politik klar von einander abgrenzbare Teilsysteme bilden, für die DDR für untauglich. Ansätze, die autonome Sachlogik von Teilsystemen gegenüber den starren politisch-ideologischen Prämissen stärker ins Spiel zu bringen, ergaben sich eine Zeitlang in der naturwissenschaftlich-technischen Beratungstätigkeit des 1957 gegründeten „Forschungsrates“. Im übrigen schuf Ulbrichts „Neues Ökonomisches System“ Anfang der sechziger Jahre eine größere Offenheit für die Sachexpertise der Wirtschaftswissenschaften. Die Ökonomen, bisher eher auf abstrakte Spiegelfechtereien getrimmt, mussten das nötige Know-how frei-

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lich erst noch entwickeln. Experten aus Wissenschaft und – stärker noch – Praxis erlangten größere Einflusschancen als bisher, was auch institutionell seinen Niederschlag fand. All dies bewegte sich jedoch nach wie vor in den engen Grenzen, die durch den Herrschaftsanspruch der SED gezogen waren. In der Ära Honecker schließlich sollten sich die Spielräume und Gestaltungschancen der wissenschaftlichen Experten wieder deutlich einengen. Die SED-Spitzen nahmen nur noch wahr, was ihren Vorstellungen entsprach. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik wurde wieder eindimensionaler und instrumenteller, Wissenschaft hatte vornehmlich ihre legitimatorischen Dienste für die Politik zu erbringen. Die zweite Sektion nimmt die dominierende Beratungsform in der Bundesrepublik, die ressortbezogene Gremienberatung ins Visier. Mit dem „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ untersucht Gabriele Metzler die wohl prominenteste Neuschöpfung der Politikberatung in den sechziger Jahren. Dass es in jenen Jahren zu einem regelrechten Beratungsboom kommen konnte, lässt sich mit Metzler – über das konkrete Fallbeispiel hinaus – aus einer ganzen Reihe von begünstigenden Rahmenbedingungen erklären. Dazu gehörte beispielsweise ein noch kaum von Fortschrittszweifeln angekränkeltes Wissenschaftsbild, ferner die angestrengte Suche nach Politikentwürfen, welche als Alternative zum Verteilungskampf der gesellschaftlichen Interessengruppen gelten konnten, im konkreten Fall aber auch die gegenüber früheren Zeitperioden stärker anwendungsorientierte Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaften. „Objektivität“, „Versachlichung“ und „Neutralität“ waren die immer wieder bemühten Schlüsselwörter, aus denen die besondere Legitimation der wissenschaftlichen Berater abgeleitet wurde. Die Errichtung des „Sachverständigenrats“, so Metzlers These, habe den Kern einer „Stabilisierungsstrategie“ ausgemacht, welche die sozialen Spaltungspotentiale, wie sie aus dem Aufeinandertreffen „pluralitär organisierter Interessen“ hervorgingen, entschärfen sollte. Dies, nicht die Mobilisierung von Wissensressourcen, sei die primäre Funktion des neuen Gremiums gewesen. Aus der Erwartung, Wissenschaft vermöge kraft höherer Vernunft die Interessendivergenzen und Interessenkonflikte zu neutralisieren, sprach somit, wie Metzler folgert, ein Politikverständnis, das „in gewissem Sinne postpolitisch“ war. Dass es bei der Beratung durch externe Sachverständige nicht immer nur darum geht, der Politik exklusive Wissensbestände verfügbar zu machen, zeigt ähnlich wie Metzler auch der Beitrag von Wilfried Rudloff. Die Bildungspolitik gehörte in den sechziger und siebziger Jahren zu den prominentesten Experimentierfeldern gremiengestützter Politikberatung. Auf den Rat der Experten zurückzugreifen hieß hier ganz besonders, Handlungsblockaden lösen zu wollen, die sich aus den vielfältigen Konfliktüberlagerungen ergaben, wie sie das föde-

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ral strukturierte Politikfeld hervorbrachte: zwischen Bund und Ländern, aber auch den Ländern untereinander, zwischen den politischen Parteien, aber auch den „gesellschaftlichen Mächten“, zwischen den betroffenen Berufsgruppen, den bildungspolitischen und pädagogischen Denkschulen. Politikberatung sollte als eine Art Passepartout dienen, um die Bildungspolitik aus all diesen Verstrickungen zu lösen. Gegenüber den Handlungsimperativen der Politik stellte sie die Herrschaft einer höheren Rationalität in Aussicht. Als in den sechziger Jahren eine wissenschaftliche Neuvermessung des Bildungs- und Erziehungswesens einsetzte und sich die Forschungslandschaft binnen weniger Jahre auf kapitale Weise veränderte, schien es an der Zeit, die Bildungspolitik aus dem Geist der Bildungsforschung neu zu erfinden. Wenn die Geschichte der bildungspolitischen Politikberatung – abgesehen vom oft allerdings auch überschätzten Fall des Wissenschaftsrats – gleichwohl als eine Geschichte enttäuschter Erwartungen und tiefgreifender Ernüchterungen gilt, so hängt dies freilich auch damit zusammen, dass die Wirkungsströme bildungspolitischer Expertise sehr viel verschlungenere Wege nahmen, als dies Erwartungsmodelle und Bewertungsmuster erkennen lassen, die von einem linearen Präferenztransfer zwischen Wissenschaft und Politik, einer Übernahme des Ratschlags im Maßstab von eins zu eins auszugehen pflegen. Bernd-A. Rusineks Portrait der Deutschen Atomkommission (DAK) illustriert an einem prägnanten Beispiel den Auf- und Abstieg eines Politikberatungsgremiums. Die oft zu vernehmende Auffassung, Politikberatung diene vornehmlich als legitimationsstiftendes Feigenblatt für längst schon getroffene Entscheidungen, fand im Falle der 1955 gegründete DAK keine Bestätigung. Die DAK gehörte in ihren frühen Jahren zu denjenigen Beratungsgremien, deren Wirkungschancen allein mit dem Begriff des „Beratens“ kaum hinlänglich beschrieben waren. Das Ministerium hatte dem Gremium an Sachverstand zunächst wenig entgegenzusetzen. Die DAK genoss einen hohen Vertrauensvorschuss, zumal die Kernkraft als großer gesellschaftlicher Hoffnungsträger galt. Die DAK schwamm gleichsam auf der Schaumkrone der Atomeuphorie. Dass es sich bei ihr um eine Koalition vielfach vernetzter Spitzenwissenschaftler und Vertreter der Großindustrie handelte, wollte zunächst niemanden recht stören. Im Laufe der sechziger Jahre änderte sich dies. Die Rekrutierungsmechanismen der DAK ließen auch im zuständigen Ministerium die Einsicht aufkommen, wie schwierig es war, wirklich ungebundene Sachverständige zu finden. Das Ministerium entwickelte zunehmend Selbstbewusstsein und Eigenkompetenz. Als das Beratungswesen des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft 1971 grundlegend reorganisiert wurde, um den deutlich gestiegenen Ansprüchen an Transparenz und demokratischer Legitimation standhalten zu können, wurde die DAK in ihrer ursprünglichen Form aufgelöst. In Umkehr früherer Verhältnisse sah man auf ihrem Wirkungsfeld nunmehr eine Gegen-Expertenkultur entstehen, die starke Ausstrahlung auf die öffentliche Meinungsbildung besaß.

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Eine dritte Sektion widmet sich den Erscheinungsformen politischer Beratung auf einer individuellen Ebene. Politikberatung findet nicht nur in formal vorgegebenen und fest institutionalisierten Kontexten statt, sondern auch im Rahmen informeller Zirkel und individueller Begegnungen. Sie umfasst neben der großen Besetzung der Expertengremien auch die „Solisten“, „Küchenkabinette“ und persönlichen Berater. Es handelt sich hierbei um einen oft nur schwer zu erfassenden Einflussfaktor, dessen Gewicht sich lediglich bruchstückhaft in den Quellen abzubilden pflegt. Paradoxerweise kann dies sowohl zum völligen Ignorieren wie auch zur mythischen Überhöhung führen. Die Sektion besteht aus drei Teilgruppen von Beiträgen. Die ersten beiden Beiträge zielen nicht auf die persönliche Beratung im eben beschriebenen Sinn, sondern setzen erneut bei der Gremien- und Ressortberatung an, nun allerdings aus der Perspektive einzelner beratender Akteure. Sodann wird die Perspektive umgedreht und für die beiden Bundeskanzler Adenauer und Brandt nicht die Angebots-, sondern die Nachfrageseite zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht. Schließlich wird am Exempel der „Frankfurter Schule“ der Frage nachgegangen, welche Rolle einzelne Denkschulen und Berater in der Politikberatung spielten, und zwar unter dem systematischen Gesichtspunkt, welches spezifische Kapital sie dabei für sich geltend machen konnten. Spätestens hier nun bedarf es einer Zwischenbemerkung: Wie insgesamt in diesem Band wird auch in dieser Sektion, zumindest was die beiden „nachfrageorientierten“ Beiträge angeht, nicht immer säuberlich zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Politikberatung geschieden. Das geschieht nicht ohne Grund. Es gehört zu den nachgerade selbstverständlichen Merkmalen des deutschen Beratungswesens, politisch verwertbaren Sachverstand keineswegs nur bei den Exponenten der Wissenschaft zu vermuten. Schon der Umstand, dass rein aus Wissenschaftlern zusammengesetzte Beratungsgremien seit jeher eher die Ausnahme als die Regel bildeten, deutet darauf hin. Weitaus stärker verbreitet waren Beiräte, in denen Interessenvertreter und/oder Praktiker und/oder Wissenschaftler aufeinander trafen. Und was für die Gremienberatung galt, galt in noch höherem Maße für die persönliche Beratung. Für all dies lassen sich plausible Argumente finden. Denn im gleichen Maße, wie es unrealistisch wäre anzunehmen, Wissenschaftler seien kraft ihres Status immun gegen Interessenstandpunkte und vermöchten ohne weiteres von Wertgesichtspunkten zu abstrahieren, wäre es irreführend, nicht-wissenschaftlichen Experten von vornherein jeglichen Sachverstand abzusprechen74. Die Dominanz hybrider Beratungsformen wird jedoch verständlicher noch, wenn man davon ausgeht, dass Politikberatung nicht allein auf Wissensvermittlung, sondern auch auf Konsensfindung abzielt. Ist dies aber der Fall, würde wissenschaftliche Politikberatung, selbst wo sie Reinkultur einmal angetroffen werden kann, doch schnell wieder 74

Vgl. Brohm, Sachverständige Beratung, hier S. 217 ff.

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die Grenze überschreiten, die zwischen den Systemen der Wissenschaft und der Politik gezogen sind: Sie muss nicht nur analysieren, sondern auch verhandeln. Das schließt nicht aus, dass „boundary work“75 – das immer neue Festlegen und Befestigen der Demarkationslinie zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, in Sonderheit aber zwischen Wissenschaft und Politik – für politikberatende Wissenschaftler essentiell war, wollten sie Autorität und Kurswert ihrer spezifischen Expertise nicht sinken lassen. Worauf es hier ankommt, ist etwas anderes: nämlich deutlich zu machen, dass die durch erhebliche Randunschärfen ausgezeichneten Sozialfiguren des „Experten“, des „Politikberaters“ oder auch des „Intellektuellen“, so unterschiedlich sie in manchem auch sein mochten, erhebliche Schnittmengen besaßen. Und ebenso wie der „Wissenschaftler“ kann in diese wissenspolitologisch zu markierende Schnittmenge, dem Verfügen über ein für die Politik interessantes Wissen, dann auch der „Interessenvertreter“ mit einbezogen sein. Es bedarf also bei der Erörterung von Politikberatung der wechselseitigen Ergänzung zweier Gesichtspunkte: einer akteurs- und einer wissenszentrierten Perspektive. Zurück zu den einzelnen Beiträgen dieser Sektion. Am Beispiel Hans Harmsens verfolgt Sabine Schleiermacher eine drei politische Systeme überdauernde Beraterkarriere. Sie beschreibt das dichte institutionelle und personelle Netzwerk, in das der Mediziner und Bevölkerungswissenschaftler eingebunden war. Solche Netzwerkstrukturen bilden, wie allgemein angenommen werden kann, einen nicht zu unterschätzenden Faktor bei der Mobilisierung externen Sachverstandes. Netzwerk dieser Art waren es auch, die es Harmsen nach Schleiermachers These ermöglichten, „die ,Ressource‘ wissenschaftliche Kompetenz so zu arrangieren“, dass sie in der Demokratie gleichermaßen wie in der Diktatur rezipiert werden konnte. Harmsens beruflicher Weg begann beim Centralausschuß für die Innere Mission, wo er sich bald für eugenische Maßnahmen einsetzte, ganz besonders dabei für ein Sterilisierungsgesetz. Sein Werdegang mündete über mehrere Stationen in eine akademische Karriere als langjähriger Leiter des Instituts für Allgemeine und Soziale Hygiene an der Universität Hamburg. Zugleich war Harmsen führend in einer Vielzahl von Arbeitsgemeinschaften, Studienkreisen und Verbänden tätig, die sich bevölkerungspolitischer Ziele annahmen. Harmsen repräsentierte einen neuen Typus sozialtechnologischen Expertentums, der moderne wissenschaftliche Mittel in den Dienst politischer Ordnungskonzepte zu stellen beabsichtigte. Dies galt gerade auch für die bevölkerungspolitischen Untersuchungen in den „grenz- und auslandsdeutschen Gebieten“, die Harmsen im Rahmen der „Ostforschung“ durchführte. Sie flossen 75 Vgl. als Überblick Thomas F. Gieryn, Boundaries of Science, in: Sheila Jasanoff u. a., Handbook of Science and Technology Studies, S. 393–443; vgl. auch Sheila S. Jasanoff, Contested Boundaries in Policy-Relevant Science, in: Social Studies of Science 17 (1987), S. 195–230.

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schließlich, wie Schleiermacher betont, über vielfältige persönliche Verbindungen in die Besatzungspolitik des Nationalsozialismus ein. Neben einer Kontinuität der Netzwerkstrukturen beobachtet Schleiermacher über die Systembrüche hinweg eine Kontinuität der Ordnungsideen. Ähnlich wie er dies schon in der Weimarer Republik getan hatte, setzte sich Harmsen auch in der Bundesrepublik für eine freiwillige Sterilisierung aufgrund eugenischer Indikation ein. Zu einer solchen Regelung sollte es freilich nach 1945 nicht mehr kommen. Hier werden denn auch die Grenzen deutlich, die Harmsen – und den ihm verbundenen bevölkerungspolitischen Akteuren – in der Bundesrepublik gesteckt waren. Detlef Blesgen nutzt das Beispiel des Wirtschaftswissenschaftlers Erich Preiser, eines langjährigen Mitglieds des „Wissenschaftlichen Beirats“ beim Bundeswirtschaftsministerium, um Einblicke in die Spielregeln des Beratungsgeschäfts zu geben. Preiser kann insofern als ein Gegenbeispiel zu Ökonomen wie Röpke, Müller-Armack und Böhm gelten, als er gerade nicht durch persönlichen Kontakt zu den politischen Entscheidungsträgern Einfluss zu nehmen suchte. Sein Medium war vielmehr die Gremienberatung. Am Beispiel Preisers lassen sich, wie Blesgen zeigt, die spezifischen Wirkungschancen erörtern, die an die beiratsinterne Rollenverteilung geknüpft waren. Solche Wirkungschancen entstanden etwa dadurch, dass einzelne Mitglieder im Zuge der gemeinsamen Meinungsbildungsprozesse wichtige Sachvorträge übernahmen oder sich maßgeblich an der Formulierung der Gutachten beteiligten. Was die Arbeitsweise des Beirats anging, gehörte zu den wichtigsten Spielregeln die Frage, wie mit internem Dissens umgegangen werden sollte. War Dissens von der Warte der Wissenschaften aus betrachtet ein zentraler Motor des wissenschaftlichen Fortschritts, nahm sich dies unter politischen Gesichtspunkten anders aus. Denn die Veröffentlichung von Minderheitsvoten, also das Verdeutlichen von Uneinigkeit, konnte der politischen Wirksamkeit der Gutachten nachhaltig schaden. Dem stand allerdings gegenüber, dass sich bei langjährig stabiler Zusammensetzung der Gremien die Tendenz bemerkbar machen konnte, im Zuge des unentwegten Positionsabgleichs Prozesse der Konvergenz-, ja Traditionsbildung einzuleiten. Wurde dann das Meinungsspektrum durch kooptative Rekrutierung noch zusätzlich verengt, erhöhte sich die Gefahr, dass die Gremien den Stand der Wissenschaften nicht mehr angemessen repräsentierten. Blesgen unterstreicht denn auch, dass Konsens herzustellen nicht Aufgabe der wissenschaftlichen Berater sein kann, sondern die der Politik sein muss. Die Beiträge zum Beraterumfeld Konrad Adenauers und Willy Brandts rücken aus jeweils entgegengesetzter Perspektive einige zählebige Klischees zurecht, die mit dem Politikstil der beiden Spitzenpolitiker verbunden sind. Hans Peter Mensing hält dem Image Adenauers als „Kanzler der einsamen Beschlüsse“ ein anders konturiertes Bild entgegen. Vom Anfang seiner Regierungszeit an habe Adenauer sowohl von externer Beratung durch Vertreter des akademischen Sachverstands profitiert wie auch, und dies ganz besonders, von

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deren Einbindung in den Regierungsapparat (wichtige Exponenten eines solchen Wechsels des Tätigkeitsfelds von der Universität in die Politik waren Wilhelm Grewe, Walter Hallstein oder Karl Carstens). Wenn neben Wirtschaftsgrößen wie Hermann Josef Abs und Fritz Berg oder auch Wissenschaftszelebritäten wie Werner Heisenberg, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker besonders langjährige Freunde wie Robert Pferdmenges und Dannie N. Heineman das Ohr des Kanzlers fanden, so zeigt dies, dass neben Renommee, Erfahrung und Sachverstand auch biographisch bewährtes Vertrauen ein wichtiger Kapitalstock war, auf dem eine Ratgeberrolle beruhen konnte. Gerade im Falle der persönlichen Beratung ist dies ein nicht zu unterschätzender Faktor. Im Inneren des Apparates, betont Mensing weiter, habe mehr „teamwork“ geherrscht, als dies die gängigen Formeln vom „Patriarchen“ und „Autokraten“ vermuten lassen. Dass man die Bedeutung zumal der externen Experten allerdings auch nicht überschätzen darf, illustriert er an einer Bemerkung, die Adenauer Ende der fünfziger Jahre im Kontext der Deutschlandpolitik fallen ließ: „Experten können nicht viel weiterhelfen, allenfalls darin bestärken, alles so behutsam wie möglich anzupacken.“ Adenauer gegenüber schien Willy Brandt, seit 1961 der Kanzlerkandidat der SPD, einen neuen politischen Stil zu verkörpern. Wie Daniela Münkel veranschaulicht, gehörte zur angestrebten „Runderneuerung“ der SPD seit Ende der fünfziger Jahre auch der Anspruch, ein engeres Bündnis von Wissenschaft und Politik zu begründen. Auf längere Sicht freilich, so Münkels These, erwiesen sich die verschiedenen Spielarten von Politikberatung, die dabei erprobt wurden, in nur sehr begrenztem Maße als effektiv. Münkel rückt drei unterschiedliche Beratungsvarianten in den Blickpunkt. Am ambitioniertesten waren die Bemühungen der früheren sechziger Jahre, dauerhaft institutionalisierte Formen von Beratungen und Austausch zu begründen – das „große Gespräch“. Von dem prominent zusammengesetzten „Gesprächskreis Wissenschaft und Politik“, der dabei entstand, sollten jedoch nicht die erwarteten Impulse ausgehen. Dazu trug nicht unerheblich der Eklat bei, zu dem es kam, als sich die SPD auf ihrem Parteitag 1964 allzu marktschreierisch mit dem Beistand der Wissenschaftler zu schmücken versuchte. Weitere Varianten dieses Beratungstyps lassen sich in dem zeitgleichen Versuch, einen Gesprächskreis von Journalisten und Politikern zu gründen, vor allem aber in der 1967 ins Leben gerufenen „Sozialdemokratischen Wählerinitiative“ ausmachen. Eine zweite Form der Beratung dokumentiert Brandts weitgefächerte Korrespondenz mit Intellektuellen und Wissenschaftlern, mit denen er in den sechziger Jahren in Kontakt trat. Sie stimmte, wie Münkel betont, am ehesten mit Brandts Vorstellungen von einem „diskursiven“ Politikstil überein. Nach dem er seit 1966 auf Bundesebene Regierungsämter übernommen hatte, bestand eine dritten Variante schließlich darin, wichtige Diskussionspartner in den Apparat zu holen und einen internen Beraterkreis zu formieren. Entsprachen die ersten beiden Formen der Politikberatung mehr

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dem Oppositionspolitiker Brandt, so die letzte dem Regierungspolitiker mit seinen noch weiter verknappten Zeitressourcen. Gewiss gehörte zu den Beweggründen der SPD, die Nähe zur Wissenschaft zu suchen, auch ein erhebliches Stück Imagepolitik: Der Hauch von überlegener Vernunft und sachlicher Autorität, der die Sozialfigur des Wissenschaftlers umgab, sollte auch auf den Kanzlerkandidaten und seine Partei abfärben. Der Faktor Öffentlichkeit spielte hier ganz offensichtlich eine sehr bedeutsame Rolle. Später verschob sich diese Imagekomponente etwas mehr zu den Intellektuellen. Aber für SPD-Politiker wie Waldemar von Knoeringen, Ulrich Lohmar oder Horst Ehmke war in den sechziger Jahren die Inanspruchnahme wissenschaftlichen Sachverstandes doch zugleich auch sehr viel mehr, ein Gebot der Zeit nämlich, das nur bei Strafe des Perpetuierens anachronistischer Politikformen und -gehalte ignoriert werden konnte. Münkel unterstreicht zugleich die Widerstände, die sich der angestrebten Allianz entgegenstellten. Sie bestanden sowohl auf Seiten der Wissenschaftler: Sich für eine Partei einzusetzen – zumal öffentlich und zumal für die SPD –, widersprach in den sechziger Jahren noch immer etwas dem Komment. Sie bestanden zugleich aber auch auf Seiten der Partei: Gerade die Intellektuellen stießen als Präzeptoren der Partei nicht nur auf Gegenliebe; Münkel zufolge hatte man es gar mit einer residualen Tradition der „Intellektuellenfeindschaft“ zu tun. Zum dritten finden sich Widerstände bei Brandt selbst: Sein Elan für die Fortsetzung eines permanenten Dialogs ließ immer mehr nach, im Regierungsamt gab er pragmatischeren Varianten den Vorzug. Ein grundlegender Durchbruch im Austausch von Wissenschaft und Politik war anders, als das in der Öffentlichkeit erzeugte Bild erwarten lassen könnte, nicht wirklich erfolgt. Der letzte Beitrag dieser Sektion ist den Aktivitäten gewidmet, welche die „Frankfurter Schule“ auf dem Feld der Politikberatung entfaltete. Clemens Albrecht stellt eine Interpretation zur Diskussion, die Horkheimers Bild von der „Flaschenpost“ zum Aufhänger nimmt – dem im Exil ausgesprochenen, in der Bundesrepublik als Metapher weiterlebenden Gedanken, die Arbeit des Instituts für Sozialforschung müsse als eine Überlieferung verstanden werden, von der man allenfalls hoffen könne, dass sie später einmal entdeckt und entkorkt werde. Albrecht setzt die Rekrutierung und Legitimation der Experten mit ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit in Beziehung. Wo Herrschaft, wie in der Demokratie, ihre Legitimität vornehmlich in der Öffentlichkeit herstelle, entwikkele Politik ein Interesse an „demonstrativer“ Politikberatung – so die eine von Albrechts zentralen Deutungskategorien. Um „demonstrativ“ wirken zu können, benötigten die Berater aber nicht so sehr bloßes Expertentum, als vielmehr Glaubwürdigkeit, Prestige, Prominenz. Öffentliche Anerkennung werde in Wohlfahrts- und Partizipationsdemokratien nach Maßgabe des – so die andere zentrale Deutungskategorie – „moralischen“ Kapitals verteilt: Man muss sich als Opfer oder Unterprivilegierter präsentieren können. Dieses moralische Kapi-

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tal, das für Albrecht die Grundlage demonstrativer Politikberatung bildet, bestand im Fall von Horkheimer und Adorno in deren Vergangenheit als ehemals verfolgte jüdische Emigranten. Das von Albrecht beschriebene Paradoxon lag nun darin, dass der tatsächlich ausgeübte politische Einfluss das moralische Kapital, auf dem er beruhte, nach der Logik seines Zustandekommens nach und nach aufzehren musste. Unterdessen wandelte sich die Flaschenpost-Metapher zur intellektuellen Attitüde: Die Flaschenpost drang inzwischen aus den Megaphonen. Eingebettet in diese Argumentationsfolge schildert Albrecht das Hinund Hergerissensein der Frankfurter Schule zwischen einer „expertiven“ und einer „demonstrativen“ Politikberatung, wobei ihm Adornos Beratungstätigkeit für die Bundeswehr – auch das hat es gegeben – als Exemplum dient. Eine letzte Sektion schließlich rückt nicht so sehr einzelne Politikfelder oder spezifische Akteurskombinationen in den Mittelpunkt, sondern spezifische Typen des Wissens, die entweder quer zu den Ressortzuordnungen oder ganz außerhalb der Handlungskontexte der Ministerialbürokratie lagen. Es handelt sich dabei um neuartige Felder des Expertenwissens (Zukunftsforschung), des sachverständigen Ratschlags (Wahlkampfberatung) oder der wechselseitigen Modernisierung überkommener Wissens- und Handlungsfelder (Regierungs- und Verwaltungsreform). All diesen Ansätzen wurde zeitweise ein überaus innovativer, die politischen Organisations- und Kommunikationsformen verändernder Charakter zugeschrieben. Weitere neuartige Wissensbestände, die als politische Ressourcen Attraktivität erlangten, ließen sich ergänzen (so insbesondere die Meinungsforschung, ein hierzu vorgesehener Beitrag kam leider nicht zustande76). Zunächst untersucht Frank Bösch die Wahlkampfberatung in der frühen Bundesrepublik. Er korrigiert die bislang vorherrschende Auffassung, es sei die SPD gewesen, die sich als erste einer externen Wahlkampfberatung bedient habe. Bösch kann stattdessen zeigen, dass es die CDU war, die zuerst auf das Marketing-Know-how von Werbefachleuten und PR-Experten zurückgriff. Der im Vergleich zur SPD weniger starke Parteiapparat der CDU legte schon sehr bald externe Unterstützung nah, und die frühe Ausrichtung als Volkspartei führte dazu, dass die Partei größere Anstrengungen auf die Wählermaximierung verwandte. Die reichlicheren Spendeneinnahmen der CDU sorgten für die nötigen Finanzmittel, während die Nähe zu den modernen Großunternehmen Transfereffekte in Sachen moderner Marktwerbung erzeugte. Die von externen Agenturen entworfenen Kampagnen übertrugen erfolgreich Techniken der Werbewirtschaft auf die Politik (Meinungsforschung, Werbewirkungskontrollen, 76 Vgl. dazu bspw. Norbert Grube, „Schröders Chancen steigen“ – „Steigende Chancen für Erhard“. Demoskopische Politikberatung in der Entscheidung um die Kanzlernachfolge Konrad Adenauers im Frühjahr 1963, in: Historisch-Politische Mitteilungen 10 (2002), S. 193–223. Demnächst besonders aber auch die Bochumer Dissertation von Anja Kruke zur Bedeutung der politischen Meinungsforschung nach 1945 am Beispiel der SPD.

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Positivität der Aussagen, Vermittlung eines Lebensgefühls, „permanent campaigning“, „corporate design“); sie ließen Kanzler wie auch Partei zu einem „Markenprodukt“ werden. Erst in den sechziger Jahren näherten sich die Werbemethoden der SPD, lange Zeit in Sachen externer Beratung noch immer zögerlicher, allmählich diesen Standards, ehe sich dann Anfang der siebziger Jahre, als der Parteiapparat der CDU an Gewicht und eigenem Know-how gewonnen hatte, die Verhältnisse zwischen SPD und CDU in manchem umzukehren schienen. Bösch demonstriert, dass die externe Wahlkampfberatung der CDU in den fünfziger und sechziger Jahre eine beträchtliche Wirksamkeit entfaltete. Das galt nicht nur für deren Werbe- und Wahlkampfstrategien, sondern auch darüber hinaus: Wie Bösch betont, trugen die Werbefirmen unter anderem dazu bei, „gegen die kurzzeitig denkenden Politiker dauerhafte Begriffe und damit auch Handlungskonzepte durchzusetzen.“ Sie vereinheitlichten Bild und Sprache der regional unterschiedlich ausgerichteten Partei, ja sie prägten mit Slogans wie „Keine Experimente“ bis heute gängige Vorstellungen vom mentalen Horizont der fünfziger Jahre. Während die universitäre Expertise in Sachen Wahlforschung demgegenüber lange zurückblieb, gewannen die Analysen der Werbefirmen in den späten sechziger Jahren dann selbst sozialwissenschaftliche Züge. Im Ergebnis kann Bösch einige aufschlussreiche Paradoxien zusammentragen, etwa wenn er von einer Verwissenschaftlichung ohne Wissenschaftler spricht oder von einer Verstärkung der Rationalität des Wahlkampfes gerade durch dessen Emotionalisierung. Weil in der Wahlkampfberatung, anders als bei der wissenschaftlichen Ressortberatung, zwischen den Rationalitätskriterien von Beratern und Beratenen keine Divergenz bestand, erwiesen sich die Einflusschancen externer Wahlkampfberatung als vergleichsweise hoch: Beide Seiten waren an der gleichen „politischen Rationalität des Machterhalts“ orientiert. „Intuition zurückzudrängen zugunsten der Rationalität des Handelns“ – was Winfried Süß in seinem Beitrag zur „Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform“ als „Grundakkord“ des Vortrags eines Beteiligten zitiert, könnte auch als Generalüberschrift für all jene Versuche dienen, die in den sechziger und siebziger Jahren unternommen wurden, die Politik wenn nicht zu „verwissenschaftlichen“, so doch zumindest zu „rationalisieren“. Dass in diesem Fall nun nicht mehr nur einzelne policies, sondern übergreifend die Entscheidungsabläufe und organisatorischen Grundstrukturen der gesamten Regierung und Ministerialbürokratie auf den Prüfstand gestellt wurden, verlieh der 1968 eingesetzten „Projektgruppe“ eine besondere Note. Auch die starke Prägung durch die Sozialwissenschaften war eine in dieser Form neuartige Erscheinung. Im Kabinett war zunächst umstritten gewesen, welchen Anteil externe Wissenschaftler an der Projektgruppe haben sollten. Bundeskanzler Kiesinger entschied schließlich zugunsten eines eher starken Einflusses, bezeichnenderweise mit dem Argument, es bedürfe eines Gegengewichts zum „Ressortegoismus“ und

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zur inneradministrativen „Betriebsblindheit“. Das verwaltungswissenschaftliche Wissen, auf das es hier ankam, war jedoch, wie sich schnell zeigen sollte, ein noch sehr rares Gut. Viele der Reformvorschläge bestanden in der Anverwandlung von Innovationen, die zuvor in den USA erprobt worden waren. Erst eigentlich mit der Arbeit der Projektgruppe gewann nun auch in der Bundesrepublik eine sozialwissenschaftlich orientierte Verwaltungswissenschaft Profil (für die bis heute Namen wie Fritz Scharpf und Renate Mayntz stehen, zentrale Figuren unter den wissenschaftlichen Beratern der Projektgruppe). Die Wirkung der unterbreiteten Reformvorschläge auf die Regierungs- und Verwaltungsorganisation erwies sich als nicht allzu tiefgreifend. Keineswegs unbedeutend war jedoch der zurückstrahlende Effekt auf die involvierten Wissenschaften. Einen neuartigen Wissenstyp, der in den sechziger und siebziger Jahren seine Blütezeit erlebte, repräsentierte schließlich auch die Zukunftsforschung. Ihr widmet sich in internationaler Perspektive der Beitrag von Alexander SchmidtGernig. Auch hier setzt die „Wissensgesellschaft“ mit ihrer neuen Umschlagsgeschwindigkeit wissenschaftsgestützter Innovationen, mit den beschleunigten Wachstums- und Entwicklungsdynamiken verschiedenster Art, aber auch mit ihren neuartigen Risikopotentialen den allgemeinen Deutungsrahmen. Indem die „Wissensgesellschaft“ Bedingungen schuf, unter denen das Wissen der Vergangenheit für eine auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtete Risikokalkulation allen Wert eingebüßt zu haben schien, löste sie umgekehrt die Suche nach neuen Formen eines zukunftorientierten Steuerungswissens aus. In den USA, dem Mekka der Zukunftsforschung, entwickelten die großen think tanks neue Methoden einer „intuitiven“, „explorativen“ oder „projektiven“ Prognose, die Kybernetik erlebte ihren Aufstieg zur futurologischen Leitwissenschaft. Der Gedanke einer auf permanenten Lern- und Rückkopplungsprozessen beruhenden Selbststeuerung von Systemen stand im Einklang mit dem florierenden Planungsgedanken: Die Kybernetik versprach eine „Art universale Sprache“ jenseits ideologischer Her- und Ableitungen bereit zu stellen, sie orientierte sich an kontingenten Prozesslogiken und sie war offen für Simulationen und Planspiele. Nicht der „technische Staat“ Gehlens oder Schelskys, zu dem gleichwohl eine unleugbare Nähe bestand, schien sich am Horizont abzuzeichnen, sondern der „kybernetische“, in seinen Vollzügen ebenfalls hochgradig durchrationalisierte Staat. Schmidt-Gernig sieht die Leistung der Zukunftsforschung für die Politikberatung auf drei Ebenen liegen: Sie half Problemlagen zu identifizieren und die „Kopplung von technischen Systemlogiken mit deren gesellschaftlichen Wirkungen“ zu erfassen. Sie war an der Formulierung alternativer Denkmuster und Zielvorgaben beteiligt. Und sie vermittelte einer breiteren Öffentlichkeit Erwartungshorizonte und Problembewusstsein im Hinblick auf die globale Dynamik der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung. Nicht zuletzt dadurch wirkte sie dann wieder auf den politischen Raum zurück.

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Der Band schließt mit einem Beitrag von Carl Böhret, in den sowohl eine seit den frühen Boomjahren der Politikberatung währende wissenschaftliche Auseinandersetzung eingeflossen ist wie auch langjährige praktische Erfahrung im Beratungsgeschäft. Böhret spannt historisch einen weiten Bogen – von den Hofnarren des Mittelalters bis zu den jüngsten Entwicklungen auf dem Feld wissenschaftlicher Politikberatung. Die große Durchbruchsinnovation auf dem Weg zur modernen Politikberatung sieht er in den amerikanischen Denkfabriken, auch wenn in der Bundesrepublik mehr die ad hoc-Kommissionen und Sachverständigenräte dominierten. Er verweist auf einige Lernprozesse, die sich aus der Praxis der Politikberatung ergeben haben, wie etwa den vielfach bestätigten Erfahrungswert, dass eine auf ihre Wirkung bedachte Beratung sich nicht damit begnügen kann, neue Ideen einzuspeisen, sondern auch Fragen der Implementierung und Evaluierung im Auge behalten muss. In jüngerer Zeit macht er Anzeichen dafür aus, dass beide Seiten im Dialog gelernt haben, ergebnisorientierter zu agieren. Das wäre ermutigend. Dem steht allerdings wieder Böhrets Beobachtung entgegen, dass der immer dichtere „Beratungsdschungel“ seine potenziellen Adressaten eher verwirrt als dass er ihnen klare Sicht verschafft. Von hier aus gelangt er dann zu der Pointe seiner Ausführungen: Was heute gefordert ist, so Böhret, ist vor allem das individuelle, vertrauliche Coaching im kritischen Dialog unter vier Augen. Ziel sollte es dabei sein, Politikern nicht nur Handlungs-, sondern auch Verhaltensratschläge zu erteilen. * Fragen wir zuletzt nach übergreifenden Forschungshorizonten, in die sich das Thema Politikberatung in historischer Sicht einbetten lässt. Fünf solcher Schnittflächen und Verknüpfungsmöglichkeiten sollen hier, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, kurz angedeutet werden. 1. Margit Szöllösi-Janze hat vorgeschlagen, die soziologische Modevokabel der „Wissensgesellschaft“ in eine historische Analysekategorie zu verwandeln, die mit ihr bezeichnete Realität in Durchbruch und Genese auf der Zeitachse zurückzuverfolgen und so den Begriff „Zeitgeschichte“ in seinem inneren Zusammenhang neu zu bestimmen77. Im Zentrum einer solchen Re-Konstruktion von Zeitgeschichte steht die bereits im 19. Jahrhundert anhebende Durchdringung aller Lebensbereiche durch wissenschaftsfundiertes Wissen. Dieses Wissen wird zur zentralen Triebkraft gesellschaftlichen Wandels. Wenn aber die Annahme stimmt, dass Einfluss und Durchdringungsvermögen wissenschaftsba-

77 Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte, in: Hans-Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 277– 305; vgl. im übrigen auch Szöllösi-Janzes Beitrag in diesem Band.

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sierter Kenntnisse, Denkweisen und Wissensbestände nach allen Richtungen hin wirksam sind, müsste als ein zentraler Prüfstein für die analytische Aufschließungskraft des historisierten Begriffs „Wissensgesellschaft“ die Sphäre der Politik angesehen werden. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik ist von den Historikern bisher eher als Geschichte der Wissenschaftspolitik beleuchtet worden78; hier nun wären die Richtungspfeile einmal umzukehren und wäre systematisch danach zu fragen, ob, wann und in welchem Ausmaß Wissenschaft zu einem politischen Produktivkraft ersten Ranges geworden ist. Postuliert wurde dies nicht erst nach 1945. Der Appell, sich nicht länger der Erkenntnis zu verschließen, „dass Politik nur möglich ist auf wissenschaftlicher Grundlage [. . .], um endlich einmal aus dem politischen Dilettantismus herauszukommen“, wurde ausgesprochen bei einer Parlamentsenquete, bei der die Expertenmeinung von nicht weniger als 6422 Sachverständigen eingeholt wurde. Es handelte sich um den 1926 eingesetzten „Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft“ des Weimarer Reichstags, die Worte stammten von dem SPD-Politiker Rudolf Hilferding79. Nach 1945 waren ähnliche Forderungen immer öfter zu vernehmen, vor allem, als sich – wie erwähnt – in den sechziger und siebziger Jahren die Vorstellung ausbreitete, die Prozesse gesellschaftlichen Wandels mit Hilfe neuer Planungs- und Steuerungstechniken weit mehr als bisher gezielter politischer Kontrolle unterwerfen zu können. Zu bedenken bleibt bei all dem aber auch, dass Wissenschaft und Politik unterschiedlichen Rationalitäten gehorchen (grob vereinfacht und mit Luhmann gesprochen: hier Wahrheit, dort Macht80), dass sie anderen Erfolgsmaßstäben unterworfen sind, in divergierenden Zeithorizonten denken, unterschiedliche Sprachen sprechen, abweichende Denkstile kultivieren, kurz: dass sie nur schwerlich ineinander aufgehen können81. Die Zielvorstellung einer durch und durch „verwissenschaftlichten“ Politik wäre nicht nur eine Utopie, sie wäre auch als analytischer Beurteilungsmaßstab wenig hilfreich. Worauf es ankommt, ist der Prozess, die auf der Zeitachse noch kaum systematisch untersuchte Frage, welche Perioden der Zu- und zuweilen auch Abnahme wechselseitiger Durchdringung und Abhängigkeit beider Systeme sich beobachten lassen – zu 78 Vgl. zuletzt vor allem Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahme zu Formation, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002. 79 Zitiert nach Meinolf Dierkes/Andreas Knie/Peter Wagner, Die Diskussion über das Verhältnis vom Technik und Politik in der Weimarer Republik, in: Leviathan 1988, S. 1–22, hier S. 20. 80 Vgl. bspw. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 393 ff.; gute und verständliche Einführung bei Frank Becker/Elke ReinhardtBecker, Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2001, bes. S. 109 ff. 81 Weingart, Wissenschaftssoziologie, S. 91 ff.

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welchem Zeitpunkten, auf welchen Feldern und vor allem: aus welchen wechselseitigen Konstellationen heraus. Zu prüfen wäre aber auch, ob sich die beiden Sphären des politisch-administrativen Systems und der Wissenschaften nicht dadurch, dass Politik zunehmend „verwissenschaftlicht“ und Wissenschaft mehr und mehr „politisiert“ wurde, so aufeinander zu bewegt haben, dass inzwischen gar von fließenden Übergängen gesprochen werden kann82. In jedem Fall wäre von entsprechenden Untersuchungen sowohl ein Beitrag zur politischen Geschichte der Wissensgesellschaft wie auch zur historischen Wissenssoziologie des Staates zu erwarten. 2. Die Geschichte der politischen Expertenmacht ist zugleich die Geschichte ihrer Kritik, Problematisierung und Infragestellung. Moderne Gesellschaften, so beobachtet ein prominenter Demokratietheoretiker, müssen sich „der Notwendigkeit einer Demokratie beugen, die zwar nicht von Experten regiert wird, aber sich wesentlich auf sie stützt“. Dies bedeute letztlich jedoch auch, dass sie auf einem Weniger an „Volksmacht“ beruhe83. Entgegen einer volkstümlichen Redeweise ist Wissen zwar kaum mit Macht gleichzusetzen, kognitive sind nicht sogleich auch schon politische Ressourcen. Politisch hochwertiges Wissen jedoch – und so auch externes Expertenwissen – kann Machtpotentiale schaffen und Machtasymmetrien erzeugen, je rarer es ist, um so mehr. Hinzu kommt, dass das Bild des unpolitischen Experten längst einer realistischeren Einschätzung Platz gemacht hat, nachdem erkannt werden musste, dass eine saubere Scheidung von Sachargument und Wertsphäre kaum durchzuhalten ist. Die wachsende Bedeutung des Expertentums für die Politik wirft darum nicht nur die Frage auf, wie es um die Legitimation und demokratische Kontrolle des Sachverstandes bestellt ist, sie schafft auch das Problem, wie die zumeist sehr ungleiche Verteilung dieser Ressourcen im politischen Prozess ausgeglichen werden kann. Die Frage lautet dann: Gefährdet die Asymmetrie externer Wissens- und Beratungsressourcen nicht das Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative? Und weiter: Werden nicht politische Vorentscheidungen aus dem verfassungsmäßig vorgesehenen Rahmen heraus verlagert, mit der Folge, dass ein Teil des wissenschaftlichen Establishments zu Einflusspositionen gelangt, die verfassungspolitisch zu denken geben müssen? Berühmt ist die Warnung Präsident Eisenhower in seiner Abschiedsrede vor dem Kongress, die Politik drohe „zum Gefangenen einer wissenschaftlich-technologischen Elite“84 zu werden – was ausgesprochen wurde, noch ehe die „eggheads“ um Präsident Kennedy (und seinen Nachfolger Johnson) in ihre so82 Weingart, Die Stunde der Wahrheit; ders., Scientific expertise; Weingart bedient sich dabei des gerade von Luhmann übernommenen, aber eben auch über Luhmann hinausweisenden Begriffs der „strukturellen Kopplung“ von Politik und Wissenschaft, gelegentlich ist auch von „rekursiver Kopplung“ die Rede. 83 Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1997, S. 423 f. 84 Nach Don K. Price, The Scientific Estate, Cambridge/Mass. 1965, S. 11.

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zialtechnokratischen Beraterrollen einrückten, als „action intellectuals“ Expertise und Politik noch enger zu verknüpfen suchten und rund um den Globus zunächst Bewunderung, dann aber auch Kritik hervorriefen85. Hatte sich Eisenhowers Mahnruf noch vornehmlich auf den militärischen Bereich bezogen, erlangte er nun eine weit darüber hinaus reichende Bedeutung. 1965 warnte der amerikanische Physiker und Publizist Robert Lapp: „The danger is that a new priesthood of scientists may usurp the traditional roles of democratic decision making.“86 Auch in der Bundesrepublik wurden Anfang der siebziger Jahre kritische Stimmen laut, die „ein demokratisch nicht kontrolliertes ,wissenschaftliches Vorfeld‘“ der Politik entstehen sahen, dessen wachsender und schwer abzuschätzender Einfluss als „gegenwärtig eines der bedeutsamsten Probleme im Bereich des politischen Entscheidungsverlaufs“ identifiziert wurde87. Jürgen Habermas hatte in seiner Auseinandersetzung mit der Technokratie-These fünf Jahre zuvor zwar eingestanden, bislang sei die „technokratische Intention nirgends auch nur in Ansätzen verwirklicht“ – „gewisse Entwicklungstendenzen“ dorthin wollte er dessen ungeachtet jedoch schon ausgemacht haben. Die manifeste Herrschaft des autoritativen Staates wich als Bedrohungsszenario den „manipulativen Zwängen der technisch-operativen Verwaltung“88. Man kann mit Peter Weingart allerdings auch die Frage stellen, warum in dem Maße, wie wissenschaftliche Expertise zu einer allgegenwärtigen Größe im politischen Prozess geworden ist, die ursprünglichen Besorgnisse über einen illegitimen Einfluss der Experten weitgehend verstummt sind. Weingart hat auf diese Frage die prima facie einleuchtende Antwort gegeben, der Zugriff auf das Expertenwissen sei eben selbst nach und nach demokratisiert worden. Experten85 Vgl. Frank Fischer, Technocracy and the Politics of Expertise, Newbury Park/ London/New Delhi 1990, bes. S. 151 ff. 86 Zit. nach Sanford A. Lakoff, Scientists, Technologists and Political Power, in: Ina Spiegel-Rösing/Derek de Solla Price (Hg.), Science, Technology and Society. A CrossDisciplinary Perspective, London/Beverly Hills 1977, S. 355–391, hier S. 367. 87 Jörg Berkemann, Technokratie und verfassungspolitische Prinzipien (Einige rechtspolitische Anmerkungen), in: Hans Lenk (Hg.), Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma, Stuttgart u. a. 1973, S. 193–214, hier S. 195 f.; bereits ein Jahrzehnt zuvor war in aller Deutlichkeit vor einer „Oligarchie der Experten“ gewarnt worden, die „außerhalb des staatlichen Delegationszusammenhanges“ und „außerhalb der demokratischen Sanktionen“ stehe, vgl. Manfred Kuhn, Herrschaft der Experten? An den Grenzen der Demokratie, Würzburg 1961, S. 11 und 13; weitere Beiträge zur „Technokratiedebatte“ – der Idee von der überlegenen Problemlösungskompetenz der Experten im wissenschaftlich-technischen Zeitalter sowie der Kritik an dieser Idee – in dem genannten Sammelband sowie in Claus Koch/Dieter Senghaas (Hg.), Texte zur Technokratiediskussion, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1971, dort bes. Hans Peter Dreitzel, Rationales Handeln und politische Orientierung, S. 14–53 (erstmals 1965), und Martin Greiffenhagen, Demokratie und Technokratie, S. 54–70 (erstmals 1967). 88 Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, in: ders., Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a. M. 1969, S. 48–103, hier S. 83.

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wissen sei allen politischen Gruppen zugänglich gemacht, wissenschaftliche Politikberatung durch die Herausbildung von Gegenexpertise ihrerseits politisiert worden. Als Folge betont Weingart, die stärkere Konkurrenz von und um Expertise habe die Prozesse politischer Entscheidungsfindung nicht, wie anfangs erwartet, auf eindeutigere und zweifelsfreiere Grundlagen gestellt, sondern noch zusätzlich verkompliziert und die Unsicherheit unseres Wissens schärfer hervortreten lassen89. Mit der öffentlichen Inszenierung des Dissenses der Experten droht deren Prestige zu sinken, ihr politischer Status an Unangefochtenheit einzubüßen. Die sich spätestens seit den siebziger Jahren ausbreitende Einsicht, dass wissenschaftlicher Ratschlag nur selten den Vorstellungen von einem „gesicherten“, zweifelsfreien und mit der Qualität objektiver Faktizität ausgestatteten Wissen zu entsprechen vermag, hat den Stellenwert des Expertenurteils unsicher werden lassen. Die Problematik der Expertenmacht ist damit jedoch nicht aufgehoben, sie hat sich allenfalls verschoben. Denn nicht minder als übergroßes Vertrauen in das Wort der Experten (bei mangelnder politischer Kontrolle) ist auch geringes Vertrauen (bei fortbestehender, ja weiter zunehmender Angewiesenheit) politisch problematisch. 3. In einer international vergleichenden Perspektive kann die Sonde „Politikberatung“ dazu dienen, Eigenarten und Besonderheiten nationaler Politikstile und Verwaltungskulturen zu ergründen90. Schon der Umstand, dass es in der Bundesrepublik nichts den Kabinetten der französischen Ministerien Vergleichbares gibt und ebenso keine Entsprechung zu den persönlichen Beratern im amerikanischen Regierungssystem, lässt erkennen, wie unterschiedlich die Beratung der Exekutive institutionalisiert sein kann91. Was für die internen Beratungsstrukturen zutrifft, gilt aber auch für den Ratschlag durch externe Experten. Die in der deutschsprachigen Literatur geläufigste Vergleichsanordnung ist 89 Weingart, Die Stunde der Wahrheit, S. 131 ff.; ders., Scientific expertise; vgl. auch Bernd Kleimann, Das Dilemma mit den Experten – Ein Expertendilemma? Literaturbericht, in: Heinz-Ulrich Nennen/Detlef Grabe (Hg.), Das Expertendilemma. Zur Rolle wissenschaftlicher Gutachter in der öffentlichen Meinungsbildung, Berlin/Heidelberg/New York 1996, S. 183–215. Mit dem aktuellen „Beratungsboom“ werden indes unüberhörbar auch wieder Stimmen laut, die Bedenken gegenüber dem politischen Stellenwert der Politikberatung geltend machen. 90 Vgl. als Sammelbände mit internationaler Perspektive Peters/Barker, Advising West European Governments; Anthony Barker/B. Guy Peters (Hg.), The Politics of Expert Advice. Creating, Using and Manipulating Scientific Knowledge for Public Policy, Edinburgh 1993; Diane Stone/Andrew Denham/Mark Garnett (Hg.), Think tanks across nations. A comparative approach, Manchester/New York 1998; James G. McGann/R. Kent Weaver (Hg.), Think Tanks and Civil Societies: Catalysts for Ideas and Action, New Brunswick 2000; R. Kent Weaver/Paul B. Stares (Hg.), Guidance for Governance. Comparing Alternative Sources of Public Policy Advice, Tokyo/Washington D.C. 2001; vgl. auch William Plowden (Hg.), Advising the Rulers, Oxford 1987 (primär jedoch mit Blick auf die internen Beratungskapazitäten der Ministerien). 91 Renate Mayntz, West Germany, in: Plowden, Advising the Rulers, S. 3–18, hier S. 5 f.

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die zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten92. Früher und stärker als in anderen westlichen Staaten vertraute das politische Führungspersonal in den USA – und vertraut noch immer – auf den Ratschlag externer Experten93. 1975 unterhielten allein die 45 US-Bundesbehörden 1.267 Beratungsgremien mit 22.000 Mitgliedern94. Institutionen wie der 1946 geschaffene Council of Economic Advisors, das 1957 eingerichtete President’s Science Advisory Committee, die 1970 ins Leben getretene Environmental Protection Agency und das 1972 gegründete Office of Technology Assessment fanden als mögliche Organisationsvorbilder starke Beachtung, wenn es darum ging, in der Bundesrepublik ähnliche Einrichtungen zu schaffen. Die markanten Unterschiede im politischen Koordinatensystem beider Staaten erschwerten jedoch einen originalgetreuen Transfer, zwischen Vorbild und Nachahmung blieben in der Regel erhebliche Divergenzen bestehen. So ließen sich, obwohl vielfach bewundert, auch die amerikanischen think tanks nur unvollständig kopieren. James A. Smith, der den säkularen Entstehungs- und Wachstumsprozess der US-Denkfabriken nachgezeichnet hat, verdeutlicht die starke Verwurzelung der Denkfabriken in der Tradition des amerikanischen Stiftungswesens95. Ihr war es zu verdanken, dass die think tanks weitaus unabhängiger von staatlicher Grundfinanzierung blieben als vergleichbare Einrichtungen in der Bundesrepublik96. Wichtiger noch dürfte in komparativer Sicht der Hinweis auf die besondere Struktur der amerikanischen Verwaltung sein. Viele Autoren begründen die unterschiedliche Rolle amerikanischer und europäischer Politikberater mit der unterschiedlichen Verwaltungskultur diesseits und jenseits des Atlantiks: „The American civil service is more open than European systems to outside midcareer entry and more populated with technical specialists in its upper ranks who 92 Für einen solchen Vergleich auf einem zentralen politischen Aufgabenfeld vgl. z. B. Heinrich Kreft, Die wissenschaftliche Politikberatung im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik in den USA – Ein Vergleich zu Deutschland, in: Gerhard Kümmel (Hg.), Wissenschaft, Politik und Politikberatung. Erkundungen zu einem schwierigen Verhältnis, Strausberg 2002, S. 115–138. 93 So schon Don K. Price, The Scientific Establishment, in: Robert Gilpin/Christopher Wright, Scientists and National Policy-Making, New York/London 1964, S. 19– 40, hier S. 21; einen Überblick über interne (der Exekutive wie auch der Legislative zugeordnete) und externe „policy analysis organizations“ gibt Carol H. Weiss (Hg.), Organizations for Policy Analysis. Helping Government Think, Newbury Park/London/New Delhi 1992. 94 Dorothy Nelkin, Scientific Knowledge, Public Policy, and Democracy, in: Knowledge: Creation, Diffusion, Utilization 1 (1979), S. 106–122. Man vergleiche damit die oben genannten Zahlen für die Bundesrepublik. 95 Smith, The Idea Brokers, S. 228 f. 96 Vg. auch Susanne Cassel, Die Rolle von Think Tanks im US-amerikanischen Politikberatungsprozess (Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik 99/3), Freiburg i. Br. 1999, S. 21 ff. und 33 ff.; vgl. auch Martin Thunert, Think Tanks in Deutschland – Berater der Politik? in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52/2003, S. 30–38, der im übrigen darauf hinweist, dass gegenwärtig der deutsche Think TankSektor unter quantitativen Gesichtspunkten im europäischen Maßstab führend ist.

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naturally look to their colleagues on the outside for advice. [. . .] The policy integration functions, performed in the European tradition by an elite administrative class, are weakly developed in the American federal bureaucracy. As a result U.S. government agencies often look to advisory groups für their main policy ideas.“97 Das amerikanische „revolving door“-Prinzip, Ausdruck einer höheren Durchlässigkeit des politisch-administrativen Systems, verhilft einer größeren Zahl von Wissenschaftlern zu administrativen Führungspositionen, als dies in Deutschland der Fall ist, was dann allerdings auch einschließt, dass sie nach einiger Zeit wieder ausscheiden und sich das Karussell zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik von Neuem dreht98. Ein Wechsel an der Regierungsspitze geht mit einem massiven Austausch des höheren Verwaltungspersonals einher. Die think tanks dienen in solchen Fällen oft als eine Art „Exilregierung“. Winand Gellner hat auf einen weiteren Gesichtspunkt aufmerksam gemacht. Er leitet die Rolle der think tanks in den USA – der RAND Corporation, Brookings, Heritage und was der größeren und kleineren Ideenagenturen noch mehr sind – stärker aus dem Umstand ab, dass sie im politischen System Funktionen übernehmen, die in anderen westlichen Systemen die Parteien ausfüllen, Aufgaben wie die Ideenproduktion und Netzwerkbildung, vor allem aber auch die Rekrutierung und Zirkulation von politischen Eliten99. Gerade dies erkläre den kurzen Draht zur Politik. Ob aber philanthropische Tradition, Verwaltungskultur oder Parteiensystem – indem sie auf unterschiedliche Spielregeln und Funktionsprinzipien im politischen Prozess verweisen, erhellen Erklärungsversuche wie diese Spezifika der verglichenen Systeme100. 97 Bruce L.R. Smith, The Advisers. Scientists in the Policy Process, Washington 1992, S. 8. 98 Vgl. auch den Hinweis bei Murswieck, Wissenschaftliche Beratung, S. 117. 99 Winand Gellner, Ideenagenturen für Politik und Öffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland, Opladen 1995; ders., Politikberatung und Parteienersatz: Politische „Denkfabriken“ in den USA, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 22 (1991), S. 134–149. Carol Weiss führt das singuläre Gedeihen der amerikanischen „policy analysis organizations“ auch auf die hochgradige Fragmentierung des Regierungssystems zurück, dem wenige institutionelle Gegengewichte gegenüberstehen (Parteien, korporative Strukturen), die Interessen zu aggregieren imstande wären; vgl. Carol H. Weiss, Helping Government Think: Functions and Consequences of Policy Analysis Organizations, in: dies., Organizations, S. 1–18. 100 Ein typologisierendes Kategoriengerüst für die Einordnung verschiedener nationaler Stile der Verwendung wissenschaftlicher Expertise findet sich bei Renn, Style of using: „adversarial“ (USA), „fiduciary“ (Südeuropa), „consensual“ (Japan) und „corporatist“ (Nordeuropa); ebenfalls vier Modelle der Institutionalisierung von Politikberatung in hochindustrialisierten Staaten skizziert Klaus von Beyme, Sozialwissenschaften und Politikberatung, in: Andreas Flitner/Ulrich Herrmann (Hg.), Universität heute, Wem dient sie? Wer steuert sie? München/Zürich 1977, S. 107–126, hier S. 117 ff.; vgl. auch die differenzierten Kategorien der international vergleichenden Untersuchung von Peter Wagner/Hellmut Wollmann, Social scientists in policy research and consulting: Some cross-national comparisons, in: International Social Science Journal 38 (1986), S. 601–617. Ein auf neun Dimensionen des Beratungsgeschehens („initia-

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4. Nur kurz angedeutet sei der Umstand, dass politische Beratungsaufgaben und Nützlichkeitskriterien eine erhebliche Rückwirkung auf die Gesamtausrichtung der beratenden Wissenschaften haben können. Einen Hinweis auf diesen Zusammenhang gibt schon der Umstand, dass die meisten Drittmittel, die in den neunziger Jahren von der Erziehungswissenschaft eingeworben wurden, unmittelbar aus den Ministerien stammten101. 1974 konnte M. Rainer Lepsius als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie berichten, die Vergabe von Aufträgen durch die Ministerien übersteige inzwischen die Finanzierung sozialwissenschaftlicher Forschung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) beträchtlich102. Die Entstehung einer modernen, sozialwissenschaftlich orientierten Verwaltungswissenschaft in der Bundesrepublik verdankte sich, wie dem Beitrag von Winfried Süß in diesem Band zu entnehmen ist, nicht unerheblich den wohldotierten Forschungs- und Gutachtenaufträgen, die an der Wende zu den siebziger Jahren im Umfeld der „Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform“ vergeben wurden103. Wenige Jahre später vermochte die empirische Verwaltungsforschung vor allem vom Etat des Bundesministeriums für Forschung und Technologie zu profitieren, aus dessen Fördertöpfen Forschungsverbünde insbesondere zur Implementationsforschung und zur bürgernahen Verwaltung genährt wurden104. Andere Ministerien alimentierten über Ressortforschungsmittel die aufblühende Evaluations- und Begleitforschung. Die Wechselwirkung von politischer Nachfrage und wissenschaftlicher Entwicklung war hier evident, und die Verwaltungsforschung sollte umgekehrt dann spürbar darunter zu leiden haben, als die Nachfrage von Politik und Verwaltung nach anwendungsorientierter Forschung in späteren Jahrzehnten wieder rückläufig war. Solche und ähnliche Beispiele ließen sich mühelos vermehren, man denke tion“, „status and permanence“, „scope for action“, „role“, „breadth of remit“, „external consultation“, „review/commission of reseach“, „transparency“, „composition“) beruhendes Klassifizierungsschema bietet die aufschlussreiche, vom Institut of Prospective Technological Studies des Joint Research Centre der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Untersuchung von Steven Glynn, Kieron Flanagan, Michael Keenan, Science and Governance: Describing and typifing the scientific advice structure in the policy making process – a multi-national study (ftp://ftp.jrc.es/pub/EURdoc/ eur19830en.pdf). 101 Klaus-Jürgen Tillmann, Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik. Erfahrungen aus der jüngsten Reformphase, in: Zeitschrift für Pädagogik 37 (1991), S. 955– 974, hier S. 965. 102 M. Rainer Lepsius, Zur forschungspolitischen Situation der Soziologie, in: ders. (Hg.), Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1976, S. 407–417, hier S. 416. 103 Vgl. auch die Hinweise von Joachim Jens Hesse, Staat, Politik und Bürokratie – eine Einführung, in: ders. (Hg.), Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft, Opladen 1982, S. 9–33, hier S. 14 u. 21 f.; Thomas Ellwein, Verwaltungswissenschaft: Die Herausbildung der Disziplin, in: ibid., S. 34–54, S. 37 f. u. 43. 104 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Hellmut Wollmann, in: Jan Ziekow (Hg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft. Forschungssymposium anlässlich der Emeritierung von Univ.-Prof. Dr. Dr. Klaus König, Berlin 2003, S. 130 ff.

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nur an das sich neu konstituierende Feld der Umweltpolitik, von dem seit den siebziger Jahren nachhaltige Impulse für den Ausbau der Umweltforschung ausgingen. Auch hier hat man es mit Rückwirkungen politischer Relevanzkriterien auf ganze Forschungslandschaften zu tun105. Strategische Positionen in allzu großer Nähe zur Politik mögen der innerwissenschaftlichen Reputation nicht immer nur zuträglich sein (natürlich ist mindestens ebenso oft auch das Gegenteil der Fall). Sie haben aber den angenehmen Begleiteffekt, eine größere Nähe zu den materiellen und mitunter auch kognitiven Ressourcen der Verwaltung zu schaffen. Zwischen Wissenschaft und Politik entstehen so permanente Rückkopplungsschleifen, weshalb Politikberatung, je nach Disziplin, auch auf ihren innerwissenschaftlichen Steuerungseffekt hin untersucht werden kann. 5. Auf wieder andere Weise lässt sich das Thema Politikberatung mit übergreifenden Prozessen sozialen und kulturellen Wandels in Beziehung setzen, wenn man die Sozialfigur des Experten und Beraters in den Mittelpunkt rückt. Die Ausbreitung von Expertenwissen ist ein universaler Prozess und nicht allein auf die Sphäre der Politik beschränkt. Sie ist das konstitutive Moment der Wissensgesellschaft. In Wissensgesellschaften kommt es, wie Nico Stehr geschrieben hat, „zu einem explosionsartigen Wachstum wissensfundierter Berufe, die Zahl der Experten, Berater und Ratgeber nimmt schlagartig zu.“106 Das Beratungsgeschäft präsentiert sich heute ungeachtet mancher Einbrüche als ein boomendes Gewerbe und ist dies doch nicht erst seit jüngster Zeit. Das bekannte Hintergrundphänomen ist, historisch betrachtet, die permanente Verkomplizierung von alltagsbedeutsamen Reflexions- und Handlungserfordernissen. Manches, was Individuen in ihrer privaten Existenz bislang kraft verfügbaren Erfahrungswissens, Organisationen kraft angehäuften Funktionswissens zu bewältigen gewohnt waren, gerät nach und nach in den Sog der Spezialisierung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung. Im Gegenzug differenzieren sich die Angebote externer Reflexions- und Handlungskompetenz immer weiter aus, im ersteren Fall eher als Beratung, im letzteren als Dienstleistung. Der Aufstieg der „professional society“, wie ihn Harold Perkin für das England des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet hat107, ist insofern nur ein Spiegelbild der heraufziehenden Wissensgesellschaft, zu deren Charakteristika es zählt, dass Wissen im-

105 Vgl. jedoch auch Günter Küppers/Peter Lundgreen/Peter Weingart, Umweltforschung – die gesteuerte Wissenschaft? Eine empirische Studie zum Verhältnis von Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftspolitik, Frankfurt a. M. 1978. 106 Nico Stehr, Wissensberufe, in: Wolfgang K. Schulz (Hg.), Expertenwissen. Soziologische, psychologische und pädagogische Perspektiven, Opladen 1998, S. 17–31, hier S. 17. 107 Harold Perkin, The Rise of Professional Society. England since 1880, London, New York 1990.

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mer mehr fragmentiert und in seiner Verfügbarkeit auf Vermittler, also Experten, angewiesen ist. Aus einer solchen Perspektive betrachtet gehören zu den Verknüpfungspunkten unseres Themenfeldes besonders auch die Beratungsangebote auf dem Feld der Wirtschaft108. Seit den dreißiger Jahren expandierte in den Vereinigten Staaten das Geschäft der management consultancies (1967 gab es in den USA bereits 25.000 Unternehmensberater109), um sich anschließend mit charakteristischem time-lag über alle führenden Industriestaaten auszubreiten110. Und da Politikberatung nicht nur ein Nebengeschäft für die Wissensexperten schlechthin, die Professoren, sondern längst auch einen interessanten Markt für hauptberufliche Anbieter darstellt, nehmen sich die Unternehmensberatungen inzwischen ebenso gerne des öffentlichen Sektors an. In Zeiten, in denen viel vom Umbau des Staates und ebenso viel von der Privatisierung öffentlicher Aufgaben die Rede ist, stoßen sie hier auf wachsende Nachfrage und lukrative finanzielle Auftragsvolumina. Experten beraten jedoch nicht nur politische und ökonomische Funktionseliten. Nicht anders als Organisationen stehen auch Individuen unentwegt vor der Wahl, angesichts sich verkomplizierender Reflexions- und Handlungserfordernisse entweder eigene Ressourcen auszubilden oder fremde in Anspruch zu nehmen. Und auch für sie gilt: Je komplizierter die Vollzüge, um so höher sind die materiellen und immateriellen Kosten der ersten Option. Externe Expertise stellt deshalb nicht nur überlegenes Spezialwissen, sondern auch „economies of knowledge“ in Aussicht111. Daher gehören in den hier beschriebenen Kontext112, spannt man den Deutungsrahmen in seiner ganzen Breite auf, auch die bisweilen eher merkwürdige Blüten treibenden Beratungsangebote im Bereich 108 Ebenso zählt zu diesen Verknüpfungspunkten die Vertrags- bzw. Auftragsforschung kommerzieller bzw. halbstaatlicher Einrichtungen für Wirtschaft und Staat, vgl. hierzu Jürgen Lieske, Forschung als Geschäft. Die Entwicklung von Auftragsforschung in den USA und Deutschland, Frankfurt a. M. 2000. 109 Arno Morenz, Das große Geschäft mit der Macht des Wissens, in: Handelsblatt Nr. 35 vom 17./18.2.1967; Rosemarie Winter, Meist ist guter Rat teuer. Unternehmer lassen sich nicht gerne durchleuchten, in: Die Zeit Nr. 49 vom 6.12.1963, nennt sogar eine fast doppelt so hohe Zahl und verweist auf Schätzungen, nach denen zu diesem Zeitpunkt in den USA 70% aller Firmen bisher Unternehmensberatungen in Anspruch genommen hatten, in der Bundesrepublik jedoch nur 5%. 110 Christopher McKenna, The Origins of Modern Management Consulting, in: Business and Economic History 24 (1995), S. 51–58; Matthias Kipping, The U.S. Influence on the Evolution of Management Consultancies in Britain, France, and Germany Since 1945, in: ibid. 25 (1996), S. 112–123; Matthias Kipping/Lars Engwall (Hg.), Management Consulting. Emergence and Dynamics of a Knowledge Industry, Oxford 2002. 111 Christopher McKenna, The World’s Newest Profession: Management Consulting in the Twentieth Century, New York 2003. 112 Dieser Kontext hat schon die neuen Etikette der „Beratungsgesellschaft“ auftauchen lassen, vgl. Peter Fuchs/Eckart Pankoke, Beratungsgesellschaft, Schwerte 1994.

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der privaten Lebensführung. Hier dann besonders zählt zu den Begleiterscheinungen der Externalisierung von Handlungskompetenz, dass sich das Angebot seine Nachfrage gerne selbst schafft, was nichts anderes heißt, als dass das ständig neue Ersinnen von Beratungsbedarf auf der Erzeugung von vormals nicht wahrgenommenen, also auch nicht vorhandenen Bedürfnissen beruht. Welcher innere Zusammenhang zwischen all diesen Facetten der Entlastung und Auslagerung von Kompetenzerwartungen besteht, dürfte eine gründliche Betrachtung auf der Zeitachse verdienen113. Der gemeinsame Focus wäre auf jeden Fall der Aufstieg der Sozialfigur des „Experten“, wie ihn Nico Stehr als zentralen Protagonisten der Wissensgesellschaft porträtiert hat114.

113 Dass ein solcher Zusammenhang besteht, zeigte sich etwa in dem Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahren verbreiteten Eindruck einer parallelen Anfechtung, Entwertung und Neudefinition der Experten und des Expertentums im gesellschaftlichen, politischen wie auch individuellen Lebensbereich, vgl. Heinz Hartmann/Marianne Hartmann, Vom Elend der Experten: Zwischen Akademisierung und Deprofessionalisierung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 193–223. 114 Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, Kap. 8.

Vorformen und Anfänge wissenschaftlicher Politikberatung im 19. Jahrhundert Von Hans-Christof Kraus I. Jacob Burckhardt hat in einem vielzitierten Diktum einmal festgestellt: „Überall im Studium mag man bei den Anfängen beginnen, nur bei der Geschichte nicht“1. Am Thema der Politikberatung läßt sich zeigen, daß er auch hierin Recht behalten hat. Denn wo sollte, wo könnte man anfangen? Seit wann gibt es eigentlich „wissenschaftliche Politikberatung“? Seit Platons Aufenthalt in Syrakus? Seit dem Mittelalter? Oder erst seit Leibniz, der um 1700 zu den engsten politischen Vertrauten und Ratgebern der Kurfürstin Sophie von Hannover gehörte und der sie in den komplizierten verfassungsrechtlichen und politischen Fragen der bevorstehenden Sukzession ihres Hauses auf dem britischen Königsthron über mehrere Jahre hinweg intensiv beraten hat?2 Eventuell sogar erst seit Kant, der 1798 im „Streit der Fakultäten“ anmerkte, es könne „wohl dereinst dahin kommen, daß die Letzten die Ersten (die untere Facultät die obere) würden, zwar nicht in der Machthabung, aber doch in Berathung des Machthabenden (der Regierung), als welche in der Freiheit der philosophischen Facultät und der ihr daraus erwachsenden Einsicht besser als in ihrer eigenen absoluten Autorität Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke anzutreffen würde“3. Angesichts dieses Dilemmas bleibt wohl kaum etwas anderes übrig, als auf die übliche Verlegenheitslösung der Historiker zurückzugreifen, nämlich in Epochen oder in einzelnen Jahrhunderten zu denken und genau hier auch die zeitlichen Grenzen der Betrachtung zu ziehen. So problematisch es auf den ersten Blick sein mag, ein ganzes Jahrhundert nur unter der Perspektive der Vorläuferschaft zum folgenden Jahrhundert in den Blick zu nehmen, – eine solche Vorgehensweise ist dennoch durch das in Rede stehende Thema in der Sache gerechtfertigt. Denn im Vergleich mit dem zwanzigsten Jahrhundert hat es im 1

Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1978, S. 7. Vgl. Waltraut Fricke, Leibniz und die englische Sukzession des Hauses Hannover (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 56), Hildesheim 1957. 3 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in: derselbe, Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bde. I– XXIX, Berlin/Leipzig 1910–1983, hier Bd. VII, S. 1–116, das Zitat S. 35. 2

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neunzehnten tatsächlich nur so etwas wie erste Anfänge und Vorformen wissenschaftlicher Politikberatung (vor allem in institutionalisierter Form) gegeben. Insofern mag es aufschlußreich sein, zu erfahren, ob es sich bei diesen Anfängen nur um zeitlich oder epochenmäßig begrenzte Phänomene ohne spätere Folgewirkungen gehandelt hat, oder ob sich die späteren Arten der Politikberatung seit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert in ungebrochener Kontinuität aus eben jenen Vorformen heraus entwickelt haben4. Dabei können allerdings nicht alle diejenigen Wissenschaften Berücksichtigung finden, deren Vertreter beratend tätig geworden sind, sondern es werden im folgenden – gewissermaßen pars pro toto – nur eine kleine Zahl einzelner Juristen, Historiker, Ökonomen, aber auch Philosophen, Philologen und Pädagogen zur Sprache kommen können, streng begrenzt auf Universitätsgelehrte, auf Professoren also, die sich zeitweilig beraterisch betätigt haben. Die Beispiele sind entnommen den Bereichen der Internationalen und der Verfassungspolitik, der Regierungspublizistik, der Verwaltungs- und Sozialreform sowie der Bildungspolitik und der Schulreform im engeren Sinne. II. Den verfassungspolitischen Wandlungen des preußischen Staates während und nach der Revolution von 1848 entstammen die ersten beiden in den Blick zu nehmenden Exempel: Im Herbst 1848 bildete sich um König Friedrich Wilhelm IV. eine später als „Kamarilla“ bezeichnete informelle Gruppe von Beratern, die aus entschiedenen Revolutionsgegnern bestand und den Monarchen bei der Einleitung der ersten gegenrevolutionären Maßnahmen und bei seinem Kampf gegen die Berliner Nationalversammlung beriet. Auch der Verfassungsoktroi im Dezember 1848 wurde hier indirekt vorbereitet. Aufgrund persönlicher Kontakte wurde der in Halle lehrende Historiker Heinrich Leo5 in jene „Kamarilla“ zeitweilig mit einbezogen, um verfassungspolitischen Rat zu geben. Anfang November 1848 verfaßte er – auf wessen Aufforderung, ist nicht mehr zu klären – eine Denkschrift mit dem Titel „Signatura temporis“, die nicht nur dem König vorgelesen, sondern wenig später auch anonym publiziert worden ist6. In überaus geschickter Weise okkupierte Leo in dieser Schrift (auf 4 Dieser Aspekt kann im vorliegenden Beitrag nicht mehr näher in den Blick genommen werden, doch er wäre sicher einer näheren Untersuchung wert. 5 Vgl. Carolyn Rebecca Henderson, Heinrich Leo. A Study in German Conservatism, phil. Diss. University of Wisconsin, Madison, Ann Arbor/Mich. 1977; Christoph Freiherr von Maltzahn, Heinrich Leo (1799–1878). Ein politisches Gelehrtenleben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 17), Göttingen 1979. 6 [Heinrich Leo], Signatura temporis, Berlin 1848.

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die im Detail nicht weiter eingegangen werden kann) den bis dahin als „revolutionär“ angesehenen Begriff des Konstitutionalismus für die Sache des Königs: Nur der Monarch handele wahrhaft „konstitutionell“, während die Nationalversammlung einer „unkonstitutionellen“ Handlungsweise geziehen wurde. Leo bekannte sich ausdrücklich zu einem gegenrevolutionär-konservativen Verständnis von Konstitutionalismus, der „die Regierungsmittel in den Händen der Fürsten mehrt und diesem doch eine gesicherte Stellung gewährt“7. Damit nahm er im Grunde den im Dezember des Revolutionsjahres vollzogenen Wechsel der Krone zur Verfassungspolitik gedanklich vorweg. Und zugleich waren seine Thesen geeignet, das aus Furcht vor der „roten Revolution“ zurückhaltend gewordene liberale Bürgertum auf die Seite der Monarchie zu ziehen, wenn sich diese jetzt ausdrücklich zur liberalen Hauptforderung, der Errichtung eines konstitutionellen Systems, bekannte. Ein zweites, sehr ähnliches Beispiel ist aus dem Jahre 1852 bekannt. Hier war ein Jurist im Spiel, der seinerzeit sehr bekannte Bonner Staatsrechtler Ferdinand Walter, der während der Revolution Mitglied der Berliner Nationalversammlung sowie anschließend für kurze Zeit preußischer Landtagsabgeordneter gewesen und während dieser Zeit dem König positiv aufgefallen war8. Friedrich Wilhelm IV. unternahm mehrere Versuche, die ihm verhaßte Verfassungsurkunde, die er 1850 beschworen hatte, wieder los zu werden9. Allerdings legte er Wert auf strikte Legalität, und die von ihm persönlich angeforderte politische Denkschrift Walters empfahl denn auch, orientiert am englischem Vorbild, die Auflösung der kodifizierten Verfassung durch die Verabschiedung einer Reihe einzelner ausführlicher Gesetze, die alle wichtigen Bereiche der Staatsorganisation abdecken sollten10. Diese Schrift wurde auf Geheiß des königlichen Auftraggebers unter dem Titel „Ueber die Revision unserer Verfassungsurkunde“ veröffentlicht, jedoch ohne die erhofften Wirkungen auf die Adressaten – in diesem Fall die preußischen Landtagsabgeordneten – auszuüben. Auch Leopold Ranke hat sich mehr als einmal als Politikberater betätigt. Erwähnt sei ein Beispiel aus dem Jahre 1862; in diesem Fall geht es nicht um Verfassungspolitik, sondern um das Gefüge der in dieser Zeit sehr unübersicht7 Ebenda, S. 49; siehe auch Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 53), Göttingen 1994, Bd. I, S. 465, Anm. 482. 8 Vgl. Felix Bernard, Der Bonner Rechtsgelehrte Ferdinand Walter (1794–1879) als Kanonist, Würzburg 1986, sowie die Angaben bei Hans-Christof Kraus, Konstitutionalismus wider Willen – Versuche einer Abschaffung oder Totalrevision der preußischen Verfassung während der Reaktionsära (1850–1857), in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 5 (1995), S. 157–240, hier S. 178, Anm. 88. 9 Zum Zusammenhang dieser Bemühungen siehe Kraus: Konstitutionalismus wider willen (wie Anm. 8), S. 176 ff. u. passim. 10 Ferdinand Walter, Ueber die Revision unserer Verfassungsurkunde, Bonn 1852.

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lichen internationalen Beziehungen, und der Auftraggeber war dieses Mal der bayerische König Maximilian II., dem der Historiker schon in früherer Zeit historischen Unterricht gegeben hatte11. Den Monarchen verlangte es angesichts der komplexen weltpolitischen Lage im Oktober 1862 nach einer kompetenten Gesamtdeutung der nationalen und der internationalen Krisensituation, und Ranke hielt ihm in Hohenschwangau einen Vortrag, der in glänzender Weise und mit hoher Kompetenz die historischen Wurzeln sowie die politische Problematik eben jener Lage erläuterte12. Ausgehend von dem langsamen Zerfall der 1815 errichteten Ordnung entwarf der Historiker ein historisch-politisches Tableau, in dem kaum eine der politischen Konfliktlagen dieser Zeit unerwähnt blieb – angefangen von den Unruhen auf dem Balkan, über die Auseinandersetzungen zwischen Piemont und dem Kirchenstaat, die innere Problematik des Habsburgerreiches, die österreichischfranzösischen Differenzen nach dem italienischen Krieg, den amerikanischen Bürgerkrieg, die Schwäche Rußlands nach dem verlorenen Krimkrieg, bis hin zur gegenwärtigen Problematik der deutschen Frage, zur preußisch-österreichischen Rivalität und zum unmittelbar aktuellen Konflikt zwischen monarchischem und konstitutionellem Prinzip im preußischen Verfassungsstreit. Der deutsche Antagonismus, so Rankes vorausschauende Schlußbemerkung, zeige „feindselige Demonstrationen . . ., wie sie in andern Epochen wirklichen Kriegen vorausgegangen sind“13. – Der König starb bereits zwei Jahre später, ohne die Nutzanwendung aus Rankes vorsichtig formulierten Erkenntnissen ziehen zu können. Bereits diese drei (hier nur ganz knapp skizzierten) Beispiele lassen zumindest zwei Charakteristika wissenschaftlicher Politikberatung im neunzehnten Jahrhundert deutlich werden: erstens eine starke Fokussierung auf einzelne herausragende, in ihrem Fach ausgewiesene Gelehrte, die als Ratgeber, als Gutachter und Verfasser von öffentlichen oder auch nichtöffentlichen Denkschriften allein tätig werden – nicht jedoch gleichzeitig mehrere, sich als gemeinsam arbeitende Gruppe verstehende Persönlichkeiten. Und zum zweiten wird die Bedeutung schon vorher bestehender persönlicher Kontakte und Verbindungen erkennbar, die dazu führt, daß nur ganz bestimmte Personen (und nicht andere, ebenso und vielleicht sogar in höherem Maße qualifizierte) für eine beratende Tätigkeit herangezogen worden sind. 11 Karl Alexander von Müller, Ein unbekannter Vortrag Rankes aus dem Jahr 1862, in: Historische Zeitschrift (HZ) 151 (1935), S. 311–335. 12 Leopold Ranke, Ein Moment der Zeit (1862), abgedruckt ebenda, S. 312–327; vgl. zur Verbindung Rankes zum König von Bayern auch Hans F. Helmolt, Leopold Rankes Leben und Wirken, Leipzig 1921, S. 107 f., 112 ff. u. a.; Michael Dirrigl, Maximilian II. König von Bayern 1848–1864, Bd. I, München 1984, S. 468 ff., 539 f., 628 ff. u. a. 13 Ranke, Ein Moment der Zeit (wie Anm. 12), S. 327.

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III. Wegen eines anderen Aspekts ist nun ein weiteres Beispiel von Interesse, das in diesem Fall dem Bereich der Wirtschafts- und Sozialreform entnommen wird. Der Berliner Privatdozent Eugen Dühring war ein aufstrebender, aber noch kein sehr bekannter junger Gelehrter, als seine „Grundlegung der Volkswirthschaftslehre“ Bismarck und dessen engstem sozialpolitischen Mitarbeiter Hermann Wagener auffiel. Dühring verfaßte, von Wagener dazu aufgefordert, im Frühjahr 1866 eine als strikt vertraulich vereinbarte Denkschrift für die preußische Regierung über ökonomische Assoziationen und die Möglichkeiten einer Berufsorganisation der Arbeiter14. Nachdem er mehrere Monate nach Abgabe seiner Schrift keinerlei offizielle Reaktion erfahren hatte, mußte Dühring im folgenden Jahr zu seinem Erstaunen feststellen, daß sein Memorandum unter dem Titel „Denkschrift über die wirthschaftlichen Associationen und socialen Coalitionen“ bereits in zweiter Auflage gedruckt vorlag, wenn auch, wie er sagt, „durch sinnverderbende Druckfehler bis zur Unkenntlichkeit entstellt“15. Die erste Auflage war anonym erschienen, die zweite jedoch unter dem Autorennamen Hermann Wagener. Von Dühring befragt, gab dieser zur Antwort, die Namensnennung auf der Titelseite sei eigenmächtig vom Verlag vorgenommen worden. Hiermit gab sich der junge Privatdozent nicht zufrieden, sondern er verfaßte sogleich eine Kampfbroschüre gegen die Regierung16 und verklagte Wagener vor Gericht, der schließlich in zweiter Instanz zu Schadensersatz verurteilt wurde. Ein Disziplinarverfahren gegen ihn kam nicht zustande, Dührings wissenschaftliche Karriere jedoch war ruiniert. Ohne auf die eigentlichen Inhalte der Schrift Dührings und auf deren politische Bedeutung an dieser Stelle eingehen zu können, erhellt dieser Fall einen weiteren wichtigen Aspekt des Themas der wissenschaftlichen Politikberatung: nämlich die im neunzehnten Jahrhundert offenbar noch völlig ungeklärte Frage nach dem Umgang mit dem geistigen Eigentum der Berater. Konnte eine Regierung oder eine offizielle Behörde, die ein Gutachten angefordert hatte, darüber uneingeschränkt verfügen, den Text nötigenfalls auch ohne Zustimmung des entsprechenden Verfassers veröffentlichen (bzw. anderen Lesern zugänglich ma14 Vgl. dazu knapp: Hans-Christof Kraus, Hermann Wagener (1815–1889), in: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, hg. v. Bernd Heidenreich, Berlin 2002, S. 537– 586, hier S. 561 f. sowie die Darstellung (aus der Perspektive des Betroffenen) bei Eugen Dühring, Sache, Leben und Feinde. Als Hauptwerk und Schlüssel zu seinen sämmtlichen Schriften, Leipzig 1903, S. 144–155. 15 Dühring, Sache, Leben und Feinde (wie Anm. 14), S. 148. 16 Eugen Dühring, Die Schicksale meiner socialen Denkschrift für das Preussische Staatsministerium. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Autorrechts und der Gesetzesanwendung, Berlin 1868.

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chen) oder nicht? Konnte oder mußte sie Namen nennen – oder durfte sie es gerade nicht, weil Vertraulichkeit vereinbart worden war? Nicht die Wirtschafts- und Sozialreform, sondern Bildungs- und Schulreformpolitik waren derjenige Bereich politischen Handelns, in dem es wohl am frühesten so etwas wie eine Vorform der institutionalisierten Politikberatung gegeben hat. Bereits die seit 1807 in die Wege geleitete Gründung der Universität Berlin wurde durch eine amtlich bestellte Gutachtertätigkeit begleitet und in vielen zentralen Details beeinflußt und geprägt. Der zuerst mit der Organisation beauftragte Kabinettsrat Karl Friedrich Beyme begann, wie schon Max Lenz ermittelt hat, seine Tätigkeit damit, daß er bei einer ganzen Reihe im Umfeld der preußischen Regierung ansässiger Gelehrter, von denen einige durch den Krieg von ihren Wirkungsorten vertrieben worden waren, Memoranden über eine in der preußischen Hauptstadt zu errichtende Universität anforderte17. Es waren Angehörige aller Fakultäten, die in ihren Gutachten ihre Ideen nicht nur zum Thema im engeren Sinne zu Papier brachten, sondern in der Regel zugleich nachhaltig für eine umfassende Reform des Universitätsunterrichts, ja der Institution Universität überhaupt plädierten. Der Mediziner Hufeland, der Philologe Wolf, der Jurist Schmalz und der Philosoph Fichte verfaßten die wohl bedeutendsten dieser Gutachten, und zu ihnen gesellte sich noch ein weiterer: der Theologe Schleiermacher, der zwar als künftiger Berliner Universitätslehrer schon vorgesehen, dennoch von Beyme bewußt nicht herangezogen worden war, nun aber auf eigene Faust ebenfalls eine ausführliche Universitätsdenkschrift verfaßte und 1808, gewissermaßen als Diskussionsbeitrag, auch selbst publizierte18. 17 Vgl. Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. I, Halle a. S. 1910, S. 80 ff.; Rudolf Köpke, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1860, S. 38 ff.; Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 50 ff.; Werner von Beyme, Carl Friedrich von Beyme, Berlin 1987, S. 114 ff.; zum Zusammenhang vgl. auch Ulrich Muhlack, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus: Berlin, in: Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen. Hg. v. der Herzog August Bibliothek, Bd. 4), Nendeln/Liechtenstein 1978, S. 299–340; Hans-Christof Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760–1831) – Jurisprudenz, Universitätspolitik und Publizistik im Spannungsfeld von Revolution und Restauration (Ius Commune; Sonderhefte: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 124), Frankfurt am Main 1999, S. 105 ff. 18 Diese Denkschriften (und auch einige der dazugehörigen Korrespondenzen) sind – teilweise mehrfach – in verschiedenen Sammlungen ediert; siehe u. a. Köpke, Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (wie Anm. 17), S. 145 ff.; Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (wie Anm. 17), Bd. IV; Ernst Anrich (Hg.), Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Darmstadt 1956; Wilhelm Weischedel (Hg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-

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Die Bedeutung dieser Denkschriften – und auch mancher der im Umfeld der Berliner Gründung entstandenen weiteren Abhandlungen zum Thema – ist kaum zu überschätzen, nicht nur, was ihrem gewissermaßen „realen“ Gehalt, d. h. die darin z. T. enthaltenen namentlichen Empfehlungen für die Besetzungen der Lehrstühle und Professuren anbetrifft. Gerade ihr Abstraktionsgrad, die Höhe ihres Reflexionsniveaus und die hier formulierten prinzipiellen Einsichten haben diesen Texten noch eineinhalb Jahrhunderte nach ihrer Entstehung besondere Aufmerksamkeit gesichert19 (und man kann es vielleicht als die besondere Tragik der deutschen Bildungsentwicklung seit den 1960er Jahren ansehen, daß eben diese Gedanken und Ideen – vor allem der Vorrang der Geisteswissenschaften als Orientierungswissenschaften und die Betonung der Qualität vor der Quantität – von den politisch verantwortlichen „Reformern“ nicht mehr wirklich beachtet, sondern in ihrer über das frühe 19. Jahrhundert hinausweisenden Bedeutung fast vollkommen ignoriert worden sind). Die Denkschriften der Zeit vor und um 1810 ragen in der Regel über das, was später als wissenschaftliche „Politikberatung“ im Bereich der Bildungspolitik verstanden worden ist und heute noch verstanden wird, weit heraus. Dennoch aber bleibt für ihr Verständnis entscheidend, daß sie – als Grundsatzäußerungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Studium überhaupt – eben nicht als bloß individuelle Äußerungen und aus freien Stücken entstanden sind, wie etwa Kants „Streit der Fakultäten“, der damit auf die Universitäts- und Bildungskrise am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts reagiert hatte20, oder auch Schellings „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“21, sondern daß sie auf Anforderung eines leitenden preußischen Ministers verfaßt wurden, und zwar von Autoren, die dieser selbst als so bedeutend und kompetent einschätzte, daß er ihnen eben diesen Auftrag erteilte. Am Anfang stand also die Politik und damit der Versuch einer Vermittlung von aktuellen politischen Reformbedürfnissen, die aber auf keinen vollständigen Bruch mit den gegebenen Verhältnissen abzielten, auf der einen Seite – und grundsätzlich formulierten Ideen über das Wesen von Bildung und Wissenschaft sowie über die

Universität zu Berlin, Berlin 1960; E. Müller (Hg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten von J. J. Engel, J. B. Erhard, F. A. Wolf, J. G. Fichte, F. D. E. Schleiermacher, K. F. Savigny, W. v. Humboldt. G. F. W. Hegel, Leipzig 1990; Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (wie Anm. 17), S, 636 ff. 19 Die 1956 veranstaltete Neuausgabe dieser Schriften durch Anrich (Hg.), Die Idee der deutschen Universität (wie Anm. 18), sowie die einschlägige Monographie von Schelsky (wie Anm. 17), beide weit verbreitet, legen von dieser neuen Aktualität nach dem Zweiten Weltkrieg beredtes Zeugnis ab. 20 Siehe oben, Anm. 3. 21 Schelling hat diese Vorlesungen zuerst 1802 gehalten und bereits im folgenden Jahr publiziert. Sie sind außerhalb der Gesamtausgaben leicht zugänglich in: Anrich (Hg.), Die Idee der deutschen Universität (wie Anm. 18), S. 1–123.

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generell zu erneuernde Universität und das damit zu reformierende Studium auf der anderen Seite22. Diesem ersten Beispiel, aus dem ersichtlich wird, daß man bereits früh bestrebt war, in einigen Bereichen gewissermaßen den „geballten Sachverstand“ auch kontroverser Standpunkte durch eine Reihe gleichzeitiger Gutachten zu nur einem einzigen Gegenstand zu nutzen, läßt sich ein sehr ähnlich geartetes aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hinzufügen. Gemeint ist die große österreichische Universitäts- und Schulreform, die der Kultusminister Leo Graf von Thun-Hohenstein in den frühen 1850er Jahren durchführte. Hier haben wir ein ähnliches Bild: Auch in Wien holte man von angesehenen, gleichwohl politisch streng katholisch und konservativ orientierten Gelehrten Gutachten über die Neuordnung von Studiengängen und über die Neu- oder Erstbesetzung wichtiger Lehrstühle ein.23 Eine besonders wichtige Rolle spielten dabei der Jurist George Phillips und der Historiker Constantin von Höfler24. Daß man dabei allerdings nicht politisch und weltanschaulich engstirnig vorging, belegt die erstaunliche Tatsache, daß man eine so wichtige Professur wie diejenige des allgemeinen Staats- und Verwaltungsrechts an der Universität Wien ausgerechnet mit einem alten Achtundvierziger besetzte, der seine Lehrstelle in Kiel wegen seiner revolutionären Aktivitäten verloren hatte: gemeint ist Lorenz von Stein, der seine Berufung einer Empfehlung Höflers und auch der aufgeschlossenen Haltung Graf Thuns zu verdanken hatte25. – Diese Beispiele aus dem Berlin der beginnenden Re22 Diesen Aspekt hat Schelsky sehr genau erfaßt, wenn er, Einsamkeit und Freiheit (wie Anm. 17), S. 57, feststellt: „So wird im Bewußtsein aller Beteiligten 1809 in Berlin eine neue Art von wissenschaftlicher Anstalt gegründet, die zwar wiederum den Namen Universität erhält, von deren damals vorhandener Wirklichkeit aber nur die Züge und Formen übernehmen soll, die sich in die geistige und institutionelle Konzeption ihrer Gründer einfügen lassen; diese aber hatte sich im Prinzip gegen das vorhandene Universitäts- und Hochschulwesen gebildet“. 23 Vgl. hierzu grundlegend Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse; Sitzungsberichte, 239. Bd., 2. Abh.), Wien 1962; aus der älteren Literatur noch wichtig: Salomon Frankfurter: Graf Leo Thun-Hohenstein, Franz Exner und Hermann Bonitz, Wien 1893; zum geistesgeschichtlichen Hintergrund der Reformen unverzichtbar: Christoph von Thienen-Adlerflycht, Graf Leo Thun im Vormärz – Grundlagen des böhmischen Konservativismus im Kaisertum Österreich (Veröffentlichungen des Österreichischen Ost- und Südosteuropainstituts, Bd. 6), Graz/Wien/Köln 1967. 24 Vgl. Götz von Pöllnitz, George P. Phillips. Ein großdeutscher Konservativer in der Paulskirche, in. HZ 155 (1937), S. 51–97; Taras von Borodajkewycz, Deutscher Geist und Katholizismus im 19. Jahrhundert. Dargestellt am Entwicklungsgang Constantins von Höfler, Salzburg/Leipzig 1935; Thomas Brechenmacher, Großdeutsche Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert Die erste Generation (1830–1848) (Berliner Historische Studien, Bd. 22), Berlin 1996, S. 132 ff. u. a. 25 Vgl. Werner Schmidt, Lorenz von Stein. Ein Beitrag zur Biographie, zur Geschichte Schleswig-Holsteins und zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Eckern-

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formzeit und aus dem Wien der nachrevolutionären Epoche zeigen, daß wissenschaftliche Politikberatung – wenigstens in einigen Fällen – auch die Entfaltung wissenschaftlicher Exzellenz zu fördern verstand. IV. Es sollte nicht übersehen werden, daß es im neunzehnten Jahrhundert auch recht aufschlußreiche Fälle verweigerter Politikberatung gegeben hat, deren vielleicht bekanntester kurz beleuchtet werden soll: Heinrich von Treitschke lehrte im Sommer 1866 an der Universität Freiburg i. Br. und war durch seine politische Publizistik, vor allem als führender Mitarbeiter der „Preußischen Jahrbücher“, zu einem der bekanntesten Sympathisanten der preußischen Politik in Süddeutschland geworden. Daher verwundert es nicht, daß man sich für ihn im Vorfeld der Krise von 1866 in Berlin zu interessieren begann und recht bald schon versuchte, ihn in preußische Dienste zu ziehen. Jedenfalls erreichte den Freiburger Historiker im Auftrag Bismarcks Anfang Juni 1866 ein Schreiben des preußischen Gesandten in Karlsruhe, Graf Fleming, in dem das Angebot erhalten war, in preußische Dienste zu treten, um die weiteren deutsche Politik der Berliner Regierung publizistisch zu begleiten und nach außen hin, besonders gegenüber dem deutschen liberalen Bürgertum, zu vertreten – und dies nicht zuletzt mit der sicheren Aussicht auf eine Professur in der preußischen Hauptstadt26. Obwohl sich Treitschke an seiner süddeutschen Wirkungsstätte infolge seines pro-preußischen Engagements einer immer stärker werdenden Kritik ausgesetzt sah, die seine Situation bald fast unhaltbar machen sollte, lehnte er das Anerbieten knapp und bestimmt ab: In einem Brief an den preußischen Ministerpräsidenten vom 7. Juni machte der Historiker und Publizist neben „formellen“ auch „grundsätzliche Bedenken“ gegen einen solchen Schritt geltend: Er habe, so Treitschke, „aus dem Gange, den die k. Regierung bisher genommen hat, nicht die Hoffnung schöpfen können, daß ich ihr meine Dienste widmen dürfe“, und er begründete dies mit dem noch andauernden Verfassungskonflikt: „Mir erscheint die unbedingte Anerkennung des Budgetrechts der Abgeordneten förde 1956, S. 66 ff.; Alexander Novotny, Lorenz von Steins Berufung nach Wien, in: Festschrift zur Feier des zweihundertjährigen Bestehens des Haupt-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. II, Wien 1951, S. 474 ff. 26 Hierzu vgl. nach der älteren Darstellung von Theodor Schiemann, Heinrich von Treitschkes Lehr- und Wanderjahre 1834–1866 (Historische Bibliothek, Bd. 1), München/Leipzig 1896, S. 247 ff. vor allem Walter Bußmann, Treitschke. Sein Welt- und Geschichtsbild (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 3/4), 2. Aufl., Göttingen/Zürich 1981, S. 48 ff.; knapper (und wenig befriedigend) die Bemerkungen bei Andreas Dorpalen, Heinrich von Treitschke, New Haven/London 1957, S. 106 f., und Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998, S. 117 ff.

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überhaupt als eine unabweisliche Nothwendigkeit; keine Kunst der Welt wird je einen preußischen Landtag zu Stande bringen, der auf dieses Recht verzichtet“. Sobald er selbst in engere Beziehung zur preußischen Regierung träte, müsse er auch zu seinem Teil „die Verantwortung für ihre innere Politik übernehmen; und dies ist mir unmöglich, so lange der Rechtsboden der Verfassung nicht hergestellt ist“27. Bismarck wandte sich sofort noch einmal persönlich an Treitschke28, um ihn umzustimmen: Er akzeptierte Treitschkes Bedenken, versuchte jedoch, ihn zu ermuntern, mit der Berliner Regierung auf dem Felde zusammenzuwirken, „auf dem wir es mit gutem Gewissen können: der deutschen Politik Preußens“29. Doch der Historiker lehnte ein zweites Mal – wenn auch ausdrücklich „mit tiefem Schmerze“ – ab: Es sei ihm aus den bereits angeführten Gründen unmöglich, „in die Dienste des k. Cabinets“ zu treten, und als „ein badischer Staatsdiener“ könne er keine offizielle preußische Staatsschrift entwerfen. Ausdrücklich kam er noch einmal auf den innerpreußischen Konflikt zu sprechen: „. . . das Mißtrauen der Nation gegen die k. Regierung ist leider grenzenlos; um es zu mildern giebt es schlechterdings nur ein Mittel – die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Rechte des Landtags“30. Heinrich von Treitschke akzeptierte das verlockende Angebot, das ihn zugleich aus einer eher bedrückenden persönlichen Lage befreit hätte, ausdrücklich nicht. Ausschlaggebend hierfür war wohl vor allem, daß hier der Kern seiner liberalen Überzeugung betroffen war: Bevor die preußische Regierung den von ihr herbeigeführten Verfassungsbruch nicht durch Anerkennung des parlamentarischen Budgetbewilligungsrecht beseitigt hatte, war er selbst nicht bereit, in die Dienste König Wilhelms I. und seines Ministerpräsidenten Bismarck zu treten31. Als gebürtiger Sachse und genauer Kenner der politischen Verhältnisse 27 Alle Zitate nach: Heinrich von Treitschke, Briefe, hg. v. Max Cornicelius, Bd. II, 2. Aufl., Leipzig 1918, S. 476 f. 28 Der Brief Bismarcks an Treitschke vom 11. 6. 1866 ist abgedruckt bei Schiemann, Heinrich von Treitschkes Lehr- und Wanderjahre (wie Anm. 26), S. 247 f. 29 Ebenda, S. 248; Bismarck legte diesem Schreiben sogar einen Entwurf der preußischen Bundesreformpläne mit bei; er fügte hinzu (ebenda): „Wir denken dieselben [die Pläne; H.-C. K.] auch nächstens an die Öffentlichkeit zu bringen, und da dies voraussichtlich mit dem Beginn der kriegerischen Aktion zusammenfallen wird, beabsichtigt Seine Majestät der König, ein Manifest an die deutsche Nation zu erlassen, um sich über die Natur dieses Kampfes und über die Ziele Seiner eigenen nationalen Politik auszusprechen. Möchten Sie, geehrter Herr Professor, einen Entwurf zu einem solchen Manifest ausarbeiten und mir, freilich in wenigen Tagen, zusenden? . . . Nachher würde es dann erwünscht sein, in möglichst rascher Folge in Flugblättern und Zeitungsartikeln dies Manifest zu erläutern und die Nachwirkung zu sichern“. 30 Die Zitate nach: Treitschke, Briefe, Bd. II (wie Anm. 27), S. 480 f. 31 Unzutreffend die Deutung Schiemanns, Heinrich von Treitschkes Lehr- und Wanderjahre (wie Anm. 26), S. 248 f., der behauptet, Treitschkes Ablehnung sei vor allem von der Überlegung bestimmt gewesen, „daß jetzt nicht die Feder, sondern das

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Süddeutschlands, auch als zentrale Figur des gemäßigten deutschen Liberalismus hätte er mit Sicherheit als Berater manchen Einfluß auf die preußische Politik nehmen können, er hätte sich wohl seiner durch ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein bestimmten Natur nach von Bismarck nicht als bloß regierungsamtlicher Zeitungsschreiber gebrauchen lassen. Aber Treitschke verzichtete aus Überzeugung auf die ihm hier gebotene Möglichkeit, und sein Fall bleibt nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil er zu den großen Ausnahmen gehört haben dürfte. Denn der Verlockung, politisch zu wirken, haben – wie man wohl mit Grund annehmen darf – nur sehr wenige Gelehrte aus den Bereichen der Geschichts-, Rechts- und Staatswissenschaften widerstehen können. Einer, der nicht nur nicht widerstand, sondern den Kontakt zu Politik und Verwaltung zeitlebens mit besonderer Energie zu suchen und zu erhalten wußte, war Gustav Schmoller. Als wohl prominentester deutscher Nationalökonom und Staatswissenschaftler seiner Zeit suchte und nahm er, seit 1882 an der Universität Berlin lehrend, soweit es ihm möglich war, Einfluß auf die politischen Entscheidungsträger seiner Zeit, ohne indes sein (außerordentlich umfangreiches und bedeutendes) wissenschaftliches Werk zu vernachlässigen32. Schmoller absolvierte, wie ein Kenner im Rückblick feststellte, „eine Laufbahn mit Möglichkeiten nicht nur der Wirksamkeit, sondern vor allem der Beobachtung und Erfahrung an staatlicher Wirtschaftspolitik, wie sie wohl kaum einem deutschen Nationalökonomen vor- oder nachher wieder gegönnt worden sind“33.

Schwert beweisen müsse, wie Deutschlands Zukunft an Preußens Erfolgen hänge“ (ebenda, S. 249). Zutreffend dagegen die Analysen bei Bußmann, Treitschke (wie Anm. 26), S. 49 ff., und Langer, Heinrich von Treitschke (wie Anm. 26), S. 119. 32 Eine biographisch-monographische Studie dieser wichtigen Persönlichkeit fehlt leider nach wie vor, daher immer noch wichtig: Carl Brinkmann, Gustav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1937; den neueren Forschungsstand reflektieren zwei Sammelbände: Pierangelo Schiera/Friedrich Tenbruck (Hg.), Gustav Schmoller in seiner Zeit. Die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien (Jahrbuch des italienisch-deutschen Instituts in Trient, Beiträge 5), Bologna/Berlin 1989; Jürgen G. Backhaus (Hg.), Gustav von Schmoller und die Probleme von heute (Volkswirtschaftliche Schriften, Bd. 430), Berlin 1993. Guter Überblick zu Leben und Werk: Rüdiger vom Bruch, Gustav Schmoller, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hg.), Berlinische Lebensbilder, Bd. 3: Wissenschaftspolitik in Berlin, Berlin 1987, S. 175–193. Zu Schmollers wissenschaftspolitischen Aktivitäten im Rahmen seines großen Acta Borussica-Projekts siehe jetzt die grundlegende Studie von Wolfgang Neugebauer, Die „Schmoller-Connection“. Acta Borussica, wissenschaftlicher Großbetrieb im Kaiserreich und das Beziehungsgeflecht Gustav Schmollers, in: Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Anlaß der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivalischen Tradition (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz; Arbeitsberichte, Bd. 2), Berlin 2000, S. 261–301. 33 So Brinkmann, Gustav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre (wie Anm. 32), S. 116.

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Es versteht sich, daß auch er als Politikberater tätig war, doch sein Einfluß auf die politische Entscheidungsfindung seiner Zeit ist in concreto nur schwer zu rekonstruieren – nicht zuletzt da entsprechende Spezialuntersuchungen bis heute fehlen. Schmoller selbst hat sich zu diesem Thema kurz vor seinem Tode (1917) im Rückblick nur knapp und in der Sache eher zurückhaltend (dazu noch an eher entlegener Stelle) geäußert: Als er 1882 nach Berlin gekommen sei, habe er sich nicht, wie vom damaligen Kultusminister Gustav von Goßler gewünscht, zum Abgeordneten wählen lassen, „aber ich verfolgte doch aus nächster Nähe den Gang der öffentlichen Angelegenheiten, nahm 1884–90 an den damals wichtigen Staatsratssitzungen und dann an einer Reihe vorbereitender Verwaltungs- und Gesetzgebungskommissionen teil; so zum Beispiel an den Beratungen über die Börsenreform, an denen über die Reform der inneren Verwaltung“34. Entgegen mancher früherer Vermutung hat Schmoller dagegen auf Teilbereiche der Bismarckschen Sozialgesetzgebung – gemeint ist in diesem Fall die Entstehung der Rentenversicherung – keinen wirklichen Einfluß als Politikberater ausgeübt35, denn nicht der unmittelbare Kontakt zu Politik und Verwaltung, sondern „die öffentliche Debatte entpuppte sich als das maßgeb34 Gustav Schmoller, Walter Rathenau und Hugo Preuß. Die Staatsmänner des Neuen Deutschland, München/Leipzig 1922, S. 40 (es handelt sich um einen Wiederabdruck zweier Rezensionsabhandlungen aus Schmollers Jahrbuch, die in seinem Todesjahr 1917 erschienen waren); es heißt weiter, ebenda, S. 40 f.: „In der Börsenreform- und Kartell-Enquete gingen auch alle deutschen führenden Männer der Volkswirtschaft an meinen Blicken vorüber. Dabei lernte ich das gesamte hohe Beamtentum und viele der entscheidenden politischen Parteiführer, die in den betreffenden Kommissionen mit saßen, genauer kennen als im Parlament. Im Jahre 1887 wurde ich Vertreter der Berliner Universität im Herrenhaus und lernte da die Führer unserer agrarischen Aristokratie wie unserer haute finance, zahlreiche hohe Staats- und Provinzialbeamte und unsere sämtlichen preußischen Oberbürgermeister der großen Städte kennen. – So hatte ich seit über 50 Jahren Gelegenheit, unser hohes Beamtentum und die meisten unserer Parteiführer zu sehen, zu beobachten, zu beurteilen. Mit den hervorragendsten . . . kam ich in ein nahes persönliches Verhältnis, das mir erlaubte, oft auch hinter die Kulissen zu schauen. Mit Bismarck habe ich nicht sehr oft, aber doch einigemal persönlich eingehend gesprochen, aber ich stand seiner Schwester, Frau von Arnim, seinem journalistischen Ratgeber Constantin Rößler und anderen Persönlichkeiten, die ihn sehr genau kannten, sehr nahe. Mit den wichtigsten Ministerialdirektoren aus den verschiedensten Ressorts, mit Althoff, mit Thiel, mit Lohmann verband mich eine jahrelange Freundschaft“. 35 Vgl. hierzu grundlegend Wilfried Rudloff, Politikberater und opinion-leader? Der Einfluß von Staatswissenschaftlern und Versicherungsexperten auf die Entstehung der Invaliditäts- und Altersversicherung, in: Stefan Fisch/Ulrike Haerendel (Hg.), Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Einordnung der Alterssicherheit im Sozialstaat (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 141), Berlin 2000, 93–119, bes. S. 102, 112, 118 u. a.; zum Zusammenhang siehe auch Pierangelo Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 174 ff., 196 ff., und David F. Lindenfeld, The Practical Imagination. The German Sciences of State in the Nineteenth Century, Chicago/London 1997, S. 217 ff., bes. S. 229 ff.

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liche Medium sachverständigen Einwirkens“36 in diesem Bereich der Sozialreform. Vielleicht kann man bei Schmoller von unterschiedlichen Formen der Politikberatung sprechen: von einer direkten ebenso wie von einer indirekten. Denn seine spezifische Art von Gelehrtenpolitik37 beschränkte sich nicht nur auf unmittelbare, beratende Einflußnahme auf bestimmte Reform- oder Gesetzgebungsvorhaben in den Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung, sondern äußerte sich ebenfalls in dem Versuch, durch öffentliche Meinungsbildung oder auch durch Fortbildungsmaßnahmen für höhere Beamte indirekten Einfluß zu nehmen; der berühmte „Verein für Socialpolitik“ und die weniger bekannte „Vereinigung für staatswissenschaftliche Fortbildung“ sind in diesem Zusammenhang ausdrücklich zu erwähnen38. Eine besonders wichtige Scharnierfunktion zwischen Wissenschaft und Politik nahm schließlich die von Schmoller 1883 begründete „Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin“ ein, in der bedeutende Gelehrte mit hohen Beamten zu regelmäßigen Vorträgen mit anschließender Diskussion zusammentrafen39. Nicht zuletzt diese Institution – zweifelsfrei ein (vom Initiator als solches auch beabsichtigtes) Medium indirekter Politikberatung – entsprach Schmollers Überzeugung, „daß der Wissenschaft als moralisch-politische Leitinstanz in engster Verbindung mit der ebenso eingeschätzten wissenschaftlich gebildeten Bürokratie eine überparteiliche Ausgleichsfunktion zukomme“40. Eine direkte Einmischung in die aktuellen parteipolitischen Gegensätze und Konfliktlagen des Rei36 So Rudloff, Politikberater und opinion-leader? (wie Anm. 35), S. 118, der weiter feststellt (ebenda): „Noch kaum Politikberater, waren die Staatswissenschaftler immerhin Faktor der öffentlichen ,Meinungsbildung‘ – und mitunter auch schon ,opinion leader‘.“ 37 Dazu jetzt auch die knappe Skizze von Frank Reiniger, Gustav Schmoller – Grundzüge gouvernementaler Gelehrtenpolitik im wilhelminischen Deutschland (Edition Geschichte, Bd. 2), Frankfurt/Oder 1999; nach wie vor grundlegend zur Gesamtthematik: Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914) (Historische Studien, Bd. 435), Husum 1980. 38 Vgl. u. a. Franz Boese, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik, Berlin 1939; Dieter Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik, Bde. I–II, Wiesbaden 1967; Marie-Louise Plessen, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 1872– 1890. Studien zum Katheder- und Staatssozialismus (Beiträge zur Geschichte der Sozialwissenschaften, Bd. 3), Berlin 1975; zur „Vereinigung für staatswissenschaftliche Fortbildung“ die knappen Hinweise bei Reiniger, Gustav Schmoller (wie Anm. 37), S. 17 f. 39 Grundlegend hierzu: Rüdiger vom Bruch, Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft. Bestimmungsfaktoren, Voraussetzungen und Grundzüge ihrer Entwicklung 1883–1919, in: Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin 1883– 1983, hg. v. Vorstand der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft, Berlin 1983, S. 9–69; knapp hierzu auch Reiniger, Gustav Schmoller (wie Anm. 37), S. 15 f. 40 vom Bruch, Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft (wie Anm. 39), S. 25.

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ches lehnte er – nicht nur für sich selbst – ausdrücklich ab, obwohl er in seinen Schriften aus seinen gemäßigt liberalen politischen Überzeugungen keinerlei Hehl machte. V. Abschließend sei noch ein Blick auf die Bildungs- und Wissenschaftspolitik des Kaiserreichs am Ende des neunzehnten Jahrhunderts geworfen41, auf das berühmte „System Althoff“ ebenso wie auf die Schulreformpolitik im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts. Friedrich Althoff, jahrzehntelang im Preußischen Kultusministerium als Vortragender Rat, später als Ministerialdirektor tätig, galt um 1900 in Berlin als „heimlicher Kultusminister“, als wichtigste und einflußreichste Gestalt nicht nur der preußischen, sondern weitgehend auch der deutschen Bildungs- und Wissenschaftspolitik überhaupt42. Seinem Wagemut, seinem Sinn für Qualität, seiner souveränen Mißachtung akademischer Cliquenbildung und Netzwerkbindung, schließlich seinem unerschrockenen Einsatz für befähigte akademische Außenseiter ist sehr wesentlich der außerordentlich hohe Wissenschaftsstandard in Deutschland um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert zu verdanken. Dieser Mann hatte im Laufe der Jahre eine ungemein spezifische Art von individueller und direkter Politikberatung entwickelt, die das Hauptcharakteristikum des später so genannten „Systems Althoff“ darstellt. Neben den offiziellen Kontakten zu den Universitäten, also zu Rektoren, Kuratoren, Senaten und Dekanen, war Althoff darüber hinaus mit einer Fülle weiterer Gelehrter auch persönlich eng verbunden, die er als wissenschaftliche Ratgeber ansah (und die seine Gegner nicht selten als Spitzel und Agenten bezeichneten)43. Es handelte sich dabei in der Regel um die bedeutendsten Gelehrten ihres Faches; zu ihnen gehörten solche wissenschaftlichen Koryphäen wie Theodor Mommsen, Adolf Harnack, Gustav Schmoller, Rudolf Virchow und Ulrich von WilamowitzMoellendorff. 41 Den besten Überblick hierzu bietet noch immer: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 531– 601. 42 Vgl. neben der älteren einschlägigen Studie von Arnold Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928, vor allem die grundlegenden Arbeiten von Bernhard vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im deutschen Kaiserreich 1882–1907: das „System Althoff“, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs (Preußen in der Geschichte, Bd. 1), Stuttgart 1980, S. 9–118; Bernhard vom Brocke (Hg.) Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive, Hildesheim 1991; gute, kenntnisreiche Überblicksskizze: derselbe, Friedrich Althoff, in: Treue/ Gründer (Hg.), Wissenschaftspolitik in Berlin (wie Anm. 32), S. 195–214. 43 So vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik (wie Anm. 42), S. 70.

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Besonders am Beispiel des Letztgenannten44 lassen sich Form und Funktionsweise des „Systems Althoff“ genau rekonstruieren, da der Briefwechsel zwischen Althoff und Wilamowitz-Moellendorff aus den Jahren 1883–1908 mittlerweile vollständig publiziert worden ist45. Diese hochinteressante Quelle zeigt, daß der an den Universitäten Greifswald, Göttingen und Berlin tätige klassische Philologe seinem Mentor Althoff nicht nur genaue Informationen über die Vorgänge innerhalb der Universität und ihrer Leitungsorgane geliefert, sondern vor allem auch Empfehlungen und Hinweise zur Besetzung von Lehrstühlen und Forschungsstellen mit fähigen jüngeren Kräften gegeben hat. Akademische Karrieren konnten auf diese Weise auf den Weg gebracht, gefördert, oder auch – bei einem negativen Votum des informellen Beraters – verhindert, gestoppt oder wenigstens verzögert werden. Freilich funktionierte diese Art von Politikberatung nur dann, wenn sie auf strikt vertraulichem Wege vonstatten ging. Und im weiteren war sie nur im Rahmen eines politischen Systems möglich, in dem Bildungs- und Wissenschaftspolitik noch in starkem Maße autoritär bestimmt und von oben dekretiert werden konnte. Ein demokratisch gewählter Kultusminister hätte die seitens der Universitäten und Fakultäten vorgebrachten Berufungswünsche vermutlich nicht in dem Maße ignorieren können, in dem Althoff dies tat46. Daß diejenigen, die zum engsten und einflußreichsten Kreis der „Berater“ des allmächtigen Ministerialdirektors gehörten, bei den Kollegen nicht immer besonders beliebt waren und dementsprechend angefeindet wurden, zählt freilich zur Kehrseite des „Systems Althoff“. Alfred Dove etwa äußerte, wenn auch nur in einem Privatbrief, seine intensive Abneigung gegen Schmoller „wegen seiner einmischungssüchtigen Mache in Universitätssachen, Berufungen u. dgl.“47. 44 Eine umfassende Biographie fehlt leider ebenfalls; siehe statt dessen den (viele wichtige Detailinformationen enthaltenden) Sammelband: William M. Calder III/Hellmut Flashar/Theodor Lindken (Hg.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985; eine wichtige Quelle, gerade auch zur Gelehrtenpolitik seiner Zeit, bleibt seine Autobiographie: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848–1914, 2. Aufl., Leipzig 1929. 45 William M. Calder III/Alexander Kosenina (Hg.), Berufungspolitik innerhalb der Altertumswissenschaft im wilhelminischen Preußen. Die Briefe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs an Friedrich Althoff (1883–1908), Frankfurt a. M. 1989. 46 Die Herausgeber des Briefwechsels Wilamowitz-Althoff bemerken in ihrem Nachwort, ebenda, S. 175, die edierten sechsundachtzig Briefe seien „die erste Sammlung von Geheimdokumenten aus Althoffs Nachlaß, der auch für andere Fachdisziplinen entsprechende Korrespondenzen birgt. . . . Es ist zu hoffen, daß auch die Gutachterbriefwechsel aus anderen Fächern in Zukunft der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden“. Hier ist allerdings anzufügen, daß viele wichtige Berater in Berlin tätig waren (Wilamowitz seit 1897, Eduard Zeller, Theodor Mommsen, Adolf Harnack, Gustav Schmoller u. v. a.), daher dürfte sich manches nicht mehr schriftlich niedergeschlagen haben und deshalb heute kaum noch zu eruieren sein. 47 Alfred Dove, Ausgewählte Schriften und Briefe, hg. v. Friedrich Meinecke/Oswald Dammann, Bd. II, München 1925, S. 153 (Dove an Otto Gierke, 8. 12. 1890).

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Und Wilamowitz-Moellendorff hat im Rückblick festgestellt: „So wie er [Althoff; H.-C. K.] war, mußte er sich Feinde machen und mußte ihm das ganz gleichgültig sein. So gleich in der Bureaukratie, denn er war wie Bismarck kein bequemer Vorgesetzter, ein gefügiger Untergebener auch nicht. . . . Auch vielen Professoren hat er Veranlassung zu persönlichen Klagen gegeben, berechtigten und noch mehr unberechtigten . . . Er war eine Herrschernatur und dabei frei von jedem persönlichen Ehrgeiz. Er warf seine ganze Person in den Kampf für die Sache, welche er vertrat, aber für seine Person verlangte er nichts als die Freiheit für seine Sache zu wirken“48. Diese (durch ähnliche Überlieferungen bestätigte) scharfe Charakterzeichnung des bedeutenden Bildungs- und Wissenschaftspolitikers scheint die Schlußfolgerung wenigstens nahezulegen, daß der persönlich-biographische Faktor bei der Erörterung und Erforschung des Problems Politikberatung keineswegs unterschätzt werden darf. Als abschließendes Beispiel seien endlich die Schulreformbemühungen im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts genannt. Es ging, knapp zusammenfassend bemerkt, um eine Reform der Oberschulen und damit um die Zugangsberechtigung zum akademischen Studium – konkret um die Frage, ob die traditionell altsprachlich ausgerichteten Gymnasien ihre Vorrangstellung behalten, oder ob die stärker neusprachlich und mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Realgymnasien und Oberrealschulen mehr oder weniger gleichberechtigt an die Seite der Gymnasien gestellt werden sollten. Die zuerst dominierenden Anhänger der klassischen Bildung verloren nach und nach an Einfluß, während die reformorientierten Pädagogen und Bildungspolitiker, vom Kaiser höchstpersönlich unterstützt, sich schließlich durchsetzen konnten49. Zu diesem Zweck wurden zwei große Schulkonferenzen abgehalten, die erste im Dezember 1890, die zweite im Juni 1900. An beiden Tagungen nahmen neben hohen Ministerialbeamten und Schulpraktikern eine Reihe der renommierte48 Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen (wie Anm. 44), S. 249. – Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ebenfalls Schmollers Gedenkrede auf Althoff (1909): Gustav Schmoller, Charakterbilder, München/Leipzig 1913, S. 115–120. 49 Vgl. dazu aus der Fülle der Literatur u. a. Rudolf Lehmann, Der gelehrte Unterricht bis zum Weltkrieg 1892–1914, in: Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, 3. erw. Aufl., hg. u. fortgesetzt v. Rudolf Lehmann, Bd. II, Berlin/Leipzig 1921, S. 693– 797, hier S. 715 ff.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982, S. 915 ff., aus der neueren Literatur: James C. Albisetti, Secondary School Reform in Imperial Germany, Princeton 1983; besonders ertragreich: Christoph Führ, Die preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900. Ihre bildungspolitische Rolle und bildungsgeschichtliche Bewertung, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs (Preußen in der Geschichte, Bd. 1), Stuttgart 1980, S. 189–223; knapp und enttäuschend dagegen James C. Albisetti/Peter Lundgreen, Höhere Knabenschulen, in: Christa Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918, München 1991, S. 228–278, hier S. 236 ff.

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sten Gelehrten Deutschlands teil, und man wird sagen können, daß diese beiden Konferenzen (auf deren Details an dieser Stelle leider nicht weiter eingegangen werden kann) zu den wichtigsten Ausprägungen einer frühen institutionalisierten Politikberatung in Deutschland gezählt werden können50. Ein weiterer Aspekt ist hier ebenfalls aufschlußreich. Sieht man die Liste der Teilnehmer an der Konferenz von 1900 genau durch, dann wird man den Namen eines Mannes vermissen, der vielleicht als erster hätte genannt werden müssen: Es fehlte tatsächlich der an der Universität Berlin lehrende Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen, der mit seiner großen „Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten . . .“51 nicht nur zu den besten Kennern der Entstehung und der neueren Entwicklung des deutschen Bildungswesens zählte, sondern auch mit einer Fülle kompetent-kritischer Aufsätze, Artikel und Vorträge den Gang der Oberschulreformen seit 1890 begleitet hatte52. Des Rätsels Lösung besteht darin, daß Althoff ihn ausgeschlossen hatte, weil Paulsen in der Debatte um die Lehrbefugnis politisch mißliebig orientierter Privatdozenten – es handelte sich um den Fall Leo Arons53 – öffentlich und an prominenter Stelle, nämlich in den „Preußischen Jahrbüchern“, gegen die Regierungspolitik Stellung bezogen hatte54. Und das, obwohl Paulsen sonst zu den 50 Vgl. dazu u. a. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV (wie Anm. 49), S. 917 ff.; Führ, Die preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900 (wie Anm. 49), S. 199 f., 209 f. 51 Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, 1. Aufl. Leipzig 1885, 2. stark erw. Aufl., Bde I–II, Leipzig 1896. Auch über Paulsen gibt es bis heute keine Biographie; die besten Informationen liefern zwei biographische Aufsätze: Theodor Lorenz, „Paulsen, Friedrich“, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, hg. v. Anton Bettelheim, Bd. XIII, Berlin 1910, S. 244–265, und Peter Drewek, Friedrich Paulsen, in: Benno Schmoldt (Hg.), Pädagogen in Berlin – Auswahl von Biographien zwischen Aufklärung und Gegenwart (Materialien und Studien zur Geschichte der Berliner Schule, Bd. 9), Hohengehren 1991, S. 171–193. 52 Seine einschlägigen Beiträge sind zumeist enthalten in: Friedrich Paulsen, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen, hg. v. Eduard Spranger, Stuttgart/Berlin 1912; wichtig auch die Einleitung des Herausgebers Spranger, ebenda, S. IX–XXXV, sowie die angehängte Bibliographie der Veröffentlichungen Paulsens, ebenda, S. 683–711. 53 Dazu vgl. statt vieler nur Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk (wie Anm. 42), S. 214 ff., und Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. I (wie Anm. 41), S. 575. 54 Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und die Privatdozenten, in: Preußische Jahrbücher 83 (1896), S. 121–144: Paulsen begründete – weit entfernt von allen Sympathien für die Sozialdemokratie, der Leo Arons angehörte – sein Plädoyer für die unbedingte Freiheit des Privatdozenten vor allem mit der alten Tradition der deutschen Universität, die dem „magister legens“ jene Freiheiten unbesehen zugestanden hätte. Im übrigen wirke eine kleinliche Verfolgung politisch Andersdenkender stets kontraproduktiv: „Verfolgung und Protektion von Ansichten haben immer eine Tendenz, gegen ihre Absicht zu wirken; es ist eine der sichersten Lehren, die man aus der Geschichte ziehen kann: Verfolgung geistiger Strömungen stärkt in der Regel die

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von Althoff durchaus bevorzugt behandelten Berliner Wissenschaftlern gezählt hatte55. Paulsen hat Althoff übrigens ebenfalls einen noblen Nachruf gewidmet56 – aber auch er hat dabei, neben dessen überragenden Verdiensten um die neuere Entwicklung der Wissenschaften und der Universitäten in Deutschland, die unleugbaren Schattenseiten jener Persönlichkeit und jenes „Systems“ namhaft gemacht, und auch er wählte, wie Wilamowitz, den für die Zeitgenossen wohl naheliegenden Vergleich mit dem Reichsgründer: Auf die „Anklage“, daß Althoff „in der Wahl der Mittel und Wege zum Zweck skrupellos gewesen sei, daß er seine Kenntnis der Vorgänge und Personen nicht nur auf geradem Wege gesucht, daß er zur Erreichung des Ziels auch Begünstigung und Einschüchterung nicht verschmäht habe“, bemerkte Paulsen: „Ich glaube, daß Althoff in diesen Dingen nicht allzu bedenklich war. Bismarck war es auch nicht. Vielleicht kann es der Politiker nicht sein, er kann nicht so wählerisch in den Personen und Mitteln sein wie der Privatmann oder der Professor“57. Es scheint dem Autor dieser Feststellungen indes entgangen zu sein, daß er hier, ohne es zu wollen, ein Grundproblem jeder Politikberatung wenigstens im Ansatz sichtbar gemacht hat: das notwendigerweise bestehende Machtgefälle zwischen Berater und Beratenem. Der letztere kann sich, wenn er will und wenn es ihm richtig erscheint, allen Ratschlägen entziehen, es ist an ihm, frei zu entscheiden, ob er sich den Empfehlungen und Hinweisen seines Ratgebers anschließen soll oder auch nicht. Der akademisch tätige Berater wiederum kann sich umgekehrt dem Ansinnen, das an ihn gestellt wird, kaum entziehen – wenigstens dann nicht, wenn er selbst noch einige Sprossen auf der Karriereleiter emporzusteigen beabsichtigt, etwa eine Professur in der Hauptstadt anstrebt. Und natürlich auch, weil es den meisten dieser „Berater“ – nicht erst seit den Zeiten Friedrich Althoffs – darum geht, neben inhaltlichem auch institutionellen Einfluß auf die Entwicklung ihrer Wissenschaft zu nehmen, eigene Schüler oder Vertreter der „eigenen Richtung“ zu protegieren und innerwissenschaftliche Gegner zu marginalisieren oder kaltzustellen. Hier freilich wird die entschiedene Kehrseite dieses Systems wissenschaftlicher Politikberatung deutlich sichtbar.

Propagationskraft, Protektion schwächt immer die Widerstandskraft der geschützten Anschauungen“ (ebenda, S. 142 f.). Vgl. zu Paulsens Haltung in dieser Frage auch seine (nur in englischer Sprache erschienenen) Memoiren: Friedrich Paulsen, An Autobiography, translated and edited by Theodor Lorenz, New York 1938, S. 363 f. 55 Vgl. dazu u. a. Drewek, Friedrich Paulsen (wie Anm. 51), S. 187. 56 Friedrich Paulsen, Friedrich Althoff (1907), in: derselbe, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen (wie Anm. 52), S. 526–536. 57 Ebenda, S. 531.

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VI. Zusammenfassend seien einige Merkmale der wissenschaftlichen Politikberatung im 19. Jahrhundert, bezogen auf die im Vorangehenden behandelten Bereiche der Verfassungs- und der Internationalen Politik, der Regierungspublizistik, der Sozialreform und der Bildungs- und Schulreform, knapp skizziert. Erstens kann man von einer starken Personalisierung der Politikberatung sprechen, genauer: von einer Tendenz zur Fokussierung auf besonders bekannte und in aller Regel wissenschaftlich herausragende Gelehrte. Zweitens kann die Bedeutung bereits vorher bestehender persönlicher Kontakte (nicht zuletzt diejenigen der regierenden Monarchen und führender Politiker) nicht hoch genug angesetzt werden. Drittens kann die Abfassung von Denkschriften (ob nun zur Veröffentlichung gedacht oder nicht) als die lange Zeit – wenn auch nicht allein – vorherrschende Form der Beratung angesehen werden, bevor sie zunehmend durch Mitarbeit in politischen Beratungsgremien oder -institutionen ergänzt wurde. Und viertens schließlich wird man deren Institutionalisierung erst gegen Ende des Jahrhunderts feststellen können. Einige Fragen, die sich bei der Beobachtung der Vorformen und Anfänge wissenschaftlicher Politikberatung im neunzehnten Jahrhundert stellen, könnten sich durchaus auch mit Blick auf die Entwicklungen im zwanzigsten Jahrhundert als heuristisch fruchtbar erweisen. Erstens die Frage nach der Bedeutung von Öffentlichkeit, Halböffentlichkeit oder Nichtöffentlichkeit als konstitutiven Bedingungen für die Effektivität und Wirkungsweise der Beratung, zweitens das Problem des Umgangs politischer Funktionsträger mit dem geistigen Eigentum der Berater (oben am Beispiel der Kontroverse Wagener-Dühring thematisiert), drittens die Frage nach den Kriterien für die Auswahl der Berater und daran anschließend ebenfalls die Frage, warum bestimmte zur Verfügung stehende ausgewiesene Experten nicht herangezogen wurden – erinnert sei an den Fall Paulsen, der kein Einzelfall gewesen und geblieben sein dürfte. Viertens das (quellenmäßig vermutlich nur schwer erschließbare) Problem verweigerter Politikberatung: Wer wurde gefragt, und wer entzog sich der Aufforderung – und aus welchen Motiven? Und fünftens schließlich die bereits weiter ausholende Frage nach den Formen und rechtlichen Regelungen der Institutionalisierung von Politikberatung58. Alle diese Fragen lassen sich aus der Vergegenwärtigung und der Analyse einiger weniger ausgewählter Beispiele vom frühen bis zum ausgehenden neun58 Einzelne Hinweise auf den noch weitgehend unaufgearbeiteten Komplex der Frühformen institutionalisierter Beratung staatlicher Institutionen durch (vermutlich nicht in allen Fällen mit Wissenschaftlern besetzte) „Beiräte“, etwa in den Bereichen Medizin, Landwirtschaft, Verkehrs- und Postwesen, Zoll- und Handelsfragen, finden sich u. a. bei Peter Lundgreen/Bernd Horn/Wolfgang Krohn/Günter Küppers/Rainer Paslack, Staatliche Forschung in Deutschland 1870–1980, Frankfurt a. M./New York 1986, S. 181 ff.

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zehnten Jahrhundert gewinnen. Das könnte vielleicht die abschließende Bemerkung gestatten, daß die Probleme der Frühformen von Politikberatung in jener Zeit sich von denjenigen des folgenden Jahrhunderts doch nicht so grundlegend unterschieden haben, wie ein Blick auf das uns Heutigen inzwischen sehr fremd gewordene vorletzte Jahrhundert vermuten lassen könnte.

Politisierung der Wissenschaften – Verwissenschaftlichung der Politik Wissenschaftliche Politikberatung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus Von Margit Szöllösi-Janze Nur gut drei Jahrzehnte umfasst der Zeitraum, den es hier mit Hinblick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik näher zu bestimmen gilt, doch scheint die Aufgabe kaum lösbar. Am Beginn und am Ende der Epoche stehen zwei monströse Weltkriege, die jeweils die zu ihrer Zeit bekannten Dimensionen der Kriegführung und der Vernichtung sprengten. Das Deutsche Reich erlebte in rascher Abfolge drei bzw. eigentlich vier unterschiedliche politische Systeme, bevor es durch die militärische Intervention der Alliierten 1944/45 als Staat zu existieren aufhörte: das wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Demokratie, das autoritäre Präsidialregime und die nationalsozialistische Diktatur. Um auf Kontinuitäten aufmerksam zu machen, ist immer wieder auf die – zumindest partielle – Fortexistenz der politischen und sozialen Eliten oder die Fortdauer auffälliger Charakteristika der politischen Kultur oder des politischen Denkens verwiesen worden. Im Folgenden soll es um Wissenschaft und Politik als „Ressourcen für einander“1 gehen, eine Perspektive, unter der sich die drei Dekaden ebenfalls als eine gewisse Einheit auffassen und analysieren lassen. Was ist gemeint? Einen ersten, eher illustrierenden Einstieg mag die quantitative Seite der Wissenschaftsentwicklung liefern. Der amerikanische Wissenschaftssoziologe Derek de Solla Price stellte bereits vor vierzig Jahren fest, dass 80 bis 90 Prozent aller Wissenschaftler, die je gelebt hatten, in seiner Gegenwart lebten2. Die Wachstumsrate der Energie von Teilchenbeschleunigern verlief seit deren Anfängen in den 1930er Jahren exponentiell: Alle 7–8 Jahre wuchs die erforderliche Energie um den Faktor 10, während parallel dazu die 1 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51. 2 Derek J. de Solla Price, Prolog zu einer Wissenschaftswissenschaft, in: ders., Little Science, Big Science. Von der Studierstube zur Großforschung, Frankfurt 1974 (am. 1963), S. 13–42, hier S. 13; ausführlich ders., Science Since Babylon, New Haven 1961.

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bauliche Größe der Beschleunigeranlagen ebenfalls neue Dimensionen annahm3. Ganz ähnlich entwickelte sich seit der Jahrhundertwende die Antriebsleistung der in der Luftfahrtforschung eingesetzten Windkanäle, die sich ungefähr alle 12 Jahre um den Faktor 10 steigerte4. Parallel dazu nahm auch die Zahl (natur)wissenschaftlicher Publikationen exponentiell zu. So wies eine Erhebung von de Solla Price nach, dass die Gesamtzahl der seit dem 1. Januar 1900 veröffentlichten Physic Abstracts (Physik und Elektrotechnik) von praktisch Null auf über 200.000 im Jahr 1952 angestiegen war. Ihre ebenfalls exponentielle Zunahme war nur durch die im Krieg geltenden Geheimhaltungsvorschriften leicht gebremst, nicht aber grundsätzlich abgeblockt worden5. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik mag die Entwicklung der Buchund Zeitschriftenbestände der neu gegründeten Freien Universität Berlin illustrieren. Die 1955 gezählten 560.000 Bücher und 1.663 Zeitschriften der Universitätsbibliothek (einschließlich der Seminar- und Institutsbibliotheken) beliefen sich 1974 bereits auf 3.854.510 Bücher und 28.921 Zeitschriften; zehn Jahre später, 1984, war die Zahl für Bücher schon auf 6.095.454 angestiegen6. Es geht hier nicht darum, de Solla Price’s These einer mit Sicherheit eintretenden Sättigung des exponentiellen Wachstums von Wissenschaft und ihre Folgen zu diskutieren7 oder darauf zu verweisen, dass in Zeiten leerer Landeskassen die Anschaffungen der großen Bibliotheken stark zurückgegangen sind. Die angeführten quantitativen Belege sollen vielmehr für die qualitative Seite der Entwicklung sensibilisieren, die ich mit Hilfe einer versuchten Historisierung des soziologischen Konzepts der Wissensgesellschaft/knowledge society8 theo3 M. Stanley Livingston/J. P. Blewett, Particle Accelerators, New York 1962, S. 6; Susanne Klee, Neue Wege der Teilchenbeschleunigung, in: Physik in unserer Zeit 21/3 (1990), S. 117. Vgl. hierzu auch Gerhard A. Ritter, Großforschung und Staat in Deutschland. Ein historischer Überblick, München 1992, S. 48–53. 4 Werner Heinzerling, Windkanäle, in: Ludwig Bölkow (Hg.), Ein Jahrhundert Flugzeuge. Geschichte und Technik des Fliegens, Düsseldorf 1990, S. 320. 5 de Solla Price, Prolog, S. 28 f. 6 Rolf Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-Tech-Revolution, Frankfurt 1986, S. 30. 7 de Solla Price, Prolog, S. 30–42. 8 Vgl. dazu mit teilweise erheblichen theoretischen Unterschieden Gernot Böhme/ Nico Stehr (Hg.), The Knowledge Society. The Growing Impact of Scientific Knowledge on Social Relations, Dordrecht 1986; Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt 1994; ders., Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften. Die Stagnation der Macht und die Chancen des Individuums, Weilerswist 2000; ders., Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt 2001; ders., Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt 2003; Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001; Helmut Willke, Supervision des Staates, Frankfurt 1997; Michael Gibbons u. a., The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 1994; Helga Nowotny u. a., Re-

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retisch strukturiere. Ohne dies hier ausführen zu wollen9, stelle ich einige, für die weitere Argumentation zentrale Kernaussagen des Konzepts heraus. Der theoretische Entwurf der Wissensgesellschaft zielt darauf ab, eine fortgeschrittene Gesellschaftsformation terminologisch und konzeptionell zu erfassen, in der wissenschaftliches und technisches Wissen seine soziale Funktion kontinuierlich erweitert hat, bis es alle öffentlichen wie privaten bis intimen Lebensbereiche durchdringt. Wissenschaft wird zur treibenden Kraft gesellschaftlichen Wandels und steht nun in strukturell neuartigen Leistungsbeziehungen zu den anderen Systemen wie Politik, Wirtschaft oder Kultur. Die Systemgrenzen werden durchlässig, wissenschaftliches Wissen diffundiert in vordem wissenschaftsfreie oder -ferne Bereiche, die nun von tiefgreifenden Verwissenschaftlichungsprozessen erfasst und geprägt werden. Neue Akteure, deren Funktion und sozialer Einfluss auf Wissen beruht, treten hervor, sie erschließen neue Handlungsfelder, deren Rationalität sich an der des Wissenschaftssystems ausrichtet. Wissenschaftler, die neues Wissen produzieren, und wissenschaftlich ausgebildete Experten, die vorhandenes Wissen reproduzieren und einer nachfragenden Klientel in der Politik oder in der Wirtschaft anbieten, sind die Träger dieser – durchaus nicht konfliktfrei und linear vorzustellenden – Entwicklung. Die Experten befinden sich in einer gesellschaftlich hochbedeutsamen Zwischenstellung zwischen den anbietenden Wissensproduzenten und den nachfragenden Wissenskonsumenten, d. h., anders gewendet, die Ausübung von Macht ist in Wissensgesellschaften in hohem Maße durch Experten in den verschiedenen Beratungsgremien, -organisationen usw. mediatisiert. Auch gilt es zu reflektieren, dass es oft genau diese Fachleute sind, die gesellschaftliche Probleme überhaupt erst als solche identifizieren, die sie dann mit wissenschaftlichen Methoden zu lösen versprechen. Damit schaffen sie die Nachfrage nach ihrer Expertise nicht nur selbst quasi durch Induktion, sondern sie rücken, indem sie politisch nachgefragtes Wissen erzeugen, in eine Position ein, an der Politik von ihnen als Quelle benötigten Wissens abhängig wird. Auf der anderen Seite „verwissenschaftlicht“ auch die das Spezialwissen nachfragende Klientel wie die Beamten in den staatlichen und kommunalen Bürokratien oder die Vertreter industrieller oder agrarischer Interessengruppen. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die dafür sprechen, die historischen Anfänge der deutschen Entwicklung zur Wissensgesellschaft in die Dekaden Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge 2001. 9 Vgl. Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte?, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2003, S. 277–305; dies., Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 30 (2004), S. 277–313.

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rund um die Wende zum vergangenen Jahrhundert (ab ca. 1880) zu datieren. Dem Ersten Weltkrieg kommt dabei ausschlaggebende Bedeutung zu, da sich nun Trends bündelten bzw. neu entstanden, welche die These erlauben, dass es nicht zuletzt auch Verwissenschaftlichungsprozesse waren, die in den Nationalsozialismus hineinführten. Das Dritte Reich ist somit auf eine bisher zu wenig beachtete Weise mit seiner Vor- und übrigens auch seiner Nachgeschichte verbunden10. Hier interessieren im Besonderen die Folgen, die sich aus der gegenseitigen Durchdringung der Systeme Politik und Wissenschaft ergeben. Peter Weingart hat wiederholt auf die nicht voneinander zu trennenden Vorgänge einer Verwissenschaftlichung der Politik und einer Politisierung der Wissenschaft hingewiesen, welche die zwei Seiten derselben Entwicklung darstellen: „Der Druck, politische Entscheidungen unter Rückgriff auf wissenschaftliches Wissen zu legitimieren, wächst in dem Maße, in dem wissenschaftlichem Wissen Autorität als Problemlösungsinstanz zugeschrieben wird.“11 Aber umgekehrt gilt dies genauso: Der Druck, wissenschaftliche Forschungsvorhaben durch außerhalb der Wissenschaft gelegene Kriterien zu legitimieren, wächst in dem Maße, als politischem Nutzen und gesellschaftlicher Relevanz Autorität als Kriterien dafür beigemessen wird, über die Förderungswürdigkeit und Qualität wissenschaftlicher Forschung zu entscheiden. Anders ausgedrückt heißt dies, dass Wissenschaftler aktiv politische Erwartungen nutzen, um an kognitive, finanzielle, apparative, personelle oder institutionelle Ressourcen12 zu gelangen oder auch ihre Deutungskompetenz zu befestigen, während umgekehrt das politische System wissenschaftliche Ressourcen und individuelle Karrierehoffnungen für seine Zwecke instrumentalisiert. Damit haben beide Systeme in ihrem Verhältnis zueinander eine instrumentelle, aber auch eine legitimatorische Funktion, die es im Auge zu behalten gilt. I. Politisierung der Wissenschaft Was die Politisierung von Wissenschaft angeht, verstanden im Sinn einer Ausrichtung bzw. Selbstausrichtung der Wissenschaft an politischen Zielen, bedeutete der Erste Weltkrieg in der Tat eine Weichenstellung. Einige kurze, strukturierende Ausführungen müssen hier genügen. Unter dem immensen Druck, den Krieg gewinnen zu müssen, wurde Wissenschaft in bisher unbekanntem Maß zentralisiert, geplant und an politisch-militärisch relevanten Vorgaben ausgerichtet – eine Struktur- und Funktionsveränderung, die auch nach dem Krieg fortbestehen und sich durch die Weimarer Zeit und den Nationalsozialismus ziehen sollte. Innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) 10 11 12

Vgl. ebenda. Weingart, Stunde, S. 29. Zum breiten Ressourcenbegriff vgl. Ash, Wissenschaft, S. 32.

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belegen vor allem die Entwicklung des Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie unter seinem Direktor Fritz Haber13, aber auch die Luftfahrtforschung die neuartige Herausbildung eines „staatsnahen“ Institutstyps während des Ersten Weltkriegs14. Die Beispiele zeigen, dass sich im Ausnahmezustand des Krieges autonome Forschungseinrichtungen für politische Zwecke öffneten, näher an den nationalen Staat heranrückten und sich selbst an politisch gewünschten Vorgaben ausrichteten. Deutlich wird dies vor allem bei der sogenannten big science, der Großforschung. In der historischen Rückschau haben sich die groß- und langfristig angelegte systematische Erforschung und Entwicklung der Gas- und der Luftwaffe als frühe Ausprägungen eines neuartigen Typs organisierter Forschung erwiesen. Dabei handelt es sich um einen Forschungstyp mit neuen quantitativen, vor allem aber neuen qualitativen Dimensionen, unter denen neben der Kooperation von Staat und Wissenschaft – unter enger Einbeziehung der Großindustrie – besonders die Ausrichtung der durchgeführten Projekte an von „außen“ gesetzten politischen oder militärischen Zwecken sowie die Offenheit der Projekte für politische Steuerung hervorstechen15. Es ist in dieser Perspektive zutreffend, beispielsweise in Bezug auf die Luftfahrtforschung von der „politischen Geschichte einer Wissenschaft“ zu schreiben. Folglich gelten dann die dreißiger Jahre nicht nur international vergleichend, sondern auch im nationalsozialistischen Deutschland als Inkubationsphase von big science, und dies unbeschadet der Tatsache, dass die braunen Machthaber aus dem NS-Regime spezifischen Gründen der Komplexität des Innovationsprozesses nicht Herr wurden16. An die außerordentliche Nähe der deutschen Wissenschaft zum Staat schließt ein weiterer Entwicklungsstrang an, der vom Ersten Weltkrieg in den Nationalsozialismus führt und den Ulrich Wengenroth plastisch als freiwillige „Flucht in den Käfig“17 bezeichnet hat. Ausgelöst durch die Erfahrungen des Weltkriegs, nämlich von Rohstoffknappheit und Ernährungskrise einerseits, aber auch durch den Erfolg der Haberschen Stickstoffsynthese andererseits, begab sich das deutsche Innovationssystem, unterstützt von der Politik, in der Weimarer Zeit in 13 Ausführlich Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, vor allem S. 332–358. 14 Lothar Burchardt, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Ersten Weltkrieg (1914– 1918), in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/MaxPlanck-Gesellschaft, Stuttgart 1990, S. 163–196. 15 Vgl. Margit Szöllösi-Janze/Helmuth Trischler (Hg.), Großforschung in Deutschland, Frankfurt 1990, bes. S. 13–37. 16 Helmuth Trischler, Aeronautical Research under National Socialism: Big Science or Small Science, in: Szöllösi-Janze, Science, S. 79–110; ausführlich ders., Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900–1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt 1992. 17 Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig: Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland 1900–1960, in: vom Bruch/Kaderas, Wissenschaften, S. 52–59.

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eine regelrechte „Ersatzstoffkultur“, die darauf abzielte, unter hohem Einsatz von Forschung und Technologie eine vom Weltmarkt unabhängige, autarke Wirtschaft und Gesellschaft zu realisieren. Bei freiwilliger Abkapselung von der internationalen community, unter Absage an den Weltmarkt, im Vertrauen auf die Fortdauer der früheren wissenschaftlichen Spitzenstellung widmete „der national gesonnene Dr. rer. nat. sein Leben der Herstellung von Zellwolle, statt den Kaufmann Baumwolle importieren zu lassen.“ Die deutsche Innovationskultur war damit bis in die 1950er Jahre hinein (und in der DDR noch länger) gekennzeichnet durch „die überdurchschnittlich entwickelte Fähigkeit, aus ungeeigneten Ressourcen mit hohem Aufwand Zweitklassiges herzustellen“, was mittelfristig das Ende der deutschen technisch-wissenschaftlichen Spitzenstellung bedeutete18. Es gibt viele Beispiele, die Wengenroths These eines „wissenschaftsgestützten Isolationismus“ in Form einer autarkie- und damit gleichzeitig auch politikorientierten „Wagenburg“ des deutschen Innovationssystems belegen19 und Ersten Weltkrieg, Weimarer Republik und Drittes Reich strukturell verbinden. Erst in jüngster Zeit fiel die botanische Züchtungsforschung auf, die explizit auf die Substituierung von Nahrungs- und Futtermittelimporten durch Züchtung resistenter, besonders ertragreicher oder anspruchsloser Pflanzen abzielte20. In demselben Zusammenhang standen zweifellos auch die Nachkriegsgründungen der KWG etwa in der Kohlen-, Eisen- und Metallforschung, aber auch in den Bereichen Faserstoffchemie, Leder- und Silikatforschung21. Seit langem bekannt ist die gefährliche Pfadabhängigkeit der deutschen Chemie, wie die Geschichte der IG Farben zeigt, waren doch in Deutschland die chemische Unternehmens- und Wissenschaftskultur besonders eng verzahnt. Das Unternehmen folgte dem Entwicklungspfad der katalytischen Hochdrucksynthese, um nach der Stickstoffund Methanolsynthese nun weitere Ersatzstoffe wie synthetischen Treibstoff oder synthetischen Kautschuk herzustellen. Der enorme Einsatz von Forschung und Spitzentechnologien brachte aber auch immense Kosten mit sich. Die Missachtung der Marktgesetze und ökonomischer Rentabilitätskriterien machte die IG Farben ansprechbar für die Angebote der Nationalsozialisten22. Dieser Weg 18

Ebenda, Zitate S. 55, 53. Ebenda, S. 55, 51. 20 Vgl. ausführlich Thomas Wieland, „Wir beherrschen den pflanzlichen Organismus besser . . .“. Akademische Pflanzenzüchtung in Deutschland 1889–1945, Diss. rer. nat. Univ. München 2000; Jonathan Harwood, Politische Ökonomie der Pflanzenzucht in Deutschland, ca. 1870–1933, in: Susanne Heim (Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Göttingen 2002, S. 14–33; Michael Flitner, Agrarische Modernisierung im genetischen Diskurs. Ansatzpunkte zu einem internationalen Vergleich, 1925–1939, in: ebenda., S. 91–117. 21 Vgl. dazu ausführlich im deutsch-englischen Vergleich Ulrich Marsch, Zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Industrieforschung in Deutschland und Großbritannien 1880–1936, Paderborn 2000, vor allem S. 331–370, 387–417, 431–453, 475–492. 19

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implizierte neben der zunehmenden Ausrichtung an politischen Belangen aber auch, dass „nicht-wissenschaftliche“ Praktiken wie die damals wissenschaftlich nicht erforschte, wohl aber nach dem trial and error-Prinzip handhabbare Biotechnologie bis in die 1970er Jahre hinein hintangestellt wurden23. Ulrich Marsch hat hinter diesen Einzelbefunden ein durchdachtes System von miteinander vernetzten Forschungseinrichtungen ausgemacht, das sich unter staatlicher Förderung in den 1920er Jahren herausbildete und im Nationalsozialismus fortsetzte. Dabei waren Industrielaboratorien, Hochschulen und außeruniversitäre Institute eng miteinander verbunden, dies alles mit dem – forschungsstrategisch wie politisch definierten – Ziel, das Land von Rohstoffimporten unabhängig zu machen und mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung Ersatzstoffe zu entwickeln. Marsch kam für Deutschland zu dem verblüffenden Ergebnis einer im internationalen Vergleich einmaligen „verwissenschaftlichten“ Gesellschaft: 1930 betrug der Anteil der öffentlichen wie privaten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung in der Weimarer Republik gut ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts, im weltmarktorientierten Großbritannien dagegen nur 0,4 Prozent. In ungefähr demselben Verhältnis standen in beiden Ländern die bei Staat und Industrie beschäftigten Wissenschaftler und Ingenieure, nämlich rund 20.000 in Deutschland und schätzungsweise nur 6–10.000 in England24. Gesellschaftliche Verwissenschaftlichungstendenzen bei gleichzeitiger politischer Ausrichtung von Wissenschaft waren also in Deutschland vergleichsweise früh und stark ausgeprägt, und sie führten, wie das Beispiel des Dritten Reichs zeigt, sowohl in die wissenschaftliche Sackgasse als auch in die politische Katastrophe. Die historische Entwicklung zur Wissensgesellschaft ist also durchaus ambivalent. II. Verwissenschaftlichung der Politik Wilfried Rudloff hat zu Recht darauf verwiesen, dass, wenn in der knowledge society wissenschaftliches Wissen in alle angrenzenden gesellschaftlichen Teilsysteme diffundiert, die Sphäre der Politik als ein zentraler Prüfstein für die analytische Aufschließungskraft des Konzepts Wissensgesellschaft anzusehen ist. Es ist also danach zu fragen, ob, wann und in welchem Ausmaß Wissen22 Thomas Hughes, Technological Momentum in History: Hydrogenation in Germany 1898–1933, in: Past & Present 44 (1969), S. 106–132; Peter Hayes, Industry and Ideology. I.G. Farben in the Nazi-Era, Cambridge 1987; Raymond G. Stokes, Opting for Oil. The political economy of technological change in the West German chemical industry, 1945–1961, Cambridge 1994. 23 Vgl. ausführlich Luitgard Marschall, Im Schatten der chemischen Synthese. Industrielle Biotechnologie in Deutschland, 1900–1970, Frankfurt 2000; dies., Consequences of the Politics of Autarky: The Case of Biotechnology, in: Margit SzöllösiJanze (Hg.), Science in the Third Reich, Oxford 2001, S. 111–38. 24 Marsch, Wissenschaft, S. 290–292.

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schaft zu einer politischen Produktivkraft geworden ist25. Im Folgenden soll es nicht um die gewissermaßen „endogene“ Verwissenschaftlichung von Politik und Verwaltung gehen, die im Gefolge vor allem der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung seit den 1880er Jahren einsetzte26, sondern um die systematische Einbeziehung „externen“ Sachverstands in den politischen Entscheidungsprozess, wobei – bei allerdings fließenden Grenzen – zunächst von einer grundsätzlichen Funktions- und Aufgabenteilung zwischen Beratung (Sachverstand) und Entscheidung (Politik) auszugehen ist. Die Dimensionen, die sich hinter dem Phänomen wissenschaftlicher Politikberatung eröffnen, sind immens und können hier nur angedeutet werden. Es geht dabei um historisch wie soziologisch zentrale Fragen, etwa, wie denn „der Staat“ oder „die Politik“ Wissen überhaupt erwirbt oder welche Konzeptionen von Staat den verschiedenen Theorien von Wissensgesellschaft unterliegen27. Wissenschaftliche Politikberatung wird sehr allgemein als „Beratung durch Personen [. . .], die wissenschaftliche Methoden und Denkweisen anzuwenden verstehen“ definiert, wobei der Beratungstätigkeit derjenigen „die hauptberuflich in der Forschung stehen und aufgrund neuer wissenschaftlicher Ergebnisse die politischen Instanzen beraten“, besonderes Gewicht zukommt28. Die Skala der Formen, in denen sie stattfinden kann, ist breit, sie reicht von einmaligen Ad-hoc- bis zu dauerhaft institutionalisierten Kooperationen, umfasst die individuelle, rein personenbezogene Beratung ebenso wie die sogenannte Ressortberatung. Entsprechend variieren die Bezeichnungen und Organisationsstrukturen, unter bzw. in denen wissenschaftliche Politikberatung stattfindet. Die Politikwissenschaft unterscheidet hier die Einzelberatung, Ad-hoc- oder permanente Ausschüsse, Enquête-Kommissionen, wissenschaftliche Beiräte, beratende Institute und schließlich die institutionalisierte Auftragsforschung29. Politikberatung hat es immer schon gegeben, und auch für die Beratung von Herrschenden durch Wissenschaftler finden sich zahlreiche historische Beispiele, die sich während des 18. und vor allem 19. Jahrhunderts verdichteten. Als Kriterium für eine moderne wissenschaftliche Politikberatung gilt die Lösung der Beratungssituation aus dem zuvor ad hoc und vor allem rein persönlich definierten Verhält-

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Vgl. die Einführung von Wilfried Rudloff in diesem Band. Vgl. im historischen Längsschnitt Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), S. 165–193. 27 Vgl. neuerdings Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates, Baden-Baden 2004; darin z. B. Jochen Steinbicker, Der Staat der Wissensgesellschaft. Zur Konzeption des Staats in den Theorien der Wissensgesellschaft. 28 Klaus Lompe, Politikberatung, in: Kurt Sontheimer/Hans H. Röhring (Hg.), Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, München 1977, S. 493–502, Zitat S. 493. 29 Ebenda, S. 496. 26

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nis, d. h., es ist auf die allmähliche Institutionalisierung, Entpersönlichung und Versachlichung von politischen Beratungsverhältnissen zu achten30. Auch in dieser Hinsicht nahm der Erste Weltkrieg eine entscheidende Weichenstellung vor. Er führte im Deutschen Reich schon nach kurzer Zeit zu einer Kulmination von gravierenden Krisen: Munitionskrise, Rohstoffkrise, Hungerkrise, politische Krise usw. Unter dem Druck, den Krieg gewinnen zu müssen, handelten die Entscheidungsträger in einem permanenten gesellschaftlichen Ausnahmezustand, was den Zwang implizierte, ohne zeitliche Verzögerung nach wirksamen, systemübergreifenden Problemlösungen zu suchen. Bei der Suche nach Lösungen kam Wissenschaftlern und Experten eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Sie wurden oft aus eigener Initiative aktiv und boten Politikern, Verwaltungsfachleuten und Militärs ihre Expertise an, die dieses Angebot ihrerseits begierig aufgriffen. Abgesehen von den Veränderungen der Kriegführung im engeren Sinn, die der moderne, hochtechnisierte Krieg mit sich brachte, wandelten sich allein durch die Kriegswirtschaft und die Kriegsgesellschaft auch der Stil und die Methoden des Regierens. Die Wissens- und Informationsströme im politischen und militärischen Entscheidungsprozess veränderten sich – nicht zuletzt durch die Einbeziehung externen Sachverstandes – signifikant. Die Funktion der Experten im Ersten Weltkrieg entspricht dabei zweifellos einer frühen Form wissenschaftlicher Politikberatung, die auf den wachsenden Steuerungsbedarf des politischen Systems reagierte. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Anzahl der Berater freilich erheblich geringer war als beispielsweise 1970 in der Bundesrepublik, als allein auf Bundesebene knapp 6000 Sachverständige in 264 Gremien tätig waren. Zu unterstreichen ist deren historische Tiefendimension, denn einige Beratergruppen konnten ihre Entstehung immerhin bis in die Jahre 1900, 1902 und 1919 zurückverfolgen31. Während des Ersten Weltkriegs fungierten zahlreiche Wissenschaftler, darunter der Chemie-Nobelpreisträger Emil Fischer32, aber auch Vertreter anderer Disziplinen als Experten mit politikberatender Wirkung. Lawinenartig entstand zunächst ad hoc, dann aber auch dauerhaft eine Vielzahl von Beratungsgremien, Beiräten und beratenden Gesellschaften, die meist gleichgewichtig aus Vertretern von Staat, Militär, Industrie und Wissenschaft besetzt waren. Rein wissenschaftliche Beratungsgremien waren selten. Besonders gut lässt sich an der Person des Physikochemikers Fritz Haber der Entwicklungsschub nachzeichnen, den die wissenschaftliche Politikberatung in dieser Zeit erfuhr. Er selbst bezeichnete in seinem offiziellen Lebenslauf seine damalige, enorm wich30 Vgl. für frühe Formen wissenschaftlicher Politikberatung Hans-Christof Kraus, Vorformen und Anfänge wissenschaftlicher Politikberatung, in diesem Band. 31 Uwe-Karsten Heye, Insgesamt 5914 Berater, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 184, 3.8.1970. 32 Timothy D. Moy, Emil Fischer as „Chemical Mediator“: Science, Industry, and Government in World War One, in: Ambix 36 (1989), S. 109–120.

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tige Position sehr schlicht als „Beirat des Kriegsministeriums“, woraus zwar die ressortmäßige Zuordnung seiner Tätigkeit erhellt wird, aber auch ihre bis zum Schluss nicht definitiv festgelegte genaue institutionelle Verortung, der in mancher Hinsicht ein informeller Charakter anhaften blieb33. Neben seiner innovativen Rolle als führender Wissenschaftler seiner Zeit fungierte der Berater Haber konkret als Mediator und Organisator an der Schnittstelle von Politik/Militär, Wirtschaft und Wissenschaft34. Da die Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, wie z. B. die Geschichte der deutschen chemischen Industrie deutlich macht, spätestens seit dem Kaiserreich fest etabliert war, liegt das eigentlich Neue in der Herstellung eines dauerhaften Kontakts zwischen Wissenschaft und Politik einschließlich des Militärs. In seiner Mediator-Funktion setzte Haber die Kommunikation zwischen den beteiligten gesellschaftlichen Systemen überhaupt erst in Gang, sprachen diese doch zunächst eine andere Sprache, so dass sie ihre Bedürfnisse, aber auch ihr kriegsrelevantes Potential und ihre Vorschläge nicht nach außen mitteilen konnten. Haber befand sich in der Rolle eines „Übersetzers“ und konnte allein schon dadurch beratend wirken. Mit enormem persönlichem Einsatz überzeugte er die politischen Entscheidungsträger vom notwendigen – und daher öffentlich zu finanzierenden – Bau gigantischer Fabrikanlagen für die industrielle Großproduktion von Kriegschemikalien und Düngemitteln, besonders von Salpeter und anderen Stickstoffverbindungen. Er setzte diese Tätigkeit, die auch gutachterliche Stellungnahmen an die politischen Entscheidungsträger einschloss, in denen er sich zu den Vor- und Nachteilen verschiedener technologischer Verfahren äußerte, bis zum Kriegsende fort, bevor die Niederlage eine dauerhafte Etablierung dieses Beratungsverhältnisses verhinderte. Dass es sich bei seinem Engagement um eine frühe, institutionell noch defizitäre Form von Beratung handelte, zeigt sich an der körperlichen Beanspruchung und intellektuellen Bedeutung von Haber als Person: Er reiste selbst bis zur Erschöpfung zu den einzelnen Ansprechpartnern, führte als Individuum Gespräche, schloss Verträge und entwickelte persönlich kriegsrelevante Perspektiven. Und doch lässt sich gerade an Habers Mediator-Rolle, so rudimentär sie auch institutionalisiert gewesen sein mag, ein für das Konzept der Wissensgesellschaft und den Stellenwert wissenschaftlicher Politikberatung zentraler Grundgedanke festmachen. Niklas Luhmann zufolge kommunizieren und funktionieren Wissenschaft und Politik anhand unterschiedlicher „Codes“, nämlich Wahrheit bzw. Macht. Sie können sich daher allenfalls irritieren, nicht aber 33

Szöllösi-Janze, Haber, S. 269 f. Vgl. zum Folgenden ausführlich auch dies., Der Wissenschaftler als Experte. Kooperationsverhältnisse von Staat, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft, 1914–1933, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. 1, Göttingen 2000, S. 46–64. 34

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wechselseitig steuern. Luhmanns Einwand verliert an Schärfe, wenn man dagegen mit der knowledge society von durchlässigen Systemgrenzen ausgeht und damit die Bedingungen und Möglichkeiten des Wissenstransfers konkret unter die Lupe nimmt. In einem weiteren Schritt übte Haber erkennbar auch organisatorische Funktionen aus, um die durch seine Initiative in Gang gesetzte Kommunikation über den unmittelbaren Anlass des Krieges hinaus aufrecht zu erhalten. Dafür schuf er neue institutionalisierte Strukturen, die nicht selten mehrere Funktionen erfüllen sollten, und zwar neben der Forschung oder Forschungsförderung oft auch die wissenschaftliche Politikberatung. Diese Institutionen sollten im Frieden wirksam werden, doch scheiterte ihre Realisierung dann an der deutschen Niederlage. Hier sind z. B. Habers Bemühungen zur Gründung der Kaiser Wilhelm Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft 1916 zu nennen, einer institutionellen Mischform, die in engem Kontakt mit Politik und Militär in Friedenszeiten kriegsrelevante Forschungen ausmachen, bewerten, koordinieren und finanziell unterstützen sollte, also primär als forschungsfördernde, aber auch als politikberatende Einrichtung konzipiert war35. Ein anders gelagertes Beispiel war der ebenfalls von Haber 1917 gegründete und geleitete Technische Ausschuss für Schädlingsbekämpfung (TASCH), der, um die Blausäurevergasung von Parasiten in Deutschland zu etablieren, ausdrücklich Koordinations- und Querschnittsaufgaben zwischen Wissenschaft, Industrie und Staat wahrnahm. Der TASCH stellte ebenfalls ein institutionelles Hybrid dar: im Grunde eine freiwillige Arbeitsgruppe mit quantitativem Übergewicht der Behördenvertreter, gewann er durch die Dominanz seines Vorsitzenden Haber Profil als wissenschaftliches Gremium, dem über die Abstimmung von Forschungen zur Schädlingsvernichtung hinaus verschiedene weitere Funktionen zuwuchsen: zunächst ganz konkret die Durchführung der Durchgasungen, aber in diesem Zusammenhang zweifellos auch politikberatende, über den Krieg hinausweisende Aufgaben36. Für die Jahre der Weimarer Republik soll der Fokus nun auf andere Bereiche wissenschaftlicher Politikberatung erweitert werden, wobei erneut das breite Spektrum fließender Beratungsformen auffällt. Wieder kann man zunächst kurz auf Fritz Haber verweisen, der in enger Abstimmung mit Außenminister Gustav Stresemann jahrelang unter Nutzung seiner zahlreichen Auslandskontakte die Wiedereingliederung der deutschen Wissenschaft in die internationale scientific community betrieb, bis er sich, wie er klagte, vom Auswärtigen Amt (AA) in Anspruch genommen fühlte „wie ein Fußball von einer Übungsmannschaft“37. 35 Vgl. dazu einschließlich abgedruckter Dokumente auch Manfred Rasch, Wissenschaft und Militär: Die Kaiser Wilhelm Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 50 (1991), S. 73–120. 36 Vgl. dazu ausführlich Szöllösi-Janze, Haber, S. 383–393, für die Weimarer Zeit in anderen institutionalisierten Formen ebenda, S. 455–464. 37 Ebenda, S. 586–598, Zitat S. 592.

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Auch hier ist eine doppelte Funktion Habers hervorzuheben: neben der instrumentellen als sozusagen „wissenschaftlicher Arm“ des Außenministers die beratende als kompetenter Beirat in der Frage, wie man über die Nutzung internationaler naturwissenschaftlicher Netzwerke Stresemanns Ziel einer politischen Annäherung Deutschlands an den Westen und seiner Eingliederung in den Weltmarkt befördern könnte. Haber agierte hier nicht im Rahmen einer wie auch immer strukturierten dauerhafteren Institution, ja nicht einmal wie im Weltkrieg als Mitglied eines Ad-hoc-Gremiums, sondern als Individuum, in engem persönlichem Kontakt mit dem Außenminister, der dem herausragenden Gelehrten Vertrauen schenkte. Habers außenpolitische Beratungstätigkeit in der Weimarer Zeit entspricht daher dem frühesten Typus von Politikberatung durch Wissenschaftler, wie sie bereits im 18. und 19. Jahrhundert und auch zuvor praktiziert worden war38. Die wichtigsten und frühesten Bereiche, in denen sich in der Weimarer Zeit Strukturen politischer Beratung bildeten, waren zweifellos Wirtschaft, Arbeit und Soziales. Es gehörte geradezu zu den Kennzeichen des politischen Systems von Weimar, dass es beispielsweise einen „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ aufwies, der 1920 als eigenständiges Verfassungsorgan mit weitreichenden Kompetenzen gegründet worden war. Hier ist jedoch zu unterscheiden: In den zahllosen Räten und Beiräten der Weimarer Republik dominierte das korporatistische Beratungsmodell, das auch dem Reichswirtschaftsrat zugrunde lag, der Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände in den politischen Entscheidungsprozess einbinden sollte. Es hielt sich im Denken maßgeblicher Politiker und Verbandsvertreter bis weit in die Bundesrepublik hinein, bis unter dem Einfluss des amerikanischen scientific policy counseling die wissenschaftliche Politikberatung unabhängiger Forscher in den Vordergrund trat. Sie ergänzte und überlappte die älteren korporatistischen Formen und erlebte in den sechziger Jahren schließlich einen ausgesprochenen Boom. Die Debatte um einen Bundeswirtschaftsrat in den fünfziger Jahren und die Vorgeschichte der Gründung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage 1963 geben exemplarisch Auskunft über diese kaum zu überschätzende Verschiebung der Gewichte39. Allerdings stellten die Integration organisierter Gruppeninteressen in die Beratungsgremien und damit auch die Fortdauer korporatistischer Denkweisen weiterhin einen charakteristischen Zug des bundesdeutschen Poli38

Vgl. Kraus, Vorformen, in diesem Band. Vgl. ausführlich Alexander Nützenadel, Wirtschaftliche Interessenvertretung in der parlamentarischen Demokratie. Die Debatte über den Bundeswirtschaftsrat in den fünfziger Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 229–260; ders., Wissenschaftliche Politikberatung in der Bundesrepublik. Die Gründung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage 1963, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89 (2002), S. 288–306. Vgl. auch Gabriele Metzler, Versachlichung statt Interessenpolitik. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in diesem Band. 39

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tikstils dar, der in Form von Konzertierten Aktionen, Runden Tischen und „Bündnissen für Arbeit“ bis in die Gegenwart reicht. Einen zuverlässigen Überblick über die Beratungsgremien der Weimarer Republik im Bereich Wirtschaft, Arbeit und Soziales zu gewinnen und die Rolle und Bedeutung von Wissenschaftlern konkret zu bestimmen, ist bisher nicht möglich. Neben dem bereits erwähnten Vorläufigen Reichswirtschaftsrat sei an dieser Stelle nur exemplarisch auf den „Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Enquête-Ausschuss)“ verwiesen, der im April 1926 durch Reichsgesetz gebildet wurde. Er setzte sich aus Politikern, Verbandsfunktionären, aber auch Sachverständigen zusammen, unter ihnen z. B. als Präsidialmitglied Bernhard Harms, Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Kiel sowie Gründer und Leiter des Instituts für Weltwirtschaft. Zumindest die quantitative Seite der Ausschussarbeit war durchaus beeindruckend: Es wurden fünf Unterausschüsse gebildet, die sich ihrerseits in jeweils zwei bis neun Arbeitsgruppen aufteilten. Insgesamt gab es 26 solcher Arbeitsgruppen, die wiederum die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in den Jahren 1927 bis 1930 in gesonderten Veröffentlichungen mit teilweise beträchtlichem Umfang publizierten. Wie die Tätigkeit des Enquête-Ausschusses gerade im Hinblick auf die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung einzuschätzen ist, muss hier offen bleiben. Nach einer Aussage von Reichskanzler Heinrich Brüning im Juni 1931 hatte er „völlig wertlose Arbeit geleistet“. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass zwar infolge der Weltwirtschaftskrise die Ergebnisse des Ausschusses schnell überholt, also jedenfalls seine prognostischen Kompetenzen unzureichend waren, dass jedoch für die Jahre zuvor grundsätzlich durchaus sachverständig gearbeitet und beraten worden sein kann40. Doch auch in der Weimarer Zeit gab es Ansätze einer rein wirtschaftswissenschaftlichen, verbandsunabhängigen, verwaltungsextern angesiedelten Politikberatung. Es verwundert nicht, dass sie in die Zeit der Weltwirtschaftskrise während des Präsidialkabinetts Brüning fielen. Brüning hatte Erfahrung mit wissenschaftlich gestützter Politikberatung, hatte er doch seine Kanzlerdiktatur vor der Amtsübernahme durch juristische Sachverständige verfassungsrechtlich absichern lassen. Diese befanden sich zwar innerhalb der Ministerialbürokratie (Reichskanzlei, Reichsministerium des Innern und der Justiz), doch waren im unmittelbaren Umfeld auch führende Staatsrechtler wie Walther Jellinek, Gerhard Anschütz und Carl Schmitt damit befasst zu klären, inwieweit dem Notver40 Aufzeichnung des Reichsbankpräsidenten Luther über eine Reichsministerbesprechung, 2.6.1931, in: Ilse Maurer/Udo Wengst (Bearb.), Politik und Wirtschaft in der Krise 1930–1932. Quellen zur Ära Brüning (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Dritte Reihe, Band 4/1), Düsseldorf 1980, Nr. 219, S. 639, vor allem auch Fußnote 3. Vgl. auch als offizielle Darstellung o. V., Die Untersuchung der deutschen Wirtschaft. Der Enquête-Ausschuß, seine Aufgaben und seine Arbeitsmethode, Berlin 1927.

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ordnungsrecht Vorrang vor parlamentarischen Entscheidungen einzuräumen sei41. Als erstes historisches Beispiel einer externen wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung gilt gemeinhin eine zweitägige Geheimkonferenz im September 1931, als in Anwesenheit von Vertretern der Reichsbank und einiger Reichsund preußischer Ministerien vor allem jüngere, später zu Berühmtheit gelangende Wirtschaftswissenschaftler Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung diskutierten42. Zu ihnen gehörten Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Gerhard Colm, Hans Neisser, Eduard Heimann, Heinrich Rittershausen und Edgar Salin, sie zählten auch nach heutiger Einschätzung zum „Besten, was man seinerzeit an theoretischer Kompetenz und wirtschaftspolitischem Engagement versammeln konnte“43. Der streng wissenschaftliche Charakter der Konferenz wurde dadurch unterstrichen, dass die anwesenden Ministerialbeamten angewiesen worden waren, nicht selbst das Wort zu ergreifen, sondern nur zuzuhören44. Am Ende begrüßte Reichsbankpräsident Hans Luther ausdrücklich „dieses Bündnis zwischen Wissenschaft und Praxis“, das ihm zu eingehender „Durchforschung des ganzen in Betracht kommenden Problems“ verholfen habe45. Die institutionelle Plattform der Konferenz bildete die Friedrich-List-Gesellschaft, die 1925 als Forum für die Aussprache zwischen Vertretern aus Politik und Wissenschaft gegründet worden war. Aufgabe der Wissenschaft sei es, so hieß es im Programm der Gesellschaft, „die Erkenntnisgrundlage für praktisches Handeln zu liefern“. Die Konferenz vom September 1931 war jedoch geheim, obwohl gerüchtehalber Nachrichtendienste und Zeitungen über die Zusammenkunft spekulierten. Die Beratungen blieben vertraulich, sie wurden nicht publiziert und standen nur den unmittelbaren Entscheidungsträgern zur Verfügung46. Die Unterschiede zum oben erwähnten Sachverständigenrat der Bundesrepublik liegen damit auf der Hand: Die wissenschaftliche Zusammenkunft von 1931 erfolgte 41 Gerhard Schulz, Einleitung: Politik und Wirtschaft in den Dokumenten zur Regierung Brüning, in: Maurer/Wengst, Politik, S. VII–LXXXVIII, hier S. LVII f., vor allem auch Fußnote 124. 42 Vgl. den Hinweis bei Gabriele Metzler, Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 57–103, hier S. 81 f., bes. Fußnote 64. 43 Knut Borchardt, Vorwort, in: ders./Hans Otto Schötz (Hg.), Wirtschaftspolitik in der Krise. Die (Geheim-)Konferenz der Friedrich-List-Gesellschaft im September 1931 über Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung, Baden-Baden 1991, S. 9–16, hier S. 9. Vgl. dazu auch ders., Wirtschaftspolitische Beratung in der Krise: Die Rolle der Wissenschaft, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930– 1933. Handlungsspielräume und Alternativen (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 26), München 1992, S. 109–132. 44 Ders., Einleitung, in: ders./Schötz, Wirtschaftspolitik, S. 17–52, hier S. 42. 45 Ebenda, S. 304, 300. 46 Ebenda, Einleitung, S. 9 f.; H. Brügelmann, Politische Ökonomie in kritischen Jahren. Die Friedrich List-Gesellschaft e.V. von 1925–1935, Tübingen 1956, S. 25.

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ad hoc in einer konkreten Problemsituation, ihre Überlegungen blieben der Öffentlichkeit verborgen, während der Sachverständigenrat ein verstetigtes, institutionalisiertes wissenschaftliches Beratungsgremium darstellt, dessen Ansehen und politische Wirksamkeit gerade auf die Publikation seiner Stellungnahmen zurückzuführen war und ist. Beiden Gremien gemeinsam war auf der anderen Seite der Versuch, durch „Verwissenschaftlichung“ Handlungsspielräume „jenseits von Ideologien“ neu zu erschließen und dadurch die politische Gestaltungsmacht zu erhalten bzw. zu erweitern47. Die Appelle, durch neutrale Expertise „Unregierbarkeiten“ zu beenden und mit dem Verweis auf sachliche Erfordernisse Raum für die Politik zurückzuerobern, häufen sich gerade in der Spätphase Weimars, wobei es insbesondere auch darum ging, den Einfluss der Verbände zurückzudrängen. Beispielsweise setzte das Reichsarbeitsministerium im Februar 1931 eine Sachverständigenkommission ein, die im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin von 1929 bewusst kleiner und vor allem frei von Interessenvertretern gehalten wurde48. Vier Monate später thematisierte Reichsbankpräsident Luther in einer Besprechung das zentrale Informationsproblem der Reichsregierung: Die Reichsministerien, namentlich das Reichswirtschaftsministerium, hätten keinen „Unterbau“, der Informationsfluss aus den Ländern sei unzureichend, da politisiert. Daraus resultiere „eine gewisse Überintimität“ der Ministerialbeamten mit den übermäßig erstarkten Zentralverbänden der Wirtschaft. Luther sprach sich für eine weitgehende Auflösung dieser Bindungen aus und unterstützte mit dieser Wortmeldung den Reichskanzler, der dringend „in unsere Rettungs- und Aufbauarbeit [. . .] ein System“ hineinbekommen wollte. Brüning dachte dabei an „ein kleines Gremium nach englischem System“, das sich mit allen Fragen der Wirtschaft befassen sollte49. Der Verweis auf England und der argumentative Kontext der Äußerung lassen keinen Zweifel daran, dass der Kanzler seine Hoffnungen auf wissenschaftliche Politikberatung setzte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch, auf jene „Kultur“ des überparteilichen Sachverstands hinzuweisen, die seit dem Kaiserreich das Selbstbild öffentlichen Handelns in den Bürokratien prägte und sich in etlichen führenden Persönlichkeiten der Weimarer Zeit verkörperte. So ist es wohl kein Zufall, dass sich jenes erste rein wirtschaftswissenschaftliche policy counseling auf der Geheimkonferenz der Friedrich List-Gesellschaft im September 1931 um Hans Luther gruppierte, der im Laufe seiner verschiedenen Ämter zum bedeutendsten Exponenten von „Sachlichkeit“ geworden war. Wie Brüning wirkte auch er in 47

Metzler, Ende, S. 82, 86; Nützenadel, Politikberatung, S. 288, 292 f. Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik (1949), Düsseldorf 1978, S. 436 f. 49 Aufzeichnung des Reichsbankpräsidenten Luther über eine Reichsministerbesprechung, 2.6.1931, in: Maurer/Wengst, Politik, Bd. 1, Nr. 219, S. 639 f. 48

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der Spätphase der Republik geradezu stilbildend, als der sachliche Habitus als Rückzugsposition gegen die Forderungen der Verbände und die Attacken der Demagogen von links und rechts ausformuliert wurde. Die Erfahrung fortlaufend eingeengter Regierungsfähigkeit, die Zunahme nicht steuerbarer Prozesse, die rationale Anpassung an anonyme „Sachzwänge“ und schließlich die Forderung nach einer „Versachlichung“ der Entscheidungen standen in einem engen Konnex und ergänzten sich mit zeitgenössischen technokratischen Visionen eines wissenschafts- und technikbasierten Expertenregiments50. Bereits kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise hatte Karl Mannheim, um eine weitere Stimme zu zitieren, seine Gegenwart als die „allmähliche Reduktion des Politischen auf Ökonomie“ charakterisiert und die entsprechende Haltung als „das ins Ethische projizierte Prinzip der Sachlichkeit“ bestimmt51. Die Anbetung und die Dämonisierung des „Sachzwangs“, so Willibald Steinmetz, waren während der Weimarer Republik Komplementärphänomene52. Aber wissenschaftliche Politikberatung ist weiter zu fassen als bisher getan: Es geht um Beratung nicht nur durch Wissenschaftler, sondern, gerade in Hinblick auf das Konzept der knowledge society, um Politikberatung durch Wissenschaften, wie ebenfalls am Beispiel der Wirtschaftswissenschaften gezeigt werden kann. Hier hat die jüngere Forschung nachgewiesen, dass die lange behauptete Kluft zwischen ökonomischer Theorie und politischer Praxis in der Zwischenkriegszeit auf einer gründlichen Fehlinterpretation des Verhältnisses von Politik und Wissenschaft beruhte. Im Gegenteil: Wie J. Adam Tooze am Beispiel des Statistischen Reichsamts und Ernst Wagemanns Institut für Konjunkturforschung belegte, förderte die Weimarer Republik empirische, politikbezogene ökonomische Forschung in einem in Westeuropa damals einzigartigen Ausmaß. Die Erhebungsmethoden des Statistischen Reichsamts richteten sich eng an einem innovativen, makroökonomischen Theorieansatz aus. Darüber hinaus veränderte diese neuartige Verbindung zwischen Statistik und Wirtschaftstheorie nicht nur die öffentliche Diskussion über die deutsche Wirtschaft nachhaltig, sondern auch das policy making selbst53. Allein der quantitative Aspekt der Entwicklung ist beeindruckend: Das Statistische Reichsamt konnte sein Personal innerhalb von fünf Jahren von Juni 50 Vgl. ausführlich Willibald Steinmetz, Anbetung und Dämonisierung des „Sachzwangs“. Zur Archäologie einer deutschen Redefigur, in: Michael Jeismann (Hg.), Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt 1995, S. 293–333, hier bes. S. 301–304. 51 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929), zit. nach ebenda, S. 317. 52 Ebenda, S. 333. 53 J. Adam Tooze, Weimar’s Statistical Economics: Ernst Wagemann, the Reich’s Statistical Office, and the Institute for Business-Cycle Research, 1925–1933, in: Economic History Review 52 (1999), S. 523–543, Zitate S. 525; in breiterem historischem Kontext vgl. ders., Statistics and the German State, 1900–1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001.

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1924 bis Juli 1929 auf knapp über 3000 Angestellte verdreifachen, ein Professionalisierungsschub verwandelte das behäbige Amt in ein modernes statistisches Serviceunternehmen. Es stand in enger Kooperation mit Wagemanns im Juli 1925 gegründetem Institut für Konjunkturforschung, das Ende der zwanziger Jahre bereits 50 Angestellte, davon mindestens 30 Ökonomen und Statistiker, beschäftigte. Es verkörperte ein ehrgeiziges neues Modell angewandter Wirtschaftsforschung: In einer neuartigen Synthese aus empirischer Forschung und makroökonomischer Theorie führte es Ökonomen und Statistiker mit dem ausdrücklichen Ziel zusammen, die Regierung mit wirtschaftlich relevanten Daten und Informationen auszustatten. Tatsächlich stellte das Wagemann-Institut die Hauptinformationsquelle des Reichswirtschaftsministeriums und des gesamten Kabinetts dar. Durch die Publikation von Vierteljahresheften, wöchentlichen Bulletins und Indices strahlte es weit in die Industrie- und Bankenwelt, ja sogar in eine breitere Öffentlichkeit aus54. Tooze wertet die Arbeit des Instituts mit guten Gründen als „a fundamental break with the past. Economic expertise entered into a new relationship with political power. What is more, Wagemann and his staff claimed to have the power of prediction, providing policy-makers with a definite outlook on which to base long-term decisions.“55 III. Verwissenschaftlichung der Politik, Politisierung der Wissenschaft Die von Tooze jüngst herausgearbeitete wissenschaftliche wie politikberatende Bedeutung des Instituts für Konjunkturforschung ist lange unterschätzt worden. Die wirtschaftsgeschichtliche Forschung war zu sehr auf die an den Universitäten verankerten Wissenschaftler fixiert, die die Arbeit des „offiziösen“ Instituts abschätzig als naiven Empirismus betrachteten und 1932 schnell dabei waren, die als Wagemann-Plan für Geld- und Kreditreform bekannt gewordenen Vorschläge ihres Konkurrenten öffentlich zu denunzieren56. Das Beispiel des Instituts für Konjunkturforschung illustriert überdeutlich ein zentrales Charakteristikum entstehender Wissensgesellschaften, nämlich die Tatsache, dass gesellschaftlich und damit auch politisch relevantes wissenschaftliches Wissen längst nicht mehr nur an den Universitäten produziert wurde. Seit dem 19. Jahrhundert, verstärkt seit den 1880er Jahren, wurden zunehmend außeruniversitäre, privat oder öffentlich finanzierte Forschungseinrichtungen gegründet, die gerade an den Schnittflächen des Wissenschaftssystems mit der Politik, dem öffentlichen Gesundheitswesen, den diversen Industriebranchen oder der Agrarwirtschaft entstanden57. Greift man die als Behörden organisierten wissenschaftlichen Staats- und später auch Reichsanstalten heraus, so ist eine charakteristi54 55 56

Ders., Statistical Economics, S. 526–533. Ders., Statistics, S. 104. Ders., Statistical Economics, S. 530, 539.

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sche Verlagerung ihrer traditionellen Hoheitsaufgaben im Bereich der Normierung, Aufsicht und Kontrolle auf politisch gewünschte Forschungen im expandierenden Feld staatlicher Daseinsvorsorge zu beobachten. Als offen erwiesen sich hier vor allem Gebiete wie das Gesundheitswesen, die Landwirtschaft, die Veterinärmedizin, der Pflanzenschutz, das Verkehrs-, Kommunikations- und Bauwesen oder die zivile und militärische Materialprüfung. Als einer der ältesten Bereiche sticht der Landwirtschaftssektor hervor. Wegen der in den deutschen Ländern traditionell sehr engen Verflechtung von agrarischen und staatlichen Interessen ging die Gründung landwirtschaftlicher Akademien und Versuchsanstalten teilweise sogar bis in das 18. Jahrhundert zurück und erlebte im 19. einen beispiellosen Boom, gefolgt dann vom im entstehenden Sozialstaat politisch hochrelevanten Gesundheitsbereich58. Alle diese Forschungseinrichtungen, wie unterschiedlich sie auch immer gewesen sein mögen, produzierten gesellschaftlich und politisch gewünschtes wissenschaftliches Wissen. Sie beherbergten ein wachsendes Reservoir von Wissenschaftlern und Experten, die für einen immensen Wissenstransfer in das politische System sorgten. Hier schließt sich der Kreis, um den es vor dem Hintergrund eines historisierten Konzepts von Wissensgesellschaft geht. Die in der Einleitung benannten reziproken Vorgänge konvergieren: Die „Politisierung“ von Wissenschaft, verstanden als deren Ausrichtung an politisch und gesellschaftlich relevanten Zielen sowie deren grundsätzliche Offenheit für politische Steuerung, und die „Verwissenschaftlichung“ von Politik im Sinne einer „extern“ angesiedelten wissenschaftlichen Politikberatung sind die zwei Seiten desselben Prozesses, und Wagemanns Institut für Konjunkturforschung ist nur eines von vielen Beispielen. In dieser Perspektive gewinnt die Zeit des „Dritten Reichs“ einen neuen Stellenwert. Das lange vorherrschende Bild, beim Nationalsozialismus habe es sich um ein zutiefst wissenschaftsfeindliches System gehandelt, das Spitzenwissenschaftler aus ideologischen Gründen in die Emigration getrieben, selbst aber nur dilettantische Wissenschaftler gefördert oder sie dazu „missbraucht“ habe, verbrecherische Experimente zum Beleg ideologischer Visionen durchzuführen, ist einer differenzierteren, komplexeren Betrachtungsweise gewichen. Freilich gab es kein Gremium von Universitätsprofessoren, das im Sinne gegenwärtiger Usancen beispielsweise Hitler permanent wissenschaftlich beraten hätte. Die persönliche Abneigung des Führers gegen Wissenschaftler, die er als notwendi57 Vgl. Margit Szöllösi-Janze, Die institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik, in: vom Bruch/Kaderas, Wissenschaften, S. 60–74. 58 Dazu ausführlich Peter Lundgreen u. a., Staatliche Forschung in Deutschland 1870–1980, Frankfurt 1986; zur Landwirtschaft im Besonderen Nathalie Jas, Au carrefour de la chimie et de l’agriculture. Les sciences agronomiques en France et en Allemagne 1840–1914, Paris 2001.

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ges Übel betrachtete, ist nur allzu bekannt, ebenso wie z. B. das vergebliche Bemühen Hjalmar Schachts, Hitler und Göring dazu zu bewegen, außenwirtschaftliche Notwendigkeiten anzuerkennen. Das nationalsozialistische Politikverständnis war voluntaristisch, es beugte sich keinen „Sachzwängen“ und bekämpfte beispielsweise die politisch ausgerichtete Technokratiebewegung, sofern sie einen Führungsanspruch der Technik postulierte59. Auf der anderen Seite gibt es vielfältige Belege, dass es sich beim Nationalsozialismus keineswegs um ein schlicht wissenschaftsfeindliches Regime gehandelt hat. Die große Bedeutung von Technokraten innerhalb der NS-Eliten, welche das Potential wissenschaftlicher Forschung vor allem während der beschleunigten Wiederaufrüstung seit 1936 und nach dem Scheitern des Blitzkriegs 1942 erkannten, tritt immer klarer hervor. Der Name Albert Speer muss hier genügen. Aber auch darüber hinaus hat sich erwiesen, dass das Verhältnis der NS-Machthaber zu den Wissenschaften grundsätzlich utilitaristisch war: Gut war und gefördert wurde, was nützte. Disziplinen und Forschungseinrichtungen standen in der Machtergreifungsphase unter dem enormen Druck, ihre Nützlichkeit beweisen zu müssen. War der potentielle Nutzen einmal klar gestellt, dann bekamen sie ihre Chance, die in vielen Fällen weit über die Möglichkeiten der Weimarer Zeit hinausgingen. Für die militärisch relevante Luftfahrtforschung ist dies unmittelbar einsichtig, aber dies gilt auch beispielsweise für die Psychologie, von der es lange fälschlich hieß, sie sei mit dem Nationalsozialismus völlig unvereinbar60. Betrachtet man die Geschichte des oben erwähnten Instituts für Konjunkturforschung über 1933 hinaus, so verlor Wagemann zwar in der Machtergreifungsphase seine Position als Präsident des Statistischen Reichsamts, blieb jedoch unter aktiver Nutzung seiner neu erworbenen NSDAP-Mitgliedschaft an der Spitze seines Instituts, das mit Hilfe vor allem von Robert Leys Deutscher Arbeitsfront diese anfänglichen Turbulenzen überlebte. In der Folgezeit florierten sowohl das Statistische Reichsamt als auch das Wagemann-Institut in einem zuvor unvorstellbaren Ausmaß. Das Statistische Reichsamt, das 1932 nur noch gut 1800 Personen beschäftigte, vergrößerte sein Personal bis 1939 auf 59

Vgl. zusammenfassend Steinmetz, Anbetung, S. 321 f. Zusammenfassend Margit Szöllösi-Janze, National Socialism and the Sciences: Reflections, Conclusions and Historical Perspectives, in: dies., Science, S. 1–35. Um nur einige zentrale Titel zu nennen: Monika Renneberg/Mark Walker (Hg.), Science, Technology, and National Socialism, Cambridge 1994; Josiane Olff-Nathan (Hg.), La science sous le Troisième Reich. Victime ou alliée du Nazisme?, Paris 1993; Peter Lundgreen (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt 1985; Ulfried Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt 1984; Kristie Macrakis, Surviving the Swastika. Scientific Research in Nazi Germany, New York 1993; Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaften im NS-Regime, in: GG 27 (2001), S. 5–40. 60

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die stolze Zahl von 6000. Das Institut für Konjunkturforschung expandierte in derselben Zeit auf 150 Beschäftigte (ohne seine regionalen Dienststellen), davon mehr als 100 Ökonomen und Statistiker. Es stabilisierte seine Position als Einrichtung wirtschaftswissenschaftlicher Prognose und profitierte vor allem von seinen engen vertraglichen Kontakten mit der Reichspost und Darrés Landwirtschaftsministerium. Wagemann selbst wurde 1936 zu den Beratungen um Görings Vierjahresplan herangezogen61. Tooze beantwortet die Frage, ob all dies eine ideologische Gleichschaltung des Instituts vorausgesetzt habe, mit „on the whole, it seems, it did not“62. Zentral im Kontext dieses Aufsatzes ist seine Feststellung, dass während des Zweiten Weltkrieges das Institut und damit auch die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung „moved to the very centre of policy making in wartime Nazi Germany“: Das Wagemann-Institut brachte nicht nur in den von der Wehrmacht besetzten Ländern wie Polen, Frankreich und den Niederlanden dortige Statistische und Wirtschaftsforschungsinstitute unter seine Kontrolle, sondern 1943 de facto gar das Planungsamt von Speers Rüstungsministerium63. Dieser Befund bestätigt die generelle Beobachtung von Monika Renneberg und Mark Walker, dass Wissenschaft und Technik sich im Inferno seines Untergangs sogar als letzte Pfeiler des nationalsozialistischen Staates erwiesen64. Für das Verhältnis von Wissenschaft und Nationalsozialismus heißt dies nun, dass es gerade nicht die Runenforscher, Sektierer und dilettantischen Wissenschaftler waren, welche die nationalsozialistische Expansions- und Vernichtungsmaschinerie mittrugen und am Laufen hielten. Die Beispiele häufen sich: So musste die Einschätzung des sogenannten „Generalplans Ost“, der in Teilen bereits in den fünfziger Jahren publik geworden war und als besonders plastischer Beleg für die Irrationalität der SS-Planungen herhalten musste, revidiert werden. Neuere historische Forschungen zeigen, dass an den monströsen Planungen keineswegs nur SS-Fanatiker beteiligt waren, sondern hunderte von wissenschaftlichen Experten, die als Politikberater oder durch ihre Forschungstätigkeit an der Ausformulierung und versuchten Durchsetzung der Planungen mitwirkten. Als bemerkenswert erwies sich nicht zuletzt die Organisationsform dieses Zusammenwirkens, nämlich in einem langfristig angelegten, disziplinenübergreifenden Großprojekt von Wissenschaftlern und Experten. Eine meist sehr junge akademische Elite, in den Weimarer Jahren beruflich blockiert, stand hier vor unerwarteten Berufs- und Aufstiegsmöglichkeiten, hatte entsprechende Ressourcen zur Verfügung, fand gesellschaftliche Anerkennung und sah sich vor neuen wissenschaftlichen Herausforderungen. An der Formulierung des Gene61 Tooze, Statistical Economics, S. 540; ders., Statistics, S. 177–214, bes. S. 181, 186 sowie 228. 62 Ebenda, S. 182. 63 Ders., Statistical Economics, S. 540; ausführlich ders., Statistics, S. 246–282. 64 Renneberg/Walker, Science, S. 1–29, bes. S. 9.

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ralplans Ost beteiligte sich eine Heerschar wissenschaftlich ausgebildeter Agrar-, Verkehrs- und Verwaltungsexperten, Statistiker, Soziologen, Architekten, Demographen, Geographen, und unter den Geographen nicht so sehr die ideologienahen Teildisziplinen, sondern vor allem die rational und ergebnisorientiert arbeitenden Raumforscher und Landesplaner65. Die Beispiele, die Geistes-, Sozial-, Natur- und Technikwissenschaften gleichermaßen umfassen, lassen sich fortsetzen: die Stichworte Ostforschung, Volksdeutsche Forschungsgemeinschaften66 oder Eugenik/Euthanasie67 müssen hier genügen. Im Gegensatz zur älteren Forschung belegen diese Beispiele die besonders große Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die nationalsozialistische Herrschaftspraxis. Bezogen auf den Aspekt externer wissenschaftlicher Politikberatung lässt sich aus dem Befund ableiten, dass sich die Bürokratie des NSStaates mit einer ganzen Reihe von neuartigen, selbstgestellten Aufgaben konfrontiert sah, für die es noch keine routinemäßigen „endogenen“ Verfahren zur Generierung des notwendigen Wissens gab. In dieser Situation griff sie, zumal im Krieg unter enormem Zeitdruck, auf „exogenes“ wissenschaftliches Wissen zurück, was den wissenschaftlichen Politikberatern die Türen weit öffnete. Es ist eine Konstante auf dem Feld der Politikberatung, dass sie sich besonders schnell und erfolgreich meist dort ansiedelt, wo internes Wissen der Verwaltung nicht zur Verfügung steht, der Handlungsdruck aber besonders hoch ist. Abschließend lässt sich für die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum „Dritten Reich“ zusammenfassen, dass Politik und Wissenschaft in zunehmend enger wechselseitiger Beziehung standen, die Peter Weingart zufolge in entstehenden Wissensgesellschaften als „rekursive Kopplung“ vorzustellen ist68. Politik und Wissenschaft brauchten sich gegenseitig, sie benützten, stabilisierten und legitimierten sich. Selten ist das sowohl instrumentelle als auch legitimatorische 65 Vgl. zusammenfassend Mechtild Rössler/Sabine Schleiermacher (Hg.), Der „Generalplan Ost“. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993. 66 Um nur einige Titel zu nennen: Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Mechtild Rössler, „Wissenschaft und Lebensraum“. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin 1990; Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931 bis 1945, Baden-Baden 1999. 67 Vgl. z. B. Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, Göttingen 1987; Peter Weingart u. a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt 1988. 68 Weingart, Stunde, z. B. S. 140, 159, 168.

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Wechselverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft jedoch deutlicher greifbar als im Nationalsozialismus, als die Politisierung von Wissenschaft und die Verwissenschaftlichung von Politik konvergierten. Bei allen Schwankungen im einzelnen, so Peter Lundgreen, wiesen im Dritten Reich grundsätzlich „alle Indikatoren der institutionell organisierten Forschung auf Wachstum hin, auf Ausweitung, Ausdifferenzierung und Spezialisierung, auf Verwissenschaftlichung von Praxis, auf enge Koppelung zwischen staatlichen, militärischen oder industriellen Wünschen und wissenschaftlichen Anstrengungen“69.

69 Peter Lundgreen, Staatliche hochschulfreie Forschung in Berlin und die NS-Wissenschaftspolitik, in: Wolfram Fischer (Hg.), Exodus von Wissenschaften aus Berlin. Fragestellungen – Ergebnisse – Desiderate. Entwicklung vor und nach 1933, Berlin 1994, S. 116–126, Zitat S. 123.

Wissenschaft und Politik: Politikberatung in der DDR? Von André Steiner Mit zunehmender Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklung war seit dem 19. Jahrhundert der Bedarf an Beratung der Politik durch Experten angestiegen. Diese Fachleute fanden sich meist im Bereich der Wissenschaft. Daher wurde das Verhältnis von Wissenschaft und Politik insbesondere im 20. Jahrhundert enger und mehrdimensionaler: Wissenschaft suchte Politik zu beeinflussen und sah sich selbst von ihr in Anspruch genommen. Gleichzeitig bestimmte die Politik in unterschiedlichem Maße über die Wissenschaftsentwicklung. Das konkrete Verhältnis von Politik und Wissenschaft ergab sich aus dem Stellenwert beider im jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtsystem sowie aus ihrem Selbstverständnis. Für Systeme, die auf einen bestimmten Zweck hin „konstruiert“ wurden, wie dem Staatssozialismus in den osteuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg, ist zu vermuten, daß Expertenwissen in diesem Konstruktionsprozeß einen hohen Stellenwert einnahm. Dieser Vermutung sowie der Funktion und Wirkung solcher Expertise für die Politik in der DDR soll im folgenden nachgegangen werden1. Dazu wird vornehmlich das Feld der Wirtschaftspolitik im weitesten Sinn herausgegriffen, da es sich um einen zentralen Bereich der Gesellschaftskonstruktion handelte. Hieran können die wesentlichen Charakteristika im Verhältnis von Experten und Politik in der DDR exemplifiziert werden, ohne daß diese in anderen Politikbereichen immer vollkommen deckungsgleich sein mußten. Wirtschaftspolitik umfaßt hier sowohl deren Inhalt als auch die genutzten Lenkungsinstrumente, so daß in der nachfolgenden Betrachtung auf die Natur- und Technikwissenschaften ebenso wie auf die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einzugehen ist. Dabei wird zunächst das Selbstverständnis von Politik, Wissenschaft und Experten sowie deren Veränderung behandelt und dann das Verhältnis von Experten und Politik in den verschiedenen Abschnitten der DDR-Geschichte näher beleuchtet. 1 Politikberatung kann zwar auch, aber nicht vollständig als technokratisches Phänomen beschrieben werden. Da die gewiß nicht unproblematische Erörterung von Technokratie unter den Bedingungen des Staatssozialismus allgemein und in der DDR im speziellen eine breitere Herangehensweise erfordert, wird diese Frage hier ausgeklammert. Vgl. zum Problem der Technokratie in der DDR: Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945– 1989, Frankfurt/M. 1992; Peter Hübner, Menschen – Macht – Maschinen. Technokratie in der DDR, in: ders. (Hg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR, Köln u. a. 1999, S. 325–360.

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I. Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft Das in Ostdeutschland im Rahmen der internationalen Nachkriegsentwicklung und mit der deutschen Teilung etablierte politische System war durch die Herrschaft einer Partei, der SED, charakterisiert. Sie erhob den Anspruch, mit diesem System die emanzipative Idee des Sozialismus zu verwirklichen und insbesondere Vollbeschäftigung, Krisenfreiheit und damit die Möglichkeit, die Bedürfnisse aller zu befriedigen, garantieren zu können. Mit der Planung – nicht nur der Wirtschaft, aber vor allem von ihr – wollte man diese Ansprüche umsetzen, aber ebenso die eigene Macht sichern. Aus der Erfüllung dieser Ansprüche leitete die SED die Legitimität ihrer Herrschaft ab, die sie, einmal erlangt, auch behalten wollte. Daraus ergab sich das für alle Bereiche der Gesellschaft gültige Primat der Politik. Die SED beanspruchte, über den für das absichtsvolle Schaffen einer solchen Gesellschaft erforderlichen Gesamtplan zu verfügen. In ihren Augen erlaubte und verlangte die als Wissenschaft deklarierte Ideologie des Marxismus-Leninismus, die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft zu bestimmen. Daher war das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der DDR an erster Stelle dadurch charakterisiert, daß im Verständnis der SED-Spitze ihre Politik per se wissenschaftliche Politik war und das Primat besaß. Daraus machten führende SED-Politiker auch kein Hehl. In den fünfziger Jahren, als der Sozialismus aufgebaut werden sollte, ließ sich die SED, – nach den Worten ihres ersten Mannes, Walter Ulbricht – „die stärkste Partei in Deutschland (. . .), von der wissenschaftlichen Lehre von Marx, Engels und Lenin leiten“2. Ende der fünfziger Jahre, als Wissenschaft und Technik ein höherer Stellenwert in der SED-Politik beigemessen wurde, feierte Ulbricht eines ihrer Produkte, den Siebenjahrplan 1959 bis 1965, als ein „großes wissenschaftliches Werk, das auf der Anwendung der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung beruht“ und daher „mit Fug und Recht (. . .) als ein wissenschaftliches Lehrbuch über die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung bezeichne(t)“ werden kann3. Mit der in den sechziger Jahren in Angriff genommenen Wirtschaftsreform, auf die noch zurückzukommen sein wird, 2 Walter Ulbricht, Die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der SED. Aus dem Referat auf der II.Parteikonferenz der SED 9. bis 12. Juli 1952, in: ders., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. IV, Berlin (Ost) 1954, S. 371–499, hier 498. Ganz ähnlich: ders., Der zweite Fünfjahrplan und der Aufbau des Sozialismus in der DDR. Aus dem Referat der III. Parteikonferenz der SED 24. bis 30. März 1956, in: Ebenda, Bd. V, Berlin (Ost) 1960, S. 669–742, hier 739. 3 Walter Ulbricht, Sozialismus heißt Befreiung der Wissenschaft. Rede zur 550Jahr-Feier der Karl-Marx-Universität Leipzig 12. Oktober 1959, in: ders., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, Bd. VIII, Berlin (Ost) 1965, S. 542–554, hier 547.

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veränderte sich die Semantik der Politikbegründung: die Wirtschaftsreform war „Ausdruck schöpferischer Anwendung des Marxismus-Leninismus“4, was bei gleichbleibender Politikbasis größere Spielräume für Anregungen aus der Wissenschaft implizierte. Nach dem Abbruch der Reform und dem Machtwechsel von Ulbricht zu Erich Honecker 1971 betonte letzterer wieder strikter: „Bekanntlich ermöglicht der Sozialismus zum ersten Mal in der Geschichte die bewußte und planmäßige Gestaltung der gesellschaftlichen Prozesse, und gerade deswegen muß die politische Leitung der Gesellschaft durch die Partei von wissenschaftlichen Grundlagen ausgehen. (. . .) In ihrer gesamten Tätigkeit läßt sich die SED vom Marxismus-Leninismus als der revolutionärsten und fortgeschrittensten Wissenschaft unserer Zeit leiten.“ Letztlich sollte „die von der Partei der Arbeiterklasse angewandte und in den Beschlüssen des VIII. Parteitages der SED ausgedrückte theoretische Erkenntnis zu einer Realität“ werden5. Das solchermaßen nach außen demonstrierte Politikverständnis ging also grundsätzlich davon aus, daß SED-Politik wissenschaftlich begründet war und daß sie selbst wiederum Grundlage für die (Sozial)Wissenschaft und Theoriebildung zu bilden hatte. In diesem Rahmen kam Experten und Expertengremien tendenziell lediglich die Rolle zu, die Leerstellen des Marxismus-Leninismus auszufüllen bzw. dessen Aussagen für den praktischen Gebrauch bei der Gesellschaftsgestaltung zu operationalisieren. Honecker betonte, daß der Marxismus-Leninismus als Politikbasis „natürlich nicht etwa einer Geringschätzung der jeweiligen Fachwissenschaften das Wort (redet), die uns wichtige und unentbehrliche Dienste leisten. Aber ihrem Wesen nach hat die Führungstätigkeit der Partei politischen Charakter und kann darum nicht auf der Grundlage ausschließlich dieser oder jener Fachwissenschaft erfolgen. Politik (. . .) verlangt die Begründung der Hauptziele in diesem oder jenem Abschnitt des Voranschreitens, die dazu notwendige Analyse aller Voraussetzungen und Bedingungen und schließlich die Festlegung eines exakten Programms als Anleitung zum Handeln. Ihr kommt das Primat zu (. . .)“6. Expertise blieb also weitgehend an das Nichtinfragestellen der Grundannahmen bzw. Dogmen des Marxismus-Leninismus sowie der Macht der SED „gebunden“. Selbst die solchermaßen bereits eingegrenzte Expertise blieb von dem von der SED bestimmten Handlungsrahmen bzw. Spielraum abhängig, der von dieser je nach politischer Strategie weiter oder enger gezogen werden

4 Walter Ulbricht, Geistiges Schöpfertum in der Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus. Aus der Rede auf der 9. Tagung des ZK der SED, 26. bis 28. April 1965, in: ders., Zum neuen ökonomischen System der Planung und Leitung, Berlin (Ost) 1966, S. 585–618, hier 588, 608. 5 Erich Honecker, Fragen von Wissenschaft und Politik in der sozialistischen Gesellschaft der DDR, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus 14 (1971), S. 1607–1615, hier 1608, 1615. 6 Ebenda, S. 1608 f.

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konnte. Darüber hinaus unterschied er sich aber je nach Nähe des Wissensgebietes zum Marxismus-Leninismus: in ideologienahen Feldern, die auf den gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch der SED zielten, waren die Wissenschaftsgrundlagen tabuisiert. In anderen Bereichen waren Veränderungen und wissenschaftliche Kritik möglich. Gleichwohl beeinflußte der Marxismus-Leninismus mit seinem umfassenden Anspruch der gesellschaftlichen Werte- und Zielbestimmung auch den Bereich der Natur- und Technikwissenschaften7. II. Die Transformation der Wissenschaften: „Alte“ und „neue“ Intelligenz Als zu beratende Akteure der Wirtschaftspolitik werden im folgenden vor allem die SED-Spitze selbst und ihr Apparat sowie die oberste Instanz der Wirtschaftsbürokratie, die Staatliche Plankommission (SPK) als Querschnittsbehörde betrachtet8. Die von der Politik herangezogenen Experten waren als über besondere Kompetenz für ein Fachgebiet Verfügende in der Regel Wissenschaftler, konnten aber auch erfahrene Praktiker sein. Letzteres war aus Gründen, auf die zurückzukommen sein wird, in der DDR wohl verbreiteter als zu anderen Zeiten deutscher Geschichte. Auch die Experten unterlagen – wie die Gesellschaft insgesamt – einem Transformationsprozeß, in dem sich die SED eine ihr verbundene „neue“ Intelligenz heranbilden wollte. Diese Umwandlung speiste sich aus der „Intelligenzpolitik“ der SED und den sie beeinflussenden Rahmenbedingungen – der deutschen Teilung und sowjetischen Einflußnahme – sowie dem Generationswandel. Dabei diente die sowjetische Praxis der zwanziger Jahre und frühen dreißiger Jahre als Vorbild, das aber entsprechend den spezifischen Verhältnissen in Nachkriegsdeutschland modifiziert werden mußte9. Die „neue“ Intelligenz sollte die deutsche bildungsbürgerliche Tradition zwar staatszentrierter, aber unpolitischer Experten aufbrechen, wobei der SED vor allem deren berufsständische Autonomie und hohe Selbstrekrutierung ein Dorn im Auge war. Infolge des gesellschaftlichen Gestaltungsanspruchs der SED mußten auch hier Unterschiede zwischen den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einerseits und den Natur- und Technikwissenschaften andererseits gemacht werden. Ersteren kam in dem sozialen Transformationsprozeß eine wichtige Deutungs-, Legitimations- und Erziehungsfunktion zu. Daher wurde die personelle und in7 Vgl. Hubert Laitko, Wissenschaftspolitik, in: Andreas Herbst u. a. (Hg.), Die SED. Geschichte – Organisation – Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 405–420, hier 408. 8 Tatsächlich nahmen auf die Gestaltung der Wirtschaftspolitik weitere Akteure in verschiedener Form Einfluß, was aber hier aus Platzgründen nicht im Detail verfolgt werden kann. Siehe: André Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 26 ff. 9 Vgl. zur Sowjetunion: Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985, Göttingen 1993, S. 73–80.

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haltliche Umgestaltung dieser Fächer entsprechend dem dort direkt Raum greifenden Marxismus-Leninismus – nach der Flucht von nazibelasteten Professoren in der unmittelbaren Nachkriegszeit – seit Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre durch Vertreibung der verbliebenen bürgerlichen Lehrkräfte forciert betrieben. Dabei griff man auf wenige ältere, kommunistisch geprägte Wissenschaftler, aber mehr noch auf in Dozentenkursen von staatlichen und SEDLehreinrichtungen ausgebildete neue „Kader“ zurück, die ihre Positionen meist ohne geregelte akademische Laufbahn und unter Umgehung professioneller Zugangskriterien erreichten10. Während der fünfziger Jahre differenzierte sich innerhalb dieser Fächer meist unter Anleitung altkommunistischer, vor 1945 wissenschaftlich sozialisierter Gelehrter11 ein eher kleiner Kreis von Wissenschaftlern heraus, der zwar die Leitlinien des Marxismus-Leninismus nicht in Frage stellte, aber wissenschaftlichen Standards genügen wollte und sich damit kritischen Analysen zuwendete. Der überwiegende Teil der Forscher blieb hingegen in den ideologisch vorgegebenen Denkmustern befangen. Einem kritischeren Zugang zu ihren Gegenständen verpflichtete Sozialwissenschaftler, die in Konflikt mit dem parteioffiziellen Gesellschaftsverständnis gerieten, wurden im Lauf der DDR-Geschichte immer wieder – in mitunter scharfer repressiver Form – in die Schranken gewiesen. Auf das Beispiel der „Behrens/Benary-Affäre“ wird zurückzukommen sein. Diese zumeist unter dem Revisionismus-Verdikt firmierende und oft als Kampagne inszenierte Unterdrückung kritischer Analyse bildete für die in der DDR tätigen Sozialwissenschaftler immer eine mitzudenkende Grenze ihres wissenschaftlichen Zugangs und hatte damit weit über den Einzelfall Bedeutung. In den Natur- und Technikwissenschaften war dagegen ein solcher Wandel der Experten selbst und ihres Wissenschaftsverständnisses nicht auf die Schnelle zu haben. Bedingt durch den langen Ausbildungsweg sowie die weiterhin wirksamen professionellen Standards und Zugangskontrollen zum Studium und den nachfolgenden Professionsstufen durch die „alten“ Ordinarien hätte man anderenfalls einen (nahezu) kompletten Abbruch vorhandenen Wissens und der Ausbildung auf diesen Gebieten riskiert. Daher förderte die SED-Politik in 10 Vgl. im Detail: Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999, passim. Siehe auch: Arnd Bauerkämper, Kaderdiktatur und Kadergesellschaft. Politische Herrschaft, Milieubindungen und Wertetraditionalismus im Elitenwechsel in der SBZ/DDR von 1945 bis zu den sechziger Jahren, in: Hübner, Eliten im Sozialismus, S. 37–65, hier 49. 11 Gleichwohl waren diese „älteren“ Wissenschaftler auf Grund ihrer sozialen Distanz zum weithin proletarischen Anhang der KPD empfänglich für eine Überanpassung. Das begünstigte, daß auch sie sich zumindest zeitweise zur Legitimation politischer Entscheidungen bereit fanden. Vgl. Dietrich Staritz, Partei, Intellektuelle, Parteiintellektuelle. Die Intellektuellen im Kalkül der frühen SED, in: Klaus Schönhoven/ Dietrich Staritz (Hg.), Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag, Köln 1993, S. 378–398, hier 382.

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den fünfziger Jahren zunächst die „Spezialisten“, die, was die überfachlichen Bildungsansprüche anging, ihren eigenen ideologischen Intentionen nicht ins Gehege kamen. Als dieses Konzept aber an der professionellen Diskrepanz zwischen gestandenen Fachvertretern sowie den überfachlich agierenden und mit einem Erziehungsauftrag versehenen Lehrern des Marxismus-Leninismus scheiterte, sollten auch die Natur- und Technikwissenschaftler selbst diese Ideologie propagieren. Diesem Ansinnen entzog sich aber die Generation der vor 1945 akademisch sozialisierten und erfolgreichen Wissenschaftler oft mit Verweis auf ihr von politischen Ansprüchen abgegrenztes Expertentum, das von der SED als „Nur-Fachwissenschaftler-Standpunkt“ oder „Nur-Fachmann“ kritisiert wurde. Solche apolitische Professionalität hielt sich in den „harten“ Wissenschaften bis weit in die sechziger Jahre und war auch der Versuch der älteren Generation, die eigene Handlungsautonomie zu sichern, wovon in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bereits seit Anfang der fünfziger Jahre kaum noch die Rede sein konnte12. Trotz des Expertenhabitus arbeiteten sie im Interesse der eigenen Arbeits- und Lebensumstände mit dem politischen Apparat zusammen. Die neutralen Experten erhielten – erzwungen durch ihre Chancen, eine Arbeit im Westen aufzunehmen – bis zum Mauerbau lukrative Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten. Die den „Spezialisten“ gewährten materiellen Vorteile erstreckten sich auf Sonderrationen, Einkaufsberechtigungen in Spezialläden, Einzelverträge mit höheren Einkommen, bestimmten Warenzuteilungen, größeren Wohnungen bis hin zu Ausbildungsgarantien für die Kinder. Dabei hielt sich die SED an die Leninsche Politik, wonach die „Spezialisten“ „auszunutzen“ seien, solange sozialistische Fachleute noch nicht vorhanden waren13. Jedoch schlug der „alten“ Intelligenz auch Mißtrauen entgegen und übereifrige Partei- und Wirtschaftsfunktionäre unterliefen die Anweisungen für solcherlei Vergünstigungen, woraufhin sie ermahnt wurden, von solchem „sektierischen Verhalten“ abzulassen14. Nach dem Mauerbau 1961 grenzte man die Privilegienvergabe aber immer weiter ein, was auf den herausragenden Stellenwert des doppelten 12 Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur, S. 229–247; ders., Zwischen Bildungspathos und Spezialistentum. Werthaltungen und Identitätskonstruktionen der Hochschullehrerschaft in West- und Ostdeutschland nach 1945, in: Hübner, Eliten im Sozialismus, S. 361–380, hier 372–378. 13 Vgl. Staritz, Intellektuelle, S. 390 f. Siehe: Wladimir I. Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, in: Werke, Bd. 27, Berlin (Ost) 1960, S. 225–268, hier 238 ff. 14 Zur gegenwärtigen Lage und zu den Aufgaben im Kampf für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus. Beschluß der II. Parteikonferenz der SED 9.–12.7.1952, zitiert nach: Zur ökonomischen Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Zusammenstellung von Beschlüssen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands sowie Gesetzen und Verordnungen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, 11.Juni 1945 bis 21.Juli 1955, Berlin (Ost) 1955, S. 133–142, hier 139. Vgl. zu den Gründen für diese Ressentiments auch Agnes Charlotte Tandler, Geplante Zukunft. Wissenschaftler und Wissenschaftspolitik in der DDR 1955–1971 (Freiberger Forschungshefte, D 209 Geschichte), Freiberg 2000, S. 14.

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akademischen Arbeitsmarktes in West und Ost für die Handlungsoptionen der Wissenschaftler als auch auf die begrenzten Einflußmöglichkeiten seitens der SED-Politik bis 1961 verweist15. In den sechziger Jahren rückte jedoch auch in den Natur- und Technikwissenschaften die „neue“ Intelligenz nach, ohne die vor 1945 geprägte Generation schon gänzlich zu ersetzen. Indem die SED parallel zu der zunächst erfolgten Instrumentalisierung der vorgefundenen „alten“ Intelligenz eine „neue“ Intelligenz heranbildete, gelang es ihr tendenziell, daß die Experten die von ihr gezogenen Handlungs- und Wirksamkeitsgrenzen internalisierten. Das schloß „Eigensinn“ oder Beharren auf der Sachlogik wissenschaftlicher Expertise nicht aus, wobei auf Unterschiede zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften sowie auf den Wandel in den verschiedenen Abschnitten der DDR-Geschichte zu verweisen ist. Gleichwohl veränderten sich Interessen, Motivationen und Rollenverständnis der Wissenschaftler. Nicht zuletzt unterlagen aber auch die generelle thematische Ausrichtung der Forschung, die Höhe und strukturelle Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie die Festlegung der Leitungskompetenzen Entscheidungen der SED-Spitze. Insofern ist also das in der sozialwissenschaftlichen Diskussion über Politikberatung implizit unterstellte duale Modell von klar gegeneinander abgrenzbaren Teilsystemen Politik und Wissenschaft für die DDR zu verwerfen16. Daher erscheint aus theoretischer Perspektive die Anwendung des Begriffs der Politikberatung für die DDR problematisch. Gleichwohl soll er im folgenden pragmatisch weiter verwendet werden. Wie aber gestaltete sich unter diesen Rahmenbedingungen die Politikberatung in der DDR in den verschiedenen Zeitabschnitten? III. Die fünfziger Jahre: Zunehmende Inanspruchnahme natur- und technikwissenschaftlicher Expertise In den frühen fünfziger Jahren glaubte die SED-Spitze, mit den Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus und den sowjetischen Erfahrungen über genügende Handlungsorientierung für die eigene Politik zu verfügen. Das wurde auch als ausreichend betrachtet, um die in der sozialen Umgestaltung tendenziell stattgefundene Entprofessionalisierung des verantwortlichen Führungspersonals zu kompensieren. Gleichwohl sollte die gesellschaftliche Entwicklung zwar vor allem von der Wirtschaftswissenschaft17 analytisch begleitet werden, ohne daß man daraus aber politische Konsequenzen ableiten wollte. Tatsächlich 15

Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur, S. 207–218. Vgl. relativierend zu diesem Modell: Renate Mayntz, Politikberatung und politische Entscheidungsstrukturen: Zu den Voraussetzungen des Politikberatungsmodells, in: Axel Murswieck (Hg.), Regieren und Politikberatung, Opladen 1994, S. 17–29, hier 17. 17 Andere Sozialwissenschaften unterlagen zu dieser Zeit noch einem Verdikt. 16

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blieb die Wirtschaftswissenschaft von Ausnahmen abgesehen affirmativ. Sowjetisch-stalinistisches Wirtschaftsverständnis war überwiegend die Grundlage wissenschaftlicher Betrachtung. Die Partei griff aber auch direkt in die Theoriebildung ein, indem bestimmte Theoreme oder ganze Wissenschaftsgebiete privilegiert oder abgelehnt wurden (Soziologie)18. Das betraf vor allem die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften; jedoch auch die Naturwissenschaften (Lyssenko-Debatte) ebenso wie dazwischen liegende Wissenschaftsfelder (Auseinandersetzungen um Kybernetik und Psychologie) beeinflußte man in dieser Weise. Dort, wo die SED-Spitze in den fünfziger Jahren wirtschaftlichen Sachverstand nachfragte, griff sie eher auf „Praxisvertreter“, wie einige renommierte Betriebsdirektoren, zurück, weil sich der überwiegende Teil der Wirtschaftswissenschaftler in scholastischen Spielereien verloren hatte. Daher gehörte es in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu den Standardforderungen Ulbrichts, daß sich die Wirtschaftswissenschaften den „Grundfragen, die das Leben auf die Tagesordnung setzt“, oder den „theoretischen Problemen, die durch die Praxis des entfalteten Aufbaus des Sozialismus aufgeworfen werden“, zuwenden sollten19. Davon und durch das „Tauwetter“ ab Mitte der fünfziger Jahre ermutigt, wurden dann durch Fritz Behrens und Arne Benary Probleme und Defizite der wirtschaftlichen Entwicklung in der wissenschaftlichen Debatte angesprochen und Lösungsvorschläge gemacht. Angesichts der polnischen und ungarischen Ereignisse des Jahres 1956 brandmarkte die SED-Spitze das jedoch als Kritik an der Parteipolitik und „Revisionismus“ und unterdrückte diese Auffassungen. Dabei hatten die beiden nicht einmal den Boden der herrschenden Vorstellungen verlassen, sondern nur bestimmte Konsequenzen des Marxismus klar benannt20. Solche Positionen waren zwar gegenüber dem kanonisierten Marxismus-Leninismus als Ideologie tatsächlich revisionistisch, wenngleich sie auch nicht auf 18 Vgl. zur Soziologie: Helmut Steiner, Zur Soziologie des Neubeginns nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik 1988, Berlin (Ost) 1988, S. 228 ff.; ders., Aufbruch, Defizite und Leistungen der DDR-Soziologie: die 60er Jahre, in: Hans Bertram (Hg.), Soziologie und Soziologen im Übergang. Beiträge zur Transformation der außeruniversitären soziologischen Forschung in Ostdeutschland, Opladen 1997, S. 223–262. 19 Vgl. u. a. Walter Ulbricht, Das Gesetz über den Siebenjahrplan und die Aufgaben der Partei bei der Durchführung des Planes in der Industrie. Aus dem Referat auf der 6.Tagung des ZK der SED am 18.9.1959, in: ders., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. VIII, S. 470–524, hier 502 f. 20 Vgl. Susanne Becker/Heiko Dierking, Die Herausbildung der Wirtschaftswissenschaften in der Frühphase der DDR, Köln 1989, S. 407–473; Günter Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR, Marburg 1998, S. 121–136; Eva Müller/Manfred Neuhaus/ Joachim Tesch (Hg.), „Ich habe einige Dogmen angetastet . . .“. Werk und Wirken von Fritz Behrens, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 1999; Helmut Steiner, Das Akademie-Institut für Wirtschaftswissenschaften im Widerstreit wissenschaftlicher, ideologischer und politischer Auseinandersetzungen, in: Sitzungsberichte der LeibnizSozietät 36, 2000, S. 89–124; Peter C. Caldwell, Productivity, Value, and Plan: Fritz Behrens and the Economics of Revisionism in the German Democratic Republic, in: History of Political Economy 32 (2000) S. 103–137.

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einen Systemwechsel zielten, sondern auf eine sachliche und theoretisch fundierte Reflexion sozialer Entwicklung. Aber ein solcher Revisionismus – also das Ergänzen ideologischer Prämissen durch der Sachlogik gesellschaftlicher Teilbereiche entsprechendes Nachdenken – war wiederum die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von sozialem Expertenwissen durch die Politik. Jedoch wurden deren Träger, wie Behrens aber auch andere, aus purem Machtkalkül zunächst politisch geächtet und zum Widerruf gezwungen. Gleichzeitig stellte man sich in den frühen fünfziger Jahren vor, daß die planwirtschaftliche Produktionsweise technischen Fortschritt, d.h. technologische Innovationen, endogen generieren würde bzw. neue natur- oder technikwissenschaftliche Erkenntnisse problemlos ihren Niederschlag in der Wirtschaft finden würden. Im Verlauf der fünfziger Jahre zeigte sich jedoch zunehmend, daß die Produkte der DDR-Wirtschaft im technischen Niveau zurückblieben und naturund technikwissenschaftliche Erkenntnisse sich nicht quasi von selbst wirtschaftlich umsetzten. Ausgehend von dem ungebrochenen Glauben an die grundsätzliche Überlegenheit der Planwirtschaft und unterstützt von sowjetischen Wissenschaftserfolgen, die im Westen den „Sputnik-Schock“ auslösten, sowie wachsender Einsicht in die Rolle von Wissenschaft und Technik („Produktivkraft Wissenschaft“) meinte man daraufhin, mit einer Institutionalisierung natur- und technikwissenschaftlicher Expertise für den (wirtschafts)politischen Entscheidungsprozeß dieses Manko beseitigen zu können. Das schlug sich am deutlichsten in der 1957 erfolgenden Gründung des Forschungsrates nieder21, dem neben ausgewählten Wirtschaftspolitikern die führenden Natur- und Technikwissenschaftler angehörten, die zumeist vor 1945 sozialisiert und nach dem Krieg oft in der Sowjetunion tätig gewesen waren. Gerade deren Erfahrungen mit der Wissenschaftsplanung und Durchführung großer Forschungsprojekte sowie das Vertrauen, das sie seitens der Sowjetunion genossen, erhöhte auch für die SED-Spitze das Prestige des Forschungsrats und erklärt seinen Einfluß22. Der Vorsitzende des Forschungsrates, Peter Adolf Thießen23, meinte nach ei21 Bereits in den Jahren zuvor gab es Versuche innerhalb der die Industrie leitenden Wirtschaftsbürokratie natur- und technikwissenschaftliche Beratungsgremien zu installieren, die aber kaum praktisch wirksam wurden. Vgl. Tandler, Geplante Zukunft, S. 56 ff., 72. 22 André Steiner, The Return of German „Specialists“ from the Soviet Union to the German Democratic Republic: Integration and Impact, in: Matthias Judt/Burghard Ciesla (Hg.), Technological Transfer Out of Germany After 1945, Amsterdam 1996, S. 119–130, hier 127. Dabei kann hier nur darauf verwiesen werden, daß es personelle Kontinuitäten (Thießen, Ardenne) zwischen dem im Zuge des nationalsozialistischen Vierjahresplan gegründeten Reichsforschungsrat und dem DDR-Forschungsrat gab, der damit als eine Fortsetzung des ersteren über den sowjetischen Umweg erscheint. Allerdings bedarf es näherer Untersuchungen, inwieweit sich diese Verbindungslinien auch inhaltlich zeigten. Vgl. Tandler, Geplante Zukunft, S. 79 f. Auf eine dem zugrunde liegende Kontinuität technokratischen Denkens verwies: Hübner, Menschen – Macht – Maschinen, S. 335.

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nem Jahr feststellen zu können, daß „gewisse Thesen des Forschungsrates (. . .) jetzt zum gesicherten Gedankengut (gehören)“. Gleichzeitig hob er die Rolle dieses Gremiums als die eines kollektiven Beraters hervor und betonte: „Wenn sich die obersten Exponenten unserer Staatsführung derartige Gedankengänge zu eigen machen und aussprechen, übernehmen sie damit auch die Verantwortung für die Durchführung.“24 Im gleichen Sinn bestand er wenige Monate später darauf, „daß der Forschungsrat unter allen Umständen verpflichtet ist, auf Grund objektiv nachprüfbarer Tatbestände die Wahrheit und nur die Wahrheit zu berichten. Die Entscheidung, ob ein bestimmter Zusammenhang, der beobachtet wird, aus Gründen der Staatsräson ignoriert werden sollte oder wichtig genommen werden muß, ist nicht unsere Sache, sondern in allen Fällen Sache der Regierung. (. . .) Sache des Forschungsrates ist es, dafür zu sorgen, daß die Regierung immer im Besitz der notwendigen Unterlagen ist, um Entscheidungen zu treffen (. . .)“25. Dieses – sicher auch der Politik vorauseilend entgegenkommende und überhöht formulierte – Selbstverständnis vom neutralen Experten lag ganz im Interesse der Verantwortlichen in der SED-Spitze und der Regierung26. Der Forschungsrat machte vor allem Vorschläge zur Ausbildung und zum Einsatz von Absolventen an Hochschulen sowie für die Hauptaufgaben der Forschung und Technik und war an der Beurteilung von Investitionsvorhaben beteiligt. In diesen Angelegenheiten hat er wohl erfolgreich beraten. Darüber hinaus war er in die Planung der Forschung einbezogen, die bis Anfang der sechziger Jahre für alle, insbesondere aber die wirtschaftlich verwertbaren Wissenschaften – gegen alle Widerstände – weitgehend durchgesetzt worden war. Er entwickelte sich ab Anfang der sechziger Jahre tendenziell von einem Konsultativgremium zu einer Planungsinstanz, ohne aber den beratenden Charakter vollkommen aufzugeben, was seine Position in den sechziger Jahren zunehmend ambivalent machte. Die Hoffnungen, die mit der stärkeren Einbeziehung der natur- und technikwissenschaftlichen Experten verbunden worden waren, konnten sich aber nicht erfüllen, weil der wirtschaftliche Koordinationsmechanismus im Prinzip nicht geändert wurde und seine Innovationshemmnisse bestehen blieben27. Gleich23 Siehe zur Person: Helmut Müller-Enbergs/Jan Wielgohs/Dieter Hoffmann (Hg.), Wer war Wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Berlin 2000, S. 850. 24 Niederschrift der 8. Sitzung des Forschungsrates am 12. September 1958, in: BArch (Bundesarchiv) Berlin DF4/360, Bl. 223. Besonders die Übernahme des vorgeblich von Thießen geprägten Wortes „intelligenzintensiv“ durch die „staatliche und politische Prominenz“ reklamierte der Forschungsrat „mit Vergnügen“ für sich. Vgl. Ebenda, Bl. 214. 25 Zusammengefaßte Niederschrift über die 10. Sitzung des Forschungsrates der DDR am 29. Januar 1959, in: BArch Berlin DF4/362, Bl. 113 f. 26 Vgl. Ebenda, Bl. 126 ff. 27 André Steiner, Anschluß an den „Welthöchststand“? Versuche des Aufbrechens der Innovationsblockaden im DDR-Wirtschaftssystem, in: Johannes Abele/Gerhard

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wohl erlangte die „alte“ Intelligenz infolge dieses Bedeutungszuwachs neben den bereits erwähnten materiellen auch immaterielle Privilegien. Dazu gehörte, daß vor allem ab der zweiten Hälfte der fünfziger bis in die sechziger Jahre hinein führende Vertreter der SED-Spitze oder der Regierung regelmäßig mit den führenden „älteren“, parteilosen Wissenschaftlern über wissenschaftliche und allgemeinpolitische Fragen berieten. Diese Begegnungen wurden „ausdrücklich als gleichberechtigte Begegnungen zweier Eliten – der politischen und der wissenschaftlichen – arrangiert“28. In ihnen wurden Probleme zur Sprache gebracht, die den renommierten Forschern bei der Realisation ihrer Arbeiten in der DDR begegneten, was zumindest bis zum Mauerbau nicht selten unmittelbar politische Konsequenzen nach sich zog29. Ebenso wandten sich diese Wissenschaftler an die SED-Spitze, meist an Ulbricht persönlich, um Vorschläge für die weitere Politikgestaltung zu unterbreiten30. Schließlich führte das bei manchem zu Illusionen über seinen Einfluß als Experte auf die SEDSpitze31. Daraus nährte sich das Selbstbewußtsein dieser Wissenschaftler und ihre Attitüde des unpolitischen Experten, daß sich in der von Thießen kolportierten Aussage niederschlug: „(. . .) die Nazis haben wir beschissen, und die Kommunisten bescheißen wir ganz genauso.“32 Jedoch galt letztlich auch für den Forschungsrat, daß die Grenzen seines Einflusses von der SED gezogen wurden. Das zeigte sich offen, als der Forschungsrat nach seiner Neukonstituierung 1962 eine SED-Parteigruppe zu bilden hatte, damit diese die Arbeit des Forschungsrats entsprechend den Direktiven der Partei absichere33. Alles in allem ließen sich zwar vereinzelt Ministerien bereits seit den frühen fünfziger Jahren aus dem Bereich der Natur- und Technikwissenschaften beraBarkleit/Thomas Hänseroth (Hg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 71–88, hier 73 ff. 28 Laitko, Wissenschaftspolitik, S. 415. 29 Siehe u. a. Apel an Ulbricht, 28.10.60: Zusammengefaßter Bericht über Ergebnisse der Aussprache mit den Professoren Manfred von Ardenne und Hartmann vom VEB Vakutronik Dresden, 21.10.60, SAPMO-BA (Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv) NY4182/980, Bl. 7–19. 30 Vgl. beispielsweise Forschungsinstitut Manfred von Ardenne an Mittag, 7.11.68: Systemtheoretische Betrachtungen zur Optimierung des Regierens. Studie zur Regierungsstruktur im kybernetischen System der Gesellschaft von Manfred von Ardenne und Frank Rieger, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/367. Aus dem Anschreiben ist ersichtlich, daß Ardenne Ulbricht mit diesen Überlegungen bereits mündlich vertraut gemacht hatte. Ardenne betrachtete den Forschungsrat von Anfang an als sein Forum und seinen Draht zur Macht. Vgl. zu Ardenne und dem Inhalt der Vorschläge: Tandler, Geplante Zukunft, S. 132, 326–329. 31 Siehe: Otto Walter an Ulbricht, 14.7.61: Betr. Prof. Thießen, 13.7.61, SAPMOBA NY4182/980, Bl. 71–74. 32 Hartmut Linde, in: Guntolf Herzberg/Klaus Meier, Karrieremuster. Wissenschaftlerporträts, Berlin 1992, S. 17–39, hier 21. 33 Disposition für die Konstituierung der Parteigruppe des Vorstandes des Forschungsrates am 14. Juni 1962, SAPMO-BA DY30 IV2/607/35.

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ten. Aber die eigentliche Institutionalisierung natur- und technikwissenschaftlicher Politikberatung erfolgte mit der Gründung des Forschungsrates im Jahr 1957. Praktisch erfolgte dabei eine „wechselseitige Indienstnahme“ von Politik und (Natur-)Wissenschaftlern: die SED-Spitze war auf die Fachkompetenz der Experten angewiesen und diese konnten ihre Nachkriegskarrieren einschließlich ihrer Lebensbedingungen stabilisieren bzw. verbessern34. Von seiten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sah die Politik in den fünfziger Jahren im wesentlichen keinen Beratungsbedarf, weil man mit dem Marxismus-Leninismus und den sowjetischen Erfahrungen über ausreichendes Orientierungswissen zu verfügen glaubte. Vielmehr bestimmte die Politik selbst in einem hohen Maße über diese Wissenschaften. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre zeigte die SED-Spitze angesichts offenkundiger Ineffizienzen und Aporien des Wirtschaftssystems und einer augenscheinlich weltweit sich beschleunigenden technischen Entwicklung ein wachsendes Interesse an Sachexpertise, dem die nun nach und nach verfügbare „neue“ Intelligenz auch systemgerecht nachkommen konnte. Allerdings war dieses Interesse zunächst noch nicht durchgängig zu erkennen und gerade im natur- und technikwissenschaftlichen Bereich blieb man noch auf die Generation der vor 1945 wissenschaftlich Sozialisierten angewiesen. IV. Die sechziger Jahre: Reformen und wachsender Stellenwert der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Die Existenzkrise der DDR 1960/61 und die in Folge des Mauerbaus grundlegend geänderten Rahmenbedingungen politischen Handelns zwangen die SED-Spitze und ermöglichten es ihr, in den sechziger Jahren eine Wirtschaftsreform unter der Bezeichnung „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖS) bzw. ab 1967 „Ökonomisches System des Sozialismus“ (ÖSS) in Angriff zu nehmen. Mit ihr sollte das zentralistisch planwirtschaftliche Lenkungssystem dezentralisiert und mehr mit monetär orientierten Instrumenten – wirtschaftlichen Anreizen – gelenkt werden. Bereits bei der Vorbereitung und der Ausarbeitung des Reformprogramms wurden 1962/63 Arbeitsgruppen in verschiedenster Zusammensetzung tätig, die entweder für einzelne Branchen bzw. Querschnittsgebiete Entwicklungstrends, Voraussetzungen und Probleme des Inhalts der Wirtschaftspolitik oder aber die Grundsätze für ein verbessertes Planungssystem bestimmen sollten. Ihnen gehörten neben Wirtschaftspraktikern auch immer Wissenschaftler an, wobei allerdings Vertreter der parteieigenen Institute überwogen35. Dieser erhöhte Bedarf an Sachexpertise 34 Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur, S. 314. Vgl. sich etwas in den Details verlierend: Tandler, Geplante Zukunft, S. 89–95, 129–138. 35 Steiner, DDR-Wirtschaftsreform, S. 51 f., 57 f., 62 f. Vgl. auch: Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR, S. 148 f.

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war eine Folge davon, daß man die Regeln des Wirtschaftens neu „konstruieren“ wollte, nachdem sich gezeigt hatte, daß die Vorgaben des Marxismus-Leninismus allein für eine effiziente Produktionsweise nicht ausreichten. Aus der 15 Personen umfassenden zentralen Arbeitsgruppe, die schließlich die verschiedenen Entwürfe und Ausarbeitungen zusammenführte, ist der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Wolf hervorzuheben, der als Behrens-Schüler während der Revisionismus-Kampagne Ende der fünfziger Jahre in einen Betrieb versetzt worden war und Anfang 1963 zum stellvertretenden Direktor des Ökonomischen Forschungsinstituts der SPK avancierte. Außerdem ist in unserem Zusammenhang Wolfgang Berger, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Ulbricht und ebenso ein Schüler von Behrens von besonderem Interesse. Er knüpfte in der Reformzeit die Verbindungen zwischen Wirtschaftswissenschaftlern und Ulbricht. Allerdings fungierte er nicht nur als Mittler zwischen Wissenschaft und hoher Politik, sondern war mehr ein Akteur letzterer36. In den Diskussionen der verschiedenen Gruppen blieben wohl die Erfahrungen der vertretenen Wirtschaftsinstanzen entscheidend. Wissenschaftliche Überlegungen spielten – so scheint es – eine geringere Rolle, obwohl der Reformdiskurs ein differenzierteres theoretisches Verständnis von der Wirtschaft des Staatssozialismus als bis dahin üblich voraussetzte. Das Reformprogramm wurde schließlich einer im Juni 1963 von der SED-Spitze und der Regierung veranstalteten Wirtschaftskonferenz vorgelegt, auf der das Führungspersonal der Wirtschaft, Parteifunktionäre sowie Wissenschaftler mit ihm vertraut gemacht und auf seinen Inhalt eingeschworen werden sollten37. Für die notwendigen Präzisierungen und Weiterentwicklungen, die das Konzept erst praktikabel machen sollten, wurde eine in der DDR neue Beziehung zwischen Wirtschaftswissenschaft und -praxis angestrebt. Dazu hatte die SED bereits Ende 1962 eine wirtschaftswissenschaftliche Konferenz vorbereitet, mit der die Wissenschaftler über den bisher einbezogenen kleinen Kreis hinaus in die Reformvorbereitungen einbezogen und mit den Praktikern in Verbindung gebracht werden sollten, um ihren Einfluß auf Diskussion und Konzeptualisierung der Reform auszuweiten38. Dabei wollte man offenbar unkonventionellen und innovativen Ideen Raum geben. Aber die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt wandelte sich nur langsam. Daher blieben auch auf dieser Konferenz die Vorträge und Wortmeldungen vielfach allgemein und bezogen sich nur wenig 36 Vgl. zu Berger: Jörg Roesler, Demokratische und technokratische Wirtschaftsreformer in der DDR. Die politischen Schicksale von Fritz Behrens und Wolfgang Berger, in: WeltTrends Nr. 18, Frühjahr 1998, S. 115–130; auch in: Müller u. a., „Ich habe einige Dogmen angetastet . . .“. 37 Walter Ulbricht, Das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in der Praxis. Wirtschaftskonferenz des ZK der SED und des Ministerrates der DDR 24. und 25. Juni 1963, Berlin (Ost) 1963. 38 Abt. Planung und Finanzen an Mittag: Vorbereitung der Konferenz . . ., 20.11.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/671.

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auf die anstehenden Fragen der Veränderung im Lenkungsmechanismus. Entsprechend enttäuscht waren die Organisatoren aus dem Parteiapparat39. Die „jungen und vorwärtsdrängenden“ Wissenschaftler, die die Parteifunktionäre gern gesehen hätten, meldeten sich zumindest auf dieser Konferenz nicht zu Wort40. Mit Blick auf die gerade fünf Jahre zuvor stattgefundene „Revisionismus-Debatte“ erstaunt die Zurückhaltung nicht. Das Verdikt der SED hatte auch dafür gesorgt, daß in der Forschung zur „politischen Ökonomie des Sozialismus“ vielfach dogmatisch an „überlebten Lehrsätzen“ festgehalten wurde, was die ZK-Abteilung Wissenschaft nun aber beklagte41, weil die neuen Ideen fehlten. Bis die Wirtschaftswissenschaftler bei der Ausarbeitung der Reform über den Kreis der unmittelbar in die benannten Arbeitsgruppen einbezogenen mit eigenen Vorschlägen aktiv wurden, verging schließlich nahezu ein Jahr. Voraussetzung dafür war unter anderem auch, daß die SED ihren Beratungsbedarf glaubhaft machte und damit Grenzen ihres ansonsten als omnipotent behaupteten Wissens über den zu beschreitenden Weg gesellschaftlicher Entwicklung zumindest in diesem wesentlichen Teilbereich zugab. Das geschah indirekt, indem Ulbricht mehrfach Experimente als Mittel guthieß, mit denen Richtung und Ausmaß der Veränderungen zu bestimmen seien. Neu war, daß ein Instrument der „exakten“ Wissenschaften genutzt werden sollte, um im „sozialen Laboratorium“ das Verhalten von Wirtschaftseinheiten durch Modifikationen des Institutionengefüges zu optimieren. Auf diesem Weg sollte die als offen verstandene Reform weiterentwickelt und neuen Erkenntnissen angepaßt werden, wofür wiederum die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle zu spielen hatten. Dabei war – wie bereits während der Konzeptualisierung der Reform – das Ende 1962 gebildete Ökonomische Forschungsinstitut der SPK entscheidend. Die Aktivitäten in den anderen Forschungseinrichtungen sollte ein Beirat für ökonomische Forschung bei der SPK koordinieren, der sich im Juni 1963 konstituierte. Er umfaßte neben einem Arbeitskreis zu den wissenschaftlichen Grundlagen für das NÖS insgesamt unter der Leitung von Wolf weitere sieben Gruppen zu einzelnen Schwerpunkten. In diesem Beirat und seinen Gruppen waren Wissenschaftler aus verschiedenen Institutionen vertreten42. Behrens führte den Arbeitskreis zum „Nutzeffekt der Arbeit“, hielt sich aber ansonsten bei der Konzeptualisierung und Realisierung der Reform eher zurück. Es war jedoch für den gesamten Reformzeitraum kennzeichnend, daß Öko39 Vgl. die Einschätzungen zu dieser Konferenz in: SAPMO-BA DY30 IV A2/ 2021/635. 40 Abt. Planung und Finanzen: 1.Information über die Konferenz der Wirtschaftswissenschaftler . . ., 6.12.62, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/635. 41 Abt. Wissenschaft: Zur Entwicklung der Forschung in der Politischen Ökonomie des Sozialismus, 16.2.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/904/190. 42 Information über die konstituierende Sitzung des „Beirates für ökonomische Forschung“ am 19.6.63, 24.6.63, BA DE1/41819.

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nomen stärker als früher (und nachher) in die Arbeit der verschiedensten Gremien einbezogen wurden und viele Fragen offener diskutiert werden konnten43. Die einbezogenen Wissenschaftler gehörten überwiegend der in der DDR wissenschaftlich sozialisierten Generation an, die damit in ihrem Selbstverständnis die Chance erhielten, die von der SED behauptete wissenschaftliche Gesellschaftsgestaltung tatsächlich zu realisieren. Dabei fühlten sie sich durch dieses Angebot auch ernst genommen und „geehrt“, was wiederum die Neigung begünstigte, die Spielregeln des von der SED initiierten Diskussionsprozesses einzuhalten: Neues konnte erörtert werden, aber die theoretischen und politischen Systemprämissen waren nicht in Frage zu stellen. Die Öffentlichkeit blieb von diesem Diskurs – bis auf einen kurzen Zeitabschnitt zwischen 1963 und 1965 – ausgesperrt. Die in die Entscheidungsvorbereitungen einbezogenen Arbeitsgruppen waren jedoch – ähnlich wie bereits beim Forschungsrat – nicht allein mit Wissenschaftlern, sondern ebenfalls mit Partei- und Wirtschaftsfunktionären besetzt. Dieser Hybridcharakter war Spiegelbild zum einen des immer wieder geforderten Praxisbezugs von Wissenschaft und zum anderen des nach wie vor bestehenden Kontrollanspruchs der Politik gegenüber den Wissenschaftlern. Dabei regten die Wissenschaftler manches an, aber es war die Ausnahme, wenn von ihnen entwickelte Konzepte unmittelbar wirksam wurden. Allein das Ökonomische Forschungsinstitut der SPK hatte direkt Einfluß auf die Konzepte der Wirtschaftsreform, wobei dort aber auftragsgemäß eher eine pragmatisch orientierte Forschung dominierte. Erleichterte manchem der staatlich Verantwortlichen seine Sozialisation als Wissenschaftler den Zugang zu theoretischen Überlegungen, so waren diese jedoch für die konkrete Entwicklung des Lenkungsund Koordinationsmechanismus vielfach nicht relevant. Letztere wurde – wie Wolf 1966 auf einer Konferenz bekannte44 – vielmehr von pragmatischen Überlegungen in den zentralen Wirtschaftinstanzen und dem Parteiapparat sowie von einzelnen Vertretern aus den Branchenleitungen und Betrieben bestimmt. Zudem hatte die Wirtschaftswissenschaft auf Grund politischer Restriktionen und der Selbstbeschränkung ihrer Vertreter bei einigen im Sozialismusverständnis besonders sensiblen theoretischen Grundfragen wenig zur Erklärung beizutragen. So fehlte dem „System ökonomischer Hebel“ während der gesamten Reformperiode eine konsistente wert- und geldtheoretische Grundlage45. Vielfach waren die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften auf einer dem Marxismus entsprechend hohen Abstraktionsstufe stehen geblieben. Die für eine Lenkung der Wirtschaft und anderer gesellschaftlicher Bereiche zu operationalisierenden Ansätze lagen bis dahin kaum vor. Man hatte diesen Wissenschaftsbereich bis da43

Vgl. auch: Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR, S. 147–154. Herbert Wolf, Probleme der Planung und des Marktes, in: Wirtschaftswissenschaft 14, 1966, S. 976–984, hier 977 f. 45 Darauf wies U. Busch hin in: Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR, S. 177. 44

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hin überwiegend als marxistisch-leninistische Ideologie verstanden und es fehlte häufig der Bezug zu realen makro- und mikroökonomischen Zusammenhängen. Generell unterstellte man, daß mit dem formal gesellschaftlichen, real staatlichen Eigentum die Interessen der Wirtschaftseinheiten mit denen der Zentrale, der die Kenntnis der volkswirtschaftlichen Erfordernisse zugeschrieben wurde, identisch waren. Daher hatte man z. B. eine Betriebswirtschaftslehre für überflüssig gehalten. Auch volkswirtschaftliche Betrachtungen bewegten sich überwiegend im Bereich abstrakter Gesetze der politischen Ökonomie. Pragmatische oder die Theorie operationalisierende Ansätze kamen kaum vor. Da nun aber mit der Reform faktisch anerkannt wurde, daß es auch in diesem Wirtschaftssystem unterschiedliche Interessen gab, wurden solche Konzepte benötigt. Insgesamt entwickelte sich unter den Anforderungen der Reform die Wirtschaftswissenschaft deutlich anwendungsorientierter und prozeßbezogener als in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, als man auf einer sehr viel theoretischeren Ebene beispielsweise um die Existenz und den Charakter des Wertgesetzes im Sozialismus gerungen hatte46. Jetzt sollte, ausgehend von westlichen Managementmethoden, über die sich Ulbricht schon mal persönlich unterrichten ließ47, beispielsweise die „sozialistische Wirtschaftsführung“ als Wissenschaftsdisziplin etabliert werden. Im Zusammenhang mit der Reform wurden auf diese Weise die Positionen des „Revisionismus“ der fünfziger Jahre stillschweigend rehabilitiert, denn schließlich bildeten sie – wie bereits angeführt – die Voraussetzung dafür, der Sachlogik auch in politischen Entscheidungen mehr Raum zu geben. Aber die „Freiheiten“ für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler blieben begrenzt. Wenn bestimmte Kerntheoreme in Frage gestellt wurden oder sich zentrale Instanzen durch wissenschaftliche Aussagen angegriffen fühlten, konnte dies scharfe Reaktionen hervorrufen, die zwar nicht mehr so drastisch wie in den fünfziger Jahren, aber für die Betroffenen durchaus spürbar waren48. Hin und her gerissen zwischen den Forderungen der Partei, neue Ideen zu entwikkeln und Bestehendes wissenschaftlich zu legitimieren, hielten sich nicht wenige Ökonomen zurück49.

46 Vgl. Ulrich Busch, Theoriedefizite des NÖS, in: „. . . eine spannende Periode in der Wirtschaftsgeschichte der DDR“. Entstehen und Abbruch des Neuen Ökonomischen Systems in den sechziger Jahren (Pankower Vorträge, Heft 23), Berlin 2000, S. 36–43, 39. 47 Ulbricht an Apel und Neumann, 20.7.63, SAPMO-BA NY4182/969; SPK: Information für die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des ZK der SED, 19.8.63, BA DE1/42804. 48 Ein frühes Beispiel in: ÖFI bei der SPK: Einschätzung des Artikels Haustein, H.-D./Scheibler, R.: „Einige Probleme . . .“ Wirtschaftswissenschaft 9/63, 21.9.63, SAPMO-BA DY30 IV A2/2021/249. 49 Vgl. Arnim Beyer, Die Diskussion um das „Neue Ökonomische System“ in Mitteldeutschland, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 18 (1967) S. 355–393, hier 374 ff.

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Trotz der Defizite in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften war für die Zeit der Reform kennzeichnend, daß alles „wissenschaftlich“ zu erfolgen hatte, eine Standardvokabel in jenen Jahren, mit der man an den Sachverstand appellierte sowie Variantenvergleiche und exakte Berechnungen forderte, wo früher allein politische Kalküle eine Rolle gespielt hatten. Mit derlei Wissenschaftlichkeit glaubte man, den Stein der Weisen gefunden zu haben. Das hatte insofern einen rationalen Kern, als der Anspruch, die Volkswirtschaft ex ante lenken zu können, dazu zwang, den Entwicklungspfad im vorhinein zu bestimmen, was nur von der Wissenschaft geleistet werden konnte. Die Frage, ob Wissenschaft dazu in der Lage sei, wurde grundsätzlich bejaht. Man sah dies vor allem als Problem ihrer Weiterentwicklung. Die „neuen“ Wissenschaftsentwicklungen hatten dem Führungspersonal aller Ebenen als Grundlage für ihre Tätigkeit zu dienen. Dessen wissenschaftlich fundierte Ausbildung stand während der Reform immer im Mittelpunkt der SED-Forderungen, weil man sich davon die Verfachlichung und Versachlichung wirtschaftlichen Handelns versprach. Gleiches galt im übrigen auch für den Parteiapparat50. Die Ausbildung für zentrale Führungspositionen übernahm das eigens gegründete Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK in Berlin-Rahnsdorf. Dort sollte eine offene und kritische Atmosphäre geschaffen werden, in der auch „heiße Eisen“ sachlich zu erörtern waren. Man wollte, daß die Führungskräfte „das Institut aus innerer Überzeugung als ihre Betreuungsstätte“ betrachteten. Das Personal für die mittlere Hierarchieebene sollte an den ebenfalls neu gebildeten zweigbezogenen Instituten für sozialistische Wirtschaftsführung verschiedener Hochschulen und das betriebliche Führungspersonal an Betriebsakademien der Großbetriebe oder Branchenleitungen unterwiesen werden51. Aber auch aus den Natur- und Technikwissenschaften ließ man sich besonders im Hinblick auf den Inhalt der Pläne beraten. Das hatte allerdings auch Rückwirkungen auf diesen Wissenschaftsbereich, der zunehmend auf technischökonomische Erfordernisse ausgerichtet wurde. Im Mittelpunkt der Planung stand die Frage, welche technischen Entwicklungen man vorantreiben müsse, damit man dem Ziel einer hochentwickelten Volkswirtschaft näherkomme. Um diesen Entwicklungspfad ex ante zu bestimmen, entstanden neben dem Forschungsrat eine Vielzahl von Expertenzirkeln, die im Laufe der sechziger Jahre 50

Steiner, DDR-Wirtschaftsreform, S. 74 ff., 87 ff. Volkswirtschaftsrat-Sitzungsmaterial, 3.2.65: Grundsätze und Maßnahmen zur Schaffung eines Systems der Auswahl, Entwicklung und Qualifizierung von Führungskräften der sozialistischen Industrie, 27.1.65, BA DE4-S/3-2-65/1; Arbeitsgruppe Sozialistische Wirtschaftsführung: Vorlage für das Büro für Industrie und Bauwesen beim Politbüro: Konzeption zur Gestaltung des ersten Lehrgangs am „Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED“, 18.10.65, SAPMO-BA DY30 IVA2/601/98; Günter Lauterbach, Zur Theorie der sozialistischen Wirtschaftsführung in der DDR. Funktionen und Aufgaben einer sozialistischen Leitungswissenschaft, Köln 1973, S. 16. 51

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die verschiedensten Dokumente, wie wissenschaftlich-technische Konzeptionen und Prognosen, erarbeiteten, die dann wiederum als Arbeitsbasis für die Pläne unterschiedlicher Reichweite dienen sollten52. Die dort entstandenen Vorstellungen waren vielfach problematisch. Sie bestanden beispielsweise oft aus den „Wunschvorstellungen“ der jeweiligen Experten und waren daher im Einzelfall und schließlich in der Summe nicht mit den ökonomischen Möglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen53. Ulbricht selbst griff etliche Male auf den Rat renommierter Naturwissenschaftler zurück. Schließlich wurde diese Form der Politikberatung außerhalb der bestehenden Instanzen institutionalisiert. Ulbricht schuf sich im Herbst 1966 einen „Strategischen Arbeitskreis“, der ursprünglich in Vorbereitung des nächsten SED-Parteitages grundsätzliche Fragen der weiteren Politik erörtern und Entscheidungen vorbereiten sollte. Dort waren die Zukunftsfragen deutlich komplexer als bis dahin üblich zu behandeln und war die „strategische Konzeption“ der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR wissenschaftlich zu erarbeiten54. Unter unmittelbarer Leitung von Ulbricht waren die „eigentlichen“ Mitglieder dieses Gremiums, die an den Konzepten arbeiteten, in sechs Arbeitsgruppen zusammengefaßt, die sich mit der Innen-, Außen-, Wirtschafts-, Wissenschafts-, Kultur- sowie Sozialpolitik befaßten, in denen führende Funktionäre der Partei und der Staatsbürokratie für die jeweiligen Gebiete, Praktiker sowie Wissenschaftler vertreten waren55. Der Strategische Arbeitskreis wurde nach und nach erweitert. Er sollte der SED-Spitze, namentlich vor allem Ulbricht, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre absehbaren gesellschaftlichen Konsequenzen deutlich machen. Ulbricht verlangte aber, der SED-Spitze stets die diskutierten Varianten vorzulegen, damit sie sich selbst ein Bild machen und entscheiden könne. Die Mitglieder des Arbeitskreises sollten sich nicht in die Tätigkeit der staatlichen Wirtschaftsbürokratie einmischen oder mit operativen Aufgaben befassen. Allerdings hatten sie Ulbricht zu unterrichten, wenn ihnen bekannt werden sollte, daß wesentliche Vorhaben verzögert würden56. Damit wurden in nicht untypischer Weise Partei- und staatliche Funktionen verwischt. Der Arbeitskreis war 52 Dabei waren Platz und Aufgaben der verschiedenen Gremien sowie ihr Verhältnis zueinander oft ungeklärt, was vielfach Wirrwarr und Kompetenzverschleiß nach sich zog. Auch der Forschungsrat, seine Kompetenzen und sein Einfluß auf die Planung waren davon betroffen. Vgl. Tandler, Geplante Zukunft, passim. 53 Steiner, DDR-Wirtschaftsreform, S. 442–448; Tandler, Geplante Zukunft, 293, 299 f. 54 Ulbricht: Politbürovorlage. Bildung eines Arbeitskreises . . ., 6.9.66, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/398; Protokoll der Politbürositzung am 6.9.66, SAPMO-BA DY30 J IV 2/2A/1175. 55 Arbeitskreis zur Planung der Strategie der Partei auf den Gebieten der Politik, der Wirtschaft und der Kultur, [Zusammensetzung], SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/ 399. 56 [Berger:] Betr.: Arbeitskreis zur Planung der Strategie der Partei auf den Gebieten der Politik, der Wirtschaft und der Kultur, [16.5.67], SAPMO-BA DY30 J IV 2/

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also als eine Art „Denkfabrik“ gedacht und die Entscheidungen sollten weiterhin der SED-Führung überlassen bleiben. Unter der persönlichen Deckung von Ulbricht wurden im Arbeitskreis durchaus neue, für die DDR ungewöhnliche Überlegungen angestellt. Allerdings blieben auch sie in der Regel in den vorherrschenden grundsätzlichen Denkmustern befangen. Außerdem hatte Ulbricht dort, wo tatsächlich unorthodoxe Gedanken entstanden waren, bei einer Umsetzung mit dem Widerstand seiner konservativeren Gegenspieler in der SEDSpitze zu rechnen. Daher sollte der Einfluß des Arbeitskreises nicht überschätzt werden. Diese Gremien – sehr stark auf die Person Ulbricht bezogen – wurden mit seiner Ablösung als Parteichef auch aufgelöst. Alles in allem wurde die Wirtschaftsreform der sechziger Jahre entscheidend von praktizistisch orientierten Wirtschafts- und anderen Sozialwissenschaftlern mitgestaltet57. Aber sie handelten weiter im Auftrag der SED und innerhalb der von ihr gezogenen Grenzen. Experten erhielten in diesem Jahrzehnt die Möglichkeit, Politik tatsächlich zu beeinflussen, was sich auch institutionell niederschlug. Beratungsgremien hatten immer Hybridcharakter, auch um ihre Kontrolle durch die Politik zu garantieren. Die oben benannten Grenzen eines solchen Einflusses wurden nicht aufgehoben; sie wurden lediglich hinausgeschoben. Die Wissenschaftler hatten weiter wirtschaftspolitische Entscheidungen theoretisch zu begründen und zu legitimieren. Es wurde nach wie vor keine vorurteilsfreie Forschung ermöglicht. Wissenschaft beschränkte sich in hohem Maße auf pragmatische und praktizistische Ansätze. Tiefergehende theoretische Ansätze waren kaum gefragt58. In den Jahren der Wirtschaftsreform wurde in der Zentrale aufgrund der stärkeren Einbeziehung von Experten wirtschaftlich sachkundiger und realistischer als früher und später entschieden, was bei der nicht aufgelösten Grundstruktur des Systems von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Die allseits geforderte stärkere Beachtung ökonomischer Kriterien und die wachsende, wenn auch durch politische Beimengungen geprägte Professionalisierung der Führungskräfte aller Ebenen führten dazu, daß ökonomische Kalküle tatsächlich stärker in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden59. Die sich in den sechziger Jahren in der DDR herausbildende Herrschaftsstruktur ist damals im Westen als „konsultativer Autoritarismus“ beschrieben worden. Allerdings stieß das zu jener Zeit auch auf Widerspruch, weil damit der Eindruck entstehen konnte, die SED würde von ihrem Anspruch abrücken, exklusiv 202/398; Protokoll der Beratung des Gen. Ulbricht mit dem Strategischen Arbeitskreis am 18.9.67, SAPMO-BA DY30 J IV 2/202/400. 57 Zur Rolle von Experten bei der Gestaltung der Sozialpolitik in den sechziger Jahren siehe erste Überlegungen in: Lutz Raphael, Experten im Sozialstaat, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 231–258, hier 240, 246 f., 250 f. 58 Vgl. Busch, Theoriedefizite, S. 40 f. 59 Vgl. Steiner, DDR-Wirtschaftsreform, passim.

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das Wissen über die einzuschlagende Politik zu haben. Tatsächlich hatten die Experten dieses aber nur zu ergänzen60. Aber auch in der neueren Literatur wurde die These des „konsultativen Autoritarismus“ noch einmal in der Grundfrage kritiklos aufgenommen, ohne dem dabei nicht aufgegebenem Herrschaftsanspruch der Partei ausreichend Rechnung zu tragen61. Letztlich war die SEDPolitik im Interesse ihres Machterhalts bei wachsendem Steuerungsanspruch und Informationsbedarf auf die stärkere Nutzung von Expertenwissen angewiesen. Aber die inzwischen herangezogenen „neuen“ Experten brauchten auch die SED und ihre Ideologie, wenn sie sich nicht als Revisionisten des Systems verstehen wollten, dem sie ihren sozialen Aufstieg verdankten62. V. Die siebziger und achtziger Jahre: Zunehmende Verweigerung gegenüber wissenschaftlicher Expertise In der Honecker-Ära verloren mit dem Abbruch der ambitionierten Wachstums- und Technologieoffensive der späten Ulbricht-Zeit Anfang der siebziger Jahre zunächst vor allem die Natur- und Technikwissenschaftler deutlich an Einfluß auf die Politik. Bereits im Verlauf der sechziger Jahre stand der Forschungsrat angesichts der Vielzahl von neugebildeten Expertengremien nicht mehr so stark im Vordergrund. Eine seiner ursprünglichen Funktionen, die „alte“ Intelligenz in das Sozialismus-Projekt zu integrieren, hatte sich ohnehin überlebt, da nunmehr die „neue“ Intelligenz herangebildet worden war. Der Forschungsrat und seine nachgeordneten Kommissionen und Arbeitskreise wurden zwar formal nicht aufgelöst, hatten aber seit 1972 kaum noch Bedeutung63. Die Akademie der Wissenschaften, die die Entscheidungsgrundlagen über die Schwerpunkte naturwissenschaftlicher Forschung jetzt vorbereiten sollte, nahm darüber hinausgehend kaum Beratungsfunktionen wahr. Außerdem wurde das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft anonymer: Mitglieder der SEDSpitze hatten kaum noch persönliche Kontakte zu einzelnen Experten aus Natur- und Technikwissenschaft. Für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften stellte sich dieses Verhältnis komplizierter dar: Den meisten Ministerien standen 60 Siehe zu dem Konzept und der Begründung: Vgl. Peter C. Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln u. a. 1968, S. 35 ff., 97 ff. Zusammenfassend zu der Kritik und der Weiterentwicklung: Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 126 f., 199 ff. 61 Vgl. Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997, S. 40 ff. 62 Auf einen solchen Zusammenhang – bezogen auf die Ideologen und die wissenschaftlich-technische Intelligenz – wies Meuschel hin: Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 133 f. 63 Vgl. Ralf Rytlewski, Forschung, in: DDR Handbuch, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen unter wissenschaftlicher Leitung von Hartmut Zimmermann, Köln 1985, S. 424–437, hier 434; Tandler, Geplante Zukunft, S. 342 ff.

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eigene Forschungsinstitutionen zur Seite. Aber zum einen konnten diese Einrichtungen Politik bzw. Regierungshandeln nur insoweit beraten bzw. beeinflussen, wie den jeweiligen Regierungsinstanzen über den Vollzug von in der SEDSpitze getroffenen Entscheidungen hinaus politische Handlungsspielräume verblieben. Zum anderen orientierte sich die Arbeit dieser Institute entsprechend dem Bedarf solcher Regierungsstellen eher an einem pragmatischen Wissenschaftsverständnis. Gleichwohl konnten sie damit politische Entscheidungen formen und prädisponieren. Das traf über die operativen Tagesgeschäfte hinaus vor allem auf einzelne Institute zu, wie das Ökonomische Forschungsinstitut bei der SPK und das Finanzökonomische Forschungsinstitut beim Finanzministerium64. Die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Akademie- und Hochschulforschung hatte zwar nominal Entscheidungsgrundlagen für die Politik zu erarbeiten, wobei dieser Prozeß seit 1968 durch „Wissenschaftliche Räte“ für die jeweiligen Wissenschaftsgebiete koordiniert, geleitet und kontrolliert werden sollte. Tatsächlich fungierten aber als Leitungs- und Kontrollinstanzen der Politik gegenüber den Sozialwissenschaften bereits seit Anfang der sechziger Jahre die Parteiinstitute, wie die SED-Parteihochschule, die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (bis 1976: Institut für Gesellschaftswissenschaften), das Institut für Marxismus-Leninismus und das Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung, denen die „Wissenschaftlichen Räte“ in der Mehrzahl angegliedert waren oder die deren Vorsitzende stellten65. Darüber hinaus dienten die parteieigenen Lehr- und Forschungseinrichtungen der „Reproduktion der Kerngruppe des dem Parteiapparat verfügbaren wissenschaftlichen Personals“66. Die dort tätigen Sozialwissenschaftler standen der SEDSpitze zwar unmittelbar zur Politikberatung zur Verfügung. Sie verfügten über Informationen, die anderen nicht zugänglich waren, und damit schon deshalb über eine herausgehobene Position im Gefüge der Sozialwissenschaftler. Gleichzeitig „legitimierten“ sie auf diese Weise ihre von der Partei verliehene Leitungs- und Kontrollfunktion67. Tatsächlich beraten ließ sich die SED-Spitze – selbst da wo es diese Gremien oder deren Mitglieder versuchten – von ihnen aber nicht. So wiesen beispielsweise Helmut Koziolek, Otto Reinhold (Chef der parteieigenen Akademie für Gesellschaftswissenschaften) und weitere Wissenschaftler in einer im Auftrag von Honecker verfaßten Analyse 1974 darauf hin, daß ein Weiterverfolgen der seit Anfang der siebziger Jahre betriebenen Wirt64

Vgl. Rytlewski, Forschung, S. 429. Ebenda, S. 434; Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur, S. 145 f. Eine Auflistung aller wissenschaftlichen Räte im Bereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie eine DDR-interne Darstellung zu Funktion und Arbeitsinhalt siehe in: Ökonomisches Lexikon, Band Q–Z, Berlin (Ost) 1980, S. 676–680. 66 Laitko, Wissenschaftspolitik, S. 419. 67 Zur Sozialpolitik in den siebziger und achtziger Jahren siehe: Raphael, Experten im Sozialstaat, S. 241, 247 f., 250 f. 65

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schafts- und Sozialpolitik dazu führen würde, daß die produktiven Investitionen stark vermindert werden müßten und die Auslandsschulden erheblich ansteigen würden. Diese Expertise wurden von seiten der SED-Spitze ignoriert. Den Wissenschaftlern wurde zugesichert, daß ihnen nichts „passiert“, sie also nicht gemaßregelt werden würden. Das von ihnen vorhergesagte Ergebnis trat dann tatsächlich so ein68. Darüber hinaus forderte der Parteiapparat zwar auch von nichtparteieigenen Institutionen bestimmte Expertisen, wobei gleichartige oder ähnliche Aufträge an verschiedene Stellen herausgegeben wurden. In den Augen der beteiligten Wissenschaftler war diese Verfahrensweise oft redundant, was kontraproduktiv wirken mußte69. In welchem Maße kritische Analysen der DDR-Gesellschaft der SED-Spitze auch aus den Sozialwissenschaften vorlagen und wie wenig sich davon in Politikentscheidungen niederschlug, ist in der Literatur bisher am besten für das Zentralinstitut für Jugendforschung dokumentiert, das gegenüber den verschiedenen „Leiteinrichtungen“ eine gewisse Eigenständigkeit aufwies und damit eine Ausnahmestellung hatte70. Die verschiedenen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Studien hatten keine Konsequenzen, weil von der SED-Spitze nur wahrgenommen wurde, was den eigenen Vorstellungen bzw. bereits getroffenen Entscheidungen entsprach. Zuarbeiten einzelner Wissenschaftler direkt für SED-Chef Honecker blieben die Ausnahme: Sie bezogen sich ohnehin, wie im Falle Jürgen Kuczynskis bei der Beurteilung der weltwirtschaftlichen Entwicklungen, auf von der SED-Spitze als nicht unmittelbar für die eigene Gesellschaftspolitik relevant angesehene Wissensbereiche71. Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft war schließlich wieder zunehmend eindimensional. Insgesamt hatten sich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften noch stärker als früher auf die Bearbeitung von Problemen zu konzentrieren, 68 Gespräch mit Prof. Dr. Helmut Koziolek: Die DDR war eine Hauswirtschaft, in: Theo Pirker/M. Rainer Lepsius/Rainer Weinert/Hans-Hermann Hertle, Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 255–281, hier 265 f., 277. Zum realwirtschaftlichen Hintergrund siehe: André Steiner, Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 153–192. 69 Siehe bei dem auch als Zeitzeugen zu betrachtenden Laitko, Wissenschaftspolitik, S. 417. 70 Siehe: Walter Friedrich, Geschichte des Zentralinstituts für Jugendforschung, in: Walter Friedrich/Peter Förster/Kurt Starke (Hg.), Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966–1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse, Berlin 1999, S. 13– 69, vor allem 23–33, 56 f. 71 Siehe die für sich sprechenden Eigendarstellungen Kuczynskis zu seinem Verhältnis zu Honecker u. a. in: Jürgen Kuczynski, Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater, Berlin 1996, S. 132– 135. Vgl. aber auch André Brie, Versuchung, Verstrickung, Verständigung? Wissenschaft und Politik und Jürgen Kuczynski, in: Thomas Heubner (Hg.), ZeitGenosse Jürgen Kuczynski, Berlin 1994, S. 182–188.

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die sich aus unmittelbar aktuellen Erfordernissen der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ergaben, wobei Definition und Auswahl der Fragen in letzter Instanz wiederum bei der Partei lagen. Darüber hinaus betrachtete die SEDSpitze ihre Politik wieder stärker als in den sechziger Jahren nicht mehr nur als wissenschaftlich, sondern als Grundlage der (Sozial)Wissenschaften oder sogar selbst als Wissenschaft. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hatten die SED-Politik somit zu legitimieren und dienten in letzter Instanz auch als Herrschaftsinstrument der Parteiführung. Deshalb verstand die SED-Spitze die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler wiederum „als politische Funktionäre, als ,Parteiarbeiter an der theoretischen Front‘“, wie es der stellvertretende Leiter der ZK-Wissenschaftsabteilung ausdrückte72. Damit war die Politik – auch in ihren Augen – keiner kritischen Analyse zugänglich, der Wissenschaft selbst entrückt und letztlich weitgehend beratungsimmun. Die inzwischen nahezu alle entscheidenden Positionen besetzende „neue“ Intelligenz versuchte – begünstigt durch die Sozialisation – nur begrenzt, dagegen anzurennen. Gleichwohl entstanden im Rahmen der DDR-internen Normen als kritisch zu verstehende Studien, die aber der Geheimhaltung unterlagen und in der Regel durch die Spitzengremien von SED und Regierung nicht zur Kenntnis genommen wurden. Die Ursachen für diese Verweigerung gegenüber Expertenwissen in den siebziger und achtziger Jahren liegen bisher weitgehend im Dunkeln und bedürfen noch tiefergehender Untersuchung. Vermutet werden kann jedoch, daß die über die in der gesamten DDR-Geschichte allgemein übliche hinausgehende Beratungsresistenz aus dem Umstand rührte, daß die SED-Spitze im „real existierenden Sozialismus“ nach dem Scheitern der Wirtschaftsreform keinen ausgeprägten Veränderungsbedarf mehr sah. Die auf langsame, aber stetige Verbesserung gerichtete Politik der Parteispitze orientierte sich zum einen wieder mehr und mehr an normativen, ideologisch geprägten Inhalten und zum anderen, wo dies nicht ausreichte, an pragmatisch-kurzfristigen Interessen, die wiederum einem verkürzten, auf den unmittelbaren Zweck konzentrierten Wissenschaftsverständnis Vorschub leisteten. Expertenwissen sollte zwar nach wie vor herangebildet werden, aber dessen Ergebnisse wurden von der Partei vorherbestimmt. Affirmatives Herangehen war gerade in der auf die Gesellschaft bezogenen OffizialWissenschaft vorherrschend und gewünscht. Gleichwohl entstand an den Rändern dieser Offizial-Wissenschaft und darüber hinaus zunehmend eine Form kritischen Expertenwissens, dessen Spektrum vom innerparteilichen Reformdiskurs des Projektes „Moderner Sozialismus“ im Umfeld der Humboldt-Universität zu Berlin bis hin zur Erfassung von Umweltschäden durch die oppositionelle Umweltbewegung reichte. Diese Expertise wurde aber von der Politik nicht aner72 Gregor Schirmer, Zum Verhältnis von Politik und Gesellschaftswissenschaften in der DDR, in: Michael Brie u. a., Schiff ohne Kompaß? Marxistische Gesellschaftswissenschaften und sozialistische Politik, Reihe controvers, Berlin 1993, S. 5–16, hier 7, zitiert nach: Krause, Wirtschaftstheorie in der DDR, S. 15.

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kannt und abgefordert, sondern nach altem Muster marginalisiert und der Repression unterworfen. Resümee Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß die Politik in der DDR von einem nahezu grenzenlosen Glauben an die als Wissenschaft verbrämte Ideologie des Marxismus-Leninismus sowie deren Wert für die Deutung und als Anleitung für die Umgestaltung der Gesellschaft ausging. Auch in der DDR sah man sich aber in wachsendem Maße vor Herausforderungen gestellt, die aus den Problemen der sozialen Transformation einer Industriegesellschaft, der sich beschleunigenden weltweiten technischen Entwicklung und der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Prozesse resultierten. Bei dem umfassenden Steuerungsanspruch der SED war man für den Bereich technischer Entwicklung ohnehin auf die Mitwirkung von Experten angewiesen. Aber auch auf dem Feld gesellschaftlicher Steuerung zeigten sich zunehmend die Grenzen des Marxismus-Leninismus als Interpretationsmaßstab und Handlungsanleitung. Es entstand ein Bedarf an fachwissenschaftlicher Expertise. Allerdings blieb diese – gemessen an der Problemdurchdringung – in den von der Ideologie vorgegebenen Grenzen. Die Handlungsspielräume, Ressourcen und Themenwahl der Experten bestimmte weitgehend, wenn auch nicht vollständig die von der SED-Spitze beherrschte Politik. Von einem dualen Modell getrennter Systeme von Wissenschaft und Politik konnte weder inhaltlich noch personell gesprochen werden. Unter dem Blickwinkel der Habermasschen Typologie der Politikberatung73 blieb diese in der DDR immer dezisionistisch, bestenfalls in den sechziger Jahren zeigten sich Ansätze, zu einem pragmatischen Verhältnis von Wissenschaft und Politik zu kommen, wobei eine aufgeklärte Öffentlichkeit allenfalls zwischen 1963 und 1965 an den entsprechenden Diskursen beteiligt war. Insofern läßt sich die Nutzung von Wissenschaftsergebnissen zumindest für die hier näher betrachtete Wirtschaftspolitik durch die SED-Spitze mit einem politisch-taktischen Modell beschreiben: grundsätzlich konnten nur die Argumente Geltung beanspruchen, die der eigenen Ideologie entsprachen und, wo diese prinzipiell wenig variable Weltsicht nicht ausreichte, griff man pragmatisch auf Expertisen zurück, die einem gerade nützlich erschienen74. Mit dem Generationswechsel bei den Experten bildeten sich zwar Netzwerkstrukturen zwischen Politik und Wissenschaft heraus, in denen aber überwiegend Konsens- oder Gruppenzwang 73 Jürgen Habermas, Die Utopie des guten Herrschers, in: ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt/M. 1973, S. 378–388. Siehe auch: Die Utopie des guten Herrschers. Eine Diskussion zwischen Jürgen Habermas und Robert Spaemann, in: Merkur XXVI (1972), S. 1266–1278. 74 Siehe zur entsprechenden Typologie: Carol H. Weiss, The Many Meanings of Research Utilization, in: Martin Bulmer (Hg.), Social Science and Social Policy, London 1986, S. 31–40.

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über die Denkgrundlagen herrschen sollte und schließlich auch herrschte. Die Zustimmung zu den Beratungsspielregeln und die wechselseitige Abstimmung verwischte die Grenzen zwischen Experten und Politikern, was sich am deutlichsten bei Personen mit einer „Doppelrolle“ wie Herbert Wolf zeigte. Die Unterschiede in der Offenheit der SED-Spitze gegenüber wissenschaftlicher Beratung erklärten sich wohl überwiegend aus dem Grad der von ihr jeweils anerkannten Möglichkeit und Notwendigkeit, die Ideologie des MarxismusLeninismus für „revisionistische“ Überlegungen im Interesse einer Systemoptimierung zu öffnen. So entwickelte sich lediglich in den sechziger Jahren mit der Wirtschaftsreform und einer eher an der Rationalität gesellschaftlicher Teilbereiche ausgerichteten Politik Ansätze einer Kultur der Politikberatung und einer „Verwissenschaftlichung der Politik“. Innerhalb der fortbestehenden, von der Ideologie gezogenen Grenzen wurde der Sachlogik eher Rechnung getragen. Mit der vorbehaltlosen Wiederherstellung des Primats der Politik in den siebziger und achtziger Jahren diente Politikberatung nahezu ausschließlich der Legitimation der beschlossenen Politik. Die aus der Wissenschaft teilweise kommenden Warnungen über die desaströsen Folgen jener Politik wurden ignoriert und letztlich als unintendierte Folge so der gesellschaftliche Niedergang vorangetrieben.

Versachlichung statt Interessenpolitik Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Von Gabriele Metzler Wer sich 1963 mit der Geschäftsidee wirtschaftspolitischer Beratung auf den Markt wagte, nahm beträchtliche Risiken in Kauf. Von einer veritablen Marktlücke jedenfalls konnte man kaum sprechen, war doch der Bedarf an ressortbezogener wirtschaftspolitischer Beratung im Grunde bereits gedeckt. Sowohl das Bundesministerium für Wirtschaft als auch dasjenige für Finanzen verfügten über eigene wissenschaftliche Beiräte, die hochkarätig besetzt waren, etliche wirtschaftswissenschaftliche Forschungsinstitute versorgten politische Akteure mit notwendigen Informationen und Deutungswissen, und die politischen Akteure selbst konnten oftmals auf eine (wirtschafts-)wissenschaftliche Vorbildung zurückgreifen. Ludwig Erhard verwies als Bundeswirtschaftsminister häufig darauf, auch als Ökonom nicht unbedeutend zu sein. Daß der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im August 1963 durch ein Bundesgesetz gegründet wurde, konnte vor diesem Hintergrund daher eigentlich nur als riskantes Unternehmen erscheinen. Angesichts der bereits bestehenden Institutionen wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung und anderer Wege zur Diffusion ökonomischen Wissens liegt die Vermutung nahe, daß dieses Gremium nicht vorrangig dem Zweck wirtschaftspolitischer Beratung dienen sollte. Ging es tatsächlich darum, mit dem Sachverständigenrat zusätzliche Expertise zu gewinnen, oder verbanden sich mit ihm weitere Absichten? Berücksichtigt man, daß in den USA und anderen westeuropäischen Staaten bereits – wenn auch in anderer Form – Wirtschaftsräte bestanden und daß auch in der Bundesrepublik schon seit Mitte der 1950er Jahre darüber diskutiert wurde, neben den wissenschaftlichen Beiräten noch einen Rat zu etablieren, so läßt sich das Gründungsdatum des Sachverständigenrates zudem als vergleichsweise spät interpretieren. Die spezifischen Umstände, die zur Gründung des Sachverständigenrates führten, sind daher im ersten Teil dieses Beitrages eingehend zu klären. Welche Funktionen waren dem neuen Rat zugedacht, welche Position nahm er im expandierenden Gewerbe wissenschaftlicher Politikberatung ein? Mit diesen Fragen weitet sich unsere Perspektive. Sie lenken unseren Blick auf die

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Formen politischen Denkens und Handelns während der 1960er Jahre, einer Zeit, die, wie die zeithistorische Forschung in den vergangenen Jahren deutlich herausgearbeitet hat, gleichermaßen von gesellschaftlichem Aufbruch, kulturellen Neuerungen und fundamentalem politischen Wandel gekennzeichnet war1. Dies war die Hochzeit der Politikberatung durch Experten, die außerhalb der Ministerialbürokratie standen, deren Expertisen oftmals auch die Öffentlichkeit erreichten und die den öffentlichen Diskurs mit trugen. Daß sich (Wirtschafts-) Wissenschaftler für ein vergleichsweise öffentliches Engagement, wie es die Mitgliedschaft im Sachverständigenrat mit sich brachte, verpflichten ließen, deutet zudem darauf hin, daß den Wissenschaften selbst eine öffentliche, eine politische Funktion beigemessen wurde. Die Gründungsgeschichte des Rates ist daher auch die Geschichte eines spezifischen Wissenschaftsverständnisses, welches der expandierenden Politikberatung der 1960er Jahre (größtenteils unausgesprochen) zugrunde lag. Mit dem Wissenschaftsverständnis wandelte sich die Konzeption dessen, was Politik sei, sein könne und sein solle2. Als eine der prägnantesten Signaturen politischen Denkens und Handelns in dieser Zeit erweist sich die normative Vorstellung, Politik müsse ein wissenschaftliches Fundament besitzen, ja sich die Rationalitätskriterien von Wissenschaft zum Maßstab machen, damit Entscheidungen objektiv, „sachlich“, ausfielen. Besonders deutlich läßt sich dies gegen Ende des Jahrzehnts erkennen, als die Regierung Brandt Wissenschaftlichkeit und Rationalität geradezu zum Leitfaden ihrer Politik machte; wie im zweiten, dem Hauptteil dieses Beitrags zu zeigen ist, sind jedoch erste Ansätze, wenn auch mit anderen Akzenten, schon in der Gründungsgeschichte des Sachverständigenrates zu identifizieren. Bereits in diesem zeitlichen und sachlichen Kontext wurden elementare, die politische Ordnung der Bundesrepublik berührende Fragen aufgeworfen. In welchen Formen Politikberatung zu gestalten war, damit sie mit den Imperativen eines demokratischen Gemeinwesens vereinbar war; und ob nicht die Einrichtung von Sachverständigengremien das politische Institutionengefüge empfindlich stören und aus der Balance bringen würde, waren Probleme, die schon im Umfeld der Gründung des Sachverständigenrates diskutiert wurden. Aus diesem Grunde läßt sich seine Geschichte auch als Teil 1 Die Etiketten, welche die historische Forschung den sechziger Jahren inzwischen gegeben hat, lauten allesamt ähnlich: Sie gelten als „Aufbruch in die sozialliberale Ära“ (Klaus Schönhoven, Aufbruch in die sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft (GG) 25 (1999), S. 122–146); als „Umgründung der Republik“ (Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1999, S. 475 ff.) oder als „dynamische Zeiten“ (Axel Schildt u. a., Hg., Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000). – Ich danke Wilfried Rudloff für kritische Lektüre des Manuskripts und wichtige Hinweise. 2 Dazu ausführlich Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2004 (i. E.).

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einer Geschichte politischer Ordnungsvorstellungen lesen, die zu Beginn der 1960er Jahre zur Diskussion standen. Fragen wir nach der strukturellen Bedeutung wissenschaftlicher Politikberatung im Kontext einer bestimmten politischen Ordnung und eines bestimmten politischen Diskurses, gewährt die Geschichte des Sachverständigenrates, besonders in seiner formativen Phase bis zu Beginn der 1970er Jahre, einige elementare Einsichten in die Problematik von Expertenregimes3. Darauf konzentriere ich mich in meinem Beitrag, der notgedrungen andere Problembereiche ausgeblendet läßt oder nur am Rande erwähnt. Dies gilt insbesondere für den konkreten Output an Beratung durch den Sachverständigenrat, wie er sich in den Jahresgutachten und anderen Stellungnahmen des Rates seit 1964 niederschlug4; es gilt für die Binnengeschichte des Rates und seiner jeweiligen Mitglieder, und es gilt für seine Vorgeschichte, die hier nicht durch all ihre Verästelungen in Ministerien, Parteien und Parlament hindurch verfolgt wird5. I. Die Idee wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung war in den 1960er Jahren nicht neu. Auch wenn ihre Geschichte noch längst nicht systematisch erforscht ist, lassen sich doch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Ansätze zur Beratung politischer Akteure durch Nationalökonomen erkennen. In der Regel erfolgte diese Beratung auf informellem Wege, sei es, wie im Kaiserreich, in über längere Zeit bestehenden Diskussionszirkeln6, sei es in ad hoc einberufe3 Diese Frage wurde aus historischer Perspektive an den Sachverständigenrat bislang nicht gerichtet. Aus sozial- bzw. wirtschaftswissenschaftlicher Sicht wird sie (wenn auch nicht erschöpfend) diskutiert von Claus Wegner, Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1963 bis 1974), Diss. rer. pol. Aachen 1974. 4 Vgl. Heinz-Peter Spahn, Die Stabilitätspolitik des Sachverständigenrates. Zur Abhängigkeit ökonomischer Paradigmenwechsel von wirtschaftspolitischen Handlungsimperativen, Frankfurt am Main/New York 1979; außerdem die Beiträge im zweiten Teil von Regina Molitor (Hg.), Zehn Jahre Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Eine kritische Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 1973. Die Gutachten und Sondergutachten seien hier nicht mit ausführlichen bibliographischen Angaben aufgeführt; statt dessen verweise ich auf den Überblick unter URL: http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/pm/verzeich.htm. 5 Eine umfassende wissenschaftliche Darstellung der Gründungsgeschichte des Sachverständigenrates fehlt bislang. Über einige Grundlinien des Entscheidungsprozesses informieren Alexander Nützenadel, Wissenschaftliche Politikberatung in der Bundesrepublik. Die Gründung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage [sic!] 1963, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG) 89 (2002), S. 288–306; Ernst Helmstädter, Die Vorgeschichte des Sachverständigenrates und ihre Lehren, in: Volker Nienhaus/Ulrich van Suntum (Hg.), Grundlagen und Erneuerung der Marktwirtschaft. Festschrift für Hans Besters, BadenBaden 1988, S. 155–184.

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nen Zusammenkünften. So hatten während der Weltwirtschaftskrise am Beginn der 1930er Jahre Wirtschaftspolitiker bei führenden Nationalökonomen um Rat nachgesucht, freilich nicht öffentlich, sondern in einer geheimen Konferenz7. Und dies war nicht allein ein deutsches Phänomen, wie schon ein Blick auf die weitere Karriere eines der beteiligten Wissenschaftler zeigt: Mit Gerhard Colm war bei der Konferenz einer derjenigen Ökonomen vertreten gewesen, die nach 1933 emigrieren mußten und sich bald in den Beratungsstäben des amerikanischen Präsidenten wiederfanden8. Auch in den USA hatte die wirtschaftliche Krise der wissenschaftlichen Politikberatung entscheidende Impulse gegeben, die schließlich zu den „brain trusts“ Franklin D. Roosevelts geführt hatten. Die Beratung des Präsidenten durch wirtschaftswissenschaftliche Experten war in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg fester Bestandteil einer gemäßigt keynesianischen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, wie sie insbesondere im National Employment Act von 1946 zum Ausdruck gekommen war. Darin war der Council of Economic Advisors (CEA) gesetzlich verankert worden9. Seine Mitglieder, dem Präsidenten unmittelbar zugeordnet und ihn nur intern, nicht öffentlich beratend, hatten die Aufgabe, über ökonomisches Wachstum, eine ausgeglichene Zahlungsbilanz, Vollbeschäftigung und stabile Preise zu wachen. Dem Ziel der Vollbeschäftigung räumte der Rat höchste Priorität ein. Das war ein klares Bekenntnis zu Keynes und zugleich ein Indiz dafür, wie stark das Trauma der Massenarbeitslosigkeit der 1930er Jahre fortwirkte. Während in den USA wirtschaftswissenschaftliche Expertise in einem Präsidentenstab institutionalisiert wurde, ging man in Westeuropa in der Nachkriegs6 Hier wäre beispielsweise zu denken an die Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin. Zur Geschichte der Gesellschaft vgl. die Beiträge in: Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin 1883–1983, Berlin 1983 (dort besonders der Beitrag von Rüdiger vom Bruch). Zu denken wäre auch an das Umfeld des Vereins für Socialpolitik; vgl. dazu: Rüdiger vom Bruch, Bürgerliche Sozialreform im Kaiserreich, in: ders. (Hg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985, S. 61–179; Marie-Luise Plessen, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 1872–1890. Studien zum Katheder- und Staatssozialismus, Berlin 1975. 7 Vgl. Knut Borchardt/Hans Otto Schötz (Hg.), Wirtschaftspolitik in der Krise. Die (Geheim-)Konferenz der Friedrich-List-Gesellschaft im September 1931 über Möglichkeiten und Folgen einer Kreditausweitung, Baden-Baden 1991; Knut Borchardt, Wirtschaftspolitische Beratung in der Krise: Die Rolle der Wissenschaft, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930–1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 109–132. 8 Zu Colm vgl. Wolfram Hoppenstedt, Gerhard Colm. Leben und Werk (1897– 1968), Stuttgart 1997; zur Rolle der europäischen Emigranten in der US-Wirtschaftspolitik während des New Deal und in den brain trusts Roosevelts Claus-Dieter Krohn, Wirtschaftswissenschaften, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998, S. 904–922. 9 Harry C. Wallich, The American Council of Economic Advisors and the German Sachverständigenrat. A Study in the Economics of Advice, in: Quarterly Journal of Economics 82 (1968), S. 349–379.

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zeit häufig einen anderen Weg. Die Beratungsgremien, die in Belgien (Conseil Central de l’Economie, 1948), den Niederlanden (Sociaal-Economische Raad, 1950), Italien (Consiglio Nazionale dell’Economia e del Lavoro, 1957) und Frankreich (Conseil Economique et Social, 1958) errichtet wurden, entsprachen am ehesten dem Modell von Wirtschaftsräten, trugen starke korporatistische Züge und waren entsprechend mit Vertretern der Sozialpartner sowie Wissenschaftlern besetzt10. Auch in der Bundesrepublik wurden Überlegungen laut, ob man nicht internationalen Trends folgen und ein ökonomisches Expertengremium etablieren solle11. Das US-amerikanische Modell des Council of Economic Advisors für die Bundesrepublik zu adaptieren12, empfahl beispielsweise der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium schon 1950 und abermals 1954. Im darauffolgenden Jahr stellte die FDP ihre Pläne eines „Konjunkturbeirats“ im Bundestag zur Diskussion13, ohne indessen für ihr Vorhaben eine Mehrheit zu finden. Wie eng die Frage nach wissenschaftlicher Politikberatung außerhalb der Ministerialbürokratie mit ordnungspolitischen Kontroversen verknüpft war, belegen die Debatten über die Einrichtung eines Sachverständigenrates ein ums andere Mal. Und dies gilt für die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition um den wirtschaftspolitischen Kurs gleichermaßen wie für die Diskussionen innerhalb des Regierungslagers, wo diese Frage obendrein in den Machtkampf zwischen Adenauer und Erhard eingewoben war14. Den Zusammenhang zwischen wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen und Politikberatung durch externe Experten verdeutlichte besonders die Initiative der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion im Sommer 1956. Das von ihr projektierte Expertengremium sollte ergänzend neben den wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium treten, der aus dem 1948 etablierten 10 Brun-Otto Bryde, Zentrale Wirtschaftspolitische Beratungsgremien in der Parlamentarischen Verfassungsordnung. Sachverstand und Entscheidung in der Wirtschaftspolitik Belgiens, Dänemarks, Deutschlands, Frankreichs, Italiens und der Niederlande, Hamburg/Frankfurt am Main 1972. 11 Ausführlich zur Vorgeschichte des Sachverständigenrates Nützenadel, Wissenschaftliche Politikberatung; Wegner, Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung, S. 1–27. 12 Das amerikanische Modell wurde im Umfeld der Debatten über den Sachverständigenrat auch wissenschaftlich bewußt rezipiert. Vgl. Harry C. Wallich, Der Council of Economic Advisors, in: Erwin von Beckerath/Herbert Giersch (Hg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung, Berlin 1963, S. 472– 488. 13 Bundestagsdrucksache II/8. 14 Vgl. Daniel Koerfer, Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987; ders., Wirtschaftspolitische Kontroversen zwischen Konrad Adenauer und Ludwig Erhard (1956–1963), in: Hans Pohl (Hg.), Adenauers Verhältnis zu Wirtschaft und Gesellschaft, Bonn 1992, S. 33–45; Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München/Landsberg am Lech 1996, bes. S. 243 ff.

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wissenschaftlichen Beirat bei der „Verwaltung für Wirtschaft“ des Vereinigten Wirtschaftsgebietes hervorgegangen war. Einem solchen neuen Gremium sollten, so sah es der Gesetzentwurf der SPD vor15, neun unabhängige Wissenschaftler angehören. Konzipiert war dieser „volkswirtschaftliche Beirat“ als Teil einer Wirtschaftspolitik, in welcher der Ausbau volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen und insbesondere die Aufstellung eines Nationalbudgets eine gleichermaßen prominente wie innenpolitisch höchst umstrittene Rolle spielten. Kontrovers war weniger die Idee eines solchen Rates an sich, aber am Konnex von Rat und Nationalbudget stießen sich Erhard und die tonangebenden Ordoliberalen, die das Nationalbudget als „Modefatzgerei“ abtaten16, obwohl es sowohl in den USA als auch in anderen westeuropäischen Staaten längst gängige Praxis war17. In Anbetracht der parlamentarischen Schwäche der Sozialdemokraten waren solche Ziele gegen den Widerstand der Bundesregierung nicht durchzusetzen. Gleichwohl wurde die sozialdemokratische Idee zwei Jahre später im Regierungslager wieder aufgegriffen und als Alternative zum Plan eines Bundeswirtschaftsrates in Stellung gebracht18. Das Projekt eines Bundeswirtschaftsrates, dem vor allem der Bundeskanzler und die Sozialausschüsse der CDU zugeneigt waren, knüpfte an die Tradition des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates der Weimarer Republik an19 und war stark von korporatistischen Vorstellungen geprägt. Da Erhard darin einen ungebührlichen Machtzuwachs der Verbände und damit eine Gefahr für seinen liberalen Kurs in der Wirtschaftspolitik erblickte, gewann für ihn die Alternatividee eines Sachverständigenrates an Attraktivität. Mit Vertretern der Tarifparteien und wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute dachte er Anfang 1958 darüber nach, welche Form ein solches Gremium überhaupt haben könnte – favorisiert wurde nicht das korporatistische Modell, sondern ein Rat aus unabhängigen Ökonomen20 –, ohne freilich seine noch teils diffusen Vorstellungen durchsetzen zu können. Besonders Erhards Idee zweige15

Bundestagsdrucksache II/2428. Brief Wilhelm Röpkes an Volkmar Muthesius, 18.9.1956, in: Wilhelm Röpke, Briefe 1934–1966. Der innere Kompass, Erlenbach/Zürich 1976, S. 145 f. 17 Einen knappen Überblick geben Gerhard Colm, Nationalbudget, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Bd. VII (1961), S. 535–540; Hildegard Bartels, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften Bd. XI (1961), S. 390–412. Zu den Kontroversen in der Bundesrepublik um Nationalbudget und volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ausführlicher Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, Kap. B.I.1. 18 Vgl. Nützenadel, Wissenschaftliche Politikberatung, S. 294–299. 19 Zur Diskussion über die Tradition vgl. Magnus G. W. Staak, Der vierte Versuch? Wirtschaftsräte haben auch in Deutschland bereits ihre Geschichte, in: Zeit, 15.6.1962. Einen Überblick über die Auseinandersetzungen gibt Heinz-Dieter Heidelmann, Zur Institutionalisierung eines zentralen Wirtschafts- und Sozialrates in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Göttingen 1975. 20 Bryde, Beratungsgremien, S. 84. 16

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stufter Beratung stieß auf wenig Zuspruch. Zwar sprach aus Sicht der Beteiligten nichts gegen die erste Stufe, eine aus wenigen Wissenschaftlern bestehende beratende Institution, umso mehr aber gegen die zweite Stufe, auf welcher diese Experten in Absprache mit den Sozialpartnern auch politische, und das hieß vor allem: verteilungspolitische Fragen erörtert hätten. Der Gesetzentwurf, in dem diese zweite Stufe getilgt worden war, ließ sich schließlich im Kabinett nicht durchsetzen, das Projekt wurde fürs erste wieder auf Eis gelegt, zumal Erhard es ohnehin nicht mit allzu großem Nachdruck verfolgt hatte. Zu handeln entschloß er sich erst, als Anfang der 1960er Jahre die Gefahr einer Inflation die öffentlichen Debatten beherrschte. In der Tat waren volkswirtschaftliche Probleme nicht mehr zu übersehen21: Das vorhandene Arbeitskräftepotential war weitgehend ausgeschöpft, ein Zustand, den der Mauerbau im August 1961 zweifellos weiter verschärfte. Zwar flachten die Wachstumskurven mit jedem Konjunkturzyklus etwas ab, doch war die Gefahr konjunktureller Überhitzung – vor allem bedingt durch die boomende Exportwirtschaft – noch nicht gebannt. Es war freilich besonders der Preisanstieg, der Anlaß zur Sorge gab. Da die Gewerkschaften ihre lohnpolitische Zurückhaltung aufgegeben hatten, stiegen die Löhne und mit diesen die Preise: 1961 um fast 2,5 Prozent, 1962 um drei Prozent. Für Erhard war die Zeit gekommen, ans „Maßhalten“ zu erinnern, zumal mit der Konvertibilität der D-Mark seit 1958 der „Import“ inflationärer Tendenzen eingesetzt hatte. Obendrein drohte auf europäischer Ebene der deutsche Vorstoß nach stärkerer konjunkturpolitischer Koordination nun mit starken französischen Vorzeichen versehen zu werden, wobei die planungspolitischen Initiativen aus Paris das ordnungspolitische Koordinatensystem des rheinischen Kapitalismus verschieben mochten. Teile der westdeutschen Presse sahen gar bereits „Planungsschatten über der EWG“ heraufziehen22 – ein veritabler Alptraum für den Wirtschaftsminister, der eine Gegenoffensive für geboten hielt23. In diesem Szenario der Bedrohung von mehreren Seiten mochte ein wissenschaftliches Beratungsgremium Wirtschaftsminister und Bundesregierung ent21 Vgl als Überblick Werner Abelshauser, Die Langen fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949–1966, Düsseldorf 1987. 22 Alwin Münchmeyer, Planungsschatten über der EWG? Der freie Wettbewerb darf nicht eingeschränkt werden, in: Die Welt, 29.12.1962. 23 Besonders umstritten war das „Memorandum der EWG-Kommission über das Aktionsprogramm für die zweite Stufe“, Brüssel 1962, das im Bundeswirtschaftsministerium für beträchtliche Irritationen sorgte (für die internen Diskussionen und Gegenstrategien siehe v. a. die Unterlagen in Bundesarchiv Koblenz, B 102/59354) und eine heftige Kontroverse zwischen Erhard und Hallstein zur Folge hatte. Für ihr Rededuell am 20.11.1962 im europäischen Parlament siehe Verhandlungen des Europäischen Parlaments. Ausführliche Sitzungsberichte 1962–1963, Nr. 60, S. 51–56 (Erhard) und 65– 71 (Hallstein), eine kürzere Fassung ist wiederabgedr. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1962.

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lasten. Als stabilitätspolitisches Instrument konzipiert, konnte und sollte es die Tarifautonomie unangetastet lassen, wenn es gelang, die Tarifpartner durch die unabhängige Stimme der Wissenschaft zur Einsicht zu bringen und auf diesem Wege die Entwicklung von Löhnen und Preisen zu beeinflussen. Deshalb sollte der neue Rat gerade nicht intern wirken, sondern öffentlich, wie Erhard bereits in seiner Kabinettsvorlage hervorhob: „Es kann nicht darum gehen“, erläuterte er seinen Ministerkollegen sein Vorhaben, „der Regierung eine neue Form der Beratung zu ermöglichen, die jedoch für die Meinungsbildung der Öffentlichkeit und vor allem für die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Gruppen völlig unverbindlich oder gar uninteressant ist. Vielmehr handelt es sich darum, der Öffentlichkeit insgesamt eine umfassende gutachterliche Äußerung zur Verfügung zu stellen, die dank der Untadeligkeit ihres Zustandekommens und der Autorität der hieran beteiligten Persönlichkeiten von nicht zu übersehender Bedeutung ist und die Gruppen zu einer sachlichen Stellungnahme zwingt.“24 Daß die Bundesregierung daran dachte, auch die Tarifabschlüsse einem Urteil der Gutachter zu unterwerfen, zeigt, wie weit ihre Pläne reichten. Ob derlei Erwartungen realistisch waren, beurteilten die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium skeptisch. Nicht nur war es aus ihrer Sicht inzwischen fraglich, ob man ein solches Gremium nun wirklich brauchte; sondern mehr noch stand ihnen die Gefahr vor Augen, die Wissenschaft könne zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden. Für dieses Vorhaben wären wohl kaum jene „geeigneten Persönlichkeiten“ zu finden, die die Bundesregierung suchte. Obendrein erschien dem Beirat das Wissenschaftsverständnis der Regierung reichlich naiv; hielt er es doch für „geboten, darauf hinzuweisen, daß ein solcher Sachverständigenrat nicht im Namen der Wissenschaft als solcher, vielmehr nur auf Grund des fachlichen Wissens, der Tatsachenkenntnis und der Lebenserfahrung seiner Mitglieder sprechen könnte. Wollte man mehr von ihm erwarten, so hieße es ihn überfordern und eben dadurch seine Wirksamkeit ernstlich gefährden.“25 Wenn man einen solchen Rat schon etablieren mußte, dann solle man ihn, empfahl der wissenschaftliche Beirat, institutionell wie eine oberste Bundesbehörde organisieren. Mit diesem Vorschlag begab er sich freilich in Widerspruch zur Bundesregierung und den maßgeblichen Ministerien, aus deren Reihen nachdrücklich davor gewarnt wurde, eine „para-ministerielle Institution“ zu etablieren26. Unabhängig 24 Kabinettsvorlage Erhards, übersandt an den Staatssekretär des Bundeskanzleramts, 6.4.1962; Bundesarchiv Koblenz, B 102/93226. 25 Erwin von Beckerath (Vorsitzender des Beirats) an Erhard, 8.12.1962; Bundesarchiv Koblenz, B 102/93226. Ähnliche Bedenken äußerte auch Oswald von Nell-Breuning, gleichfalls Mitglied des Beirats: Was Wirtschaftspolitiker bedenken sollten, in: Der Volkswirt, 4.1.1963. 26 Lechner (Bundesinnenministerium) an Bundeswirtschaftsministerium, 17.12.1962; Bundesarchiv Koblenz, B 102/93226.

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sollte der Rat sein und institutionell nicht so mächtig, daß die Bundesregierung angesichts eines möglichen „Oppositionseffektes“ der Beratung besorgt sein müßte27. Am günstigsten schien es, den Rat institutionell eng an das Statistische Bundesamt anzulagern. Als Garant der angestrebten Neutralität sollte der Präsident des Amtes fungieren, der kurzzeitig als Vorsitzender des neuen Rates im Gespräch war. Gerhard Fürst erteilte solchen Plänen jedoch selbst eine Absage und ließ das Wirtschaftsministerium wissen, man könne „von einem Instrumentenbauer nicht ohne weiteres erwarten (. . .), daß er eine gute Sinfonie schreiben und dirigieren kann“28. Ohnehin scheinen solche Überlegungen in Erhards Ministerium eher eine symbolische Rolle gespielt zu haben, denn an einer engen inhaltlichen Kooperation zwischen Sachverständigenrat und Statistischem Bundesamt war man dort ebenso wenig interessiert wie an möglichst präzisen ökonometrischen Berechnungen durch den Rat. Globale Zahlen würden vollauf genügen, hieß es in einem internen Vermerk, denn man müsse „nun einmal leider Wirtschaftspolitik ein wenig in dem Stil machen, wie F[riedrich] Nietzsche ,mit dem Hammer‘ philosophierte“29. Der Sachverständigenrat diente auf diese Weise bereits in seiner Gründungsphase höchst unterschiedlichen Erwartungen als Projektionsfläche. Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Opposition fand Gefallen an dem Projekt, erhoffte sie sich davon doch argumentative Schützenhilfe in ihrem Widerspruch gegen Erhards Wirtschaftspolitik. Entsprechend rasch konnte die Gesetzesvorlage den Bundestag passieren. Nachdem den Sozialdemokraten zudem noch einige Zugeständnisse gemacht worden waren – ins Gewicht fiel eigentlich nur, daß nun der Bundespräsident die neuen Mitglieder des Rates zu ernennen hatte und nicht mehr, wie noch im ursprünglichen Entwurf, nach dem Prinzip der Kooptation verfahren werden sollte – fand sich eine überwältigende Mehrheit für den Sachverständigenrat. Auch wenn die angestrebte Einstimmigkeit nicht erreicht worden war, durfte man das Votum doch als „günstige Ausgangsposi-

27 Vom „Oppositionseffekt“ schreibt Wilhelm Bauer, Der Sachverständigenrat. Einige Bemerkungen zu seinem Wesen und seinen Funktionen, in: Theoretische und institutionelle Grundlagen der Wirtschaftspolitik. Theodor Wessels zum 65. Geburtstag, Berlin 1967, S. 349–357, hier S. 356. Daß der Sachverständigenrat als Opposition wirken könnte, vermutete bereits Fritz Ullrich Fack, Vom Nutzen eines Gutachtergremiums, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7.1962. 28 Fürst an Wolfram Langer (Bundeswirtschaftsministerium), 30.3.1962; Bundesarchiv Koblenz B 102/93226; vgl. auch Fürsts Äußerungen im Deutschlandfunk, referiert in: „Statistik kein Ersatz für Politik“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.1.1963. 29 Vermerk vom 3.10.1962; Bundesarchiv Koblenz, B 102/93226; ebd. auch ein Exposé, in welchem die Leitung des Statistischen Bundesamtes ihre Vorstellungen darlegte: Gerhard Fürst/Hildegard Bartels, „Überlegungen zur Geschäftsführung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, 30.8.1962.

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tion für die Öffentlichkeitswirkungen seiner [des Sachverständigenrates, G. M.] Gutachten“ werten30. Die Aufgaben des Rates faßte das Gesetz in einer klaren Formel31. Er solle, hieß es in § 1, die „Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit“ erleichtern. Die Wirtschaftspolitik war zu messen an vier Kriterien: stabiles Preisniveau, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, angemessenes Wachstum, an jenen vier Eckpunkten also, die im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 als „magisches Viereck“ abermals festgeschrieben wurden. Der Sachverständigenrat hatte sich in seinen Gutachten strikte parteipolitische Neutralität aufzuerlegen32. Dafür sorgte obendrein die Auswahl seiner fünf Mitglieder. Diese waren vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung auf fünf Jahre zu ernennen; sie durften keiner parlamentarischen Körperschaft angehören und auch nicht die Verbände der Sozialpartner repräsentieren. Ebenfalls ausgeschlossen waren Angehörige des öffentlichen Dienstes, wobei für Hochschullehrer und Angehörige sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Institute eine Ausnahme gemacht wurde. Berufen konnte werden, wer über besondere „wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse und volkswirtschaftliche Erfahrungen“ (§ 1 Abs. 2) verfügte, wobei in der Praxis bis zu Beginn der 1970er Jahre die Wissenschaftler über die Praktiker die Oberhand gewannen33. Ein Vorschlag der FDP, daß auch ein Wirtschaftsjournalist dem Rat angehören sollte, war nicht durchzusetzen gewesen34. In diesen Entscheidungen spiegelte sich die Absicht wider, gerade nicht Interessenvertreter in den Rat zu entsenden, sondern den Typus des Sachverständigen von vornherein primär als unabhängigen Wissenschaftler zu definieren. „Geeignete Persönlichkeiten“ zu finden, erwies sich übrigens tatsächlich als schwierig, wobei die Gründe weniger darin zu suchen sind, daß sich Wissenschaftler verweigerten; sondern vielmehr drängten vor allem die unabhängigen Forschungsinstitute in den Rat35. So dauerte es fünf Monate, ehe 30 Wegner, Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung, S. 27. 31 Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 14.8.1963; in: Bundesgesetzblatt 1963, I, S. 685. 32 Die „Unabhängigkeit“ des Rates galt bereits in einem frühen Stadium der Beratungen als conditio sine qua non; vgl. Vermerk „Aufgaben und Arbeitsweise eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“, 13.3.1962; Bundesarchiv Koblenz, B 102/93226. Von Anfang an wurde darauf geachtet, daß dem Rat je zwei Mitglieder angehörten, die CDU/CSU/FDP bzw. SPD/Gewerkschaften nahestanden, sowie ein „Neutraler“. 33 Bereits im ersten Sachverständigenrat war das Verhältnis von Wissenschaftlern zu „Praktikern“ 3:2. 34 Journalist in das Gutachtergremium?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.3.1963. 35 Fritz Ullrich Fack, Wächter über Währungsstabilität und Wirtschaftswachstum. Die Mitglieder und die Aufgaben des neuen Gutachtergremiums, in: Frankfurter All-

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mit Wilhelm Bauer, Paul Binder, Harald Koch, Herbert Giersch und Fritz W. Meyer die Gründungsmitglieder gefunden waren. Die Geschäftsstelle des Rates wurde beim Statistischen Bundesamt angesiedelt. Den „fünf Weisen“ wurden zudem finanzielle Mittel für wissenschaftliche Mitarbeiter zur Verfügung gestellt. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, Jahresgutachten zu formulieren, die sie jeweils zum 15. November der Bundesregierung zuzuleiten hatten. Binnen einer Frist von acht Wochen hatte die Regierung Stellung zu nehmen, dann konnte das Gutachten veröffentlicht werden, was es von den Expertisen des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium fundamental unterschied. Da immer wieder Einzelheiten aus den Gutachten bekannt wurden, ehe die Bundesregierung sich dazu äußern konnte, ging man 1966 dazu über, gleichzeitig mit der Übergabe an die Regierung die Expertisen bereits Bundestag und Bundesrat sowie der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Seitdem kann der Sachverständigenrat obendrein, wenn es die Bundesregierung wünscht oder Gefährdungen der vier gesamtwirtschaftlichen Ziele eintreten, Sondergutachten außerhalb der eigentlichen Fristen abgeben. Bedarf er weiterer Informationen für seine Gutachten, kann der Rat Vertreter der maßgeblichen Bundesministerien, der Verbände und den Präsidenten der Bundesbank zu „Amerika-ähnlichen hearings“36 einladen. In dieser Form besteht der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bis zum heutigen Tage. Zeitweilige Querelen um einzelne seiner Mitglieder, gelegentliche Fehleinschätzungen der wirtschaftlichen Lage sowie hin und wieder bestehender Dissens in den ordnungspolitischen Grundauffassungen zwischen Rat und Bundesregierung bzw. Oppositionsparteien haben sein Renommee zwar angekratzt, seine grundsätzliche Stellung blieb jedoch unangetastet37.

gemeine Zeitung, 28.2.1964. Vgl. auch: Forschungsinstitute wollen beteiligt werden, in: Die Welt, 17.12.1963; Konjunkturforscher nicht nur Materiallieferanten, in: Handelsblatt, 18.12.1963; Wirtschaftsforscher wollen in den Sachverständigenrat, in: Süddeutsche Zeitung, 16.7.1963. 36 Herwig Gückelhorn, Gutachten – Wunder oder Realität. Das neue Gremium sollte nicht überfordert werden, in: Deutsche Zeitung/Wirtschaftszeitung, 10.7.1963. 37 Vgl. Wegner, Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung; Spahn, Die Stabilitätspolitik des Sachverständigenrates. Während der Sachverständigenrat in seinen ersten Gutachten durchaus keynesianischen Positionen zuneigte und damit in Widerspruch zur Ordnungspolitik Erhardscher Prägung geriet, setzten die Gutachten der 1970er Jahre starke monetaristische und angebotsorientierte Akzente, die wiederum nicht immer mit den wirtschaftspolitischen Imperativen der Regierungen Brandt und Schmidt kongruent waren.

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II. Bereits die Gründungsgeschichte des Rates verdeutlicht, daß er in der Tat mehr sein sollte als bloß ein weiteres Beratungsgremium in Diensten der Bundesregierung. Vielmehr lassen sich am Beispiel des Sachverständigenrates Indizien herauspräparieren, die auf tiefgreifende Veränderungen im Verständnis von Wissenschaft und Politik sowie in deren Verhältnis zueinander verweisen. In der Konstituierung des Rates spiegelten sich die Veränderungen wider, die in Binnenorganisation, Selbstverständnis, gesellschaftlicher Rolle und öffentlichem Ansehen der Wirtschaftswissenschaften spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu beobachten waren. Wie die Sozialwissenschaften erlebten auch die Wirtschaftswissenschaften nach 1945 und verstärkt in den 1960er Jahren eine Phase kräftigen Wachstums, das sich in der Zahl und finanziellen Ausstattung universitärer Lehrstühle ebenso bemerkbar machte wie in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Ihren Anspruch, konjunkturelle Entwicklungen, aber auch wirtschaftspolitisches Handeln wissenschaftlich zu evaluieren, dokumentierten die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute schon seit 1950 dadurch, daß sie jährlich ein gemeinsames Konjunkturgutachten abgaben38. Durch diesen Kanal floß wissenschaftliches Wissen in politische Entscheidungsprozesse mit ein39. In der wachsenden Bedeutung der akademischen Ökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg schlugen sich jene säkularen und internationalen Tendenzen nieder, die zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ und des Ökonomischen sowie zur Wissensgesellschaft führten40. Gefördert wurden diese Tendenzen dadurch, daß in den Wirtschaftswissenschaften selbst anwendungsorientierte Forschungen in den Vordergrund rückten und historisch-philosophische Erkenntnisinteressen, wie sie sich in Deutschland in der einflußreichen Historischen Schule ausgedrückt hatten, zunehmend marginalisiert wurden41. Mit der anglo38

Nützenadel, Wissenschaftliche Politikberatung, S. 291. Vgl. Heinz König, Economic Knowledge Transfer by Research Institutes in Germany: Some Reflections, in: Ernst Mohr (Hg.), The Transfer of Economic Knowledge, Cheltenham/Northampton 1998, S. 90–99. 40 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), S. 165–193; Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte? in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 277–305. 41 Vgl. Bertram Schefold, Der Nachklang der Historischen Schule in Deutschland zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Anfang der sechziger Jahre, in: Karl Acham/Knut Wolfgang Nörr/Bertram Schefold (Hg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und den 50er Jahren, Stuttgart 1998, S. 31– 39

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amerikanischen Forschung wurden nun verstärkt quantitative Methoden rezipiert. Mathematische Modelle, volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, linear programming, aber auch die Theorie der strategischen Spiele wurden von den bundesdeutschen Ökonomen aufgegriffen42, auch wenn sie sich mit der Aneignung der neuen statistischen und ökonometrischen Verfahren schwer taten und gerade auf diesen Gebieten noch lange von dem „Normalzustand der Balance zwischen eigener Entwicklung und Rezeption“ entfernt blieben43. Auf anderen Feldern hingegen, etwa dem der Wachstumstheorie, hatte man in der Bundesrepublik bereits Anschluß an die internationale Forschung gefunden44. Aufgrund ihrer Nähe zur Praxis wuchs die politische Bedeutung der Wirtschaftswissenschaften stetig. Ihren Vertretern wurde die Aufgabe der „praktisch-technologischen Entscheidungsvorbereitung für die Akteure der staatlichen Wirtschaftspolitik“ übertragen45, und sie nahmen diese Aufgabe an. Ihre Bereitschaft, politische Akteure zu beraten, entsprang einer seit langem bestehenden Überzeugung, gerade auch auf Seiten der Ordoliberalen, daß Politik wissenschaftlich fundiert sein müsse, wollte sie nicht zum Spielball mächtiger organisierter Interessen werden. Schon in den 1930er Jahren hatten die Freiburger Ökonomen, die später der Sozialen Marktwirtschaft das konzeptionelle Fundament gaben, postuliert, daß „die Männer der Wissenschaft (. . .) durch ihren Beruf und ihre Position außerhalb der wirtschaftlichen Interessen die einzigen objektiven, unabhängigen Ratgeber [seien], die der staatlichen Wirtschaftspolitik und der öffentlichen Meinung einen zutreffenden Eindruck in die Zusammenhänge des Wirtschaftslebens geben und damit die Grundlage für die wirtschaftspolitische Urteilsbildung liefern können. Sie sind auch die einzigen, welche auf Grund einer genauen Kenntnis dieser Zusammenhänge, die durch dauernd neue theoretische Durchdringung sich ständig erweitert und verfeinert, sich ein sachliches, von eigenen unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen unabhängiges Urteil über zweckmäßige wirtschaftliche Maßnahmen bilden und solche in Vorschlag bringen können. Ver-

70. Zum Einfluß der US-amerikanischen Ökonomie vgl. Harald Hagemann, Der amerikanische Einfluß auf das deutsche Wirtschaftsdenken, in: Detlef Junker (Hg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges. Ein Handbuch, Bd. 1: 1945– 1968, Stuttgart/München 2001, S. 553–563. 42 Karl Schiller, Neuere Entwicklungen in der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1958, S. 22. 43 Knut Borchardt, Denkschrift zur Lage der Wirtschaftswissenschaft. Verfaßt im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Wiesbaden 1960, S. 22. 44 K. W. Rothschild, The Old and the New – Some Recent Trends in the Literature of German Economics, in: American Economic Review 56 (1964), Supplement: Surveys of Foreign Postwar Developments in Economic Thought, S. 1–33, bes. S. 8 f. 45 Gunther Engelhardt, Vom Expertenmonolog zum gesellschaftlichen Dialog. Funktion und Wirkungsweise des Sachverständigenrates in Politik und Öffentlichkeit, in: Molitor (Hg.), Zehn Jahre Sachverständigenrat, S. 187–209, hier S. 188.

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zichtet die Wissenschaft auf diese Rolle oder wird sie ihr aberkannt, dann treten andere, weniger berufene Ratgeber an ihre Stelle – die Interessenten.“46 So hätte dies auch Ludwig Erhard zu Beginn der 1960er Jahre formulieren können. Er konnte sich in völligem Einklang fühlen mit dem Mainstream der westdeutschen Wirtschaftswissenschaften, deren führender Kopf die Werturteilsfrage für nachrangig erklärt hatte47. Nicht Werturteilsfreiheit, sondern „Sachlichkeit“ bzw. „Versachlichung“ galt unter den Ökonomen als vorrangiges normatives Leitbild. Erwin von Beckerath, der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, definierte als Aufgabe der Ökonomen, „Interessen-Ideologien zu erkennen und zu entlarven“. Dies gelte umso mehr, als die parlamentarische Demokratie „rationaler Wirtschaftspolitik“ nicht unbedingt förderlich sei, weil „der Kampf um die Wählerstimmen mit der Behandlung eines jeden Gesetzgebungsaktes erneut einsetzt“ und „rationale“ Argumente demgegenüber zurücktreten müßten. Die Abgeordneten selbst könne man kaum als „fachlich versierte“ Volksvertreter ansehen, „welche die Sprache der Wirtschaftswissenschaften verstehen und sprechen“, weshalb die Parlamente nicht „von sich aus ein Gegengewicht gegenüber einer durch Sach- und Aktenkunde allzu überlegenen Bürokratie (. . .) schaffen“ könnten48. Die Idee einer wissenschaftlich fundierten Politik jenseits von Parteien- und Gruppeninteressen, wie sie von Beckerath hier formulierte, konnte ihre Parallelen zu den Vorstellungen des konservativen Widerstands gegen den Nationalsozialismus unschwer verleugnen, zumal es zwischen den neoliberalen Vordenkern einer marktwirtschaftlichen Ordnung nach dem Kriege und den Widerstandsgruppen um Carl Goerdeler einige personelle Überschneidungen gab49. 46 Franz Böhm/Walter Eucken/Hans Großmann-Doerth, Unsere Aufgabe, in: Franz Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Stuttgart/Berlin 1937, S. VII–XXI, hier S. VII f. 47 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, hg. von Edith Eucken und K. Paul Hensel, Bern 1952. 48 Erwin von Beckerath, Der Einfluß der Wirtschaftstheorie auf die Wirtschaftspolitik [1956], in: ders., Lynkeus. Gestalten und Probleme aus Wirtschaft und Politik, Tübingen 1962, S. 288–303, hier S. 293. 49 Beckerath war der Vorsitzende der sog. „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ gewesen, die seit den frühen 1940er Jahren alternative Konzepte zur NS-Wirtschaftspolitik entwickelte; vgl. Der Weg in die soziale Marktwirtschaft. Referate, Gutachten, Protokolle der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath 1943–1947, bearbeitet von Christine Blumenberg-Lampe, Stuttgart 1986. Zu den neoliberalen Konzeptionen während des Krieges Anthony J. Nicholls, Freedom with Responsibility. The Social Market Economy in Germany 1918–1963, Oxford 2000 [1994], v. a. S. 60 ff.; Heinz Rieter/Matthias Schmolz, The Ideas of German Ordoliberalism 1938–45: Pointing the Way to a New Economic Order, in: European Journal of Economic Thought 1 (1993), S. 87–114. Zu den Konzeptionen v. a. des konservativen Widerstands am prägnantesten noch immer Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes [1966/1984], in: ders., Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze, Reinbek 1991, S. 233–337.

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Wissenschaft als Garant für Sachlichkeit und Objektivität: Das war das Leitbild der Ordoliberalen wie auch Erhards, dessen normative Dimensionen nicht zu übersehen sind. Von anderer Warte aus gelangten aber auch die Sozialdemokraten zu dieser Vorstellung. In der Tat hatte sich gerade die SPD seit Mitte der 1950er Jahre die Förderung von Wissenschaft und Technik auf ihre Fahnen geschrieben, worin sich die traditionell enge Bindung des Sozialismus an die Wissenschaften aktualisierte. Die Tradition der Aufklärung war in der SPD stets lebendig geblieben und wurde nun mit Entschiedenheit wieder aufgegriffen und in programmatische Maximen umgesetzt. Generell forderten die Sozialdemokraten, daß „sachliche Arbeit an den Zukunftsaufgaben“ wissenschaftlich fundiert sein müsse, denn „Politik ohne enge Bindung an die Wissenschaften wird wirklichkeitsfremd.“50 Erleichtert wurde der Transfer wissenschaftlicher Theorie in die politische Praxis durch den Wandel in den Wissenschaften selbst, nicht zuletzt in der Nationalökonomie, wie Karl Schiller, selbst ein renommierter Ökonom, verdeutlichte: Die Wirtschaftswissenschaften hätten sich, so Schiller schon 1955, so weit professionalisiert, differenziert und damit selbst „versachlicht“, daß sie nicht mehr wie früher „als ein Sammellager von Ideen für alle möglichen Zwecke erschienen (. . .), wo sich dann jeder das gewünschte Dogma abholen konnte. (. . .) in der Entdogmatisierung der Methoden des ökonomischen Denkens und Handelns ist die Diskussion entkrampfter und sachlicher geworden. Gerade dieser Rückzug von den subjektiven Werttafeln auf den Werkzeugkasten (. . .) hat die Ökonomie gleichzeitig soviel praktischer gemacht.“51 Aufgrund ihrer Praxisbezogenheit besaßen die Wirtschaftswissenschaften aus dieser Sicht hohe Qualität, wenn sie als Lieferanten praxisrelevanten Wissens herangezogen wurden. Indem die „fünf Weisen“ ihre Expertisen Regierung und Öffentlichkeit vorlegten, übernahmen sie, wie ein Verfassungsrechtler 1972 zugespitzt notierte, „von Stund an die Verantwortung für die Realisierung makroökonomischer Stabilität“52. Gleichwohl sind die praktischen Auswirkungen dieses Leitbilds schwer abzuschätzen, denn zwar sollten die Sachverständigen Alternativrechnungen präsentieren sowie „Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung aufzeigen“ (§ 2 des Gesetzes), hatten sich eines Urteils jedoch tunlichst zu enthalten. Die Entscheidungshoheit verblieb voll und ganz bei den politischen Akteuren. Wollte man die Beratung durch den 50 Willy Brandt auf dem Parteitag von 1964; Parteitag der SPD vom 23. bis 27.11.1964 in Karlsruhe, Bonn 1964, S. 132–134. 51 Karl Schiller, Der Ökonom und die Gesellschaft. Rede anläßlich der Feier zum Beginn des neuen Amtsjahres des Rektors am 9. November 1955, Hamburg 1955, S. 24 f. Hervorhebung im Original. 52 Engelhardt, Vom Expertenmonolog zum gesellschaftlichen Dialog, S. 188.

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Sachverständigenrat dem „klassischen“ Modell Jürgen Habermas’ zuordnen53, das in der wissenschaftlichen Diskussion der Politikberatung noch immer als eine zentrale Referenz gilt, so entsprach sie am ehesten seinem „pragmatistischen Modell“. In diesem sollte nicht die Gestaltungsmacht des Sachzwangs ausschlaggebend sein, von dem kurz vor ihm Helmut Schelsky düstere Visionen entworfen hatte54, sondern, so Habermas, idealerweise „ein kritisches Wechselverhältnis“ zwischen wissenschaftlichen und politischen Akteuren im Rahmen einer offenen Staatsbürgergesellschaft. Relevanz besitzt das „pragmatistische Modell“ im Hinblick auf den Sachverständigenrat weniger aufgrund der Idee, daß durch solche Art von Beratung politische Herrschaft „im ganzen der wissenschaftlich angeleiteten Diskussion zugänglich (. . .) und dadurch substanziell verändert“ würde55. Entscheidend dürfte vielmehr die Rolle der Öffentlichkeit sein, der Habermas zentrale vermittelnde Bedeutung bei der „Umsetzung technischer und strategischer Empfehlungen in die Praxis“ beimißt56. Nur durch die – auch und gerade vorwissenschaftliche – Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit spricht der Autor seinem Modell eine Chance zur Wirksamkeit zu, und zwar durchaus in ähnlicher Weise, wie er die Funktion der Öffentlichkeit für die Ausformung von Herrschaft beurteilte57. Gerade im Verhältnis zur Öffentlichkeit, mit der er durch seine Gutachten in einen Kommunikationsprozeß eintrat, sah der Sachverständigenrat eine seiner vornehmsten Aufgaben. Darauf ist sogleich zurückzukommen. Aufgrund der verordneten Abstinenz von Bewertungen, auch darin entsprach der Rat dem „pragmatistischen Modell“, konnte keine Rede davon sein, daß die Sachverständigen „souverän geworden [seien] gegenüber den Politikern“58. Indem er sich eines Urteils enthalten sollte, fand sich der Sachverständigenrat in die „Rolle des Chores in der antiken Tragödie“ gedrängt: „Er soll nicht selbst handeln, sondern getrennt von der Bühne der Handelnden deren Tun begleiten und es messen an den höchsten Idealen der Zeit“59 – will heißen: an den vier 53 Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung [1963], in: ders., Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt am Main 1969, S. 120– 145. 54 Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln/Opladen 1961. 55 Habermas, Verwissenschaftlichte Politik, S. 126. 56 Ebd., S. 129. 57 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962. – Auf S. 294 heißt es, daß es „vom Grad und der Art der Funktionsfähigkeit ihrer [der bürgerlichen Öffentlichkeit, G. M.] abhängt, ob der Vollzug von Herrschaft und Gewalt als eine gleichsam negative Komponente der Geschichte beharrt – oder aber (. . .) der substantiellen Veränderung zugänglich ist.“ (Hervorhebung im Original). 58 Habermas, Verwissenschaftlichte Politik, S. 126. 59 Lothar F. Neumann, Im Sinne der „normalen Wissenschaft“ – Die technokratische Perspektive des Sachverständigenrates, in: Molitor (Hg.), Zehn Jahre Sachver-

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Eckpunkten des magischen Vierecks, die der Rat bereits in seinem ersten Gutachten als „gleichrangig“ auffaßte60. Im Wissenschaftsverständnis, welches dem Modell des Sachverständigenrates zugrunde lag, dominierte klar erkennbar die Vorstellung, die Wirtschaftswissenschaften hätten das Stadium einer normalen Wissenschaft im Sinne Thomas S. Kuhns erreicht61. Auf die Ökonomen angewendet, so ließ sich aus der Kuhnschen Theorie schließen, bestand unter ihnen ein Grundkonsens über die Paradigmen ihrer Wissenschaft, also über bestimmte Verfahren zur Problemlösung und den Gehalt bestimmter zentraler Begriffe62. Eine solche Auffassung spiegelte sich beispielsweise bei Ludwig Erhard wider, wenn er den Wirtschaftswissenschaften einen „hohen Grad von sachlicher Übereinstimmung bei der Beurteilung konkreter wirtschaftspolitischer Fragen“ attestierte63, wobei ihn der methodologische Zugriff und die keynesianischen Anwandlungen des Rates in den folgenden Jahren ebenso überraschen mußten wie die Querelen um Wolfgang Stützel, der 1969 aus dem Rat austrat und mit seinem Vorwurf, er sei an der Abgabe eines Minderheitsvotums gehindert worden, einen öffentlichen Eklat hervorrief. In den steten Postulaten strikter Neutralität, die den Rat von Anbeginn begleiteten, wurde obendrein das Webersche Leitbild wertneutraler Wissenschaft beschworen. Und in der Tat war der Sachverständigenrat stets politisch neutraler als etwa der amerikanische Council of Economic Advisors, der direkt beim Präsidenten angesiedelt ist und ihm unmittelbar zuarbeitet. Gleichwohl sollte man die Neutralitätsrhetorik nicht ohne weiteres wissenschaftlich perpetuieren. Denn schon bei der Auswahl der Gründungsmitglieder des Rates war nach einem „stillen Proporz“64 verfahren worden: „Neben dem Ineinandergreifen der fachlichen Eigenschaften und der Erfahrungen dieser fünf Persönlichkeiten wurde bewußt darauf geachtet, allen denkbaren politischen Angriffen auf dieses Gremium den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vor allem können die Opposiständigenrat, S. 9–32, hier S. 17 f. – Diese Wendung, bezogen auf die Aufgaben der Nationalökonomie, fand sich (worauf Neumann nicht hinweist) bereits bei Gustav von Schmoller 1880 und wurde wieder aufgegriffen von Walter Eucken, Nationalökonomie wozu?, Leipzig 1938, S. 44. 60 Stabiles Geld – stetiges Wachstum. Jahresgutachten 1964/65 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Stuttgart/Mainz 1965, S. V. 61 Vgl. dazu ausführlicher Neumann, Im Sinne der „normalen Wissenschaft“. 62 Dazu grundlegend: Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962 und öfter; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967 und öfter; eine knappe Zusammenfassung und Diskussion der Kuhnschen Theorie bei Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 3, Stuttgart 81987, 280–330. 63 Kabinettsvorlage Erhards, 6.4.1962; Bundesarchiv Koblenz, B 102/93226. 64 Franz Holzheu/Harald Mattfeldt, Spiegelbild von Widersprüchen. Hat der Sachverständigenrat im Hinblick auf eine kritische Zieldiskussion versagt?, in: Molitor (Hg.), Zehn Jahre Sachverständigenrat, S. 33–57, hier S. 34.

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tion und die Gewerkschaften keinerlei Vorbehalte anmelden. Durch die Berufung von Dr. Koch [der 1949–53 für die SPD dem Bundestag angehört hatte, G. M.] entfällt jeder Vorwurf, die Bundesregierung sei einseitig verfahren.“65 Insofern verfing die idealtypische Trennung zwischen Sachverständigen und Interessenvertretern, wie sie im Gesetzestext Ausdruck gefunden hatte, in der Praxis nur unter Vorbehalten, beide Rollen waren nicht immer voneinander zu trennen66. Neutral im Sinne von Urteilsfreiheit konnte der Sachverständigenrat kaum sein. Denn zum einen mochte er, legte er sich in einem Gutachten auf einen „first best way“ fest, der Regierung kaum Handlungsalternativen belassen; zum anderen war er aufgrund seiner gesetzlichen Grundlagen, wie sie sich seit Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes darstellten, geradezu gezwungen, die ökonomische Entwicklung permanent zu beobachten, um gegebenenfalls mit einem Sondergutachten zu intervenieren. Dieses war zu erstatten, wenn eines der vier stabilitätspolitischen Ziele gefährdet war, auf der Basis eines Befundes also, aus dem Werturteile kaum zu eliminieren waren67. Obendrein, und auch das nimmt dem Postulat strikter Neutralität etwas von seiner Überzeugungskraft, machte der Rat selbst deutlich, daß er seine Tätigkeit als „bedeutende sozialpädagogische Aufgabe“ verstand68. Die Praxis der Beratung ließ aus der Sicht eines Sachverständigen gar das amerikanische Modell als attraktiver erscheinen, dem man sich in der Bundesrepublik annähern sollte, zumal die Webersche Trennung der Sphären von Wissenschaft und Politik nicht mehr zeitgemäß sei69. Zu einer solchen Reorganisation ist es nicht gekommen. Hinsichtlich seiner Bedeutung und Funktion transzendierte der Sachverständigenrat freilich in jedem Fall den Aufgabenkreis ressortbezogener Beratung, und zwar sowohl aus der Sicht seiner Mitglieder als auch seiner Schöpfer. Aus beider Perspektive fungierte der Rat als Transmissionsriemen zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, ganz so, wie es das oben beschriebene „pragmatistische Modell“ vorsah. 65 Die Besetzung des Sachverständigenrats – Warum so?, in: Das Wirtschaftsbild, Nr. 804, 21.2.1964, S. 7. 66 Dazu die grundsätzlicheren Hinweise bei Winfried Brohm, Sachverständige Beratung des Staates, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, Heidelberg 1987, S. 207–248, hier S. 218 f. 67 Wegner, Möglichkeiten und Grenzen wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung, S. 42 f. 68 Mitteilung Gochts an Staatssekretär Langer (beide Wirtschaftsministerium) über ein Gespräch mit dem Sachverständigenrat, 5.4.1965; Bundesarchiv Koblenz, B 102/ 93231. 69 Dafür plädierte der Sachverständige Harald Koch vor dem Wirtschaftsbeirat des bayerischen SPD. Sein Vortrag wird referiert in: Rat der Sachverständigen riet vergebens, in: Süddeutsche Zeitung, 14.6.1966.

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Die Gründung des Sachverständigenrates war eingefügt in den wirkungsmächtigsten innenpolitischen Diskurs der 1960er Jahre. Dieser entwickelte sich aus der Frage, wie in einer modernen – und sich weiterhin dynamisch modernisierenden – Industriegesellschaft politisches Handeln und allgemein verbindliche Allokationsentscheidungen ermöglicht werden könnten70. Einer solchen Frage ging die Diagnose voraus, daß sich in der Gesellschaft der Bundesrepublik starke pluralistische, differenzierende und desintegrierende Tendenzen zeigten. Mit aller Macht drängte vor allem das Integrationsproblem in den Vordergrund71, dessen Ursachen aufmerksame Beobachter in den fundamentalen sozialstrukturellen, soziokulturellen und soziotechnischen Veränderungen der Nachkriegszeit erkannten. Die Soziologin Renate Mayntz sah in der Rede vom „Verlust der sozialen Integration in eine festgefügte menschliche Gemeinschaft (. . .) fast ein[en] soziologische[n] Gemeinplatz bei der Deutung der gegenwärtigen sozialen Situation.“72 In solchen Befunden schlug sich indessen nicht mehr der Topos vom „atomisierten Individuum“ nieder, wie ihn die Kulturkritik konservativer Observanz in den 1950er Jahren ins Zentrum ihrer Deutungen der Gesellschaft als „Masse“ gestellt hatte73. Vielmehr wurden nun gesellschaftliche Prozesse reflektiert, durch welche überkommene soziale Bindungen und sozialmoralische Milieus geschwächt oder gar zerstört wurden74. Alfred MüllerArmack, einflußreicher Stichwortgeber Ludwig Erhards, begründete sein Konzept einer „zweiten Phase“ der sozialen Marktwirtschaft damit, „daß eine durch eine beispiellose industrielle Expansion in Bewegung geratene und durcheinan70

Dazu ausführlich Metzler, Konzeptionen politischen Handelns. Zum theoretischen Rahmen von „Integration“ vgl. Bernhard Peters, Die Integration moderner Gesellschaft, Frankfurt 1993; Richard Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt am Main 1997, S. 67–109. Ausführlicher zum Integrationsproblem im Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, Kap. A.III.1. 72 Renate Mayntz, Die soziale Organisation des Industriebetriebs, Stuttgart 1958, S. 83. 73 Dieses Deutungsmuster beherrschte den deutschen Gesellschaftsdiskurs von den 1920er bis zu den 1950er Jahren; vgl. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 118 ff.; Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 324 ff. 74 Das gilt insbesondere für das proletarische und das katholische Milieu; vgl. Josef Mooser, Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze/M. Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143–186; ders., Auflösung der proletarischen Milieus. Klassenbildung und Individualisierung in der Arbeiterschaft vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik Deutschland, in: Soziale Welt 34 (1983), S. 270–306; Karl Gabriel, Die Katholiken in den 50er Jahren: Restauration, Modernisierung und beginnende Auflösung des katholischen Milieus, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 418–430. 71

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der geschüttelte demokratische Gesellschaft besondere gesellschaftspolitische Anstrengungen erfordert, um das Maß an Lebensform in einer neuen zeitgerechten Art und Weise zu schaffen, das ihr durch die Folgen der Industrialisierung, der Verkehrsentwicklung, des Abbaus traditioneller Bindungen an die heimische Scholle, an angestammte Berufe und an Selbständigkeit verloren ging.“75 Die Parteien bekamen dies im Wahlverhalten der Bürger bald zu spüren, zuerst die SPD, die bei der Bundestagswahl von 1957 Arbeiterstimmen verlor, dann aber auch die CDU, die vier Jahre später die katholischen Wähler nicht mehr im gleichen Maße an sich binden konnte wie zuvor76. Wenn wichtige Integrationsinstanzen, die seit dem Kaiserreich maßgeblich gewesen waren, nicht mehr verfügbar bzw. in ihrer Wirkung stark eingeschränkt waren – man denke insbesondere an den Nationalstaat und das Militär –, gewannen ökonomische Integrationsmechanismen an Bedeutung, wie sie sich beispielsweise in der „Eigentum für alle“-Politik Erhards manifestierten. Aus dessen Sicht war freilich die Frage noch drängender, wie sich politische Interessen vor dem Hintergrund sozialer Differenzierung gegeneinander abwägen ließen. Erhard trieb die Sorge um, Politik könne zum bloßen Spielball mächtiger Interessengruppen werden, umso mehr, als in Zeiten ungünstiger ökonomischer Daten die Verteilungsspielräume enger und entsprechend die Verteilungskämpfe schärfer würden. In der Tat war die Macht der Verbände freilich ein Thema, das schon seit Mitte der 1950er Jahre auf der innenpolitischen Tagesordnung stand77. Die pluralitär organisierten Interessen wurden vielfach als weitere Bedrohung gesellschaftlicher Integration angesehen. Daher sei dringend zu klären, schrieb der Verfassungsrechtler Joseph H. Kaiser, neben Theodor Eschenburg der einflußreichste Interpret des Verbändewesens, „ob die in den Interessengruppen organisierten Energien zum Wohle des Ganzen beitragen oder ob sie den Staat, die politische Ordnung der Nation, in Stücke reißen.“78 Aus der Sicht Erhards und seiner Mitstreiter fiel die Antwort auf diese Frage eindeutig aus, und sie fanden eine Lösung des Problems. In der Gründungsphase des Rates vermerkte die Bundesregierung nicht ohne Stolz, dieser stelle 75 Alfred Müller-Armack, Die zweite Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Ihre Ergänzung durch das Leitbild einer neuen Gesellschaftspolitik [Februar 1960], in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration, Freiburg 1966, S. 267–291, hier S. 271. 76 Vgl. Uwe Kitzinger, Wahlen in Westdeutschland. Eine Analyse der Bundestagswahl 1957, Göttingen 1960, S. 274 ff., 280 ff., 289 ff.; Max Kaase, Wechsel von Parteipräferenzen. Eine Analyse am Beispiel der Bundestagswahl 1961, Diss. rer. soc. Köln 1964, bes. S. 86 ff., 109 ff. 77 Einer der ersten und gewichtigsten Beiträge zu diesem Thema: Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, Stuttgart 1955. Zur Diskussion um die Rolle der Verbände in den 1950er Jahren vgl. auch Volker Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1985, S. 180 ff. 78 Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956, S. 284.

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„eine Institutionalisierung der Stimme der Wissenschaft und damit der Unabhängigkeit dar. Man sollte diesen Weg als eine neuartige Form des Regierens betrachten, in der Objektivität mehr zur Richtschnur gemacht wird.“79 Wissenschaftliche Politikberatung sollte daher keine konkreten Empfehlungen aussprechen, sondern den Weg zu einer gemeinwohlorientierten Politik weisen. An die Stelle egoistischer Gruppen- und Interessenpolitik sollte eine „Versachlichung“ der Auseinandersetzungen treten, ein Postulat, von dem sich die Sozialpartner unmittelbar angesprochen fühlen durften. Unverkennbar schien daher bereits in der Konzeption des Sachverständigenrates Erhards Jahre später präsentiertes Leitbild der „formierten Gesellschaft“ auf. Seine Kritik an der vermeintlich übergroßen Macht der Verbände, die nur auf ihre egoistischen Interessen bedacht waren und darüber das „Gemeinwohl“ aus den Augen verloren80, floß ungefiltert in die Konzeption des Sachverständigenrates ein. Die Etablierung des Sachverständigenrates war Kernelement einer „Stabilisierungsstrategie“81, die ökonomischen und politischen Akteuren „vernünftiges“ Verhalten nahelegen wollte. Seine primäre Funktion lag daher nicht in der Nutzung von Wissensressourcen, sondern in seiner Rolle im Rahmen einer auf gesellschaftliche Integration bedachten Politik, indem er jene durch Interessen oder soziale Lage motivierten Spaltungspotentiale entschärfen helfen sowie politische Maßnahmen und staatliche Interventionen legitimieren sollte. Ein Vertreter der Regierungskoalition faßte solche Erwägungen in der Schlußlesung des Gesetzentwurfs bündig zusammen, indem er den Wunsch ausdrückte, der Sachverständigenrat möge, im Ruf „lauterster Objektivität“, „sich zu einer echten, über den Parteien und Organisationen stehenden Autorität [entwickeln], einer Autorität, die wir ihm bewußt zuerkennen, da er diese Autorität braucht, um zu einem stabilisierenden Faktor, zu einem ruhenden Pol in der Flucht unserer sozial- und wirtschaftspolitischen Lebenserscheinungen zu werden.“82 „Objektivität“ und „Sachlichkeit“ bzw. „Versachlichung“ waren die Schlüsselwörter in den Debatten über den Sachverständigenrat. Auch das läßt sich als „neuartige Form des Regierens“ interpretieren. Um in der modernen Industriegesellschaft politisch handeln zu können, mußte man wissenschaftlich fundiertes Wissen (im Gegensatz zu bloßem Alltagswissen) als Ressource83 generieren und nutzen. Das mußte keineswegs bedeuten, daß solches Wissen unmittelbar in 79 Rolf Gocht, Teil II des Protokolls der 86. Sitzung des Beirats, 26./27.10.1962; Bundesarchiv Koblenz, B 102/93226. Hervorhebung von mir. 80 Darüber entspann sich eine Kontroverse zwischen Ludwig Erhard und dem DGBVorsitzenden Ludwig Rosenberg; vgl. dazu Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB von 1940 bis 1965, München 2003, S. 430 ff. 81 Spahn, Stabilisierungspolitik, S. 47. 82 Brand (CDU/CSU) in der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates, 26.6.1963, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, Bd. 53, S. 3948 f.

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politische Entscheidungen Eingang fand oder diese präjudizierte, sondern das Etikett der Wissenschaftlichkeit, von seinen Nutzern stets verstanden als „Objektivität“, mochte auch dazu dienen, politische Entscheidungen zu legitimieren. Diese Funktion konnte Wissenschaft und Politikberatung indessen nur erfüllen, wenn in der Öffentlichkeit ein positiv konnotiertes Wissenschaftsbild dominierte; kurz: wenn den Wissenschaften die Lösung der drängenden Probleme der Gegenwart zugetraut wurde. Ein solches Image besaßen die Wissenschaften in den 1960er Jahren mehr denn je, wie auch die Technikrezeption im „Atomzeitalter“, von dem nun allerorten die Rede war, von nachhaltigem Fortschrittsoptimismus geprägt war. Vor diesem Hintergrund umgab die „Experten“, nicht nur in der Bundesrepublik, aber hier vielleicht in besonderem Maße84, eine Aura der Omnikompetenz und der Objektivität, mit deren Hilfe politische Entscheidungen gefällt bzw. legitimiert werden konnten. Gerade auf den als besonders zukunftsbestimmend wahrgenommenen Politikfeldern fiel ihnen eine Schlüsselrolle zu, wofür Wissenschaftsrat und Bildungsrat die wichtigsten Beispiele abgeben. Aber auch der Sachverständigenrat fügte sich ein in den Prozeß der angestrebten Verwissenschaftlichung von Politik, auch wenn seine faktische Bedeutung als wissenschaftliches Gremium zum Zwecke ressortbezogener Politikberatung eher als gering einzuschätzen ist. In den Topoi der „Objektivität“ und „Versachlichung“ schlug sich ein Wandel im Staatsverständnis nieder, dessen Ausmaße den Gründern des Sachverständigenrates wohl kaum bewußt gewesen sind. In der Perspektive der Regierung sollte es seine Aufgabe sein, „den Kampf zwischen den Interessenten zu beseitigen“ und der Öffentlichkeit durch „neutrale Gutachten“ zu einem „objektiven Bild“ der volkswirtschaftlichen Lage zu verhelfen85. Nicht die Verbände und auch nicht der Staat wiesen den Weg zu gemeinwohlkonformen Entscheidungen, sondern die Wissenschaften, die als Garanten von Rationalität fungierten. In einem solchen Verständnis lassen sich Partikel des amerikanischen 83 Der Begriff der Ressource bezieht sich auf „autoritative Ressourcen“ im Sinne Anthony Giddens’; im Anschluß daran sind hier darunter all jene Wissensbestände, Interpretationen und Deutungsmuster zu verstehen, über die politische Akteure verfügen konnten. Vgl. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main/New York 31997, S. 77 ff. und 315 ff. 84 Die historische Forschung hat das Phänomen expandierender Politikberatung bislang weder im diachronen noch im internationalen Vergleich systematisch untersucht. Entsprechend sind empirisch fundierte Aussagen über etwaige Unterschiede in Formen und Intensität der Beratung bzw. im Status der Wissenschaften noch kaum möglich; einen knappen Hinweis gibt Thomas Schneider, Die wirtschaftliche Beratung der Politik. Frankreich und Bundesrepublik Deutschland. Am Beispiel des Conseil Economique et Social und des Sachverständigenrates zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Pfaffenweiler 1989, S. 215 f. 85 Der Sprecher der CDU/CSU, Schütz, in der Begründung des Gesetzentwurfs während der ersten Lesung des Gesetzes, 26.10.1962, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, Bd. 51, S. 1923 f.

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Pragmatismus identifizieren, der in den USA die New Deal-Koalition mitsamt ihres wissenschaftlichen Umfeldes fundierte86. Insofern trafen in der Gründung des Sachverständigenrates genuin deutsche Traditionen auf westliches Gedankengut, das die politische Selbstverständigung der Bundesrepublik mit prägte. Diese Entwicklung blieb nicht ohne Widerspruch. Kritik wurde auf den Sachverständigenrat gemünzt, verfolgte aber tatsächlich sehr viel weiterreichende Ziele: Aus Sicht namhafter Staatsrechtler spiegelte sich in der Konstituierung des Sachverständigenrates der Autoritätsverlust des Staates wider, der sich seit geraumer Zeit vollziehe. Das wiege nun umso schwerer, als dem Rat und tendenziell der Politikberatung in toto jegliche politische Legitimation abgehe. Ernst-Wolfgang Böckenförde, der mit seiner Habilitationsschrift 1964 eine umfassende, informierte und viel beachtete Kritik an den Mängeln des bundesdeutschen Regierungssystems vorlegte, sah mit dem Sachverständigenrat den „Punkt erreicht, an dem fachkundige Beratung der politischen Instanzen, gegen die nichts einzuwenden ist, in eine unverantwortliche Nebenregierung umschlägt, die der demokratischen Legitimation entbehrt.“ Indem er das Recht habe, nahezu das gesamte Feld staatlicher Wirtschaftspolitik zu begutachten und seine Expertisen zu publizieren, was dem Rat direkten Zugang zur Öffentlichkeit eröffne, sei er ein „quasi-politisches Organ mit Regierungsfunktion, das, aus den Bindungen des parlamentarischen Regierungssystems entlassen, freischwebend und unkontrolliert auf sich selbst gestellt ist – das Schulbeispiel einer ,indirekten Gewalt‘.“87 Der Forsthoff-Schüler Christian Heinze knüpfte daran an, als er 1967 argumentierte, der Sachverständigenrat sei das institutionalisierte Indiz für den Verlust an Staatlichkeit, der sich im politischen Leben der Bundesrepublik vollziehe. Er beklagte, dieser Mangel führe „zu einem unterschwelligen Mißtrauen in die Objektivität der herkömmlichen staatlichen Institutionen bei der Bewältigung ihrer wirtschaftspolitischen Aufgabe, das durch die demokratischparlamentarische Verfassung dieser Institutionen eher noch vermehrt wird. Ebenso nahe liegt ferner ein Mißtrauen in die Fähigkeit und Autorität, ja sogar in die Macht der vorhandenen staatlichen Institutionen (. . .). Es liegt nahe, mit Hilfe der Einrichtung des Sachverständigenrates eine Verbesserung dieser Unterbilanz der Objektivität, Fähigkeit, Autorität und Macht zu versuchen.“88 Düster prognostizierte Forsthoff selbst, daß dafür sogar der Preis des Verfassungswandels entrichtet würde, wobei freilich zu erwarten sei, so die Prognose wei86 Vgl. Bernhard Plé, Wissenschaft und säkulare Mission. „Amerikanische Sozialwissenschaft“ im politischen Sendungsbewußtsein der USA und im geistigen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1990. 87 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung. Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1964, S. 257 und 259. 88 Christian Heinze, Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Umbildung der Verfassung, in: Der Staat 6 (1967), S. 433–444, hier S. 442. Hervorhebung im Original.

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ter, daß „die großen Umwandlungen, an deren Anfang wir stehen, nicht mehr auf dem Wege und mit den Mitteln der Verfassungsgebung vor sich gehen.“89 Die Identifikation von Kategorien wie „Macht“ und „Autorität“ mit dem Staat, dessen Substanz durch Institutionen wissenschaftlicher Politikberatung bedroht sei, entsprach den Traditionen der deutschen Staatsrechtslehre und ihrem „Denken vom Staat her“90. Dieses Denken wurde seit Ausgang der 1950er und dann vor allem in den 1960er Jahren ausgehöhlt, indem auch in die Vorstellungen von „Staat“ und „Politik“ sozialwissenschaftliche Deutungsmuster eindrangen, die den Konnex von Wissenschaft und Rationalität auf staatliches Handeln übertrugen91. III. Es ist bemerkenswert, daß sich solche Kontroversen am Sachverständigenrat ankristallisierten und nicht etwa an anderen Gremien wissenschaftlicher Politikberatung, wie etwa dem schon 1957 errichteten Wissenschaftsrat. Das mag natürlich damit zusammenhängen, daß im Wissenschaftsrat die Rhetorik der Differenz zwischen Wissenschaft und Politik nicht verfing, weil in ihm Vertreter von Politik und Verwaltung direkt beteiligt waren. Obendrein kann man davon ausgehen, daß die Marktnähe der wirtschaftspolitischen Beratungsgegenstände diese von vornherein kontroverser ausfallen ließ. Darüber hinaus ist der Grund wohl besonders darin zu suchen, daß der Sachverständigenrat in besonderer Weise den Wandel staatlicher Wirtschaftspolitik reflektierte. An die Stelle des neoliberalen Ideals von Harmonie im Marktgeschehen trat nun mehr und mehr die Auffassung, es sei Aufgabe des Staates, steuernd einzugreifen und gemeinwohlorientiert makroökonomische Entscheidungen vorzunehmen, Wirtschaftsabläufe stabilisierend zu begleiten oder in diesem Sinne zu beeinflussen sowie ausgleichend zwischen Gruppeninteressen zu vermitteln. Aus diesem Grunde waren wirtschaftspolitische Akteure immer stärker an wissenschaftlicher Beratung interessiert, vielleicht gar nicht in erster Linie, um theoretisches Wissen für ihre Praxis zu nutzen als vielmehr, um „für die Begründung ihres Tuns oder Unterlassens die höhere Glaubwürdigkeit in Anspruch zu nehmen, welche die Öffentlichkeit Analysen beimißt, die sie für wissenschaftlich und daher interessefrei hält“92. Vor diesem Hintergrund war der Sachverständigenrat 89 Ernst Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, in: res publica H. 7/ 1961, S. 11; zit. nach Heinze, Sachverständigenrat, S. 444. 90 Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die Verwestlichung der bundesdeutschen Staatsrechtslehre, München 2004; ders., „Staatsrechtslehre“ between Tradition and Change. West German University Teachers of Public Law in the Process of Westernization, 1945–1970. Beitrag zur Konferenz „The American Impact on Western Europe. Americanization and Westernization in Transatlantic Perspective, DHI Washington, D.C. 1999, URL: http://www.ghi-dc.org/conpotweb/westernpapers. 91 Metzler, Konzeptionen politischen Handelns, Kap. C.II.

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tatsächlich Teil einer Stabilisierungspolitik, die Interessendivergenzen überbrükken wollte. Solches Kalkül ist ohne den Hintergrund des weit verbreiteten Wissenschafts- und Machbarkeitsvertrauens der 1960er Jahre heute nur schwer verständlich, wie sich das auch in der Atompolitik bzw. in der Rolle der wissenschaftlichen Berater in diesem Politikfeld zeigte. Der Sachverständigenrat war in den 1960er Jahren Teil einer umfassenderen, auf gesellschaftliche Integration bedachten Politik, welche jene durch Interessen oder materielle Lage motivierten sozialen Spaltungspotentiale entschärfen, ja nach Möglichkeit ganz beseitigen wollte; knapp ausgedrückt: Wissenschaft sollte helfen, den sozialen Frieden zu sichern. Solche Projektionen und Erwartungen sind in hohem Maße an ihren zeithistorischen Kontext gebunden. Ich habe bereits auf die weithin positive Grundhaltung gegenüber den Wissenschaften hingewiesen, die das Beratergeschäft in nahezu jeder Hinsicht während der 1960er Jahre aufblühen ließ. Zudem schwang darin ein Politikverständnis mit, das in gewissem Sinne postpolitisch war, jedenfalls überkommene politische Willensbildungsprozesse transzendieren, mit Hilfe von Expertenwissen wissenschaftlich fundieren und deshalb vermeintlich objektive Entscheidungen herbeiführen wollte. Daß dadurch erhebliche Spannungen zwischen Beratern und Beratenen entstehen konnten, belegt die weitere Geschichte des Sachverständigenrates, dessen Mitglieder immer mal wieder mit ihren Voten quer zur Regierungspolitik lagen. Die große Hoffnung, mit seiner Hilfe Wirtschaftspolitik und Verteilungsfragen zu versachlichen und Interessenpolitik hinter sich zu lassen, hat sich nicht erfüllt, im Gegenteil verschärften sich gerade während der 1970er Jahre die Auseinandersetzungen zwischen den Sozialpartnern. Zwar ist heute der Sachverständigenrat aus den wirtschaftspolitischen Debatten nicht mehr wegzudenken, aber seine Position hat sich, gerade im Vergleich zur Phase seiner Gründung, merklich verändert. Längst ist der Nimbus von Sachverstand und Neutralität im Schwinden begriffen, haben die Wissenschaften nicht nur die Welt entzaubert, sondern sind selbst „entzauberte Wissenschaft“, haben bisweilen doch auch die Ökonomen – auch diejenigen des Sachverständigenrates – „die Gestaltungskraft und Realitätstüchtigkeit ihres wissenschaftlichen Wissens überschätzt“93. Zudem wird über eine Reform seines Aufgabenkataloges nachgedacht, seit das Kriterium Wirtschaftswachstum in die Kritik geraten ist und die Überprüfung ökologischer Faktoren dringend ange92 Olaf Sievert, Die wirtschaftspolitische Beratung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans K. Schneider (Hg.), Grundsatzprobleme wirtschaftspolitischer Beratung, Berlin 1968, S. 27. 93 Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen, S. 178. Vgl. auch R. D. Schwartz, 20 Jahre Rat der Fünf Weisen: „Wir wissen nur, daß es anders kommen kann“ – Das Sachverständigen-Gremium hat in Streitfragen schon fast jeden Standpunkt vertreten. Ein Streifzug durch das Meinungs-Labyrinth, in: Frankfurter Rundschau, 13.8.1983.

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mahnt wird94. Daß der Sachverständigenrat bei seiner Urteilsfindung auf Wirtschaftswachstum und hohen Beschäftigungsstand, idealerweise also Vollbeschäftigung, gesetzlich festgelegt wurde und diese Ziele gleichsam wissenschaftlich garantieren sollte, liefert das deutlichste Indiz dafür, daß diese Geschäftsidee aus den 1960er Jahren stammt.

94 Vgl. A. Bechmann, Umwelt bedarf der Aufmerksamkeit – Plädoyer für einen ökologischen Bildungsurlaub der „Fünf Weisen“, in: R. Hickel/Harald Mattfeldt (Hg.), Millionen Arbeitslose! Streitschrift gegen den Rat der Fünf Weisen. Eine Bilanz nach zwanzig Jahren, Hamburg 1983, S. 159–173.

Wieviel Macht den Räten? Politikberatung im bundesdeutschen Bildungswesen von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren Von Wilfried Rudloff Die sechziger und frühen siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts waren in der Bildungspolitik bewegte Zeiten wie keine zuvor und danach. Eine Expansion der Bildungsbeteiligung, die ohne Beispiel war, wurde begleitet von einer Debatte um die Ordnung des Bildungswesens, wie man sie mit solcher Intensität noch nicht geführt hatte. Ludwig Erhard hob Bildung und Forschung in seiner Regierungserklärung von 1963 in den selben Rang, wie ihn im 19. Jahrhundert die soziale Frage besessen hatte, Willy Brandt rückte die Bildungspolitik 1969 an die Spitze seiner umfangreichen Agenda innerer Reformen1. Weit über die engeren Fachkreise hinaus breitete sich ein neuer Jargon bildungspolitischer Schlüsselwörter aus: Begriffe wie Bildungschancen, Begabungsreserven oder Bildungsplanung waren plötzlich in aller Munde und setzten weithin sichtbare Wegmarken für eine heftig pulsierende Reformdebatte. Manches von dem, was gestern noch als utopisches Gedankenspiel abgetan wurde, schien heute Aussicht zu haben, zum bildungspolitischen Allgemeinplatz zu werden. Die sechziger Jahre sahen zugleich auch ein neues Verständnis von Politik aufkeimen. Politisches Handeln und Entscheiden, so wurde seit Beginn des Jahrzehnts immer öfter reklamiert, habe sich mehr als bisher auf die Mitwirkung des wissenschaftlichen Sachverstandes zu gründen. Nur so sei die wachsende Komplexität der Wissens- und Entscheidungsgrundlagen staatlichen Handelns in den Griff zu bekommen. Rationalisierung und Entideologisierung erschienen dabei als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wenn sich der SPD-Vorsitzende Willy Brandt Mitte der sechziger Jahre dafür stark machte, stärker als bisher ein „qualifizierte[s] Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft“ zu ermöglichen, verband er damit auch die Hoffnung auf eine „Versachlichung gesellschaftlicher Interessengegensätze“. Man müsse sich darauf verstehen, so 1 Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969, Stuttgart/Wiesbaden 1984, S. 46; Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt vor dem Deutschen Bundestag, 28.10.1969, in: Dieter Grosser/Stephan Bierling/Beate Neuss (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 11: Bundesrepublik und DDR 1969–1990, Stuttgart 1996, S. 35–51, hier S. 43.

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hieß es bei Brandt, „moderne wissenschaftliche Mittel in den Dienst einer vorausschauenden Politik zu stellen“, der Staat habe „geradezu die Pflicht, den unabhängigen Sachverstand in Anspruch zu nehmen“, wenn so dem Gesamtinteresse gedient werde2. Auf solche Weise für eine „Verwissenschaftlichung“ der Politik einzutreten, verlieh in jenen Jahren die Aura von Modernität, Rationalität und Fortschrittlichkeit3. Dass dem Gelehrten eine noch größere politische Verantwortung zukomme als dem Staatsbürger ohnehin, wurde zugleich auch zur Überzeugung einer wachsenden Zahl von Wissenschaftlern4. Gerade in der Bildungspolitik schien es vielen beteiligten Akteuren an der Zeit, die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse wissenschaftlich neu zu unterfüttern. Zu den wichtigsten Exponenten dieser Überzeugung zählte Hellmut Becker, umtriebiger Berater zahlreicher freier Schulen, Forschungsinstitute und wissenschaftlicher Gesellschaften, vor allem aber Gründungsdirektor des Berliner Instituts für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft. Spätestens seitdem Becker auf dem Soziologentag von 1959 einer grundlegenden Verwissenschaftlichung der Bildungspolitik das Wort geredet hatte und seitdem er, mehr noch, „die Qualität der Bildungspolitik nicht von Wahlen und personellen Entscheidungen, sondern vom Ausbau der Forschung“ abhängen sah5, verfolgte er sein Ziel mit höchster Konsequenz. „Bildungspolitik, Bildungspraxis und Bildungsverwaltung sind heute davon abhängig“, hieß es im Gründungsplan für das Berliner Institut, „daß die wissenschaftliche Vorarbeit für ihre Tätigkeit an anderer Stelle geleistet wird“6. Deshalb war auch das Anliegen, wissenschaftlich aufbereitete Entscheidungshilfen bereitzustellen, eines der Kernmotiv für die Errichtung des neuen Instituts7.

2 Artikel des Regierenden Bürgermeisters von Berlin und Vorsitzenden der SPD, Brandt, für Die Neue Gesellschaft März/April 1966, in: Willy Brandt, Berliner Ausgabe, Bd. 7: Mehr Demokratie wagen. Innen- und Gesellschaftspolitik 1966–1974. Bearbeitet von Walther von Kieseritzky, Bonn 2001, S. 94–106, hier S. 101 f. 3 Eine genauere Analyse im Hinblick auf Brandt findet sich in dem Beitrag von Daniela Münkel in diesem Band. 4 Als die Stimme eines jungen Erziehungswissenschaftlers vgl. Dietrich Hoffmann, Wissenschaft und Politik, in: Die deutsche Schule 58 (1966), S. 643–654. 5 Hellmut Becker, Sozialforschung und Bildungspolitik, in: Soziologe und moderne Gesellschaft. Verhandlungen des vierzehnten deutschen Soziologentages, Stuttgart 1959, S. 191–206, hier S. 204. 6 Hellmut Becker: Plan eines Instituts für Forschungen auf dem Gebiet des Bildungswesens (Bildungsforschung), S. 7, Bundesarchiv Koblenz (BArch) N 1225/250. 7 Für weitere Plädoyers von Becker zugunsten eines Ausbaus der Politikberatung vgl. Hellmut Becker, Politik und Wissenschaft. Wie gewinnen wir politische Konzeptionen? in: Die Zeit Nr. 22, 1.6.1962; ders., Wissenschaft als Voraussetzung von Politik, in: Robert Jungk/Hans Josef Mundt (Hg.), Modelle für eine neue Welt. Bd. 3: Deutschland ohne Konzeption? Am Beginn einer neuen Epoche, München u. a. 1964, S. 251–266.

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Becker mag ein besonderer Fall gewesen sein, keineswegs war er ein Einzelfall8. Und nicht nur auf Seiten der Wissenschaft, auch in den Kultusministerien selbst begann sich, wiewohl in sehr unterschiedlicher Intensität, die Auffassung durchzusetzen, dass den wachsenden Ansprüchen an die Qualität der Bildungspolitik nur entsprochen werden könne, wenn die Exekutive ihren Dialog mit dem externen Sachverstand verstärkte. Ein Ministerialbeamter aus dem badenwürttembergischen Kultusministerium, einer an diesen Fragen besonders interessierten Behörde, gestand 1969, „daß die Kapazität der Bürokratie im herkömmlichen Sinne nicht mehr ausreicht, um auf allen Bereichen Entscheidungen vorzubereiten und ihre mittel- und langfristigen Folgen transparent machen zu können.“ Es bedürfe der Beteiligung der Wissenschaft zur „Erarbeitung von Lageanalysen, Prognosen und Lösungsmodellen“, immer weniger könne „darauf verzichtet werden, wichtige Vorarbeiten in den wissenschaftlichen Bereich zu verlagern.“9 Wissenschaftliche Politikberatung im Bildungswesen war nun allerdings nichts vollkommen Neues. Im Kaiserreich lassen sich Vorformen in den großen Schulkonferenzen von 1890 und 1900 ausmachen10. Auf der Ebene individueller Einflussnahme wäre an die Wirkung zu denken, die Eduard Spranger auf die Reform der preußischen Volksschullehrerausbildung in der Weimarer Republik ausübte11. Die Beispiele ließen sich ohne weiteres noch vermehren. Dessen ungeachtet verliehen Ausbreitung, Aufgabenzuschnitt und öffentliche Beachtung den unterschiedlichen Spielformen wissenschaftlicher Politikberatung in den Boomjahren der bundesdeutschen Bildungspolitik einen völlig neuen Stellenwert. Mehr noch als auf Länderebene galt dies, wie zu zeigen sein wird, für den Bund, dessen mehrfache Anläufe zur Institutionalisierung sachverständiger Beratung zugleich darauf zielten, Brechen in die Kulturhoheit der Länder zu schlagen. Wenn im Übrigen nicht nur die Bildungspolitik, sondern auch die Bildungsforschung in den sechziger und siebziger Jahren eine Boomperiode erlebte – 8 Eine weitere solche Stimme war etwa die des Göttinger Pädagogen Heinrich Roth, vgl. bspw. ders., Erziehungswissenschaft – Schulreform – Bildungspolitik, in: Hans Scheuerl (Hg.), Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik, Schulreform. Bericht über den Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 12.–15. April in der Kongreßhalle in Berlin, Weinheim/Berlin/Basel 1971, S. 17–31; vgl. auch Roths Entwurf eines Problemkatalogs zur Befragung der Kultusministerien vom Mai 1969, BArch B 251/738. 9 P. H. Piazolo: Aspekte einer Reform der Bildungsverwaltung, 1969, BArch N 1393/272. 10 Christoph Führ, Die preußischen Schulkonferenzen von 1890 und 1900. Ihre bildungspolitische Rolle und bildungsgeschichtliche Bewertung, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Stuttgart 1980, S. 189– 223, bes. S. 212. Vgl. auch den Hinweis von Hans Christoph Kraus in diesem Band. 11 Rainer Bölling, Volksschullehrer und Politik. Der Deutsche Lehrerverein 1918– 1933, Göttingen 1978, S. 170 und 180.

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neben den Universitätsinstituten gab es 1963 sieben Einrichtungen der Bildungsforschung mit einem Finanzvolumen von 6 Millionen DM, 1972 waren es 25 mit einem Finanzvolumen von 95,8 Millionen DM12 –, so hing das eine unmittelbar mit dem anderen zusammen. Selten wurde das Defizit an gesicherten wissenschaftlichen Einsichten so stark empfunden wie jetzt, selten aber auch so bereitwillig auf die Lotsendienste der Bildungsforschung vertraut. Ebenso wie die Infrastrukturen bildungspolitischer Politikberatung wurden deshalb die Kapazitäten besonders der außeruniversitären Forschung ausgebaut. Der Übergang von der überkommenen geisteswissenschaftlichen Pädagogik Weimarer Prägung zu einer modernen Erziehungswissenschaft aus dem Geist der Sozialwissenschaften weckte die Hoffnung, bald über einen breiten Fundus an empirisch gesicherten Problemanalysen, Entscheidungsoptionen und Planungsdaten zu verfügen. Kultusminister wie Wilhelm Hahn (CDU) verstanden Bildungsforschung, Bildungsplanung und Bildungspolitik Mitte der sechziger Jahre als konsekutive Bestandteile einer ineinander greifenden Handlungskette.13 Dass man sich bei all dem im Einklang mit einem internationalen Trend befand, sei hier nur am Rande vermerkt. Die Wege der englischen Schulgesetzgebung waren gepflastert mit Kommissionsberichten: vom Crowther-Report über die Bildungsprobleme der 15- bis 18jährigen (1959) über den Plowden-Report zur Grundschulerziehung (1967) bis hin zum James-Report über die Lehrerausbildung (1972). Und auch der hochschulpolitische take-off in Großbritannien verdankte seinen Schub ganz wesentlich dem weit über die Insel hinaus beachteten Bericht der Robbins-Commission (1963)14. Die britischen „Royal Commissions“ besaßen deshalb als Institutionenvorbilder eine fast schon mythische Qualität. Als mindestens ebenso wirkungsmächtig, wenn nicht bedeutsamer noch wurde der Einfluss der Wissenschaft auf die Bildungspolitik in Schweden angesehen, dem Wallfahrtsziel ganzer Kolonnen fortschrittlich gesinnter Bil12 Friedrich Edding/Klaus Hüfner, Probleme der Organisation und Finanzierung der Bildungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Heinrich Roth/Dagmar Friedrich (Hg.), Bildungsforschung. Probleme – Perspektiven – Prioritäten. Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 419–453, hier S. 427 f. und 442 ff. 13 Wilhelm Hahn: Die Wandlung des Bildungsbegriffs in unserer Zeit, o. D., Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) 01-392-003/5. 14 Peter Gordon/Richard Aldrich/Dennis Dean, Education and Policy in England in the Twentieth Century. London 1991; als Analyse der frühen Reports aus Sicht der bundesdeutschen Erziehungswissenschaft vgl. Hildegard Kasper, Freiheit und Planung im englischen Schulwesen der Gegenwart. Analyse der offiziellen Reports und ihre Stellung innerhalb der englischen Pädagogik, Braunschweig 1968. Als sich der Deutsche Bildungsrat an die Arbeit machte und ein Arbeitsausschuss der Bildungskommission Klarheit über deren Arbeitsprogramm und Aufgabenstellung zu schaffen suchte, dachte man an Hauptgutachten nach dem „Typ Robbins Report oder Crowther Report“, vgl. Arbeitspapier des Arbeitsausschusses der Bildungskommission, o. D. BArch B 251/260; für die positive Aufnahme bspw. des Plowden-Reports vgl. etwa Deutscher Bildungsrat, Geschäftsstelle: Einige Anmerkungen zum Plowden-Report, London 1967, und seiner deutschen Ausgabe, 1972, 12.3.1973, BArch B 251/1262.

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dungsreformer. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Auftragsarbeiten hatten hier wesentlich dazu beigetragen, die Weichen für das Einheitsschulmodell zu stellen (oder diese Weichenstellung doch zumindest zu legitimieren). Und wie real die politischen Einwirkungschancen der schwedischen Wissenschaft auch immer gewesen sein mochten, das anhaltende Interesse der bundesdeutschen Fachwelt war ihnen sicher15. Die Beispiele Englands und Schwedens waren es denn auch, die den Mitgliedern deutscher Beratungsgremien besonders vor Augen standen, wenn sie nach internationalen Vorbildern Ausschau hielten. Der Vorsitzende des „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ verglich das von ihm präsidierte Gremium im Gespräch mit Bundesinnenminister Schröder keineswegs zufällig „mit den in Schweden und England gebildeten Gremien unabhängiger Sachkenner, die den Kulturausschüssen ihrer Parlamente Schulgesetzentwürfe vorlegten, welche ohne wesentliche Änderungen angenommen werden konnten.“16 Denn kaum überhörbar war hier auch ausgesprochen, wo der Ausschuss die Meßlatte für seine eigenen politischen Wirkungsmöglichkeiten anzulegen gedachte: Was man sich erhoffte, war nicht einfach nur vage „Beachtung“ und unverbindliche „Berücksichtigung“. Man wollte maßgeblichen Einfluss auf den Gang der Entscheidungen nehmen. Macht man einen kleinen zeitlichen Sprung, so hatte sich Anfang der siebziger Jahre länder- und bundesweit ein solch dichtes Geflecht an Gremien zur Strukturreform, Bildungsplanung, Hochschulpolitik, Curriculumrevision oder Begleitung von Schulversuchen herausgebildet, dass aus den Reihen der Kultusminister nun zunehmend auch Warnungen zu vernehmen waren, hochrangige Beamte könnten hierfür wegen der großen zeitlichen Beanspruchung nicht mehr abgestellt werden17. „Die Belastung wird zu groß, die politische Vertretung im15 Torsten Husén/Gunnar Boalt, Bildungsforschung und Schulreform in Schweden, Stuttgart 1968; Sekretariat der KMK: Bildungsforschung und Bildungsplanung in Schweden, von Bertil Andersson, Dok. DAS/EID/69.40 der OECD, Übersetzung, 23.3.1970, BArch N 1393/290; für eine interessante Analyse, welche die Bedeutung des wissenschaftlichen Beitrags zur Politikformulierung im Bereich der schwedischen „higher education“ eher relativiert – und zwar trotz des hohen Aufwands an Auftragsforschung, der dort betrieben wurde, und trotz des hohen Interesses der Politik an deren Erträgen –, vgl. Rune Premfors, Reseach and Policy-making in Schwedish Higher Education, in: Torsten Husén/Maurice Kogan (Hg.), Educational Research and Policy. How do they Relate? Oxford u. a. 1984, S. 207–240; den schwedischen und englischen Fall unterstreicht auch die international vergleichende Untersuchung von Jürgen Zimmer, Wissenschaft und Schulreform. Ein interkultureller Vergleich zur Funktion der Psychologie im Ablauf der Schulreformen, Diss. Berlin 1975, bes. S. 78 ff. 16 Vermerk zu den Besuchen des Vorsitzenden, OB Pfizer, am 22.4.1954 in Bonn, BArch B 154/122; vgl. etwa auch den Vortrag von Erich Weniger vom 21.9.1953 vor den Mitgliedern des Ausschusses über die Hintergründe von dessen Gründung, in dem das englische und schwedische Beispiel als bewunderns- und nachahmenswert anempfohlen werden, BArch B 154/88.

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mer geringer, das Wiederkäuen der immer gleichen Probleme [. . .] in den verschiedensten Gremien – ohne daß ein durchschlagender Erfolg zu spüren wäre – erhöht in zunehmendem Maße die Unlust aller Beteiligten“, hieß es 1972 in einem Papier des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft18. Unter der Masse der produzierten Empfehlungen, Diskussionspapiere und Protokolle drohte der wissenschaftlichen Politikberatung der allmähliche Erstickungstod. Zudem machte sich in Teilen der Öffentlichkeit ein wachsendes Unbehagen darüber bemerkbar, dass in der Bildungspolitik eine politisch nicht legitimierte und keiner Instanz verantwortliche Expertenschar den Takt anzugeben schien. Bald war von intransparenten „Großlogen der Bildungspolitik“19 die Rede, von einem „Regime der Hintermänner“20, und davon, „daß ein ganzer Bereich der Politik sich in die komplette Abhängigkeit einer Expertokratie der unterschiedlichsten Couleur begeben“ habe21. Im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft wurden Überlegungen angestellt, das System der Gremien und Beiräte zu straffen, was aufgrund des Widerspruchs von Wissenschaftsrat, Bildungsrat und einiger Länderministerien zunächst noch ohne tiefgreifende Folgen blieb22. Als dann aber im Umbruch von der Expansions- zur Kontraktionsperiode des Bildungswesens der Deutsche Bildungsrat 1975 aufgelöst wurde, war dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass damit auch die Hochphase der Politikberatung zur Neige ging23. In dem Maße, wie unübersehbar wurde, dass die Prozesse ungeplanten, eigendynamischen Wandels den bildungspolitisch geplanten Wan17 Der hessische Kultusminister von Friedeburg kündigte der KMK im Sommer 1972 an, er werde keinen seiner Mitarbeiter mehr an den Sitzungen der Unterausschüsse, ad hoc-Kommissionen etc. teilnehmen lassen, L. v. Friedeburg an den Präsidenten der KMK, Senator Philipp, 28.7.1972, HHStAW 504/3008. 18 BMBW, AL II: Tagesordnungspunkt Neuordnung der Organisation und des Zusammenwirkens zentraler Bildungseinrichtungen, Nov. 1972, BArch B 138/13700. 19 Diskussionsbeitrag Franz Pöggeler, in: Bildungspolitik in Europa. Schule im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft (Siebzehntes Europäisches Gespräch in der Engelsburg in Recklinghausen), Köln-Deutz 1968, S. 134. 20 Klaus-U. Ebmeyer, Das Regime der Hintermänner, in: Deutsche Zeitung Nr. 48, 30.11.1973. 21 Paul F. Reitze, Die Zukunft der neuen Tragiker. Zehn Jahre Bildungspolitik zwischen Reform und Zerstörung, in: Rheinischer Merkur Nr. 4, 24.1.1975. 22 Wissenschaftliche Kommission des Wissenschaftsrates: Beschluß zur Neuordnung des Beratungswesens im Bereich der Bildungsplanung, 4.5.1972, BArch B 138/ 13700; Hellmut Becker: Diskussionsgrundlage für eine Beschlussvorlage zur Organisation des Deutschen Bildungsrates, 24.5.1972, ibid. Neu geordnet wurden allerdings die Beratungsgremien auf dem Feld der Forschungspolitik, vgl. dazu BMBW Merkblatt 11/71, Sept. 1971: Neuordnung des Beratungswesens beim BMBW, BArch B 196/30776. 23 Selbst ein zeitweilig sowohl auf Bundes- wie Landesebene so stark engagierter Gremienberater wie Dahrendorf sah Anlass, Dauergremien wie den Bildungs- und den Wissenschaftsrat nun „jener dichten Grauzone, in der de-dacto-Mächte angesiedelt sind“, zuzuordnen, und empfahl an ihrer statt themenbezogene und zeitlich befristete Gremien, vgl. Ralf Dahrendorf, Neue Formen nötig, in: Die Zeit, 13.6.1975.

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del mehr und mehr überdeckten, wuchsen auch die Zweifel an dem Vorhaben, die Steuerbarkeit von Bildungsprozessen mit Hilfe von wissenschaftlich ermittelten Parametern systematisch erhöhen zu können24. Das Vertrauen in den Beitrag der Bildungsforschung zur Bildungspolitik kühlte zügig ab. Es sollte bis in die neunziger Jahre dauern, ehe man sich wieder stärker auf den Sachverstand wissenschaftlicher Experten besann25. Im Folgenden werden die drei bekanntesten Gremien bildungspolitischer Politikberatung ins Visier genommen, welche die Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung hervorgebracht hat: der bereits genannte „Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen“ (1953–1965), der „Wissenschaftsrat“ (seit 1957) und der „Deutschen Bildungsrat“ (1965–1975). An ihrem Beispiel lässt sich die steil aufsteigende, bald aber auch wieder drastisch einknickende Kurve der bildungspolitischen Beratungskonjunktur nachzeichnen. Vier Fragestellungen stehen dabei im Mittelpunkt der Erörterungen: erstens die Frage nach den Konstruktionsprinzipien der Expertengremien und nach den aus diesen Bauformen resultierenden Wirksamkeitsbedingungen, zweitens die Frage nach dem Auftrag und Selbstverständnis der beratenden Akteure, drittens die Frage nach der politischen Durchschlagskraft ihrer Empfehlungen und Gutachten, viertens schließlich die Frage, wie dies alles miteinander zusammenhing. Was dabei notwendig zu kurz kommen wird, ist die inhaltliche Dimension der Politikberatung, die nur insofern berücksichtigt werden kann, als sie in die Erörterung der genannten Fragestellungen eingebunden ist. Ferner bleibt zu beachten, dass neben dem Rätewesen eine Vielzahl von anderen Formen der Politikberatung bestand, die eine je eigene Entwicklung durchliefen: von informellen Gesprächskontakten über einzelne Gutachten- und Forschungsaufträge bis hin zu kurzlebigen Gremien wie dem von Bundeskanzler Kiesinger zusammen24 Vgl. hierzu die Überlegungen von Ewald Terhart, Zwischen Aufsicht und Autonomie. Geplanter und ungeplanter Wandel im Bildungsbereich, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 123–140; für die nun einsetzende Reflexion über die Grenzen bildungspolitischer Politikberatung vgl. etwa Christoph Oehler, Bildungsforschung und Bildungspolitik – von den Gefahren wissenschaftlicher Politikberatung im Bildungssektor, in: Wolfgang Mitter (Hg), Transfer. Wissenschaft, Vermittlung, Praxis, Baden-Baden 1986, S. 80–86. 25 Peter M. Roeder, Der föderalisierte Bildungsrat. Reformprogramme aus den Bundesländern, in: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997), S. 132–148; alte und neue Erfahrungen verarbeitet Ewald Terhart, Erziehungswissenschaft zwischen Forschung und Politikberatung, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 79 (2003), S. 74– 90; als ein Beitrag eher aus dem ironischen Genre vgl. Marianne Horstkemper/KlausJürgen Tillmann, Die Beiräte-Republik. Erziehungswissenschaftler unterwegs, in: Neue Sammlung 43 (2003), S. 119–130.

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gerufenen „Arbeitskreis zur Beratung des nationalen Bildungswesens“ (1968/ 69). Der überragende Stellenwert der drei großen Räte rechtfertigt gleichwohl die thematische Konzentration. I. Modell: Unabhängigkeit und „Macht des Geistes“ Die Ursprünge des 1953 berufenen „Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ lagen in dem sich früh schon regenden Unmut über die Schwerfälligkeiten des bundesdeutschen Kulturföderalismus. Als sich Anfang der fünfziger Jahre der Eindruck ausbreitete, die 1948 ins Leben getretene Kultusministerkonferenz würde über die Stufe einer Minimalkoordination nicht hinausgelangen, hielt man im Bundesministerium des Inneren nach Möglichkeiten Ausschau, trotz eigener Unzuständigkeit dem Bildungswesen neue Impulse zu verleihen. Der Leiter der Kulturabteilung des Bundesministeriums des Inneren, Erich Wende, betrieb die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft sachverständiger Persönlichkeiten, die in der Form eines „laufenden Gesprächs“ auf eine einheitliche Entwicklung des Schulwesens hinwirken sollten26. Ähnliche Gedanken waren auch von anderer Seite schon vorgetragen worden27. Die FDP unterbreitete den Vorschlag, beim Bundesministerium des Inneren einen fest institutionalisierten „Bundesbeirat für das Erziehungs- und Bildungswesen“ zu errichten, gleichsam das „pädagogische Gewissen“ der Nation28. Die Liberalen waren optimistisch genug anzunehmen, dass die „ausschließlich aus sachgebundenen Voraussetzungen gewonnenen Stellungnahmen“ des Beirats „in den Fraktionen der Länderparlamente breitwillige Aufnahme finden“ würden29. Die Funktion, die der Politikberatung hier zugeschrieben wurde, war eine kompensatorische, sie sollte Dysfunktionen im bestehenden Entscheidungsge26 Wende an den Präsidenten der KMK, Senator Landahl, 30.10.1951, BArch B 106/1700. Für Wende spielte zugleich die Überlegung eine Rolle, den Weg für eine Ausweitung der rahmengesetzlichen Kompetenzen des Bundes zu ebnen, vgl. Denkschrift Wende für Bundesinnenminister Lehr, 28.5.1951, BArch B 106/1700. 27 Vgl. Neue Wege für die Schule. Beiträge zur Neuordnung von Schulaufbau, Berufsschule und Lehrerbildung. Bericht über eine Arbeitstagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten, Mannheim 1953, S. 49 f., 68 und 127 f.; für die Urheberschaft vgl. W. Flitner an Ministerialrat Scheidemann, BMI, 26.3.1960, BArch B 138/2938. 28 Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Drucks. 3038: Antrag der FDP: Einrichtung eines Bundesbeirats für das Erziehungs- und Bildungswesen beim Bundesinnenministerium, 26.1.1952. 29 Verhandlungen des Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, Bd. 10, Bonn 1952, 193. Sitzung, 14.2.1952, S. 8313–8322, bes. S. 8313 ff. (P. Luchtenberg). Zur Skepsis auf Seiten der Bundestragsfraktion der CDU – man müsse es vermeiden, auf Bundesebene die Möglichkeit einer kulturpolitischen Koalition von SPD und FDP vorzubereiten – vgl. Fraktionssitzung 12.2.1952, Dok. 287 in: Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949–1953. Bearbeitet von Helge Heidemeyer. Düsseldorf 1998, S. 514–517.

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füge überwinden helfen. „Gerade weil von den staatlichen Schulverwaltungen nicht allzu häufig fruchtbare Initiativen ausgehen“, schrieb Wende 1955 an den Göttinger Pädagogen Erich Weniger, „sprach bei der Gründung des Ausschusses auch die Erwartung mit, ein von bürokratischen Hemmungen und dienstlichen Rücksichten freier Kreis werde besser geeignet sein, mit Hilfe der außerhalb der Verwaltung so vielseitig möglichen Erfahrungen von sich aus neue Anregungen zu geben.“30 Der Versuch, mit der Installierung solcher Beratungsgremien Leer- und Schwachstellen im komplizierten Gefüge der Bundes- und Länderzuständigkeiten zu füllen, erwies sich fortan als eine Konstante, und die Beimischung von Vertretern wichtiger gesellschaftlicher Kräfte – Kirchen, Wirtschaft und Gewerkschaften – ließ erkennen, dass es dabei nicht so sehr um die Zufuhr knapper Wissensressourcen ging, als vielmehr darum, alternative Formen einer zunächst zwar pädagogisch, letztlich aber doch eben auch politisch zu verstehenden Konsensfindung zu etablieren. „Der Ausschuß zielt [. . .] auf einen pädagogischen Consensus, der die weltanschaulichen und politischen Gegensätze zum Ausgleich bringt“, erläuterte 1962 der Ausschussvorsitzende, Oberbürgermeister Pfizer (Ulm), dem Präsidenten der KMK. Erich Weniger, selbst Mitglied des Gremiums, sah darin gar den „Versuch, sachliche Gesichtspunkte so zu klären, daß sie den Politikern verbindlich erscheinen.“31 Deutlich zu spüren waren die Kontrastbezüge, in die das Vorhaben gestellt war: Das Beratungsgremium sollte sich kraft seiner geistigen und „moralischen“ Autorität ebenso wie über Parteienstreit und verbandliche Interessenegoismen auch über die partikularistischen Engstirnigkeiten der Kultusverwaltungen erheben. Die Ausschussmitglieder waren nicht durch das Prinzip der Interessenvertretung legitimiert, auch nicht allein durch einen bloßen Expertenstatus32. Worum es sich handelte, war jenseits von Partikularinteressen und Parteienzwist ein „Forum des Geistes“ zu schaffen, in dem sich Persönlichkeiten von hohem öffentlichen Ansehen zu einer Art von bildungspolitischem Ersatzparlament zusammenfinden würden – die Formel „Auseinandersetzung der Geister, kein Streit um 30

E. Wende an Erich Weniger, 9.5.1955, BArch B 154/16. Th. Pfizer an Kultusminister R. Voigt, 10.1.1962, BArch B 154/45; Kann die Begabung Kriterien für die Organisation der Schule liefern? Bericht über eine vom Institut für Erziehung und Unterricht in Göttingen am 24. und 25. April 1954 durchgeführte Tagung, S. 35, BArch B 154/96. 32 Immerhin wandte sich Wende mit der Bitte um Mitarbeit oder zumindest Besetzungsvorschläge als erstes an die renommiertesten Erziehungswissenschaftler der Zeit, vgl. Wende an E. Spranger, Th. Litt, H. Nohl, E. Weniger u. W. Merck, 20.2.1952, BArch B 106/1700; es fehlte W. Flitner, um den man sich aber ebenfalls bemühte, vgl. z. B. den Bericht von H. Bohnenekamp an Th. Pfizer, 21.8.59, BArch B 154/2; BMI an W. Flitner, 22.2.1960, BArch B 138/2938. Indes befand Felix Messerschmid, die „Unabhängigkeit des Ausschusses“ – und damit dessen wichtigste Arbeitsgrundlage –, sei „sogar gegenüber den Pädagogen selbst“ gesichert worden, „indem darin ein wesentlicher Teil der Mitglieder Nichtpädagogen“ seien, F. Messerschmid: Der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, o. D., BArch N 1225/ 259. 31

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Sachverständigenurteile“ beschrieb insoweit durchaus den Kern des Unternehmens33. Nach nicht ganz einfachen Verhandlungen mit der KMK 1953 aus der Taufe gehoben34, zögerte der Deutsche Ausschuss keinen Moment, die ihm angesonnene Rolle eines bildungspolitischen „Gewissens der Nation“ anzunehmen. Man verstand sich als letztes Refugium unabhängigen Sachverstandes in Zeiten verbands- und parteipolitischer Durchdringung. Die postulierte Ferne von der Politik empfand der Ausschuss als Bedingung der Möglichkeit, zu einer sachlogisch überzeugenden Konzeption des Bildungswesens zu gelangen – nicht induktiv von den angetroffenen politischen Gegebenheiten aus, sondern deduktiv von gemeinsam erarbeiteten allgemeinen Bildungsprinzipien35. Erschrocken über die scharfen Gegenreaktionen, die er für seinen schulpolitischen Gesamtentwurf aus dem Jahre 1959 erntete, und zugleich auch ernüchtert über die unverbindlichdistanzierte Reaktion seiner politischen Paten, verständigte man sich 1960 im Plenum nochmals auf das Selbstverständnis, von dem die Arbeit des Gremiums getragen sein sollte: „Der Ausschuß sieht seine Aufgabe darin, eine Gesamtkonzeption des Bildungswesens zu erarbeiten, indem er den Wahrheitskern der verschiedenen Positionen herausschält [. . .] und die ,Vereinigungswahrheit‘ zwischen den Streitenden sucht [. . .]. Die Unabhängigkeit gehört zu den unabdingbaren Voraussetzungen seiner Arbeit: nur sie macht die Selbstverpflichtung des Ausschusses zum pädagogischen Consensus möglich, die ein Modell dafür darstellt, wie in einer pluralistischen Gesellschaft die sachlich notwendige Einheit gewonnen werden kann“36. Der Ausschuss bestätigte damit erneut das Ideal einer ganz auf der freien Diskussion und Deliberation unabhängiger Geister beruhenden Urteilsbildung, das als Gegenmodell zum politischen Betrieb der Parteiendemokratie verstanden wurde. Nicht auf Kompromisse arbeitete man deshalb hin, das klang zu sehr nach interessenpolitischem bargaining37, sondern auf ei33 „Sachliche Gutachten kann man schon jetzt überall erhalten und verwerten. Es kommt darauf an, etwa zwei Dutzend ,Weise‘ gleichsam in ein Konklave zu stecken, Leute, die glauben, dass von ihrer Beratung jetzt die Förderung der deutschen Kultur allein abhängt“ Vorlage o. D., paraphiert von Staatssekretär a.D. Wende, BMI, 25.4.52, BArch B 106/1700. 34 Generalsekretär KMK an Wende, 12.2.1952, BArch B 106/1700; Präsident der KMK, Minister Sauer, an Bundesinnenminister Lehr, 4.3.1952, ibid.; Niederschrift über die Tagung des Plenums der KMK am 14.3.1952, ibid.; Generalsekretär KMK an Wende, 24.4.1952, ibid. 35 Vgl. V. Fritzsche: Rahmenplan. Gedanken zur weiteren Arbeit, 18.11.1959, BArch B 154/90. 36 Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen: Sitzungsbericht zur 44. Tagung vom 28.–30.9.1960, BArch B 154/90. 37 Vgl. das Vorwort zur Dritten Folge der Empfehlungen des Deutschen Ausschusses, wiedergegeben in: Empfehlungen und Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen 1953–1965. Gesamtausgabe. Im Auftrag des Ausschusses besorgt von Hans Bohnenkamp/Walter Dirks/Doris Knab. Stuttgart 1966, S. 957.

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nen aus der wechselseitiger Überzeugung erwachsenden, auf höherem Legitimationsniveau angesiedelten „Konsens“. Der Ausschuss verstand sich, wie sich zeigen sollte: irrtümlich, als ein getreues Abbild der Gesellschaft in ihren vielfältigen Schattierungen, und seine im Prozess diskursiver Meinungsbildung gestiftete Einheit sollte der Gesellschaft vorexerzieren, wie sie selbst zu einer solchen gelangen konnte38. Georg Picht sprach mit Blick auf den Ausschuss von einem „kleinen Flämmchen Demokratie, das uns anvertraut ist“, und befand, „daß für die weitere Entwicklung unseres demokratischen Staatswesens unter Umständen einiges davon abhängt, ob ein solches Experiment gelingt oder nicht.“39 Wie weit der Einfluss des Deutsche Ausschusses tatsächlich reichen sollte, war allerdings alles andere als klar. Viermal in zwölf Jahren besannen sich Bund oder Länder darauf, das Ratgebergremium um Gutachten zu konkreten Problemstellungen zu bitten40. Ansonsten setzte sich der Deutsche Ausschuss seine Themen weitgehend selbst. Schon gar nicht war das Verhältnis von Sachverstand und Politik dadurch bestimmt, dass die Politik die Ziele vorgab und die Berater lediglich die Mittel zu ihrer Verwirklichung benannten. Werturteile und Sachaussagen zu scheiden, die einen der Sphäre der Politik, die anderen derjenigen des Sachverstandes zuzuordnen – von solch einer Geschäftsgrundlage war man weit entfernt41. Ebenso wenig beruhte der Arbeitsstil des „Deutschen Ausschusses“ darauf, die Wissenschaft als oberste oder gar einzige Begründungsinstanz für die politische Konzeptbildung anzusehen42. Was den wissenschaftlichen Erkenntnisstand anbelangte, hätten dafür auch nahezu alle Voraussetzungen gefehlt. Zwar verlies sich der Ausschuss nicht allein auf seine eigene Expertise. Über die Jahre wurden 116 Sachverständige vernommen, erfahrene Praktiker, Vertreter einschlägiger Verbände oder auch Wissenschaftler43. Zu Problemkreisen wie den „Mittelbau“-Versuchen, der Begabungsforschung oder den bisherigen Reformansät38 Vgl. auch Alfons Otto Schorb, Der „Rahmenplan“ und seine Kritiker, in: Zeitschrift für Pädagogik 23 (1977), S. 609–616, hier 613. 39 Georg Picht an Senator Willy Dehnkamp, 17.[8].1959, BArch N 1225/259. 40 Volker Fritzsche, Der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen, in: Alfons Otto Schorb/ders., Schulerneuerung in der Demokratie. Die Reichsschulkonferenz von 1920 und der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen – Ein kritischer Vergleich, Stuttgart 1966, S. 36–60, hier S. 46 f. 41 Zum theoretischen Hintergrund, der Unterscheidung instrumenteller und neo-normativistischer Modelle von Politikberatung, vgl. Susanne Cassel, Politikberatung und Politikerberatung. Eine institutionenökonomische Analyse der wissenschaftlichen Beratung der Wirtschaftspolitik, Bern/Stuttgart/Wien 2001, S. 11 ff. 42 Vgl. hierzu das erhellende Portrait aus der Feder der wissenschaftlichen Referentin des Ausschusses in seinen späteren Jahren: Doris Knab, Politik und Pädagogik, in: Neue Sammlung 18 (1978), S. 306–316. 43 Fritzsche, Der Deutsche Ausschuß, S. 44 ff.

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zen standen Materialsammlungen aus den Pädagogischen Seminaren der Universitäten Göttingen und Hamburg oder aus der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt zur Verfügung44. Um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, welche Wege die internationale Entwicklung in der Schulpolitik eingeschlagen hatte, entschloss sich der Ausschuss überdies, zwei Reisedelegationen nach England und Schweden zu entsenden. Zuhause jedoch bewegte er sich auf einem wissenschaftlich noch kaum vermessenem Gelände. Systematische Untersuchungen im Sinne jener Integrationswissenschaft, für die bald der Begriff der „Bildungsforschung“ geprägt werden sollte, waren vorerst Mangelware (und auch der Begriff noch ganz unbekannt). Man balancierte weiterhin auf einem schmalen Grad zwischen geglaubten Meinungen und erhärtetem Wissen. Aber gerade dies, die geringe wissenschaftliche Durchdringung des Beratungsfeldes, gab den Mitgliedern weitgehende Freiheiten, auf der Suche nach der „Vereinigungswahrheit“ ihre je eigenen Erfahrungen, Ansichten und Überzeugungen zum Ausgangspunkt des Diskussionsprozesses zu machen45. Nur mit einem sehr vage formulierten Auftrag ausgestattet – Beobachtung und Förderung der Entwicklung des Bildungswesens –, legte der Deutsche Ausschuss im Anschluss an eine Reihe von Spezialempfehlungen 1959 einen umfassenden „Rahmenplan“ für die Umgestaltung des Schulwesens vor, die Summe seiner bisherigen Überlegungen46. Der „Rahmenplan“ war das Ergebnis eines sechsjährigen und mühsamen Aushandlungsprozesses, in dessen Verlauf der Gedanke einer zweijährigen Förderstufe Gestalt angenommen hatte. Die Förderstufe sollte sich an die Grundschule anschließen, den Moment der Auslese hinauszögern, Begabungspotentiale besser erkennbar machen und durch gemeinsamen, sich zunehmend jedoch differenzierenden Unterricht die Übergänge weniger starr gestalten47. Zugleich hatte Picht gegen mancherlei Widerstände 44 Bericht über die Mittelbautagung des Göttinger Instituts für Erziehung und Unterricht vom 25. bis 27. April 1952, BArch B 154/96; Ulrich Freyhoff: Die Bedeutung der Begabung für die Organisation der Schule (Materialsammlung), 1.4.1954, ibid.; Die Reform der Westdeutschen Höheren Schule. Auszugsweiser Überblick über die im Jahrzehnt nach 1945 veröffentlichten Monographien, Aufsätze, Entschließungen und Amtlichen Veröffentlichungen. Zusammengestellt von einem Arbeitskreis des Erziehungswissenschaftlichen Seminars der Universität Hamburg, Okt. 1956, ibid.; vgl. auch Vorlage V. Fritzsche für OB Pfizer: Punkte für die Begrüßung in Tutzing, 28.10.1959, BArch B154/122. 45 So auch Hartmut von Hentig, Die Schule im Regelkreis. Ein neues Modell für die Probleme der Erziehung und Bildung, Stuttgart 1965, S. 49 f. 46 Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens (4.2.1959), in: Empfehlungen und Gutachten, S. 59–115. 47 Für den Diskussionsprozess im Deutschen Ausschuss stellte u. a. die Weichen A. Franken, H. Bohnenkamp und W. Merck: Thesen zum Schulaufbau, Entwurf vom 12.11.1956, BArch B 154/95. Das Konzept der „Förderstufe“ war keine Erfindung des „Deutschen Ausschusses“. Es besaß in niedersächsische Schulversuchen ein Vorbild, von denen es sich aber in wesentlichen Punkten unterschied und dessen Erfahrungen es nicht allzu eingehend verarbeitet hatte. Zu den niedersächsischen Schulversuchen

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dafür gesorgt, dass für eine begrenzte Auswahl besonders begabter Schüler neben dem an die Förderstufe anschließenden Gymnasium eine grundständige altsprachliche „Studienschule“ vorgesehen sein sollte. Ihr war die Aufgabe gestellt, als eine Art humanistische Eliteschule die Überlieferung jener klassischen europäischen Bildungsgehalte zu sichern, die Picht und andere Mitglieder des Ausschusses zunehmend gefährdet sahen. Mit dem „Rahmenplan“ fand sich der Ausschuss „mit überraschender Vehemenz auf die politische hohe See versetzt“48. Mit einem Mal hatten die Ausschussmitglieder zu entscheiden, ob sie sich auf „Saalschlachten“ 49 mit den zahlreichen Gegnern und Kritikern einlassen, den „Rahmenplan“ aktiv und offensiv verteidigen und so die komfortable Position der in entrückter Höhenlage räsonierenden „Weisen“ aufgeben sollten. Die Alternative war, den politischen Nahkampf gerade zu meiden, weil so noch am ehesten Schaden von der Autorität des Ausschusses abzuwenden war50. Ein Freund des Schlagabtauschs wie Picht wählte die erste Option, und ähnlich verhielten sich auch einige andere Ausschussmitglieder, die nun die offene Feldschlacht mit den Opponenten suchten. Der Großteil der Mitglieder hielt sich indes zurück und wollte nicht „in die Stellung einer Partei gedrängt und aus der Stellung einer ,Royal Commission‘ herausgesteuert“51 werden. Gerade in dieser Frage – der Frage, ob es einem Beratungsgremium gut zu Gesicht stand, selbst zur Streitpartei zu werden – ging ein Riss mitten durch das Gremium52. Allgemein formuliert handelte es sich hier um ein Grundproblem sachverständiger, erst recht aber wissenschaftlicher Politikberatung: Wollten sie ihre spezifische Autorität wahren, mussten sich die Sachverständigen vom Terrain der Politik eher fernhalten – hier galten andere Spielregeln und herrschten andere Relevanzkriterien als jene, denen sie ihre Legitimation verdankten. Wollten sie jedoch ihre Durchschlagskraft erhövgl. Rüdiger Schoen, Der differenzierte Mittelbau. Ein niedersächsischer Schulversuch von 1948 bis 1965 zum Problem von Integration und Differenzierung der Mittelstufe des allgemeinbildenden Schulwesens, Frankfurt a. M. u. a. 1998, dort S. 273 ff., wiewohl nicht eben sehr vertieft, zur Rezeption durch den Deutschen Ausschuß. 48 G. Picht an A. Butenandt, 17.6.1959, BArch N 1225/259. 49 G. Picht an alle Mitglieder des Deutschen Ausschusses, 14.9.1960, BArch B 154/90; V. Fritzsche an G. Picht, 6.1.1960, BArch N 1224/259. 50 Der Schock über den massiven Widerspruch, den der „Rahmenplan“ erntete, war gerade deshalb so groß, weil sich der Deutsche Ausschuß, das gilt es auch hier zu bedenken, eben als ein weit ausstrahlendes Modell für die Möglichkeiten gesellschaftlicher Konsensfindung und Einigung hatte empfehlen wollen. 51 Th. Pfizer an V. Fritzsche, 7.4.1960 BArch B 154/122; vgl. auch V. Fritzsche an G. Picht, 18.3.1960, BArch N 1225/260, der dabei ebenfalls das Vorbild der Royal Commissions bemühte. 52 Ausführungen OB Pfizer zu Punkt I 4 der Tagesordnung für die 51. Sitzung des „Deutschen Ausschusses“ am 9.12.1961, BArch B 154/91; Pfizer an Fritzsche, 20.5.1959, BArch B 154/122; G. Picht an alle Mitglieder des Deutschen Ausschusses, 14.9.1960, BArch B 154/90; V. Fritzsche: Rahmenplan. Gedanken zur weiteren Arbeit, 18.11.1959, ibid.

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hen, konnte es leicht geschehen, dass sie zum aktiven Mitspieler in der politischen Arena werden mussten, mit der möglichen Folge, dass dann jene „neutrale“ und „apolitische“ Autorität, aufgrund derer sie bestallt worden waren, schnell in Mitleidenschaft gezogen werden konnte. Unterm Strich gelang es dem aus der Rückschau eher strukturkonservativ wirkenden Rahmenplan zwar, eine bis dahin beispiellose öffentliche Diskussion über das Schulwesen auszulösen53. Kehrseitig musste der Ausschuss dann aber erkennen, dass er politisch ohne die erhoffte Wirkung blieb. Die Kultusminister suchten dem Ausschuss die Rolle eines Kristallisationspunktes der öffentlichen Meinungsbildung zuzuweisen, um umgekehrt den unmittelbaren Einfluss auf ihre eigene Meinungsbildung gering halten zu können54. Wo der Rahmenplan einmal zu bedeutsamen Reformvorschlägen vorgestoßen war, ging die Kultusministerkonferenz durch gemeinsames Beschweigen über die Empfehlung hinweg55: So konnte die Förderstufe lediglich in Versuchsform und mit einigen Abstrichen, dabei aber auch nur in einer Minderzahl der Länder erprobt werden (Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, in Niedersachsen wurde ja des längeren schon damit experimentiert)56. Bei einer 1960 anberaumten Besprechung mit dem Präsidium der KMK stellte der bayerische Kultusminister Maunz (CSU) zwar in Aussicht, dass sich die Schulpolitik aller Länder, würde man zu einer Rahmenvereinbarung über den Plan gelangen, in „Variationen“ zu diesem hin entwickeln würde. Aber wie sich dann zeigte, lag der Akzent hier auf den Variationen. Maunz befand, im Landtag keine Mehrheit für das vorgeschlagene neunte oder gar zehnte Hauptschuljahr ausmachen zu können, und auch sein Hamburger Kollege Landahl (SPD) beteuerte, die Widerstände gegen die Förderstufe ließen sich durch noch so sachliche Argumentation nicht überwinden. Dem Ausschuss wurde ans Herz gelegt, doch tunlichst darauf hinzuweisen, dass der Rahmenplan eine Zielsetzung auf lange Sicht darstelle – auf etwa zwanzig Jahre57. 53 Sie ist am leichtesten nach zu verfolgen anhand der gründlichen Dokumentation von Alfons Otto Schorb (Hg.), Für und Wider den Rahmenplan, Stuttgart 1960. 54 Deutscher Ausschuß: Sitzungsbericht zur 54. Tagung vom 14. bis 16.5.1962, dort: Gespräch mit den Kultusministern am 14.5.1962, S. 6 f., BArch B 154/91. 55 KMK: Pressemitteilung aus Anlass der 73. Plenarsitzung der KMK am 24./ 25.9.1959, BArch B 154/45; Niederschrift der 73. Plenarsitzung der KMK am 24./ 25.9.1959, S. 4 ff., HHStAW 504/5402, sowie dort im Anhang die an Kritik nicht geizenden Referate zum Rahmenplan der beiden Kultusminister Schütte (SPD – Hessen) und Storz (CDU – Baden-Württemberg). 56 Walter Schultze/Christoph Führ, Das Schulwesen in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Weinheim 1967, S. 26 ff.; Christoph Führ, Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland und im Ausland, Weinheim und Berlin 1967, S. 11–62, hier S. 23 ff.; auch in Hessen gab es vor 1959 einige wenige Schulversuche mit der Förderstufe, deren Zahl dann aber unter dem Eindruck des Rahmenplans ganz erheblich zunahm, vgl. Hess. Kultusministerium, ORSchR Kroj: Der gegenwärtige Stand der Förderstufenversuche in Hessen, 1.7.1967, HHStAW 504/869.

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Immerhin fand die im Rahmenplan angesprochene Oberstufen-Reform Eingang in die Saarbrücker Rahmenvereinbarungen der KMK von 1960, wiewohl auch in diesem Fall nur in modifizierter Form. Selbst wenn die Kultusministerien einzelne Anregungen aufnahmen, die Verlängerung der Volksschule auf 9 Jahre akzeptierten, die auf zehn Jahre zumindest erwogen, blieb ein gemeinsames Handeln letztlich doch aus. Schon gar nicht wurde der Rahmenplan in toto auch nur in einem der Länder verwirklicht58. Seine „Unabhängigkeit“ war dem „Deutschen Ausschuß“ insofern zur Falle geworden: Dass die Kommunikation mit den Entscheidern nicht einmal ansatzweise institutionalisiert worden war, erwies sich als manifeste Wirksamkeitsbarriere. Georg Picht schloss als langjähriges Mitglied daraus, der Ausschuss habe verkannt, dass ihm ein geruhsamer Aufenthalt im apolitischen Raum nicht vergönnt bleiben würde. Gerade dadurch habe er politisch versagt59. Es war dies der wichtigste Erkenntnisgewinn, der aus der Arbeit des Deutschen Ausschusses geschöpft wurde: dass Konstruktion, Selbstverständnis und Verortung ihn zur politischen Unwirksamkeit verurteilt hatten. Es genügte nicht, einen pädagogischen Areopag ins Leben zu rufen, es bedurfte eines institutionalisierten Dialogs mit der Politik. II. Modell: Selbststeuerung und Integration der Entscheider Ganz anders lagen die Dinge beim 1957 gegründeten Wissenschaftsrat60. Auch dessen Gründungskonstellationen entsprangen zunächst einer Situation, in der sich kaum einer mehr vorstellen konnte, dass die Länder allein die Kraft aufbringen würden, der Wissenschaft jenes Maß an Förderung angedeihen zu lassen, auf das sie angewiesen war, wollte sie im internationalen Wettbewerb weiter bestehen können. Zwischen den finanziellen Möglichkeiten der Länder 57 V. Fritzsche: Vermerk betr. Gespräch mit dem Präsidium der KMK am 4.5.1960, BArch B 154/45; vgl. auch die Einwände bei einem Gespräch ein Jahr zuvor: Vermerk Fritzsche: Stellungnahme der Minister beim informativen Gespräch mit der KMK am 26.6.1959, ibid. 58 Vgl. auch die Bilanz des Ausschusssekretärs: V. Fritzsche an J. Heilmann, 6.11.1963, BArch B 154/37; allg. Heinz-Elmar Tenorth, Hochschulzugang und gymnasiale Oberstufe in der Bildungspolitik von 1945–1973, Bad Heilbrunn/Obb. 1975, S. 134 f. 59 G. Picht an alle Mitglieder des Deutschen Ausschusses, 14.9.1960, BArch B 154/90. 60 Zum Wissenschaftsrat vgl. bislang vor allem Rolf Berger, Zur Stellung des Wissenschaftsrats bei der wissenschaftlichen Beratung von Bund und Ländern, Baden-Baden 1974; Irmtraud Schlingmann, Zur Funktion des Wissenschaftsrates als wissenschafts- und bildungspolitisches Steuerungsinstrument, Diss. phil TU Berlin 1975; Ulla Foemer, Zum Problem der Integration komplexer Sozialsysteme am Beispiel des Wissenschaftsrates, Berlin 1981; Hans Christian Röhl, Der Wissenschaftsrat. Kooperation zwischen Wissenschaft, Bund und Ländern und ihre rechtlichen Determinanten, Baden-Baden 1994.

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und den materiellen Anforderungen, die hier an sie gestellt wurden, klaffte eine wachsende Lücke, und ebenso wenig schienen die Länder noch imstande, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür Sorge zu tragen, dass ein hinreichender Stamm an „technischem Nachwuchs“ herangezogen wurde. Seitdem sich 1956 der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Gerhard Hess, mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit gewandt hatte, einen sachverständigen „Zentralrat“ zu bilden, um die staatliche Wissenschaftsförderung zu koordinieren, kam das Thema nicht mehr zur Ruhe61. Eine großzügigere Förderung der Wissenschaften galt nun ebenso als „Existenzfrage“ für die Bundesrepublik wie der zügige Ausbau der Ausbildungsstätten für den technischen und wissenschaftlichen Nachwuchs62. Manches lief nach dem bekannten Muster ab: Wieder versprach man sich Abhilfe von einem zentralen Expertengremium, erneut sah der Bund die Chance, einen Fuß in die Tür des Kulturföderalismus zu bekommen, abermals traten sich Bund und Länder zu komplizierten Verhandlungen gegenüber. Die öffentliche Erwartungshaltung ließ den Ländern wenig Raum für weitspurige Ausweichmanöver63. Die Landesregierungen waren auch deshalb schon konzessionsbereit, weil es sich aus ihrer Sicht ganz wesentlich darum drehte, ein Leck in den „Juliusturm“ zu schlagen. Darin lag der entscheidende Unterschied zum „Deutschen Ausschuss“: Zur Debatte standen nicht mehr oder weniger verbindliche, mehr oder weniger überzeugende Umbaupläne, zur Debatte stand die Verteilung beträchtlicher Finanzmittel aus den Bundes- wie Länderetats. Es ging also um wesentlich handfestere Angelegenheiten. Zwar sollte auch der „Wissenschaftsrat“ nur eine beratende Funktion haben, das war schon verfassungspolitisch anders kaum denkbar. Aber bei entsprechend hochkalibriger Besetzung stand zu erwarten, dass das Gremium schnell ein beträchtliches Eigengewicht gewinnen würde. Die Kultusminister und ihre Hochschulreferenten 61 Gerhard Hess, Ein langfristiger Plan für die Wissenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.7.1956. 62 Auch Bundespräsident Heuss schaltete sich nun ein, um das Anliegen zu unterstützen, vgl. Bundespräsident Heuss an Bundeskanzler Adenauer, 23.10.1956, BArch B 136/6046; wichtig war ferner eine parallele Initiative des Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz, H. Coing, vgl. die Denkschrift Coings „Probleme der deutschen Hochschulen“, am 6.12.1956 an Bundeskanzler Adenauer versandt, ibid.; im übrigen suchte auch die SPD sich auf diesem Feld zu profilieren, insbesondere durch die Initiative des bayerischen Ministerpräsidenten Hoegner, der Ende 1956 die Bildung einer „Deutschen Kommission zur Förderung der Wissenschaft“ anregte, vgl. den Entwurf für ein entsprechendes Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern, o. D. ibid.; für die Hintergründe im einzelnen auch Thomas Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945–1965, Köln 1981, S. 202 ff. 63 Vgl. z. B. die einleitenden Ausführungen des Präsidenten der KMK, des hessischen Kultusministers Hennig, Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung der Kultusminister am 13./14.12.1956, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW) 504/5896, Bl. 48–52, hier Bl. 48.

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beschlich deshalb die Sorge, „dass die Professoren – insbesondere die Präsidenten Hess und Coing – auf dem Weg über den Wissenschaftsrat die Hochschulverwaltungen bei der Planung und Entscheidung wissenschaftspolitischer Maßnahmen überspielen wollen.“64 Um dies zu verhindern, dachten sich die Kultusminister die Konstruktion des Wissenschaftsrates so, dass einem aus Wissenschaftlern gebildeten Konsultativorgan ein Entscheidungsgremium übergeordnet werden sollte, das sich dann wieder aus Vertretern der Kultusverwaltung zusammensetzen würde. Dieses Gremium sollte es übernehmen, die Förderungspläne von Bund und Ländern abzustimmen und entsprechende Finanzierungsvorschläge auszuarbeiten. Die Wissenschaftler hatte ihm dabei lediglich beratend zur Seite zu stehen65. Beratung und Entscheidung sollten klar geschieden bleiben, schon deshalb, weil die Wissenschaftler, wie es hieß, in all diesen Angelegenheiten nun einmal „als Interessenten anzusehen“ waren66. Aber weder wollten sich die Wissenschaftler in eine solche Nebenrolle abdrängen lassen, noch sah dies der Bund als eine besonders sinnvoll Lösung an67. Als Ergebnis der Verhandlungen einigte man sich schließlich auf einem Kompromiss, nach dem eine „Wissenschaftliche“ und eine „Verwaltungskommission“ die Empfehlungen zunächst getrennt erörtern, dann aber als Vollversammlung des Wissenschaftsrates gemeinsam verabschieden sollten. Durch die Aufspaltung in eine Wissenschafts- und eine vetofähige Verwaltungsbank, die beide zusammengenommen erst den Wissenschaftsrat als Ganzes ausmachten, wurden die politischen Adressaten von vornherein in die Erarbeitung der Empfehlungen mit einbezogen. Dass Berater und Entscheider auf solche Weise miteinander verschränkt und zum Dialog gezwungen wurden, galt bald als entscheidender Pluspunkt des Wissenschaftsrats und als besonders ingeniöse Formgebung in der Politikberatung. Was das Beratungsgremium zudem auszeichnete, war die partielle Rollenidentität von Beratern, Interessenten und Entscheidungsbetroffenen. Die Bera64 So berichtete Ministerialrat Hagelberg (BMI) aus einem Gespräch mit dem schleswig-holsteinischen Kultusminister E. Osterloh (CDU), vgl. BMI, Abteilungsleiter III, an Minister Schröder, 2.5.1957, BArch B 138/1518. Hess war Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Coing der Westdeutschen Rektorenkonferenz. 65 Vgl. bspw. den Beschluss der Kultusminister-Konferenz zu Punkt 2 der Tagesordnung, 57. Plenarsitzung, 17./18.1.1957, BArch B 136/6046. 66 So der niedersächsische Kultusminister Langeheine (CDU), Ergebnisniederschrift der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten der Länder über Fragen der Förderung der Wissenschaften und des wissenschaftlichen und technischen Nachwuchses am 21.3.1957, BArch B 136/6047. 67 H. Coing für das Bundeskanzleramt, 18.3.1957, BArch B 136/6047; G. Hess an Bundeskanzler Adenauer, 19.3.1957, ibid.; Bundesinnenminister Schröder an Bundeskanzler Adenauer, 18.3.1957, ibid. Der Bund vermutete, in den Wissenschaftlern Koalitionspartner gegenüber den Ländern finden zu können, auch deshalb trat er für eine Lösung ein, die sich im Einklang mit der Selbstverwaltungstradition der deutschen Wissenschaft befinden sollte.

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tung diente der Förderung der Ratgeber selbst, besaß also Selbststeuerungscharakter. Und das Attribut „wissenschaftlich“ verdiente sich die Beratungstätigkeit nicht so sehr durch einen besonderen wissenschaftlichen Zugriff auf ihren Gegenstand – etwa als Vertreter einer so noch gar nicht existierenden bildungswissenschaftlichen Hochschulforschung (d.h. Forschung über die Hochschule) –, als vielmehr dadurch, dass die Berater nun einmal Wissenschaftler waren und somit aus der Binnenperspektive des von ihnen vertretenen Wissenschaftsbetriebs zu urteilen vermochten. Von „wissenschaftlicher Politikberatung“ zu sprechen, wie es noch heute oft geschieht, enthielt hier also ein Stück Etikettenschwindel. Nachdem die Mitglieder des Wissenschaftsrats berufen worden waren und jene Pläne von Bund und Ländern, die sie laut Aufgabenstellung eigentlich koordinieren sollten, kaum irgendwo vorfanden, machten sie es sich zur Aufgabe, statt, wie an sich ihr Auftrag, einen umfassenden „Gesamtplan“ für die Förderung der Wissenschaften zu erstellen, erst einmal die nötigsten Maßnahmen zur Sanierung der wissenschaftlichen Hochschulen in die Wege zu leiten68. Tatsächlich war eben dies – das Vorhaben, die Funktionsfähigkeit der Hochschulen wiederherzustellen – aufgrund der veralteten Strukturen bundesdeutscher Universitäten und bedingt durch das wachsende Missverhältnis zwischen Studenten und Lehrenden anspruchsvoll genug. Das Unterfangen wurde primär als ein quantitatives aufgefasst und mit Hilfe eines detaillierten und maßnahmenorientierten Kapazitätserweiterungsprogramms angegangen, den „Empfehlungen zum Ausbau der Wissenschaftlichen Hochschulen“ von 196069. Fragen einer qualitativen Hochschulreform hob man sich für später auf. Den Empfehlungen war ein so kaum erwarteter Erfolg beschieden. Mal für Mal, wenn sich die Begehungskommissionen des Wissenschaftsrates in den folgenden Jahren auf den Weg machten, um vor Ort die Umsetzung ihres ambitionierten Expansionsfahrplans in Augenschein zu nehmen, konnten sie befriedigt feststellen, dass die Kultusministerien und Länderparlamente die Empfehlungen nicht nur sehr ernst nahmen, sondern oft nahezu maßstabsgerecht umsetzten70. 68 Friedrich Schneider: Vorschläge für die Vorbereitung des „Generalbedarfsplanes“, 28.5.1958, BArch B 138/11317. 69 Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil I: Wissenschaftliche Hochschulen, Tübingen 1960. 70 Vgl. bspw. Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates: Vermerk über die Abschlußbesprechung im Kultusministerium von Baden-Württemberg über die Besuche des Wissenschaftsrates bei den Wissenschaftlichen Hochschulen des Landes am 23.2.1962, BArch B 247/32; Geschäftstelle des Wissenschaftsrates: Statistische Unterlagen für die Schlußbesprechung über die Hochschulen des Landes Baden-Württemberg am 16.3.1966, ibid.; Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates: Vermerk über die Schlußbesprechung im Bayerischen Kultusministerium am 12.1.1962 über den Besuch der Bayerischen wissenschaftlichen Hochschulen, 26.4.1962, ibid.; Geschäftstelle des Wissenschaftsrates: Statistische Unterlagen für die Schlußbesprechung über die Hochschulen des Landes Bayern, 8.3.1966, ibid.; Geschäftstelle des Wissenschaftsrates: Statisti-

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Dass die Kassen der öffentlichen Hand in jenen Jahren prosperitätsbedingt besonders voll waren, trug dazu nicht unerheblich bei. Unter den Gutachten anderer bundesdeutscher Politikberatungsgremien ließ sich den Empfehlungen von 1960 an Durchschlagskraft wenig Vergleichbares zur Seite stellen. Auch der Aufbau einer ganzen Reihe neuer Universitäten fußte in wesentlichen Punkten – und auf ganz unterschiedliche Weise – auf Anstößen des Wissenschaftsrates71. Ganz besonders galt dies im Fall der Neugründung in Konstanz 1966. Das Gremium war binnen kürzester Zeit zum länderübergreifenden Planungsstab der bundesdeutschen Hochschulpolitik aufgestiegen – das kontrastierte auf das deutlichste mit dem vorangegangenen Unvermögen des Hochschulausschusses der Kultusministerkonferenz, eine nur irgend koordinierte Lehrstuhlplanung zustande zu bringen72. Wenn sich der Wissenschaftsrat binnen kurzer Zeit ein hohes Maß an Autorität zu verschaffen gewusst hatte, so lag dies nicht eigentlich daran, dass sich seine Ratgeberqualitäten als über alle Zweifel erhaben erwiesen. Die frühen Bedarfsprognosen des Wissenschaftsrates standen, wie sich bald zeigen sollte, auf überaus tönernen Füßen: Noch 1965 ging er davon aus, dass die Zahl der Studierenden in den nächsten Jahren unter den bis dahin erreichten Stand absinken würden. An den Universitäten sei auf längere Dauer mit Überkapazitäten zu rechnen73. Selten hat sich ein Planungsgremium in seinen Vorhersagen so gründlich geirrt. Dem Ansehen des Wissenschaftsrats haben solche Fehlkalkulation dauerhaft jedoch nicht geschadet. Sie hinderten jedenfalls nicht, dass seine Planungsfunktionen 1969 für einen Teilbereich gesetzlich festgeschrieben wursche Unterlagen für die Schlußbesprechung über die Hochschulen des Landes NRW am 17.2.1966, ibid. 71 Herbert Nesselhauf, Die Gründungsphase der Universität Konstanz, in: Hans Robert Jauss/ders. (Hg.), Gebremste Reform. Ein Kapitel deutscher Hochschulgeschichte. Universität Konstanz 1966–1976, Konstanz 1977, S. 17–27; Horst Raupach/Bruno W. Reimann, Hochschulreform durch Neugründungen? Zu Struktur und Wandel der Universitäten Bochum, Regensburg, Bielefeld, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 84 ff. und S. 315 ff. 72 Aktennotiz Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Referat 1 a, 20.10.1958, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA) MK 68669; Ministerialrat Dr. Dahnke, Kultusministerium Niedersachsen, an den Vorsitzenden des Hochschulausschusses der KMK, 29.10.1959, ibid. 73 So Generalsekretär Schneider, Protokoll der 45. Sitzung der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats vom 14.5.1965, S. 13, BArch B 138/11328; zugrunde lag diesem Urteil die Untersuchung der Geschäftsstelle: Wissenschaftsrat: Abiturienten und Studenten. Entwicklung und Vorausschätzung der Zahlen 1950 bis 1980. Tübingen 1964; zur Korrektur der Prognosen vgl. Die Entwicklung der Studierendenzahl und der Bedarf an Studienplätzen bis 1980 im gesamten Hochschulbereich. Arbeitsmaterial der KMK. Anlage VII zu der Niederschrift der 132. Sitzung der KMK v. 9./10.10.1969, HHStAW 504/1197a; vgl. auch Hansgert Peisert, Hochschulentwicklung seit 1960 und Auswirkungen in die 90er Jahre. Vorhersagen und Wirklichkeit, in: Westdeutsche Rektorenkonferenz. Dokumente zur Hochschulreform XL/1980, S. 49– 72, bes. S. 51 ff.

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den. Fortan hatte der Rat aufgrund des Hochschulbauförderungsgesetzes (HBFG) Empfehlungen darüber auszusprechen, wie die von Bund und Ländern für den Hochschulbau bereitgestellten Mittel jährlich verteilt werden sollten74. Und da diese Empfehlungen im Entscheidungsprozess beträchtliches Gewicht erlangten, ging auch hier die Funktion des Wissenschaftsrates über die eines bloßen Beratergremiums weit hinaus. Seine größten Erfolge hatte der Wissenschaftsrat mithin bei einem Aufgabentypus verbucht, mit dem es die schulpolitischen Parallelgremien erst gar nicht zu tun hatten. Als er es sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre dann zur Aufgabe machte, neben dem Ausbau auch den Umbau der Hochschullandschaft voranzutreiben und zu diesem Zweck mehrfach tiefgreifende Reformvorschläge unterbreitete, war es um die Durchschlagskraft seiner Empfehlungen weit weniger eindrucksvoll bestellt. Das Wort des Wissenschaftsrates, so wollte es scheinen, besaß in den Hochschulen und Fakultäten weniger Gewicht als in den Kultus- und Finanzministerien75. Das zeigte sich schon 1966, als der Wissenschaftsrat seine Vorstellungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen vorlegte76. Das Grundkonzept seines Entwurfs, die Unterscheidung zwischen Grundstudium, Aufbaustudium und Kontaktstudium blieb in den Eckdaten weithin unverwirklicht, in Sachen Studienzeitverkürzung, dem Hauptziel des Ganzen, kam man keinen Schritt voran77. Ähnlich verhielt es sich in mancherlei Hinsicht mit den 1970 veröffentlichten Empfehlungen zur Struktur des Hochschulbereichs, in denen wie selbstverständlich davon ausgegangen wurde, dass an der Zusammenführung des tertiären Bereichs in integrierten Gesamthochschulen kein Weg mehr vorbeiführe78. Auch dies erwies sich als Trugschluss. Als die Wissenschaftskommission zur gleichen

74 Vgl. hierzu als Überblick Hansgert Peisert/Gerhild Framhein, Das Hochschulsystem in der Bundesrepublik Deutschland. Funktionsweise und Leistungsfähigkeit, Stuttgart 1979, S. 53 ff. 75 Ähnliches hatte schon früh Wilhelm Hennis beobachtet, vgl. ders., Die Stunde der Fakultäten. Strategische Überlegungen zur Universitätsreform, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.5.1964. 76 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen, o. O. 1966. 77 Umfrage des Wissenschaftsrates zur Feststellung der eingeleiteten Maßnahmen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen (nach dem Stand vom 1.5.1968), 17.1.1969, BArch B 247/122; Wissenschaftsrat: Bericht über die Hochschulbesuche im Sommersemester 1971. Verabschiedet am 28.1.1972, S. 6 ff., BArch B 138/11325. 78 Im Plenum des Wissenschaftsrates konnte man Hermann Lübbe, weiland Staatssekretär in Düsseldorf, sagen hören, „die Entwicklung von Gesamthochschulen werde sich nicht mehr aufhalten lassen, in denen zwangsläufig alle Bildungseinrichtungen des tertiären Bereichs aufgingen und in denen die Unterschiede zwischen den Ausbildungsstätten und -gängen nivelliert würden“; Auszug aus der Niederschrift der 40. Vollversammlung des Wissenschaftsrates am 21.11.1969, S. 19, BArch B 247/38.

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Zeit ein Modell ersann, nach dem 1980 nicht weniger als 45–55% der Schüler eines Geburtsjahrgangs die Sekundarstufe mit dem Abitur abschließen sollten, vernahm man aus den Reihen der Verwaltungsbank zwar kritische Stimmen – fürs erste jedoch ohne dass dies eine Positionskorrektur zur Folge gehabt hätte79. Immerhin, schon 1972 sah der scheidende Vorsitzende des Wissenschaftsrats Anlass zu der ironischen Bemerkung, es bestehe die Gefahr, dass der Katalog von 1970 wieder „als Bibel genommen werde. Hier allerdings nicht in der Weise, wie bei den allerersten Empfehlungen des Wissenschaftsrates, daß man [sie] buchstabengetreu befolgt, sondern mehr in der Weise, daß man glaubt, die Forderungen seien in endlicher Zeit unerfüllbar.“80 Kurzum: Als Planungsstab von durchschlagendem Gewicht, war der Wissenschaftsrats als Reformagentur ungleich weniger erfolgreich. Das war allein schon deshalb nicht allzu verwunderlich, als er je nach Aufgabenart ganz anderen Wirksamkeitsbedingungen unterlag: Während sich für Verteilungskonflikte im Bildungswesen Kompromisse aushandeln ließen, stand dies im Falle politisch aufgeladener Programmkonflikte in weitaus geringerem Maße in Aussicht. Der Wissenschaftsrat hat es denn auch vorgezogen, gerade von dem Zeitpunkt an über die Gesamthochschule wieder zu schweigen, als man politisch über sie zu streiten begann. Und auch die brisanteste aller hochschulpolitischen Fragen jener Jahre, die Mitbestimmungsfrage, hat er so gut es eben ging zu umgehen versucht81. So bewahrte er sich einen Rollenzuschnitt, bei dem unmittelbarer als bei den bildungspolitischen Parallelgremien die technisch-planerischen Verwertungsbezüge bestimmend blieben. Verglichen mit den Parallelgremien war er am stärksten maßnahmenorientiert, besaß die größere Nähe zur Politik, war am stärksten dialogisch ausgerichtet. Operative Politikberatung, nicht „konkrete Utopie“, das war seine Stärke. Zu Beginn der siebziger Jahre konnte freilich einen Moment lang der Eindruck entstehen, als hätten Nimbus und Autorität des Gremiums spürbar gelitten. 1970 handelte sich der Wissenschaftsrat vom Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Bildung und Wissenschaft, Ulrich Lohmar (SPD), den Vorwurf ein, es fehle ihm an Transparenz und demokratischer Kontrolle82. Lohmar, der bildungspolitische Experte seiner Fraktion, stimmte damit in den wachsenden Chor jener Kritiker ein, die – wie die Bundesassistentenkonferenz oder die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – dafür plädierten, das Gremium ganz aufzulösen83. Der Vorsitzender des Wissenschaftsrats sah sich zu dem unge79 Auszug aus der Niederschrift der 40. Vollversammlung des Wissenschaftsrates am 21.11.1969, BArch B 247/38. 80 R. Lüst: Ansprache im Wissenschaftsrat am 5.5.1972, S. 2, BARch B 138/11331. 81 Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Notizen zum Thema Wissenschaftsrat, in: Ulrich Kleiner (Hg.), Verwalten ist Gestalten. Festschrift für Armin Danco zum Ausscheiden aus dem aktiven Dienst, Düsseldorf 1990, S. 211–219, hier S. 214. 82 Lohmar: Wissenschaftsrat auflösen, in: Frankfurter Rundschau vom 6.5.1970.

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wöhnlichen Schritt veranlasst, zum Saarbrücker Parteitag der SPD zu eilen, um den Rat gegen die wachsende Schar seiner Kritiker in Schutz zu nehmen84. Aber auch in den eigenen Reihen, insbesondere auf Seiten der Regierungsund Verwaltungsvertreter, regten sich Zweifel und Unmut85. Die CDU-Kultusminister Bernhard Vogel (Rheinland-Pfalz) und Werner Scherer (Saarland) hielten die spezifische Form, in der die Exekutive in die Arbeit des Wissenschaftsrates eingebunden wurde, nicht länger für tragbar. Sie stellten damit exakt jenes Konstruktionsprinzip in Frage, das bisher als Erfolgsrezept des Gremiums gegolten hatte. Ihre Kritik war so widersinnig freilich nicht, sie legte den Finger auf einen neuralgischen Punkt des gesamten Politikberatungsgeschäfts, die Frage nämlich, wie sehr es zulässig und wünschenswert war, Beratung und Entscheidung zu vermischen, oder umgekehrt, wie sehr es als erforderlich angesehen werden musste, sie streng auseinander zu halten. Es ging hier, allgemein gesprochen, um jenes Grundphänomen im Verhältnis von Wissenschaft und Politik, das nach dem Sprachgebrauch der „science and technology studies“ als „boundary work“86 bezeichnet werden kann: um jene Aushandlungsprozesse, mittels derer die Demarkationslinien zwischen beiden Sphären immer wieder von Neuem bestimmt werden müssen (natürlich auch in umgekehrter Richtung: als Fernhalten der Politik von jenem Bereich, den die Wissenschaft als ihr autonomes Territorium verstanden wissen wollte). Vogel und Scherer argumentierten, die Vertreter der Exekutive, die sich im Wissenschaftsrat ja gleichsam selbst berieten, hätten es auf den weiteren Etappen des Entscheidungsprozesses immer wieder auch mit veränderten „Entscheidungshorizonten“ zu tun: Da sich durch das Hinzutreten konkurrierender Zielsetzungen die Prämissen verschoben, von denen aus die Empfehlungen des Rates zu bewerten waren, befürchteten Vogel und Scherer, einem permanenten Loyalitätskonflikt ausgesetzt zu werden. „Werde an dem Votierungszwang der Regierungsvertreter im Wissenschaftsrat 83 Bundesassistentenkonferenz: Zum Wissenschaftsrat, BArch B 138/11318; Presseinformation der Bundesassistentenkonferenz, 23.6.1970: Wissenschaftsrat ohne entscheidende Neuerungen, BArch B 138/28407; Assistenten attackieren Wissenschaftsrat, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.6.1970; Zweifel am Wissenschaftsrat, in: Frankfurter Rundschau 11.6.1970. 84 Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 11. bis 14. Mai 1970 in Saarbrücken. Protokoll der Verhandlungen. Angenommene und überwiesene Anträge, Bonn o. J., S. 581 f. 85 Für kritische Töne von Seiten der Wissenschaftler vgl. Volker Aschoff: Abschiedsworte beim Ausscheiden aus dem Wissenschaftsrat, 28.1.1970, BArch B 138/ 11330, der neben der gesellschaftspolitischen Aufladung der Wissenschaftspolitik monierte, dass an die Stelle eines Ausdiskutierens der Probleme „mehr und mehr der Zwang“ getreten sei, „unter Terminnot zu Kompromissen bereit zu sein, die gelegentlich ein inneres Unbehagen zurückließen.“ 86 Vgl. als Überblick Thomas F. Gieryn, Boundaries of Science, in: Sheila Jasanoff u. a. (Hg.), Handbook of Science and Technology Studies. Revised Edition, Thousand Oaks/London/New Delhi 2001, S. 393–443; ferner Sheila Jasanoff, The fifth branch. Science advisers as policymakers, Cambridge, Ma. 1990.

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festgehalten“, so wandte auch der Vertreter Hamburgs 1970 ein, so „sei zu befürchten, daß die Sachdiskussion im Wissenschaftsrat oder die Glaubwürdigkeit der Regierungsvertreter leide.“87 Zur Debatte stand plötzlich, die Regierungsbank wenn nicht ganz aufzulösen, so doch zumindest von einer beschließenden zu einer beratenden Mitwirkungsrolle herabzustufen88. Als sich dann auch noch die beiden Staatsekretäre des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft mit kritischen Äußerungen vernehmen ließen, galt manchen Beobachtern das Ende des Wissenschaftsrats bereits als ausgemacht89. Die „Frankfurter Rundschau“ kommentierte: Die „Räte haben ihre Schuldigkeit getan, die Räte können gehen.“90 Der Geist der „Demokratisierung“, wie er die frühen Jahre der sozialliberalen Koalition durchwehte, hatte inzwischen auch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft erfasst. Im Ministerium wurde, natürlich nicht ohne intensive Zuhilfenahme externer Berater, über der Frage gebrütet, was zu tun sei, um den Sachverständigengremien zu mehr Transparenz zu verhelfen, die Meinungspluralität im Beratungsgeschäft zu steigern und für einen höheren Austausch der Experten zu sorgen91. Zugleich schien nun zwischen „Bund und Ländern eine offenbare Übereinstimmung“ erreicht, „in Zukunft eine klarere Unterscheidung der Funktionen von Beratung und Entscheidung zu ermöglichen.“92 Aber wiewohl hinter den Kulissen noch eine Zeitlang an Neuorganisationsplänen getüftelt wurde93, überwog, was jedenfalls den Wissenschaftsrat anging, auf Seiten der Exekutive zuletzt doch die Einsicht, dass mit der bisherigen 87 Protokoll der 43. Vollversammlung des Wissenschaftsrats am 17.7.1970, S. 12 ff., das Zitat S. 16 (Staatsrat Ranft), BArch B 136/11330; Protokoll der 76. Sitzung der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats am 19.11.1970, S. 6 ff., ibid.; Protokoll der 44. Vollversammlung des Wissenschaftsrats am 20.11.1970, S. 5 f., ibid.; Protokoll der 83. Sitzung der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrates am 3.5.1972, S. 5 ff., BArch B 138/11331. 88 Vgl. BMBW, Ref. II B 5: Vermerk betr. Struktur des Wissenschaftsrates, 9.7.1970, BArch B 138/28407; vgl. auch BMBW, Dr. Granzow, an Minister Dohnanyi, 6.3.1973, BArch B 138/48291; vgl. auch Niederschrift der 143. Plenarsitzung der KMK am 2.4.1971, S. 7 (Kultusminister Hahn), HHStAW 504/5436. 89 Bonn rückt vom Wissenschaftsrat ab. Staatssekretär von Dohnanyi stellt Frage nach politischer Legitimation, in: Frankfurter Rundschau vom 12.6.1970. 90 Horst Köpke: Die Räte können gehen, in: Frankfurter Rundschau vom 12.6.1970. 91 BMBW: Vorschläge für eine Neuordnung des Beratungswesens im BMBW, 27.11.1970, BArch B 106/29404; vgl. auch Andreas Stucke, Institutionalisierung der Forschungspolitik. Entstehung, Entwicklung und Steuerungsprobleme des Bundesforschungsministeriums, Frankfurt a. M./New York 1993, S. 89 ff.; Gottfried T. W. Dietzel, Wissenschaft und staatliche Entscheidungsplanung. Rechts- und Organisationsprobleme der wissenschaftlichen Politikberatung, Berlin 1978, S. 55 ff. 92 Fernschreiben des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, Klaus von Dohnanyi, an die Kultusminister der SPD-regierten Bundesländer, 30.5.1973 [recte 1972], HHStAW 504/3060, die Annahme wurde retrospektiv ausgesprochen, nachdem sich gezeigt hatte, dass die Ländervertreter im Wissenschaftsrat diesbezüglich wieder den Rückzug angetreten hatten.

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Konstruktion des Gremiums auch dessen Funktionstüchtigkeit aufs Spiel gesetzt würde. Ein letztes Mal schien dessen Existenz in Frage zu stehen, als 1975 die sozialliberale Bundesregierung das Abkommen über den Wissenschaftsrat aufkündigte. Das geschah aus Verärgerung darüber, dass sich die CDU-Länder einer Verlängerung des Verwaltungsabkommens über den Deutschen Bildungsrat, des schulpolitischen Parallelgremiums, verweigerten. Aber daran, dem Rat tatsächlich das Licht auszublasen, dachte ernstlich niemand. Der Wissenschaftsrat blieb bestehen und erfreute sich bald wieder einer – bis heute – robusten Verfassung. III. Modell: Neutralisierung des Pluralismus durch Wissenschaft? Als letztes nun aber der Deutsche Bildungsrat. Noch zu Lebzeiten des in die Jahre gekommenen Deutschen Ausschusses geplant, trat er nach – einmal mehr – langem und mühsamen Tauziehen zwischen Bund und Ländern 1965 ins Leben. Neuerlich wurde der Kultusministerkonferenz damit bescheinigt – und bescheinigte sie sich letztlich auch selbst –, dass man sich aus ihrer Mitte den mehr denn je für notwendig erachteten Reformimpuls nicht zu versprechen wagte, neuerlich standen die Steuerungsprobleme des Kulturföderalismus im Hintergrund. Angesichts der erheblichen Unterschiede in den Schulverhältnissen der Länder und im Anbetracht eines besorgniserregenden Lehrermangels hatte man auch im Bundeskanzleramt längst den Eindruck gewonnen, es sei „eine Lage entstanden, die es erfordert, daß die Bundesregierung trotz der Schulhoheit der Länder nicht wieder völlig passiv bleiben“ könne94. Um auch die KMK zu einer veränderten Lageeinschätzung zu bewegen, bedurfte es freilich erst noch des erhöhten Drucks der öffentlichen Meinung, wie er 1964 entstand95, als in der Bildungsdebatte, wirkungsvoll angefeuert durch eine fulminante, „auch vor den groben Mitteln der Demagogie“ nicht zurückschreckende Kampfschrift96, eine regelrechte Alarmstimmung um sich griff97.

93 BMBW: Vorschläge für die Weiterentwicklung der gemeinsamen Beratungsgremien von Bund und Ländern, 16.11.1973, BArch B 138/48291. 94 Entwurf eines Schreibens von Bundeskanzler Adenauer an Bundesinnenminister Höcherl, Jan. 1963, BArch B 136/5650; vgl. auch schon den Vermerk Adenauers für Staatsekretär Globke vom 16.10.1962, ibid., und das Schreiben von Höcherl an Adenauer vom 8.1.1963, ibid. 95 Vgl. die Niederschriften der 103. und 104. Plenarsitzung der KMK vom 1./ 2.10.1964 und 19./20.10.1964, HHStAW 504/1765. 96 Gemeint ist natürlich Georg Pichts Aufrüttler „Die deutsche Bildungskatastrophe“ (als Artikelserie 1963/64 erschienen), das Zitat stammt von Picht selbst, Georg Picht an Theodor Adorno, 17.1.1964, BArch N 1225/217 („Sie werden demnächst von mir eine Artikelserie – ausgerechnet in Christ und Welt – zugesandt bekommen [. . .]. Der Stil, den ich mir angewöhnen mußte, wird Sie entsetzen. Aber man darf sich auch vor den groben Mitteln der Demagogie nicht scheuen, wenn man in unserer Gesell-

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Verschiedene Modelle für einen bildungspolitischen braintrust wurden seit Anfang der sechziger Jahre ventiliert, diskutiert – und in aller Regel verworfen98. Eine Zeitlang im Mittelpunkt der Debatten stand der Gedanke des reformgesinnten und wissenschaftsorientierten Kultusministers von Baden-Württemberg, Wilhelm Hahn (CDU), den Bildungsrat aus einer Rippe des Wissenschaftsrates zu schneiden, und zwar so, dass das Gremium kurzerhand um eine Kommission für das Bildungswesen erweitert werden sollte99. Das hatte manches für sich, scheiterte trotz zahlreicher Fürsprecher100 aber an Widerständen aus den Reihen der Länder – einerseits den föderalistisch-verfassungspolitischen Bedenken Bayerns, andererseits den mehr an einem reinen Sachverständigengremium orientierten Vorstellungen der SPD-Bildungsminister und -experten (die einem kultusministeriellen Sofortprogramm ohnehin den Vorzug gegenüber langwierigen und mühsamen Expertendebatten gegeben hätten). Die ungleiche Koalition dieser Länder sorgte jedenfalls dafür, dass die Konstruktionsprinzipien, auf denen der Bildungsrat schließlich beruhte, dem vielbewunderten Beispiel des Wissenschaftsrates nur auf halben Wege folgten. Um ihnen das Schicksal des politisch ins Leere laufenden „Deutschen Ausschusses“ zu ersparen, wurde den in der „Bildungskommission“ versammelten Sachverständigen zwar eine „Regierungskommission“ aus Vertretern von Bund und Ländern zur Seite gestellten. Diese hatte aber anders als im Falle des Wissenschaftsrats kein geschlossenes Votum über die Vorlagen der Bildungskommission abzugeben101. Um das „Wünschbare“ mit dem „Möglichen“ zu verschränken traten Sachverstand und politische Verantwortung zwar in einen Dialog ein, schaft mächtige kollektive Vorurteile zertrümmern und den politischen Bodensatz bewegen will.“). 97 Vgl. insbesondere die Pressemitteilung aus Anlaß der 104. Plenarsitzung der KMK vom 19./20.10.1964, BArch B 136/5650, die später oft als eines der Referenzdokumente für den Gesinnungswandel in der KMK angesehen wurde. 98 Als Überblick vgl. den Entwurf einer Vorlage des Ref. 3 des Bundeskanzleramtes für Bundeskanzler Adenauer, 29.5.1963, BArch B 136/5650, und den Vermerk des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung vom 20.7.1964, ibid.; ferner Rudolf Lengert, Zur Errichtung eines Bildungsrats, in: Bildung und Erziehung 18 (1965), S. 16–26. 99 Kultusministerium Baden-Württemberg: Entwurf eines Verwaltungsabkommens zwischen Bund und Ländern über die Errichtung eines Bildungsrates und seine Angliederung an den Wissenschaftsrat, 23.9.1964, Haupstaatsarchiv Stuttgart (HStASt) EA 1-923/4015 (hier der bereits modifizierte, sog. 2. Hahn-Plan). 100 Vgl. BMwF, Ref. II 1: Vermerk betr. Bildungsrat, 20.7.1964, BArch B 138 2924. 101 Kurzprotokoll über die Sitzung der Vorbereitungskommission für die Errichtung eines Bildungsrates am 25.5.1965, BArch B 136/5650; Kurzprotokoll über die 1. Sitzung des Redaktionsausschusses der Vorbereitungskommission für die Errichtung eines Bildungsrates am 10.6.1965, ibid.; für Mikats (CDU-Kultusminister in NRW) Einsatz zugunsten des Hahn-Plans vgl. bspw. Bundeskanzleramt, Dr. Mercker, an Bundesinnenminister Höcherl, 2.11.1964, ibid.

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ohne jedoch institutionell ähnlich stark auf einander verwiesen zu sein wie beim Wissenschaftsrat. Bemerkenswert war, dass die Erziehungswissenschaft gerade noch einen einzigen Vertreter zu entsenden vermochte (Heinrich Roth), während mit Soziologie (Ralf Dahrendorf, Renate Mayntz) oder Bildungsökonomie (Friedrich Edding) Disziplinen Einzug hielten, von denen der Deutsche Ausschuss nur in sehr engen Grenzen Kenntnis genommen hatte – und im übrigen auch nur wenig Kenntnis hatte nehmen können, weil die entsprechenden Teilgebiete der Bildungsforschung in der Bundesrepublik allenfalls in ersten bescheidenen Ansätzen existiert hatten. Einen wissenschaftlichen Sachverständigen aus den Ingenieur- bzw. Naturwissenschaften zu berufen hatte man anfangs versäumt (sieht man einmal von dem Ingenieur und Vorstandsmitglied des Unternehmens Carl Zeiss Küppenbender ab), und dies, obwohl doch der Topos vom technisch-naturwissenschaftlichen Zeitalter in aller Munde war. Auch aus dem aktiven Schuldienst entstammte lediglich ein einziges Mitglied der Bildungskommission. Von Ansätzen einer Selbststeuerung der Akteure, wie beim Wissenschaftsrat der Fall, konnte keine Rede sein. Hingegen hatte gerade der Bund ein Auge darauf, dass Vertreter der großen gesellschaftlichen Gruppen benannt wurden102. Im Ergebnis „halb und halb aus Professoren und Gruppenvertretern zusammengesetzt“, konnte so leicht der Eindruck entstehen, als versuche die Bildungskommission „den Pluralismus durch Wissenschaft zu neutralisieren.“103 Was den Bildungsrat vom Deutschen Ausschuss darüber hinaus unterschied, war die Art und Weise, mit der er seine Meinungsbildung wissenschaftlich zu unterfüttern suchte. Die intensive Inanspruchnahme zusätzlicher Sachverständiger, die große Anzahl der in Auftrag gegebenen – und im Unterschied zum Deutschen Ausschuß auch veröffentlichten – Gutachten, die breite Auswertung von ausländischen Erkenntnissen und Erfahrungen, all dies unterschied sich nicht nur graduell, sondern auch substantiell von den entsprechenden Anstrengungen des Vorgängergremiums104. Insbesondere Hellmut Beckers Mitarbeiter im Berliner Institut für Bildungsforschung erlangten als gutachtende Sachverständige oder als Mitglieder der wichtigen Unterausschüsse und Arbeitsgruppen einen nicht eben geringen Einfluss auf die Bildungskommission105. Aufgrund 102 BMwF, Ref. II 1, Vermerk betr. Sitzung des Interministeriellen Ausschusses für Bildungs- und Ausbildungsfragen 1.12.1965, BArch B 138/2925. 103 Kurt Schwarzenberg: Ist der Bildungsrat nur ein Feigenblatt? in: Christ und Welt, 5.5.1967. 104 Vgl. als Überblick Hellmut Becker, The Case of Germany: Experiences from the Education Council, in: Husén/Kogan, Educational Research, S. 103–119; vgl. auch allg. ders., Der Bildungsrat. Bildungsplanung als Lernprozeß, in: Neue Sammlung 10 (1970), S. 1–18. 105 Protokoll über die Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft am 14.10.1968, S. 8 f., BArch N 1225/250; Protokoll über die Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für

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der hochkarätigen Zusammensetzung seiner Subgremien (auch jenseits aller Verschränkungen mit dem Berliner Institut) konnte der Bildungsrat aus einem bemerkenswerten Fundus an wissenschaftlicher, administrativer und praktischer Kompetenz schöpfen106. Zum Zwecke der Kontrastbildung könnte man also sagen: Hatte im „Deutschen Ausschuß“ noch die traditionelle Figur des breit gebildeten, urteilsfähigen und meinungsstarken „Vertreters der Geisteswelt“ den Ton angegeben und beherrschte im Wissenschaftsrat die auf Selbststeuerung bedachte Wissenschaft – als Gesamtkorporation – das Bild, so schlug in der aufwendigen Detailarbeit des Bildungsrats nun dem sich allenthalben durchsetzenden Typus des „Sachverständigen“ die Stunde, dem Experten in einem modernen, nämlich durch exklusiven Besitz an fragmentiertem Spezialwissen ausgezeichneten Sinn107. Und was für die unterschiedlichen Akteurstypen galt, galt analog auch für die Art der Wissensbestände, die idealtypisch in den drei Räten abgerufen wurden: erfahrungsgesättigte Gesamtschau – korporatives Binnenwissen – empirisch gesicherter Forschungsstand. Insofern lässt sich an der Geschichte der Beratungsgremien die wachsende „Expertisierung“ der bundesdeutschen Bildungspolitik ablesen. Doch galt dies nur im Sinne einer vielfältig gebrochenen Tendenz und erwies sich auch keineswegs als irreversibel. Auch für die Verhandlungen des Bildungsrates blieb letztlich der doppelte Umstand bestimmend, dass einerseits die Grenzen zwischen wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Wissen unscharf waren, anderseits die Bestände an Nicht-Wissen, umstrittenem Wissen und inkongruentem Wissen ebenso groß wie jener Fundus an Wissen, dem übereinstimmend die Attribute „gesichert“ und „verlässlich“ zuerkannt wurden. „Wissenschaftliche Politik“ – „verwissenschaftlichte“ Politik in Reinkultur – ließ sich, selbst wenn man es gewollt hätte, mit den Ratschlägen des Bildungsrates nicht machen.

Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft am 30.10.1967, S. 5, ibid.; vgl. auch Jens Naumann, Zum Verhältnis von Politik und Forschung am Beispiel des MaxPlanck-Instituts für Bildungsforschung, in: Clemens Burrichter (Hg.), Forschungspolitische Probleme und Strategien für die 80er Jahre. Erlangen 1984, S. 65–80, der allerdings die Verschränkung etwas niedriger zu hängen versucht. 106 Dies betont aus Insiderperspektive der lesenswerte Beitrag von Jürgen Raschert, Bildungspolitik im kooperativen Föderalismus. Die Entwicklung der länderübergreifenden Planung und Koordination des Bildungswesens der Bundesrepublik Deutschland, in: Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Analysen. Bd. 1: Entwicklungen seit 1950, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 103–215, hier S. 176. 107 Dies gilt freilich nur mit deutlichen Einschränkungen, denn bei der Berufung der Bildungskommission waren an sich weniger Spezialisten gefragt gewesen, als vielmehr Persönlichkeiten von Renommee, in der charakteristischen Annahme, dass „deren Autorität und Ansehen die Empfehlungen des Bildungsrates leichter durchsetzbar“ machen würde; Niederschrift über die Sitzung des Interministeriellen Ausschusses für Bildung u. Ausbildungsförderung am 26.10.1965 (Ministerialrat Hagelberg), BArch B 138/2925 Der Vorsitzende des Bildungsrates war zunächst ein bekannter Historiker (Karl Dietrich Erdmann), später ein Philosoph (Hermann Krings).

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Dem Selbstverständnis der führenden Köpfe des Bildungsrates, Konsensschmiede, wissenschaftlich fundierte Konzeptwerkstatt und Zukunftsagentur in einem zu sein, also das tatsächliche Aktionszentrum einer durchgreifenden Gesamtreform des Schulwesens, wurde aus den bald anschwellenden Reihen seiner Kritiker eine Rollenerwartung gegenüber gestellt, die sich weitgehend mit den Grundannahmen des von Habermas als dezisionistisches Modell beschriebenen Verhältnisses von Wissenschaft und Politik deckte108. „Man erwartet eigentlich“, so hieß es aus den Reihen der CDU mit etwas gespielter Verwunderung, „daß die Beratungsorgane alternativ verschiedene Modelle darlegen und zur Entscheidung stellen“ würden, während die politische Wertung und Auswahl Prärogative der Politik bleiben müsse109. Die dienende Rolle, auf die sich der Bildungsrat bei solcher Gelegenheit zurückverwiesen sah, nämlich ein Tableau von Entscheidungsoptionen herauszupräparieren, ohne auf die Auswahlentscheidung selber Einfluss nehmen zu wollen, war jedoch nicht unbedingt nach dem Geschmack von Männern wie Hellmut Becker, Ralf Dahrendorf oder Friedrich Edding. Als Karl Dietrich Erdmann zu Beginn der Arbeiten des Bildungsrats die Frage aufwarf, „ob die von der Bildungskommission vorzulegenden Empfehlungen mehr indikativen oder mehr hypothetischen Charakter haben sollten“, verständigte man sich darauf „daß ein allgemein verbindliches Modell entworfen wird, das den verschiedenen psychologischen, sozialen und wirtschaftlichen Belangen genügend Rechnung trägt, anstatt allzu viele Alternativen anzubieten, die dann die Vertragschließenden vor die Entscheidung stellen würden, die schon von der Bildungskommission getroffen werden sollen.“110 Welche realen Austauschbeziehungen sich zwischen Ratgebern und Politik entwickelten, stand freilich auch in diesem Fall auf einem anderen Blatt. Der vom Bildungsrat 1970 vorgelegte „Strukturplan für das Bildungswesen“, ein anspruchsvoller Innovationsentwurf für alle Stufen des Bildungssystems vom Kindergarten bis zur Weiterbildung (ohne die Hochschule, die dem Wissenschaftsrat vorbehalten blieb), vermochte zwar dem bildungspolitischen Auftaktprogramm der sozialliberalen Bundesregierung, dem „Bildungsbericht ’70“, seinen Stempel aufzudrücken. Von den bildungspolitischen Leitprinzipien der Chancengleichheit und einer konsequent erhöhten Durchlässigkeit durchdrungen zielte der Strukturplan darauf, das horizontale Gliederungsmodell des herkömmlichen Schulwesens ungeachtet der – vorläufig – beibehaltenen Dreigliedrigkeit in ein stärker vertikal aufgebautes Stufensystem zu überführen, bei dem nicht nur die Übergänge innerhalb des allgemeinbildenden Schulwesens geglättet und berufs108 Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung (1964), in: ders., Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a. M. 1969, S. 120–145. 109 Entscheidende Rolle der Parteien, in: Akademischer Dienst Nr. 43, 25.10.1968, BArch N 1393/183. 110 Ergebnisprotokoll über die Sitzung des Strukturausschusses am 3./4.6.1966, BArch B 251/260.

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und studienbezogene Bildungsgänge einander angenähert werden sollten, sondern am Ende der Sekundarstufe I und II auch neue bildungspolitische „Verteilerkreise“111 installiert wurden (in Gestalt der Abschlüsse des Abiturs I und II). Dies alles stand unter den Vorzeichen einer generellen Wissenschaftsorientiertheit aller Bildungsgänge, womit dann der angestrebten Verwissenschaftlichung der Bildungspolitik eine durchgängige Verwissenschaftlichung von Bildung und Schulwesen entsprochen hätte112. Aber wiewohl sich die neue Bundesregierung den – hier nur recht unzulänglich angedeuteten – Gesamtaufriss sofort zu eigen machte und auch die KMK anerkennende Worte fand113, war damit der Weg zu einer Umsetzung keineswegs schon geebnet. Im gleichen Maße, in dem bald die Schwierigkeiten wieder hervortraten, mit denen es das Vorhaben einer gesamtstaatlichen Bildungsplanung im neu abgesteckten Koordinatensystem des kooperativen Föderalismus zu tun haben würde, mehrten sich auch die Hindernisse, die sich einer Umsetzung des Strukturplans entgegenstellten. So blieb zuletzt auch ihm das Schicksal nicht erspart, als Gesamtentwurf unverwirklicht zu bleiben, selbst wenn einige seiner Grundgedanken und Neuordnungsvorschläge dauerhaft erkennbare Spuren hinterließen. Ein Blick hinter die Fassade der inmitten des Planungs- und Beratungsbooms ja noch immer maßgeblichen Kultusministerien ließ schon früh manche der Bruchstelle erkennen, welche die tatsächlichen Durchsetzungschancen der Empfehlungen in Frage stellen sollten. Vor allem im bayerischen Kultusministerium machte man es sich intern zur Gewohnheit, die Empfehlungen der Bildungskommission gründlich zu zerpflügen114. Für die Ausführungen des „Strukturplans“ zur Sekundarstufe II befand der Vorsitzende der Ständigen Kommission für Bildungsplanung des bayerischen Kultusministeriums, Ministerialdirigent Dr. Böck, hier könne „nicht mehr von Bildungspolitik, sondern nur mehr von Systemdilettantismus gesprochen werden.“115 Das ließ für die Umsetzung nicht viel gutes erwarten. 111 Karl Dietrich Erdmann, Planungen des Deutschen Bildungsrates, in: ders./CarlHeinz Evers/Erich Frister, Überregionale Aspekte und Tendenzen der Schulpolitik in der Bundesrepublik, Wiesbaden 1969, S. 20–42, hier S. 37. 112 Deutscher Bildungsrat. Empfehlungen der Bildungskommission, Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart 1970. 113 Stellungnahme der KMK zum Strukturplan der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates, 2.7.1970, Anlage zur Niederschrift über die 137. Plenarsitzung der KMK am 2./3.7.1970, HHStAW 504/5434b. 114 Referat MB 3: Vorlage einer Stellungnahme der Ständigen Kommission für Bildungsplanung zu den Empfehlungsentwürfen der Bildungskommission des DBR zur Neugestaltung der Abschlüsse im Sekundarschulwesen, BayHStA Nachlaß Böck 52/2 (die Unterkommission, welche die Empfehlung des Bildungsrates ausgearbeitet hatte, tagte im übrigen unter dem Vorsitz von Hans Maier, der bald in das Amt des Bayerischen Kultusministers überwechseln sollte); vgl. auch Ergebnisniederschrift über die 11. Sitzung der Ständigen Kommission für Bildungsplanung am 21.11.1968, BayHStA Nachlaß Böck 52/2.

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Die Dissonanzen nahmen in der zweiten Amtsperiode des Bildungsrates – nun auch nach außen hin deutlich erkennbar – immer mehr zu. Dazu trugen Veränderungen im politischen Kräftefeld der Bildungspolitik bei, etwa der Umstand, dass der Bildungsrat bald in den Schatten der 1970 gegründeten, nur noch aus Verwaltungsvertretern zusammengesetzten Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung trat, erst recht aber die bildungspolitische Klimaverschärfung, die sich im Streit um die Gesamtschulen verdichtete. Aus Reformern wie den christdemokratischen Bildungspolitikern Hans Maier und Wilhelm Hahn wurden immer entschiedenere Kritiker des von der sozialwissenschaftlich-sozialliberalen Reformallianz eingeschlagenen Kurses. Als die Bildungskommission Anfang der siebziger Jahre Vorschläge zur Verselbständigung und Demokratisierung der Schule ausarbeitet, in denen die bisherige Schule als Ort der Fremdbestimmung, die künftige hingegen als Keimzelle antiobrigkeitlicher Gesellschaftsreform porträtiert wurde, waren die Tage des Gremiums bald gezählt116. Erstmals bei dieser Gelegenheit gaben fünf Kommissionsmitglieder ihren partiellen Dissens in einem Minderheitsvotum zu Protokoll, die CDU/ CSU-Kultusminister distanzierten sich in aller Form117. Die Schärfe, welche die Auseinandersetzung nun erlangte, wurde deutlich, als das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus den Autoren des Entwurfs vorhielt, ihre Vorstellungen stünden nicht im Einklang mit der Verfassung: „So stellt die Behauptung, daß dem wachsenden Bedürfnis nach demokratischer Teilhabe heute durch repräsentative Demokratie nicht in ausreichendem Maße genügt wird, die Grundlage unseres Staates in Frage. Konsequent zielt die Empfehlung darauf ab, in wesentlichen Bereichen die parlamentarische Demokratie durch eine partizipatorische Demokratie an der Basis abzulösen. Die ,Verselbständigung‘ der Schule in der vorgeschlagenen Form entspricht nicht der durch die Verfassung gegebenen Ordnung, weil die Schule aus dem parlamentarischen Legitimationszusammenhang gelöst wird.“118 115 Ergebnisniederschrift über die 15. Sitzung der Ständigen Kommission für Bildungsplanung am 19.1.1970, S. 5 f., BayHStA Nachlaß Böck 52/3. 116 Deutscher Bildungsrat. Empfehlungen der Bildungskommission, Zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen. Teil 1: Verstärkte Selbständigkeit der Schule und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern, Stuttgart 1973. 117 Hellmut Becker, Welche Antworten fand die Arbeit des Bildungsrates bei den zuständigen Politikern? in: Neue Sammlung 15 (1975), S. 485–498, hier S. 491; vgl. auch Jens Hoffmann, Bildungsplanung als Versuch und Irrtum – Ein Beispiel für Politikberatung: Der Deutsche Bildungsrat, in: H.-D. Haller/D. Lenzen (Hg.), Lehrjahre in der Bildungsreform. Resignation oder Rekonstruktion? Stuttgart 1976, S. 195–224. 118 Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Stellungnahme zum 4. Entwurf einer Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates „Zur Reform von Organisation und Verwaltung im Bildungswesen, Teil I: Verselbständigung der Schule und Partizipation der Lehrer, Schüler und Eltern“, 3.4.1973, BArch B 251/1154; vgl. auch die umfangreiche Stellungnahme von Ministerialdirigent Piazolo, Kultusministerium Baden-Württemberg, 28.3.1973, ACDP VII-004-465/1; im hessischen Kultusministerium hingegen entwarf 1973 eine der Hauptverantwortlichen für

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Hat man in Fragen (wissenschaftlicher) Politikberatung ein geradliniges Interaktionsmodell vor Augen, bei dem die Wissenschaft Defizite benennt und Lösungsmodelle anbietet, die sich die Politik dann nur noch zu eigen machen und umzusetzen braucht, waren somit die unmittelbaren Wirkungen des Bildungsrates eher begrenzt. Auch hier tauchte damit die Frage auf, ob Politikberatung jenseits des Hochschulbereichs am Ende wenig mehr war als eine gewaltige intellektuelle Fehlinvestition. Man kann die Geschichte des Bildungsrates indes auch anders aufziehen. Seine zahlreichen Publikationen und Gutachtenaufträge haben Stand und Richtung der Bildungsforschung entscheidend beeinflusst. Seine Empfehlungen standen ganz im Zentrum der öffentlicher Meinungsbildung. Seine Anstöße zu Experimentalprogrammen im Bereich von Gesamt- und Ganztagsschulen wurden von Seiten der KMK aufgenommen und umgesetzt119. Seine Verlautbarungen waren der rote Faden, der sich durch die Beratungen der Kultusminister zog. Auch die Planungen der Bund-Länder-Kommission fußten in beträchtlichem Maße auf den Vorarbeiten des Bildungsrates120. Es gab Einzelempfehlungen, die weitreichende Wirkungen zeigten. So hinterließen die Empfehlungen zur Neuordnung der Abschlüsse im Sekundarbereich deutliche Spuren, als in den siebziger Jahren die gymnasiale Oberstufe reformiert wurde121. Und wie wichtig es war, ganz allgemein über eine bündelnde Instanz zu verfügen, die aus der Fülle der in die bildungspolitische Arena eingebrachten Einzelvorschläge ein Gesamtpaket zu schnüren vermochte, wurde vielen erst richtig deutlich, als diese Instanz dann nicht mehr vorhanden war. Dem enlightenment-Model, das Carol Weiss unter den „many meanings of research utilization“ besonders hervorgehoben hat, genügte der Bildungsrat allemal122. An der Grenze von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit angesiedelt war er ein wichtiger Transmissionsriemen, um Wissensbestände aus den oft die hochumstrittenen hessischen „Rahmenrichtlinien“ eine Presseerklärung, welche die Übereinstimmung mit der Empfehlung unterstrich, Ref. IV B 4, Haller, an Minister von Friedeburg, 19.6.1973, HHStAW 504/2999. 119 Auch dies jedoch nicht immer im Maßstab eins zu eins. Dem Experimentalprogramm für die Gesamtschule fügte der Schulausschuss der KMK neben den integrierten Modellen im Sinne des Bildungsrates auch noch kooperative Modelle hinzu, wie sie die CDU-Länder befürwortet hatten, vgl. 129. Sitzung des Schulausschusses der KMK vom 17./18.7.1969, S. 10 ff. und Anlage 1, HHStAW 504/5599. 120 Vgl. Heinrich Schoene, Die Wirkungen der Beratungen des Deutschen Bildungsrates auf die Bildungspolitik von Bund-Ländern, in: Wissenschaftszentrum Berlin (Hg.), Interaktion von Wissenschaft und Politik. Theoretische und praktische Probleme der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 1977, S. 120–136. 121 Stärkeren Einfluss übten jedoch die Vorarbeiten der Westdeutschen Rektorenkonferenz aus, vgl. Schulausschuss der KMK: Memorandum zum „Entwurf für eine Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II“, 3.5.1971, S. 4, HHStAW 504/1293b. 122 Carol H. Weiss, The Many Meanings of Research Utilization, in: Martin Bulmer u. a., Social Science and Social Policy, London 1986, S. 31–40.

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sehr unzugänglichen Regionen der Bildungsforschung in die Diskurse von Politik und Öffentlichkeit zu überführen. In diesem Sinne waren die Politikberater Grenzgänger, und als Grenzgänger waren sie durchaus auch erfolgreich. Dass das reformerische Gesamtdesign des Bildungsrates nur bruchstückhaft in die bildungspolitische Realität übertragen wurde, wird denjenigen Betrachter, der von einem linearen Erwartungsmodell der direkten Umsetzung (und Umsetzbarkeit) wissenschaftlicher, semi-wissenschaftlicher oder sonstiger Expertise im politischen Entscheidungsprozess ausgeht, zu einer Einschätzung gelangen lassen, welche die Stoßkraft und Effektivität des Gremiums (wie ähnlich auch die des „Deutschen Ausschusses“) deutlich geringer veranschlagt, als dies der Fall sein dürfte, wenn für die Urteilsbildung ein Modell zu Grunde gelegt wird, das auch verschlungenere Wirkungspfade berücksichtigt, die Öffentlichkeit als Medium der Beratung im Blick behält, die permanente Transformation des eingespeisten Wissens in Rechnung stellt, langfristige Nachwirkungen nicht übersieht und auf solche Weise weniger von der Annahme eines unmittelbaren „problem solvings“ bestimmt ist, als vielmehr von der eines mittelbaren „trickling down“123. Das politische Aufschnüren „sachverständiger“ Reformpakete muss dann nicht schon unbedingt als ihr Scheitern angesehen werden. Freilich bleibt dann noch immer die Frage, ob dies mit wissenschaftlicher Politikberatung gemeint sein kann. Die Akteure des Bildungsrates hatten sich sicher etwas mehr erwartet. Schlußbetrachtungen In der schwer zu überblickenden Gesamtarena bundesdeutscher Politikberatung zeichneten sich die bildungspolitischen Beratungsgremien durch eine Reihe von Grundzügen und Besonderheiten aus, die abschließend in zehn Thesen noch einmal hervorgehoben werden sollen. 1. Zu den Eigentümlichkeiten der bildungspolitischen Räte gehörte ihr Charakter als Klammergremien des „kooperativen Föderalismus“ – ein Charakteristikum, das leicht zu zusätzlichen Konfliktüberlagerungen führen konnte und damit die Wirkungschancen der Gremien genau in dem Maße gefährdete, wie sich ihre Reichweite ausdehnte. 123 Vgl. neben Weiss bspw. auch Volker Ronge, Politikberatung im Lichte der Erkenntnis soziologischer Verwendungsforschung, in: Heine von Alemann/Annette Vogel (Hg.), Soziologische Beratung. Praxisfelder und Perspektiven, Opladen 1996, S. 135– 144; Hellmut Wollmann, Kontrolle in Politik und Verwaltung: Evaluation, Controlling und Wissensnutzung, in: Klaus Schuber/Nils C. Bandelow (Hg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse, München 2002, S. 335–360; ferner Ulrich Beck/Christoph Lau, Bildungsforschung und Bildungspolitik – Öffentlichkeit als Adressat sozialwissenschaftlicher Forschung, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 3 (1983), S. 165–173; für den theoretischen Hintergrund Matthias Wingens, Soziologisches Wissen und politische Praxis. Neuere Theoretische Entwicklungen der Verwendungsforschung, Frankfurt a. M./New York 1988.

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2. Weiter gehörte dazu, dass die Kernaufgabe der Gremien nicht so sehr in der Bereitstellung exklusiver Wissensbestände, als vielmehr in der Initiierung vorpolitischer, ja entpolitisierter Konsensfindungsprozesse lag. Den Entscheidungsabläufen wurde ein wissenschaftlicher, semi- und nicht-wissenschaftlicher Positionsabgleich vorgeschaltet, von dem erwartet wurde, dass er auf das politische Geschehen zurückwirken würde. Gremien wie der „Deutsche Ausschuss“ und der „Bildungsrat“ mussten deshalb, sollten sich die gesellschaftlichen Lager in ihnen wiedererkennen, ein Mindestmaß an „Wissens-, Werte- und Interessenpluralismus“124 abdecken. Nicht immer ist ihnen dies hinreichend gelungen. 3. Gleichwohl, die drei skizzierten Räte besaßen darin eine Gemeinsamkeit, dass sie mit ihren Stellungnahmen breite Schneisen in das Dickicht der bildungspolitischen Meinungslandschaft zu schlagen vermochten. Sie erlangten maßgeblichen Einfluss darauf, in welchen Bahnen sich die nachfolgende Bildungsdiskussion bewegte. Selbst wenn sie politisch ohne starke Wirkung blieb, musste Politikberatung deshalb nicht nutzlos verpuffen. Allemal besaß sie die Chance, zu einer bedeutsamen Diskursmacht zu werden. 4. Zu den Lernprozessen, die mit den Erfahrungen in der bildungspolitischen Politikberatung verbunden waren, gehörte deshalb zugleich, dass nicht nur die Kommunikation mit der Politik, sondern auch die Kommunikation mit der Öffentlichkeit zu ihrem Geschäft gehörte. Der Umstand, dass „wissenschaftliche“ Politikberatung in den sechziger Jahren von einem beträchtlichen Reputationsvorschuss zehrte, schloss nicht aus, dass sie sich auf den politischen Wissensmärken mit anderen Anbietern messen musste. Indem sie jedoch die Öffentlichkeit als Beratungsadressaten entdeckte, konnte sie indirekt wieder auf die Politik zurückwirken. 5. Die Räte waren unter Akteursgesichtspunkten hybride Organisationen. In sehr unterschiedlichen Mischungsverhältnissen vereinten sie Wissenschaftler mit „Personen des öffentlichen Lebens“, Repräsentanten unterschiedlicher Denkschulen mit Vertretern wichtiger gesellschaftlicher Gruppen, sachverständige Berater mit politischen Entscheidern. Gerade darauf beruhte die ihnen zugerechnete Qualität einer – gleichsam experimentellen – Konsensfindungs-Alternative. 6. So wie es diese Mischkonstruktionen aber immer wieder erforderlich machten, die Scheidelinie zwischen Wissenschaft und Politik neu zu markieren, blieben auch die Gewichtung und Gewichtsverteilung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Wissensformaten instabil. Die „Expertisierung“ der Bildungspolitik stieß genau an dem Punkt an ihre Grenzen, wo sicht124 Zum Stellenwert dieser Kategorien im Rahmen eines neuerdings vorgeschlagenen, anregenden Analyserasters vgl. Harald Heinrichs, Politikberatung in der Wissensgesellschaft. Eine Analyse umweltpolitischer Beratungssysteme, Wiesbaden 2002, bes. S. 195 ff.

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bar wurde, dass wissenchaftsbasiertes Wissen, soweit überhaupt verfügbar, allein nicht genügt, um gangbare bildungspolitische Handlungsoptionen aufzuzeigen. Indem an entscheidenden Punkten notwendig Wertentscheidungen ins Spiel kommen mussten, ließ sich eine Legitimation der Politikberatung – und damit die Autorität ihrer Berater – allein aus den Attributen der „Wissenschaftlichkeit“ nicht mehr gewährleisten. 7. Der Grundsatz der „Wissenschaftlichkeit“ trat auch deshalb mit dem Anliegen einer diskursgestützten Konsensfindung in ein Spannungsverhältnis, weil Wissenschaft, verstanden als methodisches Prinzip, nicht auf den Regulativen des Konsenses oder des Kompromisses beruhte, sondern – idealiter – auf Aushandlungsprozessen letztlich nicht zugänglichen Operationen planvoller Erzeugung von Erkenntnis. Indem die Berater nach einem gemeinsamen Nenner suchten, waren sie deshalb schon im Begriff, die Grenzen zu überschreiten, die der Wissenschaft gesetzt waren125. 8. Wichtig waren die unterschiedlichen institutionellen Arrangements, mittels derer die Kommunikation zwischen Beratern und Entscheidern kanalisiert werden sollten. Mal blieben die Berater unter sich (Deutscher Ausschuß), mal wurden sie ihrerseits von den Entscheidern beraten (Bildungsrat), mal berieten sich die Entscheider auch gleich selbst (Wissenschaftsrat). Dabei hatte man es insoweit mit einem Lernprozess zu tun, als die Protagonisten der Politikberatung jeweils bestrebt waren, aus den Erfahrungen mit den bisher erprobten Bauprinzipien die nötigen Lehren zu ziehen. Der Wissenschaftsrat galt aufgrund seiner Formgebung als ein sehr gelungenes Modell institutionalisierter Politikberatung, der „Deutsche Ausschuß“ wegen seiner ganz anders gearteten Konstruktionsprinzipien eher als ein schiefgelaufener Versuch. Je länger, je mehr erwies sich die institutionell verbürgte Interaktion von Sachverstand und Politik (inklusive Ministerialbürokratie) als Grundvoraussetzung für eine wirkungsvolle Politikberatung – wie in der Bildungspolitik, so auch ganz allgemein126. Politikberatung bedurfte des Zwangs zum Dialog, monologische Politikberatung stand stets in der Gefahr, politisch ins Leere zu sprechen. 9. Mit all diesen Aspekten hing eng zusammen, dass die Gremien von einem kompliziertes Nebeneinander höchst unterschiedlicher Perspektiven geprägt waren. Während sich der Bund von ihnen Unterstützung in seinem Anliegen versprach, die zentralstaatlichen Mitsprachrechte in der Bildungspolitik zu erweitern, mussten die Länder – und die KMK zumal – eher von ernst zu nehmende 125 Dass tatsächlich auch wissenschaftliches Wissen, wie die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie hervorgehoben hat, auf Verhandlungsprozessen beruhen kann, bleibt davon unbenommen; es geht hier in erster Linie um den zeitgenössischen Wahrnehmungshorizont. 126 Vgl. Ortwin Renn, Sozialwissenschaftliche Politikberatung. Gesellschaftliche Anforderungen und gelebte Praxis, in: Berlinern Journal für Soziologie 9 (1999), S. 531–548, hier S. 543.

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Konkurrenten ausgehen, die eine Gefahr für die föderale Kulturhoheit bilden konnten. Während die Länder deshalb geneigt waren, die Gremien als Kristallisationspunkte eines allgemeinen, dabei aber eher unverbindlichen Meinungsbildungsprozesses zu verstehen, musste es den Sachverständigen, waren sie auf ihre Wirksamkeit bedacht, darum zu tun sein, sich als Planungsgremien zu definieren und eine umfassende Berücksichtigung ihrer Empfehlungen in den politischen Entscheidungsprozessen anzustreben. 10. Nochmals überlagert, und zwar ganz entscheidend, wurden diese Spannungen durch die sich wandelnden parteipolitischen Konjunkturen und Konstellationen. Dabei fanden zwei allgemeine Regeln Bestätigung, die sich vereinfacht auf die Formel bringen lassen: Parteipolitische Polarisierung senkt die Erfolgsaussichten konsensorientierter Politikberatung, und zwar auch unabhängig davon, wie sehr die Gremien dieser selbst erliegen, parteipolitische Entspannung lässt ihre Chancen hingegen steigen. Und weiter: Je näher sich die Politikberatung in die Sphäre politisch wertgeladener Programmentscheidungen begibt, um so höher ist die Widerspruchswahrscheinlichkeit. Umgekehrt formuliert: Je mehr die Politikberatung in den Regionen von maßnahmenorientierten Entscheidungshilfen (bei möglichst geringem politischen Streitwert) verweilt, um so geringer ist ihre Konfliktanfälligkeit. Trotz mancher Besonderheiten des Politikfeldes war der bildungspolitische Beratungsboom unter vielen Gesichtspunkten doch auch ein charakteristischer Ausschnitt aus der allgemeinen Hochkonjunktur, welche die Politikberatung in den sechziger und siebziger Jahren erlebte127. Das galt schon rein quantitativ für die beträchtlich gestiegene Reichweite und Intensität der Beratung, galt ebenso für den sozialwissenschaftlich gestimmten Grundton der Expertisen, galt unterm Strich aber auch für das Missverhältnis von hochfliegenden Erwartungen und begrenztem Ertrag128 – für all dies lassen sich zahlreiche Parallelen auf anderen Feldern der Politikberatung finden. Der Umstand freilich, dass sich in der Bildungspolitik die Gewichte bald merklich von den „freien“ zu den staatsnahen Einrichtungen der Bildungsforschung verschoben, war zwar auch anderen Arenen der Politikberatung nicht ganz unbekannt, selten jedoch so deutlich zu beobachten wie hier. Zu der desillusionierten Grundstimmung, die sich im Beratungsmetier seit den siebziger Jahren ausbreitete, hatte im übrigen beigetragen, dass man schneller als von mancher Seite erwartet an die Grenzen 127 Vgl. zum folgenden Wilfried Rudloff, Verwissenschaftlichung der Politik? Wissenschaftliche Politikberatung in den sechziger Jahren, in: Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates. Wissensbasierte Organisation in Verwaltung und Regierung. Baden-Baden 2004 [im Druck]. 128 Vgl. auch Wilfried Rudloff, Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2003, S. 259–282.

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der Problemlösungskapazität wissenschaftlicher Politikberatung gestoßen war: Nicht immer standen die notwendigen Wissensbestände bereit, um die Koordinaten des politischen Handelns zuverlässig bestimmen zu können, und wo sie bereit standen, besaßen sie nicht immer die nötige Evidenz, um sich gegenüber konkurrierenden Beständen zweifelsfrei durchsetzen zu können. Selbst dort, wo auch diese Bedingung noch erfüllt sein mochte, fehlte es oft an Durchschlagskraft, um Stil und Gehalt des politischen Entscheidungsprozesses, so wie es vielen vorgeschwebt hatte, in den Modus einer „verwissenschaftlichten“ Politik überführen zu können. Bildungspolitik blieb, um es nochmals zu betonen, an Wertentscheidungen gebunden, die nur mit den Rationalitätskriterien der Politik getroffen werden konnten. Und wissenschaftsbasierte Problemlösungskapazität fand sich auch deshalb der politischen Handlungsrationalität untergeordnet, weil die Stärke der Bildungsforschung mehr in Problembeschreibung und Systembeobachtung als im Entwurf zwingender Handlungsoptionen lag129. Die Bildungspolitik teilte auch in diesem Punkt eine allgemeine Erfahrung auf dem Feld der Politikberatung.

129 Vgl. auch Peter Zedler, Zur Bilanz des Verhältnisses von Bildungsforschung und Bildungsplanung. Politisch-administrative Filter der Rezeption und Verwendung von Bildungsforschung im Bereich staatlicher Bildungsplanung, in: Klaus Beck/Adolf Kell (Hg.), Bilanz der Bildungsforschung. Weinheim 1991, S. 229–250, bes. S. 232 ff.; Ewald Terhart, Bildungsforschung, Bildungsadministration, Bildungswirklichkeit: eine systematische Annäherung, in: Klaus-Jürgen Tillmann/Witlof Vollstädte (Hg.), Politikberatung und Bildungsforschung. Das Beispiel: Schulentwicklung in Hamburg, Opladen 2001, S. 17–32; für den amerikanischen Erfahrungsraum vgl. David Cohen/Michael Garet, Reforming educational policy with applied social research, in: Harvard Educational Review 45 (1975), S. 17–43.

Die Rolle der Experten in der Atompolitik am Beispiel der Deutschen Atomkommission Von Bernd-A. Rusinek Die Deutsche Atomkommission (im Folgenden: DAK) war ein Expertengremium der Politikberatung und eine der einflussreichsten Kommissionen, die es in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat. In der Zeit der Atomeuphorie, als Zukunft ohne Kernenergie undenkbar schien1, sollte die DAK als Beraterstab des am 6. Oktober 1955 gebildeten „Bundesministeriums für Atomfragen“ – Vorgängerhaus des heutigen Forschungs- und Technologie-Ministeriums und das Bundesministerium mit den meisten Namensänderungen – den „Aufbau einer deutschen Atomwirtschaft zu friedlichen Zwecken“ forcieren und der Politik sowohl die nächsten notwendigen Schritte vorschlagen wie Perspektiven für die Zukunft bahnen. Das Vertrauen in die DAK schien zunächst fast grenzenlos, so erklärten die politischen Akteure, es sei das Beste, die Beratungsergebnisse der DAK einfach zu übernehmen2. Diese für die Mitglieder eines Politikberatungsgremiums sehr schmeichelhafte Einschätzung stammt aus der Zeit der erweiterten Gründungsphase der DAK, die bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Dass es das Beste sei, die Ergebnisse der DAK einfach zu übernehmen, sagte ab Mitte der 1960er Jahre außerhalb der DAK niemand mehr. In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts begann die Auflösung. Der Abschnitt I dieser Ausarbeitung ist eine Einführung in den recht komplexen Gegenstand; in Abschnitt II wird die Entstehungsgeschichte mitsamt den daraus sich ergebenden Besonderheiten der DAK anderen Beratungsgremien gegenüber dargestellt; Abschnitt III behandelt erste Realisierungsversuche von Konzepten, die von der DAK ausgearbeitet wurden, und damit die aufkommende Kritik; den Inhalt von Abschnitt IV bildet die Betrachtung öffentlicher sowie und interner Kritik an der DAK, die nicht mehr allein auf das Fachliche, sondern auf das ganze Prinzip eines sich selbst kooptierenden Altherren- und Honoratioren-Gremiums zielte. Diese Kritik gehörte zum Vorfeld der DAK-Auflösung im Oktober 1971. 1 Siehe: Bernd-A. Rusinek, Die „umgekehrte Demontage“. Zur Kontextgeschichte der Atomeuphorie. In: Kultur & Technik. Zeitschrift des Deutschen Museums München, 4/1993, S. 14–21. 2 Bundesarchiv Koblenz (BAK), B 138-3297, Atomminister Strauß vor der DAK, 6. Sitzung, 15.11.1956.

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I. Die DAK-Aufgaben gehen aus den Berufungsschreiben an die ausersehenen Mitglieder sowie aus einem programmatischen Beitrag von Franz Josef Strauß, dem ersten bundesdeutschen Atomminister (1955–1956), in der Zeitschrift „Die Atomwirtschaft“ hervor: – Ausarbeitung eines Koordinierungsprogramms für die Forschung, – eines Kernenergie-Gesetzes, – eines Förderungsprogramms für die Sicherstellung ausreichenden wissenschaftlichen Nachwuchses, – eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor radioaktiven Stoffen, – Mithilfe bei den internationalen Verhandlungen über die Europäische Atomgemeinschaft, bei der Atomzusammenarbeit mit der OEEC und in den Vereinten Nationen sowie bei bilateralen Abkommen und Verträgen3. Darüber hinaus liefen alle Entscheidungen über Gründungen von Instituten und Institutionen auf dem Atomforschungssektor über die Atomkommission. Auch Petitessen wie Forschungsaufenthalte von Wissenschaftlern wurden in den Untergremien diskutiert und entschieden. Natürlich konnte diese Aufgabenlast nicht von den 25, später 26 DAK-Mitgliedern getragen werden. Strauß empfahl daher gleich in der konstituierenden Sitzung im Januar 1956 die Bildung von Fachkommissionen sowie gegebenenfalls von Fachausschüssen. Es entstanden neun, später zehn Fachkommissionen sowie fünfzehn Arbeitskreise. Da auch auf diese Weise die Aufgabenfülle nicht zu bewältigen schien, wurde den Arbeitskreisen die Hinzuziehung von „ständigen Gästen“ und Gutachtern ermöglicht, woraufhin es zur Bildung projektbezogener Gutachterausschüsse kam. Die Fachkommissionen sollten die eigentlichen DAK-Sitzungen vorbereiten4. Aufgrund dieser Ausweitung besaß die DAK mehrere hundert Mitglieder in der Kommission, in den Fachkommissionen, Arbeitskreisen und Gutachterausschüssen. Die Fachkommissionen (Stand 1956) befassten sich mit: 1. Kernphysik und Kernchemie 2. Ankauf und Bau von Reaktoren („Fachkommission Reaktorbau“) 3. Forschung und Nachwuchs 4. Bergbaulichen Fragen 3 Siehe: Wolfgang D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Ms. der Kerntechnischen Gesellschaft, 1990, Bd. 1, S. 319 (Kapitel B 1 „Einstieg“); Franz Josef Strauß, Der Staat in der Atomwirtschaft, in: Die Atomwirtschaft, H. 1, Jan. 1956, S. 2–5, zur DAK: S. 4 f. 4 Ebd.

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5. Ausnutzung der Atomenergie für gewerbliche Zwecke 6. Ausnutzung der Atomenergie für Verkehr 7. Ausnutzung der Atomenergie für „Medizin, Biologie, Landwirtschaft usw.“ 8. Schutz der Bevölkerung vor Gefährdung durch radioaktive Stoffe „(Wasser, Luft, Boden, Beseitigung der Abraumstoffe, Katastrophenschutz)“ 9. wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Probleme der Atompolitik 10. „Rechtsfragen aller Art“5.

Ende 1957 umfasste die Atomkommission an die zweihundert Mitglieder, 1971 waren es dreihundert; von 1956 bis 1963 tagten die Atomkommissionsgremien 419-mal: die Atomkommission fünfzehnmal, die Fachkommissionen 54mal und die Arbeitskreise 350-mal. 1956 gehörten von neunzig Akteuren der DAK, ihrer Fachkommissionen und Arbeitskreise 66 einem der Gremien an, siebzehn zwei Gremien und sieben Herren drei oder mehr Gremien6. Zu berücksichtigen ist, dass es zwischen den Fachkommissionen ein erhebliches Machtund Einflussgefälle gab. Die DAK-Fachkommission Reaktorbau unter Vorsitz Karl Winnackers war ungleich mächtiger als die Fachkommission Strahlenschutz. Von den siebzehn Zwei-Gremien-Leuten des Neunzig-Männer-Samples gehörten elf der Fachkommission Reaktorbau an, von den Mitgliedern dreier oder mehr Gremien7, bei denen es sich sämtlich um sehr hoch angesehene Wissenschaftler handelte, zählten zwei zur Fachkommission Reaktorbau. Die DAK bestand vom 21. Dezember 1955 bis zum 19. Oktober 1971, also rund sechzehn Jahre. Am 26. Januar 1956 trat sie erstmals zusammen. Auf dieser Sitzung wurde Atomminister Strauß zum Vorsitzenden gewählt, Stellvertretende Vorsitzende wurden Leo Brandt, der sozialdemokratische Fortschritts- und Kernenergie-Apostel, Vorkämpfer für eine Wissenschaftspolitik als Gesamtpolitik8, sodann Otto Hahn als Imageträger der deutschen Wissenschaft, dessen in das Ausland strahlendes Renommee eher benötigt wurde als seine praktische Mitarbeit9. Wichtigster Industrievertreter in der DAK war Karl Winnacker, Vor5

Ebd. Die folgenden Angaben sind aus dem gesamten Jahrgang 1 (1956) der Zeitschrift „Die Atomwirtschaft“ ermittelt. 7 Otto Haxel (Physik, Universität Heidelberg), Heinz Maier-Leibnitz (Techn. Physik, TH München/Maier-Leibnitz war nicht Mitglied der Bundes-Atomkommission, aber verschiedener Fachkommissionen und Arbeitskreise), Friedrich Paneth (MPI für Chemie, Mainz), Wolfgang Rietzler (Physik, Universität Bonn), Arnold Scheibe (Landwirtschaftswissenschaften, Universität Göttingern), Wilhelm Walcher (Physik, Universität Marburg/nicht Mitglied der Bundes-Atomkommission, aber von Fachkommissionen und Arbeitskreisen), Carl Friedrich von Weizsäcker (MPI für Physik, Universität Göttingen/ebenfalls nicht in der Bundes-Atomkommission, aber in der Fachkommission Forschung und Nachwuchs sowie deren beiden Arbeitskreisen Kernphysik und Nachwuchsfragen). 8 Siehe: Bernd-A. Rusinek, Leo Brandt (1908–1971), in: Geschichte im Westen 6 (1991), S. 74–90. 6

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standsvorsitzender der Farbwerke Hoechst. Zu den weiteren DAK-Mitgliedern zählten Hermann Josef Abs (Bank deutscher Länder, danach Deutsche Bank), Werner Heisenberg, der Gewerkschaftsführer Ludwig Rosenberg und ein Vertreter des Deutschen Städtetages. Deutlich wird, dass man möglichst viele gesellschaftlich einflussreiche Gruppen zu integrieren suchte. Allerdings fehlte ein Vertreter der Kirche, aber Strauß berichtet in seinen Erinnerungen, Eugen Gerstenmaier habe aus konfessioneller Verbundenheit einen Vorstoß zugunsten Carl Friedrich von Weizsäckers unternommen, woraufhin dieser im Mai 1956 in die Fachkommission „Forschung und Nachwuchs“ berufen worden sei10. Insgesamt finden wir in der DAK einen Bankenvertreter, zehn Männer der in den Startlöchern einer künftigen Atomindustrie stehenden Wirtschaft, wobei es sich ausschließlich um Vertreter großer Unternehmen handelte, einen Vertreter der kommunalen Unternehmen, zwei der Gewerkschaften, einen der Politik, sieben der mit Atomforschung unmittelbar befassten Wissenschaften und drei anderer Wissenschaften. Die DAK war in den 1950er und frühen 1960er Jahren weitgehend unumstritten, und es wurden viele Hoffnungen in sie gesetzt. Sie sollte die wenigen Experten zusammenfassen und Politik, Wissenschaft, Industrie, Banken und Gewerkschaften miteinander vernetzen. Zwei weitere eher indirekte Aufgaben der DAK bestanden darin, erstens durch ihren Fachleute- und Honoratioren-Charakter in der bundesdeutschen Öffentlichkeit für das „Atom“ zu werben, zweitens durch Image-Personen wie den Nobelpreisträger Otto Hahn das Prestige der deutschen Wissenschaft, vor allem der anwendungsorientierten Forschung, auch gegenüber dem Ausland zu erhöhen, was vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges natürlich notwendig war. Im Bundesforschungsministerium hieß es einmal über eine der zahllosen Kommissionen der gremien-euphorischen 1968er-Zeit: „Wie üblich wurde ein Ausschuss gebildet.“11 Die zwölf Jahre zuvor gebildete DAK unterschied sich von „üblichen“ Kommissionen erstens darin, dass sie nicht zur Behebung eines partiellen Problems, sondern als machtvoller wissenschaftlicher Beirat mit über das normale Maß von Beiratsmacht hinausgehenden Kompetenzen zur Lösung einer Aufgabe von historischer Dimension konstituiert worden war, zweitens darin, dass über den Kommissionsgegenstand in der bundesdeutschen Gesellschaft ein denkbar breiter Konsens herrschte. Man war in weiten Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft sicher, das beginnende „Atomzeitalter“ 12 würde 9 Hahn hatte erklärt, abgesehen von der Tatsache, als Chemiker mitverantwortlich für die Zerspaltung des Urans zu sein, könne er sich jetzt, nachdem er „seit bald 12 Jahren gar keine eigentliche Atomforschung mehr mache, durchaus nicht als sachverständig ansehen“. (BAK, B 138-3298, Hahn an Atomminister Balke, 9.2.1957). 10 Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 220. 11 BAK, B 138-2020, Kurzbericht über Gespräche im Atomforum, eine besondere Organisation der Kerntechniker betreffend, 23.2.1968.

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eine tiefgreifende Umgestaltung der Gesellschaft herbeiführen. Frage war allein, wie der Einstieg schnellstmöglich erreicht werden könne. Dafür war die DAK zuständig. Der hochgradige Konsens über die DAK und die Kernenergie-Projekte in Politik und Öffentlichkeit der 1950er und frühen 1960er Jahre speiste sich aus sechs Quellen: 1. In einer Zeit, als die Formel Wachstum = höherer Energieverbrauch galt, sah man eine dramatische Energieknappheit vor sich. 2. Die friedliche Kernenergienutzung war nach dem Fortfall der Forschungsrestriktionen mit dem 5. Mai 1955 der erste Prüfstein für die deutsche Wissenschaft, als entfesselter Prometheus ihre Lichtbringer-Qualitäten unter Beweis zu stellen. 3. Die Anstrengungen auf dem Sektor der Kernenergienutzung wurden gleichsam als eine Eintrittskarte der Deutschen/West in die zivile Scientific Community und damit als symbolische Entnazifizierung angesehen. 4. Die friedliche Kernenergienutzung war seit der Ersten Genfer Konferenz 1955 zum Bestandteil der Ost-West-Systemkonkurrenz geworden. 5. In der Phase der Atomeuphorie wurde die Kernenergie-Nutzung Projektionsfläche der Träume einer Gesellschaft – Realisierung von Science Fiction, unendliche Energie und damit nicht nur Ende aller Knappheit, sondern auch das Ende der Kriege, soweit sie um Energiezugänge geführt worden waren13; einige hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, „die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln“14. 6. Zu alle dem musste der viel beschworene nationale Rückstand aufgeholt werden, damit die Bundesrepublik nicht auf den Status eines Entwicklungslandes zurückfalle, nachdem das Wirtschaftswunder gerade einmal konsolidiert war.

Das unter 6. genannte Motiv des Rückstands soll etwas näher betrachtet werden, weil es die DAK noch nachdrücklicher verpflichtete und zugleich zum Grundbestand der Wissenschaftsförderungs- und Subventionsnehmer-Rhetorik gehört. Der erste Bundes-Atomminister Franz Josef Strauß (1955/56) sowie sein Nachfolger Balke (1956 bis 1962) beschworen in ihren Ansprachen und öffentlichen Bekundungen stets einen deutschen Kernenergie-Rückstand von etwa 12 Siehe: Bernd-A. Rusinek, Kernenergie, Kernforschung und „Geschichte“: Zur historischen Selbst- und Fremdeinordnung einer Leitwissenschaft. In: Burkhard Dietz/ Michael Fessner/Helmut Maier (Hg.), Technische Intelligenz und „Kulturfaktor Technik“. Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik Deutschland, Münster, New York, München 1996 (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit u. Umwelt, Bd. 2), S. 297–316. 13 Siehe: Rusinek, Die „umgekehrte Demontage“. 14 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Vierter Teil: Grundrisse einer besseren Welt, Frankfurt a. M. 1959 (Werke, Bd. 5,1), S. 775.

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zehn bis fünfzehn Jahren gegenüber den USA, Großbritannien und der Sowjetunion. Die Deutschen der Bundesrepublik wurden dazu aufgerufen, den „mühsam wieder gewonnenen Platz unter den Industrienationen dieser Welt zu behaupten und zu sichern“; eine Nation, „die auf dem Gebiet der Atomwissenschaft und Atomwirtschaft nicht Gleichstand mit den übrigen Völkern“ aufweisen könne, werde „allmählich einem Prozess der Deklassierung unterliegen“; schon habe der britische Premierminister erklärt, Großbritannien müsse bei der Entwicklung der Atomenergie „die gleiche Stellung einnehmen wie nach der Erfindung der Dampfmaschine“15. Diese eindeutig nationalen, wenn aufgrund ihrer Kombination aus Gewaltmarsch in die Zukunft, Rehabilitierung der deutschen anwendungsorientierten Naturwissenschaften und „Wir sind wieder wer“-Pathos nicht sogar nationalistischen Kernenergie-Träume in der Bundesrepublik knüpften zweifellos an die Mentalität der damals führenden Generation an und erhielten damit eine größere Durchschlagskraft, aber sie gerieten in Widerspruch zur gleichzeitig propagierten europäischen Einigungspolitik einschließlich der Gründung von EURATOM. Gerade auf dem Atomsektor, dem Zukunftssektor schlechthin, der „ein neues Zeitalter, eine wissenschaftliche und wirtschaftliche Umwälzung“16 herbeiführen würde, schien sich also ein bedrohlicher Rückstand der Bundesrepublik gegenüber dem Ausland aufzutun17. Damit kam der Zeitfaktor ins Spiel – DAK und Bundesatomministerium mussten schnell arbeiten. Ihre Kompetenz war mit dem nationalen Schicksal verknüpft. Es ging um nichts weniger als um die zumindest mittelfristige Sicherstellung des Wirtschaftswunders. Aufgrund der „in ihrer Größe gar nicht absehbare(n) Bedeutung der Kernenergie in der Zukunft“ und „weil jede Zersplitterung auf diesem Gebiet vermieden werden“ sollte, war Ende 1955 das Bundes-Atomministerium entstanden. Es kann als spezielles nationales Rückstandsüberwindungsministerium angesehen werden. Dieses Ministerium aber, das ein neues „Zeitalter“ eröffnen helfen sollte, war als ausgesprochen kleine Behörde konzipiert. Strauß erklärte, er habe „einen einzigen Referenten auf dem Gebiet der Forschung und dann noch zwei nichtakademische Mitarbeiter in gehobenen Beamtenstellungen und einige Schreibkräfte“18 – mehr wolle er nicht haben. Rücksicht auf populäre Abneigung gegen „Verwaltung“ und „Bürokratie“, die Gleichsetzung von Langsam15 BAK, B 138-3297, Minister Strauß’ Eröffnungsrede bei der konstituierenden Sitzung der DAK, 6.1.1956. 16 Ebd. 17 Siehe: Der Rückstand. Geschichte und Bedeutung einer Problemwahrnehmung, in: Bernd-A. Rusinek, Das Forschungszentrum. Eine Geschichte der Kernforschungsanlage Jülich (KFA) von ihrer Gründung bis 1980, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 203–216. 18 BAK, B 138-219, Referat von Bundesatomministers Strauß über ein deutsches Reaktorprogramm, gehalten auf der Ministerpräsidentenkonferenz am 3./4.5.1956.

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keit und behördlichem Stil, der Zusammenhang von Rückstandsüberwindung und „Tempoideologie“19 mochten bei einer solchen Selbstdarstellung den Ton angegeben haben, doch war das Atomministerium zunächst tatsächlich winzig. Ende 1957 verfügte das Haus mit seinen insgesamt 138 Angehörigen über 25 Beamte und dreizehn Angestellte im Höheren Dienst. Demgegenüber war der entwickelte Stab der DAK mit seinen Fachkommissionen und Arbeitskreisen um ein Mehrfaches größer. Von den 40 Mio. DM Haushaltsmitteln des Atomministeriums für 1956 dienten 1 Prozent dem Aufbau und 3 Prozent dem Betrieb, 43 Prozent erhielt die Atomkommission zur direkten Mittelverteilung, der Rest ging an Atomforschungszentren in der Projektierungs- oder Aufbauphase, über die wiederum Vorschläge und Gutachten der Atomkommission entschieden hatten. Diese Asymmetrie bedeutete, dass das Atomministerium gegenüber der DAK als dem eigenen Beratungsgremium von der Größe her kein Widerlager darstellte und von der Sache her – ein einziger Referent auf dem Gebiet der Forschung gegenüber einem Bienenschwarm von Professoren – keinerlei Eigenkompetenz entgegensetzen konnte. Wir haben also mit der DAK in zweifacher Hinsicht einen Sonderfall von Politikberatung vor uns: 1. Ist nach allgemeinem Verständnis ein Beratungsgremium Annex der beauftragenden Einrichtung, so erschien das beauftragende Atomministerium der Frühphase umgekehrt als Annex des Beratungsgremiums. Das beratende Gremium aus formal nicht demokratisch legitimierten, sondern einberufenen, später kooptierten Vertretern marginalisierte ein Ministerium als Teil der parlamentarischen Demokratie. 2. Das Beratungsgremium DAK ist praktisch vor dem es einsetzenden Ministerium da gewesen.

II. Pointiert ließe sich feststellen, dass die DAK im juristischen Sinn zwar ein Vierteljahr nach dem Atomministerium gegründet wurde, aber dennoch drei Jahre älter war20. 1952 war im Hinblick auf die EVG-Verträge eine Atomkommission als Beratungsorgan der Bundesregierung vorgeschlagen worden, sie scheiterte aber am Widerspruch der Alliierten, die in ihren eigenen Staaten jeweils Regierungsstellen eingerichtet hatten und das auch für die Bundesrepublik wünschten. Bis Mai 1955 wurden der Bundesregierung insgesamt sechs Atomkommissions-Entwürfe vorgelegt. Konzeptionell unterschieden sie sich in der 19 Dieser einprägsame Begriff, u. a. auf die nuklearwirtschaftlichen Anstrengungen bezogen bei Niklas Luhmann, Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten, in: Die Verwaltung 1 (1968), S. 3–30, S. 30. 20 Zum Folgenden siehe als zuverlässige Faktengrundlage: Müller, Geschichte der Kernenergie, S. 279 ff.

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Frage, ob die Kommission beraten oder entscheiden sollte. Heisenberg und DFG-Präsident Raiser setzten sich für eine Kommission mit Entscheidungsbefugnissen ein, wenn auch nach Raisers Auffassung nicht mit eigener Rechtsetzungsgewalt wie die amerikanische USAEC. Allmählich gewann die Sichtweise des Bundeswirtschaftsministeriums an Boden: eine beratende Kommission aus angesehenen Vertretern von Wirtschaft und Wissenschaft, die einem Ressort angehängt werden sollte. Dieses Ressort sollte zunächst das Wirtschaftsministerium sein, weil aber – wie oben zitiert – „jede Zersplitterung auf diesem Gebiet vermieden werden“ sollte, kam es zur Gründung des Atomministeriums. Woher kamen die Fachleute für die Atomkommission und ihre Untergruppierungen? Hier sind zwei Stränge zu unterscheiden. Erstens der seit 1950 bestehende „Arbeitskreis für Atomfragen“ im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) unter Vorsitz des BDI-Direktors Wilhelm Alexander Menne, ab 1956 Mitglied der DAK. Dieser Arbeitskreis nahm zu einer Zeit, als es noch keine bundesdeutsche Botschaft in den USA gegeben hatte, also vor dem 5. Mai 1955, in Sachen Atomenergie mit amerikanischen Regierungsstellen wie dem Pentagon und der amerikanischen Atombehörde USAEC Verhandlungen auf. Ein Hauptansprechpartner in den USA war Rechtsanwalt Dr. Oppenheimer, einst mit General Clay nach Deutschland gekommen und an den Verhandlungen um die IG Farben-Entflechtung maßgeblich beteiligt. In den frühen 1950er Jahren sehen wir Oppenheimer als Vertrauensanwalt der westdeutschen Stahlindustrie. Er verfüge über die besten Kontakte zu General Bedell Smith, während des Krieges Stabschef von General Eisenhower, nach dem Krieg US-Botschafter in Moskau, dann Chef des US-Geheimdienstes, schließlich Stellvertretender Außenminister und 1956 Präsident der Firma AMF Atomics21. Aufgrund solcher Kontakte war der BDI in der Lage gewesen, Atomminister Strauß für dessen Amerika-Reise 1956 wichtige Hinweise zu geben und Listen mit wichtigen Gesprächspartnern in den USA zu überreichen. Diese Wirtschafts- und Atompolitik des BDI mit den USA vor 1955 war, wie sich an der Kontinuität des Personals leicht zeigen lässt, eine der Wurzeln der späteren Atomkommission, und diese Wurzeln verknüpften den BDI-Arbeitskreis für Atomfragen mit der hohen und höchsten Politik. Die zweite Herkunftslinie des DAK-Personals war die Physikalische Studiengesellschaft (PSG), die auf eine Liaison von Physikern und Unternehmern zurückging: Im Göttinger Max-Planck-Institut für Physik hatten sich nach 1945 Wissenschaftler, die während des Krieges im deutschen „Uranverein“ an der Entwicklung eines Reaktors beteiligt gewesen waren, unter Heisenbergs Leitung zu einer reaktorphysikalischen Arbeitsgruppe zusammengefunden und ein neues Reaktor-Konzept erarbeitet. Um dieser Gruppe zu ermöglichen, sofort nach 21 Diese und weitere Details in: BAK, B 138-680, Schreiben des BDI Arbeitskreises für Atomfragen (gez. Menne) an Strauß, 11.5.1956.

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Verkündung der bundesdeutschen Souveränität mit der Konstruktion des Reaktors zu beginnen, wurde die PSG am 8. November 1954 in Düsseldorf von 16 Industrieunternehmen gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern zählten die AEG, DEGUSSA, DEMAG, Hoechst sowie die Metallgesellschaft in Verbindung mit der Katanga-Gruppe (Belgisch Kongo)22. Der genannte BDI-Arbeitskreis und die PSG waren frühe Schwungräder der Kernenergie-Forschung und -Nutzung in der Bundesrepublik. Was Wilhelm Alexander Menne im BDI-Arbeitskreis, war Karl Winnacker in der PSG, und Winnacker sollte später der wohl einflussreichste Mann in der Atomkommission werden. Die PSG beriet die Bundesregierung in der Frage der Atomkommission. Auf der PSG-Sitzung vom 9. September 1955 wurde festgehalten, die Herren Kaufmann (Hoechst) und Spiecker (Siemens-Schuckert) würden ein Schreiben an den Bundeskanzler vorbereiten, „in welchem die Physikalische Studiengesellschaft die Bildung einer vorläufigen Atomkommission (. . .) vorschlägt“23. So hatte nicht das Atomministerium, sondern die Atomkommission die längere Vorgeschichte. Sie führt auf den BDI und die Göttinger Physikergruppe mit ihrem Vorlauf im „Uranverein“ zurück. Dadurch wurde das Personal der Atomkommission wesentlich bestimmt. Ebenso wichtig wie diese interne Vernetzung war die externe, und zwar nicht die diachrone wie bei dem USA-BDI- und dem PSG-Uranverein-Vorlauf der DAK, sondern die synchrone. Im Zuge der internationalen Atomeuphorie, die in der Bundesrepublik aufgrund des Zusammenfalls mit der Souveränitätsgewährung besonders hohe Wellen schlug, entstand ein ganzes System von „Atomkommissionen“. 1. Noch im Dezember 1955 und damit vor dem offiziellen Beginn der DAK entstand die Bayerische Atomkommission unter Vorsitz von Ministerpräsident Hoegner und mit so prominenten Mitgliedern wie Franz Beckenbauer, Vorstand der Eisenwerke Maximilianshütte AG, oder dem Physiker Walther Gerlach von der Universität München. 2. Der Atomausschuss des Landes Baden-Württemberg wurde von dem dortigen Wirtschaftsminister einberufen. Hier zählten Karl Wirtz, leitendes Mitglied der Physikalischen Studiengesellschaft (PSG) und später der einflussreichen DAKFachkommission Reaktorbau, zu den hervorzuhebenden Akteuren, sodann der SPD-Politiker Angstmann und der Siemensdirektor Karl Knott. 3. Die 1956 gebildete „Atom-Initiative der interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft“ strebte die für die Entwicklung der Atomenergie notwendigen gesetzlichen Maßnahmen an. 4. Strauß hatte bei Gründung des Atomministeriums einen „Interministeriellen Ausschuss für Atomfragen“ vorgesehen – gab es doch nach Meinung eines Industrie22 BAK, B 138-3571, Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats der Physikalischen Studiengesellschaft Düsseldorf im Hause der Industriekreditbank. 23 Ebd.

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Bernd-A. Rusinek vertreters „kaum ein Ministerium, das durch die Atomfrage nicht betroffen“ war24 .

5. Die für die Entwicklung der Atomenergie notwendigen wirtschaftlichen Maßnahmen vorzubereiten, war selbstgesetztes Ziel des 1950 gegründeten, oben bereits behandelten „Arbeitskreises für Atomfragen im BDI“, zu dem wieder Siemensdirektor Knott gehörte. 6. Der „Atomausschuss des DGB“ wurde von dem Gewerkschaftsvorstand Ludwig Rosenberg geleitet, der ebenso Mitglied der DAK sowie der Fachkommission Strahlenschutz war. Rosenberg war Mitglied des Atomenergie-Beirats der SPD und der „Strahlenschutz-Kommission des Deutschen Roten Kreuzes“, zu der auch Prof. Langendorff vom Institut für Radiologie der Universität Freiburg gehörte, Mitglied der „Fachkommission Strahlenschutz“ der DAK und der „Arbeitsgemeinschaft Radioaktive Isotope der Deutschen Röntgen-Gesellschaft“. 7. Karl Winnacker, Stellvertretender DAK-Vorsitzender, Vorsitzender der Fachkommission Reaktorbau, war zudem Mitglied im „Hessischen Forschungsrat“, den das Land 1956 im Zuge der Atomeuphorie gebildet hatte und zu dem auch ein Max Horkheimer zählte. 8. Friedrich Paneth (MPI für Chemie, Mainz), Mitglied der DAK, der „Fachkommission Forschung und Nachwuchs“ und des ihr zugehörigen „Arbeitskreises Nachwuchsfragen“, war auch federführend in der „Fachgruppe Kernchemie der Gesellschaft deutscher Chemiker“. 9. Der zweite Stellvertretende DAK-Vorsitzende, der Ingenieur Leo Brandt, nach seiner Selbsteinschätzung während des Zweiten Weltkrieges wichtigster RadarExperte des Deutschen Reiches, war Staatssekretär im Verkehrsministerium NRW, besaß beste Beziehungen zu den Universitäten und Hochschulen und initiierte die Kernforschungsanlage Jülich. Brandt war Mitglied des „AtomenergieBeirates der SPD“ und brachte seine Partei 1956 auf Atomkurs. Es verdient, festgehalten zu werden, dass keine Partei in der Bundesrepublik „atomeuphorischer“ war als die SPD. Sie war die treibende, sozusagen permanent auf die Tube drückende politische Kraft in Sachen Kernenergie. Der SPD ging der Einfluss der Atomkommission als offizielles beratendes Gremium der Bundesregierung nicht weit genug. Sie wollte in ihrem Münchner „Atomprogramm“ von 1956 eine unter anderem vom Parlament ernannte Atomkommission, aber diese sollte aus dem vermeintlichen Schatten des Ministeriums heraustreten und Selbständigkeit erlangen. 10. Auch die FDP hatte sich einen „Atomenergie-Beirat“ geschaffen, der einen Atomgesetz-Entwurf erarbeitete. Die FDP forderte für die Atomkommission dieselbe Unabhängigkeit wie die SPD, aber ohne die von der SPD gewünschte Transparenz gegenüber dem Parlament. Die FDP-Option bestand eher in einem ungebremsten Wirtschaftsliberalismus, der es schon richten werde. So enthielt der Atomgesetz-Entwurf der FDP keinerlei Bestimmungen über haftungs- und versicherungsrechtliche Fragen, obgleich Strauß einwandte, dass solche Bestimmungen selbst für den Betrieb eines Mopeds gälten25. Allerdings hieß es im 24 Ebd., Bericht von Herrn RA Kaufmann (Hoechst), 9.9.1955, über die Errichtung und Finanzierung einer „Reaktor GmbH“.

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„Industrie-Kurier“ über den „Arbeitskreis Kernreaktoren“ der DAK, dieser sei „liberaler als die FDP“26 . 11. Zusätzlich zu diesen Kommissionen, Arbeitsgemeinschaften und Foren wurde im Mai 1959 auf Karl Winnackers Initiative das Deutsche Atomforum als lose Dachorganisation der „Arbeitsgemeinschaft für Kerntechnik“, der „Deutschen Gesellschaft für Atomenergie e. V.“, des Vereins „Atom für den Frieden e. V.“ und der PSG gebildet, gleichsam eine Öffentlichkeitsabteilung der DAK sowie der uns schon bekannten PSG. Der Gründung des Atomforums war im April 1959 eine Besprechung vorausgegangen, an der unter anderem Karl Winnacker, der FDP-Politiker Thomas Dehler sowie Minister Balke beteiligt waren27 .

Genug – wir erkennen, dass im Zuge der Atomeuphorie und der wissenschaftlichen, technischen, juristischen, wirtschaftlichen und publizistischen Vorbereitung auf die Atomgesellschaft eine schwer überschaubare Szene von Experten-Gremien auf Bundes-, Länder-, Parteien- und Verbandsebene entstanden war; wir erkennen weiter, dass es zahlreiche Doppel- und Mehrfachmitgliedschaften gab, so dass eine Gruppe von vielleicht zehn Hauptakteuren immer wieder erscheint, die in der DAK eine bedeutende Rolle spielte. Der ausgesprochene personal network-Charakter, wie er sich im Vor- und Umfeld der DAK zeigte, ging auf drei Umstände zurück: 1. Knappheit an Experten, 2. Lancierungsbemühungen einschlägiger Wissenschafts- und Industriekreise, 3. Bereitschaft der Akteure aller Seiten, solche personal networks zu akzeptieren.

Bei den Punkten 2. und 3. handelte es sich nicht um Defekte aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit der politischen Seite oder dessen, was oft unreflektiert als „Filz“ bezeichnet zu werden pflegt. Die Experten mussten miteinander, mit der Industrie und mit den Wissenschaften eng vernetzt sein, wenn die DAKund Kommissionsmitglieder ihre Aufgaben erfüllen sollten. Soweit zu erkennen, wurde daran in der Frühphase keine Kritik geübt. Frühe Kritik war nicht auf das Ziel Kernenergie an sich oder auf das Konzept der DAK bezogen, sondern auf Modales oder Leichtfertigkeiten in bestimmten Sektoren der „Kernwissenschaften“, wie die Atomforschung bis in die 1960er Jahre hinein doppelsinnig genannt wurde28. So hielt der Mainzer Physi25 BAK, B 138-219, Bundesatomminister Strauß „über den derzeitigen Stand der Atomgesetzgebung“, 4./5.5.1956. 26 Zitiert nach: „Deutsche Atomforschung und -Verwertung in den Händen der Privatindustrie. Zur Gründung der Physikalischen Studiengesellschaft in Düsseldorf“, in: Der Gewerkschafter, 3/1956. 27 BAK, B 138-259, Kurzprotokoll der Mitgliederversammlung „Deutsche Gesellschaft für Atomenergie e. V.“, 23.4.1959. (Die „Deutsche Gesellschaft für Atomenergie“ war einer der Gründervereine des Atomforums.) 28 So wurde 1962 in der DAK beklagt, „die Geisteswissenschaften“ würden gegen die nach ihrer Ansicht zu einseitige Förderung der „Kernwissenschaften“ polemisieren

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ker und SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Bechert den DAK-Fachleuten 1957 vor, sie würden die in den USA geltenden Sicherheitsbestimmungen für die Bundesrepublik ablehnen, und Bechert glaubte, aufgrund seiner kritischen Haltung in dieser Frage nicht in die DAK oder eine ihrer Kommissionen berufen worden zu sein29. Bechert hatte damit unbeabsichtigt auf einen wichtigen, die Macht von Expertengremien generell stützenden Rückkopplungs- und Wechselwirkungseffekt hingewiesen, den Historiker nicht unbeachtet lassen sollten: Eine Kommission – hier die DAK – beruft einen Wissenschaftler nicht, und aufgrund dieser Nichtberufung sinkt sein wissenschaftlicher Stern, und zwar möglicherweise trotz beachtenswerter wissenschaftlicher Leistungen.

Die Sache funktioniert auch umgekehrt: Eine Kommission – hier die DAK – beruft einen Wissenschaftler, und aufgrund dieser Berufung steigt sein wissenschaftlicher Stern, und zwar möglicherweise ohne beachtenswerte wissenschaftliche Leistungen.

Gängigste Variante dürfte allerdings sein, dass ein Wissenschaftler im Zenit seines Schaffens berufen wird und sein Stern nicht sinkt, weil er durch die Berufung zur strategischen Figur des Netzwerkes geworden ist. Bechert war als Kritiker von außen in der DAK-Frühphase ein Einzelfall. Die Annahme wäre allerdings falsch, es hätte innerhalb der DAK keine kritischen Stimmen gegeben. Kritik der Politik wurde ebenso geübt wie Kritik im Hinblick auf das eigentliche Aufgabenfeld der DAK. Ähnlich wie Bechert hatte der seinerzeitige „Strahlenpapst“ Boris Rajewski, Mitglied der DAK-Fachkommission Strahlenschutz, bereits 1956 eine Sünde genannt, was auf dem Gebiet der Entsorgung radioaktiver Abfälle geschah30. Auch in politicis waren DAK-Mitglieder weder abstinent noch unkritisch: Von den achtzehn Unterzeichnern der gegen die drohende atomare Bewaffnung der Bundeswehr gerichteten Göttinger Erklärung „Wir können nicht schweigen“ vom 12.4.1957 gehörten fünfzehn der DAK oder ihren Fachkommissionen an31. Kommen wir zu einigen generellen Charakteristika der DAK im Gegensatz zu anderen Politikberatungsgremien als Gegenstand historischer Forschung oder zu Politikberatungsgremien am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die DAK – dies und damit „dem weltweiten Unbehagen über die Expansion der Naturwissenschaften Vorschub“ leisten. (BAK, B 138-3300, DAK, Protokoll der 14. Sitzung.) 29 Artikel Prof. Becherts (Mainz) in den „Mittelbadischen Ortsnachrichten“ vom 8.3.1957. 30 dpa v. 20.11.1956, zit. in: BAK, B 138-457. 31 Nämlich Fritz Bopp, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Heinz Meier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Paul, Wolfgang Riezler, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich von Weizsäcker, Karl Wirtz.

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zuerst – besaß keine Feigenblatt-Funktion, und sie war eine Neuland-Kommission: Noch keiner der Experten war dort gewesen, wohin die Arbeit führen sollte. Derartige Gremien können nur dann effektiv arbeiten, wenn die Öffentlichkeit den Experten vertraut und ihnen eine großzügige Kreditlinie einräumt. Für die Zeit bis Anfang der 1960er Jahre gilt, dass kein anderes in diesem Band vorgestelltes Beratungsgremium einen so großzügigen Kostenabschlag für noch nicht Geleistetes verbuchen konnte wie die DAK und ihre Mitglieder. Diese Kreditlinie bezog sich metaphorisch auf Vertrauen und in direktem Sinne auf Geld. Prinzipiell hatte die Atomkommission nicht dazu Stellung zu nehmen, ob ein Projekt zu teuer war oder nicht. Im Zusammenhang eines Reaktorvorhabens hieß es etwa ausdrücklich, die positiven Feststellungen der DAK-Gutachter bezögen sich nur auf den sachlichen Teil des Programms, „nicht auf die Angemessenheit der hierfür genannten finanziellen Mittel“32. Diese Feststellung ist angesichts der eingangs zitierten Minister-Äußerung, man täte am Besten, die DAK-Empfehlungen einfach zu übernehmen, ebenso bemerkenswert wie die Antwort des prominenten Aachener Plasmaphysikers Wilhelm Fucks, Mitglied der DAK-Fachkommission Forschung und Nachwuchs, auf die Frage, ob Plasmaphysik und Fusionsforschung in größerem Umfange öffentlich gefördert werden sollten oder nicht. Fucks antwortete, es sei „jede Aufwendung in praktisch beliebiger Größenordnung (. . .) vertretbar“, wenn man glaube, dass ein Fusionsreaktor konstruiert werden könne33. Und wenn Fucks’ Forschungen scheiterten, so wurde gefragt – wären die großen Investitionen dann etwa umsonst ausgegeben? Ein SPD-Abgeordneter beruhigte den Hauptausschuss des NRW-Landtages: Selbst in einem solchen Fall würden die Ergebnisse der Experimente von Professor Fucks „größte Bedeutung für andere Sparten der Atomforschung“ besitzen34. Neben der Charakterisierung als Neuland-Kommission und dem Hinweis auf die eingeräumte symbolische und tatsächliche Kreditlinie fallen noch sieben weitere Unterschiede ins Auge, wenn die DAK mit anderen Beratungsgremien des Betrachtungszeitraums oder mit heutigen Gen-Technik-, Gen-Technik-Ethikoder Gen-Ethik-Technik-Kommissionen verglichen wird: 1. Heutige Experten sind in der Regel ausgewiesen, aber umstritten – bei den Atom-Experten der 1950er Jahre war es tendenziell umgekehrt und die Kompetenz nicht selten eher symbolisch.

32 BAK, B 138-2728, Atomkommission, Gutachten über das von BBC/Krupp vorangetriebene THTR-Projekt, 9.1.1963. 33 BAK, B 138-3341, Protokoll der DAK-Sitzung, Arbeitskreis II/3 am 23.6.1959 Zur Kernfusion siehe: „Kernfusion – ungeliebt, weil unverstanden. Kernfusion könnte ein wichtiger Energielieferant werden – so sie denn vorangetrieben wird“, in: bild der wissenschaft 5/2003, S. 77–79. 34 Hauptausschuß des Landtages NRW, 6.7.1961 (Ablichtungen im KFA-Archiv).

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2. Zu den Rahmenbedingungen von Expertenwissen auf dem Sektor der friedlichen Kernenergie-Nutzung in den 1950er Jahren zählt, dass dieses Wissen knapp war – wogegen inzwischen auf Gebieten wie etwa Ethik und Gentechnik ein Überangebot an Expertenwissen vorhanden zu sein scheint. 3. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist die Konkurrenz von Expertenwissen. Es fehlte bei der DAK in den 1950er Jahren ein Umstand, der heute vielfach nach Experten rufen lässt: die Umstrittenheit des Themas. (Zu der Frage Sollen wir menschliche Embryonen gentechnisch ausschlachten oder nicht? gab es in der frühen bundesdeutschen Atompolitik kein Pendant.) Von Sonderlingen abgesehen35 war die friedliche Nutzung der Kernenergie unumstritten, (wogegen ein Vierteljahrhundert später – in den 1970er Jahren – die Sonderlingsrolle den Kernkraftbefürwortern zukommen sollte)36. 4. Daraus abgeleitet fehlte bei der Selbstdarstellung der DAK und ihrem Umfeld die sprachmanipulative Entdramatisierung nach dem Muster Fetus/Embryo = Zellhaufen. Zu derartigen Anstrengungen – nukleare Verseuchungsgefahr/unverantwortliche Häufung von Kernkraftwerken = Kernenergie- bzw. Entsorgungspark – kam es erst im Rahmen der nuklearen Kontroverse. 5. Zwar führten die vielen Länder-Atomkommissionen und Atomgremien der 1950er Jahre zu einer kleinszenischen Unübersichtlichkeit, aber diese Experten konkurrierten höchstens modal miteinander. 6. Die DAK, ihre untergeordneten Fachkommissionen und die parallelen Kommissionen hatten nicht Ratschläge zur Organisation und Behebung von Knappheit zu erteilen oder die Öffentlichkeit auf Einschnitte und dramatisches „Zurückfahren“ vorzubereiten – sie waren von allem das Gegenteil. Es galt, die Gesellschaft der Bundesrepublik herrlichen Zeiten entgegenführen und den schnellsten Weg in diese Zeit zu suchen. Dabei konnte man sich in der Anfangsphase auf gesellschaftlichen Konsens verlassen.

III. Abstrakt betrachtet bestanden die Konsens-Kosten zu Zeiten der Atomeuphorie unter anderem in allzu phantastischen Zukunftsversprechungen, denen man von Seiten der DAK und des Atomministeriums zumindest zunächst nicht entgegentrat. Die durch die Atomeuphorie vor allem in der Presse, aber auch durch Wissenschaftspropagandisten wie dem nordrhein-westfälischen SPD-Staatssekretär und DAK-Vizepräsidenten Leo Brandt geweckten Erwartungen spielten 35 Der frühe prinzipielle Widerstand gegen friedliche Kernenergie-Nutzung war eine Sache von Sonderlingen – etwa des Korvettenkapitäns Jäckel, der in seinem Buch „Tödlicher als die Bombe“ Kernenergie als Machenschaft des Bolschewismus zur schleichenden Vernichtung der Völker durch radioaktive Vergiftung der Erbanlagen erkannte (Archiv des Forschungszentrums Jülich, Öffentlichkeitsarbeit, Ordner V, Anti-AKW-Bewegung, darin diverse Flugblätter mit der Angabe „V. i. S. d. P. Ernst Jäckel“). 36 Siehe: Bernd-A. Rusinek, Wyhl, in: Hagen Schulze/Etienne François (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, Bd. 2, S. 652–666.

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derart ins Phantastische, dass Enttäuschung sich geradezu notwendig einstellen musste. Das Hochschrauben von Erwartungen in Kombination mit Geschwindigkeitsversprechen lässt die Enttäuschungswahrscheinlichkeit wachsen. Beratungsgremien, Lobbys, Kommissionen stellen sich dadurch gleichsam selbst ein Bein, indem sie die Öffentlichkeit mit Kritikpunkten versorgen37. Um ein von Thomas Nipperdey in anderen Zusammenhängen verwendetes Wort aufzugreifen: Wir können vom „Omnibus-Charakter“ der Kernenergie sprechen. In so unterschiedlichen Bereichen wie Medizin und Verkehrstechnik, Wohnungs- und Flugzeugbau, Landwirtschaft und Fusion schien die Kernenergie das Tor zu einer neuen Welt für alle gesellschaftlichen Gruppen aufzustoßen. Á la longue sind solche Prophezeiungen für in der Öffentlichkeit agierende Kommissionen und Beratergremien riskant, weil sie bei Realisierungsverzögerungen und -einschränkungen schärfere Kritik auf sich ziehen als wäre es beim Ungefähr geblieben. Bereits 1957 mussten sich Bundesregierung und DAK von „zum Teil recht phantasievollen Zeitungsartikeln“ distanzieren und unterstreichen, große Atomkraftwerke könnten noch nicht geplant, deren Grundlagen müssten weiterhin intensiv erforscht werden – das sei in Frankreich und in den USA ebenso38. Im Frühjahr 1958 räumte Atomminister Balke ein, es gebe „gerade auf dem atomaren Gebiet mannigfache Vorhaben mit entsprechenden einzelnen Entwicklungsproblemen, von denen noch in keiner Weise abzusehen ist, ob sie sich jemals ertragsbringend verwerten lassen“39. Die oben genannten „Kreditlinien“ werden bei Tempo-Projekten den damit verbundenen Kommissionen nur für kurze Zeit eingeräumt, nämlich bis zu dem Tag, an dem bekannt wird, dass ein Realisierungsversuch den Erwartungen der Öffentlichkeit nicht entspricht. Und schon der erste Realisierungsversuch der DAK auf dem Felde der praktischen Anwendung scheiterte – das „500-Megawatt-“ oder „Eltviller Programm“ von 1957, so genannt nach dem Gästehaus des Höchst-Vorstands. Der Sprung zu wirtschaftlichen Großreaktoren gelang aus vier Gründen nicht:

37 Ob diese Falle auch bei der Gentechnik zuschnappt, wird in den nächsten fünf Jahren zu erkennen sein. Der Atom- und der Gen-Euphorie ist die Rückstandsbeschwörung gemeinsam: Amerikaner oder Israelis seien in der Genforschung „viel weiter“, es gäbe dort auch keine unsinnigen Ängste oder kleinlichen Vorschriften . . . Weiterhin teilen sich Gen- und Atomeuphorie die Überbetonung von Anwendungsorientierung in der Forschung. Drittens ist ihnen die Großspurigkeit der Versprechen gemeinsam. Um 1960: Atomtechnik führe zu wirtschaftlichem Wachstum und völlig neuen medizinischen Behandlungsmethoden. Um 2000: Gentechnik führt zu wirtschaftlichem Wachstum und könne bis heute als unheilbar geltende Krankheiten wie Krebs, MS, Morbus Alzheimer heilen. 38 BAK, B 138-219. 39 BAK, B 138-3298, Balke an Abs, 6.2.1958.

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1. Die interessierten Firmen unterschätzten den Aufwand an Zeit und Geld für die Reaktor-Entwicklung. 2. Die Bundesrepublik traute sich als einziger Staat neben den USA die gleichzeitige Entwicklung mehrerer Reaktortypen zu, wobei die USA jedoch auf eine mehrjährige Reaktorentwicklung zurückgreifen konnten. 3. Ungeklärt blieb der Einfluss des Staates bei der Finanzierung von Industrievorhaben – bis 1965 von 800 Mio. bis 1,1 Mrd. Mark. 4. Bei der Formulierung des Programms wurde davon ausgegangen, dass sich jeweils ein Auftraggeber aus der Industrie finden werde, aber zugleich waren energiewirtschaftliche Aspekte ausgeklammert worden40.

Im Grunde konnte man 1961 von drei Atomprogrammen in der Bundesrepublik reden: 500 MW-Programm der Atomkommission, Kleinreaktorprogramm, Programm der deutschen Reaktor-Industrie41. Gegen Kernergie-Realisierungsversuche durch die DAK stellte sich schnell der Vorwurf ein, vor allem innerhalb der Kommission vertretene Firmen gelangten in den Genuss der Förder- und Vergabepraxis. Bereits 1958 hatte sich der Bankier in der DAK, Hermann Josef Abs, kritisch damit auseinandergesetzt. In einem Brief an Atomminister Balke schrieb Abs von seinen „große(n) Bedenken gegen die Art und Weise, in welcher die einzelnen Gremien der Atomkommission in das Verfahren zur Bewilligung öffentlicher Mittel an einzelne Firmen eingeschaltet werden.“42 Als Beispiele nannte er Pintsch-Bamag und Leybold. Der Atomminister antwortete auf Abs’ Kritik, indem er sie im Prinzip einräumte: „Nur in seltenen Fällen wird man – innerhalb wie außerhalb der Atomkommission – völlig ungebundene Sachverständige finden.“43 Auch Beamte des Atomministeriums – so hieß es im „Deutschen Forschungsdienst“, 21. Oktober 1958, – machten sich schon seit einiger Zeit Gedanken darüber, „wie die starke Beteiligung von Vertretern verschiedener Wirtschaftsunternehmen mit der Aufgabe der Atomkommission als Beratergremium des Atomministeriums am besten in Einklang gehalten werden kann.“ Hier sind erste Schritte des Ministeriums in Richtung Selbständigkeit zu erkennen. Minister Balke gestand dem Bankier Abs gegenüber indirekt ein, die DAK sei kein objektives Beratergremium, Beamte des Ministeriums vertraten dieselbe Auffassung – das klang anders als Franz Josef Strauß’ bei Gründung der Atomkommission geäußerte Erwartung, es nicht mit Repräsentanten von Verbänden, Interessengruppen oder Firmen zu tun zu haben, sondern mit unabhängigen Persönlichkeiten, die ihr mit Wissen und ihre Erfahrung für das Ganze bereitstellen würden44. Das war ein „vater40

Siehe: Müller, Geschichte der Kernenergie, S. 739 ff. BAK I, B 138-284, Vermerk über Besprechung mit Vertretern der deutschen Reaktor-Industrie, am 4.7.1961. 42 BAK, B 138-3298, Abs an Balke, 4.1.1958. 43 BAK, B 138-3298, Balke an Abs, 6.2.1958. 41

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ländischer Appell“ der Kriegs- und Gründergeneration gewesen, welcher der Mentalität der Wirtschaftswunder-Bundesrepublik zunehmend weniger entsprach oder noch nie entsprochen hatte. Gebundenheit von Kommissionen ist nicht nur an der Auftragsvergabepolitik, sondern an der Zeitpolitik erkennbar. Mit gezielten Verlangsamungen lassen sich Konkurrenten aus dem Felde schlagen. Die Entscheidungsgeschwindigkeiten der DAK konnten sehr hoch sein – etwa wurde der Plan eines größeren Instituts für Reaktorbauelemente der DAK am 29.10.1959 vorgelegt und nach positiven Voten der Arbeitskreise noch in demselben Jahr von der zuständigen Fachkommission einstimmig gebilligt45. Um so verdächtiger war Langsamkeit. So vermuteten die Förderer des Hochtemperaturreaktors (AVR) im August 1958, ihr Projekt würde von der DAK und einer gewissen Fachkommission immer wieder durch die Mühle gedreht, um das Reaktorprojekt abzuwürgen46. Als im Anschluss an dieses Verfahren, bei dem der detaillierte AVR-Sicherheitsbericht der Kommission vorgelegt worden war, der AVR noch einmal gründlich im Arbeitskreis „Kernreaktoren“ der DAK besprochen werden sollte47, vermuteten die Projekt-Befürworter nicht nur eine gezielte Verlangsamung; sie argwöhnten, dass der mächtige DAK-Arbeitskreis „Kernreaktoren“ seine Einblicke in die technische Planung von Projekten nutze, um der Konkurrenz Kenntnisse abzujagen. BBC-Direktor Lotz, einer der Leiter des Projekts AVR, erklärte gegenüber einem Beamten des Atomministeriums, er habe „gute Gründe“ für die Befürchtung, der Konkurrenz sollten über den Weg einer neuerlichen und detaillierteren Beratung des Reaktorprojekts vor der Atomkommission Geheimnisse preisgegeben werden48. Obwohl der Zwang zur wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit die Zahl der aussichtsreichen Reaktor-Entwicklungslinien immer mehr reduziere, hieß es 1966 in einer Kritik der Reaktortypen-Vielfalt, leiste es sich die Bundesrepublik als einziges Land der Welt, die Entwicklung von dreizehn verschiedenen Reaktortypen zu verfolgen: Leichtwasser-Druckwasserreaktor, Leichtwasser-Siedewasserreaktor, SchwerwasserDruckwasserreaktor, natriumgekühlter KNK-Reaktor, Kohlensäuregekühlter Schwerwasserreaktor, Heißdampfreaktor, Hochtemperaturreaktor (GHH), Thorium-Konverter, Liegender Druckwasserreaktor, Salzschmelzreaktor, Schneller Natrium-Brüter, Schneller Dampfbrüter, Schiffsreaktor49.

44

Die Atomwirtschaft 1 (1956), S. 2–5, S. 4 f. Beispiel aus: BAK, B 138-284. 46 BAK, B 138-2250, Pretsch (Atomministerium) an AVR Düsseldorf, 5.2.1959. 47 Deutscher Forschungsdienst, Sonderbericht Kernenergie, 21.10.1958. 48 BAK, B 138-2250, Vermerk, Godesberg, 3.11.1958, „Protest Generaldirektor Lotz gegen Behandlung des Schulten-Projekts im Arbeitskreis ,Kernreaktoren‘ der DAK“. 45

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All diese Konzepte waren von der DAK abgesegnet worden. Die Kritik an der Vielzahl der Reaktorkonzepte kam von dem Wissenschaftsjournalisten Kurt Rudzinski, seit 1958 bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“50. Er war einer der mächtigsten Kritiker nicht der friedlichen Nutzung der Kernenergie an sich, wohl aber der DAK-gestützten Realisierungsversuche in der Bundesrepublik. Sein schärfster Kampf galt später dem „Schnellen Brüter“. Der Journalist Rudzinski durchbrach den allgemeinen „Atomkonsens“ in der bundesdeutschen publizistischen Öffentlichkeit; der Laien- und Nichtskönner-Vorwurf konnte den studierten Chemiker und einstigen Assistenten am Berliner Institut für Braunkohlen- und Mineralölforschung nicht treffen. Mit Rudzinski betrat der Gegenexperte die Kernenergie-Bühne. IV. Ausgangslage bei Gründung der Atomkommission war eine KompetenzAsymmetrie zwischen den beratenden Experten und dem atombezogenen Zukunftsministerium gewesen. Natürlich konnten die Ministerialbeamten im Laufe der folgenden Jahre Terrain gutmachen und Eigenkompetenz auf dem Atomsektor gewinnen. Daher wurden in den 1960er Jahren im Ministerium Stimmen laut, das Ministerium müsse „stärker als in der Vergangenheit von sich aus Initiative entwickeln und behalten“51. Wenn 1966 die Atomkommission reorganisiert und dabei die Zahl der Arbeitskreise reduziert wurde52, so war dies auf vier Gründe zurückzuführen: 1. Die DAK schien undurchsichtig; ihre Netzwerke kaum zu überschauen. 2. Was meist übersehen wird: Von der Sache her waren in den vorangegangenen zehn Jahren viele Aufgaben der DAK gelöst. Die Industrie hatte sich dem Kernreaktorbau zugewendet; die großen Forschungszentren wie Jülich und Karlsruhe waren von der Gründungs- in die Konsolidierungsphase getreten. 3. Der Faktor der gewachsenen Eigenkompetenz des ehemaligen Atom- und nunmehrigen Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung. 4. Unter der Großen Koalition ab 1966 erhob das Bundesministerium weitgehende Planungsansprüche für die Wissenschaft insgesamt – Stichwort: Globalsteuerung. Auf der Basis einer generellen Forschungsplanung sollten mittelfristige Ziele festgelegt statt detailliert einzelne Projekte gefördert werden. 49 Kurt Rudzinski, Der „Natrium-Brüter“ – eine Milliarden-Fehlinvestition. – Das Projekt Schneller Brüter und seine Konsequenzen. Nur Dampfkühlung hat Zukunftschancen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.7.1966. 50 Siehe: „Die Redaktion stellt sich vor“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.5.1991. 51 BAK, B 138-2020, Bericht, Finke (Forschungsministerium) über Sitzung des Sonderausschusses „Kernreaktoren“ im Arbeitskreis Wissenschaft und Technik des Deutschen Atomforums, 30.1.1964. 52 Siehe: Müller, Geschichte der Kernenergie, S. 344 ff.

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Selbstverständlich war im Rahmen des Zeitgeistes von „1968“, später der Aufbruchsstimmung der Sozialliberalen Koalition, die autoritär-paternalistische Struktur der DAK nicht mehr zu akzeptieren. Im Frühjahr 1968 wurde in einem ministeriellen Vermerk vorgeschlagen, „jetzt, nach nunmehr dreizehn Jahren zeitlich unbegrenzter Mitgliedschaft“ in der Atomkommission eine befristete, nämlich dreijährige Mitgliedschaft einzuführen, um eine „flexible Zusammensetzung der Beratungsgremien zu erreichen“53. Diese Neuregelung sollte nach dem 31. Juli 1971 erfolgen. Auf den Punkt gebracht wurde die Kritik an der DAK, die zugleich eine Fundamental-Kritik am tradierten Beratungswesen war, für das die Atomkommission ein Symbol schien, im Februar 1969 von Ulrich Lohmar. Er war SPD-Bundestagsabgeordneter sowie Vorsitzender des „Bundestagsausschusses für Wissenschaft, Kulturpolitik und Publizistik“ und machte sich selbst Hoffnungen auf den Posten eines Bundesforschungsministers. In seinen zuerst in der „Zeit“ abgedruckten „Fünfzehn Thesen zur Forschung“54, in denen auch der bemerkenswerte Satz zu lesen ist, „wir dürfen uns den Naturwissenschaften und der Technologie nicht mit einem schlechten geisteswissenschaftlichen Gewissen ausliefern“ – ein Mangel, der inzwischen behoben ist –, forderte Lohmar Demokratisierung als Bestandteil des Beratungswesens. „Demokratisierung“, so Lohmar, „bedeutet die Verwirklichung der gleichen Chance, die Transparenz und die Kontrollierbarkeit des Geschehens, die Auswechselbarkeit der Inhaber von Machtpositionen“. Dagegen sei das bisherige Beratungswesen vom „Establishment“ beherrscht worden. Mehr als von Kommissionen war nun von „Hearings“ die Rede, durch die Kommissionsarbeit transparent gemacht werden sollte. Lohmar wollte die Leistungen der älteren Generation nicht gering schätzen, aber „in einer Welt, in der sich alles so rasch wandelt wie in der unseren, muss der Wechsel in der Führung in kürzeren Intervallen erfolgen als in der Abfolge von Generationen“. Zu diesem „Establishment“ – wir bemerken die Sprache der „1968er“ – zählte Lohmar das Beratungswesen des Wissenschaftsministeriums unter Stoltenberg. Das Ministerium werde „im Ganzen von mehr als 500 Wissenschaftlern beraten, umhegt und gepflegt (. . .), davon allein 170 für den Sektor Atomforschung“. Eine Probe des Geistes jener Generation, deren Ablösung Lohmar forderte, lieferte Kurt Lotz, Vorstandsvorsitzender der an der Entwicklung der Reaktortechnik beteiligten BBC und Fachkommissionsmitglied der DAK. Der Offizier im Zweiten Weltkrieg war davon überzeugt, dass militärische und Unternehmensführung weitgehend dasselbe seien, und führte das in seinen Memoiren an 53

BA, B 138-3303, Vermerk, Bundesforschungsministerium, 14.4.1968. Ulrich Lohmar, Fünfzehn Thesen zur Forschung, Die Zeit vom 7.2.1969. Der Artikel wurde für so wichtig gehalten, dass er in den VWF-Mitteilungen Nr.2/1969 wiederabgedruckt wurde; außerdem befindet sich der Artikel im Nachlass Cartellieri. 54

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einer Definition von „Unternehmensführung“ vor Augen: Er ersetzte in einer Passage der Bundeswehr-Vorschrift für Gefechtsführung „Truppenführung“ durch „Unternehmensführung“, „Schlachtfeld“ durch „Markt“ und „Truppenführer“ durch „Unternehmer“55. Offiziell war Anfang 1971 noch immer von Neuordnung und Reform der Atomkommission die Rede. Es wurde vermerkt, dass „selbst Herr Winnacker“, inzwischen 68 Jahre alt, „die Neuordnung im Prinzip nicht in Frage stellte“, und man überlegte, wie zu verhindern sei, dass weiterhin die Zusammensetzung von Ausschüssen manipuliert werde – dies schien nur mit „neuartigen Ausschüssen“ möglich56. Winnacker musste enttäuscht zur Kenntnis nehmen, dass das Ministerium Sitzungen von Fachkommissionen der Atomkommission absetzte. Die Kommission für Weltraumforschung wurde seit Antritt der neuen sozialliberalen Regierung im Jahre 1969 überhaupt nicht mehr einberufen. Das alles war – um abzukürzen – ein Vorgriff auf das Begräbnis der Atomkommission. Im Ministerium hieß es, die Schlusssitzung sollte „keine Trauerfeier“ werden. Diese Sitzung fand am 19. Oktober 1971 statt. Die dem Minister Leussink für seine Ansprache vorgelegten Stichworte enthalten sowohl Kritik am bisherigen wie die Umrisse für ein neues Beratungswesen. Wohl jede Organisation auf dem dynamischen Gebiet von Forschung und Entwicklung, so hieß es, bedürfe von Zeit zu Zeit der Verbesserung; sei der vierstufige Aufbau der Atomkommission – Plenum, Fachkommission, Arbeitskreis und ad hoc-Ausschuss – sei zu schwerfällig. Künftig solle es nur mehr ad hoc-Gruppen mit bestimmten Aufträgen geben. Das Ministerium versprach sich davon erstens Anpassungsfähigkeit an wechselnde Probleme, zweitens gezielte Auswahl von Beratern, drittens, dass „die Rollen und Verantwortlichkeiten (. . .) zwischen Beratern und Ministerium klarer verteilt“ werden. Bisher sei die Arbeit der Berater der Öffentlichkeit weithin verborgen geblieben. Nun wurde die Veröffentlichung von Beratungsplan, Beratervoten, Minderheitsvoten und Stellungnahmen des Ministeriums angestrebt. „Die Beratung“, so der Minister, „soll wirksamer und durchsichtiger werden“; die Öffentlichkeit sei „heute ein vierter wichtiger Partner neben Wissenschaft, Wirtschaft und Staat“. Deutlich distanzierte er sich von der anfänglichen Euphorie der Atomkommission. Deren frühe Beratungen seien von einem „außerordentlichen Optimismus“ über den Anteil der Kernenergie an der Elektrizitätsversorgung in den 1960er Jahren getragen gewesen, was auch in Gutachten der „Drei Atomweisen“ besonders deutlich geworden sei57. Diese hatten ja 1957 55 Kurt Lotz, Lebenserfahrungen. Worüber man in Wirtschaft und Politik auch sprechen sollte, Düsseldorf/Wien 1978, S. 133 f. 56 BAK, B 138-3304, Vermerk, Borst (BMBW) über Besprechung mit Mitgliedern der Weltraum- und der Atomkommission über Neuordnung des Beratungswesen, 14.6.1971. 57 Ebd., Entwurf einer Rede des Ministers für die letzte Sitzung der Atomkommission, 19.10.1971.

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prognostiziert, „dass sich der Bedarf an elektrischer Energie in der Bundesrepublik alle zehn Jahre verdoppele“ und die Schließung dieser Lücke mit konventionellen Kraftwerken unmöglich sei58. Kein Expertenwissen schien sich in den 1970er und 1980er Jahren so nachdrücklich vernutzt und verschlissen zu haben, wie eben jenes der Atomexperten – so sie die Kernenergie befürworteten. Versagen des Experten ist ein betrachtenswertes Phänomen. Daran schließt sich sofort die Frage an, wer definiert, was ein Experte ist, und wer „Versagen“ oder „Erfolg“ von Beratung definiert. Zweifellos trifft die Erscheinung des versagenden oder blamierten Experten auch auf andere Politikbereiche zu: Bildungsreformen, forcierter Universitätsausbau, Ökonomie, New Technologies. Wenn aber gerade der Atomexperte zum Inbegriff einer irrenden Experten- und Beraterkultur wurde, so hat dies zwei Gründe: 1. Eine zwischen 1955 und 1970 gewandelte Auffassung von der Funktion der Experten-Szenen in der Politik, ihrer demokratischen Legitimation, ihrer Binnenhierarchien sowie ihres kommunikativen Verhaltens. Die DAK war aufgrund ihres frühen Renommees zum Symbol der Politikberatung alten Stils geworden. 1969 wurde dieser Stil an einer bestimmten Generation festgemacht und das Abtreten einer alten Beratergeneration explizit gefordert. 2. Für die Anhänger der Anti-Kernkraft-Bewegung und ihre Anhänger wurde die DAK zur bête noire der Atomlobby.

Der zweite Aspekt zeigt sich nicht allein in dem „2001“-Anti-Kernkraft-Leporello „Wer mit wem in Atomstaat und Großindustrie“59, sondern auch in der seriösen Forschungsliteratur, soweit sich die Verfasser mit der Anti-KernkraftBewegung identifizieren. Hier ist vor allem an Joachim Radkau zu denken60. In seinem einschlägigen Standardwerk wird an einer Stelle zustimmend die erstaunliche Auffassung eines SPD-Abgeordneten zitiert, die DAK hätte „im Schatten“ des Atomministeriums gestanden61, obwohl sie doch dem ersten Bundesatomminister wichtiger gewesen ist als das Ministerium selbst; zwei Seiten später erscheint als Interpretationsergebnis, was ab 1956 allseits mitgeteilte Selbstverlautbarung gewesen war – dass die DAK dem Atomministerium an Prominenz, Sachverstand und Zahl der Mitglieder bzw. Mitarbeiter weit überlegen gewesen war62. Dass es keine zielstrebige militärische Atomentwicklung in der Bundesrepublik, keine bundesdeutsche Atombombe gegeben habe, führt 58 BAK, B 138-3297, Bericht v. Ministerialrat Brandl (Atomministerium) über Kernenergie-Bedarfsprognosen, 24.1.1957. 59 Ffm. 51987. 60 Siehe: Joachim Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945– 1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek 1983, S. 144–148. 61 Ebd., S. 144. 62 Ebd., S. 146.

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Radkau nicht auf politisch motivierte Ablehnung zurück, die ja vielleicht bei dem einen oder anderen DAK-Mitglied eine Rolle gespielt haben könnte, sondern auf Steuerungsinkompetenz der DAK63! Hat also die Mehrheit der DAKMitglieder die „Göttinger Erklärung“ gegen die Atombombe zum Spaß oder zur Tarnung unterschrieben? Obwohl man nicht recht erfährt, worin die „verdrängten Alternativen“ bei der bundesdeutschen Kernenergie-Entwicklung eigentlich bestanden haben, ist Radkaus Darstellung von der Anlage wie von der Diktion her im negativen Sinne teleologisch: Auf Akteursseite, bei der gesamten bundesdeutschen Atompolitik und damit auch bei der DAK, nichts als Unfähigkeit und damit a priori eingebautes Scheitern. So erscheinen die Akteure bei Radkau teils als ausgekochte Vertreter des Kapitals wie Karl Winnacker, der aber doch die Beteiligung der Gewerkschaften an der Atomkommission durchgesetzt hatte. Die DAK hat in Radkaus vom Zeitgeist der 1970er Jahre geprägten Darstellung eine denkbar schlechte Presse. Gar keine Presse hat sie in einem Handbuch-Artikel über „Gesellschaftliche Entscheidungsprozesse im Bereich technischer Großprojekte – das Beispiel Kernenergie“, worin es der Autor fertig bringt, die DAK nicht einmal zu erwähnen64! Im Gefolge der Anti-Kernkraft-Bewegung entstand eine Gegen-Expertenkultur. Wir finden darin auratische Akteure wie Robert Jungk oder Günter Anders, die hier etwa die Funktion besaßen wie Otto Hahn in der DAK; mit Klaus Traube finden wir aber auch den dissidenten Experten. Die nukleare Kontroverse führte nicht nur zwischen den für Kernenergie votierenden Naturwissenschaftlern und Anti-AKW-Initiativen, sondern auch innerhalb der PhysikerZunft zu Kommunikationsabbrüchen: 1977 teilte ein älterer Physikprofessor dem Bundesinnenministerium vertraulich mit, er sei nicht bereit, an einer geplanten Diskussionsveranstaltung teilzunehmen. Er hatte „physische Angst“ vor einem prominenten und als gewalttätig geltenden Kernkraft-Gegner65, Physikprofessor an einer norddeutschen Reform-Universität. Das Ende der Politikberatungskultur im Stile der DAK gehört in den erweiterten Zusammenhang des „1968er“-Geschehens.

63

Ebd., S. 195. Rolf-Jürgen Gleitsmann, Gesellschaftliche Entscheidungsprozesse im Bereich technischer Großprojekte – das Beispiel Kernenergie, in: Technik und Kultur, Bd. X: Technik und Gesellschaft, hg. v. Helmuth Albrecht u. Charlotte Schönbeck, Düsseldorf 1993, S. 411–447. 65 KFA-Archiv, Ordner Tageskopien 1977, Vermerk, 15.8.1977. 64

Experte und Lobbyist für Bevölkerungspolitik Hans Harmsen in Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik Von Sabine Schleiermacher Hans Harmsen war Experte und Lobbyist für Bevölkerungswissenschaft und -politik, indem er Repräsentant sowohl eines wissenschaftliche Disziplinen übergreifenden Spezialwissens als auch eines institutionellen wie personalen Netzwerkes war. Über seine sozialmedizinischen Kompetenzen hinaus hatte er sich ein spezifisches Fachwissen erarbeitet, das es ihm als Verbandslobbyist sowie durch ein Netzwerk persönlicher Beziehungen ermöglichte, in sozialpolitische Debatten einzugreifen. In der Doppelrolle als Sachverständiger (Experte) und Interessenvertreter (Lobbyist) hat er durch öffentliche wie interne Stellungsnahmen auf administrative Gestaltung und gesetzgeberische Aktivitäten Einfluss nehmen können. Harmsens Karriere war mit den verschiedenen politischen Systemen in einer Weise verbunden, die die Anerkennung seines Spezialwissens jenseits des politischen Wechsels ermöglichte. Seine persönlichen Beziehungen im Netz der Institutionen waren derart breit und ausdifferenziert, dass auch sie Veränderungen des politischen Systems fast unbeschadet überdauerten. Die Einflussnahme Harmsens verdankte sich der Tatsache, dass er die Fähigkeit besaß und es ihm möglich war, die ,Ressource‘ wissenschaftliche Kompetenz so zu arrangieren, dass sie unter den jeweiligen politischen Systemen – Demokratie oder Diktatur – rezipiert werden konnte1. Er brachte die Forschungsergebnisse einer Gruppe von Experten, die in der Regel Wissenschaftler oder akademisch ausgebildete Praktiker des Sozialwesens waren und deren Teil er selbst war2, als Statement 1 Nico Stehr differenziert hier zwischen Intellektuellen und Experten. Während er dem Intellektuellen eine kreative und kognitive Fähigkeit, mit „abstrakten Vorstellungen“ zu arbeiten und neue Ideen zu formen, bescheinigt, wird der Experte auf die Wiedergabe bereits vorhandenen Wissens reduziert. Während für Stehr ein Intellektueller auch ein Experte sein kann, kann ein Experte kein Intellektueller sein. Vgl. Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt a. M. 1994, S. 377, hier S. 379 f. 2 Lutz Raphael, Experten im Sozialstaat, in: Hans Günther Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 231–258, hier S. 232.

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einer bestimmten Gruppierung in Form von Denkschriften, Gesetzentwürfen oder Stellungnahmen in den politischen Prozess ein oder stellte sie Persönlichkeiten, die politischen Einfluss hatten, zur Verfügung. Harmsen gehörte zu dem Personenkreis von Experten, „die über ihre individualmedizinische Kompetenz hinaus spezifisches Wissen für das öffentliche Gesundheitswesen besaßen oder als Verbandslobbyisten in die sozialpolitischen Ordnungsdebatten eingriffen.“3 Dies war ihm in den demokratischen Strukturen der Weimarer Republik und BRD ebenso möglich wie während der NS-Diktatur. Im folgenden soll gefragt werden, über welches spezifische Wissen Harmsen verfügte, das seit der Weimarer Republik, ungeachtet der jeweiligen Staatsform, von Bedeutung zu sein schien, welche Interessengruppen und Arbeitsfelder er vertrat und wie sich der von ihm vertretene Sachverstand in die jeweilige bevölkerungspolitische Auseinandersetzung einfügte. I. Kurzbiographie Hans Harmsen4 Der Mediziner und Nationalökonom Dr. med. Dr. phil. Hans Harmsen (1899– 1989) war bereits als Schüler neben anderem Mitglied der Wandervogelbewegung, des national, sozial und völkisch eingestellten Jungdeutschen Bundes sowie der Deutschen Burse für das Grenz- und Auslandsdeutschtum5. Er gehörte zu der Generation, die sich, geprägt durch die „Fronterlebnisse“ des Ersten Weltkriegs, als „Wachablösung“ verstand und auf der Basis eines konservativen Weltbildes mit modernen Mitteln die Zukunft gestalten wollte6. Sein bevölkerungspolitisches Engagement hatte Harmsen mit seinen wissenschaftlichen Qualifikationen verbunden. So spezialisierte er sich auf Sozialhygiene mit den Schwerpunkten Eugenik und Bevölkerungspolitik. 1924 wurde er in Berlin mit der Arbeit „Die französische Sozialgesetzgebung im Dienste der Bekämpfung des Geburtenrückganges“7 zum Dr. med. und 1926 in Marburg mit der Arbeit 3

Ebd., S. 232. Vgl. zur Biographie Harmsens: Sabine Schleiermacher, Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften hg. von Rolf Winau und Johanna Bleker, Heft 85), Husum 1998. 5 Vgl. Hans Harmsen, in: Heinrich Jantzen (Hg.), Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd.5, Frankfurt a. M. 1982, S. 113– 116. Karl Ursin, Die Marburger Burse – ein Weg zum weltoffenen Deutschtum, in: Karl Kurt Klein/Franz Hieronymus Riedl/Karl Ursin (Hg.), Weltweite Wissenschaft vom Volk. Volk-Welt-Erziehung. Johann Wilhelm Mannhardt zum 75. Geburtstag, Wien, Wiesbaden 1958, S. 23–36; hier beziehe ich mich insbesondere auf S. 26–30. 6 Hans Harmsen, Vom Wandervogel zum jungdeutschen Staatsgedanken, in: Die Literarische Welt 23 (1927), S. 3. 7 Hans Harmsen, Die französische Sozialgesetzgebung im Dienste der Bekämpfung des Geburtenrückganges. Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung, Bd. XIX. Heft 2, Berlin 1925. 4

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„Bevölkerungsprobleme Frankreichs unter besonderer Berücksichtigung des Geburtenrückganges als entscheidender Wirtschaftsfaktor“8 zum Dr. phil. promoviert. In beiden Promotionen versuchte Harmsen aufzuzeigen, dass durch Sozialpolitik und Rassenhygiene die Geburtenzahlen in der Bevölkerung zu steuern seien. Das von ihm formulierte Programm einer qualitativen und quantitativen Bevölkerungspolitik beinhaltete nationale und völkische Ideen und war verbunden mit „Lebensraum“ – Vorstellungen, die sich insbesondere auf Bevölkerungsgruppen deutscher Abstammung, die außerhalb der deutschen Staatsgrenzen lebten, bezogen9. Wie zahlreiche andere Akademiker dieser Generation blieb Harmsen nach seinem Studium eine akademische Karriere vorerst verschlossen10. Sein Tätigkeitsfeld bildete in den Jahren 1925 bis 1937 die freie Wohlfahrtspflege. 1925 stellte ihn der Centralausschuß für die Innere Mission, heute Diakonisches Werk, als Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. ein. Diese Arbeitsgemeinschaft war ein Dachverband der sogenannten „Sittlichkeitsbewegung“, in dem die Träger der Wohlfahrtseinrichtungen der beiden Kirchen führend waren und in den 1926 die Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik aufging. Diese wiederum hatte mit dem Deutschen Schutzbund für das Grenz- und Auslandsdeutschtum zusammengearbeitet, der über einflussreiche Kontakte zu Wirtschaft und Politik verfügte, so dass die Zusammenarbeit in neuem institutionellen Rahmen weitergeführt wurde11. 1928 wurde Harmsen im Centralausschuß, dem Repräsentanten der größten protestantischen Wohlfahrtseinrichtungen, die Leitung des neu eingerichteten Referats Gesundheitsfürsorge und der Fachgruppe IV „Gesundheitsfürsorge und Kranken- und Pflegeanstalten“ übertragen, die er bis 1937 inne hatte. In dieser Funktion oblag ihm die Leitung verschiedener Arbeitsgruppen, u. a. der Fachkonferenz für Eugenik. Hier kooperierte er eng mit Kollegen auch aus den nicht konfessionell gebundenen sozialhygienischen Fachverbänden. Der Deutsche Schutzbund und der Centralausschuß boten die institutionelle Plattform für die Erarbeitung von auf Sachverstand gestützte Stellungnahmen und Gutachten durch Wissenschaftler und Verbandsfunktionäre, die dann von Harmsen gegen8 Hans Harmsen, Bevölkerungsprobleme Frankreichs. Unter besonderer Berücksichtigung des Geburtenrückganges, Berlin 1927. 9 Hans Harmsen, Volkstumssicherung, in: Grenzdeutsche Rundschau 3 (1.8.1926), S. 2–4; ders., Die deutsche Bevölkerungsfrage als Problem der völkischen Schutzarbeit, in: Hans Harmsen/Karl Christian v. Loesch (Hg.), Die deutsche Bevölkerungsfrage im europäischen Raum. Festgabe des Bevölkerungspolitischen Ausschusses zur zehnten Wiederkehr des Gründungstages des deutschen Schutzbundes 19. Mai 1919– 19. Mai 1929, Salzburg, Berlin 1929, S. 1–8, hier S. 4. 10 Vgl. Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 94 ff. 11 Die beiden deutschen Kirchen waren in der Grenz- und Auslandsdeutschen Bewegung engagiert. Vgl. Schleiermacher, Sozialethik, S. 48 ff.

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über Behörden und Einrichtungen des Reichs, der Länder und Kommunen, wie dem Reichsgesundheitsrat und dem Preußischen Landesgesundheitsrat, vertreten wurden. Harmsen betrieb Wissenschaft mit dem Ziel praktischer Umsetzung. Ergebnisse der sich erst etablierenden Bevölkerungs- und Vererbungswissenschaft sollten seiner Meinung nach direkt in den politischen Entscheidungsprozeß einfließen, weshalb er Verbindungen zu politisch einflussreichen Personen aufnahm. Exemplarisch sei hier seine 1931 erschienene Publikation „Praktische Bevölkerungspolitik“12 genannt, die er an Adolf Hitler13, Benito Mussolini, aber auch an den Reichskanzler Heinrich Brüning schickte14, und in der er eine Sozialpolitik für „Volk und Familie“ forderte, deren Grundlage eine qualitative wie quantitative Bevölkerungspolitik sein sollte. 1937 schied Harmsen aus dem Centralausschuß aus und wurde Geschäftsführer der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege. 1939 habilitierte er sich am Hygienischen Institut der Friedrich Wilhelms Universität Berlin mit einer arbeitsmedizinischen Untersuchung15. Nachdem er noch vor Beginn des Krieges als Truppen- und Regimentarzt zur Wehrmacht eingezogen worden war, erhielt er 1940 den „Sonderauftrag“, das Schwesternwesen zu „vereinheitlichen“. Während des Zweiten Weltkrieges war er zunächst Hygieniker im Afrikakorps (1941), leitete ab 1942 die Hygienisch-Bakteriologische Untersuchungsstelle des W. K. III und arbeitete wissenschaftlich an der Militärärztlichen Akademie in Berlin. Im Januar 1943 ging er als Beratender Hygieniker in die von deutschen Truppen besetzten Gebiete in Ost-Europa16. Seit 1934 publizierte Harmsen eine auf breiter Datenbasis fußende Untersuchung über „die Bevölkerungsbewegung der deutschen Volksgruppen“ in Osteuropa17 und 12 Hans Harmsen, Praktische Bevölkerungspolitik. Ein Abriss ihrer Grundlagen, Ziele und Aufgaben, Berlin 1931. 13 „Mit grossem Interesse und aufrichtiger Freude habe ich im ,Völkischen Beobachter‘ die Berichte über die Tagung nationalsozialistischer Aerzte in Leipzig gelesen, die ein starkes Bekenntnis zur Notwendigkeit planmässiger bevölkerungspolitischer Massnahmen enthielt.“ Hans Harmsen an Adolf Hitler 21.12.1931, BArch N 1336/ 114. 14 „Für das bisherige Versagen wirklich sinnvoller Bevölkerungspolitik innerhalb unserer deutschen staatlichen und privaten Massnahmen dürfte im wesentlichen die Tatsache entscheidend sein, dass hier und da wohl einzelne Gedanken verfolgt wurden, ein einheitliches System aber nie vorhanden war und auch die Probleme der quantitativen und qualitativen Massnahmen bisher keine befriedigende Antwort gefunden haben und nicht richtig gegeneinander abgewogen wurden. Ich würde es dankbar begrüssen, wenn Sie, . . . trotz aller Ueberlastungen, die Möglichkeit zur Prüfung der hier gemachten Vorschläge finden würden.“ Harmsen an Reichskanzler Dr. Brüning 21.12.1931, BArch N 1336/114. 15 Hans Harmsen, Gesundheitssicherung und Gesundheitsfürsorge für die weiblichen Krankenpflegekräfte, Leipzig 1939. 16 Lebenslauf Harmsen Anfang 1946. Archiv der Humboldt-Universität Berlin. Universitäts-Kurator Personalia H 97, I, S. 82.

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erstellte für den vom Hygieniker Heinz Zeiss im Auftrag des Wehrmachtssanitätswesens herausgegeben Seuchen-Atlas Karten zur Bevölkerungsentwicklung im Nahen und Mittleren Osten sowie in Osteuropa18. In seinen verschiedenen Funktionen stellte Harmsen ein Netz von Verbindungen und Beziehungen her, das von Mitgliedern der völkischen Bewegung über Ärzte und Wissenschaftler bis zu bedeutenden Gesundheitspolitikern reichte, wobei sich diese Kreise untereinander überschnitten. Das Thema, mit dem sich der von Harmsen zusammengeführte Personenkreis in der Hauptsache beschäftigte, war Bevölkerungspolitik, wobei eugenische Fragen, und hier insbesondere der Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes, breiten Raum einnahmen. In der Bundesrepublik der 50er Jahre wurden die in der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus erhobenen Daten, diskutierten Fragestellungen, erarbeiteten Methoden und Deutungsmuster sowie die daraus entwickelten Schlussfolgerungen als Wissen von Experten weiterhin nachgefragt, lieferten sie doch „wissenschaftliche“ Begründungen für politische Entscheidungen, die sie mit den ihnen impliziten Normen zugleich präformierten19. In dieser Zeit war Harmsen an der Reformulierung von bevölkerungspolitischen Konzepten und der Institutionalisierung verschiedener Aktionsplattformen in Politik, Verwaltung, in nationalen wie internationalen Gremien an herausragender Stelle beteiligt. Von 1946 bis 1969 leitete er das Institut für Allgemeine und Soziale Hygiene an der Universität Hamburg. Der universitäre Rahmen bot ihm die Möglichkeit, neue Arbeitszusammenhänge zu schaffen und in diese alte Kollegialitäten zu überführen, mittels derer Bevölkerungspolitik, jetzt als Familienpolitik bezeichnet, sowie Eugenik in der BRD etabliert werden sollten. Hierzu zählen u. a. die Leitung des Studienkreises Geburtenregelung und Eugenik an der Evangelischen Akademie in Hamburg (1948–1957), die Gründung der Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie und der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft e. V. (1952), die Gründung der Aka17 In seinen Publikationen wertete Harmsen amtliche statistische Veröffentlichungen der einzelnen Länder aus und ergänzte diese mit den von der Leitung der evangelischen Kirche zur Verfügung gestellten unveröffentlichten kirchlichen Matrikeln, die über die Bevölkerungsbewegung in den auslandsdeutschen Gemeinden Auskunft gaben. Vgl. Hans Harmsen, Die Bevölkerungsbewegung der deutschen Volksgruppen im osteuropäischen Raum, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik IV (1934), S. 215–230; ders., Die Bevölkerungsbewegung der deutschen Volksgruppen im südosteuropäischen Raum. Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik IV (1934), 290–303. 18 Hans Harmsen, Bevölkerungsdichte im Nahen und Mittleren Osten, in: Heinz Zeiss (Hg.), Der Seuchen-Atlas. Gotha 1942, S. II/9; ders., Bevölkerungsdichte im europäischen Ostraum, in: Heinz Zeiss (Hg.), Der Seuchen-Atlas. Gotha 1943, S. IV/ 10. 19 Raphael, Experten, S. 251 und 253. Vgl. auch seine Ausführungen zum Beispiel des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge S. 254.

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demie für Bevölkerungswissenschaft (1953) sowie die Leitung des Arbeitsausschusses „Bevölkerung und Familie“ in der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege in Frankfurt (ab 1963). 1. Arbeitsfeld 1: Bevölkerungswissenschaft und -politik Die Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V., die 1925 formiert wurde und bis 1942 existierte, war ein „Querverband“, dem die „führenden caritativen und freien Verbände“, die „auf sozialhygienischem und sozialethischem Gebiet arbeiten“, angehörten20. Seit 1926 war auch die 1915 gegründete Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungspolitik ihr Mitglied21. Finanziert wurde die Arbeitsgemeinschaft von verschiedenen Reichsministerien und den Mitgliedsorganisationen. Den Vorstand, dessen Zusammensetzung sich bis auf wenige Ausnahmen 1933 nicht änderte, bildeten führende Männer aus den Bereichen Wohlfahrtspflege, Wissenschaft und Politik. Die Geschäftsführung wurde Harmsen übertragen. Er sollte Kontakte mit Publikationsorganen und Parlamentariern herstellen sowie öffentliche Kundgebungen durchführen. Harmsen hatte sich als moderner, wissenschaftlich ambitionierter Sozialhygieniker mit dem Schwerpunkt Bevölkerungswissenschaft und -politik ausgewiesen. Von ihm erhoffte sich der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft eine Erneuerung der in die Kaiserzeit zurückreichenden „Sittlichkeitsbewegung“, die der veränderten Lebenswelt der Weimarer Republik angepasst werden sollte, repräsentierte er doch jenen modernen Zweig medizinischer Wissenschaft, in dem eine naturwissenschaftlich begründete Medizin ihre Methodik um Volkswirtschaft und Statistik erweiterte und eine Verbindung mit Gesundheitspolitik einging. Bevölkerungspolitik stellte für die Arbeitsgemeinschaft die Durchsetzung ordnungspolitischer Vorstellungen mit modernen Mitteln dar, wobei Bevölkerungswissenschaft den Versuch beinhaltete, eigenen Vorstellungen von sozialer Ordnung mit wissenschaftlichen Methoden die Dignität von Objektivität zu verleihen. Das übergeordnete Ziel der vielen Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft war die Erhaltung eines von Veränderung bedrohten Gesellschaftsmodells22. Von der 20 Hans Harmsen, Sozialethische Aufgaben unserer Zeit. Die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. Sonderdruck aus Caritas 36 (1931), S. 1. 21 Insgesamt vertrat die Arbeitsgemeinschaft die Interessen von über 280 Organisationen und Dienststellen sowie über 600 Einzelpersonen. 22 „Die Vorstellungen vom Werte des Lebens, vom Rechte des Eigentums waren gesunken, die Kriminalität nimmt zu, Pflichtbewusstsein, Selbstzucht, Selbstbeherrschung, Arbeitsliebe sind geschwächt. Genießen und Sichausleben ward vielen die Parole. Diese gesamte innerliche und äußerliche Erschütterung unserer Ueberlieferung war der Boden, aus dem die schweren sittlichen Schäden, der unsittliche Gesamtzustand erwuchs . . .“ Wilhelm Kahl, Präsident der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesun-

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Herausgabe eines Nachrichtendienstes, in dem die neuesten Informationen zu sozial-, gesundheits-, und bevölkerungspolitischen Entwicklungen zusammengestellt waren, dem Aufbau eines Archivs und der Herstellung persönlicher Beziehungen zu „ideenmäßig verbündeten“ Entscheidungsträgern und ihren Referenten erhoffte sich Harmsen eine schnelle Verbreitung ihrer Vorstellungen sowie ein Einwirken auf politische Prozesse und Entscheidungen und damit die „Durchsetzung unserer Forderungen auf gesetzgeberischem Wege“23. In der Arbeitsgemeinschaft waren wissenschaftliche Expertise und administrative Kompetenz in besonderer Weise verbunden, indem ein institutioneller Rahmen geschaffen war, in welchem die Gruppe der Experten aufs engste mit dem Kreis der praxisorientierten Verwaltungsbeamten zusammen arbeitete. Raphael beschreibt ein derartiges Netzwerk sozialpolitischen Expertentums am Beispiel der Vorgehensweise des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge in der Bundesrepublik: „Persönliche Kontakte“ und „wichtige Querverbindungen“ kamen durch „profilierte Einzelpersönlichkeiten“ zustande. „Exponierte Sachverständige“ erwarben sich „durch ihre vielfältigen Ämter und Aufgaben einen breiten persönlichen Einflussbereich in Wissenschaft, Politik und Verwaltung“ und wurden so wichtige Mittler „in dem Netzwerk dieser Expertenkreise“24. Das Funktionsprinzip dieser Form von Einflussnahme auf politische Prozesse lag in der besonderen Konstellation dieser Gremien und der informellen Verbreitung von Wissen. Die Effizienz der Beratung begründete sich seit der Weimarer Republik darin, dass, so Raphael, hier „Politiker und Spitzenbeamte der öffentlichen Wohlfahrtspflege, die Verantwortlichen der freien Trägerverbände sowie Wissenschaftler und exponierte Berufsvertreter dieser Arbeitsfelder“ in Kontakt miteinander gebracht wurden25. Da die Weimarer Regierung die an sie gestellten bevölkerungspolitischen Erwartungen nur zum Teil befriedigte, ja die erwünschte aktive Bevölkerungspolitik nicht betrieb, wurde der Nationalsozialismus von Harmsen begrüßt, verband er mit ihm doch die Hoffnung, dass seine Anstrengungen der vergangenen Jahre zum Thema Volksgesundung und Bevölkerungspolitik nun praktisch umgesetzt würden. Für ihn wie für die völkisch-konservativen Kreise, in denen er sich bewegte und zu denen u. a. auch die christlichen freien Wohlfahrtsverbände zählten, war Hitler Hoffnungsträger für eine „sittliche“ Neuorientierung in ihrem Sinne. Die mit der neuen Regierung verbundenen Gewaltstrukturen zur Durchsetzung auch gesundheitspolitischer Ziele wurden von Harmsen bejaht, dung, in seiner Rede während einer Reichstagskundgebung der Arbeitsgemeinschaft am 2.5.1926. In: Der Weg zur Volksgesundung. Stenographischer Bericht unserer Reichstagskundgebung am 2. Mai 1926, S. 7, BArch N 1336/39. 23 Arbeitsplan der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. vorgelegt 1925 von Harmsen, BArch N 1336/39. 24 Raphael, Experten, S. 255. 25 Ebd., S. 254.

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waren sie doch hilfreich bei der Realisierung seiner Vorstellungen einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft, die auf den leistungsfähigen „Volkskörper“ abzielte26. Während des Nationalsozialismus blieb die Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung in ihrer Struktur unangetastet. Harmsen blieb als Geschäftsführer im Amt, die der älteren Generation angehörenden Vorstandsmitglieder traten zurück und entsprechend der Zielsetzung des nationalsozialistischen Staates kamen wichtige Vertreter nationalsozialistischer Gesundheitspolitik hinzu27. Die damit hergestellte personelle Nähe zum NS-Regime sicherte den Einfluss der Arbeitsgemeinschaft auf die nationalsozialistische Gesundheitspolitik28. Dabei änderten sich Arbeitsweise und inhaltliche Zielsetzung der Arbeitsgemeinschaft im Grundsatz nicht. Themen wie Bevölkerungspolitik, Rassenhygiene, aber auch Eugenik, waren weiterhin Gegenstände der Erörterung. Die gesundheitsund bevölkerungspolitische Zielsetzung der Arbeitsgemeinschaft stimmte, wie Harmsen es selbst formulierte, mit der der neuen Regierung in wesentlichen Punkten überein, weshalb ihre Aktivitäten in Richtung auf die Einflussnahme auf politische Entscheidungen nun abnahmen und die Information der eigenen Mitglieder über politische Entscheidungen mehr Gewicht gewann. Aufgrund von „Gleichschaltungen“ sowie des Verbotes der jüdischen Mitgliedsorganisationen nahm die Arbeitsgemeinschaft nun stärker das Profil der in ihr verbliebenen christlichen Organisationen als Interessenvertretung der beiden großen christlichen Kirchen in Fragen der Gesundheits- und Sozialpolitik an, was mit der Namensänderung in Christliche Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. im Jahr 1935 dokumentiert wurde29. Im März 1926 gründete die Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. gemeinsam mit dem Deutschen Schutzbund den Bevölkerungspolitischen Aus26 „Die polizeilichen Maßnahmen des Staates sind uns wertvolle Hilfen, sie dürfen uns aber nicht in dem Glauben wiegen, daß damit allein schon das Ziel erreicht sei; sie sind vielmehr ein sichtbarer Ausdruck des neuen Impulses, der unser gesamtes staatliches und wirtschaftliches Leben ergriffen hat; sie sollen uns ein Ansporn sein, mit vermehrter Kraft im Sinne geistiger Erneuerung und körperlicher Ertüchtigung der äußeren und inneren Volksgesundung zu dienen.“ Tätigkeitsbericht für 1932 der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V., S. 3, BArch N 1336/42. 27 Der Präsident des Centralausschusses für die Innere Mission Reinhold Seeberg, das Mitglied des Caritasverbandes und des Reichstages Martin Faßbender und der einflussreiche Wohlfahrtspolitiker Eduard Dietrich traten aus Altersgründen zurück. Den Vorsitz der Arbeitsgemeinschaft übernahm der Arzt Max Taute, der bereits 1934 verstarb. Ferner gehörten dem geschäftsführenden Ausschuss Falk Ruttke, Mitglied des Sachverständigenausschusses für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, und Kurt Papke, Leiter der Gesundheitsabteilung im Amt für Volkswohlfahrt, an. Vgl. Veränderungen im Vorstand und Geschäftsführenden Ausschuss der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung, o. D., BArch N 1336/38. 28 Vgl. Veränderung im Vorstand und Geschäftsführenden Ausschuss der Arbeitsgemeinschaft, o. D., BArch N 1336/38. 29 Vgl. Sabine Schleiermacher, Sozialethik, S. 98.

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schuß, der gemeinsam mit anderen Verbänden den „Kern der außerparlamentarischen Deutschtumsarbeit“ bildete30 und dem Harmsen vorstand. Hier hatten sich führende Persönlichkeiten aus dem Bereich der Sozialhygiene, Statistik, Siedlungs-, Agrar- und Kulturpolitik versammelt31. Neben der Führungsspitze des Deutschen Schutzbundes, u. a. Karl C. v. Loesch, gehörten dem Ausschuss der Präsident des Preußischen Statistischen Landesamtes Konrad Saenger, der Direktor der Abteilung Bevölkerungs-, Betriebs- und Kulturstatistik im Statistischen Reichsamt Friedrich Burgdörfer, das Mitglied des Reichslandbundes und des Reichswirtschaftsrates Hans Ponfinck, der Zentrumsabgeordnete im Reichstag, zugleich Mitglied des Preußischen Landtages, des Caritasverbandes sowie des Aufsichtsrates des Wirtschaftsbundes gemeinnütziger Wohlfahrtseinrichtungen Martin Faßbender, der Reichstagsabgeordnete und Professor für Soziale Hygiene an der Universität Berlin, ab 1930 Vorsitzende der Arbeitsgruppe Geburtenregelung im Reichsausschuß für Bevölkerungsfragen Alfred Grotjahn, der Präsident des Centralausschusses für die Inneren Mission und Professor für Theologie an der Universität Berlin Reinhold Seeberg, der Vorsitzende des Reichsbundes der Kinderreichen Hans Konrad, der Leiter des Familienbundes der Reichs-, Staats- und Gemeindebeamten Rektor Thiede, der Vertreter des Preußischen Landwirtschaftministeriums Min.-Rat von Both und der Repräsentant des Deutschen Forschungsinstituts für Agrar- und Siedlungswesen Dr. Lerch an32. In dem Ausschuss waren gezielt „wissenschaftlich geschulte Persönlichkeiten und Praktiker“ zusammengeführt worden, die in „drei Gruppen“ unterteilt wurden: „1. Die mit theoretischen und praktischen Bevölkerungsfragen Beschäftigten. 2. Die Siedlungspraktiker. 3. Vertreter von Verbänden.“33 Siedlungs- und Bevölkerungspolitik waren die Arbeitsgebiete dieses Ausschusses, wobei die Erforschung der Bevölkerungsentwicklung unter den „Volksdeutschen“ der Schwerpunkt der Arbeit sein sollte. Die bevölkerungspolitischen Fragestellungen hatte man nach der Aussage Harmsens „bewußt“ in den Zusammenhang mit der „deutschen Schutzarbeit“ gestellt34, da der Geburtenrückgang der deutschen Bevölkerung in den Grenzgebieten und unter den Bevölkerungsgruppen ehemals deutscher Herkunft im Ausland, dem sogenannten „Inseldeutschtum“, bei gleichzeitiger Geburtenzunahme unter der Bevölkerung der Nachbar- bzw. „Gast“-länder („Bevölkerungsüberdruck“) – hierbei dachte man 30 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 143), Göttingen 2000, S. 71. 31 Vgl. Hans Harmsen, 15 Jahre bevölkerungspolitische Arbeit (Manuskript). Mitgliederliste des Ausschusses, BArch N 1336/129. 32 Mitgliederliste des Ausschusses, BArch N 1336/129. 33 Protokoll der Gründungssitzung des Bevölkerungspolitischen Ausschusses des Deutschen Schutzbundes am 15. März 1926, S. 2 und 6, BArch N 1336/129. 34 Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. Nr. 23 vom 12.7. 1935, BArch N 1336/34.

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insbesondere an „die nachdrängende polnische Unterwanderung“ in den „östlichen Grenzgebieten des deutschen Raums“ – die Schwächung der wirtschaftlichen und politischen Einflussbereiche Deutschlands befürchten lasse35. Diese Fragestellung ist in den weiteren Kontext der sich in diesen Jahren etablierenden Volkstumsforschung einzuordnen, in der „das ,bodenfeste‘ Volkstum deutscher Herkunft jenseits der Reichsgrenzen als Gestalter seiner jeweiligen Heimat und Bewahrer ererbter Traditionen und Werte“ beschrieben wurde, um damit zu dokumentieren, dass es sich hierbei um einen Teil des gesamten deutschen „Volkskörpers“ handele36. In dieser soziographischen Forschung kam der Statistik ein bedeutende Rolle zu: „Quantifizierbare Aussagen über die ethnische Zusammensetzung der Population in einzelnen Gebieten“ sollten Rückschlüsse auf die nationale Zugehörigkeit der in diesen Gebieten lebenden Menschen zulassen37. So stellte Wilhelm Winkler, der Leiter des Instituts für Statistik der Minderheitenvölker der Universität Wien, fest: „Die Statistik bildet ohne Zweifel ein wichtiges Erkenntnismittel im Kampf der Völker. Es fällt ihr die Aufgabe zu, Bestand und Bewegung der Kräfte der Völker an Menschen und Gütern zu messen und jedem, der dafür Interesse hat, . . . wichtige Aufklärung zu geben und Ziele zu setzen.“38 Die zur Verfolgung der eigenen politischen Zielsetzung ausgewählten Wissenschaftsbereiche waren Bevölkerungsstatistik und die sozialwissenschaftliche Erforschung der Bevölkerungsstruktur. Der Bevölkerungspolitische Ausschuss wollte einerseits Bevölkerungsstrukturen in den grenz- und auslandsdeutschen Gebieten statistisch erfassen, familienstatistische Karteien39 erstellen sowie Vorschläge zur Gestaltung von Familienstammbüchern machen und andererseits Propaganda treiben, um das Bewusstsein dieser Bevölkerung für ihr „Deutschsein“ wach zu halten und darüber hinaus ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Bevölkerungspolitik zu schaffen40. Mit dem Ausfüllen der versandten Fragebögen wurden von amtlichen Regierungsstellen im Einvernehmen mit dem 35 Friedrich Burgdörfer, Die schwindende Wachstumsenergie des deutschen Volkes im europäischen Raum, in: Harmsen/Loesch (Hg.), Die deutsche Bevölkerungsfrage im europäischen Raum, S. 9–30, hier S. 30. 36 Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 10), Göttingen 1993, S. 27. 37 Ebd. 38 Wilhelm Winkler, Die Bedeutung der Statistik für den Schutz der nationalen Minderheiten. Berlin 1923, S. 691 zitiert nach Oberkrome, Volksgeschichte, S. 27. 39 Hierfür wurde eine spezielle Kommission gebildet, die aus Harmsen, Saenger und Burgdörfer bestand. Das Projekt scheiterte, da von der Reichsregierung keine Gelder bereitgestellt wurden. Vgl. Bericht über die Arbeit des Bevölkerungspolitischen Ausschusses beim Deutschen Schutzbund vom 18.10.1934, verfasst von Harmsen, BArch N 1336/132. 40 Vgl. Bericht über die Arbeit des Bevölkerungspolitischen Ausschusses beim Deutschen Schutzbund vom 18.10.1934, verfasst von Harmsen, BArch N 1336/132.

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Preußischen Ministerium des Innern und dem Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt Lehrer, Pastoren und Medizinalbeamte beauftragt, also jener Personenkreis, der aufgrund seiner Tätigkeit über weitreichende Einblicke in die allgemeine politische Stimmung unter den „Deutschstämmigen“ wie auch in der Gesamtbevölkerung verfügte und Vorstellungen von der Bevölkerungsstruktur sowie Wanderungsbewegungen besaß. Die hier zusammengestellten Daten, die auf der Grundlage von Schulstatistiken, Katastern und Selbstzählungen der „Volksdeutschen“ gesammelt worden waren41, wurden ausgewertet und dann Behörden zur Verfügung gestellt. Angesichts der Erhebungsaktivitäten wurde 1929/30 der Reichsausschusses für Bevölkerungsfragen durch das Reichsinnenministerium gebildet42. Die Forschungsergebnisse wurden im 1931 gegründeten Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde43, dessen Herausgeberschaft Harmsen übernahm, publiziert44. Das Anliegen war es, den Diskussionsstand zu diesem Themenkreis einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen45. In der Weimarer Republik waren lediglich die erhobenen und zur Verfügung gestellten statistischen Daten für die politisch Handelnden von Bedeutung. Das interdisziplinäre Vorgehen, verbunden mit Problemstellungen aus der Praxis, hatte einen Wissenspool entstehen lassen, der in der parlamentarischen Auseinandersetzung genutzt wurde, ohne dass sich die politischen Akteure jedoch unbedingt die politischen Zielsetzungen des Schutzbundes zu eigen zu machten. Anders verhielt es sich nach 1933. Das in der Weimarer Zeit erarbeitete sozialwissenschaftliche Instrumentarium zur Beschreibung und Erfassung von Bevölkerungsgruppen ehemals deutscher Herkunft im Ausland und das damit erworbene Fachwissen waren für die Verfolgung bevölkerungspolitischer Ziele des nationalsozialistischen Staates von Bedeutung und flossen über die vielfältigen persönlichen Verbindungen auch in die Gestaltung der Politik ein46. Der Natio41

Haar, Historiker, S. 65 Der Reichsausschuß für Bevölkerungsfragen war nach Weingart, Kroll, Bayertz auf Initiative des Reichsbundes der Kinderreichen gebildet worden, der mit der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. allerdings assoziiert war. Diesem Reichsausschuß gehörten Mitglieder des Bevölkerungspolitischen Ausschusses an. Zu nennen sind Grotjahn, Burgdörfer, Zahn, Konrad und ab 1931 Harmsen. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene, Frankfurt a. M. 1988, S. 269. 43 Das Archiv war eine Sammlung von Dokumenten, Protokollen, Entschließungen und Arbeitsergebnissen verschiedener Gruppierungen aus dem In- und Ausland, die sich mit „sexualreformerischen und bevölkerungspolitischen Fragen“ befassten. Tätigkeitsbericht für 1931 der Arbeitsgemeinschaft für Volkgesundung e. V. Schriften zur Volksgesundung Heft 18, Berlin 1931, S. 5 f., BArch N 1336/32. 44 Vgl. Hans Harmsen, Denkschrift für die Mitarbeiter des Bevölkerungswissenschaftlichen Arbeitskreises, o. D. (nach 1933, Verf.), Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Bestand Hygienisches Institut, Nr. 262, Bl. 300. 45 Vgl. Hans Harmsen, Leitsätze, in: Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde 1 (1931), S. 1 f. 42

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nalsozialismus ermöglichte Harmsen die Umsetzung seiner bevölkerungspolitischen Ziele und eröffnete dem Schutzbund die Option, Wissenschaft und Volkstumspolitik mit einer „gesamtvölkischen“ Perspektive zu verbinden. In programmatischen Aufsätzen47 formulierte Harmsen seine Vorstellung der „volksbiologischen Entfaltungsgesetze“. So schrieb er: „Wir erleben in der Gegenwart eine tiefgreifende innere Umstellung, eine Wiederbesinnung auf die Kräfte des Blutes und der mütterlichen Erde und eine Hinwendung zum Osten. In den Bestrebungen zur Rücksiedlung des Industriearbeiters auf das Land und dem Bemühen nach Bodenverbundenheit durch Bauernsiedlung und Kolonisation gewinnen unsere deutschen Volksgruppen in den Mischgebieten des Ostens um so größere Bedeutung, als das Reich der Deutschen sich heute allein auf das deutsche Volkstum gründen muß. Wirtschafts- wie außenpolitisch steigt damit die Bedeutung der grenz- und auslandsdeutschen Glieder unseres Volkes, und es ist wohl an der Zeit, sich darauf zu besinnen, wie es um die Lebenskräfte unseres evangelischen Deutschlands im osteuropäischen Raum bestellt ist.“48 Indem Harmsen in wenig verklausulierter Weise die Grenzen des Deutschen Reiches durch die deutsche Abstammung der Bewohnerschaft einer Region zwingend definiert wissen wollte und zwischen der besonderen Abstammung einer Bevölkerung und dem Land, auf dem sie lebte, eine mythische Verbindung herstellte, formulierte er territoriale Ansprüche, die über die Revisionsforderung des Versailler Vertrages noch hinausgingen. Das Bemühen um „ethnisch homogene“ Regionen, in denen sich die aus Harmsens Perspektive deutsche Bevölkerung auf „Volkstumsinseln“ vor dem „Bevölkerungsüberdruck“ seitens der übrigen dort ansässigen Bevölkerung „schützen“ müsse, geschah weniger aus Motiven kultureller Unterstützungstätigkeit. Es zielte auf die Verhinderung der Integration und Assimilation von Bevölkerungsgruppen ehemals deutscher Herkunft in ihren Lebensräumen sowie ihre Bindung an das Deutsche Reich, um dann mit Verweis auf diese Gruppen das Territorium, auf dem sie lebten, für sich beanspruchen, und diesen Anspruch mit Hilfe von Methoden aus Biologie, Statistik und anderen Disziplinen quasi (natur-)wissenschaftlich legitimieren zu können. Am Beispiel der Konfessionsverhältnisse hob Harmsen die Bedeutung auch der 46 Vgl. auch Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutsche Forschungsgemeinschaft“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, S. 787–799. 47 Hans Harmsen, Bestandsfragen der deutschen Volksgruppen im osteuropäischen Raum. Schriften des Bevölkerungswissenschaftlichen Arbeitskreises der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung, Heft 1, Berlin 1935. Sonderdruck des Aufsatzes „Bestandsfragen des evangelischen Deutschtums im osteuropäischen Raum“. Auslandsdeutschtum und evangelische Kirche. Jahrbuch 1934; ders. Volksbiologische Entfaltungsgesetze, in: Hans Harmsen, Franz Lohse (Hg.), Bevölkerungsfragen. Bericht des Internationalen Kongresses für Bevölkerungswissenschaft Berlin, 26. August–1. September 1935, Berlin 1936. 48 Hans Harmsen, Bestandsfragen, S. 4.

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„kulturellen Kräfte“ hervor: „Die Bewahrung des Volkstums ist gefährdet bei gleicher Konfession mit dem Staatsvolk. Unterschiedlichkeit des Glaubens erhält hingegen die völkische Eigenart.“49 Dieses Denken war gerichtet auf Desintegration und Dissimilation der dem deutschen Volk zuzuschlagenden Bevölkerung von dem mit ihr dort lebenden sogenannten „Staatsvolk“. An die Seite dieser „Schutzarbeit“ mit kulturellen Mitteln stellte er jedoch die neuen Methoden der Sozialanamnese und Erforschung des generativen Verhaltens der Bevölkerung in den „grenz- und auslandsdeutschen“ Gebieten. Hier wird der besondere Stellenwert der Bevölkerungspolitik für seine Argumentation wie gegenüber sonstiger „Kulturarbeit“ deutlich. Diese Vorstellungen nahmen im Blick Richtung Osten Elemente der später als „Generalplan Ost“ bekannt gewordenen Planung der Ostexpansion voraus. 1934 gingen die bevölkerungspolitischen Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung auf den Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) über, in den auch der Bevölkerungspolitische Ausschuss, dessen Geschäftsführung Harmsen behielt, übernommen wurde. Die Bevölkerungsentwicklung in Osteuropa und der Sowjetunion sowie die Entwicklung der dort befindlichen Siedlungen mit Bevölkerung ehemals deutscher Herkunft waren die behandelten Themen. Durch die statistische Erfassung der Lebens- und Gesundheitsdaten der Bevölkerung deutscher Herkunft sollten die Voraussetzungen für eine Steuerung der Bevölkerungsentwicklung in den „auslandsdeutschen“ Gebieten geschaffen werden, um auf diesem Wege die politische Einflussnahme in den Gebieten östlich der Reichsgrenzen aufrechtzuerhalten. Wiederum wurde eine Allianz zwischen Wissenschaft und Politik hergestellt. Neben Wissenschaftlern, wie dem Hygieniker Heinz Zeiss und dem Soziologen Gunther Ipsen, gehörten dem Bevölkerungspolitischen Ausschuss Vertreter des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst und des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP an50. Dieser Kreis wollte „absichtlich“ nicht in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten. 1934 wurde vom VDA der Volkswissenschaftliche Arbeitskreis, der nach Fahlbusch als eine „Kaderschmiede für eine nationalsozialistische Bevölkerungspolitik anzusehen“ war51, gegründet, dem auch Harmsen angehörte. Dieser Kreis „diente der Sammlung aller für die kulturelle Auslandsarbeit relevanter Hochschuldisziplinen und Kulturpropagandisten“52. Harmsen, der als „Erfinder 49

Hans Harmsen, Volksbiologische Entfaltungsgesetze, S. 359. „Für die Gebiete unserer deutschen Volksgruppen jenseits der Grenzen werden diese Fragen (Bevölkerungs- und Rassenfrage, Verf.) künftig in organischer Fortführung und enger Fühlungnahme mit dem VDA durch den Bevölkerungswissenschaftlichen Arbeitskreis in Zusammenarbeit mit allen in Frage kommenden deutschen Stellen durchgeführt.“ Denkschrift für die Mitarbeiter des Bevölkerungswissenschaftlichen Arbeitskreises, verfasst von Hans Harmsen, o. D. (nach 1933), S. 3, BArch N 1336/ 132. 51 Michael Fahlbusch, Wissenschaft, S. 115. 50

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des Nationalitätenkatasters für die baltischen Staaten“ galt53, hatte 1935 auf dem Internationalen Kongress für Bevölkerungswissenschaft in Berlin das Ergebnis der interdisziplinär zusammengesetzten Bevölkerungsforschung so beschrieben: „Im Volkskörper haben wir also nicht eine „individualisierte Menge“ (Ipsen), sondern das „Gefüge der Familienreihen“ (Bredt) zu verstehen und zu durchforschen. Der Ausbau der von Scheid(t) geforderten naturwissenschaftlichen Familienkunde wird wertvollste Einblicke in die volksbiologisch wirkenden Gesetzlichkeiten geben.“54 Harmsen, der an der Entwicklung einer interdisziplinären modernen Sozialtechnologie beteiligt war, war nicht Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen und konnte nach der Befreiung im Mai 1945 in West-Deutschland mit seiner bekannten Programmatik reüssieren. Er verkörperte jene Wissenschaftler, die sich offen gegenüber neuen politischen Situationen zeigten und deren Erfolg darin lag, dass ihre seit der Weimarer Republik entwickelten wissenschaftlichen Kompetenzen, deren Professionalisierung während des Nationalsozialismus fortgeschritten war, auch im politischen System der BRD nachgefragt und genutzt wurden55. In Kenntnis seiner wissenschaftlichen Arbeiten zählten ihn die Mitarbeiter der Rockefeller Foundation 1951 zu jenem Kreis von Personen, die den Aufbau eines demokratischen Deutschlands zu gewährleisten schienen56. Wie in seinen Arbeiten während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus war weiterhin die Familie Ansatzpunkt sozialhygienischer Intervention. Bis zu seinem Tod 1989 bildeten „Gesundheitserziehung und -beratung“, „Ehetauglichkeit“, „gesetzliche Ermöglichung der Unfruchtbarmachung“ und „Eugenik“ die Schlagworte, unter denen er die Bevölkerungsentwicklung unter quantitativen wie qualitativen Gesichtspunkten steuern wollte57. Im Dezember 1945 wurde Harmsen mit der Leitung der Sozialhygienischen Akademie in Hamburg, ab 1948 Akademie für Staatsmedizin58, beauftragt und 52

Ebd., S. 116. Haar, Historiker, S. 308. 54 Hans Harmsen, Volksbiologische Entfaltungsgesetze, S. 355–360, hier S. 355 f. Harmsen bezieht sich hier auf folgende Literatur: Johann Bredt, Volkskörperforschung, Breslau 1930. Walter Scheidt, Einführung in die naturwissenschaftliche Familienkunde, München 1923. 55 Vgl. hierzu auch die Studie von Carsten Klingemann, Reichssoziologie und Nachkriegssoziologie: Zur Kontinuität einer Wissenschaft in zwei politischen Systemen, in: Renate Knigge-Tesche (Hg.), Berater der braunen Macht. Wissenschaft und Wissenschaftler im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1999, S. 70–93. 56 Diaries R.R. Struthers 4th /8th, 1951, Rockefeller Archiv Center, Rockfeller Foundation, Box 61, Folder 12.1, Page 335. 57 Hans Harmsen auf der 1. Sitzung des Ausschusses für Bevölkerungs- und Familienfragen der Deutschen Zentrale für Volkswohlfahrtspflege 17.2.1964. Protokoll S. 2, BArch N 1336/67. 58 In der Akademie wurden die Amtsärzte der späteren Bundesländer Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Bremen und Berlin ausgebildet. 53

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im September 1946 zum Professor für Allgemeine und Soziale Hygiene an der Universität Hamburg sowie zum Direktor des Hygienischen Instituts berufen59. 1952 war er Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft e. V. und der Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Hamburg. In beiden Institutionen übernahm Harmsen den Vorsitz. Die Mitgliederverzeichnisse dieser beiden Zusammenschlüsse spiegeln nicht nur das „who is who“ der bevölkerungspolitischen und -wissenschaftlichen Bewegung der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ und verdeutlichen so eine erstaunliche Kontinuität bis in die Bundesrepublik Deutschland hinein, sondern man findet auch eine personelle Überschneidung der Kreise jener Generation von Ärzten, Statistikern, Wissenschaftlern, hohen Beamten und Politikern, die während des Nationalsozialismus u. a. in den Bereichen Rassenhygiene, Bevölkerungsstatistik, Sozialanthropologie oder Soziologie wissenschaftlich und politisch tätig waren. An ihre Seite gesellte sich als deren Schüler bereits die jüngere Generation. So gehörten dem ersten Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft60 neben Harmsen der Statistiker Kurt Horstmann61, der Sozialanthropologe und Soziologe Karl Valentin Müller62, die Stadtsoziologen Elisabeth Pfeil63 und der Bevölkerungshistoriker Erich Keyser64 an. 59 Hans Harmsen, Das Hygienische Institut der Hansestadt Hamburg. Darstellung vom 24.1.1947, BArch N 1336/269. 60 Im folgenden beziehe ich mich auf: Vor 25 Jahren: Gründung der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft e. V., in: Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft (Hg.), Mitteilungen für die Mitglieder und Freunde der Gesellschaft 53. Folge (1977), S. 2 f. 61 Horstmann (1909–1986) war seit 1935 Mitarbeiter im Statistischen Reichsamt unter Burgdörfer und seit den 50er Jahren stellvertretender Direktor des Statistischen Bundesamtes. 62 Müller (1896–1963) war 1941 zum Professor für Sozialanthropologie und Soziologie an der Deutschen Karls Universität Prag ernannt worden. Zugleich war er bis 1945 Leiter des Instituts für Sozialanthropologie und Volksbiologie in der ReinhardHeydrich-Stiftung und Mitarbeiter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung. In diesen Kontext sind auch die „Rassenuntersuchungen Schlesien“ (Studien zur „sozialen Siebung“ an 65000 Personen), die Müller gemeinsam mit Ilse Schwidetzky und Egon Freiherr v. Eickstedt durchführte, einzuordnen. Seit 1946 leitete Müller das „Institut für Begabtenforschung“ in Hannover. Jörg Gutberger, Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“ (Beiträge zur Geschichte der Soziologie, hg. von Sven Papcke), 2. Aufl., Münster 1999, S. 529 f. 63 Pfeil (1901–1975) war von 1934–1944 Schriftleiterin des von Harmsen begründeten Archivs für Bevölkerungswissenschaft, 1941–1945 wissenschaftliche Referentin am Münchener Institut für Bevölkerungswissenschaft, 1952 Mitarbeiterin an der Sozialforschungsstelle Dortmund, 1955 wissenschaftliche Referentin, 1964 Professorin für Soziologie an der späteren Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg sowie „wichtigste“ Begründerin der deutschen Stadtsoziologie. Vgl. Klingemann, Reichssoziologie, S. 85. 64 Keyser (1893–1968), 1927–1945 Direktor des Staatlichen Museums in Danzig und von 1931–1945 Professor an der TH Danzig, betrieb eine Bevölkerungsge-

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Dem Vorstand wurde ein wissenschaftlicher Beirat an die Seite gestellt. Die Leitung hatte der Bevölkerungsstatistiker Friedrich Burgdörfer, dessen wissenschaftliche Bedeutung in der „Weiterentwicklung statistischer Methoden“ gesehen wurde65. Dem Beirat gehörte eine Reihe bekannter Wissenschaftler an: der Soziologe Gunther Ipsen66, der durch seinen strukturanalytischen Forschungsansatz eine herausragende Position für die Entwicklung der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland einnahm; der Nationalökonom Gerhard Mackenroth, der als Begründer der westdeutschen soziologisch orientierten Bevölkerungswissenschaft gilt67; Siegfried Koller, der sich durch die methodische Weiterentwicklung der amtlichen Gesundheitsstatistik, Einführung des Stichprobenverfahrens in die amtliche Statistik (Mikrozensus)68 sowie Weiterentwicklung der Bevölkeschichte, die sich von der Volks- und Kulturbodenforschung dahingehend unterschied, dass er sie mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte verknüpfte, ohne jedoch den Bezug zum ethnozentristischen Raumbegriff und zur Rassenbiologie aufzugeben. Vgl. Haar, Historiker, S. 92. 65 Burgdörfer (1890–1967) war von 1943–1945 Referent des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP und erstellte im Rahmen des Madagaskarplans 1940 ein „Gutachten zur Umsiedlung der Juden“. In dem Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft schrieben H. H. (Harmsen) und E. P. (Pfeil) 1967 anläßlich des Todes Burgdörfers: „Es ist eine tragische Verkettung, daß die neuen Methoden, die B. entwickelt hatte, und sein persönliches Engagement in den Fragen des Geburtendefizites der 20er Jahre, sich erst im 3. Reich auswirken konnten und er damit in Verstrickungen mit den bevölkerungspolitischen Zielen des Nationalsozialismus geriet.“ Deutsche Akademie für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Hamburg, Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft e. V. (Hg.), Mitteilungen für die Mitglieder und Freunde der Gesellschaft 37. Folge (1968), S. 2. 66 In der bundesrepublikanischen Soziologie wurde die Modernität seines Forschungsansatzes so begründet: „Methodisch richtungsweisend sind seine aktuellen Analysen, da hier aus dem Material der Massenstatistik über die darin greifbaren Proportionen und Relation tragende soziologische Einsichten gewonnen werden, die sich in ihrer Gesamtheit zu einem geschlossenen Modell der Struktur des Gegenstandes fügen, das die Möglichkeit zur quantitativen Verifikation qualitativer Urteile und Hypothesen eröffnet“. In: Hans Linde, Gunther Ipsen, Biographische Notiz, in: Harald Jürgensen (Hg.), Entzifferung: Bevölkerung als Gesellschaft in Raum und Zeit. Gunther Ipsen gewidmet, Göttingen 1967, S. 167–174, zitiert nach Gutberger, Volk, S. 527. Ipsen hatte sich mit Forschungen im Bereich der Sozialstrukturanalyse und Agrarsoziologie profiliert, lehrte 1939–1945 an der Reichsuniversität Wien Soziologie und Philosophie, 1951–1961 leitete er die Abteilung Demographie und Sozialstatistik an der Sozialforschungsstelle Dortmund. Vgl. ebd., S. 526. 67 Mackenroth (1903–1955) war 1934–1940 Professor im Weltwirtschaftsinstitut in Kiel, 1942 in Strassburg und 1945 wieder in Kiel. Er gab u. a. folgende Schriften heraus: Deutschland und die Wirtschaftliche Einheit Europas. Ökonomisches Manifest zum Marshall-Plan (1948); Methodenlehre zur Statistik (1949); Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan (1952) und Bevölkerungslehre (1953). 68 „Dieses neue System war von Anfang an so erfolgreich, daß es fortan beibehalten wurde und in seinen wesentlichen Elementen noch heute besteht. Angesichts des damit verbundenen relativ hohen Personal- (und Kosten-)aufwands mußte es zu einer beständigen Aufgabe werden, diese Statistik zu rationalisieren. Prof. Koller hat diese Herausforderung rasch erkannt und dabei versucht, ganz unkonventionelle Wege zu gehen.“ Nourney, Einführung der Stichprobenverfahren in die amtliche Statistik, in:

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rungsstatistik auswies69; die Anthropologen und Genetiker Hermann Muckermann70 und Otmar v. Verschuer71; Wilhelm Emil Mühlmann, „Begründer einer innovativen Kombination von Ethnologie und Soziologie“72; der Gesundheitspolitiker Wilhelm Hagen73; der Sozialpolitiker Gerhard Weisser74; der Arzt und Vorträge anläßlich der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Herrn Professor Siegfried Koller am 17. Mai 1982 in Wiesbaden (Materialien zur Bevölkerungspolitik, Heft 30, herausgegeben vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung), Wiesbaden 1982, S. 21. 69 Koller (1908–1998) war Medizinalstatistiker, 1941–1945 leitete er das Biostatistische Institut der Universität Berlin, in der BRD war er von 1953–1962 Abteilungsleiter im Statistischen Bundesamt für Bevölkerungs- und Kulturstatistik. Vgl. Götz Aly/ Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Berlin 1984, S. 96–115. 70 Muckermann (1877–1962), der Jesuit war, leitete 1927–1933 die Abteilung Eugenik im Kaiser Wilhelm Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Nach 1933 wurde er aus dem Amt entfernt. 1948 wurde er als Professor für angewandte Anthropologie und Sozialethik an der TU Berlin und 1949 als Leiter des Kaiser Wilhelm Instituts für Anthropologie berufen. Seit 1954 war er wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft. 71 Otmar v. Verschuer (1896–1969) war 1926/27 zum Leiter der Abteilung menschliche Erblehre an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin berufen worden. 1934 veröffentlichte er das Buch Erbpathologie, ein Lehrbuch für Ärzte. 1934 übernahm er die Leitung der Zeitschrift „Der Erbarzt“, das „innerhalb der Ärzteschaft am meisten verbreitete rassenhygienische Periodikum“. 1933 wurde er zum außerplanmäßigen Professor und 1935 zum ordentlichen Professor für Erbbiologie und Rassenhygiene am neugegründeten gleichnamigen Universitätsinstitut in Frankfurt a. M. berufen. 1942 kehrte er nach der Emeritierung Eugen Fischers an das Kaiser-Wilhelm-Institut nach Berlin zurück und übernahm dessen Leitung. Nach dem Krieg war er bis zu seiner Emeritierung 1965 ordentlicher Professor für Humangenetik am Institut für Humangenetik in der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster, das das „Zentrum der humangenetischen Arbeit in Deutschland“ war. Vgl. Marion Weber/Karin Weisemann, Wissenschaft und Verantwortung, dargestellt am Beispiel der Humangenetiker P. J. Waardenburg und O. Frhr. v. Verschuer, in: Medizinhistorisches Journal 24 (1989), S. 167 f. 1964–1968 gehörte er dem Eugenischen Arbeitskreis der Inneren Mission und Hilfswerk der EKD an. Seine Forschungsschwerpunkte waren Zwillingsforschung, Familienforschung und genetische Bestandsaufnahmen. Universitätsarchiv Münster, Nachlaß O. v. Verschuer, Nr. 15. Otmar v. Verschuer. 72 Klingemann, Reichssoziologie, S. 85. Mühlmann (1904–1988) war 1939–1945 Dozent für Völkerpsychologie und Ethnologie an der Universität Berlin. Er wurde 1950 als apl. Professor für Soziologie und Völkerpsychologie an die Universität Mainz und in den folgenden Jahren nach Heidelberg berufen, wo er bis 1970 wirkte. 73 Hagen (1893–1982) war 1941–1943 Amtsarzt in Warschau und hatte sich in dieser Funktion an der Errichtung des Ghettos beteiligt. 1950–1956 war er Referatsleiter für Gesundheitsfürsorge im Bundesinnenministerium mit dem Arbeitsschwerpunkt Mütter- und Säuglingsfürsorge, daneben Honorar-Professor für Gesundheitsfürsorge an der Universität Bonn; 1956–1958 war er Präsident des Bundesgesundheitsamtes. Christopher Browning, Genocide and Public Health: German Doctors and Polish Jews, 1939–41, in: Holocaust and Genocide Studies 3 (1988), S. 21–36, hier S. 25. 74 Weisser (1898–1989) war Wirtschaftswissenschaftler, 1927 städtischer Finanzdirektor in Magdeburg, Mitglied der SPD und 1930–1933 Bürgermeister der Stadt Hagen. Während des NS arbeitete er in verschiedenen Verlagen. 1943 habilitierte er sich

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Schriftleiter der „Ärztlichen Mitteilungen“/„Deutsches Ärzteblatt“ und von „Du und die Welt“ (des offiziellen Organs der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung) Ferdinand Oeter75, der eine umfangreiche publizistische Tätigkeit auf dem Gebiet der Familien- und Bevölkerungspolitik vorweisen konnte; schließlich der Arzt Erwin Jahn76. In den folgenden Jahren wuchs dieser Kreis, in dem sich auch Personen befanden, die ihre wissenschaftliche Expertise bereits für die NS-Rassenpolitik und deren Umsetzung zur Verfügung gestellt hatten, stetig77. Bis Ende der 60er Jahre stellte die Gruppe der in Rostock. 1946 wurde er zum Generalsekretär des Zonenbeirats der britischen Zone in Hamburg gewählt, 1948–1950 war er Staatssekretär im Finanzministerium von Nordrhein-Westfalen. 1950–1966 war er Professor für Sozialpolitik und Genossenschaftswesen in Köln, 1966 Honorarprofessor in Göttingen und 1954–1970 Vorstandsvorsitzender der Friedrich Ebert Stiftung. 1959 war er beteiligt an der Formulierung des Godesberger Programms. Er war Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Beiräte in verschiedenen Bundesministerien. Vgl. Nachlass Gerhard Weisser, in: Archiv der sozialen Demokratie. 75 Oeter (1983) hatte Medizin studiert und war durch seine zahlreichen Publikationen zur Gesundheits- und Familienpolitik in den Standesorganen hervor getreten. Vgl. Hermann Kater (Hg.), Politiker und Ärzte. 600 Kurzporträts, 3. erweiterte und überarbeitete Auflage, Hameln 1968, S. 249. 76 Jahn (1911–1997) hatte während des NS Medizin studiert und promoviert, konnte jedoch nicht als Arzt tätig werden, da er nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen als „Mischling I. Grades“ eingestuft worden war. 1945–1948 arbeitete er nebenamtlich in verschiedenen Funktionen der Landesgesundheitsverwaltung in der Provinzialverwaltung Sachsen-Anhalt. 1946–1948 war er Stadtmedizinalrat in Halle (Saale), Mitglied des Gemeinderates und Dezernent für das städt. Gesundheitswesen. 1948 siedelte er aus Halle nach West-Berlin über. 1949 trat er in die SPD ein. Er war einflussreiches Mitglied, lange Zeit auch Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen/ASG. 1955–1958 war er am Wirtschaftsund Sozialwissenschaflichen Institut der Gewerkschaften in Köln tätig, und 1955–1956 Stipendiat der Rockefeller Foundation an der Akademie für Staatsmedizin in Hamburg (Leiter Hans Harmsen). 1958–1961 war er Referent für Rehabilitationsfragen in der Landesversicherungsanstalt Berlin und 1961–1962 Leiter des Ärztlichen Dienstes im Landesversorgungsamt Berlin. Ab 1962 war er im Bundesgesundheitsamt tätig, von 1967–1976 leitender Direktor und Vizepräsident. Jahn war der Verfasser der Berichte über das Gesundheitswesen in der DDR in dem von dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen herausgegeben „DDR Handbuch“ sowie dessen Vorläufer. Vgl. Dieter Borgers/Udo Schagen, Nachruf Erwin Jahn – Sozialmediziner und Gesundheitspolitiker, in: Das Gesundheitswesen 60 (1998), S. 58–61. 77 Zu nennen wäre hier u. a. Josef Götz (1910–1982), ehemaliger Mitarbeiter Burgdörfers, 1943 politischer Direktor der Abteilung Arbeit der NSDAP für das Generalgouvernement, der eine wissenschaftliche Basis für die Rassenpolitik des NS-Regimes erarbeitet hatte, womit er zur wissenschaftlichen Legitimierung der NS-Rassenpolitik beitrug. Ab 1950 war er Direktor des Statistischen Landesamtes im Saarland (vgl. Morgane Labbé, La statistique raciale: Une impasse scientifique et sa „solution“ politique sous le IIIe Reich, in: Genéses, 29. déc. 1997, S. 29–50). Weitere Personen, die in diesem Kontext agierten, waren: Richard Korherr, der als Inspekteur für Statistik beim Reichsführer SS am 23.3.1943 einen statistischen Bericht für Himmler über „Die Endlösung der europäischen Judenfrage“ verfasst hatte, die Rassenhygieniker Lothar Loeffler und Heinrich Schade, die Rassenanthropologen Ilse Schwidetzky und Egon Frhr. v. Eickstedt. Vgl. Götz Aly, Noch einmal: Siegfried Koller. Bevölkerungsstruk-

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älteren Generation den größten Anteil der Mitglieder78. Gegenstände ihres Interesses waren neben der Erarbeitung eines demographischen Handwörterbuches unter der Leitung des Bevölkerungsstatistikers Wilhelm Winkler, des Nestors der „Minderheitenforschung“, die methodische Weiterentwicklung der Statistik und Bevölkerungswissenschaft, die Untersuchung der demographischen Veränderung der Bevölkerungsstruktur der BRD, die daraus resultierenden Forderungen an die Familienpolitik, die Beobachtung der Bevölkerungsentwicklung in Osteuropa und der Sowjetunion sowie die Sozialanthropologie und Bevölkerungsgeschichte. Die in dieser Gesellschaft versammelte wissenschaftliche Kompetenz war angesichts der Weiterentwicklung der statistischen Methoden in der amtlichen Statistik und der Ausdifferenzierung der Sozialgesetzgebung Anfang der 50er Jahre für die Arbeit in Bundesministerien von Bedeutung. So fungierten einzelne Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft in Zusammenhang mit der Frage des Familienlastenausgleichs (Harmsen, Neundörfer, Schelsky)79 oder des „Ehegattensplittings“ (Burgdörfer, Jahn, Freudenberg, Harmsen), als Gutachter für das Bundesministerium für Familienfragen oder gehörten dessen wissenschaftlichem Beirat an80, der bis Ende der 50er Jahre „verbandsorientiert“ war und sich erst später „in ein rein wissenschaftliches Gremium“ wandelte81. Die Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft und ihre Mitglieder vollzogen diesen institutionellen und damit verbunden auch wissenschaftlichen Entwicklungsschritt mit, während sie bei ihrer politischen tur und Massenmord. Neue Dokumente zur deutschen Politik der Jahre 1938–1945, in: Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik hg. v. Götz Aly et al. Bd. 9, Berlin 1991, S. 187–190. 78 Unter ihnen waren u. a. Martin Kornrumpf, Werner Conze, Hermann Arnold, Karl Freudenberg, Karl Heinz Mehlan, Hermann Mitgau, Ludwig Neundörfer, Hermann Schubnell, Ilse Brandt, Annemarie Durand-Wever, Helmut Schelsky und Hans Schwalm. Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft e. V., Mitgliederliste Stand vom 1. Januar 1966. Nachlass Erwin Jahn, in: Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte im Institut für Geschichte der Medizin, Charité, ZHGB. 79 Das „Gutachten zur Frage eines wirksamen Familienlastenausgleichs“ war seit Anfang März 1954 erarbeitet worden. Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft e. V. 1. März 1955, Der Familienlastenausgleich nach dem Stande vom Januar 1955, in: Nachlass Erwin Jahn, Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte im Institut für Geschichte der Medizin. Vgl. Der Familienlastenausgleich. Erwägungen zur gesetzgeberischen Verwirklichung. Eine Denkschrift des Bundesministers für Familienfragen, Bonn 1955. 80 Denkschrift zur Frage einer ausreichenden Berücksichtigung des Familienlastenausgleichs bei der kommenden Ehegattenbesteuerung nach dem Splittingverfahren. Vgl. Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft, Mitteilungen an die Freunde 7. Folge (1957), S. 18; 8. Folge (1957), S. 10 ff. 81 Thomas Pfeiffer, „Realistische Utopiequanten“. Gespräch mit Ministerialdirektor und Honorarprofessor Max Wingen, in: Einheit von Wissenschaft und Praxis in den Sozialwissenschaften. Mitteilungsblatt des Vereins zur Förderung der sozialwissenschaftlichen Praxis (SOPRA) e. V., Juli 2000.

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Beratungstätigkeit an den von ihnen vertretenen Inhalten, der ideologischen Ausrichtung und dem damit verbundenen Gesellschaftsmodell im Kern festhielten82. 2. Arbeitsfeld 2: Die Frage der Eugenik Im Auftrag des Centralausschusses für die Innere Mission lud Harmsen als Leiter des Referats Gesundheitsfürsorge für den 18. bis 20. Mai 1931 leitende Fachleute aus verschiedenen Bereichen der Anstaltsarbeit, wie Anstaltsleiter und Ärzte aus Kranken- und Pflegeanstalten der Inneren Mission, zu einer ersten Fachkonferenz für Eugenik ein83. Die von ihm initiierte Arbeitsgruppe sollte sich mit Eugenik und Sterilisation von als „minderwertig“ bezeichneten Menschen befassen. Unter den Anwesenden waren bedeutende Wissenschaftler, Theologen, Kirchenbeamte und Verbandsfunktionäre. Referate zu den Themen wurden mehrheitlich von den anwesenden Medizinern gehalten. Was als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Eugenik und Sterilisation aus 82 So stellte Max Wingen, der selbst der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft angehörte, in einem Interview zur Frage, welchen Zweck Studien unabhängiger Sachverständigenkommissionen und welchen Einfluss sie auf Regierungen hätten, fest, dass sie „zur Begründung rationaler Familienpolitik beigetragen hätten“, auch wenn die Positionen der Wissenschaftler „nur bedingt oder erst viel später übernommen“ worden seien. Weiter führte er aus: „Schon Mitte der 60er Jahre hat der Hamburger Sozialhygieniker Hans Harmsen für etwas plädiert, was er zeitbedingt ,Mütterpflegeausgleichgeld‘ nannte. In den 70er Jahren wurde ein Familiengeld diskutiert, aber nicht eingeführt, was in den 80er Jahren nun endlich geschehen ist. Oder: Der Kieler Sozial- und Bevölkerungswissenschaftler Gerhard Mackenroth hat Anfang der 50er Jahre den Familienlastenausgleich als ,sozialpolitische Großaufgabe des 20. Jahrhunderts‘ bezeichnet. Das Jahrhundert ist inzwischen vorbei und der Familienlastenausgleich immer noch nicht befriedigend geregelt. Medizinisch gesprochen, ist die ,Inkubationszeit‘ weiterführender Konzepte oft sehr, sehr lang.“ Ebd. Vgl. auch Carsten Klingemann, Soziologen in der „Westforschung“ während des Nationalsozialismus. In: Burkhard Dietz/Helmut Gabel/Ulrich Tiedau (Hg.), Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960) (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, Bd. 6), Münster u. a. 2003, S. 407–445, hier S. 445. 83 Die Fachkonferenz für Eugenik war in den vergangenen Jahren Gegenstand der Forschungen im Bereich der Diakoniegeschichte. In zeitlicher Reihenfolge erschienen: Kurt Nowak, „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und der „Euthanasie“-Aktion, Göttingen 1978; Sabine Schleiermacher, Die Innere Mission und ihr bevölkerungspolitisches Programm, in: Heidrun Kaupen-Haas (Hg.), Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik (Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Band 1), Nördlingen 1986, S. 73–89; Jochen-Christoph Kaiser, Innere Mission und Rassenhygiene, in: Lippische Mitteilungen 55 (1986), S. 197–217; ders., Diakonie und Eugenik im „Dritten Reich“. Grundzüge der Entwicklung 1933–1945, in: Wolfgang Stegemann (Hg.), Kirche und Nationalsozialismus, Stuttgart 1990, S. 113–130.

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Sicht von Wissenschaft, Theologie, Gesundheitspolitik und Anstaltverwaltung gedacht war, entwickelte sich zu einer Diskussion um ein Forschungsprojekt größerer Dimension. Einzelne Anstaltsärzte berichteten über ihre in den Anstalten durchgeführten, auf den mendelschen Theorien basierenden Familienanamnesen84. Bereits vorhandene erbbiologische Forschungen sollten mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie und menschliche Erblehre in Hinblick auf eine erbbiologische Erfassung koordiniert werden85, womit die Konferenz den Bestrebungen zahlreicher Psychiater nach einer „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ in den Heil- und Pflegeanstalten entsprach. Harmsen vermittelte hierfür den Kontakt zwischen Wissenschaft und Anstaltsleitungen. Die in diesem Arbeitskreis versammelten Personen bildeten eine Schnittmenge zwischen Wissenschaft und Politik. Theorie wurde an die Praxis zurückgebunden und war daher wertvoll für die weitere vererbungswissenschaftliche Forschung wie auch für gesundheitspolitische Entscheidungen, die Anfang der 30er Jahre gefällt werden sollten. Die Ergebnisse der Konferenz sollten sowohl bewusst als Stellungnahme der protestantischen Kirche in die öffentliche Debatte um Eugenik eingebracht als auch in den entsprechenden politischen Gremien vertreten werden. Das Ergebnis der Konferenz wurde als „Treysaer Erklärung“ verabschiedet86. In ihr wurden die „eugenetische Neuorientierung“ der Wohlfahrtspflege, die „differenzierte Fürsorge“ und ein Sterilisierungsgesetz gefordert. Die Ergebnisse der Fachkonferenz brachte Harmsen in die entsprechende Sitzung des Preußischen Landesgesundheitsrates ein. Auf der 2. Evangelischen Fachkonferenz für Eugenik87 im folgenden Jahr beschäftigten sich die Teilnehmer mit den am 20. Januar 1932 unter dem Vorsitz 84 Der ärztliche Leiter der Anstalt Hephata Wilhelm Wittneben berichtete, dass er seit 21 Jahren Statistiken geführt und mit „photographischer Treue etwa 60% Belastung in jedem Jahr neu heraus bekommen habe“. Auch der Arzt der Alsterdorfer Anstalten Werner Villinger berichtete über erbbiologische Familienkarteien. Allein in 3,5 Jahren hatte er „100 Stammbäume von Familien gesammelt“. Auch in Bethel waren Karteien geführt worden. Bodelschwingh berichtete auf dieser Konferenz über „mehrere tausend Karten“, die in der Wandererherberge Hoffmannsthal erstellt worden waren. Protokoll der Fachkonferenz für Eugenik I, Archiv des Diakonischen Werkes/ Berlin (ADW), CA/G 1800/1, S. 64, 65 f. und 70. 85 Protokoll der Fachkonferenz für Eugenik I, ADW, CA/G 1800/1, S. 72–74. 86 Im Folgenden beziehe ich mich auf: Gegenwartsfragen der Eugenik, in: Archiv für Familienkunde, Sexualethik und Bevölkerungspolitik 1 (1931), S. 114–117. Vgl. Hans Harmsen, Gegenwartsfragen der Eugenik, in: Die Innere Mission 28 (1931), S. 336–339. 87 An der Konferenz, die diesmal in Berlin stattfand, nahmen 23 Personen teil. Es waren jedoch nur zum Teil die gleichen Personen, wie bei der ersten Konferenz. Hierzu gehörten v.Verschuer, Gerhard Kreyenberg, Friedrich Lensch, G. Dietrich, Stein und Hans Sommerer. Diesmal waren auch der Präsident des Centralausschusses Walter Jeep und der Leiter der Abteilung Wohlfahrtspflege Johannes Steinweg anwesend. Vgl. Liste der Teilnehmer an der 2. Fachkonferenz für Eugenik vom 2.–4. Juni 1932, ADW, CA/G 1800/2, S. 36.

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Konrad Adenauers im Preußischen Staatsrat verhandelten Forderungen nach der „Verminderung der Kosten für körperlich und geistig Minderwertige“. Darüber hinaus wurde die Ständige Kommission für eugenetische Fragen gegründet, deren Vorsitz der Direktor des Centralausschusses einnahm und der Mediziner, Theologen und Vertreter der Landes- und Provinzialverbände sowie der Kirche und Harmsen als Geschäftsführer angehörten88. Diese Kommission war mit ihren 35 Mitgliedern weit größer als die vorherigen Konferenzen89. Hier sollten Richtlinien und Stellungnahmen erarbeitet werden, mit denen in die Diskussion um die Eugenik eingegriffen werden sollte. In ihrer ersten Sitzung wurde hauptsächlich der Entwurf eines Sterilisierungsgesetzes, das eine vom Preußischen Landesgesundheitsrats eingesetzte Kommission erarbeitet hatte, diskutiert90. Unter Verweis auf die von ihm propagierte „differenzierte Fürsorge“ setzte sich Harmsen für eine „eugenisch“ indizierte Sterilisierung zur Verhinderung der Fortpflanzung von Personen ein, die als „Minderwertige“ bezeichnet wurden. Er forderte ein Sterilisierungsgesetz, das einen solchen operativen Eingriff nicht mehr als Körperverletzung einstufte. Ob eine Sterilisierung nur nach Zustimmung oder auch gegen den erklärten Willen einer Person als Zwangsmaßnahme von Seiten des Staates sollte vorgenommen werden können, war für Harmsen eher eine „theoretische“ Frage. In dieser Hinsicht argumentierte er aus der Praxis und vertrat die Ansicht, dass Ärzte mit Hilfe der mit ihrer Stellung auch über medizinische Fragen hinaus verbundenen Autorität Patienten zu einem solchen Eingriff wohl bewegen könnten91. Realiter waren in verschiedenen Anstalten bereits Patienten sterilisiert worden, womit gegen geltendes Recht verstoßen 88 Vgl. Hans Harmsen, Evangelische Gesundheitsfürsorge 1926–1936. Denkschrift anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes, zugleich Arbeitsbericht des Gesamtverbandes der deutschen evangelischen Kranken- und Pflegeanstalten und des Referats Gesundheitsfürsorge im Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche. Berlin 1936, S. 70 und ADW, CA/G 1600/2, ohne Paginierung. 89 Zu ihnen gehörten wiederum Carl Schneider, der 1934 von Werner Villinger abgelöst wurde, Eugen Anthes, Friedrich Happich, Hans Sommerer und Friedrich v. Bodelschwingh. Neu hinzugekommen waren der Medizinalrat Franz Klose (Kiel), die Ärzte Rudolf Boeckh (Neuendettelsau), Gerhard Bensen (Ricklingen/Holstein), Gustav Heyse (Bernburg), Ernst Georgi (Nieder-Ramstedt), die Pastoren Alfred Depuhl (Hannover), A. Nell (Hephata), Gerhard Füllkrug (CA), F. Ulrich (CA), Lindner (Berliner Hauptverein der IM), Theodor Wenzel (Ev. Wohlfahrtsdienst), Storek (Schlesischer Provinzialverband), Bodo Heyne (Bremen) u. a. Vgl. Teilnehmerliste der Fachkonferenz ADW, CA/G 1600/2. 90 Vgl. Hans Harmsen, Zum Entwurf eines Sterilisierungsgesetz, in: Gesundheitsfürsorge 7 (1933)1, S. 2–4. Die Vorberatungen zu einem Sterilisierungsgesetz waren am 2. Juli 1932 im Preußischen Landesgesundheitsrat durchgeführt worden. Bei diesen Verhandlungen war Harmsen als Vertreter des Centralausschusses anwesend. Vgl. Bericht über die Verhandlungen eines zusammengesetzten Ausschusses des Preußischen Landesgesundheitsrats vom 2. Juli 1932. Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung XXXVIII. Band, 5. Heft, Berlin 1932, S. (711) 83. 91 Sabine Schleiermacher, Sozialethik, S. 229 f.

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worden war. Zunächst ging es Harmsen hier um die juristische Absicherung ärztlichen Verhaltens. Ein Sterilisierungsgesetz wurde jedoch erst unter den Bedingungen des Nationalsozialismus verabschiedet. Die Ständige Kommission, jetzt Ständiger Ausschuß für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege, existierte fort, weiterhin unter der Leitung Harmsens. Er regelte nicht nur die Durchführung des Sterilisierungsgesetzes in den Anstalten der Inneren Mission, sondern sammelte Informationen über die Durchführung der Maßnahmen in den Anstalten, um Veränderungsvorschläge an das Reichsministerium des Inneren, manchmal in Form persönlicher Rücksprache, weiterzugeben. Harmsens Anmerkungen und Veränderungsvorschläge fanden ihren Niederschlag in späteren Durchführungsverordnungen zum Gesetz sowie in verschiedenen Gesetzesänderungen. Mit seinen Expertisen lieferte Harmsen das Material und die Vorlagen für eine qualitative Evaluierung des Sterilisierungsgesetzes im Sinne des Abgleichs der gesetzgeberischen Intention mit der Wirkung des Gesetzes in der Praxis92. Auch in der Bundesrepublik beschäftigte sich Harmsen mit dem Sterilisierungsgesetz. Diesmal im Auftrag der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege93 und der Pro Familia. Harmsen, der an dem Entwurf des Sterilisierungsgesetzes von 1932 mitgearbeitet und die Grundlagen für dessen Durchführung in den Einrichtungen der Inneren Mission während seiner Tätigkeit für den Centralausschuß (1933–1937) gelegt hatte, stellte 1959 aufgrund statistischer Auswertungen von Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsgerichtsurteilen fest, dass „die Erfahrung mit dem deutschen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 und die Fortschritte der Erkenntnis der Humangenetik“ gezeigt hätten, „daß in unserem Volk und unseren Familien vielfach eine Überschätzung der Erbbelastung“ bestanden habe94. Die „Sicherheit der wissenschaftlichen Grundlagen auf denen die Gesetzesfassung von 1933 beruhte“ sei falsch eingeschätzt worden, „durch Verweisung an die Erbgesundheitsobergerichte als zweite Instanz, . . ., konnten örtliche Einflüsse ausgeschaltet und neuere Erkenntnisse mitberücksichtigt werden.“ Gerichtliche Nachprüfungsverhandlungen hätten ergeben, dass „unter Zugrundelegung der Bestimmungen und Maßstäbe des seinerzeitigen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses der frühere Sterilisationsbe92

Vgl. Schleiermacher, Sozialethik. Die Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege wurde 1955 gegründet. Sie sollte die Aktivitäten der freien Organisationen im Gesundheitswesen bündeln. Alfons Labisch/C. Luetkens/J. von Troschke/W. von Stünzner, 40 Jahre Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege e. V. – die DZV stellte im Juni 1996 ihre Arbeit ein, in: Gesundheitswesen 58 (1996), S. 685–690. 94 Im folgenden zitiere ich aus: Bernhard Bornikoel/Hans Harmsen, Geburtenregelung und Eugenik. Stellungnahmen zu sexualethischen Gegenwartsfragen (Schriftenreihe der Evangelischen Akademie Hamburg), Hamburg 1959, S. 17–24. 93

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schluß in mehr als 2/3 aller Fälle“, vor allem bei Frauen hätte aufgehoben werden müssen, da hinsichtlich der Voraussage der Entwicklung insbesondere bei psychischen Krankheiten von Seiten der Ärzte Fehleinschätzungen vorgelegen hätten. Dennoch hielt Harmsen die eugenisch indizierte Sterilisation für notwendig, nicht jedoch als „negative staatliche erbpflegerische Maßnahme“. Vielmehr schien ihm der Entwurf des Sterilisierungsgesetzes des Preußischen Landesgesundheitsamtes von 1932 auch im Jahr 1959 noch eine „brauchbare Grundlage für die freiwillige Sterilisierung“ zu sein, „sofern nach den Lehren der ärztlichen Wissenschaft bei der Nachkommenschaft mit schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden zu rechnen ist“95. Als wissenschaftlicher Experte für Fragen der Eugenik agierte Harmsen nun in drei Arbeitszusammenhängen: Als Leiter des Studienkreises Geburtenregelung und Eugenik der Evangelischen Akademie Hamburg96, der von 1948 bis 1957 existierte, als Mitbegründer und Präsident der seit 1952 bestehenden Deutschen Gesellschaft für Bewusste Elternschaft – Pro Familia97 sowie 1964 als Leiter des Ausschusses für Familien- und Bevölkerungsfragen in der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege98. Während sich in der Pro Familia Mitglieder der Geburtenkotrollbewegung der Weimarer Republik99 sowie Ärzte, Universitätsprofessoren, Juristen, Fürsorger und Sozialarbeiter zusammenfanden, hatten sich im Ausschuß für Familienund Bevölkerungsfragen der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege100 Vertreter des Statistischen Bundesamtes, der Genetik, Medizin und Nationalökonomie versammelt. Regelmäßig nahmen hier auch Vertreter des Bundesministeriums für Familie und Jugend sowie des Ministeriums für Gesundheit an den Beratungen teil101. Harmsen hatte in den genannten Arbeitszusammenhängen Wissenschaftler, Praktiker und Politiker zusammengeführt. Themen ihrer Bera95

Bornikoel/Harmsen, Geburtenregelung, S. 20. Ebd., S. 4. 97 Ehrenpräsident Hans Harmsen 80 Jahre alt. pro familia magazin, Mai 1979. Darin: Pro Familia Informationen, S. 1–5, hier 2. Vgl. auch BArch N 1336/344. 98 Dieser Ausschuss hatte seit 1957 unter der Führung des Psychiaters Werner Villinger gestanden und als Ausschuss für Eugenik firmiert. Harmsen folgte Villinger nach dessen Tod im Vorsitz und sorgte auch für die Umbenennung. 99 Atina Grossmann, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control & Abortion Reform 1920–1950, New York 1995, S. 189–212. 100 Die Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege e. V. war ein Verein der Vereine, die von Wissenschaftlern, Fachleuten oder Politikern der Weimarer Republik geleitet wurden. „Es gelang der DZV (Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege, Verf.) damals, nicht nur die Wissenschaftler und Gesundheitspolitiker der Weimarer Zeit – und offensichtlich auch der NS-Zeit – mit aufstrebenden Wissenschaftlern und Disziplinen der frühen Bundesrepublik zusammenzubringen. Vor allem gelang es der Führung der DZV, namhafte Politiker in die Arbeit der DZV einzubeziehen und damit den politischen Rückhalt sowohl fachlich wie verbandlich zu stärken.“ A. Labisch u. a., 40 Jahre Deutsche Zentrale, hier S. 687. 96

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tungen waren Forschung und Entwicklungen in der Humangenetik ebenso wie Möglichkeiten der Durchsetzung von Eugenik im Rahmen von Gesundheitspolitik oder etwa der Strafrechtsreform der 60er Jahre. 1956 führte die Pro Familia einen Kongress zur Frage: „Probleme der ehelichen Sterilität, Sterilisierung, Abtreibung und Geburtenregelung“ durch, auf dem der Humangenetiker Hans Nachtsheim102 „auf dem Gebiet der Erbpflege eine erhebliche Rechtsunsicherheit“ beklagte und „einheitliche Gesetze, die die freiwillige Sterilisierung aus eugenischer Indikation regeln“, forderte103. In einer öffentlichen Stellungnahme an das Bundesjustizministerium und den Bundestagsausschuß für die Strafrechtsreform aus dem Jahr 1964 erachtete Pro Familia die „freiwillige Sterilisierung“ „nicht nur unter medizinisch-therapeutischen und medizinisch-prophylaktischen Gesichtspunkten“, sondern auch aus „eugenischen Gründen“ als gerechtfertigt104. Während gemäß der nach 1945 in diesem Bereich praktisch unveränderten Rechtslage Sterilisationen nur nach Beschluss von Experten und nach Feststellung einer Indikation vorgenommen werden konnten, war sie als Möglichkeit selbstbestimmter Empfängnisverhütung ins Gespräch gekommen. Zwar standen nun auch in der Argumentation der Pro Familia die individuelle Entscheidung der betreffenden Person sowie die „Freiwilligkeit“ im Vordergrund der Argumentation. Die Sterilisation nach eugenischer Indikation sollte aber beibehalten und nun in den allgemeinen Kontext der Geburtenregelung eingeordnet werden105, weshalb ein Sondergesetz allein zu ihrer Legitimation auch abgelehnt wurde. Eine staatlich gelenkte Familien- und Bevölkerungspolitik wurde von den Mitgliedern der Pro Familia allerdings zurückgewiesen. Ebenso wie die Pro Familia setzte sich der Arbeitsausschuss für Familien- und Bevölkerungsfragen der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege für die Neuformulierung eines „Gesetzes über freiwillige Unfruchtbarmachung“ ein, da die bisherigen Initiativen in Zusammenhang mit der Strafrechtsreform 1960 und 1962 ohne Erfolg geblieben waren.

101 Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege e. V., Ergebnisniederschrift des Arbeitsausschuß Bevölkerungs- und Familienfragen vom 7.2.1964, BArch N 1336/ 270. 102 Vgl. zu Nachtsheim die Dissertation von Alexander v. Schwerin, Tierzucht, Strahlen und Pigmente: Genetik und die Herstellung von Tiermodellen für die Humangenetik. Hans Nachtsheim und die vergleichende und experimentelle Erbpathologie in Deutschland (1920–1945). Diss. Institut für Geschichte der Medizin, Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften, Berlin 2003. 103 Nachtsheim referierte hier über „Schwangerschaftsunterbrechung und Sterilisierung aus eugenischen Gründen“. Vgl. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ehe und Familie, Landesgruppe Berlin vom 7. Januar 1956, in: Münchner Medizinische Wochenschrift 98 (1956), S. 1227–1229, hier S. 1228. 104 Forderungen zur Strafrechtsreform und zum geplanten Sterilisierungsgesetz. In: Pro Familia Mitteilungen Mai 1965, S. 13–20. 105 Ebd.

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Zu der vom Arbeitsausschuss für Familien- und Bevölkerungsfragen der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege am 22. September 1964 abgegebenen Erklärung und der von der Pro Familia am 8. November 1964 vorgelegten Stellungnahme zu einem Gesetz über freiwillige Unfruchtbarmachung, beide von Harmsen unterzeichnet, bezog Ministerialrat Georg Schwalm vom Bundesministerium für Justiz im April 1965 Stellung. In zahlreichen Aspekten existierten Übereinstimmungen zwischen dem Ministerium und den von Harmsen vertretenen Organisationen. Ebenso wie Harmsen vertrat Schwalm die Position, dass es sich bei der Unfruchtbarmachung aus eugenischen Gründen nicht um eine „bevölkerungspolitische populationsgenetische Maßnahme“ handeln dürfe. Unter Verweis auf eine Erklärung der Evangelischen Akademie in Hamburg, die bereits 1953 und ebenfalls von Harmsen formuliert worden war, handelte es sich bei der „eugenischen Indikation“ für Schwalm nicht um „bevölkerungspolitische Forderungen“ sondern um „eine humanitäre Frage“106. Im September 1965 bat das Bundesjustizministerium im Einvernehmen mit den Bundesministerien für Gesundheitswesen, für Familie und Jugend sowie des Innern die Pro Familia wie auch die Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege um eine Stellungnahme „zur gesetzlichen Regelung freiwilliger Unfruchtbarmachung“107. Für die Deutsche Zentrale antwortete ihr Arbeitsausschusses für Familien und Bevölkerungsfragen. Unter Bezug auf die „Denkschrift der WHO über die Aufgaben einer aktiven Erbgesundheitspflege“, an deren Erarbeitung schon ein Mitglied des Arbeitsausschusses, der Direktor des Instituts für Anthropologie und Humangenetik der Universität Heidelberg Friedrich Vogel mitgewirkt hatte, kam der Ausschuss zu dem Ergebnis, dass „bei der Neufassung der Körperverletzungsparagraphen . . ., . . . eine operative Unfruchtbarmachung, die aus zwingenden ärztlichen-medizinischen Gründen oder aus 106 Bundesministerium für Justiz, Prof. Dr. Schwalm, an Harmsen 2.4.1965, BArch N 1336/380. Bezug wurde auf folgenden Passus in der Erklärung genommen: „Die Ermöglichung der eugenischen Sterilisierung scheint bedeutsam in erster Linie für den Einzelnen, der als Individuum und Persönlichkeit, als Erbträger schwerer Erbkrankheiten mit starker Erbkraft, einen solchen Eingriff aus der Verantwortung vor dem möglichen Ehepartner und vor seinem Erbstrom wünscht. Die Forderung nach einer Sterilisierung kann aber auch innerhalb der Familie nach dem Auftreten schwerer durch Erbanlagen verursachter Schädigungen von Kindern Gewicht erhalten. So sehr die Hilfsbedürftigkeit eines Kindes in einer Familie eine Schule der Liebe sein kann, so gibt es doch auch Grenzen der inneren Tragfähigkeit innerhalb der Familie, die den sterilisierenden Eingriff als notwendig und berechtigt erscheinen lassen.“ Zitiert aus der Ergebnisniederschrift der dritten Sitzung des Arbeitsausschusses für Familien- und Bevölkerungsfragen der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege 24.9.1964, S. 7, BArch N 1336/350. 107 Dem Fragebogen zur gesetzlichen Regelung freiwilliger Unfruchtbarmachung des Bundejustizministeriums vom 14. September 1965 war als Anlage ein Auszug „aus dem schwedischen Gesetz vom 23. Mai 1941 über die Sterilisierung (Übersetzung aus dem Schwedischen) von LRG Horstkotte, Bundesjustizministerium“ beigelegt, BArch N 1336/271.

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eugenischer Indikation, d.h. auf Grund der Gutachten anerkannter Fachleute, erfolgt, nicht als Körperverletzung verfolgt werden kann. . . . Sollte eine Sondergesetzliche Regelung beabsichtigt werden, so soll . . . durch Einschaltung einer Gutachterstelle nicht nur die Einwilligung nach entsprechender Aufklärung sichergestellt werden.“ Darüber hinaus sprach sich der Ausschuss für eine „Meldepflicht“ „körperlich und geistig Behinderter“ aus108. Die Stellungnahme des Ausschusses der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege deckte sich mit der der Pro Familia. Auch in ihr wurde die Durchführung einer eugenisch indizierten Unfruchtbarmachung von der „Freiwilligkeit“ wie der „Einschaltung einer Gutachterstelle“ abhängig gemacht. „Die Forderung der freiwilligen Unfruchtbarmachung soll gleicherweise als berechtigt angesehen werden, wenn nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungen entsprechender Fachgutachter zu erwarten ist, daß Nachkommen körperlich, geistig oder psychisch erheblich geschädigt oder nicht lebensfähig wären.“109 Noch immer wollten Experten die Vornahme einer Sterilisation an ihre Entscheidung gebunden wissen. An die Sterilisation auf Wunsch einer einzelnen Person zum Zwecke der eigenen, selbstbestimmten Empfängnisverhütung war nicht gedacht, die Fortpflanzung der „Gesunden“ schien hier höhere Priorität genossen zu haben. Eine eugenisch indizierte Sterilisation war angesichts einer öffentlichen Diskussion nicht mehr durchsetzbar. In einem im Zweiten Deuten Fernsehen (ZDF) gesendeten Beitrag zum Thema Eugenik, war der Bezug zur Rassenhygiene und „Euthanasie“-Aktion im Nationalsozialismus hergestellt worden. Anlässlich des in Aussicht stehenden Euthanasie-Prozesses gegen den medizinischen Leiter des „Euthanasie“-Programms Aktion T 4, Werner Heyde, stand auch die Eugenik im Fadenkreuz des öffentlichen Interesses. Der leitende Redakteur Arno Schmuckler stellte die Frage: „Aber wo steht diese Wissenschaft 20 Jahre, nachdem verbrecherische Politiker sie zu ihrem Werkzeug machten?“110 In Reaktion auf diesen Beitrag bemerkte Harmsen, dass er es für „bedenklich“ halte, „das Thema Eugenik“ mit der „Tötung lebensunwerten Lebens“ zu verbinden. So schrieb er in einem persönlichen Brief: „Das Thema Eugenik scheint in den Massenmedien beliebt zu werden. Der Bayrische Rundfunk hat eine ähnliche Sendung gemacht . . ., die sich im übrigen auch gegen die Sterilisierung aus eugenischen Gründen wendet. . . . Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Sterilisierung im Strafrecht – entsprechend wie das für das Gebiet der Schwangerschaftsunterbrechung vorgesehen ist, wird uns in der nächsten Zeit 108 Stellungnahme zum Fragebogen des Bundesministeriums der Justiz betr. Ein „Gesetz über freiwillige Unfruchtbarmachung“, BArch N 1336/294. 109 Harmsen im Namen der Pro Familia an den Bundesminister für Justiz am 31.12.1965, BArch N 1336/271. 110 „In diesen Tagen“, Sendebeitrag „Eugenik“ am 15.1.1964 im Zweiten Deutschen Fernsehen (Redakteur Arno Schmuckler).

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noch vielfach zu beschäftigen haben, umso mehr liegt mir daran, daß falsche Aspekte und Zusammenhänge ausgeschaltet werden.“111 1974 bescheinigte Harmsen der Bundesrepublik in einem Brief an den Bundesminister für Justiz in Hinblick auf den „grundsätzlichen Verzicht auf die in den meisten Kulturländern anerkannte eugenische Indikation“ eine „erhebliche Rückständigkeit“112. II. Zusammenfassung Seit seinem ersten Berufsengagement hatte Harmsen bald die ihn durchgängig beschäftigenden Themenfelder erschlossen. Seine Funktionen als Geschäftsführer füllte er aus, indem er institutionelle Verbindungen zwischen Körperschaften herstellte, die nach innen formaler und inhaltlicher Kooperation dienten und nach außen die eigene Arbeit ebenso formal wie inhaltlich unterstützen sollten. Diese institutionellen Kooperationen waren von einem personalen Netzwerk mit vielen Mehrfachmitgliedschaften durchzogen, das sie gleichzeitig verband. Zur Koordination dienten Kommissionen und Konferenzen, die den Zusammenhalt sicherten und in denen Perspektiven und Strategien entwickelt wurden, sowie verschiedene, zum Teil in Harmsens Händen liegende Publikationsorgane, die zur Verbreitung und Durchsetzung eigener Ideen dienten. Harmsen hatte es verstanden, sich hiermit eine zunehmend einflussreichere Plattform zu schaffen, von der aus er eigene Vorstellungen umsetzen und die durch ihren wachsenden institutionellen wie personalen Umfang ausreichend Dynamik entwickeln konnte, um auch auf das politische Geschehen einwirken zu können, was nicht ohne Rückwirkungen für die Institutionen wie Netzwerkmitglieder blieb. Diese institutionellen und besonders personalen Netzwerke sowie die von ihnen bearbeiteten Themen zeichneten sich durch eine die unterschiedlichen politischen Systeme überdauernde Persistenz aus.

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Harmsen an Ilse Völker 6.3.1964, BArch N 1336/383. Anlass für das Schreiben war das am 21.6.1974 in Kraft getretene Gesetz über die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Mit dem Gesetz, so Harmsen, „ist zu dem nicht nur das Erbgesundheitsgesetz, sondern auch die 4. Ausführungsverordnung in Fortfall gekommen und damit auch die bisherige Mitwirkungsmöglichkeit des Amtsarztes, wodurch die Rechtsunsicherheit noch größer geworden ist“. Harmsen an den Bundesminister für Justiz, betr. Sterilisation geistig Behinderter vom 20.12.1974, in: Archiv der Forschungsstelle Zeitgeschichte im Institut für Geschichte der Medizin, Charité (ZHGB). 112

Der Nationalökonom als Politikberater Thema und Variation am Beispiel von Erich Preiser (1900–1967) Von Detlef J. Blesgen „. . . es ist ein zutreffender Grundsatz, daß ein Fürst, der nicht selbst klug ist, niemals gut beraten wird.“ Niccolò Machiavelli (Il principe)

Hat sich ökonomischer Sachverstand im politischen Entscheidungsprozeß durchgesetzt? Obgleich weder der grundsätzliche Nutzen (wirtschafts)wissenschaftlicher Beratung noch deren Notwendigkeit für politische Entscheidungsträger angezweifelt wird, wächst seit geraumer Zeit die Skepsis am Einfluß der Wirtschaftswissenschaften auf die Wirtschaftspolitik – zuweilen wird sogar befürchtet, die Ökonomie habe womöglich keine politiktauglichen Konzepte mehr zu bieten (z. B. zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit). Bezogen auf Deutschland unterscheidet dieser Argwohn die aktuelle Situation von ihrer jüngeren Vergangenheit; denn insbesondere für die ersten Jahrzehnte westdeutscher Nachkriegszeit ist die richtungsweisende Prägung ökonomischer Konzepte für politische Entscheidungen unstrittig. Dies gilt beispielsweise für die Währungsreform und das grundlegende Bekenntnis bundesdeutscher Politik zur Sozialen Marktwirtschaft, mit dem eine wirtschaftspolitisch zielgerichtete und sozialpolitisch tragfähige Konzeption erfolgreich eingeführt wurde1. Anscheinend waren aber die kontinuierliche Umsetzung dieser wissenschaftsfundierten Vorstellung und deren zielklare Weiterentwicklung nicht auf Dauer gewährleistet2. Immer mehr, so scheint es, vermag sich (beratender) Sachverstand – gleich welcher Gattung – nur noch in Ausnahmefällen durchzusetzen; anstatt seiner bestimmen offenbar Partikularinteressen, kurzfristige (Schein-)Erfolge, dogma1 Vgl. Gérard Gäfgen, Wissenschaftliche Beratung der Politik: Die Erfahrung der Ökonomen, in: Wissenschaftliche Beratung der Politik. Probleme und Erfahrungen. Symposion am 12.6.1987 in Bonn/Med.-Pharmazeut. Studienges., Mainz 1987, S. 11– 34, hier: S. 26 ff., 31; Klaus-Werner Schatz, Erfolge und Fehlschläge der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung, in: Wirtschaftsdienst (III/1999), S. 146–150, hier: S. 146 f. 2 Zur Neuausrichtung der „Sozialen Marktwirtschaft“ s.: Norbert Reuter, Aufbruch in die Vergangenheit. Die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ mißachtet Traditionen, auf die sie sich beruft, in: Die Zeit 42 (2001).

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tisch erstarrte Denkweisen und wenig reflektierte, unprogrammatische Ad-hocAktionen bzw. -Inszenierungen das politische Tagesgeschäft3. Obgleich daher für eine politische Beratung zweifellos komplexe Rahmenbedingungen gelten, wird im folgenden davon ausgegangen, daß ein gesellschaftliches Umfeld existiert, in dem ökonomisches Wissen eine Chance hat, Gehör zu finden. Darüber hinaus wird unterstellt, daß Politik im Interesse ideologieunabhängiger Sachentscheidungen weiterhin einer auf wissenschaftlichem Fundament ruhenden Beratung bedarf – der quantitative Ausbau des Systems der wissenschaftlichen Politikberatung (Sachverständigengremien, Beiräte, Enquetekommissionen, Aktionsbündnisse, runde Tische etc.) ist dafür ein Indiz4. Für den politisch verantwortungsbewußt beratenden Ökonomen stellt sich dabei auch die Frage, ob und ggf. inwieweit eigene wirtschaftspolitische Erkenntnisse und Überzeugungen bei der Bewältigung gesellschaftlicher und sozialer Aufgaben in den politischen Prozeß mit eingebracht werden können. Dieser Problemstellung wird am Beispiel des Nationalökonomen Erich Preiser (1900–1967) nachgegangen. Preiser war von 1948 bis 1967 Mitglied des „Wissenschaftlichen Beirats“ bei der „Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ bzw. dessen Nachfolger, dem „Wissenschaftlichen Beirat“ beim Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi), und beriet zusammen mit seinen Kollegen die Bundesregierung in drängenden wirtschaftlichen Fragestellungen5. Dabei erlangten die Gutachten des „Beirats“ insbesondere in der Früh3 Vgl. Klaus Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik. Ein Beitrag zur Theorie anwendender Sozialwissenschaften, Göttingen 1966, S. 195; zu dessen Modell wissenschaftlicher Politikberatung s. auch: Frank Hampel, Politikberatung in der Bundesrepublik: Überlegungen am Beispiel von Enquete-Kommissionen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (1/1991), S. 111–133, hier: S. 115 ff.; Carl Böhret, Reformen im Staat mittels Politikberatung?, in: Antje Blöcker et al. (Hg.), Die Reformfähigkeit von Staat und Gesellschaft. Festschrift für Klaus Lompe zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 81–96, hier: S. 89 ff.; zur Entwicklung der Politikberatung und des Beiratswesens vgl. ferner: Peter Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien, Probleme und Perspektiven im Kooperationsfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Münster/Hamburg 1993, bes. S. 68 ff. 4 Vgl. u. a.: Peter Oberender, Notwendigkeit, Möglichkeiten und Grenzen einer Politikberatung durch die Wissenschaft, in: Peter M. Schmidhuber et al. (Hg.), Beiträge zur politischen Ökonomie. Festschrift für Clemens-August Andreae, Bonn 1989, S. 81– 89, hier: S. 81 ff.; Böhret, Reformen, l.c., S. 85 f., 94 ff.; Manfred Mai, Wissenschaftliche Politikberatung in dynamischen Politikfeldern. Zur Rationalität von Wissenschaft und Politik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (3/1999), S. 659–673, hier: S. 659 ff.; Hans K. Schneider, Zur Einführung in die Arbeitstagung, in: ders. (Hg.), Grundsatzprobleme wirtschaftspolitischer Beratung. Das Beispiel der Stabilisierungspolitik. Verhandlungen auf der Arbeitstagung des Vereins für Socialpolitik in Baden-Baden 11.– 13. April 1967, Berlin 1968, S. 6–10, hier: S. 8 ff. u. Olaf Sievert, Die wirtschaftspolitische Beratung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ibd., S. 27–67, hier: S. 27 f. Zum aktuellen Stellenwert wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung aus Sicht der Bundesregierung vgl. den Art. „Neue Entwicklungen in der Wirtschaftswissenschaft“, in: BMF (Hg.), Monatsbericht des BMF (11/2001), S. 85–88, hier: S. 87 f.

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phase der Bundesrepublik einen erheblichen wirtschafts- und ordnungspolitischen Einfluß. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, den i. d. R. nur schwer zu fassenden individuellen Einflußfaktor für die politische Entscheidungsfindung darzustellen. Hierzu werden zunächst Preisers Werdegang, einige seiner Stationen als Berater und seine wirtschaftspolitischen Grundpositionen skizziert, um anschließend sowohl die Einwirkungsmöglichkeiten eines einzelnen Beiratsmitglieds auf die Stellungnahmen und Empfehlungen des Gremiums als auch die Grenzen einer Einflußnahme auf politische Entscheidungen aufzuzeigen6. I. Erich Preiser – Hochschullehrer, Forscher und Berater wirtschaftspolitischer Instanzen Erich Preiser, 1900 in Gera geboren, wuchs als ältester von drei Brüdern in Frankfurt am Main auf. An der dort 1914 gegründeten Universität studierte er zunächst Geschichte und Klassische Philologie, wandte sich dann aber der Nationalökonomie zu. Unter der Ägide von Franz Oppenheimer, dem nicht unumstrittenen Soziologen und Ökonomen, wurde Preiser 1923 mit der Dissertation „Die Marxsche Krisentheorie und ihre Weiterbildung“ summa cum laude zum Doktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften promoviert7. 1930 habilitierte er sich bei Wilhelm Rieger an der Universität Tübingen für das Gebiet der Privatwirtschaftslehre, der heutigen Betriebswirtschaftslehre. Nachdem ihm 1933 mit dem Werk „Grundzüge der Konjunkturtheorie“8 der wissenschaftliche Durchbruch gelang, wurde seine Venia legendi auf das Fach der Volkswirtschaftslehre erweitert. Die erfolgreiche Forscher- und Universitätskarriere, die hier nicht weiter skizziert werden kann, führte Preiser anschließend

5 Preisers langjährigem Wirken innerhalb dieses Gremiums wurde vom Verfasser bereits an anderer Stelle nachgegangen; vgl. Detlef J. Blesgen, Erich Preiser – Wirken und wirtschaftspolitische Wirkungen eines deutschen Nationalökonomen (1900–1967), Berlin u. a. 2000. 6 Davon getrennt zu untersuchen sind die Fragen, inwieweit konkrete Einzelempfehlungen aus Beiratsgutachten von der (Wirtschafts-)Politik aufgenommen wurden bzw. in welcher Form diese im Falle eines thematischen Aufgreifens innerhalb des politischen Prozesses eine Umsetzung und/oder Modifikation erfuhren; eine detaillierte Untersuchung dieses Gegenstandes verbietet hier jedoch der Textumfang. 7 Vgl. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 7 ff. Zu Oppenheimers Einfluß auf Preiser und auf dessen Werk s. u. a.: Erich Preiser, Franz Oppenheimer. Gedenkrede zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages, in: Franz Oppenheimer zum Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1964, S. 11–25; ders., Art. „Oppenheimer, Franz“, in: Erwin von Beckerath et al. (Hg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 8, Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1964, S. 102–104, hier: S. 102 ff. 8 Erich Preiser, Grundzüge der Konjunkturtheorie (Tübingen 1933), unveränd. Nachdruck, Tübingen, o. J. [1956].

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von Tübingen über Rostock und Jena nach Heidelberg und München, wo er 1967 verstarb9. Erich Preisers Bedeutung für die deutsche Nationalökonomie wird verständlich, wenn man sich auf deren Lage zwischen den beiden Weltkriegen zurückbesinnt. Neben der Ausprägung einer neo-marxistischen und einer eigenen sozial-rechtlichen Richtung hatte sich bereits im 19. Jahrhundert als deutscher Sonderweg die „Historische Schule“ herausgebildet, die sich damit von der internationalen Entwicklung, namentlich der anglo-amerikanischen, nachhaltig absetzte. Preiser, der von Anfang an auch die fachlichen Entwicklungen im Ausland interessiert verfolgte, wirkte in seinen wissenschaftlichen Werken darauf hin, der deutschen Nationalökonomie wieder zu internationalem Anschluß zu verhelfen10. Dabei suchte er jedoch – ganz im Sinne seines Lehrers Franz Oppenheimer – einen „dritten Weg“ zwischen marxistisch geprägtem Sozialismus, den er wegen dessen diktatorischer Züge ablehnte, und klassischem Laissezfaire-Kapitalismus, den er aufgrund der Machtanhäufung der Kapitaleigner nicht akzeptierte. Sein Ziel war eine Wirtschaftsordnung mit wirtschaftlicher Freiheit, jedoch ohne den Verzicht auf die Möglichkeit staatlicher Eingriffe zur Krisenbekämpfung und zu Strukturreformen11. Für dieses Ziel trat er auch bei seinen wirtschaftspolitischen Aktivitäten ein, die im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung stehen. II. Ausgewählte Stationen eines wirtschaftspolitischen Beraters 1. Die „Klasse IV“ der „Akademie für Deutsches Recht“ Preisers nicht erster, aber doch folgenreichster Kontakt zur Wirtschaftspolitik ergab sich im Jahre 1940, als er in die „Klasse IV zur Erforschung der völkischen Wirtschaft (Wirtschaftswissenschaft)“ unter dem Dach der Berliner „Akademie für Deutsches Recht“ berufen wurde, die im Januar diesen Jahres auf Betreiben von Reichswirtschaftsminister Walther Funk gegründet worden war. Zentrale Aufgabe der von Jens Jessen geleiteten Klasse war es, den Mangel einer eigenständigen nationalsozialistischen Wirtschaftsdoktrin durch Beratung der politischen Stellen zu kompensieren und die methodischen Prämissen u. a. für eine neue Wirtschaftsverfassung zu erarbeiten. In Erwartung eines 9

Vgl. ausführlich: Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 57–422. Vgl. bspw.: Wilhelm Krelle, Erich Preiser 29.8.1900–16.8.1967. Ein großer deutscher Nationalökonom, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 181 (1967/ 68), S. 490–517, hier: S. 496 ff.; Knut Borchardt, Art. „Erich Preiser“, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Neue Deutsche Biographie, Bd. XX, Berlin 2001, S. 687–688. 11 Vgl. Erich Preiser, Die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung (Stuttgart 1949), 5. Aufl., Göttingen 1968, S. 44 ff., 104 ff. 10

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schnellen Kriegsendes sollte zügig ein Konzept der Nachkriegswirtschaft erarbeitet werden, das die vermeintlich anstehende „europäische Neuordnung“ mit einbezog12. Es kann als sicher gelten, daß neben Erich Preisers Fachwissen insbesondere seine Kontakte zu den Freiburger Nationalökonomen um Walter Eucken und Adolf Lampe zu seiner Berufung in die „Klasse IV“ geführt haben – ungeachtet ihrer gemeinsamen Gegnerschaft zum NS-Regime. Dem Klassensekretär Jessen war es nämlich gelungen, in „seiner“ Klasse die wichtigsten noch in Deutschland verbliebenen Wirtschaftswissenschaftler unter dem offiziellen Dach der „Akademie für Deutsches Recht“ zu versammeln. Nachdem sich 1936 der traditionsreiche „Verein für Socialpolitik“ selbst aufgelöst hatte, um einer aufgezwungenen nationalsozialistischen Lenkung zu entgehen13, erlaubte jenes Akademie-Forum den beteiligten Ökonomen, relativ freie bzw. regimekritische Diskussionen und wurde damit zu einem „unauffälligen Gegengewicht“ zum „Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbund“14. Im Rahmen seiner fachlichen Arbeit innerhalb der „Klasse IV“ untersuchte Erich Preiser vor allem die Methoden und Finanzierungswege der von den Nationalsozialisten betriebenen Wirtschaftslenkung und analysierte deren volkswirtschaftliche Folgen15. 2. Die „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ Als die „Klasse IV“ im März 1943 wegen fehlender Kriegsnotwendigkeit partiell stillgelegt wurde, ergab sich für Erich Preiser die Gelegenheit, die begonnenen Arbeiten über die wirtschafts- und sozialpolitischen Möglichkeiten eines konsequenten und möglichst reibungslosen Übergangs von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft in einem kleineren, dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zuzurechnenden Kreis unter der Leitung des Bonner Nationalökonomen Erwin von Beckerath fortzusetzen. Erklärtes Ziel der geheimen Treffen 12 Vgl. Hauke Janssen, Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren, 2. Aufl., Marburg 2000, S. 210 ff., bes. 212 f.; Regina Schlüter-Ahrens, Der Volkswirt Jens Jessen. Leben und Werk, Marburg 2001, S. 74 ff. u. zu den nationalsozialistischen Vorstellungen eines wirtschaftlich neuen Europas vgl.: Walther Funk, Das wirtschaftliche Gesicht des neuen Europas, in: Verein Berliner Kaufleute und Industrieller und der Wirtschafts-Hochschule Berlin (Hg.), Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 2. Aufl., Berlin 1943, S. 17–41. 13 Vgl. dazu: Franz Boese, Geschichte des Vereins für Socialpolitik 1872–1932, Berlin 1939 u. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 121 f., 341, Anm. 13. 14 Vgl. bspw. Christine Blumenberg-Lampe, Oppositionelle Nachkriegsplanung: Wirtschaftswissenschaftler gegen den Nationalsozialismus, in: Eckhard John et al. (Hg.), Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg i. Br./ Würzburg 1991, S. 207–219, hier: S. 214 u. dies., Das wirtschaftspolitische Programm der „Freiburger Kreise“. Entwurf einer freiheitlich-sozialen Nachkriegswirtschaft. Nationalökonomen gegen Nationalsozialismus, Berlin 1973, hier: S. 30 f. 15 Vgl. Blesgen, Erich Preiser, S. 122 f., 125 ff.

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war es, ein tragfähiges wirtschaftspolitisches Programm für die Nachkriegszeit vorzubereiten16. Dieses sollte eine wirtschaftliche Normalisierung „unter menschenwürdigen, also freiheitlichen und sittlichen Normen entsprechenden, Bedingungen“ ermöglichen. „Gesucht wurde letztlich nach der Lösung des zentralen Problems der gesamten Zwischenkriegszeit: Der Schaffung einer diesen Kriterien genügenden stabilen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung.“17 Die zahlreichen von der „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ erarbeiteten Referate, Protokolle und Gutachten18 behandeln vielfältige Fragestellungen u. a. aus den Bereichen Wirtschafts- und Währungsordnung, Finanz- und Steuerpolitik, Arbeits- und Lohnpolitik. Dabei lassen die Ausarbeitungen eine große Nähe zu dem wenige Jahre später erfolgreichen Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ erkennen: Sie sind insgesamt von dem Versuch charakterisiert, der deutschen Ordnungs- und Wirtschaftspolitik eine dauerhafte, klar umrissene Perspektive jenseits einer zentralen (Kriegs-)Verwaltungswirtschaft und einer bloßen Rückkehr zum „Laissez-faire“ der Weimarer Republik aufzuzeigen – ein vergleichbares Ziel lag bereits Oppenheimers „drittem Weg“ zugrunde, das seither auch dessen Schüler Erich Preiser verfolgte. Die für eine nahe Zukunft entworfenen Konzepte der „Arbeitsgemeinschaft“ konnten freilich nur dann einen praktischen Nutzen haben, wenn ihre Resultate auch die politische Ebene erreichten. Damit also „der Wirtschaftspolitiker, dem die Wiederaufbauarbeit obliegt, wirklichen Nutzen von der Tätigkeit der Sozialökonomie“19 haben konnte, wurden Gutachten der Arbeitsgemeinschaft sowohl Carl Goerdeler „im Falle des Erfolges seiner politischen Bemühungen“20 als auch vermutlich dem ehemaligen Preußischen Finanzminister Johannes Popitz übermittelt21. Ein Abschluß der gemeinsamen Beratungen war der „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ jedoch nicht möglich, weil als Reaktion auf das gescheiterte Attentat vom 20. Juli 1944 auch Ökonomen verhaftet wurden, die dieser Arbeitsgemeinschaft angehörten. Nachdem die Todesurteile an Jens Jessen, Carl Goerdeler und Johannes Popitz bereits vollstreckt waren, verhinderte nur noch die deutsche Kapitulation weitere Gefangennahmen und Aburteilungen22.

16 Vgl. hierzu: Blumenberg-Lampe, Freiburger Kreise, l.c.; Schlüter-Ahrens, Jens Jessen, l.c., S. 78 f. 17 Norbert Kloten, Vorwort, in: Christine Blumenberg-Lampe (Bearb.), Der Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Referate, Protokolle, Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath 1943–1947, Stuttgart 1986, S. 9–17, hier: S. 17. 18 s. eingehend: Blumenberg-Lampe (Bearb.), Der Weg, l.c. 19 Lampe an von Beckerath vom 17.V.1943, zit. in: Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 151 f. 20 Lampe an Preiser vom 14.II.1946, zit. in: ibd., S. 152. 21 Vgl. ibd.

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3. Der „Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium“ Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Staates und angesichts der allgemein chaotischen Verhältnisse stand die Frage, wie ein wirtschaftlicher Neuaufbau auszusehen habe und angegangen werden könne, ganz oben auf der politischen Tagesordnung. In dieser Lage wurden daher bei der in Frankfurt a. M. angesiedelten „Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ Überlegungen angestellt, einen wirtschaftspolitisch beratenden „Braintrust“ zu bilden. Dort war man an leitender Stelle davon überzeugt, daß drastische und unbequeme Maßnahmen auf währungs- und wirtschaftspolitischem Gebiet notwendig waren, um die zahlreichen Fehlentwicklungen der deutschen Kriegs- bzw. Nachkriegszeit zu beheben. Die Wirtschaftsadministration erhoffte sich von einem unabhängigen sozialökonomischen „Gehirn-Kollektiv“ zum einen wissenschaftlich-fachlichen Rat bei der Lösung anstehender Probleme, zum anderen einen positiven Eindruck auf die ausländische öffentliche Meinung und die Alliierten, von deren Gunst dringend erforderliche Wirtschaftshilfen und Wiederaufbaukredite abhingen23. Bereits nach kurzer Vorbereitung trafen sich schließlich 26 Experten deutscher Hochschulen und der „Verwaltung für Wirtschaft“ am 23. Januar 1948 zur konstituierenden Sitzung des „Wissenschaftlichen Beirats“ in Königstein/ Taunus, unter ihnen zahlreiche Mitglieder der früheren „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ – zu nennen sind hier vor allem Franz Böhm, Walter Eucken, Adolf Lampe und Erich Preiser24. III. Politikberatung durch den „Wissenschaftlichen Beirat“ 1. Zusammensetzung und Arbeitsauftrag des „Beirats“ in geschichtlicher Perspektive Der „Wissenschaftliche Beirat“ ressortierte von Beginn an bei der Grundsatzabteilung der „Verwaltung für Wirtschaft“, später beim „Bundesministerium für Wirtschaft“. Um fachliche und politische Einseitigkeiten zu vermeiden, hatte die Wirtschaftsverwaltung die Beiratsmitglieder bewußt aus einem breiten ordnungspolitischen Spektrum ausgewählt25. Für die ersten Jahre seines Bestehens 22 Erich Preiser entging glücklicherweise einer Verhaftung; s. auch: BlumenbergLampe, Freiburger Kreise, l.c., S. 45 ff. u. dies. (Bearb.), Der Weg, l.c., S. 22 ff. 23 Vgl. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 222 ff. 24 Vgl. ibd., S. 452 ff. 25 Vgl. Woldemar Koch, Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für Wirtschaft, in: Erwin von Beckerath/Herbert Giersch (Hg.), Probleme der normativen Ökonomik und der wirtschaftspolitischen Beratung. Verhandlungen auf der Arbeitstagung des Vereins für Socialpolitik in Bad Homburg 2.–5. April 1962, Berlin 1963, S. 405–420, hier: S. 409 f.

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lassen sich die wissenschaftlichen Positionen der in den „Beirat“ Berufenen grob wie folgt gliedern: Einem signifikant „liberalen“ Flügel um Walter Eucken und Franz Böhm standen eher planwirtschaftlich-sozialistisch orientierte Fachvertreter wie Gerhard Weisser und Karl Schiller gegenüber. Dazwischen waren die individuellen Positionen vor allem durch die Betonung einzelner Nuancen geprägt: So ließe sich bspw. die Schnittstelle zu den Planwirtschaftlern durch die ordnungs- und wirtschaftspolitischen Standpunkte von Wilhelm Kromphardt und Alfred Müller-Armack ziehen, während der Übergang zur liberalen Seite durch die von der katholischen Soziallehre beeinflußten marktwirtschaftlichen Vorstellungen eines Oswald von Nell-Breuning bestimmt werden könnte26. Als wichtiges Merkmal seiner Unabhängigkeit liegt die Wahl des Beratungsgegenstands damals wie heute allein im Ermessen des „Wissenschaftlichen Beirats“27. Gleichwohl geht die Initiative zumeist vom Bundesministerium für Wirtschaft aus, das die Fragestellungen, zu denen die Bundesregierung wissenschaftlichen Rat einholen will, übermittelt. Der „Beirat“ entscheidet anschließend autonom über die Bearbeitung und die Gestaltung der zu erstellenden Gutachten. Um in der Öffentlichkeit dem Eindruck eines in ökonomischen Fragen geheimen Regierungskreises von vornherein zu begegnen, unterliegen die Stellungnahmen des „Beirats“ der öffentlichen Diskussion und Kritik. Zu diesem Zweck werden die Gutachten – anonymisiert um die individuellen Beiträge einzelner Mitglieder – publiziert. Über den Zeitpunkt der Veröffentlichung entscheidet jedoch das Bundeswirtschaftsministerium28. 2. Erich Preiser im „Wissenschaftlichen Beirat“ Erich Preisers eigene Arbeit im „Wissenschaftlichen Beirat“ ist vor dem Hintergrund der sich im Laufe der Zeit verlagernden Arbeitsaufgaben des Gremiums zu sehen. Im Gegensatz zu dem heute vorherrschenden – zumeist vom Tagesgeschäft losgelösten – langfristigen „Agenda-Setting“29 äußerte sich der „Beirat“ in den ersten Jahren seines Bestehens auch in momentgebundenen Situationsanalysen und kurzfristigen Stellungnahmen zu Themen mit akutem Beratungsbedarf30. Dabei besaßen seine Empfehlungen oftmals Grundsatz- bzw. 26

Vgl. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 224 f. Vgl. § 7 der „Satzung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium“. Die Satzung ist auf der Homepage des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (www.bmwi.de) einzusehen. 28 Vgl. Koch, Wissenschaftlicher Beirat, l.c., S. 405 ff.; Heinz J. Müller, Der Wirtschaftswissenschaftler als Berater wirtschaftspolitischer Instanzen, in: ibd., S. 503– 514, hier: S. 507; Krevert, Funktionswandel, l.c., S. 71 f. 29 Klaus F. Zimmermann (Hg.), Neue Entwicklungen in der Wirtschaftswissenschaft, Heidelberg 2002, S. 546. 30 Vgl. Koch, Wissenschaftlicher Beirat, l.c., S. 409 f. 27

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Signalcharakter für die bundesdeutsche Ordnungs- und Wirtschaftspolitik, so daß deren Bedeutung zum Teil bis in die Gegenwart anhält. Am Beispiel von Erich Preiser soll nun der Einfluß eines einzelnen Beiratsmitglieds auf einige der gemeinsamen Beiratsempfehlungen untersucht werden31. Hierzu ist es zunächst erforderlich, einige wesentliche wirtschaftspolitische Grundpositionen von Preiser zu skizzieren. a) Preisers wirtschaftspolitisches Grundverständnis Erich Preisers Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus wurde bereits angesprochen. Ursächlich für diese Suche war seine originäre Verbindung von Ökonomie und Soziologie: Preiser führte die ungleiche Einkommensverteilung und die damit einhergehenden Ungerechtigkeiten in der Marktwirtschaft auf das sog. „Quasimonopol“ der Kapitaleigner zurück, d.h. auf die Konzentration industriellen Vermögens in relativ wenigen Händen. Danach hat der einzelne Kapitalist zwar kein Monopol im Sinne der Preistheorie, wohl aber haben alle Kapitaleigner ein Quasimonopol an Produktionsmitteln. Deshalb sind sie den als vermögenslos dargestellten Arbeitern bei Lohnverhandlungen stets überlegen: Da der Arbeiter kein Vermögen hat, von dessen Ertrag oder Substanz er zehren kann, bis sich ein lukrativeres Arbeitsangebot ergibt, ist dieser gezwungen, auch schlecht entlohnte Tätigkeiten anzunehmen32. Vor diesem theoretischen Hintergrund ist also nicht der Markt bzw. die Marktwirtschaft für soziale Ungerechtigkeiten und Konjunkturschwankungen verantwortlich, sondern die Vormachtstellung der Kapitaleigner. Aufgrund dieser Erkenntnisse galt Erich Preisers Augenmerk der Verbesserung der Vermögenssituation der Arbeitenden bzw. der Begrenzung von übermäßigen Machtanhäufungen bereits Besitzender33. In einem gewissen unvollkommenen Sinne läßt sich Preisers „dritter Weg“ also als etwas bezeichnen, was später „Soziale Marktwirtschaft“ genannt wurde, nämlich: die Verbindung einer indirekten Steuerung des Wirtschaftsablaufes durch staatliche Konjunktur- und Verteilungspolitik mit einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsverfassung. Damit wird auch nachvollziehbar, warum Erich Preiser im „Beirat“ eine bedeutende Mittlerfunktion zwischen dem plan- und dem marktwirtschaftlich orientierten Flügel zukam.

31 Die Untersuchung wird möglich, weil die u. a. im Bundesarchiv erhaltenen Protokolle von Beiratssitzungen noch keine Anonymisierungen von Äußerungen einzelner Beiratsmitglieder enthalten, wie sie für die veröffentlichten Gutachten charakteristisch sind. 32 Zu den theoretischen Grundlagen s.: Preiser, Grundzüge, l.c., bes. S. 151 ff.; ders., Zukunft, l.c., S. 62 f. 33 Vgl. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 236 ff., 250 ff., 260 ff.

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b) Individuelle Einwirkungsmöglichkeiten am Beispiel der Vorschläge und Empfehlungen von Erich Preiser Die Gelegenheit zu gestalterischem Einfluß konnte sich für ein einzelnes Beiratsmitglied aus dem Ablauf der i. d. R. zweitägigen Tagungen ergeben. An deren Beginn stand zumeist ein vorbereitetes Referat zum festgelegten Tagungsthema, dem ein Korreferat folgen konnte. In einer anschließenden „Generaldebatte“, der sich bei Bedarf eine „Spezialdebatte“ anschloß, arbeiteten die Teilnehmer dann inhaltliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus34. aa) Anregungen durch Sachvorträge Im Juni 1950 tagte der „Wissenschaftliche Beirat“ zu Fragen der Geldschöpfung und Kapitalbildung. Die Grundlage für die Themenstellung ergab sich aus der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, die bis Februar 1950 sprunghaft auf über zwei Millionen angewachsen waren. Ausgelöst wurde dieser Zuwachs u. a. durch die Flüchtlings- und Vertriebenenströme, die zur Verschärfung der Faktordisproportion – zwischen arbeitsfähiger Bevölkerung und dem zerstörten bzw. eingeschränkten Kapitalstock – beitrugen. Auf politischer und auf wissenschaftlicher Seite war unstrittig, daß zur Verbesserung der beschäftigungspolitischen Situation der industrielle Kapitalstock wiederaufgebaut werden mußte, die Transport- und Infrastruktur wiederherzustellen waren und ein umfangreicher Wohnungsneubau anstand. Ungeklärt war dagegen die Frage, wie derartig umfangreiche Investitionen finanziert werden sollten35. Zu diesem Problem erarbeitete Preiser für den „Beirat“ ein Gutachten, das er auf der Tagung vortrug36. Seine Situationsanalyse führte – grob skizziert – zu folgenden Resultaten: Die Sparneigung der Bevölkerung war wegen des zu Kriegszeiten aufgestauten Nachholbedarfs zurückgegangen. Aufgrund der Inflationserfahrungen wurden zudem nur noch besonders liquide Anlageformen (Spareinlagen, Bausparverträge, Lebensversicherungen usw.) nachgefragt. Parallel dazu zeigten auch Kreditinstitute eine große Liquiditätsvorliebe. Unternehmer waren für ihre Investitionen somit auf teure kurzfristige Kredite angewiesen. Während neoliberale Ökonomen angesichts dieser Diagnose eine mittels Geldschöpfung initiierte Konjunktur- bzw. Beschäftigungspolitik wegen der möglichen Inflationsgefahr und des Risikos von Kapitalfehllenkungen zurück34

Vgl. ibd., S. 448 f. Vgl. ibd., S. 482 f. 36 Erich Preiser, Kapitalmarkt und Investitionen. Gutachten erstattet für die erste Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats am 10.VI.1950 in Unkel am Rhein; s. dazu ausführlich: Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 483–496. 35

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wiesen, forderte Erich Preiser eine expansive Fiskalpolitik zur Förderung arbeitsschaffender Investitionen: Die Mittel sollten durch staatliche Investitionslenkung zielgenau in diejenigen Bereiche geleitet werden, in denen Marktpreise zu sozial unerwünschten Ergebnissen führten, so z. B. im Wohnungs- und Bergbau. Um die Inflationsgefahr einzudämmen, sollte der Staat aber zugleich mit steuerlichen Maßnahmen nicht-liquide Sparformen fördern. Zeitgleich galt es, einen funktionsfähigen deutschen Kapitalmarkt wiederherzustellen und die verzerrten Zinssätze zu bereinigen. In seinen Ausführungen war Preiser der Hinweis wichtig, daß ein leistungsfähiger Kapitalmarkt nicht nur nach einem breiten Angebot von Wertpapieren und einem möglichst unbeschränkten Zutritt von Marktteilnehmern verlangte, sondern auch voraussetzte, daß die Wertpapiernachfrage in geeigneter Weise gesteigert wurde. An dieser Stelle verbanden sich seine kapitalmarkt- und investitionstheoretischen Überlegungen: Die Geldschöpfung würde die Liquidität der Geschäftsbanken erhöhen und folglich auch deren Bereitschaft zum Erwerb von Wertpapieren steigern. Zitat aus dem Gutachten Preisers: „Die GSch [sc. Geldschöpfung], die einen funktionsfähigen Kap’markt [sc. Kapitalmarkt] verlangt, trägt somit selbst dazu bei, einen solchen zu schaffen.“37 Wie sehr das am 11. Juni 1950 veröffentlichte Beiratsgutachten die Handschrift des Hauptreferenten trug, ist schon unmittelbar daran zu erkennen, daß das Gutachten Preisers Diagnose und seine Lösungsvorschläge zur Wiederherstellung eines funktionsfähigen Kapitalmarktes und der Investitionstätigkeit wiedergibt. Erich Preisers Kernthese wiederholte der „Beirat“ sogar im Wortlaut: „Die Geldschöpfung, die einen funktionsfähigen Kapitalmarkt verlangt, trägt schließlich selbst dazu bei, einen solchen zu schaffen.“38 Es zeigt sich also, daß ein vorbereiteter Sachvortrag eines Beiratsmitglieds dessen Möglichkeit erhöhte, nicht nur Elemente, sondern u. U. sogar die Generallinie des angesetzten Themas nachhaltig und deutlich zu beeinflussen. Im Falle ordnungspolitischer Grundsatzfragen konnten mit einer solchen Stellungnahme auch wirtschaftsund sozialpolitische Richtungen aufgezeigt bzw. Signalpunkte gesetzt werden, die auf Stellungnahmen und Empfehlungen späterer Beiratsgutachten auszustrahlen geeignet waren. bb) Einwirkungsmöglichkeiten mittels Formulierung(skommission) Nachdem der „Wissenschaftliche Beirat“ im Anschluß an die Referate in gemeinsamer Diskussion die Leitlinie zum Arbeitsthema festgelegt hatte, trat eine 37

Ibd., S. 496. Beiratsgutachten vom 11.VI.1950, in: BMWi (Hg.), Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft. Sammelband der Gutachten von 1948 bis 1972, Göttingen 1973, S. 85, Ziff. 17. 38

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interne Formulierungskommission zusammen, die sich aus drei bis sechs Beiratsmitgliedern zusammensetzte. Erich Preiser war, da er schnell und prägnant formulieren konnte, nahezu ständiges Mitglied dieses engeren Kommissionskreises, der die erörterten Gesichtspunkte zusammenbrachte und einen ersten Gutachtenentwurf ausarbeitete39. Wenngleich durch diese Tätigkeit die Stoßrichtung der Gutachten nicht in dem Maße bestimmt werden konnte, wie dies bspw. ein Referat gestattete, ergab sich doch für Mitglieder der Formulierungskommission aufgrund der Möglichkeit, konkrete wirtschaftspolitische Maßnahmen als Lösungsansatz zu akzentuieren oder zu verwerfen, eine weitere Gelegenheit zur Beeinflussung des gemeinsamen Gutachtens. Im Juni 1955 analysierte und beriet der „Beirat“ „Probleme einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik“. Preiser, der auch auf dieser Tagung der Formulierungskommission angehörte, brachte hier einige seiner bereits oben skizzierten wirtschaftspolitischen Überzeugungen ein: So sei volkswirtschaftliches Wachstum zwar eine hilfreiche Bedingung zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Einkommensbeziehern, aber der Vermögenszuwachs erfolge hierdurch nicht automatisch gleichförmig. Vielmehr konzentriere sich dieser Zuwachs aufgrund des bereits vorhandenen Besitzes und der kreditären Vorfinanzierung der Investitionen auf die Gruppe der Besitzenden. Damit werde die Aufteilung des Produktivitätsfortschritts zur politischen Aufgabe, und das Problem der wirtschaftlichen Macht rücke wieder in den Vordergrund40. Der anschließend veröffentlichte Gutachtentext läßt Preisers Überlegungen deutlich erkennen. Der „Wissenschaftliche Beirat“ hält dort fest, daß die durch den Produktivitätsfortschritt erzielbare Steigerung des Sozialprodukts allen Personen der Gesellschaft zugute kommen solle, also auch „den Beziehern von Sozialeinkommen und jenen Wirtschaftszweigen, bei denen Produktivitätsfortschritte nur in geringem Maße möglich sind.“41 Darüber hinaus solle die vom „Beirat“ empfohlene Lohnpolitik „nicht allein unter dem Gesichtspunkt des Ablaufs der Wirtschaft betrachtet werden, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der bestehenden und der erwünschten Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft.“42 Ausdrücklich wurde auch darauf hingewiesen, daß die Elastizität des Arbeitsangebots von Arbeitnehmern durch Eigentum bzw. Vermögensbesitz gesteigert werden könne43.

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Vgl. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 449. Vgl. ibd., S. 563 ff. 41 Beiratsgutachten vom 12.VI.1955, in: BMWi (Hg.), Wissenschaftlicher Beirat, l.c., S. 279 f., Ziff. 3. 42 Ibd., S. 282, Ziff. 14. 43 Zum Beiratsgutachten und zu vorausgegangenen Diskussionen s. auch: Gottfried Bombach, Vermögenspolitik unter veränderten Wachstumsbedingungen, in: Heiko Körner et al. (Hg.), Wirtschaftspolitik – Wissenschaft und politische Aufgabe. Fest40

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Unabhängig von der Gelegenheit für einzelne Beiratsmitglieder, innerhalb dieses Rahmens Einfluß auszuüben, zeigt sich hier die grundlegende Bedeutung und Notwendigkeit eines effektiven Formulierungsgeschicks. Schließlich muß wissenschaftsfundierter Rat allein erfolglos bleiben, wenn die erzielten Ergebnisse nicht auch prägnant und verständlich dargelegt werden, um die Öffentlichkeit und die politische Ebene zu erreichen: „Erst wenn Ökonomen selber, als Ökonomen, polyglott zu sprechen gelernt haben, beginnen sie zu verstehen, warum Politiker sie nur zum Teil verstehen. Es gibt hier keine eindeutige Lösung (wie Ökonomen es gelernt haben), sondern nur Szenarien, in denen man sich kontextsensibel zu bewegen lernen muß.“44 In diesen Situationen werden Wirtschaftswissenschaftler regelmäßig vor eine schwierige Aufgabe gestellt: Die erarbeiteten Ergebnisse müssen zugunsten der allgemeinen Verständlichkeit vereinfacht werden, ohne daß dabei die Kernaussage, die zumeist in der Differenzierung eines bereits bekannten Sachverhalts liegt, verloren gehen darf45. Erich Preisers Erfolg als Hochschullehrer und als Mitglied des „Wissenschaftlichen Beirats“ ist zweifellos zu einem erheblichen Maße auf seine Fähigkeit zurückzuführen, ökonomische Zusammenhänge sowie wirtschaftspolitische Handlungsoptionen und -notwendigkeiten einem breiten Publikum zu vermitteln. Hierzu bediente er sich, davon zeugen zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen46, einer klaren, zugleich aber außerordentlich einprägsamen Sprache.

schrift zum 65. Geburtstag von Karl Schiller, Bern/Stuttgart 1976, S. 373–390, hier: S. 374 ff., 388 f., bes. Fn. 3 u. 6. 44 Birger P. Priddat, Ökonomik, Politik, Beratung – Einige Fragen, in: Wirtschaftsdienst (III/1999), S. 151–154, hier: S. 154; vgl. dazu auch: Kurt Schmidt, Warum guter Rat teuer ist – Kritisches und Selbstkritisches zur wissenschaftlichen Politikberatung, in: Franz X. Bea/Wolfgang Kitterer (Hg.), Finanzwissenschaft im Dienste der Wirtschaftspolitik. Dieter Pohmer zum 65. Geburtstag, Tübingen 1990, S. 3–18, hier: S. 11 ff. 45 Vgl. Hans-Jürgen Krupp, Die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse – Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten der Mittler: der Wissenschaftler, in: Burckhard Wiebe (Hg.), Zwischen Marktplatz und Elfenbeinturm – Gesellschaft und Sozialwissenschaften, Berlin 1988, S. 97–101, hier: S. 97 ff.; Arnold Koller, Politikberatung durch die Wirtschaftswissenschaften in den neunziger Jahren, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik 125 (1989), S. 223–231, hier: S. 226, 230. 46 Neben der „Zukunft unserer Wirtschaftsordnung“ (l.c.) sind hier vor allem Preisers populäre Einführung in die Volkswirtschaftslehre „Nationalökonomie heute“ (Erstaufl. 1959) anzuführen, die aus einer Sendereihe des Bayerischen Rundfunks hervorging und bislang 15 Auflagen erlebte, sowie der Band „Bildung und Verteilung des Volkseinkommens. Gesammelte Aufsätze zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik“ (Erstaufl. 1957).

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cc) Ex-post-Einwirkung Eine weitere Einwirkungsmöglichkeit, von der einige Beiratsmitglieder – allerdings nur selten – Gebrauch machten, war die Veröffentlichung eines Fachbeitrages im Anschluß an ein publiziertes Gutachten. Diesen Weg schlug bspw. Gerhard Weisser 1948 ein, um einige „Thesen zur Ordnung der Wirtschaft nach der Währungsreform“, die auf Teilen eines Minderheitengutachtens des „Beirats“ basierten, öffentlich und prononciert zum Ausdruck zu bringen47. Auch Erich Preiser veröffentlichte Auszüge seines vor dem „Beirat“ gehaltenen Referates über „Kapitalmarkt und Investitionen“ unter einem anderen Titel in den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik“.48 In einem Fall ist auch eine Indiskretion dokumentiert. So kritisierte eine Beiratsempfehlung vom Februar 1950 die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, weil das von den Mitgliedern des „Beirats“ seit langem geforderte Monopolgesetz nicht verabschiedet worden war und die Reform des Wirtschaftsrechts noch immer ausstand. Die Adressaten der beirätlichen Kritik hatten vorgesehen, dieses Gutachten später gemeinsam mit einer Regierungserklärung zu veröffentlichen. Hierzu kam es jedoch nicht, weil sein Inhalt schon zwei Tage zuvor durch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bekannt wurde49. Auch wenn die Kritik in diesem Fall die taktische Situation der Bundesregierung erschwerte und die vorzeitige Bekanntgabe von wissenschaftlichem Rat zu keinem unmittelbaren politischen Gewinn führte, wird im Umgang von Politikberatern bzw. eines politikberatenden Gremiums mit den Medien ein weiterer Aspekt deutlich: Die „Überzeugung, daß wissenschaftliche Politikberatung zur Rationalisierung des politischen Prozesses beitragen kann, ist eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Voraussetzung für Beratungserfolge“50; denn oftmals ist eine Beeinflussung – selbst der unmittelbaren Adressaten wissenschaftlicher Politikberatung – in einer massenmedial versorgten Gesellschaft auf dem „Umweg“ der Medienberichterstattung leichter möglich als über wissenschaftliche Gutachtentexte. Unter Umständen kann es sich sogar als ausreichend erweisen, daß nicht der politisch Handelnde, sondern die Öffentlichkeit von der Richtigkeit der Vorschläge überzeugt wird. Dies setzt auf der „Nachfrageseite“ 47 Vgl. Gerhard Weisser, Leitsätze zur Ordnung der Wirtschaft nach der Währungssanierung, in: Finanzarchiv 11 (1949), S. 429–478; s. auch: Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 473 f. u. S. 630 f., Anm. 28. 48 Vgl. Erich Preiser, Geldschöpfung oder Sparen? Ein Beitrag zur Diskussion um die aktive Konjunkturpolitik, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 162 (1950), S. 245–259; s. auch: Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 482 f. 49 Erich Preiser war an dem Vorfall nicht beteiligt. Vgl. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 450 f. 50 Stephan Ruß-Mohl, Die Vermittlung sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse – Medienberichterstattung und wissenschaftliche Politikberatung, in: Burckhard Wiebe (Hg.), Marktplatz, l.c., S. 89–95, hier: S. 92.

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eine umfassende Verbreitung und öffentlich-wissenschaftliche Diskussion politikberatender Stellungnahmen und auf der „Angebotsseite“ eine entsprechende Einflußnahme wissenschaftlicher Politikberatung auf die Medienberichterstattung voraus51. Für den „Wissenschaftlichen Beirat“ ist hier festzuhalten, daß es diesem zumindest in den ersten Jahren seines Bestehens gelang, in eine breite Öffentlichkeit hineinzuwirken – seine Stellungnahmen erreichten sowohl die öffentliche Meinung als auch die Fachöffentlichkeit. Allerdings ging dieser Aufmerksamkeitsbonus nach der Gründung des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (SVR) im Jahre 1963 mehr und mehr auf das neue Gremium über. c) Grenzen akademischen Rats auf politische Entscheidungen aa) Mehrheits- vs. Minderheitsvoten Das Einbeziehen von Anhängern z. T. konträrer gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Programme in den „Wissenschaftlichen Beirat“ mußte unter dessen Mitgliedern zwangsläufig auch zu Richtungsdivergenzen führen. Anfänglich waren diese Meinungsunterschiede auch für die Öffentlichkeit deutlich erkennbar. So wurde bspw. dem ersten Beiratsgutachten ausdrücklich ein Minderheitengutachten gegenübergestellt, in dem die Protagonisten eines mehr planwirtschaftlichen Systems ihre Meinung vertraten. Da durch ein derartiges Vorgehen, das vor allem bei unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen den Teilnehmern Anwendung fand, die öffentliche Wirkung der Aussagen insgesamt litt, sollten getrennte Stellungnahmen aber „nach Möglichkeit“ vermieden werden. Differenzen und Dissenspunkte wurden daher später immer öfter in Fußnoten zu den jeweiligen Gutachten und nicht mehr als separate Minderheitenvoten dargestellt. Zugleich bildeten sich unter den Beiratsmitgliedern durch die langjährige Zusammenarbeit innerhalb eines sich in der Zusammensetzung nur wenig verändernden Gremiums eine „weitgehende Übereinstimmung“ und ein hoher Grad „von Verständnis für die gegenseitigen Argumente“ heraus52. Die starke Betonung des Gemeinsamen geht freilich auch mit der Gefahr einher, daß die Vielfalt wissenschaftlicher Meinungen und Richtungen innerhalb des Gremiums verlorengehen kann. Dieses Problem erfährt bei der Neubeset51 Vgl. ibd., S. 89 ff. u. Zimmermann (Hg.), Neue Entwicklungen, l.c., S. 546 ff.; s. ferner: Ortwin Renn, Sozialwissenschaftliche Politikberatung. Gesellschaftliche Anforderungen und gelebte Praxis, in: Berliner Journal für Soziologie 9 (1999), S. 531–548, hier: S. 541 f. 52 Müller, Wirtschaftswissenschaftler, l. c., S. 507; vgl. auch: Koch, Wissenschaftlicher Beirat, l.c., S. 409 f. u. zur Problematik von Minderheitsvoten s.: Schmidt, Guter Rat, l.c., S. 9 ff.

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zung von Beiratsmitgliedern eine gewisse Intensivierung; denn die Berufung und Abberufung erfolgt auf Vorschlag des „Beirats“ durch den Bundesminister für Wirtschaft. Trotz der dabei formal gewahrten Unabhängigkeit gegenüber der Administration birgt das Ko-Optationsverfahren jedoch das Potential, dogmatische wirtschaftspolitische Positionen durch Lehrer-Schüler-Nachfolgen über einen langen Zeitraum zu verfestigen und die Berücksichtigung von Vertretern theoretischer Minderheitspositionen weitgehend zu verhindern53. Im Gegensatz zur Politik, in der Mehrheitsvoten dazu führen können, daß Minderheitspositionen nicht weiter verfolgt werden, ist die Wissenschaft aber auf Minderheitsmeinungen, in denen schließlich „Wahrheit“ liegen kann, angewiesen54. Da also die Unabhängigkeit der Wissenschaft nicht dem Schutz „herrschender“ Lehren dient, sondern vor allem auch der Entfaltung und Konzipierung neuer, anti-orthodoxer Problemlösungsansätze, kann es auch nicht Aufgabe wissenschaftlicher Beratung sein, „Harmonie herzustellen, wo keine Harmonie möglich ist“55; konsensfähige Lösungen zu liefern, bleibt vielmehr Aufgabe der politisch Handelnden56. bb) Gutachtenveröffentlichungen Eine weitere Begrenzung einer individuellen Einflußnahme ergibt sich aus dem Veröffentlichungszeitpunkt der Beiratsgutachten; denn bereits 1950 behielt sich das BMWi die Entscheidung der Frage vor, „ob und wann die erteilten Gutachten zu veröffentlichen sind.“57 Für die Beiratsmitglieder ist es daher nicht vorhersehbar, ob ihre Stellungnahmen umgehend oder mit einem time-lag veröffentlicht werden. So ergab sich die vermutlich größte zeitliche Verzögerung beim Gutachten zur Aufwertung der Deutschen Mark, das bereits im April 1957 beschlossen worden war, aber vom Bundeswirtschaftsministerium erst im März 1961 freigegeben wurde. In einem solchen Fall ist natürlich die Frage berechtigt, „inwieweit eine solche verzögerte Publikation noch als ,Veröffentlichung‘ anzusprechen ist“.58 53

Vgl. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 609 f. Vgl. Hans-Jürgen Krupp, Wissenschaftler und Politiker: Unterschiedliche Rollen, in: Wirtschaftsdienst (III/1999), S. 139–143, hier: S. 139 ff.; s. auch: Gebhard Kirchgässner, Ideologie und Information in der Politikberatung: Einige Bemerkungen und ein Fallbeispiel, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 41 (1996), S. 9–41, hier: S. 14 f. 55 Oberender, Notwendigkeit, l.c., S. 87. 56 Vgl. Hans-Jürgen Krupp, Wissenschaftler und Politiker, l.c., S. 139 f.; zu den Faktoren wissenschaftlicher Politikberatung s. auch: Renn, Sozialwissenschaftliche Politikberatung, l.c., S. 537 ff. 57 Protokoll der 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft am 10./11.VI.1950 in Unkel/Rh., zit. in: Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 450. 54

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Bei der Würdigung des Sachverhalts muß freilich auch berücksichtigt werden, daß der „Wissenschaftliche Beirat“ stets Gefahr lief, zum Gefangenen seiner eigenen Autorität zu werden. Dadurch, daß die Öffentlichkeit ihn oftmals als quasi-offizielles Organ der Wirtschaftspolitik ansah, konnte bereits das Wissen um ein konkretes Beratungsthema oder Gutachten spekulative Erwartungshaltungen (z. B. Devisenbewegungen) auslösen59. Während es derartige Reaktionen aus Regierungssicht gerade zu vermeiden galt60, gehört es andererseits zu den „Spielregeln der akademischen Ethik“, daß auch solche Erkenntnisse und Schlußfolgerungen offengelegt werden, die gegen die Interessen der Forscher oder gegen die politischen Zielrichtungen ihrer Finanziers sprechen können. Schließlich erwuchs der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Beratung gerade aus dem kritischen Verhältnis von Wissenschaft und Politik ihre „legitimatorische Kraft“61. Das Spannungsfeld zwischen (Wirtschafts-)Wissenschaft und Politikberatung mag in Einzelfällen – wie oben angesprochen – auch dazu geführt haben, daß Beiratsmitglieder als besonders wichtig empfundene wirtschaftspolitische Erkenntnisse und/oder Empfehlungen, die sie in den verabschiedeten Beiratsgutachten nicht oder nur unzureichend umgesetzt sahen, außerhalb von beirätlichen Äußerungen bspw. in Fachperiodika thematisierten62. Dabei ist freilich Diskretion zu wahren; denn gemäß der – erstmals im Jahre 1958 formell in eine Satzung gekleideten – Befugnisse und Bindungen des „Wissenschaftlichen Beirats“ haben dessen Mitglieder nicht nur über die ihnen für ihre Arbeit zur Verfügung gestellten Informationen Verschwiegenheit zu bewahren, sondern sind darüber hinaus auch dazu verpflichtet, „den Gegenstand der Beratungen sowie die gutachterlichen Äußerungen des Beirats vertraulich zu behandeln“63.

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Müller, Wirtschaftswissenschaftler, l.c., S. 507. Aus diesem Grund wird bereits die Themenauswahl zu einem wichtigen Bestandteil der Beratung und unterliegt oft einer eigenen Diskussion; vgl. Schmidt, Guter Rat, l.c., S. 11 f. 60 Vgl. Koch, Wissenschaftlicher Beirat, l.c., S. 406 f. 61 Ruß-Mohl, Vermittlung, l.c., S. 94 f.; s. ferner: Kirchgässner, Ideologie, l.c., S. 15 f.; Zimmermann, Neue Entwicklungen, l.c., S. 547 u. Jürgen Bellers, Über Möglichkeiten und Grenzen der Politikberatung, Diskussionspapier des Faches Politikwissenschaft der Universität GH Siegen 26 (1999), hier bes. S. 16 ff. 62 s. dazu weiter oben. Darüber hinaus wird natürlich auch der Wunsch, eine konkrete theoretische Argumentation und/oder wirtschaftspolitische Konzeption in einem wissenschaftlichen Periodikum der Fachwelt vorzustellen und zu erläutern, zur Bearbeitung von im „Beirat“ behandelten Problemen geführt haben. 63 § 8 der „Satzung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium“ vom 28.II.1958, in: BMWi (Hg.), Gutachten vom Januar 1957 bis März 1961 (Bd. 5), Göttingen 1961, S. 111–113, hier: S. 113; die aktuelle Fassung des § 10 der Beiratssatzung (www.bmwi.de) ist inhaltlich im wesentlichen unverändert. 59

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cc) Unabhängigkeit, politische Opportunität und Kontrolle der Beratung Auf der ersten Tagung des „Wissenschaftlichen Beirats“ im Januar 1948 hatte Johannes Semler, seinerzeit Direktor der „Verwaltung für Wirtschaft“, zugesichert, daß die Mitglieder des „Beirats“ in „vollster Freiheit“ beraten könnten, da ihr wissenschaftlicher Rat nur dann Wert habe. Deshalb sei es insbesondere nicht Aufgabe des Gremiums, Auffassungen der Wirtschaftsverwaltung durch Gutachten oder adäquate Meinungsäußerungen fachlich zu stützen64. Die zentrale Bedeutung, die die Administration dem Ziel unabhängiger wissenschaftlicher Beratung zumaß, zeigt sich auch an der fehlenden monetären Vergütung der in den „Beirat“ Berufenen: Deren Arbeit war ehrenamtlich und sollte „weder direkt noch, etwa durch die Vergabe von Gutachtenaufträgen, indirekt honoriert“65 werden66. Das Kriterium „Unabhängigkeit“ trug zweifellos mit dazu bei, daß sich die Gutachten des „Beirats“ weniger an der politischen Opportunität des Augenblicks orientierten und daß er „auf jede Anpassung seiner Empfehlungen an das jeweils politisch Durchsetzbare“67 verzichtete. Andererseits resultierte aus dieser Vorzugsstellung des „Wissenschaftlichen Beirats“ gegenüber anderen speziell für konkrete Aufgaben geschaffenen Sachverständigenkommissionen ein vergleichsweise geringerer politischer Einfluß. Vor allem seitdem die situationsbzw. momentgebundenen Analysen des „Beirats“ vom „Sachverständigenrat“ übernommen wurden, finden dessen Stellungnahmen seitens der Politik und der Medien regelmäßig eine größere Beachtung als dies (Vorab-)Publikationen vom „Beirat“ erstellter Gutachtentexte beschieden ist68. In diesem Zusammenhang wird daher immer wieder eine stärkere Bindung wissenschaftlichen Rats an die politische Exekutive nach dem Vorbild des ame64

Vgl. Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 448 f. Hans Möller, Vorwort des Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft, in: BMWi (Hg.), Wissenschaftlicher Beirat, l.c., S. XVII–XXIII, hier: S. XIX. 66 Dieser Grundsatz wurde nicht durchweg eingehalten; denn 1950 befaßte sich der Beirat mit der Frage, inwieweit man zu dem „bereits einmal versuchten Verfahren“ übergehen könne, neben den Tagegeldern auch „ein Honorar für die Referate (. . .) auszuwerfen.“ Protokoll der 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft am 10./11.VI.1950 in Unkel/Rh., zit. in: Blesgen, Erich Preiser, l.c., S. 450. 67 Koch, Wissenschaftlicher Beirat, l.c., S. 420; zu diesem Ansatz s. ferner: Carl Christian von Weizsäcker, Wissenschaftliche Beratung der Wirtschaftspolitik, in: Wirtschaftsdienst (III/1999), S. 143–146, hier: S. 144 f. 68 Vgl. J. Heinz Müller, Der Wirtschaftswissenschaftler als Berater wirtschaftspolitischer Instanzen, in: Heinrich Mäding/Friedrich L. Sell/Werner Zohlnhöfer (Hg.), Die Wirtschaftswissenschaft im Dienste der Politikberatung. Grundsatzfragen und Anwendungsbereiche. Theodor Dams zum 70. Geburtstag, Berlin 1992, S. 67–76, hier: S. 71 f. 65

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rikanischen „Council of Economic Advisers“ als eine Alternative diskutiert. Zum einen hätten Vorschläge eines solchen auf Zeit berufenen regierungsnäheren Gremiums voraussichtlich höhere Chancen auf politische Um- bzw. Durchsetzung, zum anderen wird angeführt, daß hierdurch die „normative Grundausrichtung der Gutachter besser legitimiert (werde) – ein unabhängiges Gremium sei hingegen zu größerer Pluralität verpflichtet“69. 3. Preiser als wirtschaftspolitischer Berater Erich Preisers Tätigkeit im „Wissenschaftlichen Beirat“ war auf Konsens und Kompromiß ausgerichtet und verfolgte das Ziel, zwischen akademischem „Geist“ und politischer „Macht“ eine wirtschafts- und sozialpolitisch tragfähige Verbindung zu errichten70. Gleichwohl verlor er dabei weder seine ordnungsund sozialpolitische Überzeugung aus den Augen, noch ging er in Fragen der Vermittlung von wissenschaftlicher Unbedingtheit Kompromisse ein. Zur Beeinflussung politischer Entscheidungen bzw. zur Umsetzung eigener Positionen setzte Preiser nicht auf den persönlichen Kontakt zu politischen Entscheidungsträgern oder zur Tagespresse. Er vertraute vielmehr auf die Wirkung streng-wissenschaftlicher Analyse und verstand es glänzend, seine Erkenntnisse und politischen Empfehlungen einem interessierten Fachpublikum in Vorträgen, Vorlesungen und Veröffentlichungen zu vermitteln. Damit hob er sich durchaus von anderen Fachvertretern seiner Zeit ab, deren wirtschaftspolitischer Rat – auch durch gezieltes persönliches Engagement, wie z. B. bei Wilhelm Röpke, 69 Peter Westerheide, Wissenschaftliche Politikberatung: Dreißig Jahre Erfahrungen des Sachverständigenrates, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 59 (1/1994), S. 29–32, hier: S. 30 f.; vgl. auch: Krupp, Wissenschaftler und Politiker, l.c., S. 141 f. Die Empfehlung eines analog zum „Council of Economic Advisers“ zu berufenden Beraterstabes wurde jüngst erneut in einer vom BMF in Auftrag gegebenen Studie unterbreitet (Zimmermann, Neue Entwicklungen, l.c., S. 269 f., 546); s. dazu auch die Stellungnahme der Bundesregierung (Art. „Neue Entwicklungen“, l.c., S. 87 f.); zur Konzeption und wirtschaftspolitischen Beratung durch den SVR sowie zu dessen Unabhängigkeit vgl.: Sievert, Beratung, l.c., S. 28 ff.; Karl Georg Zinn, Politik und Sachverständigenmeinung – Sachverständigenrat und Council of Economic Advisers im Vergleich, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 29 (3/1978), S. 179–188; Henry C. Wallich, Der Council of Economic Advisers, in: Erwin von Beckerath/Herbert Giersch (Hg.), Probleme der normativen Ökonomik, l.c., S. 472–488 u. Müller, Wirtschaftswissenschaftler, in: ibd., S. 509 f. 70 s. auch: Lompe, Wissenschaftliche Beratung, l.c., S. 193 f. Zum Themenbereich ökonomischer Politikberatung s. außerdem: Alan Peacock, Der Nationalökonom als Berater der Wirtschafts- und Finanzpolitik, in: Wirtschaftspolitische Blätter 33 (1986), S. 638–650; Holger Bonus, Information und Emotion in der Politikberatung – Zur Umsetzung eines wirtschaftstheoretischen Konzepts, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 138 (1982), S. 1–21 u. Gert G. Wagner, Sozialberichterstattung und Politikberatung, in: Wolfgang Glatzer/Roland Habich/Karl Ulrich Mayer (Hg.), Sozialer Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung, Festschrift zum 65. Geburtstag von Wolfgang Zapf, Opladen 2002, S. 405–420.

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Alfred Müller-Armack oder Franz Böhm – ein in mancher Hinsicht bemerkenswertes politisches Gewicht erlangte. Entscheidendes Merkmal von Preisers wirtschaftspolitischer Beratungstätigkeit ist folglich der bewußte Verzicht auf unmittelbares Tätigwerden im politischen Raum71. Insofern bietet Erich Preisers Wirken ein geradezu klassisches Beispiel dafür, daß „Ökonomie (..) keine Transformation in Politik leisten, sondern, als Beratung, ein Angebot zur Kommunikation bieten (kann), in dem ökonomische Gründe eine besondere Rolle spielen. Ob oder inwieweit diese Gründe akzeptiert werden, entscheidet der politische Prozeß, nicht mehr der Ökonom.“72 IV. Fazit Im Nachkriegsdeutschland hat sich der „Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft“ als erstes unabhängiges Gremium wissenschaftlicher Politikberatung einen herausragenden Ruf erworben. Dies ist zweifellos das Ergebnis auf Grundlage freier wissenschaftlicher Meinungsbildung geleisteter Arbeit namhafter ökonomischer Fachvertreter. Daneben verdient aber auch die konkrete historische Situation der ersten Nachkriegsjahrzehnte – des Zeitraums also, innerhalb dessen die Tätigkeit des „Beirats“ allgemein als besonders fruchtbar gilt –, eine besondere Beachtung; denn offenbar variieren Erfordernis und Dringlichkeit zur Erarbeitung „neuer“ bzw. langfristig wegweisender Problemlösungskonzepte in Abhängigkeit von den jeweiligen geschichtlichen Gegebenheiten. In Phasen politischer Instabilität bzw. von (wirtschafts- und/oder sozialpolitischen) Krisen ist offenkundig ein erhöhter Beratungs- und Problemlösungsbedarf gegeben73. Insofern ist es unmittelbar einsichtig, daß die Bildung des „Wissenschaftlichen Beirats“ nur wenige Jahre nach dem völligen Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ erfolgte, als die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten besonders gravierend waren. Auf (wirtschafts-)politischer Ebene ging diese außergewöhnlich prekäre Situation einher mit einer größeren Bereitschaft, bei der Problembewältigung auch unkonventionelle Wege zu beschreiten. Dies eröffnete der wissenschaftlichen Politikberatung die Möglichkeit, „neue“ Konzeptionen zu beraten und „mutige“ Lösungsstrategien zu empfehlen. Vor allem zu diesem Zweck griff die Wirtschaftsverwaltung seinerzeit bewußt auf die gesamte „Palette“ ökonomischer (Denk-)Richtungen zurück.

71 Im Falle von Ludwig Erhard wäre Erich Preiser ein Einwirken schon angesichts der gemeinsamen akademischen Lehrer, Franz Oppenheimer und Wilhelm Rieger, durchaus möglich gewesen. 72 Priddat, Ökonomik, l.c., S. 154. 73 Vgl. Zinn, Sachverständigenmeinung, l.c., S. 188.

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Die Notwendigkeit „neuer“ wirtschaftspolitischer Alternativen ist heute angesichts anhaltender globaler Wachstumsschwächen sowie beschäftigungs- und gesellschaftspolitischer Probleme offenkundig74. Hierzu bedarf es (wirtschafts-) politischer Beratungsgremien, die – entgegen bzw. trotz allen noch so lebhaften Auseinandersetzungen in der breiten Öffentlichkeit oder Erkenntnisresistenzen im politischen Raum – von der Hegemonie wirtschaftlicher Ideologien losgelöste Reformstrategien vermitteln. Werden aber soziale Ungleichheit und globale Ungerechtigkeit als bloße Appendizes von Wirtschaftspolitik und Welthandel betrachtet, besteht das Risiko, daß „diese Fehlentwicklung weiter anhält und erst durch katastrophenartige Zerrüttungen ein fundamentaler Wandel bewirkt werden wird.“75

74 Vgl. u. a.: Norbert Reuter, Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität. Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen, Marburg 1998, hier: S. 11. Zur Forderung einer politisch begleiteten und regulierten „Globalisierung“ vgl. auch die „Berliner Rede“ von Bundespräsident Johannes Rau „Chance, nicht Schicksal – die Globalisierung politisch gestalten“ vom 13.V.2002 (www.bundespraesident.de) und zum Phänomen „Globalisierung“ aus historischer Perspektive besonders: Knut Borchardt, Die Globalisierung ist nicht unumkehrbar, in: Handelsblatt (112/2001). 75 Karl Georg Zinn, Entwicklungsprognosen. Ökonomische Theorien säkularen Wandels, in: ders., Zukunftswissen. Die nächsten zehn Jahre im Blick der Politischen Ökonomie, Hamburg 2002, S. 38–53, hier: S. 53.

Ein „Gehirntrust“ für Adenauer? Beraterstäbe, Meinungsbildung und Politikstil beim ersten Bundeskanzler Von Hans Peter Mensing „Während der letzten Tage“, schrieb Konrad Adenauer im Dezember 1960 seinem Staatssekretär Hans Globke, „in denen ich Zeit hatte, die wichtigsten Probleme unserer Epoche zu überdenken, stieß ich mich immer wieder an einem Mangel in unserer Organisation, den ich Ihnen in folgendem darstellen möchte. Ich lebe tatsächlich politisch gesehen von einem Tag auf den anderen. Ich bekomme die Zeitungen, über deren Qualität ich Ihnen nichts zu sagen brauche. Vom Auswärtigen Amt bekomme ich Berichte unserer Botschafter, die manchmal interessant sind, oft aber nur ziemlich belanglose Routinedepeschen. Ich vermisse eine Stelle, die mich über die großen Entwicklungen und Zusammenhänge innenpolitisch wie außenpolitisch informiert, und zwar fundierter als das durch die Zeitungen und Botschafterberichte erfolgt. . . . Vielleicht gibt das Wort ,Gehirntrust‘, um einen kurzen Ausdruck zu gebrauchen, am besten wieder, woran es mir fehlt. Man kann . . . in dieser so bewegten Zeit nur eine gute Politik machen, wenn man die Tiefenströmungen und Ergebnisse überschaut.“1 1 Aus dem Vermerk vom 9.12.1960 in Adenauers Briefen 1959–1961, S. 226; dazu die Hinweise von Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 593 f. – Erstmals verwendet Adenauer diesen Begriff in seinem Lagebericht vom 22.9.1960: „[Kennedy] hat sich einen Gehirntrust gebildet, und zwar – soviel ich weiß – von Professoren der Harvard-Universität. Ich bin davon nicht besonders entzückt . . .“ (vgl. Adenauer: „. . . um den Frieden zu gewinnen.“ Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957–1961, bearb. von Günter Buchstab, Düsseldorf 1994, S. 810). Der Verf. stützt sich nachfolgend vor allem auf Materialien in dem von der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus (StBKAH, Bad Honnef/Rhöndorf) betreuten Nachlaß Konrad Adenauers und die von ihr veröffentlichten, von Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz herausgegebenen Nachlaßeditionen. Dazu vgl. Hans Peter Mensing, Die Edition der Adenauer-Briefe im Rahmen der „Rhöndorfer Ausgabe“. Ein Unternehmen der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 1987, München/New York/ London/Paris 1988, S. 57–60. – Bisher erschienen: Adenauer, Briefe 1945–1947; 1947–1949; 1949–1951; 1951–1953; 1953–1955; 1955–1957; 1957–1959; 1959–1961, bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1983, 1984, 1985, 1987, 1995 und 1998, Paderborn 2000 und 2004. – Heuss-Adenauer. „Unserem Vaterlande zugute“: Der Briefwechsel 1948–1963; Adenauer-Heuss. Unter vier Augen. Gespräche aus den Gründerjahren 1949–1959, bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1989 und 1987. – Adenauer

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Ein „Brain Trust“ als Lösungsmöglichkeit nach dem historischen Modell der Beratung Franklin D. Roosevelts beim „New Deal“ kam Adenauer durch den aktuellen Impuls der gerade im Entstehen begriffenen Kennedy-Administration in den Sinn – so fremd der Terminus in der bloßen Begrifflichkeit der „Kanzlerdemokratie“ 2 auch anmuten mag und trotz seiner eigenen Einschränkung, daß darunter „zu viele Primadonnen“ sind: „. . . und Primadonnen sind gewöhnlich unverträglich und machen einander Schwierigkeiten.“3 Doch handelte es sich bei diesem Planspiel keineswegs um ein momentanes Kalkül oder um Koketterie mit einem aktuellen, attraktiven Trend (der sich zudem im intellektuellen Beratungsmilieu des kurz zuvor nominierten SPD-Kanzlerkandidaten und Adenauer-Herausforderers bei den Bundestagswahlen vom September 1961, Willy Brandt, abzuzeichnen begann). Immerhin hatte Adenauer bereits im Februar 1958 in einem internen Papier festgehalten: „Seit 1949 sind die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik grundlegend anders geworden. Einmal haben die politischen Fragen, die zu entscheiden sind oder die diskutiert werden, erheblich an Zahl zugenommen . . ., zum anderen sind sie viel schwieriger geworden und viel umstrittener . . . Dazu kommt“, so der 82jährige 1958 weiter (wenige Monate nach dem triumphalen Erfolg bei den Wahlen zum 3. Deutschen Bundestag), „daß er naturgemäß mit zunehmendem Alter auch schonungsbedürftiger wird. Die bisherige Methode seiner Arbeit, die aus den Anfängen der Bundesrepublik stammt, kann unmöglich weiter beibehalten werden.“4 So nimmt nicht wunder, daß der Gründungskanzler zwei Jahre später und um einige ernüchternde Erfahrung reicher (Berlinkrise ab 1958, Präsidentschaftsstreit 1959, gescheiterter Ost-West-Gipfel 1960, permanenter Druck durch die Nachfolgequerelen in der eigenen Partei) auch die scheinbar so festgefügten Formen seines ureigensten Arbeits- und Regierungsstils in Frage stellte. Dabei war Adenauer nach den schnellebigen Zeiten und den tiefgreifenden Wandlungsprozessen der Aufbaujahre nicht mehr präsent, in welchem Ausmaß er seinerseits vom Neubeginn 1949 an von externer Beratung durch akademischen Sachverstand und von dessen administrativer Einbindung profitiert hatte. Nimmt man beispielsweise die Kontakte zur Alliierten Hohen Kommission und im Dritten Reich, bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1991. – Adenauer, Teegespräche 1950–1954; 1955–1958; 1959–1961, bearb. von Hanns Jürgen Küsters; Teegespräche 1961–1963, bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1984, 1986, 1988 und 1992. 2 Vgl. Hans Peter Mensing, „Es ist alles zu sehr auf mich konzentriert.“ Grundlegung, Grundzüge und Grenzen der „Kanzlerdemokratie“ in der Adenauerzeit, in: Marie-Luise Recker/Burkhard Jellonnek/Bernd Rauls (Hrsg.), Bilanz: 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, St. Ingbert 2001, S. 41–52 (mit der weiterführenden Literatur). 3 Am 7.2.1961 an Dannie N. Heineman; vgl. Briefe 1959–1961 (wie Anm. 1), S. 238 f. 4 Vgl. Briefe 1957–1959 (wie Anm. 1), S. 217–220.

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die ersten internationalen Verhandlungen der jungen Bundesrepublik, hat Adenauer dabei – so Wilhelm G. Grewe – „ein hohes Maß personalpolitischer Souveränität an den Tag gelegt.“5 Hielt er sich doch besonders hier, mit etlichen Analogien in der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Gründungsphase, „nicht eng an traditionelle Regeln und Gebräuche, an vorgefundene Hierarchien und bürokratische Apparate, sondern er suchte die Leute so aus, wie sie ihm als geeignet erschienen. Infolgedessen sind gerade in den Vertragsverhandlungen der frühen Jahre eine Reihe von Außenseitern an entscheidende Stellen gerückt.“6 Das Urteil stammt aus berufenem Mund; denn Grewe (ab 1949 Ordinarius für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht an der Universität Freiburg/Breisgau) gehörte als Delegationsleiter bei den Verhandlungen über den Deutschland-Vertrag (1951/52) und als Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt (1955–1958) zu den wichtigsten Mitstreitern des ersten Bundeskanzlers und der ersten Außenminister (Adenauer und von Brentano), vor den anschließenden diplomatischen Funktionen als Botschafter in Washington, bei der NATO und in Japan. Mehr noch trifft der Befund auf Walter Hallstein zu, der ab 1946 den Lehrstuhl für Internationales Privatrecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Gesellschaftsrecht an der Universität Frankfurt/Main innehatte, um mehr und mehr zur rechten Hand Adenauers in der Außenpolitik zu werden: Als Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten im Bundeskanzleramt (1950/51) und im Auswärtigen Amt (1951–1957). Der spätere Präsident der EWG-Kommission (1958–1967) hatte sich seine ersten europapolitischen Meriten 1950/51 als Leiter der deutschen Delegation bei den Verhandlungen über den EGKS-Vertrag erworben – dies nach Empfehlungen des Direktors des „Institut Universitaire de Hautes Études Internationales“ in Genf, Wilhelm Röpke, der in diesem Zusammenhang als ein von Adenauer geschätzter Informant und Ratgeber in den Nachkriegsdiskussionen grundlegender Fragen der Wirtschafts- und Gesellschaftsreform und der außenpolitischen Westorientierung nicht unerwähnt bleiben darf7. 5 Vgl. Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Konrad Adenauers Regierungsstil. Rhöndorfer Gespräche, Bd. 11, Bonn 1991, S. 146 f. 6 Ebd. 7 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, Stuttgart 1986, S. 725 f. – Bevor Hallstein ins Spiel gebracht wurde, hatte der Bundeskanzler beabsichtigt, gemeinsam mit Hermann Josef Abs dem ehemaligen Staatssekretär im Reichsfinanzministerium und langjährigen Rechtsberater der schwedischen Wallenberg-Gruppe, Hans Schäffer, die Schumanplan-Verhandlungsführung zu übertragen; vgl. Eckhard Wandel, Adenauer und der Schuman-Plan. Protokoll eines Gesprächs zwischen Konrad Adenauer und Hans Schäffer vom 3. Juni 1950, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 20 (1972), S. 192–203. Dazu auch unten der Hinweis bei Anm. 57.

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In der Kontinuitätslinie Hallstein – Grewe, die durchaus Elemente der angloamerikanischen „think tank“-Traditionen aufweist (erst recht, wenn man die Beratung der Berater und deren Unterstützung im angestammten Wissenschaftsgebiet einkalkuliert), ist nicht zuletzt Karl Carstens hervorzuheben. Die Lehrtätigkeit (1950–1973 für Staats- und Völkerrecht an der Universität Köln, ab 1960 als Ordinarius) ist in Vergessenheit geraten, um so nachhaltiger hat er vor der späteren bundespolitischen Karriere auf die außenpolitischen Weichenstellungen in der zweiten Hälfte der Adenauerzeit Einfluß genommen: Im Auswärtigen Amt als Leiter der Europa-Abteilung (1955–1958) und der Politischen Abteilung (1958–1960) sowie als Staatssekretär (1960–1966). Grewe, Hallstein und Carstens sind Beispiele dafür, wie Adenauer besonders auf dem Feld der Außenpolitik Wissenschaftler, hier Gelehrte des Staats- und Völkerrechts, dazu zu bewegen vermochte, aus dem akademischen in das politische Wirkungsfeld hinüberzuwechseln. Sie wirkten dann nicht mehr als externe Sachverständige, sondern nahmen eine exponierte Stellung im Bonner Regierungsapparat ein. An der Nahtstelle zwischen beiden Bereichen ist ergänzend Erich Kaufmann (ab 1913 Ordinarius an den Universitäten Königsberg, Bonn und München) zu nennen, dessen Dienste als Rechtsberater – nach langjähriger völkerrechtlicher Konsultationstätigkeit für die Reichsregierungen bis 1933 – auch das Bundeskanzleramt und das Auswärtige Amt in Anspruch nahmen (1950–1958). Dabei blieb allerdings Adenauers Verhältnis zu Kaufmann „relativ distanziert. Er hat Kaufmann, wenn es ihm paßte, natürlich zu Gutachten und Stellungnahmen aufgefordert, hat denen auch Gewicht beigemessen und hat sich dann gegenüber den Verhandlungspartnern ihrer bedient. Aber Kaufmann gehörte nicht zu seinen engeren Beratern.“8 I. Bevor auf die Rolle von Beratern, die außerhalb des Apparates standen, einzugehen sein wird, ist noch ein Blick auf die Formen der Zusammenarbeit und der Konsultation zu werfen, die sich im Innern des Kanzleramts über die 14 Jahre hinweg herauskristallisierten und als charakteristisch für Adenauer gelten 8 Wilhelm G. Grewe in: Konrad Adenauers Regierungsstil (wie Anm. 5), S. 153; vgl. auch die Belege in: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, hrsg. für das Bundesarchiv von Hans Booms, Bd. 5: 1952, bearb. von Kai von Jena, Boppard/Rhein 1989, S. 303, 346, 497. – Kaufmanns Anteile an den frühen außenpolitischen Beratungsprozessen sind neuerdings detailliert dokumentiert in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1949/50, bearb. von Daniel Kosthorst und Michael F. Feldkamp, München 1997, u. a. S. 98–100, 381–384, 412–415; 1951, bearb. von Matthias Jaroch, München 1999, u. a. S. 68–71, 363–365, 510–515; 1952, bearb. von Martin Koopmann und Joachim Wintzer, München 2000, u. a. S. 347–350, 583– 587; 1953, bearb. von Matthias Jaroch und Mechthild Lindemann, München 2001, u. a. S. 500–512, 904–909, 929–935, 1031–1036, 1127–1131.

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können. Gerade in seinen späten Jahren wurde Adenauer noch einmal bewusst, in welchem Ausmaß er sich von 1949 bis 1963 auf den ominösen „Apparat“ und die Instrumente der Kanzlerdemokratie stützen konnte, wie sehr sie ihn stärkten und seine Stellung überhaupt erst ermöglichten. So bezog sich der Satz vom 26. November 1963 „Mir ist, als habe man mir Arme und Beine abgeschlagen“9 (im Gespräch mit Horst Osterheld, dem Leiter seines außenpolitischen Büros ab 1960) gerade auch auf die auf dieser Ebene gemachten Erfahrungen, also auf „die große Hilfe, die mir von meinen Weggenossen zuteil wurde“10. Im hohen Alter trug er wiederholt dazu bei – in Reden, Interviews und ungezählten Dankschreiben –, namentlich die Anteile seiner Mitarbeiter ins rechte Licht zu rücken, die der Staatssekretäre ebenso wie der Persönlichen Referenten, der Sachbereichsleiter und Fachreferenten bis hin zu den Sekretärinnen. Auch die immer wieder apostrophierten Alleingänge Adenauers, das stellte er nun deutlicher heraus als jemals zuvor, waren nahezu ausnahmslos das Ergebnis reiflicher Überlegungen und gründlicher Vorbereitungen in den Beratergremien, so daß am oft kritisierten „Patriarchen“ oder „Autokraten“ nun andere Konturen sichtbar wurden, auch die des Koordinators im effizienten, von ihm und vom Chef des Bundeskanzleramtes ab 1953, Hans Globke, gut organisierten Teamwork, in dem das Know-how anderer eingefordert und berücksichtigt wurden. Im ZDF-Interview vom Dezember 1965 (einem der informativsten Zeugnisse dieser Art überhaupt) von Günter Gaus nach dem Ondit vom „Kanzler der einsamen Beschlüsse“ befragt, fächerte Adenauer den Vorgang und seine Vorgehensweise so auf: „Ich habe in allen wichtigen Fällen mich vorher der Zustimmung versichert, entweder des Parteivorstandes oder der Bundestagsfraktion oder auch des Bundestages. Allerdings, die Verhandlungen mit den Hohen Kommissaren mußte ich allein führen. Die Herren wünschten nicht, daß so viele anwesend waren, und es wäre auch nicht gut gewesen. Es war gut, daß sie einem geschlossenen und entschlossenen Willen gegenüberstanden. . . . Wenn ich in die Lage kam, mich allein entscheiden zu müssen, und die Überzeugung hatte, daß ich das Material, das zum Treffen einer Entscheidung nötig war, wirklich vor mir gehabt hatte, war ich sehr ruhig im Treffen einer Alleinentscheidung.“11 Einsam oder gemeinsam? Jedenfalls ist hier bereits festzuhalten, daß „er sich unter Nutzung des Sachverstandes Dritter intuitiv, dank der Fähigkeit, gut zu beobachten, zuzuhören und seine Kenntnislücken zu schließen, weitergeholfen, 9 Vgl. Horst Osterheld, Außenpolitik unter Bundeskanzler Ludwig Erhard 1963– 1966. Ein dokumentarischer Bericht aus dem Kanzleramt, Düsseldorf 1992, S. 49. 10 Vgl. Konrad Adenauer, Erinnerungen, Bd. 1: 1945–1953, Stuttgart 1965, S. 14. 11 Vgl. Günter Gaus, Zur Person. Porträts in Frage und Antwort, Bd. II, München 1966, S. 52–59, hier S. 52.

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aber auch bisweilen getäuscht, manches nicht mehr gelernt hat und sich gerade in den Anfängen vorsichtig tastend seinen Weg suchen mußte.“12 Auf Gruppenbildern der Adenauerzeit wird unter den engsten Mitarbeitern Adenauers Hans Globke ja häufiger als „graue Eminenz“13, Heinrich Krone als des „Kanzlers Paladin“14 porträtiert, Felix von Eckardt gar (der zum Inbegriff der Presse- und Informationspolitik der fünfziger und frühen sechziger Jahre wurde) als „Auge, Ohr und Sprachrohr Adenauers“15 – durchweg also mit eher karikierenden als charakterisierenden Begriffen, so daß die Ratgeber ihre eigene Identität verlieren und zu bloßen Erfüllungsgehilfen verkommen, zu Ergebenen und zu Untergebenen: Obwohl die Verdienste etwa von Eckardts wie auch die Gesamtverantwortung der anderen Weggefährten weit über die einseitige Zuordnung hinausgingen; denn im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung verstand es gerade von Eckardt mit großem Geschick, den vielfältigen Anteilen am Erfolg der Adenauer-Regierungen gerecht zu werden und auch den Ressortchefs und Koalitionspartnern Gehör zu verschaffen. „. . . immer in der Zwickmühle, weil Kanzler, Brentano, Strauß, Erhard mit Interviews in verschiedener Färbung arbeiten“, sah Theodor Heuss in ihm einen „der wenigen innerlich unabhängigen Leute . . ., die Adenauer widersprachen und von denen er den Widerspruch auch annahm.“16 Immerhin hat die traditionelle Betrachtungsweise (die sich in damaliger Hofberichterstattung und Publizistik ebenso findet wie vereinzelt immer noch in späteren Studien zur Zeitgeschichte) den Vorteil, daß sie nach und nach den Blick auf konkrete Formen der Zusammenarbeit und auf Abhängigkeitsverhältnisse lenkte – je nach Überlieferungslage und Überprüfungsmöglichkeit, die mit der Öffnung der Nachlässe (Blankenhorn17, Krone18, Carstens19, Hallstein20, 12 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Der unbekannte Adenauer. Einige Aufgaben künftiger Forschung, in: Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers, Bd. 2: Beiträge der Wissenschaft, hrsg. von Dieter Blumenwitz, Klaus Gotto, Hans Maier, Konrad Repgen und Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1976, S. 589–609, hier S. 595. 13 Vgl. Klaus Gotto (Hrsg.), Der Staatssekretär Adenauers. Persönlichkeit und politisches Wirken Hans Globkes, Stuttgart 1980, S. 9. 14 Vgl. Heinrich Krone. Tagebücher, Bd. 1: 1945–1961, bearb. von Hans-Otto Kleinmann, Düsseldorf 1995, S. XIII. 15 So die Charakterisierung im Klappentext zu: Felix von Eckardt, Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen, Düsseldorf/Wien 51968. 16 Vgl. Theodor Heuss. Tagebuchbriefe 1955/1963. Eine Auswahl aus Briefen an Toni Stolper, hrsg. von Eberhard Pikart, Tübingen/Stuttgart 1970, S. 136, 320 f. 17 Vgl. Bundesarchiv (BA) Koblenz, N 1351. 18 Vgl. Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung (ACDP) Sankt Augustin, I-028. 19 Vgl. BA, N 1337. 20 Vgl. ebd., N 1266.

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Globke21), der Veröffentlichung von Memoiren und Biographien (von Eckardt22, Grewe23, Osterheld24, wieder Blankenhorn25, ansatzweise auch Pferdmenges26), der Edition von Tagebüchern (Lenz27 und erneut Krone28) und der Würdigung durch Zeitgenossen und eigene Mitarbeiter gegeben ist. Besonders in dieser Hinsicht hat nahezu jede bisher erschienene Veröffentlichung über die Symposien der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus weitere Bausteine und Mosaikteile zusammengetragen, mit denen sich die Leistungen Adenauers, die Beiträge anderer und die Wechselwirkungen zwischen Politik und Sachverstand differenzierter und nuancierter darstellen lassen. Stellvertretend ist auf das „Rhöndorfer Gespräch“ vom April 1980 über die Wiederherstellung des deutschen Kredits durch das Londoner Schuldenabkommen29 und damit auf den ganz speziellen Part des Bankiers und Kanzler-Beraters Hermann Josef Abs hinzuweisen. Oder auch auf die Tagung „Konrad Adenauer und die Presse“30, die 1988 auf der Grundlage der in der „Rhöndorfer Ausgabe“ edierten Teegespräche auf weitere Facetten aufmerksam machte; denn in diesen Hintergrundgesprächen mit führenden Hauptstadt-Journalisten und Auslandskorrespondenten holte der Bundeskanzler „off the record“ regelmäßig seinerseits Erkundigungen ein. „Fangen wir einmal umgekehrt an: Was gibt es Neues in der Welt?“31, fragte er im Juni 1963 einen Vertreter der von ihm bevorzugten Schweizer Presse, da er für „solche Hinweise von kluger und weitblickender Seite . . . immer besonders dankbar“ war32. So konnte diese Runde mitunter 21

Vgl. ACDP, I-070. Wie Anm. 15. 23 Wilhelm G. Grewe, Rückblenden 1976–1951. Aufzeichnungen eines Augenzeugen deutscher Außenpolitik von Adenauer bis Schmidt, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1979. 24 Vgl. Horst Osterheld, „Ich gehe nicht leichten Herzens . . .“. Adenauers letzte Kanzlerjahre – ein dokumentarischer Bericht, Mainz 1986. 25 Vgl. Herbert Blankenhorn, Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuchs 1949 bis 1979, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980. 26 Vgl. Christoph Silber-Bonz, Pferdmenges und Adenauer. Der politische Einfluß des Kölner Bankiers, Bonn 1997. 27 Vgl. Im Zentrum der Macht. Das Tagebuch von Staatssekretär Otto Lenz 1951– 1953, bearb. von Klaus Gotto, Hans Otto Kleinmann und Reinhard Schreiner, Düsseldorf 1989. 28 Wie Anm. 14. 29 Vgl. Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die Wiederherstellung des deutschen Kredits. Das Londoner Schuldenabkommen. Rhöndorfer Gespräche, Bd. 4, Stuttgart/Zürich 1982. 30 Vgl. Karl-Günther von Hase (Hrsg.), Konrad Adenauer und die Presse. Rhöndorfer Gespräche, Bd. 9, Bonn 1988. 31 Vgl. Teegespräche 1961–1963 (wie Anm. 1), S. 353. 32 Am 1.3.1958 an Elsie Kühn-Leitz; Druck: Klaus Otto Nass (Hrsg.), Elsie KühnLeitz: Mut zur Menschlichkeit. Vom Wirken einer Frau in ihrer Zeit – Dokumente, Briefe und Berichte, Bonn 1994, S. 303. 22

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zum regelrechten Expertenhearing über aktuelle Fragen internationaler Diplomatie werden; hier und da profitierte Adenauer auch hier vom akademischen Sachverstand, der sich zumal bei seinen Gästen aus den USA – die nicht selten über „insider“-Wissen aus Washington oder dort über ihren eigenen Beraterstatus verfügten – mit publizistischem Engagement verbinden konnte (z. B. bei Klaus Epstein33). II. Wir sind damit aber schon bei einem anderen Typus der Meinungsbildung angelangt, der Konsultation mit Gesprächspartnern, die außerhalb des Apparates standen. Auch diese Dimension wird man nicht vernachlässigen dürfen, will man sich ein Bild davon machen, welche Bedeutung Adenauer dem Dialog mit von ihm geschätzten Persönlichkeiten beimaß. Der Austausch mit Hermann Josef Abs, vor allem in wirtschaftspolitischen Fragen, gehört in diese Rubrik ebenso wie die häufigere Abstimmung mit Fritz Berg, dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), auch wenn es sich bei ihnen nicht um Gelehrte, sondern um Männer der Praxis handelte, deren konkrete Betrachtungs- und Vorgehensweise derjenigen Adenauers aber wohl näher stand als die abstraktere Denkart und Argumentation wissenschaftlicher Theoretiker. Neben der Beratung durch Unterredungen nahm Adenauer für diese Zwecke im noch höheren Maße seine Korrespondenz in Anspruch (mit allen ihren Anlagen: Ausarbeitungen unterschiedlichster Art, Gutachten, Denkschriften). Das voluminöse Briefwerk, das die Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus im Langzeitprojekt durch Verzahnung der Rhöndorfer Bestände mit den nahezu weltweit verstreuten Parallelnachlässen rekonstruiert und publiziert, enthält hierzu Anschauungsmaterial in ungewöhnlich großer Zahl. Beispielsweise würde man unter den hin und wieder zu Rate gezogenen Gesprächs- und Briefpartnern Theodor Eschenburg sicher nicht vermuten. Mit der warnenden Stimme u. a. seiner profunden Artikel in der „Zeit“ und dem abwägenden Urteil zu den großen Streitfragen der Adenauerjahre steht er – wie in der zeitgenössischen Wahrnehmung – nach wie vor für erhebliche Distanz zum Kanzler und zum offiziellen Bonn. Daneben wird aber auf den anderen, den edierten Blättern der Zeithistorie nun erkennbar, daß Widerspruch und selbst massive öffentliche Kritik („Adenauer handelt wie ein mittelalterlicher Fürst“34) wechselseitige Wertschätzung durchaus nicht ausschließen mussten. Daß Adenauer „einmal an Eschenburg als Pressechef“ dachte, paßt demnach ebenso ins Bild (auch wenn sich „das Projekt . . . nicht verwirklichen“ ließ35), wie die überraschende 33

Vgl. Teegespräche 1961–1963 (wie Anm. 1), S. 416–428. Zitiert nach dem „Kölner Stadtanzeiger“ vom 6.5.1960. 35 Adenauer am 14.5.1955 im Gespräch mit Gerhard Schröder; vgl. ACDP, NL Schröder, I-483-288/1. Vgl. auch Briefe 1953–1955 (wie Anm. 1), S. 446. 34

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Empfehlung, zu der sich der Tübinger Ordinarius für Politikwissenschaft ausgerechnet während der „Spiegel-Affäre“ und Regierungskrise vom Herbst 1962 entschloß (im Telegramm nach Rhöndorf): „Sie dürfen nicht mit Rücksicht auf die Verfassungskonstruktion von vorne herein Ihre Amtsfrist befristen lassen, noch weniger sich hinsichtlich der Nachfolgebestellung binden.“36 Der Stellung des Bundeskanzlers und den „Richtlinien der Politik im Verfassungsrecht und in der Verfassungswirklichkeit“37 hatte Eschenburg bereits 1954 seine Antrittsvorlesung gewidmet – und es war mehr als konventionelle Pflichtübung, den Sonderdruck weiterzugeben (Eschenburg am 6. April 1954) und dann so zu kommentieren (Adenauer am 24. April 1954): „Ihre Ausführungen . . . haben mich sehr interessiert. Sie enthalten m. E. Gesichtspunkte, die eigentlich nur der richtig würdigen kann, der in der Praxis drin steht. Ich begrüße sehr Ihre Absicht, sich mit dem Thema weiter zu beschäftigen, denn in der Tat, es handelt sich hier um eine sehr wichtige, ja fast entscheidende Frage, die durch den Wortlaut des Grundgesetzes nicht funditis gelöst ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie gelegentlich einer Anwesenheit in Bonn bei mir vorsprechen würden. Vorherige Ankündigung wäre mir lieb.“38 Nehmen wir noch die heftige öffentliche Kontroverse um das „Göttinger Manifest“ vom 12. April 1957 hinzu, in dem sich führende Atomwissenschaftler (u. a. Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker) gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen aussprachen. Weit weniger spektakulär als das Schlagzeilenthema und die plakativen Protestaktionen verliefen hinter den Kulissen die anschließenden Bemühungen um Beilegung des Konflikts, von denen wir aus der Sicht Adenauers erst durch die Veröffentlichung seines Briefwechsels mit Theodor Heuss Genaueres wissen: „Mich überfiel nach meiner Rückkehr aus Teheran ein wahrer Schwall von zum Teil wenig angenehmen Dingen; der Aufstand der Atomwissenschaftler, der für mich ganz überraschend kam – Herr Strauß hatte mir nach einer Aussprache mit Herrn Hahn gesagt, die Herren würden nichts tun –, war innenund außenpolitisch sehr unangenehm. Nach einer vielstündigen Aussprache, die heute mit fünf der Herren stattfand, scheint die Angelegenheit in einer für beide Teile zufriedenstellenden Weise erledigt zu sein“ (17. April 195739). Es war dies nicht die einzige Begegnung mit den genannten Atomwissenschaftlern. Mit Hahn und Heisenberg etwa tauschte sich Adenauer mehrfach über grundsätzli36 StBKAH 10.06. Zu diesem Vorgang der Hinweis bei Hans Peter Mensing, Quellenforschung zur Adenauerzeit – Schwerpunkte, Resultate, Defizite, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.), Adenauerzeit. Stand, Perspektiven und methodische Aufgaben der Zeitgeschichtsforschung (1945–1967). Rhöndorfer Gespräche, Bd. 13, Bonn 1992, S. 31–46, hier S. 40. 37 Vgl. Die öffentliche Verwaltung, Jg. 7 (1954), H. 7, S. 193–202. 38 Vgl. Briefe 1953–1955 (wie Anm. 1), S. 95. Dort (S. 96) auch das Faksimile des Anschreibens. 39 Vgl. „Unserem Vaterlande zugute“ (wie Anm. 1), S. 233 f.

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che Fragen der Forschungspolitik aus; erste, für beide Seiten nützliche Kontakte waren bereits während der Präsidentschaft im Parlamentarischen Rat zustandegekommen40. Und 1958 berichtete der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten: „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen erzählt habe, daß Weizsäcker gelegentlich mich besucht, ich glaube, daß die Verbindung für beide Teile gut ist“ (14. August 195841). Als exemplarisch kann schließlich auch der umfangreiche Fragenkatalog gelten, den Adenauer in der Umbruchsituation der späten fünfziger Jahre – kurz nach Fertigstellung der ersten Fassung des deutschlandpolitischen „GlobkePlans“42 – am 26. Februar 1959 seinem Staatssekretär zuleitete. „Welches ist die völkerrechtliche Situation Deutschlands, des alten früheren deutschen Reiches nach der bedingungslosen Kapitulation?“, heißt es dort einleitend. Und dann gleich darauf: „Behaupten wir nicht, daß trotz des Widerspruchs SowjetRußlands wir, die Bundesrepublik, die die drei früheren West-Zonen umfaßt, 40 Heisenberg am 11.1.1949: „Ich war sehr froh zu hören, . . . daß Sie sich auch für die Zwischenzeit bis zum Inslebentreten der Deutschen Bundesregierung so energisch für den Fortbestand der wissenschaftlichen Forschung einsetzen wollen“ (Briefe 1947– 1949 [wie Anm. 1], S. 636). Seinerseits teilte Adenauer am 16.1.1949 den nordrheinwestfälischen Ministern für Kultus und Finanzen, Christine Teusch und Heinrich Weitz, mit, „daß der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Göttingen, Professor Hahn sich . . . mündlich an Sie . . . wenden wird wegen einer einmaligen finanziellen Unterstützung aus Anlaß der Übersiedlung des Professors [Karl Friedrich] Bonhoeffer und der Einrichtung eines Instituts für physikalische Chemie für ihn. Ich bitte Sie dringend, nach Möglichkeit zu helfen. Die Hilfe liegt im allgemeinen deutschen Interesse“ (ebd., S. 386). Zur Thematik insgesamt vgl. Thomas Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945–1965, Köln 1981. Auf einen weiteren wesentlichen Schwerpunkt gemeinsamer Interessen verweist Hans-Peter Schwarz: „Heisenberg machte ihm deutlich: Es gibt große Möglichkeiten für die friedliche Nutzung der Kernenergie. So suchte er die Hohen Kommissare – und später dann in den Verhandlungen die westlichen Außenminister – von der Notwendigkeit der Ermöglichung der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu überzeugen – eine der ganz großen Innovationsleistungen der frühen, mittleren und späten fünfziger Jahre“ (in: Anselm Doering-Manteuffel/Hans-Peter Schwarz [Hrsg.], Adenauer und die deutsche Geschichte. Rhöndorfer Gespräche, Bd. 19, Bonn 2001, S. 91). Dazu vgl. Michael Eckert, Die Anfänge der Atompolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 37 (1989), S. 115–143. 41 Vgl. „Unserem Vaterlande zugute“ (wie Anm. 1), S. 259. – Zu dem mit den Besucherlisten des Bundeskanzlers nachweisbaren Termin (16.6.1958, ab 11.10 Uhr) ist vorbereitende und weiterführende Korrespondenz in StBKAH III/23, 24 erhalten; von Weizsäcker am 21.7.1958: „Sie . . . hatten mir gegenüber zwei Meinungen ausgesprochen: 1. eine grundsätzliche Bereitschaft der Russen zu einem ernsthaften Abkommen über die Rüstungen sei zu erwarten, 2. es sei möglich, die Kontrollforderungen so einzuschränken, daß sie für die Sicherheit des Westens hinreichend und für die Russen akzeptabel seien. Sie hielten aus diesen Gründen eine kontrollierte Abrüstung der großen Waffen für möglich. Ich stimmte Ihrer These 1. zu, konnte mich aber von 2. nicht überzeugen.“ 42 Vgl. Der Globke-Plan zur Wiedervereinigung, in: Adenauer-Studien III, hrsg. von Rudolf Morsey und Konrad Repgen, Mainz 1974, S. 202–209.

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dadurch, daß die drei westlichen Besatzungsmächte ihr alle Rechte bis auf wenige durch den Deutschland-Vertrag gegeben haben, ein souveränes Gebiet seien? Kann nicht analog diesem Vorgehen Sowjet-Rußland völkerrechtlich das gleiche bezüglich der D.D.R. mit Recht behaupten?“43 – um dadurch im Kanzleramt Recherchen und einen Klärungsprozeß auszulösen (namentlich durch den Leiter der Unterabteilung A, Reinhold Mercker), deren Ergebnis allerdings zugleich auch die Grenzen vor Augen führen, die einer Nutzbarmachung externer Quellen des Sachverstandes in vielerlei Hinsicht gesetzt blieben: „Natürlich ist die Deutschlandfrage für die Juristenzunft“, aus der Mercker Adenauer auf Werke von Hans Kelsen, Hersch Lauterpacht, Hans Nawiasky, Lassa Oppenheim und Alfred Verdross aufmerksam gemacht hatte44, „genau so unklar, vielschichtig und voller Widersprüche wie für die Diplomatie oder für den zum praktischen Handeln verurteilten Kanzler. Experten können nicht viel weiterhelfen, allenfalls darin bestärken, alles so behutsam wie möglich anzupacken.“45 III. Wie stark Adenauer auf seine Stäbe angewiesen war, in welchem Ausmaß er Teamwork und ad hoc hinzugezogene Hilfe von außen in Anspruch nahm und wie sehr dadurch der eigene Arbeitsstil des „politisch versierten Verwaltungsfachmanns“46 beeinflußt wurde, läßt sich bereits an seiner Amtsausübung als Kölner Oberbürgermeister (1917–1933)47 und Präsident des Preußischen Staatsrates (1921–1933)48 nachweisen. Welches Detail der ersten „Ära Adenauer“ man auch herausgreift: Es ist immer zugleich Beleg für arbeitsteilige Abstimmungsprozesse, so sehr die Kölner Bilanz der Weimarer Jahre noch heute der Einfachheit und der Legendenbildung halber vor allem Adenauer nachgerühmt wird. Erneut hat man es hier mit Ratschlag und Austausch unterschiedlichster Provenienz zu tun: innerhalb des Apparates, mit Sachkundigen von außerhalb der Bürokratie und nicht zuletzt auch mit befreundeten Vertrauenspersonen.

43

Vgl. Briefe 1957–1959 (wie Anm. 1), S. 218. Vgl. ebd., S. 479–482. 45 Vgl. Hans-Peter Schwarz (wie Anm. 1), S. 483. 46 Vgl. Rudolf Morsey, Adenauers Anteil an der Formulierung der Geschäftsordnung der Bundesregierung von 1951 in: Planung-Recht-Rechtsschutz. Festschrift für Willy Blümel zum 70. Geburtstag am 6. Januar 1999, hrsg. von Klaus Grupp und Michael Ronellenfitsch, Berlin 1998, S. 385–402, hier S. 385. 47 Vgl. Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad Adenauer. Oberbürgermeister von Köln. Festgabe der Stadt Köln zum 100. Geburtstag ihres Ehrenbürgers am 5. Januar 1976, Köln 1976. Dort auch die Beiträge zu den nachfolgend genannten Aufgabenfeldern und Reformvorhaben. 48 Vgl. Konrad Adenauer jun., Konrad Adenauer als Präsident des Preußischen Staatsrats, in: Hugo Stehkämper (wie Anm. 47), S. 355–404, 751–771. 44

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Der „Grüngürtel“ zum Beispiel war nicht denkbar und erst recht nicht realisierbar ohne die maßgeblichen Anteile seines Beigeordneten der Jahre 1920 bis 1923, des Architekten und Stadtplaners Fritz Schumacher. Der Wiederbegründung der Universität gingen unter anderem Anregungen des Ordinarius für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Handelshochschule, Christian Eckert, voran – an der Verwirklichung der Pläne war der Sozialdemokrat Johannes Meerfeld beteiligt (1920 bis 1933 Kulturdezernent der Domstadt): Einer von vielen Anhaltspunkten dafür, daß „der Pragmatiker Adenauer . . . ohne ideologische Hemmungen . . . seine Verbündeten dorther [nahm], wo er sie fand“49. Die Schaffung der Staatlichen Hochschule für Musik führte Adenauer mit dem Komponisten Walter Braunfels und dem Dirigenten Hermann Abendroth zusammen, der frühe medienpolitische Durchbruch, mit der Verlegung der „Westdeutschen Rundfunk AG“ (Werag) nach Köln, mit dem Intendanten Ernst Hardt. Europas erste Autobahn, die zwischen 1926 und 1932 errichtete Kraftwagenstraße Köln-Bonn, war für die Zeitgenossen ein Werk Adenauers; der jedoch schrieb damals seinem Freund und hierbei wichtigsten Mitstreiter, dem Landeshauptmann der Rheinprovinz Johannes Horion: „Lieber Horion! Der gestrige Beschluß über den Bau der Kraftwagenstraße ist Dein Werk. Ich habe sehr bedauert, nicht Zeuge Deines Erfolges sein zu können.“50 Wie später beim Bundeskanzler, Außenminister und Parteivorsitzenden, läßt sich auch diese Liste beliebig verlängern – unter dem Strich, hier wie dort, mit dem Ergebnis, daß Adenauer „entgegen weitverbreiteter Ansicht . . . durchaus in der Lage [war], auch hochqualifizierte und selbständige Mitarbeiter an sich zu ziehen und ihre Meinungen zu respektieren – jedoch nicht auf Dauer und nicht auf Gebieten, wo er die bessere Befähigung bei sich selbst vermutete“51. Wegen der großen inhaltlichen Bedeutung für seine übergreifenden Konzepte und Ziele vor 1933 und ab 1945/49 ist in diesem Rahmen nur noch auf zwei Leitmotive seines politischen Wirkens insgesamt hinzuweisen, bei denen unser Befund weiter an Gewicht gewinnt. Das interkonfessionelle Unionsideal etwa teilte er im rheinischen Protestantismus mit seinem späteren Duzfreund Robert Pferdmenges; gerade auch ihm ist es zu verdanken, daß Adenauer schon 1922 (als Präsident des 62. Deutschen Katholikentages) die Forderung erheben konnte: „Wir müssen beim Kampfe für die Geltung der christlichen Grundsätze . . . mit Bestrebungen Gleichgesinnter im evangelischen Lager Hand in Hand gehen und suchen, uns gegenseitig zu unterstützen und zu fördern“52 – lange 49 Vgl. Klaus Pabst, Konrad Adenauers Personalpolitik und Führungsstil, in: Hugo Stehkämper (wie Anm. 47), S. 249–294, 709–731, hier S. 290. 50 Vgl. Europas erste Autobahn. Kraftwagenstraße Köln/Bonn 50 Jahre, hrsg. vom Landschaftsverband Rheinland, Köln 1982, S. 10. 51 Vgl. Klaus Pabst (wie Anm. 49), S. 293. 52 Vgl. Konrad Adenauer. Reden 1917–1967. Eine Auswahl, hrsg. von Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 46 f.

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bevor Pferdmenges, neben seinen anderen vorteilhaften Eigenschaften (unter anderem als Adenauers „trouble shooter“ im parlamentarischen Raum), zu einer der Schlüsselfiguren im Gründungs- und Konsolidierungsprozeß der CDU wurde. Vereinigte er doch „in geradezu idealer Kombination beide Elemente, die Adenauer bei den Christlichen Demokraten so dringend brauchte: das wirtschafts-bürgerliche Element und das protestantische!“53. Gleiches gilt für die frühen europapolitischen Initiativen, zu denen ja auch das von Adenauer bereits in der Besatzungszeit 1918–1926 entwickelte Modell enger Verklammerung deutscher und französischer Montanindustrie zählt, bei dem er sich auf die praxisnahen Ideen seiner Bekannten aus dem großindustriellen Sektor, Paul Silverberg und Hugo Stinnes, stützte54: Darin bestätigt und weiter bestärkt durch die Vorstellungen seines amerikanischen Freundes Dannie N. Heineman, die sich am deutlichsten in der 1930 in Barcelona und Köln gehaltenen Rede „Outline of a New Europe“55 finden. Heinemans programmatische Europa-Prognose nahm vieles von dem vorweg, was sich nach 1945/49 in den europäischen und atlantischen Bündnissen vollzog („Es ist in der Tat verblüffend, wie zeitgemäß und geradezu prophetisch sich der Vortrag heute liest“56), und nur folgerichtig bezog Adenauer auch ihn in seine oben bereits angesprochenen Überlegungen zur EGKS-Delegationsleitung ein. „Er werde einen Mann von hohen Fähigkeiten, ausreichendem Idealismus und der erforderlichen allgemeinen Übersicht über die Wirtschaftsprobleme aussuchen“, hob er am 23. Mai 1950 im Gespräch mit Jean Monnet hervor: „Er denke dabei in erster Linie an seinen alten Freund, Dannie Heineman, der aber wegen Alters und der fremden Staatsangehörigkeit nicht in Frage komme.“57 Auf beiden Feldern (Christdemokratie und Europa) begegnen wir also engen Vertrauten und persönlichen Freunden, die – politisch ungebunden, in Administrationen nicht eingebunden – auf Informationsbeschaffung und Meinungsbildung prägenden Einfluß nahmen, und dies über die verschiedenen Abschnitte 53

Vgl. Hans-Peter Schwarz (wie Anm. 7), S. 489. Zu den am 9./10.1.1924 in der Reichskanzlei geführten Verhandlungen über Fragen wirtschaftlicher Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland vgl. Karl Dietrich Erdmann, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1966, S. 171–175, 351–359; Günter Abramowski (Bearb.), Die Kabinette Marx I und II, Bd. 1, in: Karl Dietrich Erdmann/Hans Booms (Hrsg.), Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, Boppard/Rhein 1973, S. 211–215. Vgl. auch Adenauer im Dritten Reich (wie Anm. 1), S. 172. 55 Vgl. Dannie N. Heineman, Outline of a New Europe, Brüssel 1931; dt. Ausgabe: Skizze eines neuen Europa, Köln 1931. 56 Aus Adenauers Brief vom 7.12.1961, in StBKAH, Bestand Dannie N. Heineman. 57 Vgl. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1949/50 (wie Anm. 8), S. 157. Vgl. auch Un changement d’espérance. La Déclaration du 9 mai 1950. Jean Monnet – Robert Schuman, hrsg. von der Fondation Jean Monnet pour l’Europe. Lausanne 2000, S. 249. Zur EGKS-Frage oben die Hinweise bei Anm. 7. 54

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und Einschnitte seiner Biographie hinweg. Im „inner circle“ stößt man auch auf Friedrich Spennrath, Adenauers technischen Beigeordneten der Jahre 1927 bis 1931, der dann als langjähriges Mitglied und als Vorsitzender des Vorstands der AEG in Berlin zum Helfer in nationalsozialistischer Zeit und zum Verbindungsmann, nicht zuletzt auch zum wirtschaftspolitischen Ratgeber des Bundeskanzlers in der geteilten Hauptstadt wird58. Biographische Nähe fällt ferner an der jahrzehntelangen Verbindung zu Heinrich Lehmann auf, der – mit Adenauer gleichaltrig, sein Mitschüler am Kölner Apostelngymnasium, dann auch über seine Frau mit Adenauers Schwager Max Weyer verwandt59 – als emeritierter Ordinarius der Rechte an der Universität Köln unter den Randfiguren der beginnenden Adenauerzeit erscheint (aufgrund seiner gutachterlichen Tätigkeit in Mitbestimmungsfragen 1950/5160). IV. Von dieser Gruppe führt ein weiterer Schritt in den eigentlichen inneren Kreis des Familienlebens, dem in der Gründergeneration der Bundesrepublik sein eigener Stellenwert zukommt. Seine ältesten Söhne Konrad und Max schaltete Adenauer gerne bei wirtschafts-, energie- und verkehrspolitischen Problemstellungen ein61; der erste Sohn aus zweiter Ehe, der katholische Geistliche Paul Adenauer (promovierter Sozialwissenschaftler), wurde zum Vermittler in der Sozialpolitik der fünfziger Jahre. Auch auf seine Empfehlungen ist es zurückzuführen, daß Adenauer in der Planungsphase der Rentenreform von 1957 mit dem Doktorvater des Kanzlersohnes zusammenkam, Joseph Höffner, der dann für die „Neuordnung der sozialen Leistungen“ mit Hans Achinger, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer die „Rothenfelser Denkschrift“ erarbeitete62. – „Habe vier hervorragende Gelehrte 7/8 Stunden bei mir gehabt“, teilte Adenauer am 21. März 1955 Vizekanzler Blücher mit, „und sie gebeten um 58 Vgl. Briefe 1957–1959 (wie Anm. 1), S. 127 f., 427 f.; vgl. auch Kirsten Wohlfahrt, „Ich erlaube mir, Ihnen nach dieser Richtung einige Gedanken zu unterbreiten . . .“. Friedrich Spennrath und Konrad Adenauer. Eine wirtschaftlich-politische Beziehung von der Weimarer Republik bis zum Kalten Krieg, Magisterarbeit Leipzig 2000. 59 Vgl. Hans-Peter Schwarz (wie Anm. 7), S. 89 f. 60 Vgl. Gabriele Müller-List (Bearb.), Montanmitbestimmung. Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 21. Mai 1951, Düsseldorf 1984, S. LVII. 61 Konrad Adenauer (1906–1993) wegen seiner langjährigen Tätigkeit als Vorstandsmitglied des Rheinischen Elektrizitätswerkes im Braunkohlerevier AG und der Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation (heute: Rheinbraun AG) – Max Adenauer (1910–2004) als Beigeordneten der Stadt Köln im Dezernat Wirtschaft und Häfen (1948–1953) bzw. als Oberstadtdirektor von Köln (1953–1965). 62 Vgl. Briefe 1953–1955 (wie Anm. 1), S. 242–244, 527 f.

Ein „Gehirntrust‘‘ für Adenauer?

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unabhängige Arbeit eines Gutachtens zur Sozialreform, damit ich Parallelen ziehen und Überlegungen anstellen und diese dann Storch gegenüber vorbringen kann.“63 Maßgebliche Bedeutung erlangte dann besonders (wie neuerdings selbst in den Protokollen des Ministerausschusses für die Sozialreform nachzulesen ist64) der Rentenreformplan des Bonner Dozenten für Wirtschaftstheorie und Sozialpolitik sowie Geschäftsführers des Bundes katholischer Unternehmer, Wilfried Schreiber, nachdem Paul Adenauer den Vater auf dessen Schrift „Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft“ aufmerksam gemacht hatte65 – auch wenn die Sache damit noch lange nicht gelaufen war; denn Schreiber war in Adenauers Augen (so schrieb er im Oktober 1956 seinem Sohn) „genau so ein Fanatiker für seine sogen. dynamische Rente – das Wort dynamisch in dem Zusammenhang ist nach meiner Meinung ein Unsinn – wie gewisse Leute dagegen sind. Ich hoffe, daß wir die Sache doch in Ordnung bekommen.“66 V. Beim ersten Bundeskanzler das Beraterumfeld einzugrenzen und dort die spezifischen, für Adenauer typischen Konsultationsformen auszumachen, erweist sich, wie wir gesehen haben, als ebenso reizvolles wie nützliches Unterfangen. Will die Adenauer-Forschung zukünftig seinen „Umgang mit Beratern und Sachverständigen von ,außen‘“ bei „Entscheidungsvorbereitung und Urteilsbildung“67 detaillierter nachweisen, bedarf es sowohl inhaltlich als auch methodisch weiterer intensiver Bemühungen. Zum einen geht es dabei, zur Ergänzung der auf diesen Seiten benannten ersten Indizien, um die noch genauere Auswertung der Rhöndorfer Materialien und ihren Vergleich mit den hierfür so wichtigen Einzelbelegen in den Ressortakten und mit anderen amtlichen Unterlagen (wie sie z. B. zur Tätigkeit des 1952 gegründeten Forschungsbeirats für die Wiedervereinigung Deutschlands erhalten sind68). Zum anderen gilt es, bei den 63

Vgl. ebd., S. 528. Vgl. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Ministerausschuß für die Sozialreform 1955–1960, bearb. von Bettina Martin-Weber, München 1999, S. 31, 33 f., 127–131, 133, 135, 138. 65 Wilfried Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft. Vorschläge des Bundes Katholischer Unternehmer zur Reform der Sozialversicherung, Köln 1955. – Dazu auch die Hinweise von Hans Günter Hockerts, Konrad Adenauer und die Rentenreform von 1957, in: Konrad Repgen (Hrsg.), Die dynamische Rente in der Ära Adenauer und heute. Rhöndorfer Gespräche, Bd. 1, Stuttgart/Zürich 1978, S. 11–29, hier S. 19–22. 66 Vgl. Briefe 1955–1957 (wie Anm. 1), S. 244. 67 Hans-Peter Schwarz in: Konrad Adenauers Regierungsstil (wie Anm. 5), S. 66. 68 Vgl. BA, B137/937, 3930. 64

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„Rhöndorfer Gesprächen“ der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus – über die oben angeführten Beispiele hinaus – gerade diese Fragestellung verstärkt in den Mittelpunkt des Informations- und Meinungsaustauschs zwischen damaligen Akteuren und Zeithistorikern zu rücken.

„Das große Gespräch“.1 Willy Brandt und seine Berater Von Daniela Münkel „Die Jahre vor und nach 68 waren unstreitig der Höhepunkt des Einflusses der Intellektuellen auf die deutsche Politik. In keiner Phase der Geschichte der Bundesrepublik war das Verhältnis von Regierung und Intellektuellen so ungetrübt wie in den fünf Jahren der Regierung Brandt, doch dieser honeymoon war zerbrechlich und konnte nicht von Dauer sein. Zum einen, weil die Intellektuellen alles andere als eine homogene Gruppe waren, zum anderen, weil die Euphorie des Machtwechsels sich rasch verflüchtigte und mit dem Übergang von Bundeskanzler Brandt zu Helmut Schmidt, der als Pragmatiker einen anderen Politikertyp verkörperte als der nachdenkliche, sensible, visionäre Intellektuelle Willy Brandt, ihren persönlichen Bezugspunkt verlor“2,

so Kurt Sontheimer in der Rückschau. Sontheimer steht mit dieser Einschätzung nicht allein, viele Zeitgenossen würden ihm beipflichten und auch heute noch gehört zum Bild der Ära Brandt die besondere Nähe des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers zu Wissenschaftern, Künstlern und Intellektuellen. Was bedeutet diese Feststellung aber für das Feld der Politikberatung? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Trotz der enormen quantitativen Ausweitung von Politikberatung während der Kanzlerschaft Willy Brandts,3 gelang es ihm und der SPD in weiten Teilen nicht – so die These – die neuen Akzente in der Politikberatung der SPD der sechziger Jahre für die Zukunft zu verankern, so dass die praktischen Auswirkungen und innovativen Impulse dieser politischen Ära für das Feld der Politikberatung langfristig gesehen begrenzt blieben. Willy Brandt konnte mit Unterstützung der Massenmedien in der Öffentlichkeit ein Bild erzeugen und aufrechterhalten, welches auch 1 So das Schlagwort für eine Veranstaltungsreihe der SPD in den Jahren 1962/63, deren Ziel es war, im Austausch zwischen Politik und Wissenschaft über zentrale Politikbereiche zu diskutieren und Zukunftsperspektiven zu entwickeln; vgl. Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1962/63. Hannover/Bonn o.J, S. 317 ff. Für hilfreiche Anmerkungen zu diesem Text danke ich Adelheid von Saldern, Lu Seegers und Frank Bösch. 2 Kurt Sontheimer, So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, München 1999, S. 134 f. 3 Vgl. dazu u. a. Wilhelm Bleek, Politikwissenschaftliche Politikberatung in Geschichte und Gegenwart, in: Uwe Jens/Hajo Romahn (Hrsg.), Der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik, Marburg 2002, S. 75–94, hier S. 80 f. u. S. 90 f.

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in Sachfragen eine bis dahin ungekannte enge Verbindung von Politik und Wissenschaft suggerierte und den öffentlichen Charakter von Politikberatung betonte.4 I. Neue Formen der Politikberatung für die SPD Politikberatung, sei es durch ressortbezogene Beiräte, ressorteigene Einrichtungen, weitgehend eigenständige Forschungseinrichtungen, als ad-hoc Beratung oder in Form von externen Beraterkreisen für einen Politiker oder eine Partei galt als „modern“ und hatte in den sechziger Jahren eine erste Hochphase in der Geschichte der Bundesrepublik. Die zweite Nachkriegsdekade war das Jahrzehnt der Planungseuphorie. Politiker und führende Soziologen, u. a. Helmut Schelsky und Hans Paul Bahrdt, setzten sich mit dem Thema praktisch und theoretisch auseinander. Die sich verändernden außen-, innen- und sicherheitspolitischen Bedingungen, neue technisch-naturwissenschaftliche Herausforderungen spielten eine zentrale Rolle. Darüber hinaus bestand sowohl unter Wissenschaftlern als auch unter Politikern der Wunsch, die als Folge des Nationalsozialismus hervorgerufene Diskreditierung einer Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft zu überwinden. Es gab Bedarf an und ein Bedürfnis zur Politikberatung. Dabei orientierte man sich in der Regel an anglo-amerikanischen Vorbildern, so z. B. an den „Think-Tanks“ und den Beraterzirkeln der amerikanischen Präsidenten. Eine unveränderte Übernahme erfolgte jedoch nicht, da Politikberatung keinesfalls unabhängig vom politischen System und der politischen Kultur eines Landes funktioniert. Man adaptierte Ideen und passte sie an die deutschen Gegebenheiten an. Wissenschaftliche Politikberatung lässt sich in der Bundesrepublik bis heute in fünf unterschiedlichen Formen finden: ressortbezogene Beiräte, ressorteigene Forschungseinrichtungen, Bund-Länder-Einrichtungen, ad-hoc-Beratung sowie eigenständige Forschungseinrichtungen.5 Im Folgenden werden die ad-hoc-Beratung, die eigenständigen Forschungseinrichtungen sowie der Versuch einen internen Beraterkreis zu installieren betrachtet. Unter ad-hoc-Beratung wird in der Regel Politikberatung durch Gutachten, Forschungsaufträge und Anhörungen verstanden. Darunter wird zusätzlich der nicht institutionalisierte Austausch von Fachleuten und Politikern über Einzelfragen subsumiert. Die eigenständigen Forschungseinrichtungen zur Politikberatung können unter dem Begriff der „Ideenagentur“ gefasst werden. Es handelt sich dabei um Einrichtungen wie z. B. die „Stiftung Wissen4 Zwar gelang es Brandt nicht wie anderen zeitgenössischen Politikern einen festen Beraterkreis zu installieren, allerdings stellt sich hierbei auch die Frage, ob solche oft sehr einflussreiche, im „Verborgenen“ operierende Gruppen letztendlich mit demokratischen Prinzipien zu vereinbaren sind. 5 Vgl. Axel Murswieck, Wissenschaftliche Beratung im Regierungsprozess, in: Ders. (Hrsg.), Regieren und Politikberatung, Opladen 1994, S. 103–119, hier S. 108.

„Das große Gespräch‘‘. Willy Brandt und seine Berater

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schaft und Politik“.6 Darüber hinaus wird in Anlehnung an amerikanische Formen der Politikberatung der Begriff des „brain trust“ verwendet. Dieser meint hier den Zusammenschluss einer Gruppe von Experten, die eine bestimmte Partei oder einen Politiker auf diversen Politikfeldern in Sachfragen beraten. Als Willy Brandt im November 1960 zum Kanzlerkandidaten seiner Partei gewählt wurde, kündigte er einen „neuen politischen Stil“ an, der auch die Politikberatung betreffen sollte: „Ich werde nicht nur um redliche Zusammenarbeit und sachlichen Ausgleich bemüht sein, ich werde mich um die Unterstützung von Fachleuten, vor allem jüngeren Kräften, bemühen, auch wenn sie keiner Partei angehören.“7

Diese Aussage ist als integraler Bestandteil einer „Runderneuerung“ der SPD seit 1958 zu interpretieren. Dabei handelte es sich um die programmatische Öffnung durch das Godesberger Programm, neue politische Schwerpunktsetzungen, eine Organisationsreform sowie eine Modernisierung der Öffentlichkeitsarbeit und Selbstdarstellung der Partei. Auch im Bereich der Politikberatung ergriff die SPD neue Maßnahmen: Im Jahr 1959 wurden Infas und das Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gegründet. Widmete sich Infas dem bis dahin von der SPD stark vernachlässigten Feld der Meinungsforschung, lagen die Arbeitsschwerpunkte des Forschungsinstituts der FES auf den Gebieten der Sozial- und Zeitgeschichte, der Außen-, Wirtschafts- und Deutschlandpolitik sowie der Entwicklungsländerforschung.8 In den Jahren 1958 bzw. 1962 wurden die Pläne Z („Die Zukunft meistern“)9 respektive Z II10 verkündet, die auf ein Bündnis zwischen Politik und Wissenschaft zur Lösung von bildungs- und wissenschaftspolitischen Fragen abzielten. Die Politikberatung der SPD im Bildungsbereich gewann dennoch während der sechziger Jahre keine Konstanz, allerdings fanden zahlreiche Arbeitsgruppen und round-table-Gespräche zum Thema Bildungspolitik statt.11 In den gleichen Kontext ist die Einrichtung eines „Grundlagenreferates“ beim Parteivorstand der SPD im Jahr 1962 einzuordnen. Dieses Referat hatte primär die Aufgabe der „Kontaktpflege zur Wissenschaft und Forschung“.12 Die seit dem Jahr 1961 vom damaligen bayerischen SPD6 Vgl. Wienand Gellner, Ideenagenturen für Politik und Öffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland, Opladen 1995, S. 18 f. 7 Protokoll der Verhandlungen und Anträge vom Parteitag der SPD in Hannover 21. bis 25. November 1960 Hannover/Bonn 1961, S. 674. 8 Vgl. Gellner, Ideenagenturen, S. 214. 9 Vgl. Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945–1965, Bonn 1996, S. 431 f. 10 Vgl. Daniela Münkel (Bearb.), Auf dem Weg nach vorn. Willy Brandt und die SPD 1947–1972 (Berliner Ausgabe, Bd. 4), Bonn 2000, S. 562, Nr. 43, Anm. 4. 11 Vgl. Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (AdsD), SPDPV; 6887. 12 Auf der Klausurtagung des SPD-Präsidiums am 4. Dezember 1961 stellte Waldemar von Knoeringen Pläne für Grundlagenforschung vor, die in Verbindung mit der

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Landesvorsitzenden und stellvertretenden Bundesparteivorsitzenden Waldemar von Knoeringen geforderte Installierung eines speziellen „Wissenschaftlichen Büros“ beim Parteivorstand wurde zwar diskutiert, aber nicht realisiert.13 Die oben erwähnte Ankündigung Brandts auf dem Parteitag 1960 wurde dann auch sogleich in die Tat umgesetzt. Neben Brandt, Fritz Erler, Carlo Schmid und einigen anderen, „jüngeren“ Sozialdemokraten, war es vor allem der Chefredakteur der Neuen Gesellschaft, Ulrich Lohmar,14 der sich auf diesem Feld engagierte. Den Ansatzpunkt für eine externe Politikberatung der SPD durch Wissenschaftler bildete die von Brandt nach seiner Wahl zum SPD-Kanzlerkandidaten im November 1960 verkündete „Gemeinsamkeitspolitik“. Sie zielte darauf ab, dass zentrale innen- und außenpolitische Probleme der Bundesrepublik nur über die Parteigrenzen hinweg gemeinsam zu lösen seien. Dieses Konzept sollte sowohl die Regierungsbereitschaft der SPD demonstrieren als auch die Partei für neue Wählerschichten – besonders in „der Mitte“ – attraktiver machen.15 Inhaltliche Kernpunkte der neuen politischen Zielrichtung waren die Gesundheits-, Verkehrs-, Familien- und Bildungspolitik sowie die Stadtplanung. Zur Werbung für die „Gemeinsamkeitspolitik“ wurden unter dem Motto das „Große Gespräch“ seit 1960 zahlreiche öffentliche Kundgebungen abgehalten, so auch der „Kongress deutsche Gemeinschaftaufgaben“ vom 17. bis 19. Oktober 1962 und vom 29. August bis 1. September 1963. Diese Veranstaltungen nahmen Willy Brandt und die SPD-Führung zum Anlass, um Spezialisten die Möglichkeit zu geben, in Referaten ihre Vorstellungen über die Erfordernisse einer zukunftsorientierten Politik zu den zentralen Politikfeldern der „Gemeinsamkeitspolitik“ zu entwickeln. Dieses Angebot, das Willy Brandt persönlich an die Wissenschaftler herantrug, stieß offensichtlich auf eine breite positive Resonanz.16 Friedrich-Ebert-Stiftung erfolgen und sich neben wissenschaftlichen auch kulturpolitischen Fragen widmen sollten; vgl. AdsD, SPD-PV, PV-Protokolle, Dezember 1961. Auf der Präsidiumssitzung am 22. Januar 1962 bewarb sich Klaus Helfer für die Leitung eines solchen Referates, und das SPD-Präsidium beschloss daraufhin ihm dem PV für diese Aufgabe zu empfehlen; vgl. AdsD, SPD-PV, PV-Protokolle, Januar 1962. 13 Vgl. u. a. AdsD, SPD-PV, 2/PVAR3, Schreiben Knoeringens an Ollenhauer vom 10. November 1961; AdsD, SPD-PV, 6811, Schreiben Helfers an Brandt vom 31. Juli und 15. August 1962. 14 Ulrich Lohmar ( geb. 1928, gest. 1991) war von 1954 bis 1967 Chefredakteur der Neuen Gesellschaft, 1957 bis 1976 MdB, von 1967 bis 1969 Chefredakteur der Tageszeitung Neue Westfälische und von 1971 bis 1984 Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Gesamthochschule Paderborn. 15 Vgl. dazu Daniela Münkel „Sozialdemokratie auf dem Weg nach vorn“. Willy Brandt und die SPD 1947 bis 1972. Einleitung, in: Dies (Bearb.), Auf dem Weg nach vorn, S. 37 f. Zur Gemeinsamkeitspolitik allgemein: Beatrix W. Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungs-Verantwortung. Außen-, sicherheits- und gesellschaftspolitische Öffnung der SPD 1960–1966, Bonn 1990. 16 Vgl. AdsD, SPD-PV, 6784.

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„Mehr als 30 national und international anerkannte Wissenschaftler folgten unserer Einladung. Wir haben an die Wissenschaftler Fragen gestellt, und sie haben sie uns nach besten Wissen und Gewissen beantwortet. Diese Antworten haben wir in unserer Arbeit einfließen lassen. Das Gespräch zwischen Wissenschaft und Politik ist für uns kein Show-Geschäft, sondern eine Selbstverständlichkeit“17,

schrieb Brandt in seinem Vorwort zum SPD-Jahrbuch 1962/63. Allerdings gehörte diese Art des öffentlich zelebrierten Schulterschlusses zwischen Sozialdemokratie und Wissenschaftlern ohne Zweifel mit zur Selbstinszenierung der „neuen“ SPD. Man wollte damit Seriosität und fachliche Kompetenz demonstrieren sowie neue Impulse für die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik bieten. Dies betonte Brandt in einem Dankschreiben an die Teilnehmer des „Kongresses Deutsche Gemeinschaftsaufgaben“ im Jahr 1962 ausdrücklich: „Ich möchte Ihnen, zugleich im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, noch einmal herzlich für Ihre Mitwirkung am Kongreß Deutsche Gemeinschaftsaufgaben in der Berliner Kongreßhalle danken. Meine politischen Freunde und ich halten diesen Kongreß für den gelungenen Ausdruck einer neuen Art, sich mit Fragen der öffentlichen Verantwortung auseinanderzusetzen. Wir sind sehr froh, daß Sie uns geholfen haben, einen neuen Stil im Umgang zwischen Wissenschaft und Politik sichtbar zu machen.“18

Diese Art der Zusammenarbeit war von beiden Seiten gewünscht, wie auch die Korrespondenz mit führenden in- und ausländischen Wissenschaftlern über deren Teilnahme an den Veranstaltungen belegt. Die meisten der von Brandt angeschriebenen Personen reagierten nicht nur positiv auf das Ansinnen des SPD-Kanzlerkandidaten und Regierenden Bürgermeisters von Berlin, sondern begrüßten auch ausdrücklich die Möglichkeit, sich öffentlich zu Fachfragen äußern zu können und der Politik so als Berater zur Verfügung zu stehen. So war u. a. auch Max Horkheimer zu einer Teilnahme am „Kongress Deutsche Gemeinschaftsaufgaben“ bereit. Er schrieb an Brandt, dass er sich über die „Einladung [. . .] aufrichtig gefreut [habe, D. M.] und [ich, D. M.] bin Ihnen und der Sozialdemokratischen Partei sehr zu Dank verpflichtet“19. Ein damals jüngerer Professor der Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg betonte vor allem die Möglichkeiten, die eine solche Form des öffentlichen Austausches zwischen Politik und Wissenschaft bot, um den „Elfenbeinturm“ Universität einen Schritt weit zu verlassen. „Da es für einen jungen Wissenschaftler, vor allem wenn er sich für das, was in der Wirklichkeit des Alltags geschieht, mitverantwortlich weiß, oft bedrückend ist, zu erfahren, wie gering seine Möglichkeiten sind, auf Grund der gewonnenen Einsich-

17 Willy Brandt, Vorwort zum Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1962/63. 18 AdsD, SPD-PV, 6788, Schreiben vom 28. Februar 1963. 19 AdsD, SPD-PV, 6784, Schreiben Prof. Dr. Horkheimer an Brandt vom 12. September 1962.

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ten verändernd einzuwirken, komme ich Ihrer Bitte, die ich als eine Ehre für mich empfinde, besonders gerne nach.“20

Dieser erste großangelegte Versuch der SPD-Führung, die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft zu intensivieren und zum integralen Bestandteil eines „neuen politischen Stils“ sowohl der Partei als auch der Politik ganz allgemein zu machen, war durch die Bereitschaft zur Mitarbeit seitens der angesprochenen Wissenschaftler zunächst sehr erfolgreich. Im Oktober 1962 trafen sich dann in Berlin erstmals namhafte Wissenschaftler und Politiker, um über die zukünftige Gestaltung von Gesundheits-, Bildungs-, Familien- und Stadtplanungspolitik zu diskutieren. Die Vorträge und Diskussionen wurden, um sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, publiziert.21 Aufgrund des Erfolges wurden ähnliche Treffen im folgenden Jahr wiederholt. Diese Form der öffentlichen, für die Bevölkerung transparenten Form der Politikberatung unterschied sich von Beraterzirkeln, die Politiker unter Ausschluss der Öffentlichkeit und somit nur für Eingeweihte nachvollziehbar berieten. Auf Anregung Brandts sollte diese Form der Politikberatung im Dialog von Politik und Wissenschaft auch in der Zukunft fortgeführt und intensiviert werden. So entstand in Zusammenarbeit mit Ulrich Lohmar die Idee, unter dem Dach der Friedrich-Ebert-Stiftung den „Gesprächskreis Wissenschaft und Politik“ zu gründen.22 In der von Willy Brandt und Ulrich Lohmar unterzeichneten Einladung zum ersten Treffen des Kreises am 20. Oktober 1963 in Berlin wurde das Ziel dargelegt: „Erlauben Sie uns bitte, Sie herzlich zu einem Gespräch einzuladen, das Wissenschaftler und Politiker zu einem ersten Gedankenaustausch zusammenführen soll. Die Friedrich-Ebert-Stiftung möchte die Gelegenheit zu solchen Gesprächen geben, weil ohne eine sehr viel engere Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Politikern gesicherte politische Gestaltungsmöglichkeiten heute kaum mehr erarbeitet werden können. Wir denken dabei nicht nur an das Beispiel des Zusammenwirkens der Administration des Präsidenten der Vereinigten Staaten mit vielen Wissenschaftlern in den USA, sondern auch an Institutionen, die sich etwa in Grossbritanien herausgebildet haben.“23

Bei diesem Treffen standen zunächst einmal Aufgaben und Organisation des Kreises im Vordergrund der Diskussion.24 Auf der Liste der einzuladenden Personen fanden sich so bekannte Namen wie Alexander Mitscherlich, Ralf Dah20

Ebd., Schreiben Prof. Dr. Furck an Brandt vom 24. September 1962. Vgl. Dokumentation deutscher Gemeinschaftsaufgaben, 5 Bände, Hannover 1963. 22 Vgl. AdsD, SPD-PV, 6808. Die ersten Planungen lassen sich bis zum Jahr 1961 zurückzuverfolgen; vgl. u. a. ebd., Schreiben von Lohmar an Brandt vom 21. Dezember 1961. 23 AdsD, SPD-PV, 6808, Schreiben vom 18. September 1963. 24 Willy Brandt hielt ein Einführungsreferat zum Thema „Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten des ,Gesprächskreises Wissenschaft und Politik‘“, und Hans Paul Bahrdt sprach über „Die Wissenschaftler und die Politik“; vgl. ebd. 21

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rendorf, Hans Paul Bahrdt, Fritz Fischer, Jürgen Habermas, Otto Stammer, Richard Löwenthal, Gerhard Leibholz, Horst Ehmke, Iring Fetscher sowie einige Wirtschafts- und Naturwissenschaftler.25 Von Seiten der SPD-Politiker waren außer Willy Brandt auch Fritz Erler, Carlo Schmid, Alex Möller, Heinrich Deist, Georg August Zinn, Klaus Schütz und Egon Bahr vorgesehen. Versucht man diese Gruppe soziologisch näher zu charakterisieren, so fällt zunächst einmal ins Auge, dass es sich ausschließlich um Männer handelte. Frauen spielten in der Politikberatung für die SPD zu dieser Zeit überhaupt keine Rolle. Dies änderte sich erst sehr langsam gegen Ende der sechziger Jahre, als sich auch einige Frauen, vor allem Journalistinnen, im Rahmen der Sozialdemokratischen Wählerinitiative im Austausch mit Brandt zu politischen Sachfragen äußerten.26 Außerdem handelte es sich im Wesentlichen um eine Generationskohorte, die die „mittlere Generation“ in Politik und Wissenschaft repräsentierte. Darüber hinaus ist bei den Wissenschaftlern, die fast ausschließlich an Universitäten tätig waren, die Dominanz der Geistes- und Sozialwissenschaften auffällig. Ohne Soziologie und Politikwissenschaft als relativ neue wissenschaftliche Disziplinen waren nach Ansicht der Initiatoren des Gesprächskreises die Zukunftsprobleme nicht zu lösen. Es lässt sich hier also eine Zäsur in der Politikberatung nicht nur der SPD, sondern auch im Allgemeinen ausmachen. Über das erste Treffen des Gesprächskreises berichtete auch Der Spiegel unter der Überschrift „SPD-Braintrust“. Das Blatt schrieb: „Nach amerikanischem Vorbild baut SPD-Kanzlerkandidat Brandt sich einen ,Braintrust‘ auf, in dem namhafte Wissenschaftler aus der Bundesrepublik mitarbeiten sollen. [. . .] Über 50 Fachgelehrte haben der SPD ihre Mitarbeit bereits zugesagt.“27

Die bekanntesten Personen wurden im dem Artikel namentlich erwähnt. Diese Meldung ist im Prinzip nicht besonders spektakulär, wird jedoch interessant, wenn man die Reaktion darauf betrachtet. Einige der genannten Wissenschaftler bekamen Probleme, da ihr Engagement für die Politikberatung der SPD in ihren Universitäten kritisiert wurde.28 Besondere Schwierigkeiten bekam der Göttinger Professor für Staatsrechtslehre Gerhard Leibholz. Ulrich Lohmar schrieb daraufhin einen Leserbrief an den Spiegel, in dem er ausdrücklich betonte, dass es sich bei dem Gesprächskreis nicht um einen „brain trust“ 25

Vgl. AdsD, SPD-PV, 6808. So engagierte sich zum Beispiel die Journalistin Wibke Bruhns aktiv auf dem Gebiet der Medienpolitik. Sie erarbeitete ein Papier zur Medienpolitik, welches in der SPD intern diskutiert wurde und veröffentlichte im Vorwärts einen längeren Artikel zum Thema; vgl. AdsD, SPD-PV, 14521, Schreiben von Börner an Bruhns vom 22. Februar 1973; Vorwärts vom 25. Januar 1973. 27 Der Spiegel Nr. 45/1963. 28 Vgl. AdsD, SPD-PV, 6808, Schreiben Lohmars an Brandt vom 8. November 1963. 26

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handele, „vielmehr [gehe, D. M.] es darum, unabhängige Wissenschaftler und Politiker regelmäßig zu einem Austausch ihrer Überlegungen und Erfahrungen zusammenzuführen“29. Dass es für Wissenschaftler in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik grundsätzlich problematisch war, sich öffentlich für eine Partei – egal in welcher Form – zu engagieren, behinderte in nicht zu unterschätzendem Maße die Bemühungen der SPD, ihre Politikberatung neu zu organisieren. Der Gesprächskreis sollte sich in unregelmäßigen Abständen treffen, sowohl aktuelle politische Fragen als auch mittel- bzw. langfristig ausgerichtete politische Reformvorhaben diskutieren, Konzepte für die SPD entwickeln und sie der Öffentlichkeit präsentieren. Demzufolge war er, anders als Lohmar im Spiegel betonte, eben doch als „brain trust“ konzipiert. Die Themenkomplexe, mit denen sich der Gesprächskreis beschäftigte, deckten ein weites Spektrum ab. Ebenso wie die Bundestagswahlen von 1957 und 1961 wurden die „politischen Konsequenzen der Kybernetik“ oder Fragen der Bildungs-, Verkehrs- und Gesundheitspolitik diskutiert.30 Je nach der thematischen Schwerpunktsetzung setzte sich der Teilnehmerkreis spezifisch zusammen. Im Jahr 1964 wurde dann auch eine Aufsplittung in einzelne Arbeitsgemeinschaften nach verschiedenen Politikfeldern geplant. Der formulierte Anspruch des Gesprächskreises scheint allem Anschein nach zunächst auch in die Tat umgesetzt worden zu sein. Man traf sich nicht nur zu ein- oder mehrtägigen Veranstaltungen, sondern plante auch eine größere Publikation, in der Mitglieder des Kreises unter dem Titel „Deutschland 1975“ zu zentralen Zukunftsproblemen Stellung nehmen sollten. Sie erschien Anfang des Jahres 1965. Als Themen für eine zukunftsorientierte Politik wurden in dem Band Essays zu Fragen der demographischen Entwicklung, des technischen Fortschritts, der Bildung, der Gesundheit, des Verkehrs, der Stadtplanung und der Raumordnung präsentiert.31 Zum Zeitpunkt der Publikation des Buches gab es allerdings bereits massive Spannungen zwischen den beteiligten Wissenschaftlern und Politikern. Der Grund dafür ist in einem Vorkommnis während des Karlsruher SPD-Parteitages im November 1964 zu suchen. Der Parteitag markierte einen grundsätzlichen Bruch in dem Bestreben von Brandt, anderer SPD-Politiker und zahlreicher links-liberaler Wissenschaftler, die Politikberatung für die SPD durch eine Art „brain trust“ zu organisieren. Brandt, der inzwischen Parteivorsitzender der 29

Der Spiegel Nr. 47/1963. Vgl. AdsD, SPD-PV, 6808, Schreiben von Lohmar an Brandt u. a. vom 4. Januar 1964. 31 Vgl. Ulrich Lohmar (Hrsg.), Deutschland 1975. Analysen-Prognosen-Perspektiven, München 1965. An dem Projekt waren u. a. beteiligt: Harry Pross, Günter Wollny, Klaus von Dohnany, Hans Apel, Hans Paul Bahrdt und Karl Kühne. 30

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SPD geworden war, wurde auf diesem Parteitag erneut zum Kanzlerkandidaten gewählt. Diesen Anlass wollte er nutzen, um seine „Regierungsmannschaft“ und seine politischen Schwerpunkte der Öffentlichkeit zu präsentieren. Gleichzeitig führte er in seiner Rede aus: „Noch bevor [. . .] die sozialdemokratische Ministermannschaft vorgestellt werden wird, haben wir sichergestellt, daß ihr und mir ein Kreis anerkannter wissenschaftlicher Berater zur Seite steht, (Beifall) Männer an den hohen Schulen dieses Landes und an weltbekannten Instituten und zwar unabhängig davon, ob sie Mitglieder der sozialdemokratischen Partei sind. [. . .] Ich kann folgendes hinzufügen: Sobald wir die Regierungsverantwortung im Bund übernommen haben, werden wir dafür sorgen, daß das Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft auf eine neue Grundlage gestellt wird. [. . .] Wir werden institutionell die Voraussetzung schaffen, damit durch einen nicht zu großen Kreis von kompetenten Wissenschaftlern die politische Führung über das informiert wird, was Forschung und Technik heute auf allen Gebieten möglich machen.“32

Parallel zu dieser Ankündigung wurde eine Pressemitteilung der SPD mit den Namen von 36 Wissenschaftlern verteilt,33 die als Politikberater fungieren sollten. Da die Veröffentlichung der Namen offensichtlich nicht abgesprochen war, kam es zum Eklat.34 Noch während des Parteitages versuchte Ulrich Lohmar die Sache als Missverständnis darzustellen, und Brandt sprach von einer „bedauerlichen Panne“.35 Einige der genannten Professoren schickten daraufhin erboste Briefe an Brandt und kündigten ihre Mitarbeit auf, andere versicherten dem SPD-Vorsitzenden weiterhin ihren Willen zur Zusammenarbeit.36 „Es ging mir gewiß nicht darum, dem Vorstand der SPD ans Zeug zu flicken, und es ist mir ausgesprochen unangenehm, daß manche Journalisten unseren Protestschritt glaubten so deuten zu müssen, als wollten wir uns damit in aller Öffentlichkeit politisch von der SPD distanzieren. Es ging uns ausschließlich darum, die in der Bundesrepublik noch nicht überall voll begriffene eigentümliche Stellung des 32 Willy Brandt, Die Vorschläge der deutschen Sozialdemokraten zur Erneuerung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Rede Auf dem SPD-Parteitag 1964 in Karlsruhe, in: Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 23. bis 27. November 1964 in Karlsruhe. Protokoll der Verhandlungen, Hannover/Bonn o. J., S. 134 f. 33 Auf dieser Liste standen die Professoren: Heinrich Abel, Helmut Arndt, Hans Paul Bahrdt, Hellmut Becker, Wolfgang Bley, Erik Boettcher, Karl Martin Bolte, Ralf Dahrendorf, Friedrich Edding, Horst Ehmke, Thomas Ellwein, Iring Fetscher, Fritz Fischer, Ludwig von Friedeburg, Dietrich Goldschmidt, Otto Walter Haselhoff, Gottfried Hausmann, Rudolf Hillebrecht, Walter Jaide, Harald Jürgensen, Hans Joachim Lieber, E. Liefmann-Keil, Richard Löwenthal, Alfred Marchionini, Ernst May, Alexander Mitscherlich, Peter von Oertzen, Heinz-Dietrich Ortlieb, Erich Potthoff, Ludwig Raiser, Gisbert Rittig, Hans Schaefer, Karl Steinbuch, Willy Strzelewicz, Thure von Uexküll und E. Woermann; vgl. AdsD, SPD-PV, 6791. 34 Vgl. AdsD, SPD-PV, Sekretariat Alfred Nau, 2/PVAI 203. 35 Vgl. Protokoll 1964, S. 812 ff. und 866. 36 Vgl. AdsD, SPD-PV, Sekretariat Alfred Nau, 2/PVAI 203.

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wissenschaftlichen Beraters von Staatsmännern und politischen Gruppen nicht durch die ungeschickte und voreilige Erklärung Ihres Pressereferenten verwischen zu lassen. Der wissenschaftliche Rat setzt zwar gewiß ein eigenes Engagement in bezug auf das zu untersuchende Problem voraus, kann aber doch nur in einem Verhältnis der Unabhängigkeit und der kritischen Distanz zu dem zu Beratenden erteilt werden“37,

schrieb einer der betroffenen Wissenschaftler im Dezember 1964 an Willy Brandt. Hier wird erneut das Problem angesprochen, welches bis Ende der sechziger Jahre bestehen blieb und die Umsetzung der Pläne von Brandt und seinen Mitarbeitern behinderte, nämlich die Schwierigkeit für deutsche Wissenschaftler, öffentlich für eine Partei aktiv zu werden und sei es nur als Politikberater. Dieser Befund galt im besonderen Maße für ein Engagement für die Sozialdemokratie, denn dieser haftete auch nach Godesberg immer noch das Etikett einer Arbeiterpartei an, was nicht so recht in das in der Regel noch sehr konservative akademische Klima an deutschen Universitäten passte. Erschwerend kam hinzu, dass große Teile der SPD traditionell Probleme mit Intellektuellen in den eigenen Reihen wie außerhalb der Sozialdemokratie hatten.38 Man kann zeitweise sogar von einer regelrechten Intellektuellenfeindlichkeit innerhalb der deutschen Sozialdemokratie sprechen. Dennoch gab es auch einige Wissenschaftler, die sich über den Vorfall von Karlsruhe und die öffentliche Reaktion darauf hinwegsetzten. So schrieb ein anderer Betroffener nach dem Parteitag an die Friedrich-Ebert-Stiftung: „Sie haben ja nun leider sehr viel Trubel durch die Missverständnisse um die 36 Professoren gehabt, doch ist es mir eine Freude, Ihnen zu bestätigen, dass ich mich deshalb nicht sonderlich habe aufregen können, weil ich mich immer schon der SPD nahestehend betrachtet habe und es im übrigen schon für meine Pflicht und Schuldigkeit ansehe, jemanden zu beraten, der meinen Ratschlag wünscht. Es gehört meiner Meinung nach zu den bedauerlichen Erscheinungen unseres politischen Lebens, dass man nicht einmal mehr Ratschläge erteilen darf, ohne dass man dabei politisch abgestempelt wird. Oder die Gegenpartei Böses dahinter vermutet.“39

Trotz solcher Sympathiebekundungen waren die Folgen für den „Gesprächskreis Wissenschaft und Politik“ und damit für Brandts neues Konzept der Politikberatung durch den Karlsruher Vorfall nachhaltig. Zwar konnte der Band „Deutschland 1975“ – wie bereits erwähnt – noch erscheinen und der Gesprächskreis traf sich in unregelmäßigen Abständen weiter. Sein Charakter änderte sich jedoch. Man beschränkte sich nun im Wesentlichen auf die Durchfüh37 AdsD, SPD-PV, Sekretariat Alfred Nau, 2/PVAI 203, Schreiben von Prof. Dr. Ludwig Raiser an Brandt vom 31. Dezember 1964. 38 Vgl. Hartmut Soell, Sozialdemokratische Intellektuelle in der frühen Bundesrepublik, in: Thomas Hertfelder/Gangolf Hübinger (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 200–221, hier S. 200 ff. 39 AdsD, SPD-PV, Sekretariat Alfred Nau, 2/PVAI 203, Schreiben von Prof. Dr. Hans Schaefer an die Friedrich-Ebert-Stiftung vom 3. Dezember 1964.

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rung von Vortragsveranstaltungen.40 Der ursprüngliche Zweck eines öffentlichen Dialoges von Politik und Wissenschaft sowie einer kontinuierlichen Form der Politikberatung wurde nicht mehr erfüllt. Ein weiteres Indiz für die Auswirkungen, die der Vorfall auf dem Parteitag 1964 im Hinblick auf das öffentliche Bekenntnis von Wissenschaftlern zur SPD hatte, ist in dem wenig erfolgreichen Bemühen des „Wahlkontors deutscher Schriftsteller“ im Wahlkampf 1965 auszumachen, Unterschriften von Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen für eine Zeitungsanzeige im Wahlkampf 1965 mit dem Titel „Aufruf für eine neue Regierung“ zu erhalten. Obgleich die Anzeige zustande kam, gab es wesentlich mehr Ab- als Zusagen zu diesem Vorhaben.41 Versuche, den „Gesprächskreis“ wieder seinem ursprünglichen Zweck zuzuführen, scheiterten in den folgenden Jahren weitgehend. Ende 1965 machte Lohmar den Vorschlag, den Gesprächskreis in kleine Gruppen, die den entsprechenden Arbeitsgruppen der Bundestagsfraktion zugeordnet werden sollten, aufzugliedern. Gleichzeitig sollte ein Teil der Organisation auf die Fraktion übergehen. Eine Angliederung an die Fraktion hätte dem Gesprächskreis freilich ein anderes Profil gegeben, da die formulierte „Unabhängigkeit“ dann wohl durch die noch offensichtlichere Parteinähe überhaupt nicht mehr aufrecht zu erhalten gewesen wäre. In einer gemeinsamen Zusammenkunft mit Willy Brandt am 11. Dezember 1965 über die Frage „Die Organisation der Arbeit mit den Wissenschaftlern für den Parteivorsitzenden und die Fraktion“ wurde beschlossen, den „Gesprächskreis Wissenschaft und Politik“ weiterhin unter dem Dach der Friedrich-Ebert-Stiftung zu belassen und eine klare Kompetenzabgrenzung zu den Arbeitskreisen der Fraktion vorzunehmen.42 Das Scheitern einer Reaktivierung des Kreises im ursprünglichen Sinn lag nicht nur an den Wissenschaftlern, sondern auch an den Politikern. Willy Brandt verfolgte die Angelegenheit, nachdem er Ende 1966 Außenminister geworden war, nicht mehr mit gleichem Elan wie zuvor. Ein letzter Vorstoß im Februar 1968 blieb relativ erfolglos. In Bezugnahme auf die „Sozialdemokratischen Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren“, in denen u. a. gefordert wurde, dass „die Vertrauensleute der SPD [. . .] für ihre politische Arbeit die Zusammenarbeit mit Fachleuten suchen“43 müssten, wurde eine Veränderung des Gesprächskreises mit der Aufgabe „einer besonderen Form der wissenschaftlichen Beratung der Politik einerseits und der Anregung politisch interessanter Fragestellungen für die Wissenschaft“44 angeregt. Trotz dieses neuer40

Vgl. AdsD, SPD-PV, Sekretariat Alfred Nau, 2/PVAI 203. Vgl. AdsD, SPD-PV, 6927. 42 Vgl. AdsD, NL Erler, Mappe 95 A. 43 Horst Ehmke (Hrsg.), Perspektiven. Sozialdemokratische Politik im Übergang zu den siebziger Jahren. Text und Erläuterungen, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 163. 44 AdsD, SPD-PV, Sekretariat Alfred Nau, 2/PVAI 203, Schreiben vom 14. Februar 1968. 41

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lichen Misserfolges existierte der Kreis weiter, hatte allerdings keinen wesentlichen Einfluss auf die SPD-Politik in der Ära Brandt.45 Neben diesen Aktivitäten auf Bundesebene gab es Anfang der sechziger Jahre mehrere Anläufe von Brandt und seinen Mitarbeitern in Berlin, einen festen Kreis von Politikern und Journalisten ins Leben zu rufen.46 Im Jahr 1963 fanden unregelmäßige Treffen bei dem Journalisten und SPD-Mitglied Klaus Peter Schulz in Berlin statt. Zur geplanten Installierung eines Jour fixe kam es allerdings nicht, weil man seitens der SPD skeptisch war. So äußerte sich der damalige Referent Willy Brandts, Winfried Staar, aufgrund der spezifischen Disposition Schulzes dem Regierenden Bürgermeister gegenüber kritisch: „Ich habe jedoch einige Bedenken, ob man ihn [gemeint ist Klaus Peter Schulz, D. M.] als Träger des Kreises bestimmen sollte. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß er etwas empfindlich ist. Außerdem steht bei ihm – neben den unbestreitbar guten politischen Ideen – doch die emotionale Seite, d.h. ein besonderes Gefühl der Verehrung für Sie [gemeint ist Willy Brandt, D. M.] im Vordergrund. Ich fürchte etwas, daß das für die Arrangierung eines solchen Kreises nicht förderlich sein könnte.“47

Dennoch traf sich die Gruppe im Jahr 1963 noch weitere Male. Die gleiche Idee lag dem so genannten „Severin-Kreises“ zugrunde. Zumindest für die Jahre 1964/65 ist die Existenz eines solchen, nach dem Journalisten Jochen Severin48 benannten Kreises, bestehend aus Berliner Journalisten und SPD-Politikern, nachzuweisen.49 Dieser Kreis befasste sich vor allem mit dem Komplex der Bundestagswahl des Jahres 1965. Dabei ging es sowohl um Fragen von Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampfstrategien als auch um die Konzeption und Formulierung der politischen Inhalte, mit der die SPD und ihr Kandidat in den Wahlkampf ziehen sollten. Die Gruppe erarbeitete Konzepte für Reden Willy Brandts sowie für das Regierungsprogramm und machte sich Gedanken, wie man die Strategie der CDU aushöhlen könne.50 Der Kreis fungierte demzufolge als eine Art „brain trust“ für den Wahlkampf. Dass Brandt und sein Mitarbeiter Egon Bahr eng mit dem Kreis zusammengearbeitet haben, ergibt sich aus zahl45 Seine Hochzeit erlebte der Kreis erst Ende der siebziger und in den achtziger Jahren. 46 Vgl. AdsD, SPD-PV, 6820. Für den Gesprächskreis, der bei Klaus-Peter Schulz stattfinden sollte, waren u. a. Richard Löwenthal, Klaus Harpprecht, Harold Hurwitz vorgesehen. 47 AdsD, SPD-PV, 6820, Vermerk Staars für Brandt vom 23. Januar 1963. 48 Jochen Severin (geb. 1927, gest. 1995), Severin war nach dem Krieg journalistisch tätig, u. a. war er an der Gründung des Tagespiegel in Berlin beteiligt, ab 1947 war er bei Die Neue Zeitung, von 1965 bis Mitte der sechziger Jahre Filmproduzent und ab 1965 selbständiger Kaufmann im Bereich der Stadtbauplanung und Altbausanierung. In den achtziger Jahren war er dann im Verlagsgeschäft tätig, u. a. gründete er 1980 mit Wolf Jobst Siedler die „Severin und Siedler Verlags GmbH“. 49 Vgl. Landesarchiv Berlin (LA Berlin), B Rep. 002, 3285, Bd. I. 50 Vgl. ebd., Rundschreiben Severins vom 16. Dezember 1964.

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reichen Korrespondenzen und gemeinsamen Treffen. Der Kanzlerkandidat versuchte außerdem, eine Koordination mit dem „Gesprächskreis Wissenschaft und Politik“ sowie den Beteiligten am Band „Deutschland 1975“ zu erreichen.51 Allerdings gab es auch hier wieder Schwierigkeiten. Im Juli 1964 schrieb Severin an Brandt und kündigte die Auflösung des Kreises an, da ein Arbeitspapier der Gruppe über „eine Politik der Bundesrepublik auf längere Sicht“ nicht die gewünschte Resonanz bei der SPD gefunden habe. „Wir sind [. . .] zu dem Resultat gekommen, dass es uns nicht gelungen ist, die Art der Cooperation zu erreichen, die uns vorgeschwebt hatte, als sich der Kreis konstituierte. Alle Mitglieder des Kreises sind sich daher darüber einig, dass unsere Bemühungen in der von uns gewählten Form keine Zukunftsaussichten haben. Jeder einzelne von uns steht Ihnen jedoch mit seinen Sonderkenntnissen und Möglichkeiten für Ihre Arbeit und Bemühungen zur Verfügung.“52

Die Auflösung konnte zunächst durch eine persönliche Intervention Willy Brandts verhindert werden.53 Das Ende für den Kreis kam vermutlich nach der Bundestagswahl des Jahres 1965. Warum die Gruppe nicht weiter existierte und wann sie sich genau auflöste, ist nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass der Grund entweder in der Ankündigung Brandts im September 1965, in Zukunft nicht mehr für das Amt des SPD-Kanzlerkandidaten zur Verfügung zu stehen oder in seinem Weggang von Berlin Ende 1966, zu suchen ist. Wie die Schwierigkeiten im Falle des „Severin-Kreises“ zeigen, gab es nicht nur zwischen Wissenschaftlern und Politikern Probleme auf dem Feld der Politikberatung, sondern auch zwischen Journalisten und Politikern. Auch hier resultierten die Probleme aus unterschiedlichen Ansprüchen und dem Faktum, dass in Einzelfällen der reale Einfluss auf die Politik dann doch letztendlich begrenzt blieb. II. Ad-hoc Politikberatung und Einzelberater in den sechziger Jahren Parallel zu den Initiativen, einen festen Beraterkreis als „brain trust“ für die SPD zu installieren, favorisierte Brandt ein anderes System der Politikberatung, welches sich bereits in seiner Berliner Zeit herausgebildet hatte. Dabei ging es nicht primär um Gruppen, sondern um Einzelpersonen. Es lassen sich hier vor allem zwei Formen ausmachen: Zum einen der direkte mündliche oder schriftliche Austausch mit einzelnen Wissenschaftlern, Intellektuellen und Journalisten, also eine eher spontane, themenzentrierte Form der Politikberatung. Zum 51

Vgl. ebd., Vermerk Brandts an Bahr vom 16. Juni 1964. Ebd., Schreiben Severins an Brandt vom 16. Juli 1964. 53 Vgl. ebd., Schreiben Brandts an Severin vom 21. Juli 1964 und Korrespondenzen von 1965, in: AdsD, SPD-PV, 6930 und Depositum Bahr, Mappe 9 A. 52

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anderen ist die Einbindung von Fachleuten in den Regierungs- oder Parteiapparat und damit die Bildung eines internen Beraterkreises zu nennen, der zum Teil eine externe Beratung ersetzte. Ersteres fand seinen Ausdruck darin, dass Brandt sich über politische und programmatisch-theoretische Sachfragen mit Wissenschaftlern, Intellektuellen und Publizisten austauschte. Dabei bediente er sich unterschiedlicher Formen, wie der schriftlichen Auseinandersetzung mit Publikationen der jeweiligen Personen, der Bitte um Stellungnahmen zu unterschiedlichen Sachfragen, der Einbeziehung bei der Abfassung von wichtigen Reden, persönlicher Treffen und Diskussionen sowie der Zusammenarbeit bei Publikationen. Da ging es u. a. um Fragen der Koalitionsbildung, der Konzeption von Wahlkampfstrategien und Wahlslogans, der Medienpolitik, der Notstandsgesetzgebung, der Bildungspolitik sowie um das Konzept des demokratischen Sozialismus. Brandts Korrespondenz liest sich besonders in den sechziger Jahren wie das „who is who“ der deutschen (Links)-Intellektuellen- und Wissenschaftlerszene von Theodor W. Adorno bis Albert Schweitzer. Gleiches gilt für Verleger und Journalisten. Mit einigen von ihnen verband Brandt auch eine enge persönliche Freundschaft und manche „Beraterbeziehung“ existierte auf diese Weise über Jahrzehnte. So arbeitete er zum Beispiel seit der Nachkriegszeit mit Richard Löwenthal zusammen, mit dem er nicht nur Bücher und Reden gemeinsam verfasste,54 sondern sich auch regelmäßig über Sachthemen austauschte.55 So schrieb Löwenthal, um nur ein kurzes Beispiel zu nennen, Ende Januar 1971 an den Bundeskanzler: „Inzwischen hat die Entwicklung der sowjetischen Politik Dich und uns alle in eine sehr schwierige Lage gebracht. Ich schicke Dir anliegend einen Versuch, die Gründe dafür zu analysieren: Ich glaube, dass im Vorfeld des Parteitags [der KPdSU, D. M.] die Deutschlandpolitik in den Komplex eines massiven Vorstosses stalinistischer Ultras, mit Machtbasis im KGB [. . .] geraten ist.“56

Insgesamt entsprach die beschriebene Form der ad-hoc-Politikberatung am ehesten Brandts Vorstellungen, die einem diskursiven gegenüber einem patriarchalisch-autoritären Politikstil den Vorzug gaben. Je weiter sein politischer Aufstieg voran schritt, desto eher stieß diese Form der Politikberatung – darauf wird noch einzugehen sein – jedoch auf ihre Grenzen, die sich aus den pragmatischen Erfordernissen des politischen Tagesgeschäftes ergaben. 54 Das erste größere gemeinsame Buch war eine Biographie von Ernst Reuter; vgl. Willy Brandt/Richard Löwenthal, Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957. 55 Vgl. dazu die umfangreiche Korrespondenzen zwischen Brandt und Löwenthal im Willy Brandt Archiv (WBA), u. a. WBA im AdsD, Beruflicher Werdegang und politisches Wirken in Berlin 1947–1966, Mappe 2 (alt), 7 (alt) und 24 (alt). 56 Schreiben Richard Löwenthals vom 31. Janaur 1971, in: AdsD, Dep. Ehmke, 1/ HEA 223.

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Daneben strebte Brandt es an, einen internen Beraterkreis aufzubauen. Er bemühte sich, Personen, die er für kompetent hielt, gezielt in seinen Apparat einzubauen, um auf diese Weise jederzeit einen Austausch zu ermöglichen. Erstes herausragendes Beispiel für ein solches Vorgehen ist der ehemalige Journalist Egon Bahr, der im Jahr 1960 Pressechef Brandts in Berlin wurde, 1966 Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und von 1969 bis 1974 Staatssekretär und Bundesminister für besondere Aufgaben im Bundeskanzleramt war. Ein anderes Beispiel ist Klaus Harpprecht, seit 1956/57 verband Brandt mit dem Journalisten und Publizisten eine Freundschafts- und Arbeitsbeziehung.57 Die Zusammenarbeit begann mit der Überarbeitung der Ernst Reuter-Biographie, die Brandt zusammen mit Richard Löwenthal verfasst hatte, und erweiterte sich ständig. In den sechziger Jahren beriet Harpprecht Brandt und die SPD in Fragen der Übernahme amerikanischer Wahlkampfformen und Öffentlichkeitsarbeitsstrategien und schrieb Teile von Brandts Reden. Darüber hinaus tauschte sich der SPD-Vorsitzende mit ihm über Sachfragen aus, und im Jahr 1973 holte er ihn in seinen Regierungsapparat. Dort war Klaus Harpprecht zwar primär für die Produktion von Redemanuskripten zuständig, beriet den Kanzler aber auch in Fragen der deutsch-amerikanischen Beziehungen sowie des Verhältnisses zu Frankreich und Israel.58 Auch nach dem Rücktritt Brandts als Bundeskanzler fungierte Harpprecht noch bis Ende der achtziger Jahre als einer seiner Berater. Die Tendenz, eine Gruppe von Personen als internen Beraterkreis zu installieren, verstärkte sich, je weniger Zeit seine Ämter Brandt für die oben beschriebene spontane Form der Politikberatung ließen. III. Die Sozialdemokratische Wählerinitiative: auch eine Form der Politikberatung Eine besondere, in der Geschichte der Bundesrepublik singuläre Erscheinung war die Sozialdemokratische Wählerinitiative (SWI), die auch unter dem Aspekt der Politikberatung in der Ära Brandt betrachtet werden muss. Diese Initiative, von Wissenschaftlern, Intellektuellen, Journalisten und Künstlern als Wahlkampfunterstützung für die SPD und vor allem für ihren Kandidaten Brandt gegründet, beschränkte ihre Aktivitäten nicht nur auf das Abhalten von Wahlversammlungen und die Zusammenstellung von Wahlillustrierten, sondern legte auch Kurzanalysen, Strategiepapiere und Entwürfe für Reden vor.59 Darüber hinaus wurde manche interne Diskussionsrunde mit führenden SPD-Politikern 57 Vgl. dazu die umfangreiche Korrespondenz zwischen Brandt und Harpprecht im WBA, vgl. u. a. WBA im AdsD, Beruflicher Werdegang und politisches Wirken in Berlin 1947–1966, Mappe 20 (alt), 39 (alt), 40 (alt); Bundesaußenminister 1966–1969, Mappe 5 sowie die Überlieferung im Depositum Harpprecht (Privatbesitz). 58 Vgl. Klaus Harpprecht, Im Kanzleramt. Tagebuch der Jahre mit Willy Brandt, Berlin 2000, S. 11.

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abgehalten. Einzelne Mitglieder pflegten einen regen Austausch mit Willy Brandt, der die zentrale politische Identifikationsfigur für die Initiative war. Brandt selbst forderte zur Mitarbeit auf und stand den Ideen der SWI grundsätzlich offen gegenüber.60 Er suchte nicht nur den Rat von einigen Mitgliedern der Initiative, wie z. B. Sontheimer, Gaus, Grass und anderen, sondern war auch inhaltlichen Vorschlägen aus der Gruppe zugetan.61 Dabei ging es um die Konzeption des Wahlkampf- und Arbeitsprogramms der SPD, um einzelne politische Sachfragen, wie z. B. die Ost- oder Medienpolitik, bis hin zu Fragen der Wahlkampfkonzeption. Wie ernst die Funktion der SWI, als Politikberatungsinstanz von Brandt und seinen Mitarbeitern genommen wurde, zeigt nicht nur die diesbezüglich breite Korrespondenz über Sachfragen und regelmäßige Arbeitsgespräche, sondern auch die Tatsache, dass es Versuche gab, einige Mitglieder der Initiative direkt in die Politik zu holen. Im Fall des Spiegel-Chefredakteuers Günter Gaus war man damit erfolgreich, er war ab 1973 Staatssekretär im Bundeskanzleramt und ab 1974 Leiter der ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin. Hatte man 1969 ein Ansinnen von Günter Grass, aktiv für die Regierung zu arbeiten, noch mehr oder weniger ignoriert,62 gab sich Brandt im Jahr 1972 offener: „Es wäre – auch wegen der Wirkung auf viele Mitarbeiter der SWI – politisch sinnvoll, Günter Grass mit einer besonderen Aufgabe zu betrauen.“63 Allerdings war ein solcher Vorschlag innerhalb der Führungsriege der SPD nicht mehrheitsfähig, weil der Mehrheit nicht daran gelegen war, einem unter Umständen zu einflussreichen neuen Machtzirkel, der nicht der Partei angehörte, zu installieren. Deshalb gelang es langfristig nicht, obwohl dies von den führenden Mitgliedern der Initiative in Erwägung gezogen wurde, die SWI als eine Art „brain trust“ in der SPD fest zu verankern. Das Misslingen dieses Vorhabens lag sowohl an der SPD, als auch an der Initiative selbst, die nach 1969 und dann verstärkt nach 1972 mit Auflösungserscheinungen zu kämpfen hatte.

59 Vgl. Daniela Münkel, Intellektuelle für die SPD. Die sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Thomas Hertfelder/Gangolf Hübinger (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 222–238; Wigbert Löer, Ausflug zur Macht, noch nicht wiederholt: Die sozialdemokratische Wählerinitiative und ihre Rudimente im Bundestagswahlkampf 1998, in: Dürr, Tobias/Walter, Franz (Hrsg.), Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft: Parteien, Milieus und Verbände im Vergleich, Opladen 1999, S. 379–393, hier S. 382. 60 Vgl. ebd., S. 385. 61 Vgl. u. a. AdsD, SWI, Mappe 1. Einige Vorschläge der Initiative fand Brandt jedoch auch eher unrealistisch und „politikfern“. 62 Vgl. Münkel, Intellektuelle, S. 235. 63 AdsD, Depositum Bahr, Mappe 436, Vermerk Brandts vom 25. Dezember 1972.

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IV. Politikberatung in der Kanzlerzeit Willy Brandts Nach der Übernahme des Amtes des Bundeskanzlers versuchte Brandt seinen internen Beraterkreis auszubauen. Er betraute Personen in seiner engsten Umgebung mit Ämtern, auf deren Meinung er auch schon vorher Wert gelegt hatte und die eher als Experten, denn als Parteikader galten. Neben Egon Bahr und Horst Ehmke, die ja bereits eine politische Karriere hinter sich hatten, sind hier vor allem Conrad Ahlers, 1969–1972 Leiter des Bundespresseamtes, Klaus Harpprecht oder Leo Bauer, „Mitarbeiter der SPD-Führung für besondere Aufgaben“ zu nennen. Ein derartiges Vorgehen ist zunächst einmal nicht ungewöhnlich, sondern wird in der Regel von allen hohen Spitzenpolitikern praktiziert. Auffällig bei Brandt sind eher die Personen selbst, die man als eigenwillige Individualisten bezeichnen kann. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass die Betreffenden sich keineswegs immer den politischen Erfordernissen unterordneten, was nicht selten zu innerparteilichen oder koalitionsinternen Konflikten führte und Brandt häufig als Führungsschwäche ausgelegt wurde. So gab es beispielsweise immer wieder Konflikte um Conrad Ahlers im Bundespresseamt, der in Journalistenkreisen häufig, anstatt die Meinung der Bundesregierung wiederzugeben, öffentlich oder halböffentlich seine private politische Meinung kundtat.64 Der Bundeskanzler tauschte sich weiterhin – wenn auch seltener – mit Wissenschaftlern und Intellektuellen aus und zog externe Fachleute beim Abfassen von Reden hinzu, wie z. B. Golo Mann, Richard Löwenthal, Günter Gaus oder Günter Grass. Klaus Harpprecht hat in seinem Buch „Im Kanzleramt“ detailliert das Zustandekommen der Regierungserklärung des Jahres 1973 beschrieben,65 das als exemplarisch gelten kann. Für die jeweiligen Schwerpunkte einer Rede wurden ex- bzw. interne Experten herangezogen. So entstanden die „großen“ Reden in der Diskussion und im Austausch mit Fachleuten, Wissenschaftlern, Intellektuellen und Journalisten. Es entsprach Brandts politischem Stil, dass er sich selbst aktiv einmischte und sich an den Diskussionen der verschiedenen Fassungen mit Verbesserungsvorschlägen beteiligte. Um diese Form der Politikberatung etwas zu konkretisieren sei ein Beispiel ausführlicher vorgestellt. Anlässlich des 20. Todestages von Kurt Schumacher am 20. August 1972 hielt Brandt eine vielbeachtete Rede mit dem Titel „Der Auftrag des demokratischen Sozialismus“66. Diese Rede, die schon als Teil des Wahlkampfes gesehen werden kann, ist für die theoretische Standortbestim64 Vgl. u. a. WBA im AdsD, Bundeskanzler und Bundesregierung 1969–1974, Mappe 1, 65. Aus diesem Grund war Ahlers für die Bundesregierung als Leiter des Bundespresseamtes auch nicht mehr haltbar. 65 Vgl. Harpprecht, Im Kanzleramt, S. 19 ff. 66 Die Rede ist abgedruckt als Dokument Nr. 95, in: Münkel, Auf dem Weg nach vorn, S. 480–515.

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mung der SPD und die Abgrenzung sowohl nach rechts als auch nach ganz links von großer Bedeutung gewesen. An der Abfassung dieser Rede waren neben Brandt neun weitere Personen beteiligt. Die Änderungsvorschläge gingen immer wieder an Brandt zurück und dieser entschied selbst, was er übernahm oder nicht,67 bei vielen Bundeskanzlern eher ein unübliches Verfahren. Die ganze Prozedur ging zwischen Brandt und seinen Redenschreibern dreimal hin und her bis das endgültige Manuskript entstanden war. Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass die Form der ad-hoc-Politikberatung, die am meisten dem politischen Stil Brandts entsprach und auch als spezifisch für ihn gelten kann, während seiner Kanzlerschaft zurückging, da sie sehr zeitaufwendig war und die Anforderungen des politischen Alltags kaum genügend Spielraum ließen. Sie wurde ein Stück weit durch den Aufbau – wie bereits erwähnt – eines internen Beraterkreises ersetzt. Das bestätigen nicht nur Interviews mit Beteiligten, sondern auch die Unterlagen in Nachlass von Brandt. So war Richard Löwenthal einer der Wenigen, die einen fest honorierten Beratervertrag mit Brandt hatten. Am 31. Januar 1971 stellte er fest, dass es wohl keinen Zweck habe, den Vertrag zu verlängern, „nachdem ich niemals einen bestimmten Auftrag bekommen habe oder sonst enger herangezogen worden bin. Das ändert aber nichts daran, dass ich Dir auch weiter zur Verfügung stehe, wenn Du es willst [. . .]“68. In der Öffentlichkeit wurde weiterhin das Image Willy Brandts als eines Kanzlers, der sich mit Intellektuellen und Wissenschaftlern umgab, gepflegt. Dies geschah durch gemeinsame öffentliche Auftritte, Treffen und Feste, die der Bundeskanzler veranstaltete, sowie durch die Medien. Letztere trugen durch ihre Berichterstattung in nicht zu unterschätzenden Maße dazu bei, das Bild der engen Verbindung von „Geist und Macht“ zu festigen. Brandt, von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Intellektuellen umgeben, im Spiegel und anderen großen Zeitungen abgelichtet, war keine Seltenheit in der Medienberichterstattung seit 1969.69 Aber auch von vielen Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern, für deren politisches Engagement die Person Willy Brandts eine zentrale Rolle spielte, wurde ein solches Bild verbreitet: ein „Intellektueller“ als Bundeskanzler, den sie selbst in den Jahren nach 1969 zum „Helden“ stilisierten. Bei einigen ging die „Heldenverehrung“ sogar so weit, dass sie vor der Bundestagswahl 1972 einen Band mit dem Titel „Was hält die Welt von Willy Brandt“ publizierten, in dem Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller ihre Meinung zu Brandt in Form von Essays kundtaten. Zwar sei dieses Buch ein „ehrliches Zeugnis der Faszination [. . .], die Willy Brandt auf Intellektuelle ausübt“70, al67 68 69

Vgl. WBA im AdsD, Publizistische Äußerungen, Mappe 453, 454, 455, 456. AdsD, Depositum Horst Ehmke, 1/HEA 223. Vgl. u. a. Der Spiegel Nr. 33/1969.

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lerdings durch die „Massierung der Sympathiebeweise [sei, D. M.] des Guten zuviel getan“71 worden, so die peinlich berührte Einschätzung eines Rezensenten in der damals nicht gerade Brandt kritisch gegenüberstehenden Wochenschrift Die Zeit. Was sich bei Brandt auch während seiner Zeit als Bundeskanzler nicht finden lässt, ist eine feste, institutionalisierte Gruppe von Personen unterschiedlicher Profession, die als „brain trust“ fungierten, wie es am ausgeprägtesten von Ludwig Erhard mit seiner „Brigade Erhard“ bzw. dem „Sonderkreis Erhard“ praktiziert wurde. Die so genannte „Brigade Erhard“ wurde 1964 ins Leben gerufen und setzte sich aus bekannten Wahlforschern, wie Rudolf Wildenmann, Publizisten, wie Rüdiger Altmann und Johannes Groß, dem Wirtschaftsexperten Müller-Armack sowie zwölf weiteren Personen zusammen.72 Dieser feste Kreis beriet den Kanzler Ludwig Erhard nicht nur in zahlreichen politischen Sachfragen, sondern auch bei der Image-Pflege und der Öffentlichkeitsarbeit. So gehen u. a. Schlagwort und Konzept der „formierten Gesellschaft“ auf diese Gruppe zurück. Trotz der offensichtlichen Unterschiede heißt dies natürlich nicht, dass es grundsätzlich keine institutionalisierte Politikberatung während der Ära Brandt gab. Ressortbezogene Beratergruppen existierten ebenso wie bei seinen Vorgängern und wurden sogar noch quantitativ ausgeweitet.73 Darüber hinaus nutzte man die beiden großen „Ideenagenturen“ der damaligen Zeit: die 1965 unter maßgeblicher Beteiligung der SPD gegründete „Stiftung Wissenschaft und Politik“ sowie die bereits zehn Jahre zuvor ins Leben gerufene „Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP).74 So existierte beispielsweise unter dem Dach der DGAP vom Dezember 1965 bis zum Januar 1972 eine „Studiengruppe für die deutschen Beziehungen zur Sowjetunion und den übrigen Ländern des Ostens“,75 die sich mit zentralen Fragen und Problemen der neuen Ostpolitik befasste und der Bundesregierung beratend zur Seite stand.76 Die Arbeitsgruppe diskutierte wichtige Problemfelder der neuen Deutschland- und Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. Beispielsweise wurden die Problematik einer möglichen rechtlichen und politischen Annerkennung der DDR, die Initiative der drei 70 Carl-Christian Kaiser, Des Guten zuviel. Liebeserklärungen an einen Regierungschef, in: Die Zeit vom 29. September 1972. 71 Ebd. 72 Vgl. Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, Berlin 1998, S. 776 f. 73 Im Jahr 1969 existierten 206 ressortbezogene Beratergruppen, Mitte der siebziger Jahre waren es dann bereits 358. 74 Vgl. Gellner, Ideenagenturen, S. 169 ff. u. S. 174 ff. 75 Vgl. Daniel Friedrich Eisermann, Zwischen Außenpolitik und Wissenschaft. Entstehung und Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (1945/55 bis 1972), Diss. Bonn 1996, S. 343 ff. 76 Vgl. AdsD, Depositum Egon Bahr, 1/EBAA 000199 u. 200.

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Westmächte gegenüber der Sowjetunion im Bezug auf Westberlin, die Gespräche der Bundesregierung mit Polen, die Konsularverhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion oder die Treffen von Brandt und Stoph in Erfurt und Kassel beraten.77 Auf dem Gebiet der institutionalisierten Politikberatung gelang es Willy Brandt nicht, neue Wege zu gehen, vielmehr orientierte er sich an den bereits vorhandenen Strukturen und Institutionen, die seine Vorgänger installiert hatten. Von neuen Impulsen und innovativen Veränderungen kann nicht gesprochen werden. Zusammenfassung Der von Brandt in seinen Reden mehrfach angekündigte Durchbruch zu einem neuen, engeren Austausch zwischen Wissenschaft und Politik und damit neuer Wege der Politikberatung in der Bundesrepublik wurde nur bedingt eingelöst. Dies war nicht zuletzt eine Folge der politischen Kultur der sechziger Jahre. Sowohl Wissenschaftler als auch die SPD gerieten in den sechziger Jahren in Rechtfertigungsnöte, um den eingeschlagenen Weg der Politikberatung nach außen und nach innen zu legitimieren. Während der Kanzlerschaft Willy Brandts änderte sich dies durch den Wandel des politischen Klimas und des Regierungsstils in der Bundesrepublik, durch eine breite Politisierung der Bevölkerung, die 68er Bewegung sowie Reformen in der Innen- und Außenpolitik. Auf dem Feld der Politikberatung pflegte Brandt seinen Stil, sich mit Wissenschaftler, Intellektuellen und Journalisten auszutauschen – wenn auch durch das politische Tagesgeschäft eingeschränkt – weiter. Zwar gelang es ihm nicht, einen festen externen Beraterkreis als „brain trust“ im Umfeld des Kanzlers zu installieren, doch war die Verbindung von Wissenschaft und Politik enger als bis dahin in der Bundesrepublik üblich und letztendlich für die Öffentlichkeit transparenter als bei seinen Vorgängern. Es ist jedoch schwer zu ermessen, welchen konkreten Einfluss einzelne externe Personen, die als Politikberater fungierten, auf die Inhalte der SPD-Politik zu dieser Zeit hatten. Für die Geschichte der Politikberatung bedeutete die Ära Brandt zwar im begrenzten Umfang einen Einschnitt, allerdings gelang es nicht, die zeitspezifische Nähe von Wissenschaft und Politik langfristig zu verankern und eine grundsätzliche Neuorganisation der Politikberatung zu implementieren. Schon ein Jahr nach seinem Rücktritt ging man auf „kritische Distanz“ zu der allumfassenden Planungseuphorie, die mit einer massiven Ausweitung der Politikberatung einhergegangen war.78 77

Vgl. u. a. ebd. Vgl. Peter Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien, Probleme und Perspektiven im Kooperationsfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Münster 1993, S. 51 f. 78

Expertive versus demonstrative Politikberatung Adorno bei der Bundeswehr Von Clemens Albrecht I. Von der Flaschenpost zum Megaphon Im August 1950 nahm das Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt seinen Betrieb wieder auf. Im November 1951 wurde Max Horkheimer zum Rektor der Universität Frankfurt gewählt, neben Wilhelm Richter in Bonn der einzige Remigrant in dieser Stellung. Im Juli 1952 konnte Horkheimer Kanzler Adenauer an der Universität begrüßen, im November Thomas Mann, im Februar 1953 Theodor Heuss. Kanzler, Dichterfürst, Bundespräsident – wer innerhalb eines Jahres in den großen Zeitungen neben diesen Personen abgelichtet war1 (wobei nicht verschwiegen wurde, daß ihn mit zweien, Heuss und Mann, persönliche Bekanntschaften verbanden), kann wohl als einflußreicher Mann gelten. Deshalb verblüfft auch immer wieder das understatement, das aus Horkheimers Briefen spricht. „Was Du über Deutschland im allgemeinen sagst“, schrieb er im November 1951 an Adolph Löwe, „mag richtig oder falsch sein, ich weiß es nicht. Ich bin nicht hierher gekommen, weil ich geglaubt habe, einen Einfluß auf die allgemeine Tendenz üben zu können. Die ist viel zu sehr von den großen Weltverhältnissen abhängig, als daß es Sinn hätte, unser Streben darauf einzustellen. Ubi nihil valis, ibi nihil velis. Noch nicht einmal der Reichweite des Einflusses im einzelnen Herzen darf der gewiß sein, dem es um Wahrheit geht. Ich bin einfach glücklich und dankbar dafür, daß ich etwas tun und geben darf, was ich verstehe. Ob und wie weit es wirkt, ist nicht, was mich besonders bekümmert, ja, ich glaube, daß diese Bekümmerung der Wirkung, soweit sie etwa möglich ist, nur Eintrag tun könnte. Wie alles hier ausgeht, weiß niemand zu sagen.“2

Nun steht eine solch stoische Skepsis dem Philosophen – und als solcher wollte Horkheimer stets gelten – immer gut zu Gesicht. Man könnte sie also als 1 Vgl. Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, Frankfurt/M 1998, Bd. 1. 2 Brief von Max Horkheimer an Adolph Löwe vom 5.12.1951, Max-HorkheimerArchiv (MHA): 3,9,258, gedruckt in: Max Horkheimer, Briefwechsel 1949–1973. Gesammelte Schriften Bd. 18, Frankfurt/M 1996, S. 226 f.

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Attitüde verabschieden, steckte in ihr nicht ein eigentümliches System, ein paradoxales System. Es blinkt auf in der Aussage Horkheimers, daß derjenige, der wirken will, sich gerade um der Wirkung willen nicht um sie bekümmern sollte. Man denkt an Kleists Marionettentheater, aber dahinter steht eine andere Denkfigur: die berühmte Metapher von der „Flaschenpost“. Sie wiederum hat ihren Ursprung in der verzweifelten Lage der Gruppe in der Emigration: Weit davon entfernt, im akademischen Kosmos der USA eine gesicherte Stellung erworben zu haben, inmitten einer finsteren Welt, in der sich jedes kapitalistische System notwendig in Richtung Faschismus entwickeln mußte, war die Gegenwart finanziell und personell ungewiß und die Zukunft des Instituts im Lande der einflußreichen boards düster. Es erschien den aus Hitler-Deutschland geflüchteten Mitarbeitern als eine verlorene Insel im Ozean der Geschichte, auf die sich eine kleine Zahl Überlebender gerettet hatte, mit Horkheimer als Fels in der Brandung. Und mit gestrandet sei die Wahrheit, das Erbe von Kant, Hegel, Marx und Freud, der großen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, im Institut mit der Chiffre „die Theorie“ benannt. In dieser Lage verbreitete sich im Horkheimer-Kreis eine Metapher für die äußerst eingeschränkten Wirkungsmöglichkeiten und -erwartungen: das Diktum von der „Flaschenpost“. „Angesichts dessen, was jetzt über Europa und vielleicht über die ganze Welt hereinbricht,“ schrieb Horkheimer 1940 in einem Brief, „ist ohnehin unsere gegenwärtige Arbeit wesentlich zur Überlieferung durch die Nacht hindurch bestimmt, die kommen wird: eine Art Flaschenpost.“3 Man könne gegenwärtig nur ohnmächtige „Gesten aus Begriffen“ (Adorno) aussenden, ohne zu wissen, ob diese Botschaft einen Adressaten erreichen, im Meer untergehen und wann die eigene Insel von der Brandung hinweggespült werde4. Die „Flaschenpost“ wurde in den 70er und 80er Jahren unter den Schülern und Adepten der Frankfurter Schule zu einer Lieblingsmetapher5. Man fühlte sich selbst als Adressat, der die Flasche aus dem Ozean gefischt, sie entkorkt, ihre Botschaft dechiffriert und als Arkanwissen zu eigen gemacht hatte. Diese 3 Brief von Max Horkheimer an Salka Viertel vom 29.6.1940, MHA: 1,25,310, publiziert in: Max Horkheimer, Briefwechsel 1937–1940, Gesammelte Schriften Bd. 16, Frankfurt/M 1995, S. 726. 4 Vgl. Gunzelin Schmid Noerr, Flaschenpost. Die Emigration Max Horkheimers und seines Kreises im Spiegel seines Briefwechsels, in: I. Srubar (Hg.), Exil, Wissenschaft, Identität, Frankfurt/M 1988, S. 252–280. 5 Vgl. etwa Willem van Reijen/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Vierzig Jahre Flaschenpost: „Dialektik der Aufklärung“ 1947 bis 1987, Frankfurt/M 1987; Hauke Brunkhorst, Mehr als eine Flaschenpost. Kritische Theorie und Sozialwissenschaften, in: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M 1983, S. 314–326; Gerhard R. Koch, Flaschenpost auf Vermittlungskurs. Gibt es ein Weiterwirken Adornos im Musikbetrieb?, in: R. Erd u. a. (Hg.), Kritische Theorie und Kultur, Frankfurt/M 1989, S. 53–68.

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Metapher eignete sich hervorragend zur Transformation einer Lehre in individuelles Sendungs- und Auserwähltheitsbewußtsein, auch wenn diese Lehre realgeschichtlich nicht von den Wellen der Meere, sondern denen des Äthers verbreitet wurde, und alsbald aus den Megaphonen der demonstrierenden Studenten ertönte6. Man muß die „Flaschenpost“ also gerade im Hinblick auf die Wirkung der Frankfurter Schule historisieren: Entsprach der Wirkungspessimismus in den 30er und 40er Jahren noch der realen Situation des Kreises, so mutierte er in den 50er Jahren mit wachsendem Einfluß zu einem Mittel der Wirkung selbst und wurde ab den 70er Jahren zur intellektuellen Attitüde. Unter dem Aspekt der Politikberatung interessiert nur die mittlere Phase: Warum und unter welchen Umständen kann der Pessimismus Horkheimers zu einem Mittel der Wirkung werden? II. Wissenschaft, Politik – und Öffentlichkeit: Typen der Politikberatung Unterschiedliche Herrschaftsformen generieren völlig unterschiedliche Formen der Politikberatung. Das läßt sich an der bewährten Typologie Max Webers grob skizzieren7: Bei Formen traditionaler Herrschaft dominiert der Typus des Ratgebers (qua Amt oder Herrschergunst), bei charismatischen dagegen (sie sind aufgrund der Eingebungen des Führers weitgehend beratungsresistent) der auserwählte Jünger. Beschreibt man die Entstehung der Bundesrepublik als Übergang von charismatischen in legale Herrschaftsformen8, so war eine neue Form von Beratung nötig. Denn bei legaler Herrschaft ruht die Verwaltungspraxis auf fachlich geschulten und nach Qualifikation ausgewählten Beamten. Die Legitimität ihrer Entscheidungen speist sich neben den Regeln der Amtsführung auch aus der rational nachvollziehbaren Anwendung des verfügbaren Fachwissens. Je komplexer die Voraussetzungen dieser Entscheidungen sind, je häufiger das in der Qualifikationsphase erworbene Wissen aktualisiert werden muß, desto mehr sind auch fachlich geschulte Verwaltungsstäbe auf externes Wissen angewiesen: sie ziehen Experten zu Rate. 6 Vgl. dazu Clemens Albrecht/Günter C. Behrmann/Michael Bock/Harald Homann/ Friedrich H. Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/M 1999, S. 203 ff. 7 Vgl. zum folgenden Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 122–176. 8 So die These von Uta Gerhardt, etwa ausgeführt in: Charismatische Herrschaft und Massenmord im Nationalsozialismus. Eine soziologische These zum Thema der freiwilligen Verbrechen an Juden, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 503– 538.

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Legale Herrschaft korreliert also mit einem spezifischen Typus von Politikberatung, der expertiven Politikberatung. Wo legale Herrschaft ihre Legitimität vornehmlich über Öffentlichkeit herstellt (in Demokratien etwa), sind fachwissenschaftlich fundierte Entscheidungen auch geeignet, Legitimität jenseits der bestehenden Mehrheiten zu gewinnen und zukünftige zu schaffen. Deshalb entwickelt die Politik bei allen umstrittenen Entscheidungen ein Interesse an demonstrativer Politikberatung: nicht das Wissen der Berater ist entscheidend, sondern deren öffentliche Glaubwürdigkeit, ihre Anerkennung als Experten (und eben nicht: ihr bloßes Expertentum), ihr Prestige, im Extremfall: ihre bloße Prominenz. Bei diesem Typus von Politikberatung kommt also neben Wissenschaft und Politik eine dritte Institution mit ihren Eigengesetzlichkeiten ins Spiel: die Öffentlichkeit. Damit kann es zu Konflikten zwischen Öffentlichkeit und Politik kommen, im Fall Globke etwa durch die fehlende öffentliche Anerkennung seiner Demokratiekompatibilität. Erst im Blick auf die Öffentlichkeit kann die Behauptung, man habe keinen Einfluß auf Politik, in bestimmten Konstellationen Bedingung für erfolgreiche Politikberatung sein. Kommunikationstheoretisch gesehen resultiert dies aus der double-bind-Situation zwischen Öffentlichkeit und Politik: Demonstrative Politikberatung setzt öffentliche Anerkennung voraus9. Diese wiederum läßt sich in unterschiedlichen politischen Systemen auf unterschiedlichen Wegen erwerben: über Reichtum (Absolutismus), über Kampfkraft (Feudalismus), über religiöses Charisma (Monarchie). Wohlfahrts- und Partizipationsdemokratien neigen durch ihr Gleichheits- und Beteiligungs-Apriori dazu, öffentliche Anerkennung nach Maßgabe des moralischen Kapitals zu verteilen. Gehör findet, wer sich glaubwürdig (und organisiert!) als Opfer, als Unterdrückter, als Unterprivilegierter etc. darstellen kann – man denke nur an die zahlreichen Gleichstellungsbeiräte. Dies ist kurzfristig die Voraussetzung, um Einfluß üben zu können, schafft aber eine paradoxale Relation zwischen Öffentlichkeit und Politik und damit langfristig ein Problem: der faktisch ausgeübte Einfluß zehrt den Stock moralischen Kapitals auf. Wer einmal als Etablierter erkannt ist, hat ihn bereits verspielt. Der Feminismus hat sich durch seine Institutionalisierung intellektuell und, glaubt man den jungen Bildungsforschern: auch sozial erledigt. Der türkische Großstadtjunge hat das katholische Arbeitermädchen vom Lande längst abgelöst. Bürokratisch freilich wird er uns noch eine Weile beschäftigen. Demonstrative Politikberatung zehrt durch Erfolg (und sei es auch nur einen öffentlich zugeschriebenen) ihr legitimatorisches Funktionspotential auf. Sie ist das institutionalisierte Böckenförde-Dilemma. Als die Flaschenpost aus den Megaphonen der demonstrierenden Studenten tönte und das Kultusministerium 9 Vgl. Friedrich H. Tenbruck, Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, in: H. Maier/K. Ritter/U. Matz (Hg.), Politik und Wissenschaft, München 1971, S. 323–356.

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durch Ludwig von Friedeburg besetzt war, setzte die Gegenbewegung der nun Unterdrückten ein, die, etwa im Kampf um die hessischen Rahmenrichtlinien, alsbald öffentliche Anerkennung fanden10. Die Entwicklung „von der Flaschenpost zum Megaphon“ markiert also Phasen und Typen der Politikberatung durch die sogenannte „Frankfurter Schule“11, wobei die anfangs dominierende expertive mit der späteren demonstrativen Phase kollidierte. Denn Horkheimer und Adorno brachten gleichsam zweierlei Kapitalsorten aus den USA mit: 1. ihre Fachkompetenz als Experten der neuen Demokratiewissenschaften, der empirischen Sozialforschung, der Soziologie und der Sozialpsychologie; 2. ihr moralisches Kapital als ehemals verfolgte jüdische Emigranten. Wer sie – gefragt oder ungefragt – auf seiner Seite hatte, konnte glaubwürdig gegenüber sich selbst, der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit versichern, die richtigen Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit gezogen und die Bundesrepublik (oder die eigene Seele) ins Geleise einer freien Zukunft geführt zu haben. III. Politikberatung durch die Frankfurter Schule Beide Kapitalsorten, Fachwissen und moralische Glaubwürdigkeit, wurden unmittelbar nach der Rückkehr wahrgenommen. Bei der Eröffnungsfeier des mit amerikanischen Mitteln neugebauten Instituts für Sozialforschung im November 1951 bekannte der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb seine Überzeugung, daß dieses Institut und seine Lehren eine Wiederkehr des Nationalsozialismus verhindern könnten. Und der fachwissenschaftliche Beobachter der Feier, René König, berichtete in der Neuen Zeitung, daß nun endlich die moderne amerikanische Sozialforschung in Deutschland einen Ort habe12. Auf der einen Seite wurde das Institut also schon bald mit einer Reihe von empirischen Forschungen beauftragt und das expertive Wissen (Sozialpsychologie und amerikanische Sozialforschung) abgefragt. Auf der anderen Seite aber wurde Horkheimer alsbald zu einer öffentlich wahrgenommenen und zunehmend anerkannten Persönlichkeit, bei allen Feindschaften, die er unter Altnazis oder auch anderen Gegnern wecken konnte. Entscheidend ist, daß sich die öffentliche Wahrnehmung und die Nachfrage als politische Berater gegenseitig aufschaukelten. Dadurch ist die Tendenz zu erklären, daß das expertive Wissen des Instituts zugunsten der vergangenheitspolitischen Position, die es für die 10 Vgl. dazu Eugen Kogon (Hg.), Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre. Konflikt und Konsens in der Gesellschaft der Gegensätze, Frankfurt/M 1974. 11 Vgl. zur Problematik des Namens: Albrecht u. a. Die intellektuelle Gründung, S. 21 ff. 12 René König, Neue Wege der Sozialwissenschaften. Zur Wiedererrichtung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, in: Die Neue Zeitung Nr. 272 vom 19.11. 1951, S. 4.

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Öffentlichkeit einnahm, ab den späten 50er Jahre zurücktritt. Das IfS wurde vom Symbol für quantitative Sozialforschung zum Symbol für die richtige Gesinnung. Mit dem antisemitischen Fanal Weihnachten 1959 beginnt die Phase der demonstrativen Politikberatung, gekrönt durch Horkheimers Wahl in die Kommission der Bundesregierung für politische Bildung. Was diese Kommission tatsächlich bewirkt hat, ist rückwärtig kaum festzustellen. Aber ihre politische Funktion hat sie doch zuverlässig erfüllt: der internationalen, vor allem: der amerikanischen Öffentlichkeit zu demonstrieren, daß die Bundesrepublik die politische Erziehung ihrer Staatsbürger ernsthaft angehe. Spätestens hier ist die expertive Beratung der 50er Jahre in die demonstrative der 60er Jahre umgeschlagen. Als dann der politische Einfluß Horkheimers (und zunehmend auch Adornos und Habermas’) ab Mitte der 60er Jahre öffentlich nicht mehr zu übersehen war, geriet die Frankfurter Schule in eine politische Polarisation, die ihrem Einfluß wieder Grenzen setzte. Wäre Popper nicht schon dagewesen, hätte man ihn erfunden. Allgemein formuliert: Macht ist die Inflation moralischen Kapitals. Sie hat Medienpräsenz zur Folge, wodurch das moralische Kapital aufgebläht und durch Oppositionsbildung schleichend entwertet wird. Die Entwicklung von der Flaschenpost zum Megaphon umschreibt also: eine Verfallsgeschichte; oder: einen Typenwechsel. Der genaue Verlauf und die verschiedenen Bereiche, in denen Mitglieder der Frankfurter Schule beratend wirkten, können hier nicht im einzelnen durchdekliniert werden. Er reicht von der besonderen Beziehung Horkheimers zu allen hessischen Landesregierungen in den 50er und 60er Jahren und seinem Einfluß auf die politische Bildung bis hin zur Vermittlungsposition zwischen dem American Jewish Committee und der Bundesregierung13. Zwei Kapitel, wenn man denn dem weiten Verständnis der Zugehörigkeit zu dieser Schule folgt, müssen noch geschrieben werden: der Wechsel von Friedeburgs ins hessische Kultusministerium und der Einfluß Jürgen Habermas’, bis hin zum Angebot, erster Kulturstaatsminister einer Bundesregierung zu werden. Hier sind die Quellen aber noch nicht zugänglich. Im folgenden soll nur ein Bereich der Politikberatung ausgeleuchtet werden, allerdings ein besonders heikler: die Beratungstätigkeit des IfS beim Aufbau der Bundeswehr; denn hier können nicht nur neue Archivfunde präsentiert werden, sondern er zeigt auch exemplarisch die paradoxalen Bemühungen der Frankfurter Schule, durch Geheimhaltung des Einflusses vor der Öffentlichkeit das moralische Kapital als Grundlage dieses Einflusses nicht zu mindern.

13

Vgl. dazu Albrecht u. a. Die intellektuelle Gründung, bes. Kap. 6 und 12.

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Zum Hintergrund der Entwicklung: Nachdem die politische Grundsatzentscheidung zum Aufbau der Bundeswehr gefallen war, bestand das personalpolitische Kernproblem im Mangel an politisch unbelasteten militärischen Sachverständigen, da Adenauer McCloy versprochen hatte, zumindest die Offiziere nach fachlichem Können und demokratischer Grundhaltung auswählen zu lassen14. Im Oktober 1950 wurde dann Theodor Blank mit dem gewundenen, aber bezeichnenden Titel „Beauftragter des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“ Leiter der berühmten Dienststelle Blank. Sie war zunächst dem Kanzleramt untergeordnet und zu ihren ersten Mitarbeitern zählten die ehemaligen Wehrmachtsoffiziere und späteren Bundeswehrgeneräle Ulrich de Maizière und Ernst Adolf Heusinger sowie der Ministerialbeamte Ernst Wirmer, ein ehemaliger Referent Adenauers, dessen Bruder nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler hingerichtet worden war15. Blank, der der Auffassung folgte, daß die „kaum bewältigte Vergangenheit“ eine „demokratische Armee“ erfordere, war sich dessen bewußt, daß die Auswahl vor allem der Offiziere von der deutschen und erst recht internationalen Öffentlichkeit mit Argusaugen beobachtet werden würde. Deshalb galt es, die Fehler zu vermeiden, die beim Aufbau des Auswärtigen Amtes zu großen Pressekampagnen und andauernden innenpolitischen Querelen um die „Nazi-Diplomaten“ geführt hatten16. Aus diesen Gründen war die Suche nach geeigneten Auswahlverfahren für Offiziere eine der wichtigsten Aufgaben der Dienststelle Blank. Deshalb wurde innerhalb der Dienststelle ein Studienbüro unter der Leitung von Josef H. Pfister gegründet, das die Fortschritte in den Geistes- und Sozialwissenschaften zur Entwicklung eines psychologischen Auswahlverfahrens für Offiziere nutzen wollte17. Zu diesem Zweck wurde eine ganze Reihe wissenschaftlicher Seminare und Tagungen organisiert, wobei das besondere Interesse natürlich der Psychologie, aber auch der Soziologie galt18.

14 Vgl. Donald Abenheim, Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten (Beiträge zur Militärgeschichte Bd. 27), München 1989, S. 30. 15 Vgl. Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 43 ff. 16 Vgl. Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994, S. 191 ff.; Manfred Kittel, Die Legende von der „Zweiten Schuld“. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Berlin/Frankfurt/M 1993, S. 124 ff. 17 Zur Geschichte dieses Studienbüros, den internen Differenzen zwischen Pfister und Baudissin und den Kontakten mit Wissenschaftlern vgl. Georg Meyer, Zur inneren Entwicklung der Bundeswehr bis 1960/61, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956, Bd. 3: Die NATO-Option, München 1993, S. 908 ff. 18 Zur wichtigen Siegburger Tagung etwa war H. Schelsky eingeladen (vgl. Hans Tänzler, Vorbereitende Planungen für die „Innere Führung“, in: Hans Buchheim u. a.,

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In einem Memorandum über den Wandel und die gesellschaftliche Stellung der Offiziere in einer demokratischen Armee schrieb Pfister, daß neben Lehrern und Priestern die Offiziere zu den wichtigsten Erziehern der Nation gehörten. „Aus dieser Tatsache folgt“, so Pfister weiter, „daß die künftigen Ausbilder, Offiziere und Unteroffiziere, die Erziehungs- und Führungstechnik (pädagogische und psychologische Methoden) in weit grösserem Masse beherrschen müssen als früher, wenn sie die heutige Jugend zu guten Soldaten erziehen wollen.“19 Über Volker von Hagen, einen Assistenten Horkheimers, und seinen ehemaligen Redaktionskollegen bei der Neuen Zeitung, Egon Merker, nun im Bundeskanzleramt, kam der Kontakt zwischen Pfister und dem IfS zustande, das in der Öffentlichkeit als ein Institut galt, das mit amerikanischen Geldern den neuesten Wissensstand amerikanischer Soziologie und Sozialpsychologie in Deutschland repräsentierte. Zwischen dem IfS und dem Studienbüro Pfisters wurde vereinbart, ein Auswahlverfahren für Offiziersanwärter zu erarbeiten. Es sollte gewährleisten, daß die westdeutsche Armee mit Personal arbeite, das eine demokratische Grundüberzeugung habe. Pfister wollte dabei die Kompetenzen verschiedener Institute kombinieren. In einer detaillierten Projektbeschreibung vom März 1953 schreibt er: „Das Kernproblem der Offiziersauslese liegt in der richtigen Auswahl der ,Ausbilder der Ausbilder‘, d. h. der künftigen Leiter und Lehrer an den Militärakademien (Kriegsschulen), den Leitern der Militärkollegs (Offiziersstudenten-Heim), der Annahmestellen und der Prüfoffiziere. Dabei ist es wahrscheinlich, daß verschiedene dieser Funktionen von derselben Person nacheinander wahrgenommen werden. III. Das Studienprojekt (Frankfurt und Allensbach kombiniert) 1. Eine mit modernsten Methoden der psychologischen Forschung durchgeführte Studie über die gegenwärtige mentale, emotionale, charakterliche und politische Verfassung der früheren Offiziere und Unteroffiziere. Sie soll das ,seelische Inventar‘ feststellen und die verschiedenen Typen der voraussichtlichen Bewerber ermitteln. (Projekt: Institut für Sozialforschung, Frankfurt). 2. Eine gleichzeitig, aber getrennt durchzuführende, demoskopische Befragung über die wahrscheinliche Anzahl und die möglichen Arten von freiwilligen Offiziersund Unteroffiziersbewerbern (Projekt: Demoskopisches Institut Allensbach).“20

Auch hier kann ich nicht den Verlauf des Projektes schildern, sondern möchte mich auf bislang Unbekanntes konzentrieren. Im April 1954 berichtete Adorno in einer Aktennotiz über eine Besprechung mit Pfister an Horkheimer, daß vereinbart wurde, die IfS-Beteiligung an diesem Projekt zu verschleiern, indem die Aspekte der deutschen Wiederbewaffnung bis 1955, Militärgeschichte seit 1945 Bd. 1, Boppard 1975, S. 207; vgl. generell Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 59. 19 Brief von Joseph H. Pfister an Heusinger und Wirmer vom 30.10.1952, Bundesarchiv-Militärarchiv, Bundeswehr (BA-MA, BW): 9, 2350, 40–47. 20 Brief von Joseph H. Pfister vom 12.3.1953, BA-MA, BW: 9, 2853, 4–8.

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Finanzierung nicht direkt über das Institut laufe und der zuständige Mitarbeiter gleichsam ausgelagert werde. „Pfister überbrachte zusammen mit den Grüßen von Min. Dirigenten Wirmer dessen Bitte, daß M. H. oder TWA [Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno, Anm. des Vfs.] einen Artikel über das Leitbild des Offiziers verfassen und publizieren möchten. Ich habe ihm für die freundliche Anregung gedankt, aber erklärt, daß wir beide in der militärischen Geschichte viel zu unbewandert wären, um eine solche Aufgabe durchführen zu können.“21 Diese Bescheidenheit Adornos ist zumindest aus theoretischer Perspektive erstaunlich; denn als Theoretiker war Adorno immer für das Ganze zuständig, und im Ganzen ist nicht nur die Kulturindustrie oder die Schönbergsche Musik enthalten, sondern eben auch der Offizier. Warum also sollte Adorno nicht auch etwas über Offiziere zu sagen haben, wo es doch sonst kaum einen Gegenstand gibt, zu dem er sich nicht, und zwar meist sehr interessant, geäußert hat? Die Archive bestätigen die Vermutung: Am Dienstag, den 8. März 1955 hielt Adorno auf einer der Konferenzen im Rahmen des geheimen „Projekts 14“ zur Schulung der Prüfoffiziere einen Vortrag mit dem schönen Titel „Nervenpunkte antidemokratischer Gesinnung“. „Der mit der Vorbereitung der Aufstellung der deutschen Streitkräfte beauftragten Dienststelle“, so heißt es in dem Papier, „stehen als Bewerber für das neue Offizierskorps zunächst ehemalige Offiziere der früheren deutschen Wehrmacht zur Verfügung. Mit Hilfe eines Auswahlverfahrens soll versucht werden, eine Negativauslese vorzunehmen, d.h., diejenigen Bewerber auszuschließen, die den Anforderungen, die an einen Offizier im Rahmen demokratischer Streitkräfte zu stellen sind, nicht genügen. Das Verfahren sieht vor, daß Menschen mit extrem antidemokratischer Gesinnung, also solche, die befangen, starr und in Vorurteilen denken, von der Annahme ausgeschlossen werden. Es handelt sich dabei ebenso um psychologische Potentialitäten wie um aktuelle Anschauungen. Da anzunehmen ist, daß jeder Bewerber sich während der Auswahlprüfungen antidemokratischer Äußerungen bewußt und mit großer Wachsamkeit enthalten wird, wird es nötig sein, sie mit bestimmten Themen und Problemen zu konfrontieren, die indirekt, aber doch zuverlässig ihre Einstellung deutlich machen. Man muß zu ermitteln versuchen, ob bei dem Bewerber demokratische Werte wirklich lebendig sind, oder ob es sich in Wirklichkeit um potentielle Antidemokraten handelt.“22

Adorno schlägt im folgenden vor, die Bewerber nicht mit direkten politischen Stellungnahmen zu konfrontieren, sondern ihre Antworten auf Strukturen politischer Grundeinstellungen zu durchforsten. Zu ihnen gehört etwa der Konventionalismus. 21

Brief von Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 7.4.1954, MHA 5, 30,

263. 22 Manuskript von Theodor W. Adorno (?) vom 8.3.1955 (?), BA-MA, BW: 9, 1251, 98–104.

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„Darunter ist starres Gebundensein an konventionelle Werte oder Regeln zu verstehen, die sich aus einer Gesellschaftsordnung ergeben haben, die heute nicht mehr existent ist. Anstelle sachlicher Berechtigung, solche Werte weiterzutragen, steht eine bloß psychologische Notwendigkeit. Konventionalismus ist nicht automatisch Menschen mit Sinn für Tradition und Formen zuzuschreiben, sondern jenen, die sich zwanghaft, blind an Ordnungen klammern, ohne zu ihnen wahrhaft Beziehung zu haben: dem leeren Formalismus, dem mechanischen, sturen Widerstand gegen alles Fremde und Ungewohnte.“ Auf diese Weise werden im weiteren autoritäre Untertänigkeit, Aggressivität, Abwehr der Selbstbesinnung, Stereotypie und Machtkomplex sozialpsychologisch umrissen. Es ist deutlich: Adorno trägt hier im wesentlichen die Ergebnisse seiner amerikanischen Studien zur autoritären Persönlichkeit vor23. Welche Wirkung die Beratung der Dienststelle Blank durch das IfS insgesamt gehabt hat, kann inzwischen präziser abgeschätzt werden. Sie ist sehr gering zu veranschlagen, was an einem strukturellen Konflikt lag: Das Studienbüro Pfister wurde von Adenauer gezielt als katholisches Gegengewicht zur norddeutschprotestantischen Dominanz des Kreises um Wolf Graf von Baudissin installiert24. Seine Geschichte ist von wachsendem Kompetenzgerangel mit der Abteilung II/2 Innere Führung geprägt, bei dem das Studienbüro letztendlich den kürzeren zog. Der Fragebogen, den die Mitarbeiterin Pfisters, Stefanie Krenn, auf der Grundlage aller Beratungen konzipiert hatte, spielte bei der Auswahl der Offiziere keine zentrale Rolle, weil ihm Gesinnungsschnüffelei vorgeworfen wurde. Die Schulübungen Pfisters, so argumentierte Baudissin 1955, hätten ein psychologisches Interview mit politischen Suggestivfragen zum Gegenstand, das aber könne nur von Fachpsychologen ausgewertet werden. Pfister wurde an den Rand gedrängt25. IV. Demonstrative Beratung: Die Politik frißt ihre Experten Unter theoretischer Perspektive ist die Wirkung aber auch gar nicht entscheidend. Denn Politikberatung, so Niklas Luhmann, lasse sich heute schon lange nicht mehr als Wissenstransfer beschreiben, sondern als ein Konzept struktureller Kopplung, „. . . das den Systemverbund nicht als wechselseitige Determination und auch nicht als eine von außen berechenbare Wechselwirkung beschreibt, sondern lediglich als wechselseitige Irritation.“26 Und wie irritierend Adorno in der Dienststelle Blank gewirkt hat, kann man etwa in der Schriften23 Vgl. Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, (1950), 3. Aufl., Frankfurt/M 1999. 24 Meyer, Bundeswehr, S. 908. 25 Vgl. Meyer, Bundeswehr S. 851–1162. 26 Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M 2000, S. 394.

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reihe Innere Führung nachlesen. In Heft 1 der 3. Reihe „Erziehung“ von 1957 wird der Offizier zum Zwecke des richtigen Umgangs mit Rekruten in den ersten Tagen über die gesellschaftlichen Einflüsse auf junge Menschen aufgeklärt. Die Vergnügungsindustrie, so heißt es dort, „. . . bildet bereits einen festen Bestandteil sowohl der Volkswirtschaft als auch des Lebensstils der Massen. Da die Vergnügungsindustrie nach kommerziellen Gesichtspunkten betrieben wird, tendiert sie zum niedrigsten Niveau. Nur was alle anspricht, kann Massenprodukt werden. Was alle anspricht, sind aber die Instinktbereiche. Infolgedessen ist die Produktion der Vergnügungsindustrie auf die Ebene des Sexuellen, des Kriminellen und des Sentimentalen eingestellt.“27 Die Theorie der Massenkultur in der Rekrutenausbildung gehört ohne Zweifel zu den paradoxalen Produkten von Politikberatung durch die Frankfurter Schule. Vielleicht war es ein eklatantes Mißverständnis, daß die Studenten 1968 den Megaphonen folgten, anstatt ihren Wehrdienst zu verlängern. Denn aus den Megaphonen brüllte inzwischen der platte Marxismus, während die Flaschenpost der Kritischen Theorie in den Handbüchern der Inneren Führung auf Dechiffrierung wartete. Nur einzelne Rebellen, wie etwa Günter Maschke, fanden dann auch in der Bundeswehr ihr Glück28. Dieses Mißverständnis war aber wiederum ein unmittelbares Ergebnis der double-bind-Situation der Frankfurter Politikberatung, hin- und hergerissen zwischen Expertise und Demonstration: Gegenüber der Öffentlichkeit mußte die militärische Kompetenz der Gruppe verschwiegen werden, um nicht ihr moralisches Kapital zu verspielen. Um Einfluß ausüben zu können, mußte man behaupten, keinen zu haben. Auch vor sich selbst; deshalb Horkheimers Pessimismus. Öffentlichkeit und Geheimnis gehören zusammen, und das Bindeglied zwischen beiden ist die Macht. Wenn es kein Geheimnis mehr ist, daß man Einfluß ausübt, wenn das also auf jeder Demonstration öffentlich zu hören ist, schlägt die Macht der geheimen Flaschenpost in die Ohnmacht des Megaphons um. Denn um die Ecke hört man schon das Megaphon der anderen. Und wer war ohnmächtiger als Adorno gegenüber den studentischen Umarmungen? Die Flaschenpost aber dümpelt dann lange schon wieder auf irgendeinem Meer vor sich hin und harrt ihrer Entkorkung. Darüber hinaus läßt sich aus dem Unterschied zwischen expertiver, nicht-öffentlicher, und demonstrativer, öffentlichkeitswirksamer Politikberatung die Tendenz erklären, den Beratungsakt selbst als Teil der politischen Entscheidung zu inszenieren und öffentlich zu rezipieren. Mit Luhmann: Das System expan27 Der Rekrut von heute. Eine soziologische Studie, in: Schriftenreihe Innere Führung. Reihe: Erziehung, H. 1, Februar 1957. 28 Interview des Verfassers mit Günter Maschke vom 12. November 1992.

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diert über seine strukturellen Kopplungen. Bekannte Beispiele hierfür sind der Nationale Ethikrat der Bundesregierung (im Gegensatz zur parlamentarischen, aber erstaunlich expertiven Enquetekommission: Rollentausch!) oder die verschiedenen Expertenrunden, die Regierung und Opposition gegenwärtig zur Reform des Sozialstaates eingerichtet haben. Sie werden nicht nur qua Proporz besetzt (Parteienzugehörigkeit oder -nähe, Vertretung einer gesellschaftlichen Gruppe, Gewerkschaft, Kirche etc.), sondern übernehmen gerade gegenüber der Öffentlichkeit die Entscheidungsfunktion des Parlaments, das die Beschlüsse dann im Paket (nicht aufschnüren, eins zu eins umsetzen!) unter Fraktionszwang abnicken darf. Dies ist eine Form demonstrativer Politikberatung, die von der Öffentlichkeit als Teil des politischen Systems wahrgenommen wird. Hier hat sich das Legitimationspotential durch wissenschaftsgeleitete Politikberatung nahezu aufgelöst. Politikberatung ist dann für die Wissenschaft, was Korruption für die Politik: ein systemfremder Kommunikationscode, der die Funktion des Systems (und damit: seine Existenz) in Frage stellt. Wer sich als Wissenschaftler in einen solchen Rat wählen läßt, setzt seine Reputation aufs Spiel und wird Teil des politischen Systems. Der Gewinn: vielleicht etwas Macht. Die Voraussetzung oder das Ergebnis: Prominenz. „Auf Ruhm hast du den Sinn gerichtet? Dann acht die Lehre: Beizeiten leiste frei Verzicht Auf Ehre!“ (F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

Werbefirmen, Meinungsforscher, Professoren Die Professionalisierung der Politikberatung im Wahlkampf (1949–1972) Von Frank Bösch Die political consultants des Wahlkampfes verkörpern heute die öffentlich bekannteste Form des Politikberaters. Amerikanische Bestseller und Spielfilme popularisierten die spin doctors als eiskalte Medienprofis, die sowohl über den Erfolg von Parteien als auch über deren Politik entscheiden1. Auch in der Presse finden die Werbefirmen, Meinungsforscher, Journalisten und Wissenschaftler, die die Parteien im Wahlkampf beraten, eine wesentlich größere Aufmerksamkeit als die Politikberater der Ressorts. Im Wahlkampf 2002 wurde dadurch etwa der Medienberater von Edmund Stoiber, der parteilose Journalist Michael Spreng, schnell selbst eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Trotz ihrer großen öffentlichen Bedeutung hat die Wahlkampfberatung in der Wissenschaft bisher kaum Beachtung gefunden. Die Politikwissenschaft untersuchte sie im Rahmen einiger aktueller Wahlanalysen, aber vor allem mit Blick auf die USA2. Die historische Genese der deutschen Wahlkampfberatung blieb dagegen bisher weitgehend unerforscht. Die einschlägigen Publikationen zur Geschichte der Politikberatung konzentrierten sich vielmehr auf die „party in government“3. Die „party in election“ oder „party as organization“, wie die Politikwissenschaft unterscheidet4, fand vermutlich aufgrund der Staatsfixierung 1 Vgl. etwa Spielfilme wie „Wag the Dog“ oder den verfilmten Bestseller: Anonymus [Joe Klein, F. B.], Primary Colors, New York 1996 (dt.: Mit aller Macht, München 1996); analytisch hierzu: Sandra Forkel/Manfred Schwarzmeier, „Who’s doing you?“ Amerikas Weg in die „Consultant Democracy“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 31 (2000), S. 857–871. 2 Vgl. etwa: Marco Althaus, Wahlkampf als Beruf. Die Professionalisierung der political consultants in den USA, Frankfurt 1998; Pirko Kristin Zimow, „Spin Doctors“. Wahlkampfberater als „Charisma-Produzenten“ im amerikanischen Wahlkampf, Berlin 1995; hier weitere Hinweise auf die umfangreiche amerikanische Literatur. 3 Vgl. Standardwerke wie: Peter Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien, Probleme und Perspektiven im Kooperationsfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Münster 1993; Axel Murswieck (Hg.), Regieren und Politikberatung, Opladen 1994. 4 Zur Differenzierung der unterschiedlichen Ebenen von Parteien vgl. Frank Decker, Parteien und Parteiensysteme im Wandel, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 30 (1999), S. 345–361.

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mancher Historiker wenig Aufmerksamkeit. Der folgende Artikel soll deshalb mit Blick auf die beiden großen deutschen Volksparteien klären, wie, wann und in welchem Maße sich eine professionelle Wahlkampfberatung herausbildete, die die öffentliche Darstellung von Politik prägte. Bislang gilt die SPD als die Partei, die seit den frühen sechziger Jahren die moderne Wahlkampfberatung einführte. Brandts Beraterstab und seine eigene journalistische Erfahrung haben demnach erstmals für medial inszenierte Kampagnen im amerikanischen Stil gesorgt5. Ein genauer Blick in die Quellen dürfte dieses Bild revidieren. Wie der Artikel zeigen soll, waren es vielmehr die Christdemokraten, die seit Anfang der fünfziger Jahre die externe Wahlkampfberatung einführten. Durch die Zuarbeit von Werbe-Experten und Meinungsforschern gelang ihnen frühzeitig eine überlegene und professionelle mediale Wahlkampfführung, die sich bereits im hohen Maße amerikanischen Standards annäherte. Wie zu zeigen ist, vertrauten die Sozialdemokraten dagegen noch wesentlich länger auf die Ressourcen ihrer eigenen Partei. I. Voraussetzungen für die Beratungsfähigkeit Die CDU der Ära Adenauer war formell eine schwach organisierte Partei. Durch die frühe Regierungsübernahme und die bürgerlichen Ressentiments gegen das Funktionärstum blieb ihr Mitarbeiterstab klein und einflußlos. Die heterogene Zusammensetzung der neuen Sammlungspartei erschwerte den Aufbau einer festeren Struktur zusätzlich. Ähnlich wie in anderen Bereichen waren die Kompetenzen bei der Wahlkampfführung nie formell geregelt, sondern wurden informell von Adenauer und seinen Mitarbeitern ausgehandelt. Das Kanzleramt behielt allerdings auch bei der Wahlkampfplanung seine dominante Position6. In einem recht schillernden Kontrast dazu stand die Struktur der SPD. Sie verfügte nicht nur über einen starken und einflußreichen Parteiapparat, sondern auch über recht klar abgegrenzte Aufgabenbereiche. Dabei konnte die SPD an Erfahrungen und Organisationsnetze aus der Weimarer Republik anknüpfen. Verantwortlich für die Wahlkämpfe und die „Propaganda“ der Partei war das geschäftsführende Vorstandsmitglied Fritz Heine, der bereits seit 1928 die „Werbeabteilung beim SPD-Vorstand“ leitete7. Seit 1948 stand der SPD mit 5 Vgl. zuletzt: Christine Holtz-Bacha, Massenmedien und Wahlen: Die Professionalisierung der Kampagnen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 15-16/2002, S. 23–28, S. 23. Von den zahlreichen Wahlkampfstudien berücksichtigt die Wahlkampfberatung am ehesten: Volker Hetterich, Von Adenauer zu Schröder – Der Kampf um die Stimmen. Eine Längsschnittanalyse der Wahlkampagnen von CDU und SPD bei den Bundestagswahlen 1949 bis 1998, Opladen 2000. 6 Zur Struktur der frühen CDU vgl. Frank Bösch, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise eines Erfolgsmodells (1945–1969), Stuttgart/München 2001, bes. S. 236–282.

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dem „Werber-Ring“ ein Zusammenschluß sozialdemokratischer Graphiker und Werber zur Seite. Deshalb schien es 1949 noch so, als wenn die SPD ihre Wahlkämpfe professioneller gestalten könne als die organisatorisch kaum gefestigten Christdemokraten8. Wie kam es, daß sich dennoch die Wahlkämpfe der CDU als besonders innovativ und erfolgreich erweisen sollten und die Partei sich früher gegenüber Beratern öffnete? Vier Momente dürften diese Entwicklung begünstigt haben. Erstens ermöglichte gerade ihre schwache und flexible Organisation eine Zusammenarbeit mit externen Beratern. Die CDU benötigte nicht nur externe Hilfe, sondern konnte diese durch die geringe Bedeutung ihres Apparates auch akzeptieren. Ihre offiziellen Gremien ließen sich leichter überzeugen oder übergehen. Bei den funktionärsstarken Sozialdemokraten wurden externe Expertisen dagegen lange als rivalisierende Einmischung abgelehnt. Das Mißtrauen überwog. Selbst als die SPD 1969 endlich erstmals einen Wahlkampf komplett von Werbeprofis entwerfen ließ, kamen diese bezeichnender Weise immer noch nicht von einem markterfahrenen unabhängigen Wirtschaftsunternehmen, sondern von einer parteieigenen Agentur. Der Ausbau der Wahlkampfberatung wurde zweitens durch das Selbstverständnis der Parteien bestimmt. Die Adenauer-CDU gab sich (im Unterschied zu einigen ihrer westeuropäischen Schwesterparteien) nicht mit den Wählern des katholischen Milieus zufrieden. Vielmehr strebte sie zugleich die Integration der protestantischen Wähler an, die zum Erhalt der Regierungsmacht nötig war. Die heute bekannte Erfolgsgeschichte der „catch-all-party“ war damals freilich nicht absehbar. Vielmehr erlitt die CDU bei den Landtagswahlen 1950/ 51 schwere Verluste. Adenauer und die Bundespartei sackten in Umfragen ab. Deshalb verwandte sie frühzeitig große Anstrengungen darauf, den Wahlkampf 1953 vorzubereiten. Dagegen entwickelte sich die SPD erst in den sechziger Jahren zu einer pragmatischen Volkspartei, die ihre politischen Ziele stärker der Wählermaximierung unterordnete und dies mit entsprechenden Anstrengungen im Wahlkampf unterstrich. Die Einführung der Wahlkampfberatung war drittens eine Frage der finanziellen Ressourcen. Seit 1952 begann die Union, ihre Spendeneinnahmen zu organisieren. Über sogenannte Fördergesellschaften und Wirtschaftszeitungen flossen ihr dabei hohe regelmäßige Spendensummen der Wirtschaft zu9. Zudem 7 Vgl. Stefan Appelius, Heine. Die SPD und der lange Weg zur Macht, Essen 1999, S. 21 f. 8 Die Bundestagswahl von 1949 ist die einzige, zu der bislang keine fundierte Monographie vorliegt; vgl. bislang Udo Wengst, Die CDU/CSU im Bundestagswahlkampf 1949, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), S. 1–52, und die kommunikationswissenschaftliche Studie: Jürgen Niemann, Auftakt zur Demokratie. Der Bundesstagswahlkampf 1949 zwischen Improvisation und Ideologie, Bochum 1994.

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konnte sie als Regierungspartei auf öffentliche Mittel zurückgreifen. Die SPD verfügte dagegen trotz ihrer Mitglieder- und Zeitungseinnahmen über keine vergleichbaren beweglichen Finanzmittel, um teure Werbefirmen oder Meinungsforschungsinstitute zu bezahlen. Die Sozialdemokraten besaßen zwar ein weitaus größeres Parteivermögen. Aber sie scheuten sich offensichtlich, dieses für umfangreiche Wahlkämpfe auszugeben. Ein vierter Punkt, der die frühe Öffnung der CDU gegenüber den Beratern erklärt, sind schließlich die unterschiedlichen Vorfeldbindungen der beiden großen Parteien. Da sich die SPD vor allem auf ihr gewerkschaftliches Vorfeld stützte, lag eine traditionelle Ansprache über Massenveranstaltungen nahe. Die bürgerlichen Vereine, Verbände und Kirchen bildeten ein Pendant hierzu. Allerdings verfügte die Union zugleich über engere Beziehung zu modernen Großunternehmen, die bereits neue Formen der Marktwerbung erprobten. Durch informelle Treffen und personelle Überschneidungen ergaben sich frühzeitig Transfereffekte, die eine Öffnung gegenüber der Werbewirtschaft erleichterten. Dagegen überwogen bei den Sozialdemokraten die beiderseitigen Berührungsängste. Inwieweit sich die Parteien für die Politikberatung im Wahlkampf öffneten, hing somit nicht allein von ihren Spitzenpolitikern ab. Die strukturellen Voraussetzungen prägten die Beratungsfähigkeit. Dennoch sollte man auch hier Adenauers Rolle nicht unterschätzen. Adenauer selbst hatte zwar eher traditionelle Vorstellungen von der Wahlkampfführung, aber er förderte zugleich Mitarbeiter, die neuen Konzeptionen gegenüber offen waren. Neue mediale Vermittlungsformen lehnte Adenauer nicht mit kulturkritischem Gestus ab, sondern griff sie schnell auf. Dagegen setzte sein Herausforderer Erich Ollenhauer wesentlich stärker auf eine traditionelle Wähleransprache. Die Beratungsfähigkeit der Spitzenkandidaten ging insofern mit der Beratungsfähigkeit der Parteien einher. II. Werbe- und PR-Experten Die Wahlkampfberater entwickelten sich seit den fünfziger Jahren zu einem neuen Typ des Experten. Ihr professionelles Know-How erhielten sie zunächst in zwei verwandten Bereichen: Einerseits kamen die Berater aus den gerade entstehenden Werbeagenturen, die nach amerikanischem Vorbild die alte Anzeigenwerbung ablösten und nun Markenprodukte anpriesen; andererseits kamen sie aus Public Relations- und Meinungsforschungsinstituten, deren Aufträge zumeist mit Regierungsmitteln bezahlt wurden. Hierzu zählten etwa das Allensbacher Institut für Demoskopie, die Mobilwerbung GmbH oder die von 9 Vgl. hierzu komprimiert: Frank Bösch, Die Entstehung des CDU-Spendensystems und die Konsolidierung der deutschen Parteienlandschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 695–711.

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Adenauers Staatssekretär Otto Lenz aufgebaute Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise10. Im Unterschied zu anderen Politikberatern kamen die Wahlkampfexperten damit nicht aus einem wissenschaftlich etablierten Fachgebiet. Auch innerhalb der Wirtschaft begannen sich Werbung und Meinungsforschung gerade erst durchzusetzen. Um ihren Expertenstatus aufzubauen, verfaßten die Werbeleute auffallend viele halbwissenschaftliche Publikationen11. Zudem wiesen sie auf ihre Amerika-Erfahrungen hin und trugen demonstrativ Doktortitel in ihrem Firmennahmen. Da sie keine politische Erfahrung besaßen, konnten sie nur auf ihre Kenntnisse aus der Produktwerbung zurückgreifen. Ähnlich wie bei den Wirtschaftskunden war ihre Wahlkampfarbeit kommerzieller Natur, also auf den unternehmerischen Gewinn bedacht. Dennoch gab es bis 1972 keine Werbeagentur, die zwischen den Parteien wechselte. Lediglich einzelne Umfrageinstitute (EMNID, Divo) arbeiteten für verschiedene Parteien. Die professionelle Wahlkampfberatung wurde Anfang der fünfziger Jahre zunächst an der CDU-Parteigeschäftsstelle vorbei vom informellen Umfeld Adenauers und Erhards initiiert. Ähnlich wie in der Ressortberatung lag der historische Ausgangspunkt der Wahlkampfberatung damit bei der Regierung12. Zu einer ersten Zusammenarbeit von Politikern und Produktwerbung kam es im Jahr 1952 im Rahmen des Vereins „Die Waage. Gesellschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e. V.“ Nach dem Vorbild des amerikanischen „Advertising Council“ schlossen sich in der Waage führende Unternehmer zusammen, um Erhard, seine Wirtschaftspolitik und den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ im Vorfeld der Bundestagswahl 1953 öffentlich populär zu machen. Die fünfziger Jahre über sollten ihre umfangreichen Kampagnen weiter laufen. Sie wurden komplett von der Frankfurter Werbeagentur Hanns Brose entworfen, damals eine der professionellsten in Deutschland13. Nicht zuletzt um ihre indirekten Parteispenden gefahrloser als Betriebsausgabe absetzen zu können, ging der Etat von jährlich über einer Millionen Mark direkt an die verantwortliche Werbefirma. Regelmäßige Treffen zwischen Erhard, den Unternehmern und den 10 Zum Aufbau dieser PR-Gruppen vgl. etwa: Johannes J. Hoffmann, „Vorsicht und keine Indiskretionen!“ Zur Informationspolitik und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung 1949–1955, Aachen 1995; Stefan Stosch, Die Adenauer-Legion. Geheimauftrag Wiederbewaffnung, Konstanz 1994. 11 Sie erschienen zumeist im Düsseldorfer Econ-Verlag; vgl. etwa die Selbststilisierung: Hanns Brose, Die Entstehung des Verbrauchers. Ein Leben für die Werbung, Düsseldorf 1958. 12 Zur Regierungsfixierung der frühen Politikberatung vgl. Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung, S. 117. 13 Zur Werbeagentur von Hanns Brose vgl. auch: Dirk Schindelbeck, „Asbach Uralt“ und „Soziale Marktwirtschaft.“ Zur Kulturgeschichte der Werbeagentur in Deutschland am Beispiel von Hanns Brose (1899–1971), in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 40 (1995), S. 235–252.

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Werbern koordinierten dabei den Ablauf14. Da ansonsten keine Parteivertreter Einfluß nahmen, konnten sich die Werber relativ frei entfalten. Gerade weil Erhard vielen Unternehmern näher stand als der Parteigeschäftsstelle, lag diese Form der Beratung nahe. Zudem konnte dieser Kreis an die „Gesellschaft für Konsumforschung“ anknüpfen, in der Erhard und Brose bereits während des Nationalsozialismus zusammen gekommen waren15. Auf den ersten Blick fiel ihre Kampagne durch ihre Quantität auf. Ihre Anzeigen erschienen gleichzeitig in Dutzenden von Tageszeitungen, in den meisten Illustrierten und per Film. Zugleich glänzten sie durch eine neue Qualität, was auch die SPD-Führung neidvoll eingestand16. Besonders in sechs Bereichen hoben sie sich von der bisherigen Wahlwerbung ab und führte die Politikvermittlung in die Sphäre der Produktwerbung. Erstens arbeitete sie eng mit der Meinungsforschung zusammen. Pre-Tests sicherten Begriffe ab, die nach dem Anlauf der Kampagne in Werbewirkungskontrollen überprüft und gegebenenfalls modifiziert wurden. Der Wähler, und nicht die Parteiführung, schien damit die Begriffe zu steuern. Zweitens propagierte ihre Werbung nicht eine bestimmte Partei, sondern eine politische Haltung oder ein bestimmtes Ideal. Damit entsprach sie dem bis heute gültigen Werbestandard, nicht das Produkt, sondern ein Lebensgefühl zu verkaufen. Angesichts der deutschen Parteienressentiments schien dies besonders erfolgsträchtig, verstärkte zugleich aber auch den überparteilichen Gestus der Politik. Drittens schürte ihre Werbung weniger Ängste, sondern hob Positives hervor. Während die SPD noch 1957 Atompilze auf ihre Wahlplakate malte und sich mit dem aufgezeigten Massenmord selbst ein negatives Image schuf, warben die Anzeigen der Waage für gesellschaftliche Harmonie und lobten die Aufbauleistung. Ihre Kampagnen zeichneten sich viertens durch eine neue Langfristigkeit aus, das sogenannte „permanent campaigning“. Ihre Werbung begann bereits ein Jahr vor der Bundestagswahl und wurde dann in Wellen fortgeführt, um vor der nächsten Wahl wieder verstärkt zu werden. Ebenso wurden ihre Slogans, Begriffe und Werbefiguren („Fritz und Otto“) langfristig beibehalten. Bis heute scheint es so zu sein, daß gerade die Werbefirmen dazu verhalfen, gegen die kurzzeitig denkenden Politiker dauerhafte Begriffe und damit auch Handlungskonzepte durchzusetzen17. Fünftens zeichneten sie sich durch eine einheitliche Gestaltung aus, ein „corporate design“, das die optische Wiedererkennung des „Sprechers“ gewährleistete. Nicht nur die Textgestaltung, sondern auch die Bilder und ihr einheitliches Emblem (eine Waage) sorgten dafür. Mit der Verwen14

Sitzungsprotokolle in: Ludwig-Erhard-Stiftung (LES), Bestand Die Waage 121. Dirk Schindelbeck/Volker Ilgen, „Haste was, biste was!“ Werbung für die soziale Marktwirtschaft, Darmstadt 1999, S. 34. 16 Vgl. den Vermerk im Bestand des SPD-Propagandachefs Fritz Heine, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) SPD-PV/PVAJ0000379. 17 Dies betonte ein wissenschaftlicher Wahlkampfberater der SPD-Kampagne 2002. 15

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dung von Comic-Strips und Trickfilmen nahmen sie schließlich sechstens der Politik ihre Ernsthaftigkeit. Loriot sollte den Filmfiguren Fritz und Otto seine markanten Knollnasen verleihen. Ihre szenische Dialogform schuf in Text und Film eine neuartige Wähleransprache, die den Anschein vermied, eine Partei spräche von oben herab zu den Wählern. Ob die beiden Figuren tatsächlich „Tran und Helle“ als Vorbild hatten, die 1940 in deutschen Kinos auf die Kriegswirtschaft einstimmten, sei dahingestellt18. Zumindest ließ sich nun eine Partei mit konservativen Wurzeln auf eine Werbeform ein, die amerikanische Unterhaltungsformen auf die Politikvermittlung übertrug. Gleichzeitig war die CDU die erste deutsche Partei, die ihren eigenen Wahlkampf direkt von Werbefirmen gestalten ließ. Seit 1957 zog sie vor allem Mitarbeiter der Düsseldorfer Werbefirma Hegemann hinzu, die ihre Wahlkämpfe bis in die siebziger Jahre begleiten sollte. Bereits 1957 kümmerten sich die Werbeprofis nicht nur um technische Fragen, sondern entwickelten fast alle Slogans und Plakate. Im Vergleich zu den Vorschlägen aus der Partei bescherte dies einen ähnlichen Modernisierungseffekt wie bei der Waage-Kampagne. Die Entwürfe der Werbeprofis waren knapper und pointierter, unpolitischer und überparteilicher, positiver und harmonischer und auch stärker aufeinander abgestimmt, so daß die verschiedenen CDU-Plakate auch nebeneinander ein Ganzes ergaben. Damit wurde die CDU und insbesondere Adenauer zu einem „Markenprodukt“19. Die Werber bekamen jeweils sehr grobe Vorgaben, machten dann diverse detaillierte Vorschläge, die schließlich beide Seiten gemeinsam diskutierten. Ihre Entwürfe reichten von einem genauen Zeitplan für den Wahlkampfablauf bis hin zu detaillierten Plakatvorschlägen für bestimmte Zielgruppen. Sie entwarfen Dutzende von Slogans, unter denen Bundesgeschäftsführer Heck dann eine Vorauswahl traf, die genauer debattiert werden sollte20. Daß die Berater ihre Vorschläge mit Meinungsumfragen belegten, verstärkte den Anschein ihrer wissenschaftlichen Autorität. Ein großer Vorteil dieser externen Beratung lag darin, daß ihre Ausgangsanalysen auch die Schwächen der CDU systematisch benannten, um Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Der SPD fehlte genau diese kritische Außenexpertise. Der Einfluß dieser externen Wahlkampf- und Werbe-Experten kann als recht hoch eingeschätzt werden. Ihre Begriffe, Bilder und Slogans prägten die öffentliche Wahrnehmung der CDU – von „Keine Experimente“ (1957) bis „Auf den 18

So argumentieren Schindelbeck/Ilgen, „Haste was, biste was!“, S. 77. Zur Entpolitisierung der Wahlwerbung vgl. auch, mit sehr kritischem Unterton: Heidrun Abromeit, Das Politische in der Werbung. Wahlwerbung in der Bundesrepublik, Opladen 1972, S. 102 f. 20 Vgl. etwa die Vorschläge in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) VII-003-93/2. 19

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Kanzler kommt es an“ (1969). Sie beeinflußten die politische Sprache auf scheinbar empirischer Basis. Nachdem die Umfragen etwa ergaben, daß der Begriff „Sicherheit“ der „Einheit“ vorgezogen wurde21, entwickelte er sich zu einem zentralen CDU-Leitbegriff. Durch seine Propagierung entfaltete er wiederum eine generative Kraft, die auf das Selbstverständnis der Gesellschaft zurückwirkte. Ihre durch Umfragen abgesicherten Vorschläge konnten zugleich beeinflussen, welche Akzente die Regierungspolitik in der Vorwahlzeit setzte. Bei den Wahlen 1953 und 1957 setzte die Regierung Adenauer etwa die Kaffee-, Tee- und Tabaksteuern herunter, nachdem Umfragen die Preissteigerung als das vordringlichste Problem ausmacht hatten22. Besonders der einzigartige Wahlerfolg von 1957 verstärkte schließlich das Ansehen der Werbefirmen so sehr, daß es bei der nächsten Bundestagswahl unumstritten war, sie erneut zu beauftragen. Die Zusammenarbeit mit den Werbe- und PR-Beratern verlieh der Politik ein privateres und emotionaleres Erscheinungsbild. Sie halfen, Politik in Bilder umzusetzen. Seit 1953 trat mit Adenauer erstmals ein Staatsmann auch als Privatmann in einem medialen Wahlkampf auf, sei es beim Rosenpflücken, BouleSpielen oder im Kreise der Familie23. Zudem vereinheitlichten die Werber bundesweit die Sprache und das Bild der regional äußerst unterschiedlichen Partei. Angesichts des starken föderalen Eigensinns vieler Christdemokraten war dies leichter von außen durchzusetzen. Insgesamt hatten die Werbeberater nicht die Funktion, bereits Geplantes zu legitimieren, sondern erbrachten eine originäre Leistung. Ihre Ansätze ähnelten allerdings der pragmatischen Wahlkampfvorstellung von Adenauer. Auch er setzte bekanntlich auf einfache und emotionale Botschaften. Die externen Wahlkampfberater legten zudem genaue Pläne vor, wo, wann und wie lange in den unterschiedlichen Medien bei einem fixierten Finanzrahmen geworben werden sollte. Bei der Aufstellung dieser umfangreichen Streuungspläne brachten sie ein organisatorisches Expertenwissen ein, über das die Politiker kaum verfügten. Die Firmen mußten nicht nur die Preiskalkulation für 21 Vgl. bereits Lenz im Bundesvorstand 5.9.1952, abgedruckt in: Adenauer: „Es mußte alles neu gemacht werden“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1950– 1953, bearb. v. Günter Buchstab, Düsseldorf 1986, S. 143. 22 Adenauers Staatssekretär Lenz ließ diese Waren ermitteln und drängte Adenauer auf entsprechende Preissenkungen; vgl. auch: Gerhard Schmidtchen, Die befragte Nation. Über den Einfluß der Meinungsforschung auf die Politik, Frankfurt 1965, S. 46 f. 23 Die private Abbildung von Politikern ist freilich älter. Bereits mit dem Aufkommen des Fotojournalismus im späten 19. Jahrhundert ließen sich Kanzler und Spitzenpolitiker in der Privatsphäre ablichten; vgl. etwa die Bilder von Bülow und Hohenlohe in: „Berliner Illustrierte Zeitung“ 26.3.1898, 30.7.1899, 17.8.1902 oder 26.4.1903. In meinem laufenden Projekt über „Skandal, Öffentlichkeit und Massenpresse im Kaiserreich und imperialen England“ untersuche ich, wie sich das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in der Politik wandelte.

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Filme, Anzeigen und Plakatanschläge entwickeln, sondern auch den jeweiligen Werbeort bestimmen. Welche Zeitungen und Zielgruppen in den Vordergrund rückten, lag dabei ebenfalls mit in ihrer Hand. Das Aufkommen der Wahlkampfberater stand damit auch im Zusammenhang mit dem Übergang von der Richtungspresse hin zu einer sich ausdifferenzierenden Medienlandschaft, in der Zielgruppen schwerer anzusprechen waren. Dagegen vertraute die SPD weiterhin auf ihre alte Richtungspresse. Diese modernisierte sie allerdings nicht, sondern schöpfte die dafür nötigen Mittel für die Parteiarbeit ab24. Trotz der hohen Kosten gab sich die Union nicht mit einer Werbefirma zufrieden. Vielmehr beauftragte sie seit 1957 kontinuierlich zwei der umsatzstärksten Werbeagenturen gleichzeitig, inhaltliche Vorschläge und Streuungspläne zu entwerfen. Ebenso vergab sie Meinungsumfragen zur Wahlkampfvorbereitung zugleich an zwei Institute (bes. Allensbach und EMNID). Die Konkurrenz der Berater sollte die Qualität sichern. Eine zunehmend breitere Ausschreibung des Werbeauftrages an mehrere Anbieter förderte dies. Nachdem beide Werbefirmen eine Gesamtkonzeption vorgelegt hatten, entschied die Partei eine Aufgabenverteilung, die Überschneidungen vermeiden sollte. Während die Düsseldorfer Firma Hegemann als regelmäßiger Berater Erfahrung in der Wahlkampfführung sammelte und Kontinuität garantierte, wechselte die zweite Firma gelegentlich, was neue Impulse versprach. Häufig zog die CDU die Agentur „Die Werbe GmbH“ als zweite Firma heran, mit der sie bereits 1957 gute Erfahrungen gemacht hatte25. Gesprächspartner der Berater waren der Bundesgeschäftsführer und ausgewählte Vertreter aus Adenauers persönlichem Umfeld. Hierzu zählte zunächst sein Staatssekretär Otto Lenz, dann dessen Nachfolger Hans Globke. Die Wahlkampfleitung vertraute Adenauer immer wieder neuen Köpfen an. 1953 übertrug er sie Otto Lenz, 1957 dem geschäftsführenden Vorsitzenden Franz Meyers, 1961 seinem persönlicher Referent Franz Josef Bach und 1965 Josef Hermann Dufhues. Persönliche Gespräche zwischen Adenauer und den Wahlkampfberatern blieben selten. Selbst der wichtigste Meinungsforscher und einflußreichste PR-Berater, Peter Neumann vom Allensbacher IfD, ist insgesamt nur fünf Mal in Adenauers Terminkalender verzeichnet, seine Frau Elisabeth Noelle-Neumann gar nicht26. Die direkte Korrespondenz zwischen ihnen blieb ähnlich spärlich. Einen festen Platz in Adenauers Terminkalender hatte dagegen 24 Appelius, Heine, S. 388–449. Vergleichend zum Ablauf der Wahlkämpfe selbst: Marie-Luise Recker, Wahlen und Wahlkämpfe in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1960, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Wahlen und Wahlkämpfe in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Bundesrepublik, Düsseldorf 1997, S. 267–309. 25 Vgl. Kraske an Globke 14.6.1960, in: ACDP I-070-004/2. 26 5.7.1951; 11.8.1956; 23.1. 1959; 9.2.1960; 10.5.1960; Terminkalender in: Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus (StBkAH) 04.

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der „Mittwochskreis“. Er war ein kleines Wahlgremium, das sich ab Mitte 1956 regelmäßig traf, ab Anfang 1957 bisweilen sogar wöchentlich. Hier kamen mitunter einzelne Berater hinzu. Zumindest saßen hier aber regelmäßig die Parteispitzen, die sich mit den Wahlkampfberatern austauschten. Insofern war Adenauer zumindest indirekt über die Wahlkampfplanung fortlaufend informiert. Wie Zeitzeugen berichten, interessierte er sich dabei selbst für die Details der Plakatgestaltung. An dem Allensbacher Meinungsforscher Peter Neumann läßt sich zugleich zeigen, daß das Engagement der PR-Leute weit über die bloße Erhebung von Daten hinausging. Neumann machte erfolgreiche Vorschläge zur Plakatgestaltung und kümmerte sich um den Ausbau der regierungsfinanzierten Sonderorganisationen. Vor der Wahl 1957 traf sich Neumann sogar mit dem Geschäftsführer des BDI und der Staatsbürgerlichen Vereinigung, um persönlich die erforderlichen Wahlkampfmittel von mindestens sechs Millionen Mark auszuhandeln27. Zugleich sprach er mit dem BDI-Vertreter Grundlinien für eine gemeinsame Kampagne ab. Bei der Beratung konnte er auf seine Kenntnisse über den amerikanischen Wahlkampf aufbauen. So plädierte er etwa angesichts des erwarteten Sieges 1957 für eine Kampagne zur Hebung der Wahlbeteiligung, weil Dewey 1948 wegen seiner großen Siegesgewißheit die eigenen Anhänger zur Urne nicht hatte bringen können28. Die Zusammenarbeit zwischen Politikern und Wahlexperten verlief freilich auch in der organisationsschwachen CDU nicht immer problemlos. Insbesondere die Bundesgeschäftsstelle fühlte sich häufig übergangen. „Es ist kein befriedigender Zustand, wenn der Bundesgeschäftsführer der Partei Plakate, die für die Partei werben sollen, erst an den Plakatsäulen kennenlernt“, klagte Konrad Kraske nach der dritten Bundestagswahl29. Umgekehrt hatten die Werbeund PR-Experten oft Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. 1957 kam es dabei anscheinend zu einem so schweren Eklat, daß einige Werbeleute im Wahlkampfteam unter Verzicht auf ihr Honorar die Arbeit abbrachen; hierzu zählte auch der Werbechef der Ford-Werke Köln30. Selbst den heute berühmtesten Slogan der frühen Wahlgeschichte, „Keine Experimente“, konnten die Berater anscheinend erst nach einiger Überzeugungsarbeit durchsetzen. Der Werbemann Hubert Strauf erinnert sich zumindest, die CDU-Politiker hätten seinen Vorschlag zunächst für zu unpolitisch gehalten. Erst nachdem Strauf betont hatte, als Arbeitersohn das Denken von 27

Neumann an Adenauer, 23.8.1956, in: ACDP VII-003-003/1. Neumann an Globke, 19.8.1957, in: ACDP VII-003-003/1. 29 Ebd. 30 Dies vermerkte zumindest die SPD-Gegnerbeobachtung in ihrer Wahlanalyse von 1957; in: AdsD SPD-PV/PVAJ0000409. In den CDU-Akten ist nur generell von Unstimmigkeiten zwischen der Bundesgeschäftsstelle und den Beratern die Rede. 28

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„Lieschen Plüschs“ genau zu kennen, soll Adenauer den Slogan akzeptiert haben31. Damit setzten sich die Werber mit dem klassischen Marketing-Konzept durch, nicht eine Partei, sondern ein bestimmtes Gefühl zu propagieren, das indirekt mit ihr verbunden war. Straufs Wortschöpfung sollte bis heute unsere Vorstellung von den fünfziger Jahren prägen. III. Die SPD holt auf Selbstverständlich entging den Sozialdemokraten die Wahlkampfberatung der CDU nicht. Ihre interne Gegnerbeobachtung zollte ihr zumindest Respekt. Dennoch konnten sie sich nicht zu einer vergleichbaren Außenexpertise durchringen. Die Sozialdemokraten holten zwar schon in den fünfziger Jahren UmfrageErgebnisse von Divo oder EMNID ein. Sie zögerten aber, hieraus ernsthafte Konsequenzen zu ziehen und legten die Daten schließlich beiseite32. Auch gegenüber externen Werbefirmen bewahrten sie ein zu großes Mißtrauen, um ihnen die Wahlkampfführung anzuvertrauen. Statt dessen setzte ihr Wahlkampfchef Fritz Heine weiter auf den sozialdemokratischen Werber-Ring. Im Unterschied zu den CDU-Beratern saßen hierin allerdings nicht Mitarbeiter von führenden Werbeagenturen, sondern eher kleine Graphiker mit Parteibuch, die vornehmlich parteieigene Blätter illustrierten. Die Kampagnen der SPD beruhten dementsprechend wie in Weimar stärker auf langatmigen Texten, die vom Vorstand erstellt wurden und sich defensiv in Details verloren. Sie waren zeitlich nicht gestaffelt, verzichteten auf eine breitere Personalisierung und waren preislich schlecht kalkuliert33. Zudem vertraute die SPD auch 1957 noch auf ihre Parteipresse und ihr traditionelles Kabarett, weniger auf Filme. Sie war weltanschaulich und organisatorisch noch zu sehr vom Weimarer Geist geprägt, um eine moderne Politikvermittlung zu wagen. Nach der zweiten Wahlniederlage gründete die SPD 1954 immerhin einen beratenden „Werbe- und Propagandaauschuß“, dem Werber, Journalisten, Psychologen, Grafiker und Meinungsforscher angehörten34. Aber auch er litt daran, daß die Berater nicht nur aus dem engeren Umfeld der SPD kamen, sondern sich kaum gegenüber den politischen Vorgaben der anwesenden Funktionäre

31 Interview 1988, Auszüge abgedruckt in: Rainer Gries u. a.: Die Ära Adenauer. Zeitgeschehen im Werbeslogan, in: Journal Geschichte 3/1989, S. 9–15, zit. S. 13 f. Vgl. zum Selbstverständnis des Werbers: Hubert Strauf, Die moderne Werbeagentur in Deutschland, Essen 1959. 32 Wichtige Hinweise und Einschätzungen verdanke ich hier Anja Kruke, die in ihrem Bochumer Dissertationsprojekt die SPD und die Meinungsforschung untersucht. 33 Vgl. auch: Uwe Webster Kitzinger, Wahlkampf in Westdeutschland. Eine Analyse der Bundestagswahl 1957, Göttingen 1960, S. 105–108. 34 SPD-Parteivorstand (Hg.), Jahrbuch 1956/57 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Hannover/Bonn 1958, S. 299 und 305.

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durchsetzen konnten35. Der Weg zur Volkspartei verlief somit nicht nur über das Godesberger Programm. Entscheidend war zugleich auch die Bereitschaft, den Wahlkampf zu professionalisieren. Erst Anfang der sechziger Jahre griff die SPD zögerlich auf die Daten der Meinungsforscher zurück, um ihren Parteiwandel abzusichern. Mit dem Generationswechsel verlor sich ihre Weimarer Prägung. Mit Willy Brandt rückte ein neuer Beraterkreis an die Spitze. Die Wahlkampfleitung übernahm Herbert Wehner, der Heine verdrängte. „Wahlkampfdirektor“ wurde mit einem ZweiJahres-Vertrag der frühere Mitherausgeber der Frankfurter Rundschau, Karl Anders. Ermöglicht wurde die Modernisierung der SPD-Wahlkämpfe auch durch die Veränderung der finanziellen Rahmenbedingungen. Denn seit 1959 erhielten die Parteien staatliche Mittel. Diese sorgten bei allen Parteien dafür, daß die Ausgaben für die Wahlkämpfe beträchtlich anstiegen. Eine neuartige, relativ unabhängige Form der Politikberatung stellte das Engagement der Intellektuellen dar, die für die SPD eintraten. Sie kreierten Slogans und gaben Denkanstöße, auch wenn die Grenzen der Zusammenarbeit bald sichtbar wurden36. Die professionelle Wahlkampfberatung im engeren Sinne überließ die SPD jedoch weiterhin wesentlich stärker Experten aus dem eigenen Parteiumfeld. Die Ende der fünfziger Jahre gegründeten Institute von Divo und Infas, die nun Umfragedaten erhoben, waren recht eng mit der SPD verflochten. Nachdem Infas 1965 fälschlicher Weise einen Sieg für die Sozialdemokraten vorhergesagt hatte, schwand das grade aufgebaute Vertrauen in die Meinungsforschung erneut. Die SPD trennte sich nun von Infas und beauftragte 1969 mit Infratest ein Meinungsforschungsinstitut, das eine etwas parteiunabhängigere Analyse versprach. 1969 ließ die SPD zudem erstmals eine Werbefirma die Wahlkampfführung komplett ausarbeiten. Die ARE, die dies übernahm, war allerdings ebenfalls ein quasi parteieigenes Unternehmen. Bezeichnender Weise stammten der Kopf der ARE, Harry Walter, und einige seiner Mitarbeiter von der Werbeagentur Dr. Hegemann, die bislang alle CDU-Wahlkämpfe bestritten hatte. Insofern profitierten die SPD-Berater nun indirekt vom Know-how der Unionswahlkämpfe. Eine vergleichbare Öffnung gegenüber externen, kommerziellen Werbefirmen wie die Union vollzog die SPD vermutlich erst Anfang der achtziger Jahre.

35

Vgl. Hetterich, Von Adenauer zu Schröder, S. 168. Da Daniela Münkels Beitrag in diesem Band das Thema behandelt, soll dies ausgespart werden; vgl. auch dies., Intellektuelle für die SPD: Die sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 222–238. 36

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IV. Die verzögerte wissenschaftliche Wahlkampfberatung Zugleich baute auch die Union ihre Wahlkampfberatung in den sechziger Jahren weiter aus. Die Bundestagswahl von 1961 wurde nicht nur durch externe Hilfe vorbereitet, sondern auch nachbereitet. Zu einer abschließenden Kritik lud die Parteispitze nicht nur Vertreter der Werbefirmen, Meinungsforscher und die Geldgeber vom BDI ein, sondern auch einzelne Sozialwissenschaftler wie Gerhard Lehmbruch (Tübingen) oder Erwin K. Scheuch (Köln)37. Mit letzteren traten nun erstmals Wissenschaftler in das Umfeld der Wahlkampfberatung. Echte Wahlkampfexperten aus dem universitären Umfeld gab es in Deutschland allerdings bislang kaum. Während sich in den USA bereits seit Ende der vierziger Jahre im Zuge der Diskussion über Paul Lazarsfelds Buch „The People’s choice“ eine breite wissenschaftliche Diskussion über das Wahlverhalten entwickelt hatte, waren in Deutschland zunächst kaum Wahl- oder Wahlkampfstudien erschienen. Die einzige Untersuchung zur Wahl von 1957 erschien bezeichnender Weise zunächst in England, verfaßt von Uwe Webster Kitzinger38. Die Parteienforschung der deutschen Politikwissenschaft konzentrierte sich statt dessen auf organisatorische und programmatische Fragen39. Die Meinungsumfragen oder den Verbandslobbyismus begleitete sie eher mit kritischen Kommentaren, da diese die Unabhängigkeit des Staatsmannes gefährden würden. Theodor Eschenburgs Buch über die Herrschaft der Verbände oder Wilhelm Hennis Kampfschrift gegen den Einfluß der Meinungsforscher erwiesen sich dabei als besonders wirkungsmächtig40. Gerade nach der nationalsozialistischen Propaganda schienen Wahlkämpfe einen zu unseriösen Beigeschmack zu haben, um in ihnen ein Forschungs- und Beratungsgebiet zu sehen. Ein wissenschaftlicher Professionalisierungsschub zeichnete sich eher bei den angehenden Parteieliten selbst ab. Sie leiteten ihre Karriere zunehmend mit historisch-politischen Arbeiten ein. So habilitierte Gerhard Stoltenberg über den politischen Einfluß der Weimarer Landvolkbewegung, Helmut Kohl promovierte über die Parteien in Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel erforschte den Bun37

Tagungsprogramm 19./20.1.1962, in: ACDP I-070-004/2. Kitzinger, Wahlkampf; auf deutsch erschien die Studie nur in stark gekürzter Form, was ebenfalls auf das geringe wissenschaftliche Interesse schließen läßt. Vgl. daneben: Stephanie Münke, Wahlkampf und Machtverschiebung. Geschichte und Analyse der Berliner Wahlen vom 3. Mai 1950, Berlin 1952; Wolfgang Hirsch-Weber/ Klaus Schütz, Wähler und Gewählte. Eine Untersuchung der Bundestagswahl 1953, Berlin 1957. 39 Vgl. etwa als wichtigsten Band der fünfziger Jahre: Parteien in der Bundesrepublik. Studien zur Entwicklung der Parteien bis zur Bundestagswahl 1953, hrsg. v. Institut für Politische Wissenschaft, Stuttgart 1955. 40 Wilhelm Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Zur Kritik politischer Umfragen, Tübingen 1957; Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, Stuttgart 1955. 38

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destagswahlkampf in Heidelberg und Rainer Barzel legte mit 23 Jahren sein erstes Buch über das aktuelle Parteiwesen vor41. Auch der Mitautor der bislang einzigen Monographie zur Bundestagswahl 1953, Klaus Schütz, begann damit seine SPD-Karriere, die ihn bis zum Brandt-Berater und Regierenden Bürgermeister Berlins führte. Viele dieser Bücher waren sicher keine wissenschaftlichen Meilensteine. Den jungen Parteiaufsteigern verschafften die akademischen Fingerübungen jedoch einen stärker analytischen Blick auf Wahlkampf- und Parteifragen. Für die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Politik waren sie eine wichtige Ausgangsbedingung. Zudem bildeten sich die Parteieliten fort, indem sie in die USA reisten, um dort mit Wahlkampf-Experten zu sprechen. Der CDU-Bundesgeschäftsführer Heck fuhr bereits 1956 nach Amerika, der Brandt-Berater Schütz vier Jahre später. Die universitäre Distanz gegenüber der Wahlforschung änderte sich erst in den sechziger Jahren. Nun war es die SPD, die öffentlich ihre Wahlkämpfe mit professoralem und intellektuellem Rat garnierte. Dennoch sollte die CDU auch die wissenschaftliche Wahlkampfberatung effektiver organisieren. Vor allem mit ihrer parteigenen Politischen Akademie in Eichholtz baute sie eine Institution aus, um entsprechende Grundlagenforschung, Tagungen und Publikationen zu organisieren. 1967 ging diese Akademie in das wissenschaftliche Institut der Konrad Adenauer-Stiftung über, das der Kieler Politikwissenschaftler Werner Kaltefleiter leitete. Während die intellektuellen Wahlhelfer der Sozialdemokraten für eine kurzfristige kreative Hilfe sorgten, entwickelte die CDU damit eine dauerhafte parteinahe Wahl- und Meinungsforschung. Bis heute ist die politikberatende Kompetenz der Adenauer-Stiftung wesentlich höher als bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, die mehr Gewicht auf die historische Erforschung der SPD und auf Studien zu Entwicklungsländern legte42. Unter Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard gewann auch die intellektuelle Beratung der Union an Bedeutung. Erhard vertraute seine Imageberatung einem neuen „Sonderkreis“ an, den der Leiter des Kanzlerbüros, Karl Hohmann, organisierte. Ihm gehörten Journalisten und Publizisten wie Rüdiger Altmann oder Johannes Groß an, aber auch der Mannheimer Wahlforscher Rudolf Wildenmann, der 1961 eine Studie über Grundfragen des Wählens vorgelegt hatte43. Dieser Kreis sinnierte nicht nur über politisch-programmatische Akzente, sondern auch über Erhards Schlipsfarbe und seine Dienstwagen-Standarte44. Insbe41

Rainer Barzel, Die geistigen Grundlagen der politischen Parteien, Bonn 1947. Eine ähnliche Einschätzung findet sich bei: Winand Gellner, Ideenagenturen für Politik und Öffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland, Opladen 1995, S. 214. 43 Helmut Unkelbach/Rudolf Wildenmann, Grundfragen des Wählens, Frankfurt 1961. 44 Vgl. LES 420, 559, 562; Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1996, S. 776. 42

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sondere bei der unglücklichen Worthülse „Formierte Gesellschaft“ zeigten sich jedoch die Nachteile dieser intellektuellen Schützenhilfe. Eine PR- oder Werbefirma hätte einen derartig sperrigen Begriff sicher nicht entwickelt. Zudem sorgte die „Formierte Gesellschaft“ innerhalb der Partei für großen Unmut, da Erhards Beratungsstab das Konzept nicht vorab mit ihr abgesprochen hatte45. V. Die Wahlkampfberatung wird sozialwissenschaftlich Parallel dazu liefen auch in den sechziger Jahren die eingespielten Beratungen der Werbeagenturen weiter. Sie richteten sich nun weniger an das Kanzleramt als an die Bundesgeschäftsstelle. Der Bundesgeschäftsführer Konrad Kraske teilte Erhard eher beiläufig mit, für welche Foto- und Filmtermine er sich bereit halten müsse. Die Werbefirma entwarf daraufhin nicht nur seinen Kandidatenprospekt, sondern übernahm auch dessen Verteilung in der Partei. Die Kreisverbände der CDU bestellten direkt bei der Werbeagentur ihre Wahlkampfmittel, wodurch die Partei eine umständliche organisatorische Arbeit auslagerte46. Die politische Gestaltungskraft der Werber sank jedoch bei den Wahlen von 1961 und 1965. Nun waren es stärker die Bundesgeschäftsführung und parteinahe Wissenschaftler wie Rudolf Wildenmann, die die Akzente setzten. Selbst die Ergebnisse der Meinungsforscher wurden in den sechziger Jahren deutlich kritischer gesehen47. Zudem fielen seit der Großen Koalition die mit Regierungsmitteln bezahlten PR-Organisationen weg. Besonders die mitarbeiterstarke Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise mußte ihre Arbeit auf Druck der SPD einstellen. Damit fehlte der CDU nicht nur ein Beraterstab, sondern vor allem ein Heer von Wahlkampfaktivisten. Von einem Bedeutungsverlust der Werbe-Experten kann man dennoch nicht sprechen. 1969 beauftragte die CDU sogar drei große Werbefirmen mit der Wahlkampfführung: die Bonner Werbe GmbH, die R.W. Eggert GmbH und die altgediente Dr. Hegemann GmbH. Bereits neun Monate vor Wahlbeginn berieten sie sich zumeist wöchentlich mit dem CDU-Generalsekretär, dem Geschäftsführer und anderen Spitzen der Geschäftsstelle48. Wie die Protokolle zeigen, war dieses Gremium nun der Brain-Pool für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit der Union. Dabei übernahmen die CDU-Vertreter nicht einfach die Vorschläge der Werber, sondern hielten oft aus ihrem mittlerweile zwei Jahrzehnte alten Erfahrungsschatz dagegen.

45 Vgl die Debatte im Bundesvorstand, 21.6.1965, abgedruckt in: Adenauer: „Stetigkeit in der Politik“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstandes 1961–1965, bearb. v. Günter Buchstab, Düsseldorf 1998, S. 971. 46 Vgl. hierzu die Unterlagen in: ACDP VII-003-0069/2. 47 So auch die Einschätzung von: Hetterich, Von Adenauer zu Schröder, S. 147. 48 Vertrag in: ACDP VII-003-50/1; Protokolle in: ACDP VII – 003-93/2.

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Die Wähler- und Parteianalysen der Werber nahmen dabei zunehmend einen sozialwissenschaftlichen Charakter an. Defizite gegenüber den Jungwählern oder den Wählerinnen legten sie mit Nachdruck offen. Ihre Wahlkampfentwürfe wurden immer umfangreicher. In ihrer Planungseuphorie verfaßten sie sogar einen Verhaltenskatalog darüber, wie sich die Politiker bei unvorhergesehenen Fällen reagieren sollten – vom Trauerfall bis zum Sportereignis49. Die Beratungskompetenz der Werber wuchs zudem in organisatorischen und technischen Fragen. Die Aufteilung des deutlich angestiegenen Etats auf die einzelnen Werbeträger war eine Arbeit, die angesichts des komplexen Medien- und Anzeigenmarktes kaum noch Parteipolitiker übernehmen konnten. Zudem gewann nun erstmals der Wahlkampf im Fernsehen eine größere Bedeutung, was die Rolle der externen Berater zusätzlich aufwertete50. Mit dem „Teledialog“, bei dem Kiesinger über riesige Bildschirme live mit mehreren Versammlungen diskutierte, führte die CDU schließlich eine neue Wahlkampftechnik ein, die sich allerdings nicht durchsetzen sollte. Dennoch: Der Gebrauch der neuen Technik selbst verkörperte bereits Modernität. Bei der Wahl von 1972 verstärkte sich die Professionalisierung der Berater weiter. Die Ausarbeitung der Werbefirma ähnelte nun einer politikwissenschaftlichen Untersuchung. Während die Berater bei Kiesinger auf eine Personalisierung gesetzt hatten, nannten sie bei Barzel schonungslos seine Schwächen. Er sei zu unbekannt und strahle keine Identifikationsmöglichkeiten aus, sondern wecke nur Respekt. Deshalb empfahlen die Werber einen Mannschaftswahlkampf, den die Union dann auch tatsächlich führte. Zudem legten sie der CDU nahe, eine programmatische Alternative zur SPD aufzubauen und verlangten eine Stützung des Reformkurses, der sich unter Führung des jungen Helmut Kohl bereits andeutete51. Auch wenn derartige Entscheidungen die Kompetenz der Berater weit überschritten, zeigen die Vorschläge zumindest ihr selbstbewußtes Selbstverständnis. Zugleich zeigte sich innerhalb der Bundesgeschäftsstelle um 1970 eine deutliche Verwissenschaftlichung der Politik. Der neue Bundesgeschäftsführer Rüdiger Göb sprach von „Regelmechanismen“, „Simulationsmodellen“ und einer „kybernetischen Organisation“52. Die Unionsschriften forderten etwa zum „Canvassing“ auf, um den Kontakt zu den Bürgern zu verbessern. Dementsprechend strukturierte Göb die Bundesgeschäftsstelle um. Ihre nunmehr sieben Abteilungen richtete er auf die Mediengesellschaft aus. 49 Sitzungsprotokolle und Unterlagen Wahlkampf 1969 in: ACDP, Signatur noch nicht verzeichnet. 50 Vgl. zu dieser Zäsur: Christina Holtz-Bacha, Wahlwerbung als politische Kultur. Parteienspots im Fernsehen 1957–1998, Opladen 2001. 51 Unterlagen Wahlkampf 1972 in: ACDP, Signatur noch nicht verzeichnet. 52 Vgl. hierzu auch: Hans-Jürgen Lange, Responsivität und Organisation. Eine Studie über die Modernisierung der CDU von 1973–1989, Marburg 1994, S. 130 f.

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Die Verwissenschaftlichung der Wahlkampfführung wirkte sich jedoch mitunter nachteilig aus. Sowohl die Christdemokraten als auch die Werber setzten nun nicht mehr auf einfache Botschaften, sondern auf komplizierte Formeln. Die Wahlslogans „Wir bauen den Fortschritt auf Stabilität – CDU“ und „Gegen Inflation, für Stabilität und Vernunft“ waren weder einprägsam noch emotional ansprechend. Sie wirkten technokratisch. Nun war es die SPD, die mit dem Slogan „Kanzler des Vertrauens“ Willy Brandt mit einfachen Worten vermarktete. Zudem bescherte die Politisierung des Sozialen der Union Probleme. Denn der linksliberale Zeitgeist ergriff jetzt auch die Werbe-Experten. Die Union hatte vor der Wahl die zehn größten und damit auch teuersten Werbeagenturen Deutschlands angeschrieben, um ihre Vorschläge einzuholen. Drei sagten jedoch sofort aus grundsätzlichen Bedenken ab. Nur drei beteiligten sich an der lukrativen Ausschreibung, die immerhin einen Etat von 30 Millionen Mark umfaßte, mit acht Prozent Provision für die Agentur53. Selbst die erneut unter Vertrag genommene Agentur Hegemann galt nicht mehr als vertrauenswürdig. Aus Düsseldorf erhielt die Geschäftsstelle nun den Hinweis, auch diese Firma sei „rot“, der Produktionsleiter sei „absolut links eingestellt“ und seine Frau arbeite bei der SPD-Agentur Are54. Auch wenn der Produktionsleiter daraufhin von der Mitarbeit entbunden wurde, blieb bei der Union ein ähnliches Mißtrauen, wie es in der SPD in den fünfziger Jahren gegenüber externen Beratern bestanden hatte. Ein entsprechendes Mißtrauen bewahrte sie auch gegenüber der zweiten Werbefirma, die sie verpflichtet hatte. Denn die Agentur Team hatte beim letzten Wahlkampf die FDP beraten und galt als zu liberal. Die Politisierung der Gesellschaft erschwerte damit selbst die kommerzielle Beratung. Umgekehrt war von Seiten der Werber nach der Wahl die Kritik zu hören, die CDU hätte sich bei einigen Vorschlägen nicht an sie gehalten. So hätte sie trotz ihrer Warnungen Brandt zu scharf angegriffen55. Nach dem Ende der Erfolgssträhne wollte natürlich keine Seite die Schuld tragen. Und schließlich gerieten die Werber nun in stärkeren Konflikt mit der Parteiorganisation. Denn seit 1969 hatte auch die CDU einen funktionärsstarken Apparat aufgebaut, der zunehmend an Eigengewicht gewann56. Die Parteimitarbeiter wollten es nicht mehr hinnehmen, daß Wahlkämpfe jenseits von ihren Programmdebatten geführt wurden. Den Slogan „Auf den Kanzler kommt es an“ (1969) sahen Teile der CDU als Anachronismus. In gewisser Weise stand die Union nun vor jenen Problemen, mit denen die SPD in der Ära Adenauer gerungen hatte. 53

Ausschreibung in: ACDP VII-003-50/1. Stürken an Krakow, 30.7.72, in: ACDP VII-003-50/2. 55 Vgl. das Werberblatt: Der Kontakter, 27.11.1972, S. 3. Zum Wahlkampf vgl. Werner Kaltefleiter, Zwischen Konsens und Krise. Eine Analyse der Bundestagswahl 1972, Köln 1973. 56 Zur weiteren Geschichte der CDU vgl. Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002, hier S. 99–114. 54

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Nicht nur die CDU, sondern alle Parteien vergrößerten in den siebziger Jahren ihren Parteiapparat. Gerade bei der Wahlkampfführung wurde parteiintern vieles übernommen, was früher an Unternehmen übergeben worden war. Im Vergleich zu den schlanken Wahlparteien in den USA sollten deshalb die externen Wahlkampfhelfer bis heute keine ähnlich große Rolle spielen. VI. Zusammenfassende Schlußbemerkung Im Vergleich zur klassischen Ressortberatung wies die Wahlkampfberatung einige interessante Paradoxien auf. So führte sie zu einer Verwissenschaftlichung ohne Wissenschaftler, zu einer Professionalisierung ohne ein klares akademisches Professionsprofil. Ihre Expertisen verstärkten die Rationalität des Wahlkampfes, obwohl sie das Emotionale förderten. Die Werbefirmen waren unpolitische Organisationen, die nun im hohen Maße das öffentliche Erscheinungsbild der Politik prägten, diese dabei aber zugleich wieder unpolitischer machten. Sie trugen zur Modernisierung der vermeintlichen Honoratiorenpartei bei, verfestigten aber zugleich die programmlose Fixierung auf den Kanzler. Die Werbeberater verbesserten das Image der CDU, während der Beratungsvorgang selbst kaum das Image förderte. Schließlich hatten die Werbeagenturen eben nicht das Ansehen von Professoren oder Schriftstellern, weshalb sie eher im Verdeckten arbeiteten. Die Wahlkampfberatung stand für eine Kommerzialisierung der Politik und der Politikberatung. Im Unterschied zu anderen Beratungsformen bildeten sie prima vista eher ein duales Modell zwischen Berater und Beratenem57. Zugleich sorgte der kommerzielle Charakter dafür, daß die formell unabhängige Rationalität der Berater im Dienst der politischen Rationalität des Machterhaltes stand. Im Vergleich zur klassischen Ressortberatung wird man ihren Einfluß als sehr hoch bewerten müssen. Denn ihre Arbeit war auf eine direkte Problemlösung bezogen und hatte keine Alibifunktion für bereits getroffene Entscheidungen. Zudem waren die Berater selbst für die Umsetzung ihrer Vorschläge zuständig, was pragmatische Konzepte sicherlich förderte. Im Vergleich zur Ressortberatung brachten sie häufig ein größeres Sample an Vorschlägen ein, aus denen die Politiker dann auswählten und beide Seiten gemeinsam Konzepte entwickelten. Dabei verfolgten die Wahlkampfberater nicht die wissenschaftliche Rationalität der Wahrheitsfindung, die im Idealfall die wissenschaftliche Ressortberatung bestimmte, sondern die politische Rationalität des Machterhalts.

57 Zur berechtigten Kritik an diesem Modell für die wissenschaftliche Beratung vgl. Renate Mayntz, Politikberatung und politische Entscheidungsstrukturen: Zu den Voraussetzungen des Politikberatungsmodells, in: Murswieck (Hg.), Regieren, S. 17–29, S. 17 f.

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Der vergleichende Blick auf die beiden Volksparteien zeigte, daß sich die Geschichte der Wahlkampfberatung nicht für alle Parteien gleich periodisieren läßt. Die CDU war die Partei, die sich frühzeitig, ab 1952, als wesentlich zugänglicher für Beratung erwies. Ihre schwache Parteiorganisation, ihre starken Finanzen, der frühe Blick auf den Machterhalt, Transfereffekte aus Wirtschaftskontakten und Adenauers pragmatische Aufgeschlossenheit ermöglichten dies. Dagegen blockierte in der SPD die politische Dominanz der Parteiführung eine kommerzielle Wahlkampfberatung. Aus Mißtrauen setzte die SPD bis in die sechziger Jahre auf die Beratung durch parteieigene Firmen und Experten. Erst Anfang der siebziger Jahre sollte die Parteimodernisierung der CDU ähnliche Probleme bescheren.

„Rationale Politik“ durch sozialwissenschaftliche Beratung? Die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform 1966–1975 Von Winfried Süß Im Mai 1969 referierte ein altgedienter Ministerialdirigent vor mehreren Mitgliedern des Bundeskabinetts über Netzplantechnik, Trendrechnung und die Simulation politischer Prozesse. Die Arbeitsweise der Bundesregierung, so der Beamte, sei nicht mehr zeitgemäß. Ihre Entscheidungsgrundlagen bedürften dringend der Verbesserung, um eine „Vorausorientierung der Regierungspolitik mit Hilfe eines Systems der gezielten Information, der Koordination und Planung“ zu ermöglichen. Im Kern gehe es darum, so der Grundakkord seines Vortrags, „Intuition zurückzudrängen zugunsten der Rationalität des Handelns“1. Der Beamte beendete seine Ausführungen mit Vorschlägen zur Neustrukturierung des Bundeskabinetts, dem er wegen zahlreicher Kompetenzüberschneidungen und der unausgewogenen Größe der Ressorts Reformbedürftigkeit attestierte. Die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform, deren Arbeit er dem Kabinettsausschuß zur Reform von Bundesregierung und Bundesverwaltung (dem sogenannten „Reformkabinett“) vorstellte, schlug daher mehrere Varianten der Neugliederung vor. Ihr sollten vor allem die kleinen Ministerien zum Opfer fallen. Alfred Faude, von dem hier die Rede ist, unterstützte seine Präsentation mit Organisationsplänen, Flußdiagrammen und anderen graphischen Elementen, die einem festen Schema folgten: Die Farbe Blau stand für die Ausgangshypothesen, Rot markierte die Projektziele und Weiß symbolisierte empirisch gesicherte Fakten. Auch wenn Faude einräumte „Sie sehen leider, die Weißen sind noch in der Minderzahl“2, beeindruckte der Vortrag sein Publikum. Innenminister Benda, der am Beginn der Sitzung noch starke Zweifel an der politischen Umsetzbarkeit solcher Reformvorschläge geäußert hatte, lobte jedenfalls die „höchst nützliche“ und „sorgfältige“ Arbeit seines Beamten3. 1 Bandabschrift der Sitzung des Reformkabinetts vom 25.5.1969, S. 56, Bundesarchiv Koblenz (BAK), B 106 (Bundesministerium des Innern)/49514; vgl. hierzu auch die Ausarbeitung Werner Krügers, Präsentation der Planungsmethoden und der Arbeit der Projektgruppe [1969], Archiv der Christlichen Demokratie (ACDP), I-564-016/2 (NL Krüger). 2 Bandabschrift der Sitzung des Reformkabinetts vom 25.5.1969, S. 61, BAK, B 106/49514.

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Diese kleine Szene aus dem Gruppenarbeitsraum des Bundesinnenministeriums führt zum Gegenstand meines Beitrags: der sozialwissenschaftlichen Politikberatung bei der Regierungs- und Verwaltungsreform in den Jahren der Großen Koalition und in den Anfangsjahren der Sozialliberalen Koalition. Sie enthält zugleich einige zentrale Aspekte des Themas: Ende der sechziger Jahre standen nicht nur die etablierten politischen Programme zur Debatte, sondern auch die Modi der politisch-administrativen Entscheidungsbildung. Dabei ging es um mehr als nur die Verbesserung ineffizienter Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Es ging um grundlegende Umgestaltungen, die die Voraussetzungen für einen neuen „aktiven“ Politikstil des expandierenden Sozial- und Interventionsstaates schaffen sollten. Bei ihren Reformversuchen setzte die Bundesregierung in hohem Maß auf wissenschaftlichen Rat von außen. Das war an sich nicht neu. 1969 konnte sie auf den Sachverstand von mehr als 1100 Wissenschaftlern in rund 220 Beiräten, Kommissionen und Ausschüssen bei verschiedenen Bundesorganen zugreifen4. Neu war allerdings, daß sie sich bei der Organisation ihrer eigenen Arbeit beraten ließ, einem Bereich also, der bisher als ureigenes Handlungsfeld der Ministerialbürokratie gegolten hatte5. Neu war auch, daß sich der wissenschaftliche Rat nicht auf ein einzelnes Politiksegment bezog, sondern Bundesregierung und Bundesverwaltung als Gesamtheit betraf. Daß der Rat ganz überwiegend von Sozialwissenschaftlern erteilt wurde, war ebenfalls neu. Zuvor hatten Angehörige dieser jungen Disziplin bei der Regierungsberatung nur vereinzelt mitgewirkt6. Wie sehr sich der politische Stellenwert sozialwissenschaftlicher Kenntnisse vergrößert hatte, zeigt ein erneuter Blick auf die Person unseres Referenten. Obwohl Faude innerhalb seines Hauses als Organisationsexperte galt, mußte er sich nach seiner Abordnung in die Projektgruppe innerhalb weniger Wochen in die für ihn neuen Materien der Demokratietheorie, Organisationssoziologie und sozialwissenschaftlichen Planungsforschung einarbeiten. Sein ge3 Bandabschrift der Sitzung des Reformkabinetts vom 25.5.1969, S. 25, BAK, B 106/49514. 4 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Holzmeister, Baier und Genossen, 14.7.1969, Bundestagsdrucksache V/4585. 5 Vgl. Werner Jann, Zur Entwicklung der öffentlichen Verwaltung, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, Opladen 1999, S. 520–543, 527 f. 6 Dem wissenschaftlichen Beraterstab des Bundeskanzlers gehörten u. a. die Politologen Hans Buchheim, Rudolf Wildenmann und Boris Meissner an. Sie berieten das Bundeskanzleramt auch in Fragen der Regierungs- und Verwaltungsreform. Zudem suchte Kiesinger in unregelmäßigen Abständen das Gespräch mit Mitgliedern eines interdisziplinär zusammengesetzten „Kaminkreises“, zu dem auch der Soziologe Ralf Dahrendorf eingeladen wurde; Planungsstab, Vorläufige Projektliste, Stand 3.1.1969, ACDP, I-564-013/1; Protokoll der Arbeitssitzung des Planungsstabs mit dem wissenschaftlichen Sachverständigengremium am 12./13. Juli 1968, BAK, B 136(Bundeskanzleramt)/14064; Aktenvermerk Krügers für Kiesinger, 8.6.1967, BAK, B 136/ 14058.

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lungener Auftritt vor dem Reformkabinett war nicht nur Ergebnis seines Arbeitsfleißes, sondern auch das Produkt fremder Hilfe. Alle Mitglieder der Projektgruppe hatten im Frühjahr 1969 mit Mitarbeitern des Quickborner Teams trainiert, einer hochbezahlten, auf Organisationsfragen und Gruppenkommunikation spezialisierten Beratungsfirma, die bislang vornehmlich für Wirtschaftsunternehmen gearbeitet hatte7. Die skeptische Eingangshaltung Bendas hat bereits anklingen lassen, daß die Nutzung sozialwissenschaftlichen Wissens bei der Regierungsreform durchaus umstritten war. In diesem Streit treten mit der Nutzung sozialwissenschaftlicher Politikberatung verbundene Erwartungen und Interessen deutlich hervor. Ihnen widmet sich der erste Teil meines Beitrags, der die Entstehungsgeschichte der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform zum Thema hat. Ein zweites Fragenbündel lenkt den Blick auf die Binnenperspektive der Regierungsreform, indem es ein Schlaglicht auf Berater und Beratene wirft und die Begegnung von Wissenschaft und Politik innerhalb der Projektgruppe skizziert. Drittens soll die Umsetzung einiger Reformempfehlungen der Projektgruppe überprüft werden, um so die Einflußchancen sozialwissenschaftlicher Politikberatung in den Reformjahren der Bundesrepublik zu bestimmen. I. Politik mit der Wissenschaft. Sozialwissenschaftliche Regierungsberatung in der Parteienkonkurrenz der Großen Koalition Mit der Einsetzung einer interministeriellen Projektgruppe reagierte das Kabinett Kiesinger/Brandt im Dezember 1968 auf Kritik an der Arbeitsfähigkeit von Bundesregierung und Bundesverwaltung, die seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre immer deutlicher artikuliert wurde. Verwaltungsexperten und Publizisten monierten Funktionsdefizite in Regierung und Verwaltung, deren Arbeitsweise zunehmend der muffige Geruch mangelnder Modernität anhaftete8. Politik und Administration nahmen diese Kritik in unterschiedlicher Weise auf. In der SPD wurden erste Überlegungen über die „Anwendung moderner Managementmethoden“9 in Bundesregierung und Bundesverwaltung bereits im Herbst 1966 angestellt. Allerdings kamen die Verfasser des Strategiepapiers zu dem 7 Hansjörg Mauch, Ministerialbeamte bei der Teamarbeit. Die Arbeitsweise der Projektgruppe zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung Februar bis August 1969. 1969, BAK, B 106/14062. 8 Z. B. Kanzleramt – Aus zweiter Hand, in: Der Spiegel, 6.6.1966, S. 32–40; Adolf Hüttl, Koordinierungsprobleme der Bundesregierung, in: Der Staat 6 (1967), S. 2–16; für die administrationsinterne Kritik vgl. die einflußreichen „Erwägungen zur Haushaltsführung und zur Organisation der Bundesregierung“ des Präsidenten des Bundesrechungshofs, 22.11.1966, ACDP, I-564-007/1. Dort wurde u. a. eine Verringerung der Bundesressorts, die Entlastung der Bundesminister durch parlamentarische Staatssekretäre und der Aufbau eines Planungsstabes im Bundeskanzleramt empfohlen.

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Schluß, daß es sich dabei gegenwärtig kaum um mehr als ein „Schlagwort“ handeln könne, denn wissenschaftliche Untersuchungen zu diesen Themen stünden weitgehend aus. Solche Überlegungen waren zudem eng mit pragmatischen Fragen der Regierungsbeteiligung verbunden, etwa dem Umgang mit den mehrheitlich unionsnahen Spitzenbeamten der Bonner Ministerien. Die Mehrheit der Bonner Ministerialbeamten hielt eine umfassende Regierungs- und Verwaltungsreform nicht für dringlich10. Auch die Union maß dieser Frage keine hohe Bedeutung zu. Bundeskanzler Kiesinger griff sie zwar am Anfang seiner Regierungszeit auf und fügte dem Kanzleramt einen Planungsstab hinzu11, doch war sein schwindendes Interesse an der Regierungsreform nach der Überwindung der Wirtschaftskrise von 1966/67 offenkundig12. Vor der nächsten Bundestagswahl, so der Kanzler, benötige er keine spektakulären Erfolge mehr. Fragen der Verfassungs- und Regierungsreform seien dem Wähler nur schwer vermittelbar und daher nicht eilig13. Daß das Thema im Spätsommer 1967 dennoch auf die politische Tagesordnung gelangte, verdankte es dem sogenannten „Reorganisationsausschuß“, einer Gruppe um Horst Ehmke, dem jungen Staatssekretär im Justizministerium und innenpolitischen Berater Willy Brandts, der an Verwaltungsfragen interessierte SPD-Politiker und der Partei nahestehende Ministerialbeamte angehörten14. Die Arbeitsgruppe war auf Anregung Ehmkes eingerichtet worden. Er hatte Brandt 9 Vorläufiges Arbeitspapier betr. „Organisatorische Fragen der Bundesverwaltung“, Oktober 1966, Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Depositum Horst Ehmke, 1/HEAA00277. 10 Heribert Schatz, Funktionsbedingungen und Konfliktsituationen verwaltungswissenschaftlicher Forschung und Beratung, dargestellt am Beispiel der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform, in: Wissenschaftszentrum Berlin (Hg.), Interaktion von Wissenschaft und Politik. Theoretische und praktische Probleme der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 1977, S. 89–226, 200 f. 11 Zur Geschichte des Planungsstabs vgl. Winfried Süß, „Wer aber denkt für das Ganze?“ Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die Sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2003, S. 349–377. 12 Lutz Krusche, Kiesinger zeigt kein Interesse, in: Frankfurter Rundschau, 23.3. 1967. 13 Heribert Schatz, Auf der Suche nach neuen Problemlösungsstrategien: Die Entwicklung der politischen Planung auf Bundesebene, in: Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf (Hg.), Planungsorganisation. Die Diskussion um die Reform von Regierung und Verwaltung des Bundes, München 1973, S. 9–67, 29 f. 14 Dem sogenannten „Reorganisationsausschuß“, der im Januar 1967 im Hinblick auf die Bundestagswahlen 1969 gebildet wurde, gehörten die Bundesminister Lauritzen und Jahn, die Bundestagsabgeordneten Hirsch und Schmitt-Vockenhausen sowie der Wiedergutmachungsexperte des Bundesfinanzministeriums, Ministerialdirektor Féaux de la Croix, an; Aufzeichnung Ehmkes, betr. Reorganisation der Bundesregierung, 1.8.1967, AdsD, Depositum Horst Ehmke, 1/HEAA00272.

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vorgeschlagen, einen politischen Beratungsstab beim Parteivorstand zu installieren, um dessen Diskussion über komplexe Sachgebiete wie die Reform des Grundgesetzes, den föderativen Aufbau der Bundesrepublik und der Regierungs- und Verwaltungsorganisation vorzubereiten15. Der eigentliche Kopf dieser Arbeitsgruppe war ein an Fragen der Regierungs- und Verwaltungsreform interessierter Schüler des vormaligen Freiburger Staatsrechtslehrers Ehmke: Fritz Scharpf, der mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten unterrichtet hatte und nach seiner Rückkehr eine Habilitationsschrift über Fragen der Verwaltungskontrolle vorbereitete16. Innerhalb des Reorganisationsausschusses fiel im Herbst 1967 die Entscheidung, es nicht, wie ursprünglich geplant, bei einigen pragmatischen Reformschritten wie dem Neuzuschnitt von Ministerien zu belassen, sondern eine umfassende „wissenschaftliche Lösung“ des Problems im Rahmen der Großen Koalition zu versuchen17. Hierzu hatte die „sehr pointierte“18 Kritik Scharpfs an pragmatisch orientierten Entwürfen von Ehmke und Féaux de la Croix entscheidend beigetragen, an denen er vor allem die fehlende Rezeption der verwaltungswissenschaftlichen Fachdiskussion in den Vereinigten Staaten bemängelt hatte. Ohne Kenntnis „moderner Planungs- und Führungstechniken (program budgeting, cost-utility accounting, systems analysis)“, so Fritz Scharpf, sei „eine Diskussion organisatorischer Reformen heute nicht mehr sinnvoll.“19 Damit war auch die Entscheidung verbunden, die Sache nicht mehr nur innerhalb der SPD zu diskutieren, sondern sie zu einer Angelegenheit der gesamten Bundesregierung zu machen. Zwar wurde so aus dem sozialdemokratischen Reformvorhaben ein Projekt der gesamten Regierung, das der Sozialdemokratie vom Wähler nicht mehr allein zugerechnet würde. Die SPD, so erwartete Ehmke, könne sich damit dennoch als „Schrittmacher einer . . . wissenschaftlichen Vorbereitung einer Modernisierung des Bonner Regierungsapparats“20 profilieren.

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Ehmke an Brandt, 6.11.1966, AdsD, Dep. Ehmke, 1/HEAA000214. Zu Ehmkes Anteil an der Konstanzer Berufung Scharpfs vgl. dessen Schreiben an Besson, 12.7.1967, AdsD, Dep. Ehmke 1/HEAA000218, in dem er den noch nicht habilitierten, indes „glänzenden“ jungen Wissenschaftler auch wegen seines Interesses an Fragen der Verwaltungsreform als „Ideallösung“ für den Konstanzer Lehrstuhl empfahl. 17 Vermerk Ehmkes, 5.10.1967, AdsD, Depositum Horst Ehmke, 1/HEAA00277. 18 Vermerk Ehmkes, betr. Reorganisation der Bundesregierung, 1.8.1967, AdsD, Depositum Horst Ehmke, 1/HEAA00277; vgl. auch Ehmke an Jahn, 13.8.1968, AdsD, Depositum Horst Ehmke, 1/HEAA00273. 19 Ausarbeitung Scharpfs, 23.3.1967, AdsD, Depositum Horst Ehmke, 1/HEAA 00277. 20 Vermerk Ehmkes, betr. Reorganisation der Bundesregierung, 1.8.1967, AdsD, Depositum Horst Ehmke, 1/HEAA00277. Der daran anknüpfende Beitrag des SPD-Pressedienstes hob hervor, daß aufgrund der steigenden Umweltkomplexität „Wege gefunden werden müssen, wissenschaftliche Erkenntnisse in geregelter Weise den politischen Entscheidungen nutzbar zu machen.“ Eine rein pragmatische Herangehensweise 16

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Als nach der für die SPD ernüchternden Landtagswahl in Baden-Württemberg im April 1968 durchgeführte Umfragen ergaben, daß die Sozialdemokratie bei ihren Wählern gegenüber der Union als zu wenig profiliert galt, drängte die SPD in Koalitionsgesprächen auf eine Intensivierung der innenpolitischen Reformtätigkeit21. In diesem Zusammenhang wurde auch über die Regierungsund Verwaltungsreform gesprochen. Wohl mit der Absicht, die reformfreundliche Grundstimmung der Öffentlichkeit zu nutzten und dieses Reformthema bei den nächsten Wahlen für die SPD zu besetzen, bewegte Ehmke Willy Brandt, das Thema im Kabinett zu lancieren. Der Bundeskanzler verhielt sich anfangs zurückhaltend. Erst als seine Berater Kiesinger auf die potentielle Wahlkampfbedeutung des Themas hinwiesen und die in Kreßbronn tagende Koalitionsrunde sich im Juli 1968 mit der Frage befaßt hatte, erging ein Auftrag an die Bundesminister des Innern und der Justiz, ein Reformkonzept auszuarbeiten, das schließlich in die Gründung der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform mündete22. Ähnlich wie schon bei den Beratungen in der SPD-Arbeitsgruppe standen erneut zwei Organisationsmodelle zur Wahl: Das Innenministerium versuchte, die Regierungsreform unter Berufung auf seine Zuständigkeit für ressortübergreifende Organisationsfragen der Bundesregierung an sich zu ziehen und vertrat ein Konzept begrenzter, effizienzorientierter Einzelmaßnahmen, die durch eine Gruppe von Beamten ausgearbeitet werden sollten. „Es geht darum“, so Benda, „Regierung und Verwaltung strukturell, arbeitsorganisatorisch und technisch den modernen Bedürfnissen anzupassen und eine optimale Funktionsfähigkeit zu erreichen.“ Hierzu sei ein „Katalog praxisorientierter Einzelfragen“ zu erarbeiten, um die Arbeitsabläufe von Ministerialverwaltung und Regierung in ihrer Effizienz zu steigern. Dabei sei „mit zunächst begrenzten Zielsetzungen zu beginnen und auf diesem Wege in möglichst überschaubarer Zeit zu greifbaren Ergebnissen zu gelangen.“23 Der Bundesinnenminister sprach sich dezidiert gegen die Beteiligung von Wissenschaftlern aus, denn dies, so Benda, „verzögere allen Erfahrungen nach die Arbeiten“24. Ehmke, der daran interessiert war, das Thema der Zuständigkeit des Innenministeriums zu entwinden, stellte dieser bean die Reform werde dem Problem nicht gerecht; SPD-Pressedienst P/XXII/205, 25.10.1967, ACDP, I-564-007/1. 21 Andrea H. Schneider, Die Kunst des Kompromisses. Helmut Schmidt und die Große Koalition 1966–1969, Paderborn 1999, S. 233 f. 22 Schatz, Funktionsbedingungen, S. 202. 23 Benda an Carstens, 30.8.1968, betr. Modernisierung von Bundesregierung und Bundesverwaltung (Kabinettsvorlage), BAK, B 106/49514; zum Führungsanspruch des Bundesinnenministeriums vgl. Hölder, Vorlage für die Kabinettssitzung am 25.9.1968, betr. Modernisierung von Bundesregierung und Bundesverwaltung, 23.9.1968, BAK, B 106/33467; Peter Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien, Probleme und Perspektiven im Kooperationsfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Münster 1993, S. 173.

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grenzten Konzeption einen umfassenden Reformansatz gegenüber, den er wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung nur in der Verantwortung des Bundeskanzlers oder eines Kabinettsausschusses durchgeführt wissen wollte. Seine Reformkonzeption basierte im Unterschied zu der des Innenministeriums wesentlich auf der Nutzung wissenschaftlichen Sachverstands. Extern vergebene Forschungsaufträge sollten durch einen Lenkungsausschuß auf Beamtenebene koordiniert werden. Die Notwendigkeit intensiver wissenschaftlicher Beratung diente hier als Argument, um traditionelle Ressortzuständigkeiten zu unterlaufen25. Am Ende stand, wie meistens in Koalitionen, ein Kompromiß. Er enthielt allerdings weit mehr von Ehmkes Vorstellungen als von denen des Bundesinnenministers. Nach einer kontroversen Sitzung nahm das Bundeskabinett im September 1968 die Vorlage Bendas lediglich zur Kenntnis und beschloß, der Anregung Ehmkes folgend, einen Kabinettsausschuß für die Reform von Bundesregierung und Bundesverwaltung zu bilden, der die Arbeit einer aus Ministerialbeamten bestehenden Projektgruppe zur Regierungs- und Verwaltungsreform steuern sollte26. Den Vorsitz im Reformkabinett führte der Bundeskanzler, weiterhin gehörten ihm die Bundesminister des Innern, für Wirtschaft, Finanzen, Justiz, Bundesratsangelegenheiten und Forschung an27. Die Mitgliederzahl der Projektgruppe wurde bewußt klein gehalten. Justiz-, Wirtschafts-, und Finanzministerium entsandten je einen, Innenministerium und Bundeskanzleramt je zwei Vertreter in das Gremium28. Zum Vorsitzenden wurde der Leiter des Planungsstabs im Bundeskanzleramt, Ministerialdirektor Werner Krüger, bestimmt, zu dessen Stellvertreter Alfred Faude, der Vertreter des Bundesinnenministeriums29. Daß die Rolle der Wissenschaft innerhalb der Projektgruppe stark ak24 Schatz, Kurzprotokoll über die konstituierende Sitzung des Kabinettsausschusses für die Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung am 3.12.1968, 10.12.1968, BAK, B 106/56429, S. 5. 25 Mitteilung aus dem Kabinettsprotokoll, Sitzung am 25.9.1968, BAK, B 106/ 4958; Ehmke an Carstens, 22.10.1968, ACDP, I-564-011/2; Schatz, Kurzprotokoll über die konstituierende Sitzung des Kabinettsausschusses für die Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung am 3.12.1968, 10.12.1968, BAK, B 106/ 56429, S. 3. 26 Für einen Überblick zur Geschichte der Projektgruppe vgl. z. B. Hartmut Bebermeyer, Regieren ohne Management – Planung als Führungsinstrument moderner Regierungsarbeit, Bonn 1972, S. 36–39; Hans Hegelau, Die Arbeit der Projektgruppe „Regierungs- und Verwaltungsreform als Beispiel einer Kooperation zwischen Verwaltung und Verwaltungswissenschaft, in: Wissenschaftszentrum Berlin (Hg.), Interaktion von Wissenschaft und Politik. Theoretische und praktische Probleme der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 1977, S. 166–188, 167, sowie Manfred Lepper, Das Ende eines Experiments. Zur Auflösung der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform, in: Die Verwaltung 9 (1976), S. 478–499, 479. 27 Auszug aus dem Kabinettsprotokoll, Sitzung am 25.9.1968, ACDP, I-564-011/2. 28 Lepper, Ende, S. 486; Krüger, Ergebnisprotokoll über die konstituierende Sitzung des Kabinettsausschusses für die Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung am 3.12.1968, 5.12.1968, BAK, B 106/56429.

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zentuiert wurde, war nicht zuletzt dem Votum des Bundeskanzlers zu verdanken, der seinen Beamten den Entwurf eines solchen Reformwerkes nicht zutraute. Auf der konstituierenden Sitzung des Reformkabinetts befürwortete Kiesinger ein starkes Gewicht der Wissenschaftler in der Projektgruppe, ansonsten „bestehe die große Gefahr der Betriebsblindheit und des Ressortegoismus“30. Beamte allein könnten das Reformwerk jedenfalls nicht bewerkstelligen. Auch der Zuschnitt der Projektgruppe folgte einem Koalitionskompromiß. Nach langwierigen Auseinandersetzungen, deren Ende das zähe Festhalten des Bundesinnenministeriums an seiner Zuständigkeit für ressortübergreifende Organisationsangelegenheiten immer wieder hinausgezögert hatte, wurde die Gruppe diesem Ressort zwar organisatorisch zugeordnet, Benda mußte aber die Steuerung durch das Reformkabinett akzeptieren, ebenso die Mitwirkung von Wissenschaftlern an der Regierungsreform. Im Gegenzug konnte er durchsetzen, daß Ministerialbeamte die Kommissionsberichte verfassen sollten und damit eine weitaus stärkere Stellung in dem Reformvorhaben erhielten als Ehmke dies wünschte, der der Projektgruppe lediglich die Koordination der Forschungsaufträge überlassen wollte. II. Zur Begegnung von Wissenschaft und Politik in der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform Die Zusammensetzung der Projektgruppe, die am 13. Januar 1969 ihre Arbeit aufnahm, verdeutlicht das Ende der sechziger Jahre noch nahezu ungebrochene Juristenmonopol in der höheren Bundesverwaltung. Da die meisten Ressorts ihre Organisationsreferenten delegiert hatten, waren fast alle Mitglieder der Projektgruppe erfahrene Verwaltungsjuristen, von denen allerdings etwa die Hälfte wirtschafts- oder politikwissenschaftliche Zusatzqualifikationen besaß31. Außer den beiden jüngsten Mitgliedern, dem vom Bundesforschungsministerium abgeordneten Adolf Theis und dem vom Kanzleramt abgestellten Heribert Schatz, verfügte keiner über aktuelle Kontakte zu einschlägigen Wissenschaftsbereichen und nur Schatz, ein Schüler des Mannheimer Politologen Rudolf Wildenmann, hatte eine grundständige sozialwissenschaftliche Ausbildung absolviert32. 29 Als Krüger nach dem Regierungswechsel in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde, übernahm Faude das Amt des Vorsitzenden der Projektgruppe. 30 Schatz, Kurzprotokoll über die konstituierende Sitzung des Kabinettsausschusses für die Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung am 3.12. 1968, 10.12.1968, BAK, B 106/56429, S. 4. 31 Hansjörg Mauch, Ministerialbeamte bei der Teamarbeit. Die Arbeitsweise der Projektgruppe zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung Februar bis August 1969. 1969, S. 7, Abb. 4, BAK, B 106/14062. 32 Vgl. Personelle Zusammensetzung der Projektgruppe (1969), BAK, B 106/ 49514; Personelle Zusammensetzung der Projektgruppe (1970), BAK, B 106/33467. Der an der Mannheimer Wirtschaftshochschule lehrende Wildenmann galt zusammen

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Auf Anregung Ehmkes sollte die Projektgruppe – gleichsam als Testfeld der Reformen – im eigenen Kreis „moderne“ Methoden der Arbeitsorganisation erproben, um „der Wissenschaft, der Praxis und uns selbst gegenüber zu beweisen, ob die so viel angepriesenen Managementmethoden, die Vereinfachung der Entscheidung, die in der Wirtschaft praktiziert wird, tatsächlich . . . auch im politischen Bereich anwendbar sei[en]“33. Für die Arbeit innerhalb der Gruppe erhoffte man sich besonders von der durch das Quickborner Team propagierten Methode der „Entscheidungsfindung im Management“, die organisationssoziologische und kybernetische Ansätze kombinierte und besonders auf die Visualisierung von Entscheidungsprozessen setzte, neue Impulse. Hierdurch, so die Erwartung, könne die herkömmliche intuitive und improvisierte Art der Entscheidungsfindung durch ein „schrittweises, sorgfältig geprüftes, logisch und zeitlich aufeinander abgestimmtes und sich stufenweise aufbauendes Vorgehen abgelöst“34 werden. Neue, weniger hierarchisch organisierte Formen der Information und Kommunikation hatten einen herausgehobenen Stellenwert in der Reformstrategie der Projektgruppe. Daher wurde sie nicht in herkömmlicher Weise als Beamtenausschuß konstruiert, der aus weisungsgebundenen Ressortvertretern mit Spezialkompetenz für Einzelfragen bestand und auf einen Vorsitzenden ausgerichtet war, sondern als Team gleichberechtigter Projektmitarbeiter, die Teilprobleme in Kleingruppen bearbeiten und Grundsatzfragen durch Mehrheitsbeschluß entscheiden sollten35. Für längere Arbeitsphasen versammelten sich die Mitarbeiter der Projektgruppe im ersten Großraumbüro der Bonner Ministerialverwaltung – für Beamte, die an nach Dienstrang abgestufte Einzelbüros gewöhnt waren, eine neue Erfahrung, die jedoch im Zeichen allgemeiner Reformbereitschaft positiv bewertet wurde36. Der Gruppenarbeitsraum, so Faude in einer Zwischenbilanz, habe die Zusammenarbeit unter den Angehörigen der Projektgruppe gestärkt, den Informationsfluß untereinander verbessert und einen raschen Wechsel zwimit Ferdinand A. Hermes (Köln) in den sechziger Jahren als wichtigster Vertreter einer empirisch-analytischen Politikwissenschaft in Deutschland; Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 380–382. 33 Bandabschrift der Sitzung des Reformkabinetts vom 25.5.1969, S. 7, BAK, B 106/49514. Zum Beispielcharakter der Projektgruppe für die Reform der Bundesverwaltung vgl. [Faude], Entwurf einer Kabinettsvorlage betr. Arbeits- und Zeitplan der Projektgruppe, Vorschläge für das Verfahren, 14.2.1969, B 106/49514. 34 Bandabschrift der Sitzung des Reformkabinetts vom 25.5.1969, S. 4, BAK B 106/49514. 35 [Faude], Entwurf einer Kabinettsvorlage betr. Arbeits- und Zeitplan der Projektgruppe, Vorschläge für das Verfahren, 14.2.1969, BAK, B 106/49514. 36 In den Monaten Febuar/März und Juli verbrachten die Mitarbeiter der Projektgruppe die Hälfte ihrer Arbeitszeit in der Großgruppe; Hansjörg Mauch, Ministerialbeamte bei der Teamarbeit. Die Arbeitsweise der Projektgruppe zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung Februar bis August 1969. 1969, S. 5, BAK, B 106/14062.

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schen Kleingruppen und Großgruppe ermöglicht. Auch die Wirkung der aus der Wirtschaft entlehnten Techniken visuell unterstützter Entscheidungsfindung, die die Projektgruppe in den Seminaren des Quickborner Teams kennengelernt hatte, schätzte Faude sehr positiv ein. Sie ermöglichten es, „Vorgänge für die ganze Gruppe sichtbar und nachvollziehbar zu machen, die sich ansonsten im individuellen Denkprozeß abspielen“. Zudem trage der Einsatz von Schemata, Rastern, Organigrammen zur Komplexitätsreduktion gegenüber der bisher in der Verwaltung vorherrschenden Verbalisierung von Problemen bei, da er „den Kern der Information ohne Weitschweifigkeit vermittelt, Vergleich und Bewertung von Alternativen erleichtert und damit den Zeitbedarf für Prüfung und Urteil herabsetzt“37. In dieser Arbeitsweise bildeten sich symbolhaft verdichtet Transparenz und Demokratisierung als Leitvokabeln sozialliberaler Reformpolitik ab38. Vor allem in der Startphase prägte die geringe analytische Vorstrukturierung des Reformfeldes die Arbeit der Projektgruppe39. Erheblichen Reformerwartungen von Regierung und Öffentlichkeit standen nur wenig konkretisierbare Vorstellungen über Zielrichtung und potentielle Instrumente der Reformpolitik gegenüber. Zwar hatte in der ersten Projektphase, von Anfang 1969 bis zur Vorlage des ersten Berichts im August 1969, die politisch motivierte Vorgabe, bis zu den Neuwahlen konkrete Vorschläge für eine „begrenzte Kabinettsreform“40 vorzulegen, die Arbeit der Projektgruppe bestimmt. Dies waren vor allem solche Vorhaben, die bereits nach der Regierungsneubildung realisierbar sein sollten, also weder komplexe Zustandsanalysen noch aufwendige politische Konsensbildungen, etwa Grundgesetzänderungen, notwendig machten: Bereinigungen im Zuschnitt der Bundesressorts, die Entlastung der Bundesminister durch parlamentarische Staatssekretäre und Maßnahmen zur besseren Koordination der Bundesministerien. Nach dem Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition wurde diese kurzfristige Zielvorgabe indes nicht in einen langfristigen spezifizierten Reformauftrag überführt, sondern im Gegenteil deutlich aufgeweicht und ausgeweitet. Das im November 1969 neu zusammengetretene Reformkabinett erwartete von der Projektgruppe, „umgehend die erforderlichen Untersuchungen und die Vorbereitungen für umfassende Reformvorschläge mit dem Ziel zu veranlassen, bessere personelle und organisatorische Voraussetzungen 37 [Faude], Entwurf einer Kabinettsvorlage betr. Arbeits- und Zeitplan der Projektgruppe, Vorschläge für das Verfahren, 14.2.1969, BAK, B 106/49514. 38 Der Versuch, eine ähnliche Büroorganisation beim Neubau des Kanzleramts einzuführen, scheiterte indes am Widerstand der Beamten. Auch die Projektgruppe kehrte nach einem Umzug, der das Großraumbüro von den übrigen Arbeitsplätzen der Gruppe trennte, zur herkömmlichen Form der Einzelbüros zurück; Lepper, Ende, S. 492. 39 Schatz, Funktionsbedingungen, S. 204. 40 [Faude], Entwurf einer Kabinettsvorlage betr. Arbeits- und Zeitplan der Projektgruppe, Vorschläge für das Verfahren, 14.2.1969, B 106/49514.

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für die Ausarbeitung und erfolgreiche Durchführung einer politischen Gesamtkonzeption zu schaffen.“41 Daneben bestand in den Ressorts zumindest implizit die Vorstellung, daß die Projektgruppe möglichst bald konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Behördenorganisation machen würde42. Ende der sechziger Jahre stellte bei der Regierungsreform verwertbare Beratungskompetenz ein außerordentlich knappes Gut dar. Der schnell wachsenden Nachfrage von Politik und Administration stand zunächst kein entsprechendes Angebot der überwiegend normativ-dogmatisch geprägten deutschen Verwaltungswissenschaft gegenüber. Als das Bundeskanzleramt ein halbes Jahr nach der Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition eine Zwischenbilanz der ersten Reformschritte zog, zählte es die Regierungs- und Verwaltungsreform zu den Projekten, deren Realisierung in dieser Legislaturperiode fraglich schien, denn das „Potential an kreativen Kräften in Staat und Gesellschaft, die in der Lage wären, konstruktive Reformvorstellungen zu entwickeln“43, wurde als „außerordentlich begrenzt“ eingeschätzt, bestenfalls „reiche [es] für einen Teil der Reformvorhaben.“ Hinzu kam, daß die Beamten des Bundeskanzleramtes und der Projektgruppe nur über geringe Kenntnisse der Wissenschaftslandschaft verfügten, während umgekehrt bei den infrage kommenden Wissenschaftlern der Informationsstand über die gegenwärtige Situation von Regierung und Verwaltung nicht sehr hoch entwickelt schien44. In der Anfangsphase der Projektgruppe bestimmten daher Zufälle und informelle Kontakte die Beraterauswahl – aus der Sicht der Beratenen nicht immer mit dem gewünschten Ergebnis. In diesem Sinne beklagte sich der erste Vorsitzende der Projektgruppe, man habe während der Explorationsphase zahlreiche in- und ausländische Wissenschaftler sowie Organisationsfachleute aus der Wirtschaft gefragt, „ob Sie in der Lage wären, uns eine Methode anzubieten, deren wir uns bedienen könnten. Bei dieser Suche haben wir . . . nirgendwo etwas [gefunden], das für die Lösung komplexer Aufgaben im Bereich von Regierung und Verwaltung, d.h. also im großen gesehen, im politischen Bereich bisher ausprobiert oder angewandt worden wäre45. Für die Regierungsreform verwertbares Expertenwissen sei, so ein ein41 Lepper, Ende, S. 481. Noch im Sommer 1970 hielt Ehmke „eine Diskussion der Hauptreformziele z. Z. im Kabinettsausschuß nicht für angebracht“; Wedler, Aktenvermerk für Genscher, 7.9.1970, betr. Arbeits- und Zeitplan der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform beim BMI, BAK, B 106/33467. 42 Diese Forderung wurde auch in der folgenden Zeit immer wieder an die Projektgruppe herangetragen, vgl. Langer, Aktenvermerk, betr. Informationsbesprechung mit den Organisationsreferenten der Ressorts am 12. und 13.1.1971, AdsD, NL Jochimsen/ 39. 43 Unterabteilungsleiter VI, Aktenvermerk für Ehmke, 28.5.1970, betr. Koordinierung der Reformvorhaben der Bundesregierung für die laufende Legislaturperiode, BAK, B 106/33467. 44 Dieses Urteil bei Hegelau, Arbeit, S. 178. 45 Bandabschrift der Sitzung des Reformkabinetts vom 25.5.1969, S. 3, BAK B 106/49514.

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flußreicher Beamter, oftmals „stark fragmentiert und . . . nicht von einem konsistenten Forschungskonzept getragen“ gewesen, so daß der Eindruck entstand, daß in der Wissenschaft aktuelle Kenntnisse über die Situation in Regierung und Verwaltung fehlten und diese „nicht auf . . . ausgereifte Vorarbeiten zurückgreifen konnte“46. Zudem seien viele Vorschläge zu abstrakt für die politische Operationalisierung gewesen47. Bei der Beratung der Projektgruppe kamen schließlich drei Gruppen von Experten zum Zuge: erstens auf Organisationsfragen spezialisierte Beratungsinstitute wie das Quickborner Team, Kienbaum Consultants und McKinsey & Co.; zweitens rund 20 Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, z. B. Roman Herzog und Dieter Oberndörfer, die Gutachten zu Einzelaspekten vorlegten, wobei der Großteil sich auf Fragen der politischen Planung bezog und eher problemsondierenden als problemlösenden Charakter hatte48; drittens Sozialwissenschaftler, die insgesamt eine größere Wirkung entfalten konnten, da sie nicht nur in einzelnen Sachfragen gutachteten, sondern durch Gespräche und die Teilnahme an den Sitzungen der Projektgruppe Einfluß auf deren Problemanalyse, Zieldefinition und die Auswahl von Handlungsmitteln ausübten. Anfangs waren dies vor allem an der Universität Köln ausgebildete Sozialwissenschaftler um Heiner Flohr, die auch das Kanzleramt bei der Entwicklung eines Planungssystems berieten49. Ende 1969 ging die Federführung an eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern über, die bei Studienaufenthalten in den Vereinigten Staaten organisationssoziologische Kenntnisse erworben hatten: Renate Mayntz (FU Berlin), Fritz Scharpf und Frieder Naschold (beide Konstanz) bildeten eine Art informellen Beirat, der die Projektgruppe bei der Gutachterauswahl und der Erstellung von Grundsatzpapieren beriet50. Beide Forschergruppen waren im Schnitt etwa 10 Jahre jünger als die Beamten der Projektgruppe. 46

Hegelau, Arbeit, S. 178 f. Zu diesem Befund kommt der erste Bericht zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung, Bonn 1969, S. 4. 48 13 Gutachten betrafen verschiedene Aspekte politischer Planung, 11 Gutachten bezogen sich auf die Regierungsorganisation, acht auf Fragen der Ministerialorganisation, 16 Gutachten (ca. 50%) hatten problemerschließenden Charakter; Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Gerster, Walz, Vogel und Genossen, 4.12.1974, Bundestagsdrucksache VII/2887, Anlage 6, S. 78 f. 49 Dem Kölner Arbeitskreis für Wissenschaftliche Beratung der Politik, aus dem später das Institut für politische Entscheidungsplanung (IPEP) hervorging, gehörten neben Heiner Flohr (*1933) Gerhard Wittkämper (*1933) und Klaus Lompe (*1937) an; zur strukturierenden Wirkung des Arbeitskreises auf die Diskussion in der Frühphase der Projektgruppe vgl. z. B. die Ausarbeitung des Kölner Arbeitskreises betr. „Neues Kabinettsmodell“, 4.1.1969, ACDP, I-564-011/2. 50 Vgl. das Protokoll der 1. Sitzung der interdisziplinären Arbeitsgruppe der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform, 23.12.1969, BAK, B 106/49606. 47

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III. „. . . nur vorschlagen, was der Apparat verkraften kann“51. Zur Wirkungsgeschichte sozialwissenschaftlicher Politikberatung in den sechziger und frühen siebziger Jahren Den Experteneinfluß sozialwissenschaftlicher Beratung in einer Zeit zu bestimmen, die sowohl durch die rasante Verwissenschaftlichung der politischen Entscheidungsstrukturen als auch durch eine umfassende Soziologisierung der öffentlichen Debatten geprägt war, ist methodisch schwierig52. Man müßte dazu im konkreten Fall zunächst die Effekte der über die Projektgruppe in das politische Entscheidungssystem diffundierten wissenschaftlichen Erkenntnisse von der Selbstaufklärung der politischen Entscheidungszentren durch „sozialwissenschaftliche Brückenköpfe“53 in den Parlamenten, Kabinetten und den neu entstehenden Planungsabteilungen der Ministerien isolieren können, für die Personen wie der SPD-Bildungsexperte Ulrich Lohmar, der Planungschef des Bundesarbeitsministeriums, Reinhart Bartholomäi, der Infrastrukturexperte und Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt Reimut Jochimsen und der Kanzleramtschef Horst Ehmke stehen. In der Praxis läßt sich dies kaum durchführen. Im konkreten Fall müßte man zweitens differenzieren zwischen Vorschlägen, die von externen Beratern über die Projektgruppe in den politischen Entscheidungsprozeß eingespeist wurden und Wissenstransfers, die über andere Stellen in Politik und Verwaltung vermittelt wurden. Mindestens zwei weitere Transferströme lassen sich hier unterscheiden: Vor allem in der Frühphase der Projektgruppe arbeiteten Wissenschaftler parallel für verschiedene mit Fragen der Regierungs- und Verwaltungsreform befaßte Stellen. Zudem verfügten einige der beratenden Wissenschaftler über die Möglichkeit, ihre Vorschläge an bestehenden Instanzenzügen vorbei direkt in die Spitzenebene des politischen Systems einzuspeisen. Für Kiesinger hatte Ralf Dahrendorf eine wichtige Ratgeberfunktion in Fragen der Regierungs- und Verwaltungsreform und Ehmke beriet sich in diesen Fragen sehr häufig mit Fritz Scharpf, der neben seiner Gutachtertätigkeit für die Projektgruppe auch Evaluierungen der Projektgruppenarbeit für das Kanzleramt vornahm54. Selbst dort, wo sich Wirkungen sozialwissenschaftlicher Politikberatung auf die Regierungs- und Verwaltungsre51

Quickborn-Pinnwand-Zettel, 6.3.1970, BAK, B 106/49521. Diese Verwissenschaftlichung zeigte sich im Aufbau von In-House-Beratungskapazitäten in den Bundes- und Landesregierungen, dem Boom ressortbezogener Forschungseinrichtungen, für die beispielhaft das 1967 gegründete Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung steht, sowie dem sprunghaften Anstieg des den Parlamenten zur Verfügung stehenden Sachverstands. Im Übergang von der V. zur VI. Legislaturperiode erhöhte sich die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten von 18 auf 142 und die der Fraktionsassistenten von 53 auf 93; Krevert, Funktionswandel, S. 128. 53 Klaus Lompe, Wissenschaft und politische Steuerung, in: Ders./Hans Heinrich Raß/Dieter Rehfeld (Hg.), Enquête-Kommissionen und Royal Commissions, Göttingen 1981, S. 9–70, 40. 52

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form nachweisen lassen, ist eine empirisch fundierte Zurechnung zu einzelnen Beratungskanälen nur schwer möglich. Um die Frage nach den Effekten sozialwissenschaftlicher Beratung im konkreten Fall dennoch wenigstens näherungsweise zu beantworten, ist es hilfreich, drei Einflußebenen zu unterscheiden: Erstens die Bedeutung sachverständigen Ratschlags innerhalb der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform; zweitens dessen Wirkung außerhalb der Projektgruppe, wobei insbesondere auf die politische Umsetzung ihrer Reformvorschläge zu achten ist; drittens sind, da Beratung ein reflexiver Prozeß ist, auch die Rückwirkungen der Beratungstätigkeit auf die Experten in den Blick zu nehmen. Innerhalb der Projektgruppe war der Experteneinfluß beträchtlich55. Hierzu hat die geringe analytische Vorstrukturierung des Reformfeldes beigetragen, aber auch, daß die Mehrheit der Beamten – zumindest in den Anfangsmonaten der Projektgruppe – erstaunlich offen für neue Wissensformen war und sich bereitwillig auf sozialwissenschaftliche Problemfassungen und Fachterminologien einließ56. Zahlreiche Vorschläge aus der Hand der Berater flossen – oft nach kontroverser Diskussion57 – in die Reformempfehlungen der Projektgruppe ein – bis hin zu einer systemtheoretisch inspirierten Kabinettsvorlage, die von Ehmke wegen ihres abstrakten Reformansatzes wütend zurückgereicht wurde, da sie „anstelle eines konkreten Arbeits- und Zeitplanes . . . nur philosophische Ausführungen enthalte“58. Dieses Beispiel verweist bereits auf die Grenzen der Expertenmacht. Viele ihrer Reformvorschläge, wie der in den USA bereits implementierte Programmhaushalt, basierten auf der Adaption andernorts bereits 54 Vgl. z. B. Scharpfs Ausarbeitung für den Leiter der Planungsabteilung, Prof. Jochimsen, betr. Kabinett-Ausschußvorlage der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform, 1.7.1970, AdsD, NL Jochimsen/39; Ehmke, Vermerk für W.[illy] B.[randt], betr. Godesberger Konferenz 13.–15.11.1967, AdsD, Dep. Ehmke 1/HEAA 000215. 55 Etwas relativiert wird dieser Befund allerdings durch die Tatsache, daß in der 1. Projektphase rund 70% der Informationsgespräche mit Vertretern von Politik und Administration und nur ca. 26% (32 Gespräche) mit Wissenschaftlern geführt wurden. Vermutlich war diese Verteilung auch durch den politisch sensiblen Teilauftrag des Neuzuschnitts der Bundesministerien bedingt; Hansjörg Mauch, Ministerialbeamte bei der Teamarbeit. Die Arbeitsweise der Projektgruppe zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung Februar bis August 1969. 1969, S. 15; BAK, B 106/14062. 56 Schatz, Funktionsbedingungen, S. 216. 57 Hegelau, Arbeit, S. 169. 58 Hegelau, Vermerk für Jochimsen, 23.7.1970, AdsD, NL Jochimsen/39; Alfred Faude, Regierungs- und Verwaltungsreform beim Bund, in: Joseph H. Kaiser (Hg.), Planung VI. Integierte Systeme der Planung und Budgetierung, Baden Baden 1972, S. 109–121, S. 112; Faude an Ehmke, betr. Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung (Vorlage für das Reformkabinett), 12.6.1970, BAK, B 106/ 56429, sowie die modifizierte Vorlage Faudes an Ehmke, betr. Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung, Arbeits- und Zeitplan (Vorlage für das Reformkabinett), 24.8.1970, BAK, B 106/56429.

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eingeführter Verfahren, entsprachen also mehr dem vergleichsweise risikoarmen Innovationstyp des wissenschaftlich begleiteten Transfers, als daß sie im Beratungsprozeß entwickelte Neuerungen implementierten. Wissenschaftliche Beratung diente hier vor allem der Evaluierung und Legitimierung bereits etablierter Reformkonzeptionen59. Dort, wo die Wissenschaftler wirklich neuartige Vorschläge präsentierten, wurden diese oftmals schon innerhalb der Projektgruppe eliminiert oder in einer politisch stark entschärften Version weitergereicht60. So erging es beispielsweise Frieder Nascholds Überlegungen zur mittelfristigen Finanzplanung61. Auch die Übernahme der in der Projektgruppe praktizierten teamorientierten Arbeitsweise, die Pilotfunktion für die Bundesverwaltung haben sollte, blieb im Ansatz stecken. Sie stieß auf massiven Widerstand der von unionsnahen Beamten dominierten Personalvertretungen. Diese lehnten das mit einer weitgehenden Enthierarchisierung der Entscheidungsstrukturen verbundene „Quickborner Modell“ der Entscheidungsfindung als „unproduktiv“62 und zudem mit dem Risiko der „Desorganisation“ behaftet ab, wobei sich ihrer Argumentation kaum verhohlene Befürchtungen um den Verlust „wohlerworbener“ Statusprivilegien verbargen. Nimmt man die politische Umsetzung ihrer Reformvorschläge zum Maßstab, dann war die Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform also ein gescheitertes Experiment63. Direkte Wirkungen zeigte allein der erste stark beachtete Bericht der Projektgruppe, den sie im August 1969 nach nur sechs Arbeitsmonaten fertiggestellt hatte64. Mehrere der darin enthaltenen Vorschläge wurden mit dem Amtsantritt der Sozialliberalen Koalition in die Praxis umgesetzt. Die Reduktion der Bundesministerien (von vierzehn auf neun), ein teilweiser Neuzuschnitt der Ressorts und die organisatorische Bündelung von Querschnittaufgaben, z. B. im Umweltschutz und im Städtebau, gingen auf ihre Empfehlungen zurück. Bisher 59 Hans-Ulrich Derlien, Ursachen und Erfolg von Strukturreformen im Bereich der Bundesregierung unter besonderer Berücksichtigung der wissenschaftlichen Beratung, in: Carl Böhret (Hg.), Verwaltungsreform und Politische Wissenschaft. Zur Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft bei der Durchsetzung und Evaluierung von Neuerungen, Baden-Baden 1978, S. 67–87, S. 82. 60 Vgl. Lepper, Ende, S. 490. 61 Die Argumentation Nascholds lief im Kern darauf hinaus, staatliches Handeln nicht durch bestehende fiskalische Handlungsspielräume begrenzen zu lassen, sondern die öffentlichen Einnahmen schrittweise an das politisch zu bestimmende Ausgabenvolumen anzupassen, was de facto auf eine deutliche Erhöhung der Staatsquote hinausgelaufen wäre. Infolge ihrer konfliktträchtigen Rückwirkungen auf die gesellschaftliche Einkommensverteilung stellen die Überlegungen Nascholds allerdings einen Sonderfall verwaltungsbezogenen Reformhandelns dar. 62 Ludger Reuber, Die Propheten vom Kanzleramt. Ehmkes Personalrat gegen politische Planung auf „chinesischen Wandzeitungen“, in: Publik, Nr. 14, 2.4.1971. 63 Vgl. z. B. Krevert, Funktionswandel, S. 173. 64 Erster Bericht zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung, nebst Anlagenband, Bonn 1969, BAK B 106/33467.

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wurde allerdings zu wenig gesehen, daß die meisten Vorschläge im Rahmen dessen blieben, was die administrationsinterne Kritik des Bundesrechnungshofs bereits 1966 vorgezeichnet hatte65. Zwar wurde mit erheblichem Aufwand versucht, ein integriertes System der politischen Planung und Koordinierung für das Bundeskabinett aufzubauen. Dies blieb indes der einzige Reformvorschlag von grundsätzlicher Bedeutung, der in die Praxis umgesetzt wurde, und spätestens mit dem Ausscheiden Ehmkes aus dem Kanzleramt geriet auch dieses Vorzeigeprojekt der Modernisierung politischer Entscheidungsstrukturen ins Stocken. Gerade die ambitionierten Reformvorschläge der Projektgruppe, z. B. die Errichtung eines Infrastrukturministeriums mit umfangreichen Querschnittkompetenzen in der Wirtschafts-, Verkehrs- und Raumordnungspolitik66, fanden keinen Anklang, nicht zuletzt, weil sie sich nur schwer in die Koalitionsarithmetik der sozialliberalen Regierung einpassen ließen. Noch ärger erging es zwei 1972 vorgelegten Berichten der Projektgruppe zur Verlagerung von Aufgaben aus den Bundesministerien und zur Einführung eines Programmhaushalts67. In dieser Arbeitsphase argumentierte die Gruppe grundsätzlicher und weniger pragmatisch als in ihrem umsetzungsorientiert gehaltenen ersten Bericht. Es ging ihr nicht mehr nur um die Beseitigung von bestehenden Mängeln im Regierungsapparat, sondern um Strukturveränderungen, die der veränderten Aufgabenstellung von Regierung und Verwaltung im Gemeinwesen Rechnung tragen sollten, insbesondere um eine verbesserte Kontrolle der Verwaltung durch die Politik, die Demokratisierung der politischen Entscheidungsstrukturen, etwa im Blick auf nichtorganisierte Interessen, und eine stärkere Zukunftsorientierung des politischen Handelns68. Die mit großem Aufwand erarbeiteten Berichte wurden vom Reformkabinett lediglich zur Kenntnis genommen und nach kurzer Diskussion zu den Akten gelegt. Auf mehr Resonanz stießen Vorschläge zur Reorganisation einzelner Bundesministerien, die die Projektgruppe in ihrer dritten Arbeitsphase (1972–1975) machte – allerdings mit dem deutlich reduziertem Zielanspruch partieller Effektivitätsgewinne in der Bundesverwaltung69. 65 Vgl. die „Erwägungen zur Haushaltsführung und zur Organisation der Bundesregierung“ des Präsidenten des Bundesrechungshofs, 22.11.1966, ACDP, I-564-007/1. Die Umsetzung einiger Vorschläge aus dem ersten Bericht dient der politikwissenschaftlichen Fachliteratur immer wieder als Beleg für den Einfluß der Projektgruppe in ihrer ersten Arbeitsphase; vgl. z. B. Hegelau, Arbeit, S. 186; Lepper, Ende, S. 497. 66 Durch Zusammenfassung der Raumordnungskompetenzen aus dem Bundesinnenministerium, des Städtebaus aus dem Wohnungsbauministerium, des gesundheitlichen Umweltschutzes aus dem Bundesgesundheitsministerium und des Naturschutzes aus dem Landwirtschaftsministerium. 67 Bericht zur Verlagerung von Aufgaben aus den Bundesministerien, Bonn 1972; Dritter Bericht zur Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung, Bonn 1972, BAK, B 106/55193. 68 Hegelau, Arbeit, S. 173 f. 69 Dies betraf insbesondere die Einführung eines neuen Planungsverfahrens und einer programmorientierten Abteilungsgliederung im Bundeslandwirtschaftsministerium

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Dennoch: Dafür, daß rund 40 Gutachtenaufträge vergeben worden waren und zeitweise mehr als ein Dutzend höhere Beamte in der Projektgruppe mitgearbeitet hatten, mutet die Bilanz der siebenjährigen Reformbemühungen bescheiden an70. Es kann daher nicht verwundern, wenn zwei der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Regierungsberater im Frühjahr 1973 mit dem ehrgeizigen Projekt verwissenschaftlichter Politik den „schale[n] Geschmack einer enttäuschten Hoffnung“71 verbanden. Die Gründe für die letzthin bescheidene Durchschlagskraft der Projektgruppe sind vielfältig. Teils basieren sie auf Konstruktionsprinzipien, die den Machtverhältnissen in der Großen Koalition geschuldet waren und in der veränderten politischen Konstellation des sozialliberalen Kabinetts dysfunktional wirkten, teils aber auch auf einer gewandelten Interessenlage der politischen Führung: Als die Projektgruppe Ende 1975 durch das Wirksamwerden von k.w.-Vermerken stillschweigend zu Grabe getragen wurde, war offenkundig, daß sie kaum mehr politische Unterstützung genoß72. Diese Entwicklung, die einen wesentlichen Faktor ihres Scheiterns bildet, setzte bereits in der zweiten Jahreshälfte 1970 ein. Unmittelbar nach dem Regierungswechsel hatte der Kanzleramtsminister Ehmke noch entschieden für eine Fortsetzung der Reformarbeit geworben73. Bereits ein Jahr später dachte man hingegen laut über die Auflösung der Projektgruppe nach, da sie „von keiner Kraft aktiv gestützt werde“74. Von den Ursachen dieser Entwicklung sind zwei hervorzuheben. Bei der Etablierung der Projektgruppe hatte die Chance, sich mit einem „modern“ konnotierten Thema in der Öffentlichkeit zu profilieren, den politischen Stellenwert der Regierungs- und Verwaltungsreform deutlich erhöht. Die komplizierte Konstruktion mit einem der Projektgruppe vorgeschalteten Kabinettsausschuß – ein organisationsrechtliches Novum in der Bundesverwaltung, das den sachverständigen Rat der Experten nur mehrfach gefiltert in die politischen Entscheidungsstrukturen diffundieren ließ –, entstand nicht zuletzt aus dem Interesse der Koalitionäre, dem Gegenüber dieses Handlungsfeld nicht allein zu überlassen. Nach dem Regierungswechsel eignete sich das Thema Regierungsreform infolge der veränderten Zusammensetzung des Kabinetts nur noch eingeschränkt

(1974) und die Neugliederung des Bundesverkehrsministeriums nach Verkehrsträgern (1977); vgl. Edda Müller, Konzeptionen und Umsetzungsstrategien der Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform zur Verbesserung der internen Ministerialorganisation, in: Studien zur Reform von Regierung und Verwaltung Nr. 10, Teil 1, S. 49–78 sowie Derlien, Ursachen, S. 73 f. 70 Schatz, Funktionsbedingungen, S. 210 f. 71 Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf, Vorwort, in: dies. (Hg.), Planungsorganisation. München 1973, S. 7. 72 Vgl. Lepper, Ende, S. 482 f. 73 Mitteilung aus dem Kabinettsprotokoll vom 28.10.1969, BAK, B 106/49514. 74 Karbe an die Mitglieder der Projektgruppe, 1.3.1971, BAK, B 106/49514.

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für die koalitionsinterne Profilierung, zumal sich die komplexe Materie in der öffentlichen Darstellung der Regierung weniger attraktiv erwies, als zunächst vermutet75. Dies verminderte den kurzfristigen politischen Nutzen für die Entscheider. Deutlich wurde deren zunehmendes Desinteresse am dramatisch gesunkenen Stellenwert des Reformkabinetts, das seit 1970 nur fünfmal tagte und dem bald ein Abteilungsleiterausschuß vorgeschaltet wurde. Die ursprüngliche Absicht, die Projektgruppe an die politische Führungsebene anzubinden, wurde so in ihr Gegenteil verkehrt76. Zu dieser schwachen institutionellen Anbindung an die Ebene der materiellen Politik kam hinzu, daß der umfassend konzipierte, demokratietheoretisch gestützte und sehr abstrakte Reformansatz, an dem die Projektgruppe seit 1970 auf Empfehlung der sie beratenden Wissenschaftler arbeitete (statt einer bloßen „Bürorationalisierung“, die eine Minderheit ihrer Mitglieder vertrat)77, den soziologisch nicht geschulten Adressaten vielfach unverständlich blieb und zudem mit der kleinteilig angelegten innenpolitischen Reformstrategie der sozialliberalen Koalition kollidierte, die eher auf Programmals auf Struktur- und Verfahrensinnovationen setzte78. Bezieht man neben dem „harten“ Prüfstein realisierter Struktur- und Prozeßinnovation auch „weiche“ Indikatoren wie die Gestaltung des Meinungsklimas in die Bewertung mit ein, fällt die Bilanz weniger negativ aus. Unterstützt von einer geschickten Informationspolitik, die mit dem ersten Vorsitzenden der Projektgruppe ein ausgewiesener Kommunikationsexperte organisierte79, wirkte die Projektgruppe vor allem in der Anfangsphase als einflußreiche Transferagentur sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die politisch-administrative Praxis80. Die Bundesregierung hat deren bis in die Landesverwaltungen ausstrahlende Impulsgeberfunktion mehrfach herausgestellt, auch wenn sich die Folgen solcher Transferprozesse nur schwer exakt bestimmen lassen81. Allerdings deuten

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Schatz, Regierungs- und Verwaltungsreform, S. 15. Lepper, Ende, S. 486 f.; Müller, Konzeptionen, S. 68 f. 77 Dieser Entwurf markierte eine Mittelposition zwischen einem „linken“ Flügel der Projektgruppe und der sie beratenden Wissenschaftler, die in den Reformversuchen lediglich eine Reproduktion bestehender systembedingter Unzulänglichkeiten sahen und stattdessen auf umfassende Veränderungen der bestehenden Machtstrukturen drängten, und einer „rechten“ Gruppe, die lediglich an pragmatischen Detailverbesserungen der Verwaltungsorganisation interessiert war; Heribert Schatz, Regierungs- und Verwaltungsreform im politisch-administrativen Spannungsfeld, in: Studien zur Reform von Regierung und Verwaltung Nr. 10, Teil 1, S. 9–20, 14 f. 78 Vgl. Faude, Regierungs- und Verwaltungsreform, S. 111 f.; Lepper, Ende, S. 481 f. Zu den Hauptkritikpunkten an der Projektgruppe zählte immer wieder der Vorwurf, dort werde „zu viel theoretisiert“, und ihre Sprache sei nicht mehr allgemeinverständlich; Langer, Aktenvermerk, betr. Informationsbesprechung mit den Organisationsreferenten der Ressorts am 12. und 13.1.1971, AdsD, NL Jochimsen/39. 79 Krüger war vor seiner Ernennung zum Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt stellvertretender Chef des Bundespresseamts. 80 Zu dieser Diffusionsfunktion vgl. Derlien, Ursachen, S. 83. 76

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auch Karriereverläufe, in denen Beamte aus der Projektgruppe auf einflußreiche Posten in der Administration wechselten, auf solche Transferprozesse hin82. Die Bilanz der Projektgruppe verändert sich weiter, wenn man die Blickrichtung wendet: Einiges spricht dafür, daß die Arbeit mit der Projektgruppe die beratenden Wissenschaftler und ihre Disziplin weit stärker geprägt hat, als diese ihrerseits die Regierungsorganisation veränderten. In den achtziger Jahren zählte eine Befragung von Mitgliedern politologischer Fachvereinigungen unter den fünf einflußreichsten Politikberatern der Bundesrepublik mit Renate Mayntz, Thomas Ellwein und Fritz Scharpf drei ehemalige Ratgeber der Projektgruppe83. Vor der Einsetzung der Projektgruppe galt die sozialwissenschaftliche Regierungs- und Verwaltungsforschung in Deutschland als wissenschaftlich kaum bearbeitetes Feld84. Verantwortlich für deren randständige Position in den sechziger Jahren war einerseits die Vorherrschaft einer juristisch geprägten, deskriptiven Regierungslehre an den Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten, aber auch die Unzugänglichkeit des Forschungsgegenstands. Erst die Gutachtertätigkeit für Kanzleramt und Projektgruppe öffnete den an der Verwaltungsforschung interessierten Wissenschaftlern die Türen der Ministerialbüros. Sie ermöglichte die Erhebung empirischer Daten und beförderten so die sozialwissenschaftliche Profilierung der Regierungs- und Verwaltungsforschung85. Daß zwischen der Blüteperiode sozialwissenschaftlicher Politikberatung in der Sozialliberalen Koalition und dem Aufschwung der deutschen Policy-Forschung ein ursächlicher Zusammenhang besteht, wie eine neue Disziplingeschichte vermutet86, ist wahrscheinlich, auch wenn diese These empirisch nur schwer fundiert werden kann87. Als sicher kann allerdings gelten, daß die Verbesserung 81 Vgl. z. B. die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Gerster, Walz, Vogel und Genossen, betr. Kabinettsausschuß und Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform, 4.12.1974, Bundestagsdrucksache VII/2887, S. 27. 82 Mehrere Mitglieder der Projektgruppe stiegen nach weiteren Verwendungen in ihren Ressorts zu Unterabteilungsleitern auf. Hans Hegelau und Adolf Theis wechselten in die Planungsabteilung des Bundeskanzleramts; vgl. Lepper, Ende, S. 495. 83 Landfried, Christine, Politikwissenschaft und Politikberatung, in: Klaus von Beyme (Hg.), Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungsprobleme einer Disziplin, Opladen 1986, S. 104. 84 Ellwein, Thomas, Probleme der Regierungsorganisation in Bonn, in: PVS (1968), S. 234–254, 234. 85 Vgl. Lompe, Wissenschaft, S. 31; Lepper, Ende, S. 498. Bereits bei den frühen SPD-internen Überlegungen zur Einrichtung einer Studiengruppe zur Regierungs- und Verwaltungsreform hatte die von Fritz Scharpf vermittelte Möglichkeit einer auf sozialwissenschaftlichen Methodentransfer angelegten deutsch-amerikanischen Forschungskooperation eine wichtige Rolle gespielt; Ehmke, Aufzeichnung betr. Reorganisation der Bundesregierung, 1.8.1967, AsdD, Depositum Ehmke, 1/HEAA000272. 86 Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft, S. 384, 395.

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der Forschungsmöglichkeiten, die Vermehrung der Forschungsressourcen und das gestiegene Interesse an den Forschungsergebnissen der sozialwissenschaftlich orientierten Regierungs- und Verwaltungsforschung einer Vielzahl empirisch fundierter Studien zugute kam, die teils im Umfeld der Projektgruppe, teils andernorts als akademische Qualifikationsarbeiten entstanden88. Mancher Hochschullehrer hat auf diese Weise sein wissenschaftliches Lebensthema gefunden89. Erst im Prozeß der Beratung bei der Regierungs- und Verwaltungsorganisation in den Reformjahren der Bundesrepublik festigte sich die sozialwissenschaftlich orientierte Verwaltungsforschung in Deutschland als eigenständige Subdisziplin. Für den, der es etwas zugespitzter mag, ließe sich sagen, daß sie aus dem Geist der Regierungsreform geboren wurde. Es ist indes nicht ohne Ironie, daß in der Politikberatung engagierte Verfasser von Studien zur empirischen Regierungs- und Verwaltungsforschung nach dem Scheitern der Reformversuche mannigfach Gelegenheit hatten, die begrenzte Wirkung ihres Beratungshandelns wissenschaftlich zu analysieren, indem sie sich an der anschwellenden politikwissenschaftlichen Implementations- und Evaluationsforschung der siebziger und achtziger Jahre beteiligten90. 87 Vgl. Jann, Werner, Politikfeldanalyse, in: Jürgen Kritz/Dieter Nohlen/RainerOlaf-Schultze (Hg.), Politikwissenschaftliche Methoden (Lexikon der Politik, hg. von Dieter Nohlen, Bd. 2), München 1994, S. 308–314, 310. 88 Z. B. Mayntz/Scharpf, Planungsorganisation; Peter Grottian, Zum Planungsbewußtsein der Bonner Ministerialbürokratie. Vorläufige Ergebnisse einer empirischen Studie, in: Gesellschaftlicher Wandel und politische Innovation: Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft in Mannheim, Herbst 1971, Opladen 1972, S. 127–152; Klaus Lompe, Gesellschaftspolitik und Planung: Probleme politischer Planung in der sozialstaatlichen Demokratie, Freiburg 1971; Axel Murswieck, Regierungsreform durch Planungsorganisation. Eine empirische Untersuchung im Bereich der Bundesregierung, Opladen 1975; Volker Ronge/Günter Schmieg (Hg.), Politische Planung in Theorie und Praxis, München 1971; Dies.: Restriktionen politischer Planung. Frankfurt a. M. 1973. Die jüngeren Berater aus der Kölner IPEP-Gruppe wurden mit z. T. sehr schmalen, auf Fragen der Regierungsorganisation und Planungsforschung begrenzten Œuvres auf Professuren berufen. 89 Dies gilt in besonderer Weise auch für Renate Mayntz, allerdings nicht für den „institutionalisierten Vermittler“ zwischen Theorie und Praxis innerhalb der Projektgruppe, Heribert Schatz, der sich nach einem Gutachten für die Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel vollkommen von der Planungsforschung abwandte. Zu Mayntz vgl. Dies.: Eine sozialwissenschaftliche Karriere im Fächerspagat, in: KarlMartin Bolte/Friedhelm Neidhardt (Hg.), Soziologie als Beruf. Erinnerungen westdeutscher Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration, Baden-Baden 1998, S. 285– 294, 291. 90 Vgl. Michael Ruck, Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie – Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/ Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 362–401, 398 f. Eine eingehende Werkanalyse, z. B. von Fritz Scharpf, könnte vermutlich zeigen, daß seine steuerungsskeptischen Forschungskonzepte („Komplexität als Schranke politischer Planung“, „Politikverflechtung“, „Pathologien der politischen Steuerung“) eigene Beratungserfahrungen reflektieren.

Das „kybernetische Zeitalter“ Zur Bedeutung wissenschaftlicher Leitbilder für die Politikberatung am Beispiel der Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre Von Alexander Schmidt-Gernig „Kein Zeitalter der Geschichte ist stärker von den Naturwissenschaften durchdrungen und abhängiger von ihnen als das 20. Jahrhundert“ – auf diese prägnante Kurzform bringt Eric Hobsbawm in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Naturwissenschaften im letzten Jahrhundert1. Und das nicht ohne Grund: Wie der Wissenschaftshistoriker Derek J. della Solla Price bereits Anfang der 60er Jahre errechnete, verdoppelte sich im 20. Jahrhundert die Zahl der Wissenschaftler, Publikationen und Institutionen weltweit bereits in einer Spanne von nur (je nach Maßstab) zehn bis zwanzig Jahren. Dies bedeutete vor allem für die Nachkriegszeit angesichts eines (zumal in den hochentwickelten Ländern) vergleichsweise sehr viel langsameren Bevölkerungswachstums eine außerordentliche Konzentration von Wissenschaftlern in der Gegenwart, so dass Price feststellen konnte, dass nahezu 90 Prozent aller Wissenschaftler, die jemals gelebt hatten, in der Gegenwart lebten2. Das macht das 20. Jahrhundert und vor allem dessen zweite Hälfte zu einer einzigartigen welthistorischen Periode, die durch grundlegend neue Theoriebildungen und Paradigmenwechsel in den Bereichen der Atom- und Astrophysik, der Molekularbiologie und Genetik, der Chemie und Medizin wie keine zuvor von den Naturwissenschaften geprägt wurde. Dieser enorme Schub an Verwissenschaftlichung bezog sich aber nicht nur auf neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften und deren technische Umsetzungen, sondern auch auf eine bis dahin beispiellose „Verwissenschaftlichung des Sozialen“3, die bereits im 19. Jahrhundert im Kontext der Organisation des Sozialstaates eingesetzt hatte, in der Nachkriegszeit

1 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 645. 2 Vgl. Derek J. della Solla Price, Little Science, Big Science. Von der Studierstube zur Großforschung, Frankfurt/M. 1974, bes. S. 13–42. Vgl. auch Hobsbawm, Zeitalter, S. 645, wo es pointiert heißt: „Im Jahr 1910 hatte es insgesamt etwa achttausend deutsche und britische Physiker und Chemiker gegeben. In den späten achtziger Jahren wurde die Anzahl der Wissenschaftler und Ingenieure, die sich auf dieser Welt aktiv mit Forschung und experimenteller Entwicklung beschäftigten, auf etwa fünf Millionen geschätzt.“

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aber eine enorme Ausweitung erfuhr. So unterliegt am Ende des Jahrhunderts kaum ein gesellschaftlicher Lebensbereich nicht der permanenten wissenschaftlichen Beobachtung und damit der systematischen Reflexion über seine Funktionsweisen und Strukturmuster, was sich z. B. an der hochgradigen Soziologisierung und Psychologisierung der Alltagswelten etwa im Bereich von Ehe, Familie und Erziehung oder aber an der generell enormen Ausweitung des Sozialzum Wohlfahrtsstaat in den Dekaden seit dem Zweiten Weltkrieg ablesen lässt4. Dementsprechend haben sich heute ganze Berufsfelder verwissenschaftlicht und damit auch die moderne Sozialfigur des „Experten“ geschaffen. „Wissen“ ist somit zur zentralen Steuerungs- und Innovationsressource und damit auch zu einem zentralen Identifikationsbezug moderner Gesellschaften geworden, so dass mit guten Gründen von der Entstehung einer „Wissensgesellschaft“ gesprochen werden kann5. Die Besonderheit der 60er Jahre scheint dabei vor allem darin zu liegen, dass in diesem Zeitraum erstmals die Umsetzungsgeschwindigkeit von wissenschaftlichen Innovationen nicht nur im Hinblick auf Großtechnologien, sondern gerade auch hinsichtlich der Prägung der Alltagswelten durch Technik eine ganze neue Dimension erlangte. Es waren also nicht nur die kurz angedeutete exponentielle Akkumulation von naturwissenschaftlichem Wissen über die physikalischen und biologischen Grundlagen technischer wie biologischer Systeme6, sondern vor allem die (nicht zuletzt durch den Zweiten Weltkrieg bzw. den Kalten Krieg vorangetriebenen) immer kürzeren Phasen der technologischen Umsetzung dieses Wissens in Gestalt von Groß-Computern, Nukleartechniken, Satelliten, Radartechniken, Raketen und vielfältigen Automatisierungstechniken7, die die 60er und frühen 70er Jahre als überaus dynamisches Jahrzehnt kennzeichneten. Dazu kam die Überlappung und Verflechtung unterschiedlichster (globaler) Dynamiken und exponentieller Wachstumskurven (wie z. B. der Weltbevölkerung, der Weltrüstung, des Welthandels usw.), die eine ungeahnte Herausforderung für die westlichen Gesellschaften bedeuteten.

3 Siehe dazu Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. 4 Vgl. Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft – ein neues Konzept zur Erschließung der deutsch-deutschen Zeitgeschichte? in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2003, S. 277–305, und ihren Beitrag in diesem Band. 5 Siehe dazu u. a. Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weileswist 2001 sowie Gernot Böhme/Nico Stehr (Hg.), The Knowledge Society. The Growing Impact on Scientific Knowledge on Social Relations, Dordrecht u. a. 1986. 6 Vgl. Rolf Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-TechRevolution, Frankfurt/M. 1986, passim, bes. S. 26 ff. 7 Vgl. auch Hobsbawm, Zeitalter, S. 650 ff.

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Diese Entwicklung freilich barg zugleich einen signifikanten Anstieg an Risikopotentialen in sich, denn die Konsequenzen dieser Dynamiken schienen immer weniger kalkulierbar – zumal angesichts der Tatsache, dass die meisten technische Innovationen der Kriegs- und Nachkriegszeit noch eine Generation zuvor selbst von Experten kaum antizipiert worden waren oder aber wie im Fall des bemannten Mondflugs als prinzipiell nicht durchführbar gegolten hatten8. Diese neuen Risikopotentiale meinte der deutsche Publizist Robert Jungk denn auch, als er in seinem in den 50er Jahren zum Bestseller avancierten Bericht über die amerikanische Nukleartechniken schon im Titel davon sprach, dass die Zukunft „bereits begonnen“ hatte. Jungk beschrieb darin eindringlich, wie das prometheische Streben nach Herrschaft über die Natur im Atomzeitalter gewissermaßen in eine „zweite Schöpfung“ umgeschlagen war, die keinen Ausweg mehr ließ und die Menschheit zur Zukunft geradezu „verdammte“: „So ist zur Zeit in den Vereinigten Staaten eine Welt im Entstehen, wie es sie nie zuvor gab. Es ist die von Menschen entworfene, im Höchstmaß vorausgeplante, kontrollierte und je nach dem Fortschrittsstand immer wieder „verbesserte“ Schöpfung. Sie besitzt ihre besondere Art von Schönheit und von Schrecken. Denn obwohl die menschlichen Schöpfer sich bemüht haben, aus ihrer Kreation Schicksal, Zufall, Katastrophen, Unglück und Tod zu verbannen, so treten die Fortgewiesenen nun verkleidet nur noch viel eindringlicher auf: Kalkulationsfehler der Planstatistiker, Versagen der technischen Apparatur, Unfälle und Explosionen bringen ein Vielfaches an Leid. (. . .) Diese neueste Utopie ist keine ferne Utopie, kein Geschehen aus dem Jahre 1984 oder einem noch ferneren Jahrhundert. (. . .) Das Neue, Andere, Erschreckende lebt schon mitten unter uns (. . .) die Zukunft hat schon begonnen: Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.“9

Jungk verwies hier auf die fundamentale Tatsache, dass „Zukunft“ in der Moderne und besonders seit dem Beginn des so genannten Atomzeitalters in erster Linie als Frage von Entscheidungsalternativen auf der Basis von Risikokalkulationen erscheint. Angesichts der Unabsehbarkeit nichtintendierter Handlungsfolgen in einer immer stärker ausdifferenzierten Gesellschaft erscheint „Zukunft“ daher tendenziell nur noch im Modus des „Wahrscheinlichen“ bzw. „Unwahrscheinlichen“, mithin als Risikokalkulation über bestehende Handlungschancen und -grenzen10. Zugleich führt gerade der umfassende Verwissenschaftlichungsprozess und die damit verbundene gesellschaftliche Fähigkeit zur 8 Vgl. Arthur C. Clarke, Handikap für Propheten: Mangel an Courage, in: Alvin Toffler (Hg.), Kursbuch ins dritte Jahrtausend. Weltprognosen und Lebensplanung, Bern u. a. 1974, S. 147–168. 9 Robert Jungk, Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht, Bern/München 1963, S. 20 f. (1. Aufl. 1952). 10 Vgl. zur modernen Risikosemantik allgemein Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 129–147, hier besonders S. 140 f. bzw. 147, und zur aktuellen Debatte am Beispiel der Embryonenforschung vgl. Alexander Bogner/Wolfgang Menz, Wissenschaftliche Politikberatung? Der Dissens der Experten und die Autorität der Politik, in: Leviathan 30 (2002), S. 384–399.

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Selbstbeobachtung bzw. „Selbstreflexivität“ dazu, dass das Wissen der Vergangenheit für die Lösung gegenwärtiger Entscheidungen im Hinblick auf künftige Risiken immer stärker entwertet erscheint, so dass „die Zukunft“ einerseits immer mehr von Vergangenheitsbezügen abgekoppelt wird, andererseits aber auch Prognosen und Zukunftsprojektionen ins Zentrum gesellschaftlicher Selbstreflexion rücken. Genau an diesem Punkt setzte ein wissenschaftlich-publizistisches Unternehmen ein, das in den 60er Jahren als „Zukunftsforschung“, als „Futurologie“, als „future(s) studies“, als forecasting oder auch „prospective“ eine außergewöhnliche Konjunktur erlebte, denn es versprach, genau dieses zukunftsorientierte Kalkulations- und Steuerungswissen bereitzustellen und definierte sich dementsprechend als eine Art synthetisierende Lehre der Prognosen und Projektionen, als eine Theorie und Umsetzung von „Programmierungen“ und Planungen und – häufig im Rahmen einer „Zukunftsphilosophie“ – als (ethisch) ausgerichteter Entwurf von Alternativen zu festgestellten Fehlentwicklungen, wobei alle drei Elemente eng vernetzt waren und sich zumeist wechselseitig bedingten11. Hinter einem solchen Ansatz stand daher nicht nur die Faszination angesichts neuer ungeahnter Entwicklungspotentiale, sondern gerade auch die Wahrnehmung einer erheblichen Diskrepanz zwischen den wissenschaftlichtechnischen Entwicklungsdynamiken auf der einen und den deutlich hinterher hinkenden politischen Steuerungspotentialen auf der anderen Seite. Das Projekt der Zukunftsforschung ist daher insofern für die Geschichte der wissenschaftlichen Politikberatung interessant und aufschlussreich, weil hier versucht wurde, im Gegenzug zur immer stärkeren (und als immer risikoreicher empfundenen) Spezialisierung der einzelnen Wissenssysteme eine Art „Wissenssynthese“ zur besseren Risikoprävention zu entwickeln und für die konkrete politische Praxis zur Verfügung zu stellen. Eine solche Synthese schien aber nur möglich vor dem Hintergrund eines umfassenden wissenschaftlichen Leitbilds, das die unterschiedlichen Theorie- und Handlungsfelder würde paradigmatisch verbinden können. Ein solches Leitbild bot die Kybernetik, die sich seit den 50er Jahren zunehmend als eine neue Form von „Leitwissenschaft“ herauskristallisierte. Der vorliegende Beitrag zielt mit der Skizze der wichtigsten Strukturen und Visionen der Zukunftsforschung daher vor allem darauf ab, zu zeigen, wie ein neues wissenschaftliches Leitbild den Rahmen für zukunftsorientierte Politikberatung absteckte und beeinflusste. I. Charakteristika der Zukunftsforschung in den 60er und 70er Jahren Angesichts des dramatisch gestiegenen Bedarfs an politischen Entscheidungshilfen für die neuartigen Entwicklungsdynamiken entwickelte sich die Zukunfts11 Vgl. dazu den breiten bibliographischen Überblick von Michael Marien, Societal Directions and Alternatives. A Critical Guide to the Literature, New York 1976.

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forschung seit dem Zweiten Weltkrieg zunächst vor allem in nationalen Planungs- und Beratungsinstitutionen. In den westeuropäischen Ländern dominierte dabei zunächst die Wirtschaftsplanung. So hatte Frankreich bereits 1946 das Commissariat Général du Plan eingerichtet, das als zentralisierte Verwaltungsbehörde die Rahmenplanung der französischen Wirtschaft im Sinne einer „gemischten Wirtschaft“ aus Privatwirtschaft mit starken Anteilen an verstaatlichten Betrieben und keynesianischer Wirtschaftslenkung koordinierte12. Strukturell vergleichbare staatliche oder halbstaatliche Planungs- und Entwicklungsbehörden bzw. -kommissionen, die vor allem auf der Ebene der einzelnen ministeriellen Ressorts oder im Rahmen von Sachverständigen- und Wirtschaftsräten Prognosen in Auftrag gaben oder selbst systematisch betrieben13, gab es überdies in Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden, der Bundesrepublik und in Großbritannien14. Ähnliche Ansätze lassen sich Ende der 60er Jahre überdies auch jenseits des Eisernen Vorhangs beobachten, wobei – wie im Falle der UdSSR, der DDR, Polens, Rumäniens und der CSSR – prognostisch-planerische Studien vor allem im Rahmen der jeweiligen wissenschaftlichen Akademien betrieben wurden, allerdings durch die starken ideologischen Vorgaben insgesamt wenig Eigenständigkeit gewinnen konnten15. In den USA als dem eigentlichen Vorreiterland der Zukunftsforschung waren dagegen vor allem private (allerdings durch erhebliche öffentliche Aufträge finanzierte) große think tanks mit mehreren tausend Mitarbeitern wie die RAND Corporation (gegr. 1948) oder das „Hudson-Institute“ (gegr. 1961) von Bedeutung, die angesichts des Kalten Krieges militärstrategische Szenarien für die amerikanische Regierung entwarfen, ihre Forschungsgebiete bald aber auch auf die innenpolitischen und gesellschaftlichen Problemlagen ausdehnten16. Vor allem im Rahmen dieser amerikanischen think tanks wurden neue Methoden entwickelt, die das zentrale Rüstzeug für eine wissenschaftliche Zukunftsforschung, die eher als Wissenssynthese denn als ganz eigene neue Wissenschaft konzipiert war, abgeben sollten. Dabei wurden Methoden der intuitiven, der explorativen 12 Vgl. Peter H. Moll, Länderbericht: Zukunftsforschung in Frankreich, in: Rolf Kreibich/Weert Canzler/Klaus Burmeister (Hg.), Zukunftsforschung und Politik in Deutschland, Frankreich, Schweden und der Schweiz, Weinheim/Basel 1991, S. 204– 255. 13 Siehe dazu auch den Überblick im Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften (1974), Anhang I, S. 1–49. 14 Vgl. Beate Kohler/Renate Nagel, Die Zukunft Europas. Ausgewählte Bibliographie zur zukünftigen Entwicklung Europas. Überblick über Organisationen und Institute für Zukunftsforschung. Methoden der Vorausschau, Köln 1968, S. 13–20. 15 Vgl. Karlheinz Steinmüller, Zukunftsforschung in Europa – Ein Abriss der Geschichte, in: Ders. u. a. (Hg.), Zukunftsforschung in Europa. Ergebnisse und Perspektiven, Baden-Baden 2000, S. 37–54. 16 Vgl. zur Entwicklung von think tanks bzw. „Ideenagenturen“ in den USA bzw. der Bundesrepublik die Überblicksstudie von Winand Gellner, Ideenagenturen für Politik und Öffentlichkeit. Think Tanks in den USA und in Deutschland, Opladen 1995.

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und der projektiven Vorausschau entwickelt und kombiniert. Die intuitive Vorausschau bezog sich vor allem auf die Sammlung von Sachinformationen und das Ausloten von Entwicklungsspielräumen. Eine futurologische Methode war die von Olaf Helmer und Theodore Gordon bei RAND entwickelten DelphiMethode: Wiederholte schriftliche Befragungen von Experten wurden hier mit einem regelmäßigem „opinion feedback“ und bei stark unterschiedlichen Meinungen zusätzlich mit Fragen nach deren Gründen gekoppelt, so dass Prognosen wie Alternativ-Vorschläge auf der Suche nach Konsens immer wieder im wechselseitigen Austausch geprüft und begründet wurden. Charakteristisch für die Delphi-Methode war dabei häufig der weitgesteckte Zeithorizont der Zukunftsmodelle, die durchaus auch reine Science Fiction einschlossen, was anhand der weiter unten skizzierten Ergebnisse einer der Pionierstudien deutlich werden wird. Im relativ kurzfristigen Zeithorizont etwa der Wirtschaftsplanung wurden dagegen häufiger explorative Methoden angewandt, die vor allem unter Zugrundelegung quantitativer Daten und statistischer Zeitreihen mögliche Entwicklungen unter unterschiedlichen Voraussetzungen in die Zukunft projizierten. Dazu gehörte die klassische Trendextrapolation, die auf statistischer Basis durch Kausalverknüpfungen gegenwärtige Trends im Sinne der Verstärkung in die Zukunft verlängerte sowie etwas komplexere Methoden wie das Contextual Mapping (als Versuch, die Wirkung unterschiedlicher Variablen aufeinander zu prognostizieren), die Entwicklung unterschiedlicher Szenarien und das Entwerfen von systemischen Morphologien, die die Wechselwirkung einzelner Systemparameter vor allem im Hinblick auf neue Erfindungen untersuchten. Dabei stützten sich die auf zukünftige wahrscheinliche „Ist-Zustände“ gerichteten explorativen Methoden auf vielfältige Strukturanalysen und nicht zuletzt auch auf historische Analogiebildungen, während projektive Methoden eher von bestimmten „Soll-Zuständen“ ausgingen und die Bedingungen zur Realisierung solcher Zielvorstellungen analysierten. Hier kamen Präferenzanalysen, Entscheidungsmodelle, sogenannte „Relevanzbäume“ (die die Folgen nacheinander gefällter Entscheidungen auf dem Weg zu bestimmten Ergebnissen in den Blick nehmen), Optimierungsverfahren und Methoden im Rahmen der Spieltheorie zum Einsatz17. Auf der Grundlage solcher neuer Methoden und Verfahren bildeten sich zunehmend spezifische Zukunftsforschungsinstitute mit eigenen Periodika heraus, die angesichts der globalen Herausforderungen versuchten, eine interdisziplinär organisierte Zukunftsforschung zu institutionalisieren. Exemplarisch sei hier für Frankreich nur die von Bertrand de Jouvenel 1960 gegründete renommierte „Association Futuribles Internationale“ genannt, die die führenden Planungsinstitutionen in vielen Fragen direkt beriet und zugleich mit ihrer Zeitschrift „Futuribles“ eine Art Fokus der französischen (und internationalen) Zukunfts17

Vgl. u. a. Erich Jantsch, Technolgocial Forecasting in Perspective, Paris 1967.

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forschung in allen Bereichen bildete. In der Bundesrepublik versuchte das 1968 gegründete „Berlin Zentrum für Zukunftsforschung“ eine ähnliche Funktion mit der Zeitschrift „Analysen und Prognosen über die Welt von morgen“ zu erfüllen, was aber angesichts der insgesamt sehr viel ausgeprägteren Skepsis gegenüber einer umfassenden Zukunftsforschung, die in mangelnder finanzieller Unterstützung von Seiten der öffentlichen Hände wie der Privatwirtschaft zum Ausdruck kam, kaum gelang18. Dagegen konnten sich im englischsprachigen Raum die seit 1968 in Oxford in Verbindung mit dem amerikanischen „Institute for the Future“ herausgegebene Zeitschrift „Futures – The Journal of Forecasting and Planning“ sowie die internationale Zeitschrift „Technological Forecasting and Social Change“ (ebenfalls seit 1968) und das eher populärwissenschaftliche, von der amerikanischen World Futures Society seit 1967 edierte Periodikum „The Futurist – A Newsletter of Tommorrow’s World“ als führende Periodika der neuen Zukunftsforschung dauerhaft etablieren. Unterstützt wurde diese Institutionalisierung durch internationale „Zukunfts-Konferenzen“ wie z. B. Mankind 2000 (Oslo 1967), Challenge from the Future (Kyoto 1970) oder die Third World Conference (Bukarest 1972), die Netzwerke einer interdisziplinär angelegten Zukunftsforschung auch in Gestalt von Institutionen wie z. B. der World Futures Studies Federation (gegr. 1973) ausbildeten. Dabei wurden solche transnational orientierten Netzwerke häufig auch dezidiert in Abgrenzung von den etablierten nationalen think tanks à la RAND gegründet. Dies galt z. B. für die 1964 von Robert Jungk und Johan Galtung ins Leben gerufene Friedensforschungsinitiative Mankind 2000, die 1966 in den Niederlanden als gemeinnütziger Verein gegründet wurde, 1967 die erste Konferenz mit über 70 Forschern aus Europa, den USA und Israel organisierte und zugleich ein International Future Research Congress Committee zur weiteren Vernetzung der Zukunftsforscher einrichtete. Mankind 2000 richtete sich dabei explizit gegen die militärstrategischen Forschungen amerikanischer think tanks und versuchte, mit Hilfe einer transnational und transdiziplinär agierenden Forschergruppe Alternativen im Sinne eines „human forecasting“ aufzuzeigen. Ein vordringliches Ziel der Zukunftsforschungsinitiative bestand dabei vor allem darin, die verschiedenen Öffentlichkeiten der hochentwickelten Länder auf die zentralen globalen 18 Diese für die Bundesrepublik typische grundlegende Skepsis zeigte sich auch darin, dass „futurologisch“ orientierte Periodika wie die 1959 gegründete Zeitschrift „Atomzeitalter“ oder das von dem „Vordenker“ der Futurologie Ossip K. Flechtheim seit 1968 edierte Organ „Futurum – Zeitschrift für Zukunftsforschung“ nur eine vergleichsweise kurze Lebensdauer hatten. Zur spezifisch bundesdeutschen Problematik einer Akzeptanz von „Zukunftsforschung“, die vor allem auch mit dem Negativbild der „Planwirtschaft“ in der DDR zu tun hatte: Rolf Kreibich u. a., Einleitung, in: Kreibich u. a., Zukunftsforschung und Politik, S. 42 ff. Vgl. zu den Ansätzen und Grenzen von Planungspolitik in der Bundesrepublik auch Michael Ruck, Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie – Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Axel Schildt u. a. (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000, S. 362–401.

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Menschheits-Probleme und -Gefahren für die kommenden drei Jahrzehnte aufmerksam zu machen – ein Anliegen, das nur durch die Konzentration und Förderung interdisziplinärer Netzwerke und Arbeitsgruppen der Zukunftsforschung im Sinne eines „Frühwarnsystems“ für politische Agenden erreichbar zu sein schien19. In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Novum der Zukunftsforschung in ihrer nicht unerheblichen öffentlichen Breitenwirkung zu sehen. So erreichten durchaus anspruchsvolle Zukunftsstudien wie beispielsweise Alvin Tofflers „The Future Shock“ (Dt. „Der Zukunftsschock“) von 1970 oder Herman Kahns „The Year 2000“ (Dt. „Ihr werdet es erleben“) von 1968 Bestseller-Status, wurden in viele Sprachen übersetzt und in Fernseh- und Radiosendungen eingehend diskutiert. Die Fülle an Übersetzungen, die teilweise hohen Auflagenzahlen und die Resonanz in den Massenmedien20 verweisen insgesamt auf ein gesteigertes öffentliches Interesse an der Zukunft nicht nur der eigenen Nation, sondern auch und gerade an der Zukunft der Welt-Gesellschaft bzw. der Menschheit insgesamt. Diese neue globalpolitische Agenda verlangte nach neuen Denkmodellen und Wissensformen. Traditionelle Wissensbestände zur Steuerung von Gesellschaft erschienen vor diesem Hintergrund immer obsoleter, was die systematische Entwicklung neuen Steuerungswissens nötig machte. An dieser Stelle kam auf der Basis der älteren Systemtheorie die in den 50er Jahren neu entwikkelte Leitwissenschaft der Kybernetik ins Spiel, die anstelle eines traditionell eher auf historische Analogien und intuitive Projektionen und Utopien gerichteten Zukunftsdenkens neue Antworten auf die zentrale Frage nach der „Steuerbarkeit“ von komplexen Systemen zu geben versprach und sich deshalb zur wichtigsten Integrationsklammer der neuen Zukunftsforschung entwickelte, so dass eine ganze Reihe von Studien sogar vom Anbruch eines „kybernetischen Zeitalters“ sprach21. Wie inspirierend dieses neue Leitbild wirkte, zeigt sich an dem erstaunlichen Boom von Zukunftsstudien, die zwar nicht alle unmittelbar einem kybernetischen Denken verpflichtet waren, davon aber häufig zumindest implizit geprägt wurden. Die Autoren, die die Hauptwerke verfassten und sich für eine Institutionalisierung der Zukunftsforschung einsetzten, boten dabei ein durchaus heterogenes Fächerprofil, was den interdisziplinären und gewissermaßen fluiden Charakter der „Zukunftsforschung“ unterstreicht. Dieses Profil reichte von Naturwissenschaftlern wie Herman Kahn oder Olaf Helmer, Inge19 Vgl. die Texte in Rolf Gössner (Red.), Futurologie – Zukunftsforschung. Basisdokumentation, hg. von basis-freiburger studentenzeitung und asta, Freiburg 1971, S. 78– 82. 20 Siehe dazu z. B. den auf eine Sendefolge der ARD zurückgehenden Band von Rüdiger Proske (Hg.), Modelle und Elemente künftiger Gesellschaften. Auf der Suche nach der Welt von morgen, Reinbek b. Hamburg 1971. 21 Siehe z. B. Frederic Vester, Das kybernetische Zeitalter. Neue Dimensionen des Denkens, Frankfurt/M. 1974 oder Geoffrey Vickers, Freiheit im kybernetischen Zeitalter. Der Wandel der Systeme und eine neue politische Ökologie, Stuttgart 1974.

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nieuren wie Theodore Gordon oder Karl Steinbuch über Ökonomen wie Bertrand de Jouvenel und Robert Heilbroner oder Soziologen wie Daniel Bell und Richard Behrendt bis hin zu Publizisten wie Robert Jungk oder Alvin Toffler oder gar Architekten und Designer wie Buckminster Fuller oder John McHale. Auffallend ist jedoch das fast völlige Fehlen von „Geisteswissenschaftlern“ und zugleich die insgesamt doch auffallende Dominanz naturwissenschaftlicher, sozialwissenschaftlicher oder mathematisch-technischer Berufsprofile, was die Attraktivität kybernetischer Denkmodelle u. a. erklärt. Auffallend ist überdies ein gewisser generationeller Zusammenhang, denn die meisten bekannten Futurologen waren in der Zeit um 1900 bzw. vor und kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren worden. Die Mehrzahl der einflussreichen Zukunftsforscher war daher in der Hochphase der Futurologie keineswegs mehr jung, im Gegenteil: Man gewinnt den Eindruck, als sei die Futurologie eine Sache mehr oder weniger „alter Männer“ gewesen, die am Ende einer langen wissenschaftlichen Karriere nach neuen Synthesemöglichkeiten ihres hochgradig spezialisierten Wissens suchten und dabei das neue Leitbild der Kybernetik als Integrationsangebot begierig aufnahmen. 1. Das neue Leitbild der Kybernetik Kybernetik kann – nach einem ihrer Gründerväter, dem Mathematiker Norbert Wiener, – ganz allgemein als „science of communication and control in animate and inanimate systems“ definiert werden. Kybernetik beschäftigt sich also mit der systematischen Erfassung von Kommunikations- und Steuerungsvorgängen in Systemen bzw. Organisationen aller Art, wobei vor allem Entscheidungs-, Regulierungs- und Kontrollmechanismen im Mittelpunkt des Interesses stehen22. Die erkenntnisleitende Grundannahme besteht dabei insbesondere darin, dass biologische, technische und soziale Systeme sich in gewissen Grundmerkmalen gleichen und in erster Linie durch Kommunikation im Sinne von Informationstransfers strukturiert sind. Der Schwerpunkt kybernetischer Analysen liegt daher auf den dynamischen Wechselwirkungen zwischen den strukturellen Elementen eines biologischen, technischen oder sozialen Systems bzw. zwischen dem System als ganzem und seiner Umwelt, gestützt auf die Analyse von Regelkreis-Mechanismen. Der Regelkreis ist gewissermaßen das zentrale Paradigma der Kybernetik, denn er ermöglicht die Selbststeuerung eines Systems durch permanente Rückkoppelung. Als klassisches und zugleich einfachstes Beispiel für die Funktionselemente eines kybernetischen Systems gilt die Schifffahrt (der übrigens auch der griechische Begriff des Kybernetes für „Steuermann“ entliehen ist), denn ein Schiff weist die wesentlichen Strukturelemente eines solchen Systems auf, nämlich den Kapitän (als Entschei22

Vgl. allgemein Kreibich, Wissenschaftsgesellschaft, S. 246–280.

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dungsinstanz), den Lotsen (Ist-Zustand-Ermittlung), den Steuermann (Soll-Zustand-Ermittlung) und den Antrieb (Ruderer, Motor etc. als Ausführungsinstanz). All diese Elemente ermöglichen das Zusammenspiel des Systems Schiff als Reaktion auf die „Umwelt“ Wasser. „Rückkopplung“ meint daher vor allem die Rückwirkung im Verlauf einer Wirkungskette: Negative Rückkopppelung bedeutet das Stoppen der Wirkung bzw. des Wachstums einer Variablen in der Wirkungskette, positive Rückkoppelung dagegen die Verstärkung der Wirkung – beide zusammen ergeben in ihrem Zusammenspiel den Regelkreis23. Die Idee des Regelkreises ist nun insofern von entscheidender Bedeutung, als dass darauf nicht nur das Prinzip eines immer wieder anvisierten Gleichgewichtszustandes des Systems im Sinne der Homöostase beruht, sondern damit auch die für das kybernetische Denken zentrale Vorstellung verbunden ist, dass offene Systeme lernfähig sind und ihre „Intelligenz verstärken“ können, da Informationen über die Wirkungen des eigenen Operierens gewissermaßen immer wieder (potentiell) rückgekoppelt werden und damit die nachfolgenden Operationen des Systems verstärkend oder abschwächend beeinflussen (können). Deshalb kann ein kybernetischer Ansatz trotz seiner Konzentration auf „Regeln“ des Operierens nicht im strikten Sinne als „deterministisch“ gelten, weil die Entwicklung des Systems immer kontingent verläuft und stark von der Information über seine eigenen Strukturen, von der Speicherfähigkeit dieser Informationen und von seinem wechselnden Verhältnis zur Umwelt abhängig ist. Grundsätzlich gilt daher, dass die Anpassungs- und damit Komplexitätsfähigkeit eines Systems davon abhängt, wie viel Information es aufnehmen und verarbeiten kann. Die Faszination dieses Denkmodells rührte dabei nicht zuletzt daher, dass mit seiner Hilfe die Steuerung hochkomplexer bzw. immer komplexerer Systeme möglich erschien und in technischen Anwendungsverfahren bereits erfolgreich umgesetzt worden war. So hatte bereits im Zweiten Weltkrieg – noch bevor Norbert Wiener die Kybernetik in seinen grundlegenden Studien der späten 40er Jahre mathematisch formuliert hatte – ein Heer von britischen Wissenschaftlern im Rahmen des so genannten operations research erfolgreich daran gearbeitet, Luftangriffe auf Deutschland nach Gesichtspunkten der Systemanalyse so zu koordinieren, dass sie durch die systemische Analyse einer Vielzahl von Faktoren wie Flughöhe, Anzahl der Flugzeuge, Wetterbedingungen, Lichtfaktoren usw. zur Entwicklung eines „optimal“ gesteuerten Angriffs gelangten24. Auf der Basis solcher technischer Umsetzungserfolge und seiner eigenen mathematischen Theoriebildung, die nicht zuletzt auf biologische Pionierstudien 23 Vgl. u. a. Felix von Cube, Was ist Kybernetik? Grundbegriffe, Methoden, Anwendungen, München 1971 u. ö., hier bes. S. 23–28. 24 Siehe dazu Thomas P. Hughes, Rescuing Prometheus. New York 1998, S. 146 ff. Dieser Aspekt verweist einmal mehr darauf, dass Zukunftsforschung in ihren Anfängen in erster Linie auf militärstrategische Studien und Szenarien, wie sie etwa in der amerikanischen RAND Corporation entwickelt wurden, zurückging.

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in den 30er Jahren von Ludwig von Bertalanffy zurückgingen, plädierte Norbert Wiener dann bereits 1950 in seiner an die Adresse der Sozialwissenschaften gerichteten Studie „The Human Use of Human Beings“ explizit dafür, dass künftig auch ganze Gesellschaften in Analogie zu offenen biologischen Systemen durch die Analyse ihrer Kommunikationskanäle verstanden werden müssten und sich die Sozialwissenschaften daher stärker als bisher auf solche Kommunikationsprozesse zu konzentrieren hätten25. Das hieß für ihn vor allem, die Vernetzungen zwischen Menschen und kybernetischen Maschinen (also in erster Linie Computern) bzw. deren Verbindungen untereinander genauer zu untersuchen, weil diese Vernetzungen die Zukunft in entscheidendem Maße bestimmen würden. Solche Ansätze fanden seit den späten 50er Jahren zunehmend Eingang in die Sozialwissenschaften und wurden von so prominenten Politikwissenschaftlern wie Karl W. Deutsch etwa in seiner einflussreichen Studie „The Nerves of Government“ von 1963 (die in der deutschen Fassung bezeichnenderweise explizit „Politische Kybernetik“ hieß) aufgegriffen und geradezu enthusiastisch propagiert26. Faszinierend erschien die Kybernetik daher vor allem in interdisziplinärer Hinsicht, da sie einerseits als eine „Metawissenschaft“ und zugleich als ein hochgradig anwendungsorientiertes Denkmodell dienen konnte. So betonte der bundesdeutsche Arzt und Kybernetikexperte Otto Walter Haseloff in seinem Vortrag zur „Kybernetik als soziale(r) Tatsache“ im Rahmen einer Sitzung der prominent besetzten Bergedorfer Gesprächskreise 1963: „Der kybernetische Grundansatz besagt nun, dass Erkenntnis nicht Ertrag einer außeralltäglich-kontemplativen Weltzuwendung und aufschließende Einsicht in schweigende Sinngefüge und Ordnungen ist, sondern einen Elementarprozeß darstellt, durch den offene Systeme Entropie vermeiden. Ein offenes System kann seine Erkenntnisaktivität auf ein anderes System richten. Dieses wieder kann deterministischen oder stochastischen Charakter besitzen. Indem es aber erkannt wird, tritt es mit dem erkennenden, dem kognitiven System in eine Kommunikation. Es gibt In25 Vgl. Norbert Wiener, The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society, Boston 1950 u. ö. (Deutsch: Mensch und Menschmaschine. Berlin, Frankfurt/M. 1952) bzw. seine grundlegende Studie Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge, Mass.1948. (Deutsch: Kybernetik: Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien 1963). Vgl. generell zum Einfluss der Kybernetik auf die Sozialwissenschaften auch Felix Geyer/Johannes van der Zouwen, Cybernetics and Social Science: Theories and Research in Sociocybernetics, in: Kybernetes 20 (1991), S. 81 f., und Geof Bowker, How to be Universal: Some Cybernetic Strategies, 1943–1970, in: Social Studies of Science 23 (1993), S. 108–115. 26 Karl W. Deutsch, The Nerves of Government. Models of Political Communication and Control. With A New Introduction. New York/London 1966 (Deutsch: Politische Kybernetik – Modelle und Perspektiven, Freiburg/Br. 1969. Vgl. zu den Beziehungen zwischen Kybernetik und (radikalem) Konstruktivismus auch Ernst von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt/M. 1996, S. 237–258.

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formation ab und antwortet auf die kognitive Exploration oft sogar dadurch, daß es durch Erkenntnis verändert wird. Damit gewinnt es dann die Funktionen eines reaktiven Systems, das mit dem erkennenden System durch Rückkoppelung verbunden ist.“27

Angesichts der hochgradigen Komplexität moderner Gesellschaften stellte sich daher die bohrende Frage nach der Stabilisierung bzw. der Schaffung effektiverer „Regelsysteme“, wie es beispielhaft der britische hohe Verwaltungsbeamte Sir Geoffrey Vickers 1974 in innen- wie außenpolitischer Hinsicht formulierte: „Das vorrangige Problem der Gegenwart liegt darin, wie aus den labilen, widerstreitenden Systemen, in denen wir leben, eine regierbare Welt von regierbaren Menschen zu machen sei – auf einer Ebene, die sich noch als möglich erweist. Dies erfordert eine Bestimmung, nicht nur der Regelkriterien, sondern auch der Gebiete, die des Versuchs bewusster Regelung wert sind, und der Kosten, die oft gleichermaßen unannehmbar erscheinen, wie die Regelung oder das Selbsteinpendeln dieser Gebiete.“28

Genau an dieser Frage entzündete sich die Problematik (politischer) Planung und Steuerung. Grundlegendes Paradigma dieses Planungsgedankens war der durch die kybernetische Systemtheorie unterstützte Gedanke „gesteigerter Rationalität“ durch umfassende Systemanalyse, der deshalb auch die neuen Ansätze der Zukunftsforschung auf allen Ebenen prägte. Die Kybernetik schien für die Umsetzung einer solchen „gesteigerten“ (System-)Rationalität vor allem deshalb so attraktiv, weil sie erstens eine Art universale Sprache scheinbar ohne festgefügte „ideologische“ Muster bereitzustellen versprach und sich zweitens vor allem auf mehr oder weniger kontingente Prozesslogiken konzentrierte, also nicht von festen Gesetzen, Substanzen oder (scheinbar) universalen Normen ausging, sondern vor allem Kommunikationsprozesse und deren Mechanismen in den Blick nahm und damit auf konkrete Anpassungsprozesse im Sinne politischer Praxis ausgerichtet werden konnte. Gerade diese Konzentration auf Informationsverarbeitungs- und Informationsspeicherungsprozesse machte sie zugleich offen für Simulationen, Planspiele und mögliche Entwicklungsmodelle29, die an die Stelle von postulierten Gesetzeslogiken treten konnten und damit komplexen Systemen weitaus besser gerecht zu werden versprachen. Diese grundlegende kybernetische Orientierung verweist zugleich auf einen wichtigen und charakteristischen Unterschied zu den Zukunftsmodellen und dem (utopischen) Zu27 Otto Walter Haseloff, Kybernetik als soziale Tatsache. Anwendungsbereiche, Leistungsformen und Folgen für die industrielle Gesellschaft, Hamburg/Berlin 1963, S. 18. 28 Vickers, Freiheit im kybernetischen Zeitalter, S. 24 f. 29 Vgl. dazu Manfred Stanley, The Technological Conscience. Survival and Dignity in an Age of Expertise. New York/London 1978, S. 148 ff. und Larry D. Wilcox: Futurology and the Social Sciences: Bloom and Boom or Gloom and Doom?, in: International Social Science Review 58 (1983), S. 202–210.

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kunftsdenken der Zeit vor dem Kalten Krieg, denn für das 19. Jahrhundert und die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg kann man grundsätzlich feststellen, dass so gut wie alle Zukunftsvisionen, Prognosen oder Utopien im wesentlichen der Logik von geschichtsphilosophisch oder evolutionstheoretisch grundierten Gesetzlichkeiten folgten. Das galt für voluntaristische Gemeinschaftsentwürfe eines Fourier oder Cabet ebenso wie für komplexe geschichtsphilosophische Entwürfe etwa eines Condorcet, Saint-Simon, Comte, Marx, Spencer, Wells oder auch Spengler, die bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen und Entwürfe diesem Grundmuster einer auf historischer Analogiebildung aufbauenden „Gesetzlichkeit“ historischer bzw. evolutiver Entwicklung verpflichtet waren und daraus prognostische Vorhersagen und konkrete Modelle historischen Fortschritts (oder Niedergangs) im Sinne einer mehr oder weniger linearen Teleologie ableiteten. Von diesem grundlegenden Paradigma unterscheidet sich, so die These, die Zukunftsforschung der 60er Jahre und damit auch ihr Zeitverständnis in prinzipieller Weise, weil der Gedanke historischer Gesetzlichkeiten und damit historischer Kontinuitäten als zentraler Referenzrahmen für Zukunftsentwürfe wie Prognosen zumindest in den westlichen Gesellschaften durch das neue kybernetische Leitbild grundlegend in Frage gestellt wurde, indem nicht mehr historisch grundierte Analogien, sonder primär naturwissenschaftlich inspirierte Denkmodelle ins Zentrum der Modellbildung rückten. Erst solche Modelle, so schien es den Zukunftsforschern, eröffneten konkrete Planungs- und Steuerungsperspektiven, die die Futurologie nicht mehr als utopische Schwärmerei erscheinen lassen, sondern als wegweisende wissenschaftliche Innovation auszeichnen würden. Welch Planungsoptimismus bei der Anwendung dieser Methoden dabei häufig zum Ausdruck kam, zeigt die Planungsphilosophie eines Planungsleiters beim bundesdeutschen Großunternehmen Messerschmidt-Bölkow-Blohm, der von der konkreten Systemplanung im Unternehmensbereich auf die allgemeine Planbarkeit der Gesellschaft im Sinne einer „störungsfreien“ Entwicklung schloss: „Wir brauchen uns vor der Zukunft nicht zu fürchten. Wir haben ausreichend Mittel und Methoden, unsere Zukunft zu bewältigen. Wenn Zukunftsforschung als echte wissenschaftliche Forschung interdisziplinär und von hierfür qualifizierten Wissenschaftlern betrieben wird, zeigt sie uns Wege, die zu einer vernünftigen Gesellschaft führen, Wege, die uns die störungsfreie Entwicklung unserer Gesellschaft garantieren.“30

Auch wenn solche Denkmodelle vor allem in Intellektuellenzirkeln wie beispielsweise dem Bergedorfer Gesprächskreis naturgemäß heftig in Frage gestellt wurden, konnte sich doch kaum ein Akteur der Faszination solcher Planungsleitbilder entziehen, zumal deren Erfolg (vor allem im Kontext umfassender 30 Heinz Busch, Planung, langfristige Zielvorstellungen und Zukunftsforschung, in: Gössner (Hg.), Futurologie – Zukunftsforschung, S. 15. Vgl. auch insgesamt ebda., S. 12 ff.

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Computerisierung) nicht nur im Bereich spektakulärer Techniken wie dem Raketenbau oder vielfältiger Automatisierungstechniken in der Industrie, sondern auch auf den Feldern der Büroorganisation und bei der Rationalisierung von Verwaltungsstrukturen offenkundig erschien31. Dass die Kybernetik durch die breite Computerisierung und damit verbundene Automatisierung besonders der industriellen Arbeitsstrukturen bereits eine „soziale Tatsache“ sei und die Zukunft durchaus auch im Sinne der Prägung eines neuen „Menschentypus“ bestimmen würde, war daher für die Advokaten dieses Denkens evident, musste aber scheinbar gegen eine Fülle traditioneller Denkmuster erst noch durchgesetzt werden – ein Gestus, in dem sich deutlich das klassische technokratische Modell einer scheinbar nur durch rational-wissenschaftliche Sachzwänge und nicht durch „irrationale“ politische Interessen geleiteten Politik spiegelt: „Man muß tatsächlich einfach damit beginnen, bestimmte Fragen rational anzupacken, unabhängig von Herrschaftsinteressen und ihren paratheoretischen Rechtfertigungen. Ich wiederhole meine These: Um die Maschine sammelt sich ein neuer Typus von Mensch, vielleicht mit andersartigen Vorurteilen, aber mit der Neigung zu experimenteller Haltung, zu formaler Analyse und zur rationalen Entscheidungshilfe. Diese Menschen werden im Grunde gefürchtet, denn diejenigen, die von ewigen Werten sprechen, fürchten, dass ein Windhauch kritischer Analyse diese verbalen Formulierungen sehr schädigen könnte.“32

Umgekehrt waren es gerade die massive Technisierung aller Lebensbereiche und damit die dramatisch gestiegenen Risiken, die eine erhöhte politische Kontrolle notwendig erscheinen ließen. Übertragen auf die globale Situation meinte daher auch der vielleicht prominenteste Advokat der Kybernetik in der Bundesrepublik Karl Steinbuch 1968 klassisch technokratisch: „Es ist anzunehmen, dass im Zustande der perfekten Technik der marktwirtschaftlich regelbare Anteil gegenüber dem notwendigerweise sozial geregelten Anteil vernachlässigbar sein wird. Das Individuum mit seiner Unberechenbarkeit und seinem nur scheinbar gebändigten Egoismus darf einfach die Schalthebel der perfekten Technik nicht in eigener Verantwortung betätigen. Die gegenwärtige Praxis mit den Atombomben ist symptomatisch für diese Notwendigkeit.“33 31 So wurden etwa die bürokratischen Strukturen oberster amerikanischer Verwaltungsbehörden nach dem bei RAND entwickelten PPBS („Programming Planning Budgeting System“) neu entwickelt – eine Entwicklung, die auch für die Bürokratieplanungen der Großen Koalition in der Bundesrepublik vorbildhaft war, allerdings bald an Umsetzungsgrenzen stieß. Vgl. dazu Ruck, Ein kurzer Sommer, S. 388 ff., auch insgesamt zur Planungs(diskurs)geschichte in der Bundesrepublik, bzw. Peter Krevert, Funktionswandel der wissenschaftlichen Politikberatung in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien, Probleme und Perspektiven im Kooperationsfeld von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Münster 1993, hier bes. S. 60 ff. 32 Haseloff, Kybernetik als soziale Tatsache, S. 100. Vgl. auch die höchst kontroverse und bisweilen polemische Debatte im Rahmen des Bergedorfer Gesprächskreises ebda., S. 42–132. 33 Karl Steinbuch, Falsch programmiert, Stuttgart 1968, S. 144. Vgl. zur Geschichte des technokratischen Denkens auch Stefan Willeke, Die Technokratiebewegung in

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Nur ein „kybernetischer Staat“ schien in dieser Perspektive einzig in der Lage zu sein, diese Risiken beherrschbar zu machen, ohne die Bedürfnisse der Menschen zu ignorieren oder in undemokratische Strukturen eines „technischen Staates“ zurückzufallen: „Diesem Modell des ,Technischen Staates‘ stellen wir das Modell eines ,kybernetischen Staates‘ gegenüber, bei welchem zwar die Funktionen bis zur höchsten Perfektion durchrationalisiert sind, aber keinem anderen Zweck dienen, als bewusste menschliche Ziele zu verwirklichen. Hierbei lassen wir uns nicht durch ,Sachzwänge‘ beirren. Der Mensch ist der Kybernetes all dieses politischen Geschehens, er gibt Maßstäbe und setzt Ziele.“34

II. Die „Kybernetisierung“ der Gesellschaft – Visionen der Zukunftsforschung Studien, die vorwiegend in den großen „think tanks“ der USA und Westeuropas betrieben und von ihren Kritikern deshalb als „Establishment“-Futurologie (ab-)qualifiziert wurden, tendierten vor allem dazu, vorrangig den Einfluss der neuen Technologien auf Wandel und Kontinuität der Wirtschafts- und Sozialstrukturen in hochindustrialisierten Ländern in den Blick zu nehmen und die post-industrielle Gesellschaft in erster Linie als eine hochgradig intern wie global vernetzte Informationsgesellschaft zu entwerfen35. Konkrete Voraussagen bezogen sich dabei vor allem auf die Bereiche der Atomentwicklung, der Entwicklung von Elektronik und Computern, der Automatisierung und der biotechnischen Entwicklungsmöglichkeiten und reichten dabei von Prognosen der breiten Computerisierung des Alltags und der ökonomisch-politischen Entscheidungsprozesse bis hin zu den globalisierenden Effekten der Satelliten- und Kommunikations-Techniken. Der Entwicklungsrahmen und Zeithorizont solcher Studien war angesichts der Kybernetik-Euphorie weit gespannt und sah erhebliche Entwicklungsgeschwindigkeiten bzw. -chancen besonders auf dem Gebiet der Raumfahrt und der biologischen Revolution voraus. So prognostizierten verschiedene (vor allem amerikanische) Studien bereits für das Jahr 2000 (zumindest potentiell) u. a. die alltägliche Nutzung der Atomtechnik im Haushalt, interplanetarische Reisen, bemannte Mondstationen, dauernd bewohnte Unterseestationen bzw. schwimmende Großstädte, die umfassende Roboterisierung der Alltagswelt, die teilweise Steuerbarkeit von Wetter und Klima, die direkte elektronische Kommunikation mit dem Gehirn (Gedächtnissteuerung, Schlafzu-

Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Eine vergleichende Analyse, Frankfurt/M. 1995. 34 Steinbuch, Falsch programmiert, S. 152. 35 Vgl. Katrin Gillwald: Zukunftsforschung aus den USA – Prominente Autoren und Werke der letzten zwanzig Jahre. WZB-Bericht P 90-106, Berlin 1990, und für Europa die verschiedenen Beiträge in Kreibich u. a., Zukunftsforschung und Politik.

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stände etc.), die extensive Anwendung von Cyborg-Methoden und schließlich ein hochentwickeltes Klonen von Tieren bzw. gentechnische Organ-Replikationen36. Der kybernetische Aspekt solcher Perspektiven bestand dabei in der Idee der Dynamik und permanenten Intelligenzverstärkung komplexer (technischwissenschaftlicher) Systeme, deren struktureller Wachstumslogik keine Grenzen gesetzt zu sein schienen. Allerdings bedeutete diese strukturelle Dynamik die Notwendigkeit einer erhöhten Anpassungsfähigkeit der Bevölkerungen an steigende wissenschaftliche und technische Standards, die nur durch eine erhebliche Expansion und zugleich Neustrukturierung des Bildungssystems zu leisten sein würde (wie etwa der bundesdeutsche Zukunftsforscher Karl Steinbuch immer wieder betonte). Zielten diese Studien primär auf den Wandel technologischer Systeme und ihrer Wirkung auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, so übertrug eine zweite Gruppe von Zukunftsstudien den kybernetischen Ansatz stärker auf das Feld der internationalen Politik und der transnationalen institutionellen Verflechtungen. Der Beitrag des norwegischen Soziologen und Mitbegründers der neu entstehenden Friedensforschung Johan Galtung auf der von ihm initiierten ersten großen internationalen Zukunftskonferenz „Mankind 2000“ in Oslo 1969 kann dafür als aussagekräftiges Beispiel gelten37. Auch sein Zukunftsentwurf war bis in die sprachlichen Formulierungen hinein insofern durch das kybernetische Denken geprägt, als nämlich die (historische) Entwicklungsdynamik vor allem auf die Fähigkeit zur Verarbeitung von (komplexen) Informationen zurückgeführt wurde. Dieser Logik folgend entwickelte Galtung ein evolutives Stufenmodell der Geschichte, das je nach Fähigkeit der Informationsverarbeitung und damit Komplexität von „primitiven“ über „traditionale“ und „moderne“ zu „neomodernen“ Gesellschaften reichte. Ein solches Modell schien nicht nur den Entwicklungsstand der „neomodernen“ (also postindustriellen) Gesellschaften erklären zu können, sondern machte auch das Anwachsen von weltweiten Konfliktlagen aufgrund zunehmender Kommunikationsvernetzung plausibel. Um diese erhöhten Konfliktpotentiale der immer stärkeren Konfronta36 Vgl. z. B. die RAND-Studie von Theordore Gordon/Olaf Helmer, Report on a Long-Range Forecasting Study, Santa Monica 1964 (Deutsch: 50 Jahre Zukunft. Bericht über eine Langfrist-Vorhersage für die Welt der nächsten fünf Jahrzehnte, Hamburg 1966), bzw. die Auflistung der wichtigsten denkbaren technischen Innovationen bis zum Jahr 2000 bei Herman Kahn/Anthony Wiener, The Year 2000. A Framework for Speculation on the Next Thirty-Three Years, New York/London 1967, S. 55 ff. (Deutsch: Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, Wien u. a. 1968) und allgemein zu diesen Ansätzen die Überblicksstudie von Thomas E. Jones, Options for the Future. A Comparative Analysis of Policy-Oriented Forecasts, New York 1980, S. 85–110 bzw. passim. 37 Johan Galtung, On the Future of the International System, in: Robert Jungk/ders. (Hg.), Mankind 2000, Oslo/London 1969, S. 19–41 (Deutsch: Johan Galtung, Über die Zukunft des internationalen Systems, in: O. K. Flechtheim (Hg.), Futurum, München 1980, S. 49–92).

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tion von „traditionalen“, „modernen“ und „neomodernen“ Gesellschaften dämpfen zu können, erschien das klassische Modell vollständig souveräner und hochgradig „egoistischer“ Nationalstaaten normativ immer weniger geeignet und musste daher durch trans- und supranationale Institutionen bzw. internationale Regierungsorganisationen ergänzt werden, um vielfältige Kommunikationsprozesse des Ausgleichs und der Konfliktbereinigung zu ermöglichen. Auch bei Galtung findet sich insofern das schon skizzierte kybernetische Denkmuster: Prozesse der Informationsrückkopplung und -vernetzung bewirken evolutive Sprünge gesellschaftlicher Komplexität, die sich strukturell von ihren Vorformen unterscheiden und damit neue Systemlogiken bilden. Das Grundproblem solcher neuer Handlungslogiken bilden die mit diesen Komplexitätssprüngen verbundenen Anpassungsprozesse der gesellschaftlichen Institutionen, die nur über eine verstärkte Zukunftsorientierung gelingen können. Der Co-Initiator von „Mankind 2000“, der in der Bundesrepublik wohl prominenteste und bekannteste Zukunftsforscher Robert Jungk, ging dabei noch einen Schritt weiter und stellte nicht nur die internationalen Machtstrukturen, sondern vor allem die in den hochentwickelten Gesellschaften bestehenden internen Herrschaftsstrukturen in Frage, indem er sie – wie eine ganze Reihe anderer kritischer Futurologen – in erster Linie für die Diskrepanz zwischen technisch-wissenschaftlicher Dynamik und politischer „Stagnation“ und damit für die erhöhten Risikopotentiale moderner Gesellschaften verantwortlich machte38. Eine grundsätzliche Kritik an den „etablierten“ Formen der „Futurologie“ der häufig regierungsberatenden „think tanks“ bestand dabei in dem Vorwurf, dass diese Form der Zukunftsforschung nur eine mehr oder weniger profunde Analyse kurzfristiger Entwicklungen betreibe und die beobachteten Trends der Gegenwart ohne „soziale Phantasie“ einfach in die Zukunft verlängere, wobei gerade hier die eigentliche „Zukunftsforschung“ im Sinne des Entwurfs von Alternativen zu bestehenden Herrschaftsformen einzusetzen hätte39. Was jedoch notwendig erschien, war ein Fundamentalwandel der Systemstrukturen, um die im Kern selbstzerstörerische Logik der wirtschaftlichen und militärischen Herrschaftssysteme, deren Dynamik die eigenen Steuerungspotentiale zu überwältigen drohte, bremsen und umkehren zu können. Die Intensivierung umfassender Gesellschaftsplanung im Sinne partizipatorischer Ansätze wurde vor diesem Hintergrund zum Leitbild. In „sozialkybernetischen Modellen“ sollte daher anders als in technizistischen oder ökonomischen Modellen die erhöhte Lern- und Steuerungsfähigkeit moderner Gesellschaften vor allem durch die Institutionali38 Vgl. dazu den Überblick der Ansätze Jungks bei Rainer Eisfeld, Konkrete Utopien einer menschengerechteren Gesellschaft: Robert Jungk, in: H. Heid u. a. (Hg.), Ökologische Kompetenz. Jahrbuch Bildung und Arbeit 1998, Opladen 2000, S. 283– 300. 39 Vgl. Dieter Senghaas, Rückblick auf die Zukunft. Futurologie und ihre Leerstellen, in: Neue Politische Literatur 13 (1968), S. 171–177.

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sierung von gesellschaftlichen und politischen Emanzipations- und Lernprozessen gewährleistet sein: „Die Effektivität eines Systems lässt sich steigern, und komplexe Leistungsvorgänge lassen sich wirksam steuern, wenn ein System nicht nur lernfähig ist, sondern überdies seine Lernfähigkeit erweitert, also zu lernen lernt. (. . .) Das Lernen des Lernens – ein reflexiver Mechanismus – steigert die Fähigkeit von komplexen Systemen, sich in komplexen Umwelten zu erhalten. (. . .) Die sozialkybernetische Analyse projiziert diese Beobachtung in den Bereich der Politik. Für sie stellt sich die Frage, inwieweit Gesellschaften und ihre politischen Systeme fähig sind, Selbstbewusstsein zu entwickeln und Selbstbewusstsein zu tolerieren sowie das Potential an Selbstregulierung zu erhöhen.“40

Politische und gesellschaftliche „Systeme“ konnten somit nur durch mehr „Planung“ im Sinne eines emanzipatorisch und partizipatorisch orientierten „Lernens des Lernens“ mehr Freiheit von repressiver Herrschaft und zugleich auch bessere (globale) Überlebenschancen entwickeln und garantieren. Konkret bedeutete dies ein stärkeres Engagement aller Bürger und Bürgerinnen „von unten“ z. B. in den von Robert Jungk ins Leben gerufenen „Zukunftswerkstätten“, in denen jeder seiner sozialen Phantasie freien Lauf lassen und neue Zukunftsideen ohne einschränkende Vorgaben entwickeln sollte41. So sehr viele dieser Ansätze durchaus wissenschaftskritisch argumentierten und sich von der naturwissenschaftlich inspirierten „Establishment-Futurologie“ abzusetzen suchten, so offenkundig ist doch andererseits der Umstand, dass auch und gerade die meisten Zukunftsszenarien dieser „alternativen“ Ausrichtung grundsätzlich das Problem der „Steuerbarkeit“ angesichts einer dramatisch gesteigerten globalen Entwicklungsdynamik zum Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Analysen machten und damit ebenfalls grundsätzlich kybernetisch argumentierten42.

40 Dieter Senghaas, Sozialkybernetik und Herrschaft, in: Atomzeitalter. Zeitschrift für Sozialwissenschaften und Politik 7/8 (1967), S. 397. Vgl. auch insgesamt ebda., S. 386–399. 41 Vgl. Eisfeld, Konkrete Utopien, passim, und zur Weiterentwicklung solcher Modelle konkreter Bürgerbeteiligung in der politischen Planung Peter C. Dienel, Die Planungszelle. Der Bürger plant seine Umwelt. Eine Alternative zur EstablishmentDemokratie, Opladen 1978. 42 Die Kritiker solcher Ansätze verwiesen dabei jedoch häufig zu Recht auf mehr oder weniger verborgene religiös-utopische Grundstrukturen, die sich bezeichnenderweise durchaus mit kybernetischen Ansätzen mischen konnten. Vgl. Helmut Schelsky, Planung der Zukunft. Die rationale Utopie und die Ideologie der Rationalität, in: Soziale Welt 17 (1966), S. 160.

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III. Leistungen und Grenzen der Zukunftsforschung für die Politikberatung Stellt man die Frage nach dem Stellenwert dieser im Kern international und interdisziplinär geprägten Zukunftsforschung im Hinblick auf Politikberatung, so können drei wesentliche Leistungen festgehalten werden: Erstens hat die Zukunftsforschung zur Formulierung (globaler) Problemlagen beigetragen. Kybernetisch gesprochen diente sie damit der Analyse des „Ist-Werts“ politischer Agenden, indem sie nicht zuletzt versuchte, die Koppelung von technischen Systemlogiken mit deren gesellschaftlichen Wirkungen genauer zu erfassen. Zweitens bestand die Leistung der Zukunftsforschung in der Formulierung von (alternativen) Zielvorgaben, sozusagen in der Feststellung von „Soll-Werten“. Dahinter stand die Forderung nach mehr Rationalität bzw. nach „objektiveren“ Standards für politisches Handeln auch und gerade in der Kritik an reiner Interessenpolitik. Insbesondere die oben geschilderten alternativen Ansätze sahen ihre wichtigste Aufgabe daher in der Entwicklung alternativer Systemlogiken und Denkmuster. Drittens liegt die Leistung der Zukunftsforschung in ihrer Vermittlung (politischen) Steuerungswissens in eine breitere Öffentlichkeit, denn die Arbeiten der Zukunftsforscher blieben nicht nur auf think tanks und Regierungsberatung beschränkt. Die Zukunftsforschung transferierte damit Expertenwissen synthetisierend (und zweifelsohne dabei häufig vereinfachend) in den öffentlichen Raum und trug so nicht unerheblich zu einer breiten Sensibilisierung der Öffentlichkeit(en) für die enorme Entwicklungsdynamik der modernen „Wissensgesellschaft“ und ihrer zunehmend globalen Dimensionen bei. Indem sie vielfältige, über mediale Multiplikatoren verbreitete „Erwartungshorizonte“ formulierte, führte sie ganz im Sinne einer self-fulfilling oder aber self-destroying prophecy dazu, dass kollektive Bedürfnisse im Hinblick auf die Zukunftsgestaltung öffentlich gemacht wurden (z. B. im Hinblick auf die Risiken von Großtechnologien) und damit auch Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse gewinnen konnten. Das Hauptproblem der Zukunftsstudien gerade auch im Hinblick auf ihre Relevanz für die wissenschaftliche Politikberatung war, dass sie dazu tendierten, den Regel- und Systemcharakter von Gesellschaften zu über- und damit die relative Autonomie individueller und kollektiver Handlungen zu unterschätzen. Eine Folge dieser Unterschätzung der relativen Autonomie von Akteuren und Institutionen gegenüber den (kybernetischen) Systemlogiken bestand daher auch in einem häufig diffusen oder sogar latent „totalitären“ Begriff sozialer Planung, der sich in den meisten Fällen kaum mit den komplexen Konfliktlagen von Interessengruppen in modernen Gesellschaften auseinander setzte, sondern entweder der Vorstellung einer „systemischen“ Steuerung durch Expertengruppen oder der zumeist ebenso diffusen Idee einer Demokratisierung der Steuerungshierarchien und -instanzen „von unten“ entsprach, wobei gerade die trans-

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national orientierten Studien überdies das Problem hatten, überhaupt die relevante Steuerungsinstanz angeben zu können. Aktuelle Studien zur politischen Planung begründen daher bezeichnenderweise die seinerzeit deutlich unterschätzten Grenzen der Planbarkeit von modernen demokratischen Gesellschaften gerade mit diesen komplexen Interaktionen von Interessengruppen und unterschiedlichsten öffentlichen Akteuren43. Der trotz der Entwicklung vieler innovativer Methoden in den 80er Jahren einsetzende relative Niedergang einer kybernetisch fundierten Zukunftsforschung hatte daher vor allem mit dem Grundproblem der Unterschätzung sozialer Akteure und den damit verbundenen „Kontingenzen“ des Systems zu tun, deren Bedeutung ja gerade anhand der Revolutionen in Osteuropa seit 1989 deutlich geworden ist. Zudem hat der Ausdifferenzierungsprozess der Großforschung den synthetisierenden Ansatz der Zukunftsforschung gewissermaßen eingeholt, denn gerade eine Fülle von Studien zur Selbstorganisationsforschung im Rahmen der Systemtheorie zeigten in den 80er und 90er Jahren, dass sich komplexe Systeme weitaus kontingenter und „chaotischer“ verhalten als lange angenommen44, wodurch längerfristige Voraussagen wie auch umfassende Planungsansätze immer unplausibler wurden45. Überdies hat der linguistic turn im Zusammenhang mit der Theoriebildung der Postmoderne zu einer bemerkenswerten Dekonstruktion von holistischen Modellen im Sinne einer (Ideologie-) Kritik an den großen „Narrativen“ der Moderne und ihrem „Eurozentrismus“ geführt, was zugleich einen tiefgreifenden mental-intellektuellen Stimmungswandel am Ende des Jahrhunderts im Kontrast zu den 60er und 70er Jahren reflektiert46. Ein umfassendes Leitbild für zentrale Bereiche der Politikberatung wie das der Kybernetik und der daraus abgeleiteten Planungsmodelle wird man daher heute vergebens suchen.

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Vgl. u. a. Axel Görlitz, Politische Steuerung. Ein Studienbuch, Opladen 1995. Vgl. Manuel Castells, The Information Age. Vol. 1: The Rise of the Network Society, Malden/Oxford 1996, S. 65, und Theodore J. Gordon, Chaos in Social Systems, in: Technological Forecasting and Social Change 42 (1992), S. 1–15. 45 Gegenwärtige Zukunftsforschung hat sich daher bezeichnenderweise entweder zu reiner Technikfolgenabschätzung oder aber zur weitaus weniger ambitionierten „Trendforschung“ entwickelt, versucht aber zugleich stärker als bisher, „paradoxe“ und gegenläufige Entwicklungstrends in ihren Szenarien zu erfassen und damit zugleich die Rolle sozialer Akteure stärker zu thematisieren. Vgl. beispielhaft Matthias Horx, Das Zukunfts-Manifest. Aufbruch aus der Jammerkultur, München 22000. 46 Vgl. Karl-Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hg.), Zukunft denken. Nach den Utopien (= Merkur 55, H. 9/10) Stuttgart 2001. 44

Hofnarren, Denkfabriken, Politik-Coach: Chancen und Schwierigkeiten der Politikberatung damals und heute* Von Carl Böhret I. Wir schreiben das Jahr 1513. Herr Nikolaus – ein bekannter Politikberater im einstweiligen Ruhestand – arbeitet am Manuskript eines neuen Buches. Er hat einige politische Freunde eingeladen und liest aus einem Kapitel vor, das sich mit den passenden Vorschlägen für Staatsmänner und deren Ratgeber beschäftigt. Nikolaus empfiehlt, dass der Herrscher „einen Kreis kluger Männer bilden und . . . diesen das freie Recht geben (müsste) . . . ihm die Wahrheit zu sagen“. Deren Meinung solle er über alles (Wichtige) einholen, seine Entscheidung sollte er aber danach selbst und nach eigenem Urteil treffen. Dabei habe er sich so zu verhalten, dass jeder der Ratgeber überzeugt sein kann, er sei umso willkommener, je freier er die Wahrheit sagt. Dann spricht Nikolaus die eigentliche Quelle für die Qualität der Beratung an. Er sagt: „Alle unsere . . . guten Ratschläge . . . müssen ihren Ursprung in der Klugheit des Herrschers haben und nicht die Klugheit des Herrschers ihren Ursprung in den guten Ratschlägen“, woraus folgt, dass „ein Herrscher, der nicht von sich aus weise ist . . . (auch) nicht gut beraten werden kann.“ Guten Rat zu geben, und nicht nur zu schmeicheln, das sei schon eine recht empfindsame Sache, meint Herr Nikolaus. Der Ratgeber könne seine Sache * Erweiterte und redigierte Fassung eines Vortrages im Südwestfunk, SWR 2-HF Wissenschaft am 13.08.00. Es sind viele persönliche Erfahrungen als Berater und im Beratungssystem eingeflossen. Die Literatur zur Politikberatung ist überaus umfangreich (geworden). Zum Nachlesen sollen hier nur wenige Publikationen genannt werden; in jenen werden weitere Hinweise gegeben. Clemens Ameluxen, Zur Rechtsgeschichte des Hofnarren, Berlin/ New York 1991; Carl Böhret, Politikberatung, in: M. Greiffenhagen u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Opladen, 1981, S. 305 ff.; ders., Reformen im Staat mittels Politikberatung? in: A. Blöcker u. a. (Hrsg.), Die Reformfähigkeit von Staat und Gesellschaft, Frankfurt u. a., 1997, S. 81– 96; Susanne Cassel, Politikberatung und Politikerberatung, Bern u. a. 2001; Klaus Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik, Göttingen 1966.

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aber auch nicht zu leidenschaftlich vorbringen. Denn der Ratsuchende dürfe sich nicht zu sehr bedrängt fühlen, und der Ratgeber müsse immer bedenken, dass er nur Vorschläge zu machen hat. Die ganze schwere Verantwortung für das Tun, das Unterlassen und die Folgen aus beidem verblieben beim Politiker. Sie haben schon gemerkt, von wem die Rede war. Herr Nikolaus ist in Wirklichkeit Niccolo Machiavelli und er trägt Einsichten vor aus eigenen Erfahrungen in der praktischen Politik. Wir könnten eine Fülle weiterer Beispiele für die historische Bedeutung der politischen Beratung nennen: die Bibel ist voll davon; denken Sie an Joseph von Ägypten, einige Propheten, oder die Klugheitsbücher. Im 13. Jahrhundert förderte und nutzte dann der Staufer-Kaiser Friedrich II. die Beratung durch Wissenschaft und breit gebildetes Verwaltungspersonal. Bei der Gründung der ersten Staatsuniversität in Neapel im Jahre 1244 sagte Friedrich: „Durch der Wissenschaft Trank und die Saat der Gelehrtheit, wollen wir viele Kluge und Einsichtige heranziehen . . . Gelehrte Männer fordern wir (deshalb) zu unserem Dienst heraus.“ Aber da wurde auch deutlich, was später Machiavelli und noch später Thomas Hobbes postulierten: Zum fähigen Herrscher erst zieht es auch die guten, die wissenschaftlich fundierten Ratgeber. Die Geschichte der Politikberatung ist ein wichtiger Teil der politischen Geschichte überhaupt. Die Funktion der Beratung und die Position der Berater, ihr Gewicht für die Ratsuchenden sind abhängig vom jeweiligen Herrschaftssystem, dessen kritische Reflektoren sie sind oder sein sollen, das sie ihrerseits beeinflussen – mehr oder weniger. Im Absolutismus gelten andere Beratungsverhältnisse als in der pluralistischen Demokratie. Vorab soll als Grundregel gelten: Je komplizierter und vielfältiger das Politikmachen wird, und je veränderungsbereiter die politische Führung ist, desto mehr benötigt und nutzt sie den kritischen Sachverstand der Ratgeber. Je selbstherrlicher und vereinfachender die Politik ist, desto eher beutet sie den Ratgeber aus oder degradiert ihn gar zum politischen Hanswurst. Wir erkennen also recht unterschiedliche Rollen und mehrfache Veränderungen in den Beziehungen von Ratgebern und Beratenen. Ich möchte nun die Herausbildung und das Verschwinden solcher Beratungsverhältnisse nachzeichnen und erklären. Jene Verhältnisse reichen von der oft seltsamen Rolle des Hofnarren im Mittelalter über die allmähliche Einrichtung wissenschaftlich basierter Beratungsgremien und regelrechter Denkfabriken bis hin zum Politik-Coach. In jeder Phase und in jeder Ausprägung des Beratungsverhältnisses kommt es zu typischen Spannungen. Diese sind zugleich ein Ausdruck von Machtverschiebungen, die ihrerseits gesellschaftliche und technologische Verhältnisse widerspiegeln.

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II. Ich beginne nun mit der seltsamen, aber durchaus gewichtigen Rolle der HofNarren des Mittelalters (auch Ameluxen 1991). An ihr lässt sich schon früh die Zwiespältigkeit des Ratgebens und des Ratsuchens verdeutlichen. Bei genauerer Betrachtung scheinen sich drei unterscheidbare Typen des HofNarren herausgebildet zu haben: Erster Typ: Die bekannte Rolle des plumpen Spaßmachers und Possenreißers, der an der Tafel rüpelhaft seine Witze auftischt – oft zu Lasten des „Apparates“, also der Hofschranzen. Die Sprache ist derb, der Inhalt entspricht durchaus dem intellektuellen Niveau der Kritisierten. Zweiter Typ: Die Rolle des spaßigen Nörglers als Ersatz für die fehlende kritische Öffentlichkeit. Der Narr wirkt als deren grobes Medium, als einer, der Probleme verdeckt umschreibt. Die Höflinge verstehen, wer und was gemeint ist. Dieser Narr ist eigentlich kein Experte, er gilt eher als Eulenspiegel, was er äußert, ist oft Hof-Klatsch; selten, was der eine oder andere draußen im Land denkt. Was der Narr unverblümt sagt, kann für ihn schnell gefährlich werden: er weiß nie genau, wie weit er gehen darf, denn die großen Herren sind unberechenbar. Und oft genug befolgen sie die närrischen Ratschläge betont nicht. Geht’s schief, ist auch der Narr schuld: so oder so. Der dritte Typ übernimmt die Rolle des eleganten Spötters und kritischen Ratgebers. Der Rat wird oft in witzige Rede oder Schlagfertigkeit eingebettet. Vor allem um die Mitte des 15. Jahrhunderts treten politisch einflussreiche und breit gebildete Hofnarren auf So etwa der Narr Kaiser Maximilians, Kunz von Rosen, der später zum Geheimen Rat avnacierte. Diese – oft ritterbürtigen – Hofnarren wurden auch an Staatsgeschäften beteiligt, sie beeinflussten die Gesetzgebung, Kameralbeschlüsse und Gnadenentscheidungen. Sie übten treffsicher und wirksam Kritik an öffentlichen Zuständen und politischen Maßnahmen. Die Hofnarren konnten also zwei unterschiedlich wirksame Rollen übernehmen: Zum einen konnten sie zum Funktionär der Obrigkeit degenerieren, ließen sich vom Herrscher für seine Zwecke benutzen und sogar missbrauchen. Die närrisch verbrämte Kritik zielte nicht ins Zentrum der Macht. Indem sie sich oft zynisch mit ungefährlichen Randerscheinungen beschäftigte, wirkte sie systemstabilisierend. Die vorgebrachte Narretei informierte nur unzureichend über Unzufriedenheiten und Hoffnungen. Zum anderen vermochten die gebildeten Narren durchaus systemverbessernde Funktionen zu übernehmen, insbesondere dann, wenn sie den zugestandenen

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Kritikspielraum allmählich erweitern konnten. Und zwar durch sprachlich übersteigerte, dadurch entlarvende Ironisierung. Dieser Narr brachte Informationen ein über Missstände im Lande oder sogar Hinweise über das Ansehen und Verhalten des Herrschers selbst. Er war insoweit eine frühe Form des Meinungsforschers. Seine Position war zwar nur zufällig als Gegenöffentlichkeit gedacht; aber sein Auftreten sollte schon „betroffen machen“ und dann wiederum durch das Ironische und Witzige befreiend wirken, wenn die Kritik noch nicht in die politische Landschaft passen wollte. Der Kritikspielraum blieb allerdings unklar und änderte sich rasch mit politischen Stimmungen, weshalb gerade dieser intelligente Narr immer den Verlust seiner Stellung riskierte. Wir können zusammenfassend feststellen: Je strenger – ja despotischer – der Herrscher, desto wichtiger – und zugleich gefährdeter – auch die Funktion des Narren als der einzigen geduldeten kritischen Stimme, die man offiziell doch nicht zu ernst zu nehmen brauchte. Der politische Handlungsspielraum des Herrschers wurde dadurch nicht wesentlich eingeengt. Die Kritik ließ sich leicht als närrisch zurückweisen. Freilich, das „ins Gewissen reden“ durch den Narren konnte mit der Zeit durchaus Wirkung zeigen. Die besondere Stellung dieser Hofnarren mit quasi-öffentlichen Beratungsfunktionen wurde nun gegen Ende des 17. Jahrhunderts durch die beginnende Aufklärung und durch zwei spezielle Entwicklungen beendet. Zunächst kam es zu verformenden Einbindungen der Narren mit einer Art Verbeamtung; es gab nun Narren im Haupt- oder Nebenamt, oft mit der Bestallung als „Narr am Hofe“ oder als „Kurzweiliger Tischrat“. Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. beschäftigte fünf „lustige Räte“ zur Aufheiterung seines berühmten „Tabak-Kollegiums“. Sein Sohn, Friedrich II., kündigte dann 1744 dem letzten „lustigen Rat“, dem Freiherrn von Pöllnitz. Das Hofnarrentum hatte sich funktional überlebt. Entscheidend für das Ende der Hofnarren-Rolle war jedoch eine mächtige, nicht mehr bekämpfbare Konkurrenz: nämlich die der Maitressen, die im 18. Jahrhundert die Hofnarren endgültig verdrängten. So sehr die Narren anfänglich auch noch die neuen Favoritinnen verspotteten, so schnell errangen und verteidigten diese ihre neue Position am Hofe. Die verbeamteten Hofnarren wurden schließlich nicht von den missgünstigen Höflingen, sondern von den politisch ambitiösen Nebenfrauen besiegt. Diese berieten nun auf ihre Weise die Fürsten und manche taten dies oft mit erstaunlichem Erfolg. Ein Beispiel für andere: Franziska von Leutrum, später württembergische Reichsgräfin von Hohenheim.

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III. Aber auch diese Nebenformen der direkten Politikberatung waren nur von kurzer Dauer, nicht generell verbreitet und – vor allem – sie entsprachen schon nicht mehr den wirklichen Bedürfnissen nach Beratung, die mehr als bisher Antworten auf epochale gesellschaftliche Veränderungen erhofften. Was in der Politik durchaus erkannt und angemahnt wurde. So kritisierte etwa Otto von Bismarck am Ende des 19. Jahrhunderts die mangelhafte Vorbereitung der Gesetze, weil man in den Ministerien überhastet arbeite und zu wenig Rat von außen oder von bestehenden „Beratungskörpern“ (wie dem Volkswirtschaftsrat) einhole. Er führte dies zurück auf die Missachtung der Ratgeber, aber auch auf Eifersüchteleien zwischen den Ministerien und auf die Machtvollkommenheit der Ministerialbürokratie. Die wissenschaftlich-technischen und die sozioökonomischen Rahmenbedingungen änderten sich im beginnenden Industrialismus schnell und grundlegend. Zugleich wurden die vorherrschenden monokratischen Herrschaftsformen allmählich rechtsstaatlich fundiert, pluralisiert und parlamentarisiert. Auch deswegen wurde der Beratungsbedarf der Politik vielfältiger, fachbezogener und hinsichtlich der wissenschaftlichen Fundierung anspruchsvoller. Neue Beratungsformen und Beratungsinstitutionen entwickelten sich. Kommissionen und Beiräte (wie z. B. der Reichswirtschaftsrat), aber auch wissenschaftliche Vereinigungen (wie die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft) wurden eingesetzt oder gegründet und begannen, auf recht unterschiedliche Weise die Politik zu informieren und Forschungsergebnisse praxisgerecht zu präsentieren. Aber so richtig los ging’s mit der wissenschaftlich basierten Beratung der Politik doch erst nach dem 2. Weltkrieg– in einer zunächst gespaltenen Welt; im „Kalten Krieg“, mit Problemen der Entwicklungsländer. Ohne Kommissionen, Beiräte und Sachverständige allüberall schien Ratlosigkeit einzukehren. Zum Prototyp der regierungsnahen Politikberatung wurde Anfang der 50er Jahre die RAND-Corporation mit ihren sicherheits- und militärpolitischen Analysen für die amerikanische Regierung. Immer wichtiger wurden dann auch die ursprünglich von privaten Stiftern gegründeten überparteilichen Think Tanks wie die Brookings Institution (in Washington) oder das American Institute for Public Policy Research. Da war sie nun plötzlich da, die große Innovation: nämlich die „Denkfabrik“. Hier wurden systematisch Ideen und Pläne produziert; und zwar etwas durchaus Praxisdienliches, eingeschoben zwischen regierungsinternen Berater-Kreisen und Wissenschaftlern an Universität und externen Forschungsinstituten. Das war faszinierend: Man konnte in Wissenschaftsnähe nützliche Vorschläge für die Politik erzeugen und die Denkprodukte dann gut verpackt in den politischen Entscheidungsprozess einbringen. Wissenschaftliche Erkenntnisse ließen sich

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aufbereiten, auf konkrete Fragestellungen der Politik hin neu fassen und für praktische Zwecke verwendbar machen. Die wissenschaftliche Vielfalt wurde konzentriert, zugespitzt und verständlich auf den „politischen Punkt“ gebracht, und zwar so, wie die Politik es gerade jetzt brauchte. Hier, in den USA der 50er Jahre, konnte die Denkfabrik heranwachsen und zum Modell für viele ähnliche Institutionen weltweit werden. Man erfand neue Denkweisen und neuartige Methoden, etwa zur Erhebung qualitativer Informationen – zu was die RAND Corporation beispielsweise die Delphi-Technik entwickelte und einführte. Es ging also um die professionelle Beratung der Politik durch spezialisierte außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, die vielfältige wissenschaftliche Zuarbeiten nutzten. Über eintausend sehr unterschiedliche Think Tanks bieten in den USA heute ihre Dienste an – allein auf Bundesebene. Und – manche globalisieren sich schon mit Außenstellen in Istanbul und Ostasien. Daneben gibt es noch einige tausend andere Beratungsgremien und regionale sowie verbandliche RatgeberInstitutionen existieren außerdem. Auch in Deutschland kam es zur Neugründung von Wissenschaftszentren, Akademien mit speziellen Forschungs- und Beratungsaufträgen sowie von Beratungseinrichtungen für bestimmte Gruppen von Ratsuchenden wie die der Städte oder wichtiger Interessengruppen. Neben den auf Dauer eingerichteten Sachverständigenräten, Serviceeinrichtungen und (wenigen) Denkfabriken, – z. B. wie das Wissenschaftszentrum Berlin oder die Europäische Akademie – gibt es periodische Kommissionen und Beiräte, die sich begrenzten Feldern widmen, gelegentlich auch nur einem Thema in vorgegebener Zeit. Beispielsweise die Expertenkommission zur Neuorganisation der Landesverwaltung („Auflösung der Bezirksregierungen“) in Rheinland-Pfalz oder dann die „Hartz-Kommission“ (2002). Greifen wir einmal drei typische deutsche Beispiele der organisierten Politikberatung heraus: Erstes Beispiel: 1963 wurde mit dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eine zentrale Beratungsinstitution für die Bundesregierung geschaffen. Die sogenannten „Fünf Weisen“ geben jährlich Einschätzungen zur wahrscheinlichen ökonomischen Entwicklung ab, nicht immer unumstritten. Dieses Gremium – eine Art kleiner Denkfabrik – hat sich als gewichtiger, wissenschaftlich fundierter Politikberater etabliert; flankiert von anderen Beiräten und einigen Forschungsinstituten, deren Stellungnahmen die Suche nach der angemessenen Wirtschaftspolitik unterstützen. Zweites Beispiel: Die rasante Entwicklung von Naturwissenschaften und Technologien führte in den siebziger Jahren auch zur Technikfolgenabschätzung. Leitinstitution wurde das US-amerikanische Office of Technology Assess-

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ment/OTA (1972–1996). Es dauerte in Deutschland 16 Jahre, bis 1989 das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) eingerichtet wurde, und seitdem mit TA-Studien und vielfältigen Beratungstätigkeiten erfolgreich arbeiten kann. Als die „Lebenswissenschaften“, insbesondere mit den gentechnischen Experimenten, eine immer wichtigere Bedeutung erlangten, reagierte die Politik mit einem Räte-Pluralismus: Beiräte, Enquete-Kommissionen, Ausschüsse zuhauf wurden eingerichtet, flankiert von öffentlichen Meinungsdisputen. Drittes Beispiel: Nach ersten Versuchen in den 70er Jahren wurde die Verwaltungsmodernisierung in den 90er Jahren zu einem großen Thema der Innenund Verwaltungspolitik. Anfänglich gab es – wieder einmal – viele dicke Gutachten, zumeist bestellt bei privaten Unternehmensberatungsgesellschaften, die sich mehr und mehr des öffentlichen Sektors annahmen. Daneben wurden aber spezielle Beiräte eingerichtet wie etwa die Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“, fortgeführt in Nachfolgeprogrammen der derzeitigen Bundesregierung (seit 1999 „Moderner Staat – Moderne Verwaltung“). Vor allem mit mehreren erfolgreichen Modernisierungskommissionen oder Projektgruppen in den Ländern – nicht zuletzt in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein – wurden Reformkonzepte entwickelt und umzusetzen versucht. Dabei kam und kommt es nicht nur darauf an, ein gutes Konzept zu entwickeln, sondern vor allem auch darauf, erfolgreich Wege zu dessen Verwirklichung vorzuschlagen. Denn vielfältig sind hier die hinhaltenden Widerstände und besser-wissenden Interessen. Die Modernisierungsratschläge sollten also auch die angemessenen Realisierungswege zeigen, Erprobungswege eröffnen und die erfolgreiche Umsetzung prüfen, woraus die Berater wiederum zu lernen vermögen. Dazu gehört es auch, die Betroffenen auf die neuen Ideen einzustimmen, ja sie dafür zu begeistern. Guter Rat muss sich also auch um die Implementierung und Evaluierung kümmern. IV. So ist das Bild der Politikberatung also auch bei uns recht vielfältig geworden und es wird immer undurchschaubarer, zumal da auch noch private Consultingfirmen und Spontan-Berater dazustoßen. Hierin drückt sich wiederum dreierlei aus: Zum einen findet die Beratung statt in pluralistischen Gesellschafts-Strukturen, mit vielfachen Interessen und Ansprüchen, die sich auch in vielfältigen Beratungsangeboten – also ebenfalls pluralistisch – niederschlagen. Zum andern erfordern die komplizierten Sachlagen immer mehr wissenschaftlich fundierte Datenerhebungen, Systemanalysen und Zukunftsabschätzungen. Wir sagen:

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komplexe Sachverhalte können nicht unterkomplex behandelt werden. Zum dritten muss die Politik angesichts ihrer zunehmenden Einbettung in die weltweiten Öffnungen den erfolgreichen Spagat zwischen nationalen Interessen und internationalen Herausforderungen („Glokalisierung“) versuchen und dabei auch auf die wissenschaftlichen Berater vertrauen können. Das alles erklärt, warum auf Politikberatung nicht verzichtet werden darf; aber auch, warum das Verhältnis zwischen den neuen Beratern und der Politik immer wieder angespannt ist oder kritisch werden kann. Da geht es gelegentlich auch mal darum, „Zeit zu schinden“, wenn man ein Gutachten vergibt, dessen Erstellung eben lange dauert. Oder es geht um Feigenblätter der Art: „die Kommission hat das ja auch gesagt“, oder es geht um Stolz: „Schaut, wir haben viele hochrangige Berater – und ihr nicht!“ Oder auch: „Wir haben drei wissenschaftliche Beiräte, und alle sagen etwas anderes; deshalb machen wir, was wir schon immer wollten – oder eben nichts“. Die Ratsuchenden werfen den Beratern schon mal vor, dass sie deren Argumente und Sprache nicht verstehen und dass sie dort einen Drang zu oft abartigen Neuerungen verspürten. Auch, dass bei den Beratern gelegentlich Scharlatane und Absahner aufträten statt der erwarteten soliden Ratgeber. Zwar ist man nicht immer gefeit gegen Schmeichler, aber man wird lernen, sich vor ihnen zu hüten. Machiavelli empfiehlt, zu verdeutlichen, dass man sich nicht gekränkt fühle, wenn kluge Berater die Wahrheit vortragen. Die Berater meinen ihrerseits, dass bei der ratsuchenden Politik eine gefährliche Vorliebe für einfache und schnell wirkende Rezepturen vorherrsche. Auch würden gelegentlich Informationen bewusst vorenthalten. Schließlich vergehe zu viel Zeit bei der umständlichen Verwirklichung der Ratschläge im politischen Prozess, so dass deren Gültigkeit abnähme. In jüngerer Zeit werden solche Klagen allerdings seltener. Beide Seiten haben gelernt, ergebnisorientiert miteinander umzugehen, ein Vertrauensverhältnis im Dialog zu schaffen. Gewiss, dieses Aufeinandereingehen ist noch nicht die Regel. Nach wie vor werden Aufträge erteilt, die nur das Handeln oder Unterlassen rechtfertigen sollen. Es gibt eben auch einen Markt der Gefälligkeiten, von dem beide Seiten profitieren mögen. Aber im Kern will die Politik von der Wissenschaft, den Denkfabriken und den Beratungsgesellschaften schon ein wenig Hilfe und Unterstützung. Vor allem der (echte) wissenschaftliche Rat wird durchaus ernsthaft erwogen und erteilt. Es ist noch immer eindrücklich, wie Thomas Hobbes (schon 1651) den idealen Politikberater charakterisierte: „Rat gibt man, wenn man . . . sagt: tue das oder tue das nicht; (und dabei) beabsichtigt, dass es dem Angeredeten zum Vorteil gereicht. Der Ratgeber erstrebt folglich das Beste für den anderen. Daher muss unstreitig eine der ersten Tugenden eines öffentlichen Ratgebers

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sein, dass seine Absichten . . . den Vorteilen des Staates nicht zuwiderlaufen . . . (es ist auch seine Pflicht) die wahrscheinlichen Folgen eines jeden Schrittes, der erwogen wird, deutlich genug darzustellen.“ Beide – Berater und Ratsuchende – kennen heute die wirklich bedeutsame Schnittstelle im Beratungsgeschäft. Und die heißt: Es gibt selten nur den einen wissenschaftlich erkennbar richtigen Weg, den die Politik dann zu begehen hat (technokratische Variante). Aber auch die vom Ratschlag losgelöste pure Politikentscheidung (Dezisionismus) ist selten vertretbar. Vielmehr müssen Berater und Beratene die großen Probleme miteinander wahrnehmen, besprechen und wechselseitig Lösungschancen finden (pragmatistischer Dialog). Beide – Berater und Beratende – sind immer mehr aufeinander bezogen, ja aufeinander angewiesen. Es sei nochmals daran erinnert: Die Entwicklungen hin zur Denkfabrik, die Ausdehnung von Sachverständigenräten und Modernisierungs-Kommissionen ist erklärbar aus den gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen einerseits und aus dem zunehmenden Druck auf die Politik, die sich abzeichnende Überlastungen und Fehlentwicklungen zu reduzieren, andererseits. Die Politik muss ihre Entscheidungen genau in dem Moment – möglichst gut beraten – treffen und dafür Verantwortung übernehmen, in dem das Dickicht der Möglichkeiten noch undurchdringlicher wird und die Folgen des Handelns noch unsicherer werden. Damit entwickelt sich eine neue Spannung: Berater und Ratsuchende unterliegen ähnlichen Behinderungen und sie geraten unter vergleichbaren Verantwortungsdruck. Beide müssen für die Folgen ihres Ratens und Handelns einstehen. Wir stellen also fest, dass die an sich erfreuliche Zunahme der Beratungsmöglichkeiten auch einige Schwierigkeiten mit sich bringen kann. Die Vielfalt des immer weiter wachsenden Beratungswesens, die Neugründung von Beratungsfirmen und die zunehmenden Angebote aus dem Wissenschaftsbetrieb, aber auch die von der Politik selbst eingesetzten Sachverständigengremien, verdichten häufig den Beratungsdschungel; woraus folgt, dass sich die Politik oft alleingelassen fühlt mit der Menge von Empfehlungen und redenden Gremien. Das ungute Gefühl wächst, dass die erhoffte Hilfe eher vernebelt statt zu klären. V. In dieser Situation der Vielfalt benötigt die politische Führung deshalb zusätzlich zu den Empfehlungen der Beratungsinstitutionen und zusätzlich zu den wissenschaftlichen Gutachten wieder den wirklich unabhängigen, den kritisch prüfenden Berater. Ja, es geht tatsächlich um die Wiederbelebung der traditionellen Hofnarren-Funktion, selbstverständlich der des dritten Typs. Jene alte

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Aufgabe des ernsthaften Narren kehrt auf höherem Niveau zurück, nämlich in Form der partnerschaftlichen Beratung der führenden Politiker nach Bedarf, also eines kritisch-fördernden Dialogs unter vier Augen. Ein solches Gespräch ergänzt, bezweifelt oder unterstützt die Ergebnisse sachverständiger Gremien und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dabei ist nicht nur der beratende politische Freund gefragt, sondern auch der ad hoc-Gesprächspartner aus der Wissenschaft und – zunehmend – auch der sogenannte Politik-Coach. Politisches Coaching ist der Prozess der Beratung durch den heutige HofNarren mit dem Ziel, auch persönliche und statusbezogene Probleme des Beratenen vertrauensvoll zu besprechen und potentielle Handlungsfolgen zu erörtern. Im Unterschied zur Beratung mittels Gremien und Denkfabriken – die weiterhin notwendig ist – handelt es sich hier um die intensive, sporadische und immer individuelle Gesprächssituation, in der auch persönlich kritisiert werden darf, in der auch der Narrenspiegel vorgehalten werden muss. Weswegen keine Öffentlichkeit hergestellt werden kann. Dieser moderne Hofnarr gibt also personenbezogene Handlungs- und Verhaltensratschläge, bespricht brisante Vorhaben, erläutert neuere wissenschaftliche oder technologische Erkenntnisse. Immer geht es darum, die politische Führungskraft in unsicheren Lagen oder vor wichtigen Entscheidungen individuell zu beraten. Das heißt oft nur: geplante Vorhaben auch aus anderer Sichtweise zu beantworten, zu bestätigen oder eben mit dem Zerrspiegel des Zweifels zu konfrontieren. Also ganz ähnlich, wie es die guten Hofnarren damals taten. Freilich, alles ist heute schwieriger, wissensbasierter, anspruchsvoller geworden. Dieser persönliche Ratgeber, der Neo-Narr, wirkt deshalb als eine Art Katalysator oder als kritische Frageinstanz, und er zwingt den Politiker zu prüfen, • ob dieser Agent des Wandels oder aber Stabilisator sein will, • warum etwas so – oder so nicht – erreicht werden kann, • wie es gelingen könnte, andere Personen (Mitarbeiter, Zaudernde, Gegner) dazu zu bringen, doch noch im erstrebten Sinne mitzuziehen, • wie der Beratene sich gar selbst verändern und weiterentwickeln müßte und könnte. Dennoch darf der neue Beratertyp des Politik-Coaches nicht Teil des Systems werden, in dem der Beratene agiert. Sonst verliert er die nötige Distanz und vermag nicht mehr unabhängige Kritik zu üben, die „dummen Fragen“ zu stellen und dem Ratsuchenden den virtuellen Narrenspiegel vorzuhalten. Wohl aber muss er die Welt des Beratenen durchschauen und so dessen Rolle wenigstens erahnen.

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Und – er muss den Beratenen als durchaus verletzbare Persönlichkeit begreifen. In dieser engen, wenngleich eher sporadischen Beratungssituation vor unterschiedlichen Bewertungshintergründen – brauchen beide Distanz und zugleich verstehende Nähe. Es muss immer berücksichtigt werden, dass jede Seite trotz wachsender Erfahrungen mit der anderen, letztlich in ihrem Milieu verbleibt. Aber gerade weil Identität nicht besteht, können Ratsuchende und persönliche Ratgeber wechselseitig profitieren: auch der Ratgeber lernt ja dazu. Und: „Wer anderen hilfreichen Rat erteilt, macht sich selber Freude . . . Wer (aber) guten Rat verachtet, muss teuer dafür bezahlen“ (Bibel, Sprichwörter, 12 und 13) Der neue Hofnarr sollte idealerweise nicht für seine Tätigkeit honoriert werden, auch das unterscheidet ihn von anderen professionalisierten Beratungsinstitutionen. Der Politik-Coach bleibt so von der Bürde des Beraten-Müssens verschont; er soll ja immer auch „gegen den Stachel löcken“ dürfen und das „hierstehe-ich“! beanspruchen können. Aber auch der Ratsuchende kann sich leichter trennen oder vorübergehend auf Gespräche verzichten. Von welchem Gesichtspunkt man auch die neuen Beratungsverhältnisse analysiert und interpretiert: es bleibt gerade in demokratischen Systemen eine Gratwanderung zwischen Transparenz und Intimität, zwischen ungeschützten Denkanstößen, persönlichem Rat und professioneller Beteiligung wissenschaftlicher Institutionen. Und es geht um ein ständiges Austarieren von praktischer Relevanz, wissenschaftlicher Stringenz und wechselseitiger Akzeptanz. Doch zurück zum Anfang. Wir erinnern uns an die recht modernen Thesen des Herrn Nikolaus – alias Niccolo Machiavelli – über die richtige Politikberatung aus dem Jahre 1513. Ein paar Jahre später schreibt Niccolo ein neues Buch; er hat die Zeit dazu, denn noch immer lebt er verbannt im einstweiligen Ruhestand auf einem kleinen Landgut in der Nähe von Florenz. Er besinnt sich auf seine eigene Beratertätigkeit, die ihm damals ja eher geschadet hat. Niccolo schreibt nun, dass sich die Ratgeber immer in der peinlichen Lage befinden, rücksichtslos das Wohl des Staates vertreten zu sollen, und dass sie dabei die eigene Position als Berater aufs Spiel setzen, wenn gerade der persönliche Rat nicht erfolgreich verwirklicht werden kann. Aber deswegen gar nichts zu raten, sei höchst verwerflich, weil das dem Land wie der Politik nichts nütze. Also bliebe das bescheidene, beharrliche und fundierte Ratgeben zugunsten des Allgemeinwohls, ob die amtierende Politik das nun sofort annehme oder nicht. Da klopft es an der Türe, ein Bote der wiedererstarkten Medici tritt ein. Man bitte Machiavelli sehr, seine Beratertätigkeit wieder aufzunehmen. Besonders interessiert sei man an Vorschlägen für eine florentinische Verfassung.

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Niccolo akzeptiert, packt sein neues Manuskript ein und macht sich auf den Weg nach Florenz. Auf gute Ratgeber kann man nicht verzichten; gute Ratgeber müssen warten können, bis die Zeichen günstig stehen.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Clemens Albrecht: seit 2002 Professor für Soziologie an der Universität Koblenz/Landau. Gegenwärtige Arbeitsgebiete: Formen und Folgen der Kleinkinderbetreuung; Entstaatlichungsprozesse. Wichtige Veröffentlichungen: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999 (mit G. C. Behrmann, M. Bock, H. Homann und F. H. Tenbruck); Politische Erziehung nach Auschwitz – aber welche? Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno, in: H. Erler (Hg.), Erinnern und Verstehen. Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 177–188; Vermarktlichung der Familie? Formen der Auslagerung von Erziehung, in: Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 18: „Alles käuflich“, 2002, S. 239–256. Dr. Detlef J. Blesgen: Referent im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Planungs- und Grundsatzabteilung). Veröffentlichungen: Erich Preiser – Wirken und wirtschaftspolitische Wirkungen eines deutschen Nationalökonomen, Berlin u. a. 2000; Konzessionen an den Barbarismus – John M. Keynes, Arthur Spiethoff und die Kanzlei Rosenberg, in: Schmollers Jahrbuch 121 (2001), S. 603–624; Soziale Utopien und politische Illusionen – Erich Preiser, Franz Oppenheimer und das „Dritte Reich“, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 222 (2002), S. 719–726; Art. „Freiburger Kreise“, in: W. Becker/A. Doering-Manteuffel/R. Morsey/G. Buchstab (Hg.), Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn 2002. Prof. Dr. Carl Böhret: seit 1975 Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer(DHV), seit 2001 emeritiert; Mechanikerlehre; Tätigkeiten in der Industrie und Verwaltung, in Verbänden und Politikberatung. Mitglied und Vorsitzender mehrerer Beiräte und Kommissionen, u. a. zur Modernisierung von Staat und Verwaltung, zur Folgenforschung und für Fortbildung. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Politik- und Verwaltungswissenschaft, zu Technik, Planung und Politik, zur experimentellen Rechtsetzung und zur Zukunftsforschung. Jun.-Prof. Dr. Frank Bösch: Juniorprofessor am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Buchveröffentlichungen u. a.: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart/München 2002; Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen 2002; Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945–1969, Stuttgart/München 2001. Forschungsschwerpunkte: Politik-, Kultur- und Mediengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Aktuelles Forschungsprojekt: „Die Politik der Sensationen. Skandal, Öffentlichkeit und Massenmedien im imperialen Deutschland und England“.

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Prof. Dr. Stefan Fisch: seit 1996 Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, insbesondere Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (DHV). Forschungsschwerpunkte: Stadtgeschichte, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, auch im deutsch-französischen Vergleich, Wissenschafts- und Technikgeschichte. PD Dr. Hans-Christof Kraus: Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wichtigste Publikationen: Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen, 2 Bde., Göttingen 1994; Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760–1831). Jurisprudenz, Universitätspolitik und Publizistik im Spannungsfeld von Revolution und Restauration, Frankfurt a. M. 1999; (als Herausgeber): Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten, Berlin 1995. Hauptarbeitsgebiete: Deutsche und englische Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts; Geschichte Preußens; Politische Ideengeschichte, Rechts- und Verfassungsgeschichte; Wissenschaftsgeschichte; Geistes- und Kulturgeschichte. Dr. Hans Peter Mensing: Historiker, seit 1988 Leiter des Editionsbereichs, seit 2003 kommissarischer Geschäftsführer der bundesunmittelbaren und überparteilichen Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus (StBKAH) in Bad Honnef/Rhöndorf; Bearbeiter der in der „Rhöndorfer Ausgabe“ erscheinenden Editionen aus dem Nachlass Konrad Adenauers; redaktionelle Betreuung der in der Reihe „Rhöndorfer Gespräche“ veröffentlichten Berichtsbände über die wissenschaftlichen Symposien der StBKAH. PD Dr. Gabriele Metzler: seit 2002 Privatdozentin am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen, Leiterin der wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe „Regieren im 20. Jahrhundert“ der Volkswagen-Stiftung. Publikationen zur Geschichte der internationalen Beziehungen und der britischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, zur Geschichte der Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts sowie zur Geschichte der Bundesrepublik, u. a.: Großbritannien – Weltmacht in Europa. Handelspolitik im Wandel des europäischen Staatensystems 1856 bis 1871, Berlin 1997; Internationale Wissenschaft und nationale Kultur. Deutsche Physiker in der internationalen Community, 1900–1960, Göttingen 2000; Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 57–103. Habilitationsschrift zur Geschichte politischer Planungskonzeptionen in der Bundesrepublik, Publikation i. V. (voraussichtl. 2004). Prof. Dr. Bernd-A. Rusinek: Prof., Neuere und Neueste Geschichte, Universität Freiburg. Arbeitsgebiete: Geschichte der Wissenschaft und Technik, Geschichte des Nationalsozialismus, Geschichte der Jugend, Geschichte der Bundesrepublik, Theorie und Methodologie der Geschichte. Forschungen zur Elitenkontinuität und zur Zusammenbruchsgesellschaft. Veröffentlichungen u. a.: Gesellschaft in der Katastrophe. Terror, Illegalität, Widerstand. Köln 1944/45, Essen 1989; gem. mit V. Ackermann u. J. Engelbrecht (Hg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit, Paderborn/München/Wien/Zürich 1992; gem. mit Volker Ackermann u. Falk Wiesemann (Hg.): Anknüpfungen. Kulturgeschichte – Landesgeschichte – Zeitgeschichte. Gedenkschrift für Peter Hüttenberger, Essen 1995; Das Forschungszentrum. Eine Geschichte der Kernforschungsanlage Jülich (KFA) von ihrer Gründung bis 1980, Frankfurt a. M./New York 1996; gem. mit

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Wilfried Loth (Hg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1998; gem. mit Alfons Kenkmann (Hg.): Verfolgung und Verwaltung. Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden und die westfälischen Finanzbehörden, Münster 1999. Dr. Wilfried Rudloff: Historiker, Forschungsreferent am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; Veröffentlichungen u. a.: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910–1933, 2 Bde. Göttingen 1998; Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms, in: Matthias Frese/ Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 259– 282; Verwissenschaftlichung von Politik und Verwaltung? Politikberatung in den sechziger Jahren, in: Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.), Das Wissen des Staates. Wissensbasierte Organisation in Verwaltung und Regierung, Baden-Baden 2004; Hauptarbeitsgebiete: Geschichte des deutschen Sozialstaates, Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert; Geschichte gesellschaftlicher Randgruppen; Geschichte des bundesdeutschen Bildungswesens. Gegenwärtiges Forschungsprojekt: „Wissenschaft, Politik und Bildungswesen in der Ära des bundesdeutschen Bildungsbooms (1957–1973). Untersuchungen zur Wandlung eines Politikfeldes“. Dr. Sabine Schleiermacher: Medizinhistorikerin, Forschungsstelle Zeitgeschichte im Institut für Geschichte der Medizin, Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften, Charité – Universitätsmedizin Berlin. Forschungsschwerpunkte: Eugenik/ Bevölkerungspolitik, Medizin im Nationalsozialismus sowie Politik, Struktur und Entwicklung des Gesundheitswesens im Nachkriegsdeutschland, insbesondere der SBZ/DDR. Publikationen: Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission, Husum 1998; Ärztinnen aus dem Kaiserreich. Lebensläufe einer Generation (gemeinsam mit Johanna Bleker), Weinheim 2000; Gesundheitswesen und Sicherung bei Krankheit und im Pflegefall. Einleitung: Rahmenbedingung für die Reorganisation des Gesundheitswesens. Die Sowjetische Besatzungszone und Berlin (gemeinsam mit Udo Schagen). In: Geschichte und Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 Hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und dem Bundesarchiv. Band 2, Besatzungszonen 1945–1949. Bandverantwortlicher: Udo Wengst. Bd. 2/1, S. 464–484 und 511–528. Dazugehörige Dokumente in Bd. 2/2 BadenBaden 2001. Dr. Alexander Schmidt-Gernig: bis vor kurzem Assistent am Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Ideengeschichte Westeuropas und der USA im 19. und 20. Jahrhundert, dabei vor allem auf der Geschichte des Bürgertums, des Reisens, des zeitgenössischen Kultur- und Gesellschaftsvergleichs, des Kulturtransfers sowie der Geschichte der Öffentlichkeiten und kollektiven Identitäten. Das aktuelle Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre in vergleichender Perspektive. Jüngste Publikationen u. a.: gem. mit Hartmut Kaelble und Martin Kirsch (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York 2002, darin: Einleitung, S. 7–33 und Ansichten einer „Welt-Zukunft“ – Westliche Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre als Beispiel einer transnationalen Expertenöffentlichkeit, S. 393–421; Die Presse als

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„vierte Gewalt“? – Politischer Skandal und die Macht der Öffentlichkeit um 1900 in Deutschland, Frankreich und den USA, in: Martin Kirsch/Anne G. Kosfeld/Pierangelo Schiera (Hg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft – Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002, S. 169–193; The „Philosophical World Journey“ in the Nineteenth Century as a Cultural Comparison: From Investigating the World to Exploring the Self, in: Martin H. Geyer/Johannes Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, Oxford 2001, S. 405–433. PD Dr. André Steiner: Leiter einer Forschergruppe am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Privatdozent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Potsdam. Arbeitsgebiete: Wirtschafts- und Sozialgeschichte der NSZeit und Nachkriegsdeutschlands sowie Entwicklung des Konsums seit der Industrialisierung. Publikationen: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999; Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Stuttgart/München 2004, sowie zahlreiche Aufsätze zur Wirtschaftsgeschichte der DDR, des Nationalsozialismus und zur modernen Konsumgeschichte. Dr. Winfried Süß: wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der LudwigMaximilians-Universität München. Aktuelle Veröffentlichungen: Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, medizinische Versorgung und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003; Kein guter Hirte? Probleme einer Galen-Biographie, in: Historisches Jahrbuch 123 (2003), S. 511– 526; „Wer aber denkt für das Ganze?“ Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Münster 2003, S. 349–377. Habilitationsprojekt zur Geschichte des westdeutschen Wohlfahrtsstaats in den 60er und 70er Jahren. Prof. Dr. Margit Szöllösi-Janze: seit 2001 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte, Historisches Seminar der Univiersität zu Köln. Buchveröffentlichungen u. a.: Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998; (Hg.), Science in the Third Reich, Oxford 2001. Arbeitet derzeit u. a. an einer Historisierung des soziologischen Konzepts der „Wissensgesellschaft“.