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German Pages 319 Year 2015
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Stiftungen zwischen Politik und Wirtschaft
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Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)
beiheft 66 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin
DOI
10.1515/9783110400007.fm
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Sitta von Reden (Hrsg.)
Stiftungen zwischen Politik und Wirtschaft Geschichte und Gegenwart im Dialog
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Dieses Papier ist alterungsbeständig nach din / iso 9706. Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Grafik und Druck, München isbn 978-3-11-039975-2 e-isbn (pdf) 978-3-11-040000-7 e-isbn (epub) 978-3-11-040012-0
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Inhalt
Einleitung: Stiftungen zwischen Politik und Wirtschaft // Sitta von Reden
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I. Stiftungen in Neuzeit und Moderne Stiften und Stiftungen im deutsch-amerikanischen Vergleich von 1815 bis 1945 // Thomas Adam Kinder unseres Viertels – Das islamische Stiftungswesen in Ägypten // Franz Kogelmann Jüdische Wohltätigkeit in Religion und Tradition sowie innerjüdischer Praxis in Deutschland seit dem Mittelalter // Elisabeth Kraus Stiftungen für die Blinden im osmanischen Damaskus. Eigeninteresse und Altruismus im islamischen Stiftungswesen // Astrid Meier Stiftungen in den protestantischen Reichsstädten der frühen Neuzeit // Gury Schneider-Ludorff
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II. Vormoderne Stiftungswesen Stifter in alttürkischen buddhistischen Texten aus dem 10. bis 14. Jahrhundert // Yukiyo Kasai
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Cities within Cities. Early Hospital Foundations and Urban Space // Peregrine Horden
_____ 157
Stadt und Stifter: Rechtshistorische Einblicke in die Struktur und Verwaltung öffentlicher Stiftungen im Hellenismus und in der Kaiserzeit // Kaja Harter-Uibopuu
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Stiftungen und politische Kommunikation in hellenistischen Städten // Sitta von Reden
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III. Stiftungen in der Gegenwart Der Stifter als Unternehmer: Parallelen und Unterschiede der Philanthropie im 19. und 21. Jahrhundert // Georg von Schnurbein
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Stiften als soziale Investition an den Grenzen der Sektoren // Volker Then und Konstantin Kehl
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Stiftungen und moderner Staat. Zur Genese und Argumentation einer Legitimitätsdebatte // Rupert Graf Strachwitz Die Autorinnen und Autoren
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Einleitung: Stiftungen zwischen Politik und Wirtschaft von Sitta von Reden
Schenken, Spenden und Stiften sind Praktiken, die Gemeinschaft bilden und insofern in nahezu allen Gesellschaften anzutreffen sind. Marcel Mauss hat in einer maßgeblichen Untersuchung das Phänomen der freiwilligen, aber moralisch verpflichtenden Gabe zwar als Charakteristikum vorstaatlicher Gesellschaften hervorgehoben, doch ist heute unbestritten, dass freiwillige Zuwendungen in Form von Spenden, Stiftungen und Geschenken auch in staatlichen Ordnungen weiter existieren und dort eine wichtige, bisweilen mit staatlichen Aufgaben konkurrierende Rolle spielen. 1 Weil durch Schenken, Spenden und Stiften materielle Güter und Leistungen vergeben werden, stehen sie auch mit anderen Tausch- und Verteilungsformen in Beziehung und Konkurrenz. 2 In der Gegenwart werden Spenden und Stiftungen häufig als Dritter oder non-profit-Sektor bezeichnet, der innerhalb einer Zivilgesellschaft neben dem Staat einerseits und Märkten andererseits eigenen Regeln folgt. Während die Wahrnehmung und gesonderte Betrachtung des Dritten Sektors wichtig ist, wird dennoch zu Recht betont, dass Stiftungen und Spenden Teile eines Ge-
1 Marcel Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l'échange dans les sociétés archaïques. Paris 1925. [Dt. Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt 1968]. Zur Erklärung des mittelalterlichen Stiftungswesen herangezogen von Michael Borgolte, Totale Geschichte des Mittelalters? Das Beispiel der Stiftungen. Antrittsvorlesung 2.Juni 1992, Humboldt Universität zu Berlin 1993; s. auch Ders., Einleitung, in: Ders., Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Berlin 2000, 7–11; hier 8; Sitta von Reden, Glanz der Stadt und Glanz der Bürger: Stiftungen in der Antike, in: GWU 63, 2012, 21–38. 2 Besonders bekanntermaßen bestand ein solcher Konflikt während des Zeitalters der Aufklärung, s. Hans Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts. Bd. I Geschichte des Stiftungsrechts. Tübingen 1963, 124– 169; Rupert Graf Strachwitz, Stiftungen – ein Paradox. Zur Legitimität von Stiftungen in einer politischen Ordnung. Berlin 2010. Aber auch stets noch in der Gegenwart, s. etwa zu dem erfolgreichsten europäischen Stiftungssystem Filip Weijkström/Stefan Einarssen, Foundations in Sweden. Their Role, Scope and Vision. Stockholm 2004, 10–14.
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10.1515/9783110400007.7
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flechts von Verteilungssystemen sind. 3 Im non-profit-Sektor zirkulieren Güter und entstehen Verbindlichkeiten, die potentiell auch über Staat und Markt verteilt bzw. in Anspruch genommen werden können. Welche Potentiale und welche Gefahren ergeben sich, wenn bestimmte Güter und Leistungen außerhalb staatlicher und marktwirtschaftlicher Institutionen verteilt werden? Diese Frage lenkt den Blick auf die dahinter stehenden Akteure und ihre Motivationen.. Stiftungen und Spenden gehen von einzelnen Personen aus, mit deren Namen, Vermögen und gestalterischem Anliegen sie im Regelfall über ihren Tod hinaus verbunden werden. 4 Sie stellen Privatkapital gesellschaftlich zur Verfügung und unterstützen Zwecke über jene staatlicher Verantwortung hinaus und unabhängig von marktwirtschaftlichen Bedarfssituationen. Die sozialen Verbindlichkeiten, die aus den Zuwendungen entstehen, können Stiftungen und Stifter allerdings für sich in Anspruch nehmen. Sie schaffen dadurch Bindungen und gebundenes Kapital, das dem staatlichen Zugriff bzw. marktwirtschaftlichen Regeln entzogen ist. Dieser Umstand bedingt Vor- und Nachteile. Die Wirtschaftsgemeinschaften, die vom Stiften und Spenden ausgehen, mögen von wohltätigen und gestalterischen Intentionen, ethischen und religiösen Normen oder menschlichem Altruismus motiviert sein, sie sind jedoch aus unterschiedlichen Gründen äußerst machtanfällig. 5 In diesem Band sind Beiträge versammelt, die sich den komplexen und widersprüchlichen Bedeutungen des Stiftens im globalen Vergleich nähern. Sie gehen aus einer Tagung an der Universität Freiburg im März 2011 hervor, bei der unter dem Titel „Stiftungen – ein Dialog zwischen Geschichte und Gegenwart“ die Möglichkeiten und Chancen eines solchen Dialoges erprobt werden sollten. Bewusst kamen hier auch Praktiker des Stiftungswesens und Stifter selbst zu Wort, um Verbindungen zwischen der reichhaltigen historischen Stiftungsforschung und der Stiftungspraxis herzustellen. Dass institutionalisierte Formen des Gebens und damit auch 3 Frank Adloff/Philipp Schwertmann, Leitbilder und Funktionen deutscher Stiftungen, in: Frank Adloff/ Philipp Schwertmann/Rainer Sprengel/Rubert Graf Strachwitz, Visions and Roles of Foundations in Europe – The German Report. Heft 15. Berlin 2004, Helmut K. Anheier/Volker Then, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Eigennutz und Gemeinwohl. Neue Formen und Wege der Gemeinnützigkeit, Gütersloh 2005, 15ff.; Taco Brandsen/ Wim van de Donk/ Kim Putters, Griffins or chameleons? Hybridity as a permanent and inevitable characteristic of the third sector, in: International Journal of Public Administration 28, 2005, 749–765; s. unten Then/Kehl in diesem Band. 4 Borgolte, Einleitung (wie Anm.1), 8. 5 Jürgen Kocka/Manuel Frey, Einleitung und Ergebnisse, in: Dies. (Hrsg.) Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19.Jh. Zwickau 1998. 15; von Reden, Glanz (wie Anm.1); Strachwitz, Stiftungen (wie Anm.2).
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Stiftungen und Spenden in fast allen Gesellschaften zu finden sind und bis heute eine Rolle spielen, wird immer wieder betont und ist angesichts der Bedeutung des Gebens für Gemeinschaftsbildung nicht weiter überraschend. 6 Dagegen steht bei den Beiträgen dieses Bandes die Frage im Mittelpunkt, welche Unterschiede sich in verschiedenen Stiftungssystemen festmachen lassen und wie unterschiedliche politische, städtische, nationale und religiöse Kontexte die Stiftungspraxis beeinflussen. Sie nehmen im globalen Vergleich signifikante Unterschiede, individuelle Formen normativer und politischer Einbettung sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen von Stiftungen und Spenden im Horizont sich wandelnder Grenzen zwischen Markt, Staat und Gesellschaft in den Blick. Zeit- und kulturübergreifende Untersuchungen von Stiftungen, Stiftungswesen und Stiftungsmotivationen bergen eine Reihe von Komplikationen in sich. Zunächst betrifft dies den Stiftungsbegriff selbst. Michael Borgolte hat schon vor 25 Jahren die Problematik in einem grundlegenden Aufsatz verdeutlicht. 7 Borgolte unterscheidet einen rechtswissenschaftlichen Stiftungsbegriff, der historisch begrenzt ist und sich in europäischen Rechtssystemen des 19.Jahrhunderts entwickelte, von einem sozialhistorischen Begriff, der eine zeitübergreifende Stiftungsforschung möglich macht. Der europäische juristische Begriff war Resultat umfangreicher rechtswissenschaftlicher Diskussionen, die sich aus der Gegenwart, aber auch der spezifischen christlich-europäischen Tradition des Stiftungswesens ergaben. Typisch für die Stiftung als Rechtsinstitut war zunächst, so Borgolte, dass ein Stifter Teile seines Vermögens einem dauerhaften Zweck widmete. Dabei bleibt das Kapital (oder ein Gebäude) erhalten, während seine Zinsen oder Erträge verbraucht werden. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion stellte sich dabei die zentrale Frage die Frage, wie einer Stiftung der Status einer juristischen Person zugeschrieben werden könne, die mit Handlungsfähigkeit ausgestattet ist. Diese spezifische Problematik ziele jedoch in den zentralen Tatbestand, so Borgolte. Die Frage, wie sich der Stifterwille in einer unpersönlichen Anstalt ausdrücken lasse, deute auf die wesentliche
6 Michael Borgolte, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.) Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne. Berlin 2005, 9–21. 7 Michael Borgolte, Die Stiftungen des Mittelalters in rechts-und Sozialhistorischer Perspektive, in: ZRG KA 74 (1988), 3–22. In einer späteren Publikation betont er allerdings, dass man viel mehr nicht sagen kön-
ne, als dass bei der Stiftung Güter zur Verfügung gestellt werden, die bestimmte Leistungen auf längere Frist ermöglichen sollen. S. Borgolte, Einleitung, (wie Anm.6), 10. Zum Definitionsproblem auch Strachwitz, Stiftungen (wie Anm.2), 28–41, und Strachwitz in diesem Band.
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Bedeutung des persönlichen Willens des Stifters für eine Stiftung und für die Bindung der Stiftung an diesen Willen über dessen Tod hinaus hin. Im sozialen Kern der Stiftung liege ein persönliches Beziehungsgeflecht, nämlich zwischen Stiftern, Stiftungsberechtigten und Stiftungsorganen. Im Mittelalter war diese Beziehung über Generationen hinweg möglich, weil eine Person über den Tod hinaus als lebendig und gegenwärtig betrachtet wurde. Erst als dieses Denken verloren ging, mussten neue Formen gefunden werden, den verpflichtenden Stifterwillen abstrakt auf die Durchführung und den langfristigen Erhalt einer Stiftung zu beziehen. Der entscheidende Beitrag Borgoltes liegt in der Definition einer Stiftung als einer institutionalisierten, Generationen übergreifenden Beziehung, deren verpflichtende Bindung im Sinne der anthropologischen Gabe als Tausch materieller und nicht-materieller Güter auf Dauer gültig bleibt. Für Borgolte steht der spezifische Funktionsmechanismus, der die Dauerhaftigkeit garantiert, nämlich die Erinnerung und Erinnerungspflege des Stifters, im Mittelpunkt. 8 Dies hat sich in zahlreichen Einzelstudien und auch bei den Beiträgen dieses Bandes als erkennbares Grundmuster erwiesen. Dennoch bleiben in einer global orientierten Debatte Einzelfragen offen, die in diesem Band gezielt behandelt werden: Wie zentral zum Beispiel ist für die Definition einer Stiftung ihre Verfügung über materielle im Gegensatz zu nicht materiellen Gütern (Strachwitz)? Wie muss mit dem Umstand umgegangen werden, dass in vielen Gesellschaften die dauerhafte, rechtlich und organisatorisch geregelte Stiftung von einer einmaligen Schenkung zwar zu unterscheiden, aber nicht sprachlich abgegrenzt ist und auch in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht nicht sinnvollerweise von der Schenkung abgekoppelt werden kann (von Reden)? Wie geht man in der globalen Betrachtung damit um, dass im transatlantischen Vergleich ähnliche wirtschaftliche und politische Ziele mit Stiftungen einerseits und Spenden andererseits erzielt werden (Adam)? Und wie verträgt sich der Gedanke der langfristigen, sozial verpflichtenden Zweckbindung einer Stiftung, die durch die Erinnerung an den Stifterwillen aufrecht erhalten wird, mit der im islamischen Stiftungsrecht legitimen Praxis, Stiftungen auf Personen zu übertragen, die nicht in die Zweckbestimmung des Stifterwillens fallen (Meier)? Ein
8 Tillmann Lose, Vorwort zu Michael Borgolte, Stiftung und Memoria, Berlin 2012, v; Strachwitz, der Definitionen der Stiftung von ihren Funktionen herleitet, unterscheidet eine Schenkungs- Memorial- und Bindungsfunktion, s. Rupert Graf Strachwitz, Stiftungswesen, in: Thomas Olk/Birger Hartnuß (Hrsg.) Handbuch Bürgerliches Engagement. Weinheim 2011, 475.
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flexibler Umgang mit Stiftungsdefinitionen scheint angesichts dieser über das jüdisch-christliche Europa hinausgehenden Betrachtung sinnvoll. Eine zweite Komplikation ergibt sich aus der nicht universal anwendbaren Unterscheidung von privaten und öffentlichen Stiftungen. Wegen der öffentlichen Bedeutung von familiären Ritualen wie Begräbnissen, Eheschließungen oder Denkmalspflege ist in vielen, insbesondere vormodernen Gesellschaften eine solche Unterscheidung problematisch. Wie privat ist eine Stiftung, die einen Familien- und Totenkult an einem Grab im Interesse öffentlicher Wahrnehmung und Sichtbarkeit aufrecht erhält? 9 Inwieweit lässt sich eine Stiftung für Blinde, wenn diese Stiftung innerfamiliär auch an nicht Blinde vererbt werden kann, als öffentlich bezeichnen (Meier)? Inwieweit gilt dies für eine Stiftung, die der Verbreitung der religiösen Lehre dient (Kasai)? Und wie sinnvoll ist eine Unterscheidung von privat und öffentlich, wenn Stiftungen grundsätzlich religiösen und nicht staatlichen Zwecken dienen (Kogelmann)? Äußerst problematisch gestaltet sich schließlich eine Verbindung von Stiftungen mit Altruismus. In modernen Debatten wird häufig ein vermeintlich altruistischer Impuls als anthropologische Grundlage für die Verbreitung von Stiftungsund Spendenwesen unterstellt. In wirtschaftsethischen Diskussionen dient der homo philanthropicus oder homo ethicus als Gegenmodel zum wettbewerbs- und selbstorientierten homo oeconomicus des klassischen Marktmodells. 10 Seit der christlichen Spätantike war der gemeinnützige und fromme Zweck zur Erlangung des Seelenheils, die pia causa, nicht nur der Leitgedanke der Stiftung, sondern ließ sie auch rechtlich und konzeptionell von anderen Anstalten abgrenzen. 11 Viele moderne Stiftungszwecke können als philanthropisch oder gemeinnützig bezeichnet werden
9 Vgl. etwa Susanne Pickert, Sehnsucht nach Ewigkeit. Römische Stiftungen aus der Zeit des Augustus (27 v.Chr.–14 n.Chr.). Saarbrücken 2008; Bernhard Laum, Stiftungen in der griechischen und römischen Antike, Berlin 1914, 60–81, bezieht Stiftungen für Totenopfer, Gedächtnisfeiern und Grabschmuck in eine private und öffentliche Zwecke umfassende Kategorie der sakralen Zweckbestimmungen ein. 10 Etwa die Aufsätze in Helmut K. Anheier/Siobhan Daly (Hrsg.), The Politics of Foundations – A Comparative Analysis. London/New York 2007; Julian Nida-Rümelin, Homo oeconomicus versus homo ethicus. Über das Verhältnis zweier Grundorientierungen menschlicher Existenz, in: Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.) Ecce Homo! Menschenbild – Menschenbilder. Stuttgart 2009, 49–65. Rupert Graf Strachwitz, The Concept of Philanthropy (www.istr.org/resource/resmgr/wp2012/strachwitz_istr_concepts_of_.pdf; abgerufen am 11.6. 2014). Aus bioanthropologischer Perspektive gar Wolfgang Wickler/ Ute Seibt, Das Prinzip Eigennutz. München 1977. 11 Liermann, Handbuch (wie Anm.2), 23.
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und rücken das unternehmerische Eigeninteresse des Stifters, das einer Stiftung vorausgeht, in ein positiveres, weil altruistisches Licht (Schnurbein). In der Antike aber beispielsweise bestand kein Gegensatz zwischen Egoismus und Altruismus, und die Stiftung war auch nicht an humanitäre Zwecke gebunden. 12 Tauschbeziehungen, einschließlich solcher, die materielle Zuwendungen mit immateriellem Dank und Erinnerungsritualen austauschten, galten in ihrem Nutzen als strikt reziprok. 13 Der Gedanke einer gewissen Widersprüchlichkeit dieser Handlungsmotivationen entstand erst im christlichen Europa und polarisierte sich noch zunehmend mit der Entwicklung eines von politischen, religiösen und familiären Bindungen freien Individuums während der Aufklärung. In der modernen Stiftungsdebatte muss diese historisch gewachsene und keineswegs anthropologisch gegebene Gegenüberstellung von Altruismus und Egoismus wieder zusammen gedacht werden (Then/Kehl und von Schnurbein). Die Forschung zum historischen Stiftungswesen hat sehr unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und ist bestimmt von der Bedeutung, die Stiftungen in National-, Stadt- und Sozialgeschichten beigemessen wird. So ist das Stiftungswesen insbesondere im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Memorialkultur und gemeinnützigen Wohltätigkeit, ihrer Spital-, Kirchenstiftungen und Pfründe, der mittelalterlichen und neuzeitlichen Stadtforschung, der Entwicklung des europäischen Bürgertums bzw. amerikanischen Sozialsystems sowie in verschiedenen religiösen Kontexten, vor allem dem Islam, Judentum und Christentum in den Blick der Forschung geraten. Unterschiedliche Stiftungszwecke und ihre bedeutendsten Mäzene wurden umfangreich untersucht, so zum Beispiel Spitalstiftungen, Universitätsund Stipendien- sowie Kunst- und Kulturstiftungen. 14 Häufig wird in diesem Zu-
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So schon Hendrik Bolkestein, Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Utrecht
1939, 417; von Reden, Glanz (wie Anm.1). 13
S.etwa die Aufsätze in Christopher Gill/Norman Postlethwaite/Richard Seaford (Hrsg.) Reciprocity in An-
cient Greece. Oxford 1998; Beate Wagner-Hasel Der Stoff der Gaben. Kultur und Politik des Schenkens und Tauschens im archaischen Griechenland. Frankfurt 2000; von Reden, Glanz (wie Anm.1). 14
Zur mittlerweile umfangreichen Forschung, s. hier nur wichtige Sammelbände, Bernhard Kirch-
gässner/Hans-Peter Becht (Hrsg.), Stadt und Mäzenatentum. Sigmaringen 1997; Kocka/Frey, Bürgerkultur (wie Anm.5); Borgolte, Stiftungen (wie Anm.1); Borgolte, Stiftungen in Christentum (wie Anm.6); Thomas Adam/Manuel Frey/Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.) Stiftungen seit 1800: Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Stuttgart 2009; Borgolte, Stiftung und Memoria (wie Anm.8); das Themenheft „Stiftungen in der Geschichte“, GWU 63, 2012; die Aufsätze in dem rezenten Band von Barbara Schuler (Hrsg.), Stifter und Mäzene und ihre Rolle in der Religion. Von Königen, Mönchen, Vordenkern und Laien in Indien, China und
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sammenhang die gesellschaftliche Bedeutung stifterischer Tätigkeit an Zahlen gemessen, die nur begrenzt Auskunft über ihre Signifikanz für die Ausgestaltung von Gemeinschaften, sozialen Gruppen, Sozialsystemen und Räumen geben. 15 Problematisch ist die Konzentration auf die ökonomische Berechnung von gestiftetem Vermögen als Zeichen ihrer Bedeutung nicht nur, weil sie sehr unterschiedliche Organisationsformen freiwilliger Zuwendungen zur Grundlage nimmt, sondern auch, weil die Bedeutung von Stiftungen und Spenden häufig in ihrer Strahlkraft und sozialen bzw. räumlichen Wirkung und Anreizfunktion liegt, die nicht an ihre finanzielle Ausstattung gebunden sind. Dies macht eine Vielzahl der folgenden Beiträge deutlich. Der vorliegende Band kann und will sich nicht zur Aufgabe machen, die mittlerweile komplex erfassten Problematiken des Stiftungswesens umfassend abzubilden. Ziel ist es dagegen, den Blick für die konzeptionellen Herausforderungen, die sich einer vergleichenden Stiftungsforschung stellen, zu schärfen. Eine engere Anbindung der historischen Stiftungsforschung an politische, soziologische und betriebswirtschaftliche Debatten ist ein weiteres Anliegen und erwies sich während der Tagung als gegenseitiger Vorteil. 16 Die Gliederung des Bandes in drei Abschnitte – vormodernes, neuzeitliches und gegenwärtiges Stiftungswesen – ist dabei artifiziell, weil sich die Beiträge sowohl chronologisch als auch thematisch überschneiden. Dennoch scheint eine Einteilung entsprechend dieser Abschnitte aus zwei Gründen sinnvoll. Zum einen sind die methodischen Möglichkeiten der Forschung, die sich auf diese Epochen beziehen, unterschiedlich. Zum anderen ergeben sich in Bezug auf Vormoderne, Neuzeit und Gegenwart signifikant unterschiedliche Grenzen zwischen Staat, Markt und anderen gesellschaftlichen Einflussfaktoren, die Stiftungen und Gaben sehr unterschiedlich bedingen. Im Folgenden seien die Hauptgedanken der Beiträge in Kürze zusammengefasst. Thomas Adam vergleicht amerikanisches und deutsches Stiftungswesen vom Beginn des 19.Jh. bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Dabei zeigt er zunächst, dass der Dritte bzw. non-profit-Sektor unterschiedliches Stiftungs- bzw. Spendenverhal-
anderen Kulturen, Wiesbaden 2013, gehen gezielt über den jüdisch-christlichen-islamischen Religionsbereich hinaus. 15 Vgl. unten Adams in diesem Band. 16 Zeitübergreifende Diskussionen des Stiftungswesens setzen heute bestenfalls mit einem vermeintlich römischen Stiftungswesen an, s. etwa Borgolte, Einleitung (wie Anm.6); Strachwitz, Stiftungswesen (wie Anm.8) und Susanne Pickert, Sehnsucht (wie Anm.9).
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ten berücksichtigt und dies auch zu unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten in den jeweiligen Nationalgeschichten geführt hat. Da der non-profit-Sektor eng mit Staat und Markt in Verbindung stand, griffen bundes- bzw. nationalstaatliche Regierungen in den USA und Deutschland auf unterschiedliche Weise ein und leiteten Stiftungskapitalien in unterschiedliche Anlageoptionen. Auch wirkten beide mit unterschiedlichem Druck auf unterschiedliche Anlagefelder. Der Druck, der sowohl in den USA als auch in Deutschland auf Stifter und Stiftungszwecke ausgeübte wurde, zeige die große Bedeutung stifterischen Vermögens für den Staat trotz seines immer nur geringen Anteils am Sozialprodukt. Gleichzeitig argumentiert Adam gegen die verbreitete Ansicht, dass gestiftetes Geld und Ressourcen als totes Kapital verloren gehen, sondern sie ganz im Gegenteil durch ihre Beteiligung an Investitionen in den Finanzmärkten zur Entwicklung beider ökonomischen Systeme wesentlich beitrugen. Franz Kogelmann zeichnet in einem Langzeitüberblick die politischen Konfliktlagen des islamischen Stiftungswesens am Beispiel Ägyptens bis zur Gegenwart nach. Die islamische fromme Stiftung (waqf) war zunächst vom profanen Raum getrennt und wird bis heute von religiösen Fundamentalisten so verstanden. Allerdings kam es in der langen Geschichte islamischer Stiftungen immer wieder zu staatlichen Versuchen, sowohl die soziale Macht der Stifter als auch die Eigentumsverhältnisse der Stiftungen zu vereinnahmen. 17 Nach dem Militärputsch von 1952 wurden Stiftungen verstaatlicht und einem Stiftungsministerium unterstellt. Mit der Ablösung des sozialistischen Regimes unter Sadat und den Liberalisierungsversuchen Mubaraks wurde Wohlfahrt privatisiert, Stiftungen blieben jedoch dem Stiftungsministerium unterstellt. Seither versuchen radikale Islamisten, die die Wohlfahrt für sich vereinnahmt haben, auch die unabhängige religiöse Stiftung wieder herzustellen. Anhand des lange unter Publikationsverbot stehenden Romans des Nobelpreisträgers Naguib Machfuss, in dem eine Stiftung allegorisch im Mittelpunkt steht, macht Kogelmann die zentrale soziale und politische Bedeutung, Gestaltungskraft, aber auch die Probleme des Stiftungswesens in Ägypten deutlich. Ebenfalls in einem Langzeitüberblick nähert sich Elisabeth Kraus dem jüdischen Stiftungswesen vom Mittelalter bis ins 20.Jh. Jüdisches Stiften war eng mit der Diaspora verbunden, d.h. es entwickelte sich und kontrahierte entsprechend den 17
Vgl. auch Meier in diesem Band, die dies als einen umfassenderen Modernisierungsversuch islami-
scher Staaten insgesamt wertet.
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Zukunftsperspektiven jüdischer Gemeinden in Deutschland. Eine Hochphase erreichte das jüdische Stiftungswesen während des Kaiserreichs, als das gestiftete Vermögen jüdischer Gemeindeangehöriger im Verhältnis weit über den Anteil konfessionell jüdischer Deutscher an der Gesamtbevölkerung hinausging. Grund für die Bedeutung des Stiftens waren zum einen innerkonfessioneller Druck, zum anderen aber auch die Bedeutung des Stiftens als Vehikel jüdischer Selbstdefinition und Integration in das deutsche Bürgertum. Stiften im jüdischen Bürgertum war eine Integrationsstrategie, die sowohl innerjüdisch als auch interkonfessionell stattfinden konnte. In Astrid Meiers Fallbeispiel steht die Frage, inwiefern sich Stiftung und Staat, private und öffentliche, privat- und gemeinnützige Stiftungszwecke im islamischen Stiftungsrecht und Stiftungswesen voneinander trennen lassen, im Mittelpunkt. Im islamischen Stiftungswesen seien das eigene Seelenheil und die Erinnerung an den Stifter zentral und immer mit materiellen Zuwendungen verbunden. Gleichzeitig gelte es aber auch der Sorge um Bedürftige, wobei allerdings über die ewige Zeit, die eine islamische Stiftung aufrecht erhalten bleiben muss, die Zweckbestimmung sich ändern und die Stiftung von Familienangehörigen an einen gemeinnützigen Zweck übertragen werden kann und muss. Dabei betont Meier das Phänomen, dass Blinde im hanafitischen Recht deswegen eine umrissene Gruppe von Destinatären seien, weil sie über den Umweg, dass Blindheit meist Armut bedeute, den Armen zuzurechnen sind. Diese entsprechen als Gruppe dem Ewigkeitspostulat am ehesten, da es Arme unter allen Umständen und immer gebe. Der Zweck tritt hier also hinter anderen religiösen Stiftungsvorgaben zurück. Gury Schneider-Ludorff widmet sich den Transformationsprozessen des Stiftungswesens in der Reformationszeit. Luther hatte zunächst alle Stiftungen, die dem eigenen Seelenheil und nicht ausschließlich einem guten Zweck gewidmet waren, abgelehnt und von der Erlösung abgekoppelt. Dies führte zu einer veränderten Bedeutung des Stifters von einer Person, dessen Seelenheil im Tod die Stiftung diente, zu einer, die Vorbild für die Lebenden sein sollte. Neue soziale Identifikationsmuster und eine neue Durchdringung des bürgerlich-städtischen mit dem religiösen, d.h. protestantischen, Raum waren die Folge. Denn zum einen wurde die Stadtgemeinde, wie Schneider-Ludorff an der Ulmer Almosentafel zeigt, im Kirchenraum präsent, zum anderen schuf die Vorbildfunktion des Stifters eine neue Identität innerhalb der Stifter, da sie sich über die gute Tat als prinzipiell sozial offene Gruppe formierten. So kam es nicht nur zu einer neuen Stiftungskonjunktur in den protestanti-
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schen Reichsstädten, deren wichtigste Zwecke die Armenfürsorge und Stipendienstiftungen waren. Das neue protestantische Stiftungswesen profilierte auch gemeinsame Hintergrundsüberzeugungen des protestantischen Bürgertums und war über seine bildlichen und baulichen Ausdrucksformen eine prägende Kraft in den städtischen Gemeinwesen. Ein nahezu unbekanntes Stiftungswesen stellt Yukiyo Kasai vor. Hier handelt es sich um die Stiftung religiöser Textabschriften unter uigurischen Buddhisten, einer turkisch-sprachigen ethnischen Gruppe aus der mongolischen Steppe, die im 8.Jahrhundert Ost- und Zentralasien dominierte. Im 9.Jahrhundert gründeten die Uiguren ein Westuigurisches Königreich im Turfangebiet, das im 13.Jahrhundert unter mongolische Oberherrschaft geriet. Im Westuigurischen Reich nahmen die Uiguren den buddhistischen Glauben an, zu deren Verbreitung die Textstiftungen beitrugen. Einige Merkmale des uigurischen Stiftungswesens erinnern an andere religiöse Kontexte, so etwa, dass eine Stiftung dem Stifter religiösen Verdienst einbrachte, aufgrund dessen er legitime Ansprüche auf die Erfüllung seiner Wünsche gewann. Solche Verdienste waren auf seinen Wunsch auch auf andere übertragbar. Uigurische Stifter gehörten den obersten Schichten des Königreichs an, während mongolische Kaiser die Praxis übernahmen. So wenig von der uigurischen Stiftungspraxis bisher bekannt ist, zeigt sie doch den sozialen Prestigegewinn, der dieser religiösen Tätigkeit innewohnte. Zu fragen ist, welche sozialen Rückwirkungen dieses Prestige hatte und welche Funktionen die inschriftliche Veröffentlichung der Stiftung in der uigurischen Gesellschaft langfristig einnahm. Peregrine Horden lenkt die Aufmerksamkeit noch stärker als Schneider-Ludorff auf die gestalterische Bedeutung von Stiftungen im städtischen Raum. Das Hospital und die Suppenhäuser, mit denen Bischof Basilius von Caesarea im 4. Jahrhundert ein ganzes Stadtviertel in seiner Heimatstadt ausgestaltete, stellten nicht nur eine neue symbolische und geographische Präsenz der Kirche in Caesarea dar, sondern konnten in ihrer Sichtbarkeit und den neuen sozialen Zusammenhängen, die sie schufen, als Konkurrenz gegen den Kaiser in Konstantinopel und nachfolgende Bischöfe angesehen werden. Aber auch andere symbolische Hierarchien wurden im städtischen Raum durch Hospitalstiftungen, ihre bildnerische Darstellung oder die Erzählungen darüber hergestellt oder in Frage gestellt. Stiftungen in der vorchristlichen Antike waren unmittelbar mit dem städtischen Gemeinwesen, seinen symbolischen Ausdrucksformen und politischen Institutionen verbunden. Diesen Zusammenhang beleuchten die beiden Aufsätze von Kaja
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Harter-Uibopuu und Sitta von Reden. Harter-Uibopuu stellt die Funktionsfähigkeit von Stiftungen im Hellenismus und der römischen Kaiserzeit aus rechtshistorischer Perspektive dar. In rechtlichen Vorgaben, etwa der administrativen Trennung von Zweckumsetzung und Vermögensverwaltung, den Möglichkeiten der Popularklage gegen Zweckentfremdung oder der Beteiligung des Stifters an Umsetzung oder Finanzverwaltung, zeigen sich soziale und politische Probleme, die einer antiken Stiftung begegneten. Hellenistische und kaiserzeitliche Stiftungen waren eng mit den politischen Institutionen der Polis verbunden und Stifter überschnitten sich personell mit den Mitgliedern dieser Institutionen. Deswegen finden wir in verschiedenen Städten auch unterschiedliche, flexibel auf die politische Organisation der Stadt zugeschnittene Stiftungsverwaltungsstrukturen. Gleichzeitig reflektieren die besonderen rechtlichen Kontrollen von Stiftungen auch die politischen Konflikte, die eine Stadt prägten: zwischen Volk und politischen Gremien, zwischen den Honoratioren der Stadt und dem Volk als Destinatäre, zwischen Bürgerverbänden und Außenstehenden, Stiftern, städtischen Amtsträgern und römischen Provinzbehörden. 18 Die Bedeutung von Stiftungsurkunden innerhalb demokratischer Transformationsprozesse beleuchtet Sitta von Reden. Stiftungen für die Stadt, die sich im Hellenismus in großer Mehrheit auf die Ausrichtung von Festen, Sportwettkämpfen, Prozessionen und Kulten bezogen, waren entscheidend für das demokratische Selbstverständnis des Volkes. Deswegen betonen die inschriftlichen Stiftungsdekrete, die Stiftungsanträge, die den Beschlüssen vorausgingen und die Ehreninschriften, die Stifterstatuen beigestellt wurden, gerade auch den demokratischen Prozess, der eine Stiftung begleitete. In einer Zeit, als sich die Demokratie von einem politischen System zu einem sozialen Gemeinschaftsempfinden wandelte, wurden die demokratische Kontrolle von Stiftungen und die demokratische Einhegung der Macht des Stifters mit großer Emphase öffentlich zur Schau gestellt. Im letzten Teil kommen Vertreter anderer Disziplinen zu Wort. Georg von Schnurbein zeigt aus betriebswirtschaftlicher Perspektive, dass sich Stiftung, Wirtschaft und Markt gegenwärtig aufeinander zu bewegen. Schon im Zuge der Säkula-
18 Zu Letzterem s. auch Peter Herrmann, Kaiserliche Garantie für private Stiftungen. Ein Beitrag zum Thema "Kaiser und städtische Finanzen", in: Werner Eck/Hartmut Galsterer/ Hartmut Wolff (Hrsg.), Studien zur antiken Sozialgeschichte. Fschr. Friedrich Vittinghoff. (Kölner historische Abhandlungen 28) Köln 1980, S.339–356.
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risierung des Stiftungswesens während der Industrialisierung löste sich der Philanthropie-Begriff von seiner religiösen Normativität ab, was eine Ausweitung der Unterstützungsbereiche bewirkte. In einem sozialdarwinistischen Leistungsklima entstand im Namen der scientific philanthropy im 19.Jahrhundert die Überzeugung, dass Hilfe zur Selbsthilfe zu fördern und wirtschaftliche Eigenleistung der Unterstützungsgruppen zu belohnen sei. Über die stärkere Anbindung des Stiftungsgedankens an wirtschaftliche Leistung entwickelten sich in den letzten 100 Jahren Stiftungen von Vermächtnissen alternder Stifter hin zu Werkzeugen von Unternehmern am Höhepunkt ihrer Karriere (high engagement philanthropy). Damit ist eine größere Professionalisierung und Wirtschaftsorientierung operativer Stiftungen verbunden, die sich an Effizienz- und Leistungskriterien messen lassen. Gleichzeitig geht von der Professionalisierung und Wirtschaftsorientierung derzeit ein großer Philanthropieschub aus, dessen gesellschaftliche Resultate noch abzuwarten sind. Angesichts der Annäherung von Stiftungen und unternehmerischer Aktivität in der Gegenwart entwickeln Volker Then und Konstantin Kehl einen Begriff der „sozialen Investition“, der die Sektorengrenzen zu überwinden versucht und die zivilgesellschaftliche Legitimierung dieser Investitionen herausstellt. Gleichzeitig soll der Begriff die historische Analyse schärfen, indem er einerseits die moderne Ausdifferenzierung des Stiftungssektors überwindet und gleichzeitig Faktoren identifiziert, die den wandelnden Einfluss von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen auf soziale Investitionen erkennbar werden lässt. Then und Kehl fragen nach der Autonomie, die Stifter tatsächlich genießen, nach der sozialen Akzeptanz und Verbindlichkeit ihrer Stiftungszwecke, den Motiven, Erträgen und auch der Prozesslegitimität von Stiftungen, die zu dieser Akzeptanz führen können, sowie nach den Merkmalen von Stiftungszwecken, die nicht von anderen Organisationen übernommen werden können. Gleichzeitig hat das Konzept der sozialen Investition aber auch ein handlungsanleitendes Anliegen. Wie kann auf den Stiftungs- und Spendensektor eingewirkt werden, um seinem vergleichsweise geringen Anteil an nationalen Sozialprodukten gesellschaftliche und gestalterische Hebelwirkung zu verleihen? Hierfür scheint nach Then und Kehls Konzept ein besseres Verständnis der Wirkungszusammenhänge einer Stiftung sowie der Formen der sozialen Akzeptanz von sozialen Investitionen entscheidend. Auch Rupert Graf Strachwitz fragt nach der Legitimation von Stiftungen, die er als Politologe zunächst staatstheoretisch in den Blick nimmt. Das Dilemma – oder das Paradox der Stiftung, wie er es andernorts nennt 19 – bestehe darin, dass eine Stif-
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tung einerseits dem Gemeinwohl verpflichtet sei, sich andererseits aber dem demokratischen Willensbildungsprozess nicht unterordne. Dies führte in der klassischen Philosophie des 16.Jahrhundert zu einem Legitimitätskonflikt zwischen Stiftungen und Staat, insofern Stiftungen als innerstaatliche Wettbewerber auf exklusive Autoritätsansprüche angesehen werden konnten. Turgot kritisierte Stiftungen vehement, während Kant sich zumindest um eine theoretische Lösung des Konflikts bemühte. Noch im 19.Jahrhundert standen in Deutschland Hegel und Savigny Stiftungen mit Skepsis gegenüber, wenn auch in der politischen Praxis kompromisshafte Wege gefunden wurden, die den großen Aufschwung von Stiftungstätigkeit immerhin nicht behinderten. Allerdings schuf erst der Blick über den Atlantik ein Bewusstsein, dass Stiftungen mit Demokratie vereinbar sein können. Heute werden Stiftungen, trotz ihrer grundsätzlich hierarchischen Strukturen, demokratisch legitimiert, indem sie mit den Aktivitäten einer Zivilgesellschaft verbunden werden. Doch fordert Strachwitz, nach grundlegenderen Legitimationskriterien von Stiftungen in einer Demokratie zu suchen. Diese lägen zum Beispiel in der Entfaltung individueller – nicht zu verwechseln mit egoistischer – Gestaltungsfreiheit, die Stiftungen schaffen können, Partizipationsmöglichkeiten verschiedener sozialer Gruppen am Stiftungszweck und den Chancen demokratischer Gesellschaftsentwicklung, die Partizipation und Gestaltung schaffen, im Gegenzug zu der Partikularisierung von marktwirtschaftlichen Einzelinteressen. Zu Dank verpflichtet sind die Autoren den Teilnehmern, die die Diskussionen der Tagung mit Beiträgen aus der Stiftungspraxis erweitert, aber auf einen Aufsatz in diesem Band verzichtet haben. Dies sind Wolfgang Friedrich, Rektor der Stiftungsuniversität Hildesheim, Udo Schnieders von der Erzdiözese Freiburg und Christian Opelt, Stiftungsbetreuung des Bankhauses Donner & Reuschel. Zu danken ist auch Marietta Horster, Universität Mainz, Susanne Dick, Universität Kassel, und Susanne Lehmann-Brauns (vormals Pickert), Rektorat der TU München, die ebenfalls ihre Tagungsvorträge hier nicht veröffentlicht haben. Finanziell unterstützt wurde die Tagung durch einen großzügigen Beitrag des Bankhauses Donner & Reuschel München sowie der Universität Freiburg. Ein besonderer Dank gilt auch den Herausgebern der Beihefte der Historischen Zeitschrift, die die Publikation dieses interdisziplinären Sammelbands ermöglicht haben.
19 Strachwitz, Stiftungen (wie Anm.2).
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I. Stiftungen in Neuzeit und Moderne
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Stiften und Stiftungen im deutschamerikanischen Vergleich von 1815 bis 1945 von Thomas Adam
Forschungslage Es erscheint eine Ironie zu sein, dass es weder in den USA noch in Deutschland eine Stiftungsprofessur oder ein gestiftetes Forschungsinstitut gibt, das speziell der historischen Erforschung des Stiftungswesens gewidmet ist. Und wenn auch in beiden Ländern vereinzelte und isolierte Publikationen zum Stiften wie Ferdinand Lundbergs „America’s 60 Families“ (1938) im amerikanischen Falle 1 und Hans Liermanns „Handbuch des Stiftungsrechts“ (1963) im deutschen Falle 2 bereits aus den 1930er bzw. 1960er Jahren stammen, so ist die historische Beschäftigung mit dem Phänomen des Stiftens in beiden Ländern doch noch ein recht junges Forschungsfeld, dessen Anfänge sich in beiden Ländern mehr oder weniger auf die 1980er Jahre datieren lassen. In beiden Staaten war es die neoliberale Neuorientierung der Regierungen von Ronald Reagan und Helmut Kohl, die auch zu einer Intensivierung der historischen Forschungen über das Stiften führte, ohne dass dies in einer institutionellen und akademischen Verankerung dieses neuen und rasch expandierenden Forschungfeldes resultierte. Insofern mag es auch nicht verwundern, dass es immer noch gewaltige Wissenslücken sowohl über die Geschichte des amerikanischen als auch des deutschen Stiftungswesens gibt. Die historischen Forschungen zu Stiften und Stiftungen in den USA und Deutschland haben sich recht unterschiedlich entwickelt. Während im deutschen Falle die Beschäftigung mit dem Stiftungswesen im Wesentlichen aus stadtgeschichtlichen Ansätzen 3 und den Bielefelder Forschungen zum Bürgertum 4 hervorgingen, entwi1 Ferdinand Lundberg, America’s 60 Families. New York 1938. 2 Hans Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, Bd. 1: Geschichte des Stiftungsrechts. Tübingen 1963. Eine vor allem auf das Mittelalter bezogene rechtsgeschichtliche Studie liegt auch hier schon seit den 1930er Jahren vor: Dieter Pleimes, Weltliches Stiftungsrecht. Geschichte der Rechtsformen. Weimar 1938. 3 Bernhard Kirchgässner/Hans-Peter Becht (Hrsg.), Stadt und Mäzenatentum. Sigmaringen 1997; Thomas Küster, Alte Armut und neues Bürgertum. Öffentliche und private Fürsorge in Münster von der Ära Fürs-
DOI
10.1515/9783110400007.23
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ckelte sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Stiften in den USA zwar anfänglich auch in der Nähe zur amerikanischen Bürgertumsforschung 5; dann wandte sie sich jedoch von diesem klassenbezogenen Ansatz 6 ab und einem Forschungsansatz zu, der weniger das Stiften als vielmehr das Spenden in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellte und dieses als ein allgemeines alle Klassen und Schichten erfassendes Sozialverhalten definierte. 7 Im Gegensatz zur deutschen Forschungstradition, in der vor allem die Stifter und ihre Stiftungen im Mittelpunkt des Interesses stehen, geht es in amerikanischen Arbeiten vor allem um die Position und Funktion privater Wohltätigkeit im rechtlichen und politischen System des Landes. 8 Während im deutschen Fall die Erforschung des Stiftungswesens mit der Untersuchung
tenberg bis zum Ersten Weltkrieg (1756–1914). Münster 1995; Andreas Ludwig, Der Fall Charlottenburg. Soziale Stiftungen im städtischen Kontext (1800–1950). Köln/Weimar/Wien 2005. 4 Jürgen Kocka/Manuel Frey (Hrsg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19.Jahrhundert. Zwickau 1998; Thomas W. Gaehtgens/Martin Schieder (Hrsg.), Mäzenatisches Handeln. Studien zur Kultur des Bürgersinns in der Gesellschaft. Zwickau 1998; Manuel Frey, Macht und Moral des Schenkens. Staat und bürgerliche Mäzene vom späten 18.Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 1999. 5 Kathleen D. McCarthy, Noblesse Oblige. Charity & Cultural Philanthropy in Chicago, 1849–1929. Chicago/London 1982; Peter Dobkin Hall, The Organization of American Culture, 1700–1900. Private Institutions, Elites, and the Origins of American Nationality. New York 1982; Paul Dimaggio, Cultural Entrepreneurship in Nineteenth-Century Boston. The Creation of an Organizational Base for High Culture in America”, in: Ders. (Hrsg.), Nonprofit Enterprise in the Arts. Studies in Mission and Constraint. New York/ Oxford 1986, 41–61; David C. Hammack, Power and Society. Greater New York at the Turn of the Century. New York 1982; Frederic Cople Jaher, The Urban Establishment. Upper Strata in Boston, New York, Charleston, Chicago, and Los Angeles. Urbana 1982. 6 Eine Ausnahme von diesem Trend stellen die Arbeiten von Teresa Odendahl und Francie Ostrower dar. Teresa Odendahl, Charity Begins at Home. Generosity and Self-Interest among the Philanthropic Elite. New York 1990; Francie Ostrower, Why the Wealthy Give. The Culture of Elite Philanthropy. Princeton 1995. Siehe für eine deutsche Kurzfassung des letztgenannten Buches: Francie Ostrower, Philanthropische Aktivitäten New Yorker Eliten in den 1980er Jahren, in: Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich. Stuttgart 2009, 135–162. 7 So z.B. Kathleen D. McCarthy, American Creed. Philanthropy and the Rise of Civil Society. Chicago/London 2003. 8 Peter Dobkin Hall, A Historical Overview of Philanthropy, Voluntary Associations, and Nonprofit Organizations in the United States, 1600–2000, in: Walter W. Powell/Richard Steinberg (Hrsg.), The Nonprofit Sector. A Research Handbook. 2.Auflage. New Haven/London 2006, 32–65; Peter Dobkin Hall, Philanthropie, Wohlfahrtstaat und die Transformation der öffentlichen Institutionen in den USA, 1945–2000, in: Adam/Lässig/Lingelbach, Stifter, Spender und Mäzene (wie Anm. 6), 69–99; David C. Hammack, Making the Nonprofit Sector in the United States. A Reader. Bloomington/Indianapolis 1998; Lawrence J. Friedman/ Mark D. McGarvie (Hrsg.), Charity, Philanthropy, and Civility in American History. Cambridge 2003.
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der finanziellen Unterstützung von Kultureinrichtungen und hier vor allem den Kunstmuseen 9, die sich parallel und offenbar unbeeinflusst von Forschungen zu Sozialeinrichtungen entwickelte 10, einsetzte und sich von hier aus auf andere Gebiete wie das Bildungswesen ausdehnte 11, gab und gibt es im amerikanischen Falle nur eine geringe gegenseitige Beeinflussung, ja sogar eine bewusste intellektuelle und organisatorische Abgrenzung 12 der Forschungen zu den Stiftungen für Kultureinrichtungen 13 von den Forschungen über Sozialeinrichtungen und den Untersuchungen der Bildungseinrichtungen. 14 Insgesamt scheinen deutsche Historiker Stiften auf materielle und finanzielle Aufwendungen zu begrenzen, während amerikanische Historiker auch die nicht-materiellen Beiträge (volunteering) in ihre Analyse einbeziehen. Im Gegensatz zu deutschen Forschern, die sich vermehrt auf die großen, sichtbaren und gut dokumentierten Stiftungen vor allem des 19.Jahrhunderts konzentrieren, werden amerikanische Forscher wie Kathleen McCarthy und Peter Dobkin Hall nicht müde, darauf zu verweisen, dass Stiftungen in der amerikanischen Gesellschaft des 19.Jahrhunderts keine nennenswerte Rolle gespielt haben und auch im 20.Jahrhundert trotz der Millionen und Milliardenstiftungen von Andrew Carnegie, Henry Ford, John D. Rockefeller und Bill Gates nur eine marginale Rolle im Dritten Sektor spielen. So verwies jüngst Peter Dobkin Hall darauf, dass Stif-
9 Kocka/Frey, Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19.Jahrhundert (wie Anm.4). 10 Siehe zum Beispiel: Küster, Alte Armut und neues Bürgertum (wie Anm.3); Michael Eissenhauer, Die Hamburger Wohnstiftungen des 19.Jahrhunderts. „Ein Denkmal, welches theilnehmende Liebe gestiftet hat ....“. Hamburg 1987. 11 Jonas Flöter/Christian Ritzi (Hrsg.), Bildungsmäzenatnetum. Privates Handeln – Bürgersinn – kulturelle Kompetenz seit der frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2007. 12 So gibt es zwei akademische Organisationen mit Jahrestreffen und zwei Zeitschriften, die nebeneinander existieren und sich dessen auch kaum bewusst sind. ARNOVA und die Zeitschrift Nonprofit and Voluntary Sector Quarterly (NVSQ) konzentrieren sich auf die Erforschung der Unterstützung von Sozialeinrichtungen und Americans for the Arts und die Zeitschrift The Journal of Arts Management, Law and Society widmen sich vor allem der wissenschaftlichen Erforschung der Unterstützung von Kultureinrichtungen. 13 Dimaggio, Cultural Entrepreneurship (wie Anm.5); Judith Huggins Balfe (Hrsg.), Paying the Piper. Causes and Consequences of Art Patronage. Urbana/Chicago 1993; Kevin V. Mulcahy, “Vorsicht Kulturdarwinismus”. Die Grenzen des amerikanischen Systems der Kulturförderung, 1990–2006, in: Adam/Lässig/ Lingelbach, Stifter, Spender und Mäzene (wie Anm.6), 191–218. 14 Merle Curti/Roderick Nash, Philanthropy in the Shaping of American Higher Education. New Brunswick 1965; Howard S.Miller, Dollars for Research. Science and its Patrons in Nineteenth-Century America. Seattle 1970; Roger L. Geiger, To Advance Knowledge. The Growth of American Research Universities, 1900–1940. New York 1986.
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tungen im amerikanischen non-Pprofit-Sektor lediglich vier Prozent der Organisationen, vierzehn Prozent der Spenden und nur drei Prozent des Gesamtvermögens ausmachen würden. 15 Insofern mag es nicht verwundern, dass deutsche Historiker sich verstärkt auf das Schreiben von Stifterbiographien wie im Falle von James Simon, Eduard Arnhold, Henri Hinrichsen oder auch Henriette Hertz verlegt haben, 16 während amerikanische Historiker vermehrt strukturelle Studien vorgelegt haben, in denen die ganze Bandbreite des philanthropischen Engagements von der Mitarbeit in der Kirchgemeinde über religiöse und säkulare Vereine bis hin zum Stiften ausgebreitet wird. 17 Es gibt jedoch auch in der deutschen Forschungstradition in jüngster Zeit vermehrt strukturgeschichtliche Arbeiten, die Stiften im städtischen Kontext aber eben als klassenspezifisches Phänomen behandeln, ebenso wie in der Vergangenheit in der amerikanischen Forschungstradition Arbeiten entstanden sind, die Stiften als bürgerliches Verhaltensmuster analysierten. In beiden Fällen entstanden eine Reihe von strukturgeschichtlichen Studien zur Stiftungskultur in einzelnen Großstädten wie Boston 18 und Chicago 19 sowie Charlottenburg 20 und Hamburg 21. Und während die deutsche Forschung Stiften zu einseitig als ein männliches Verhaltensmuster beschrieben hat, gibt es im amerikanischen Falle mit den Arbeiten von Kathleen McCarthy entscheidende Ansätze, das stifterische Engagement von Frauen als eine Alternative zur politischen Emanzipation zu verstehen. 22
15
Diese Information stammt von Peter Dobkin Halls Rezension von Olivier Zunz, Philanthropy in
America: A History (2012), veröffentlicht auf [email protected] 15.Mai 2012. Verfügbar: https://list.iupui.edu/sympa/arc/arnova-l/2012–05/msg00017.html. 16
Olaf Matthes, James Simon. Mäzen im Wilhelminischen Zeitalter. Berlin 2000; Michael Dorrmann, Edu-
ard Arnhold (1849–1925). Eine biographische Studie zu Unternehmer- und Mäzenatentum im Deutschen Kaiserreich. Berlin 2002; Erika Bucholtz, Henri Hinrichsen und der Musikverlag C. F. Peters. Deutsch-jüdisches Bürgertum in Leipzig von 1891 bis 1938. London/Tübingen 2001; Julia Laura Rischbieter, Henriette Hertz. Mäzenin und Gründerin der Bibliotheca Hertziana in Rom. Stuttgart 2004. 17
So zum Beispiel: McCarthy, Noblesse Oblige (wie Anm.5); McCarthy, American Creed (wie Anm.7).
18
Dimaggio, Cultural Entrepreneurship (wie Anm.6).
19
McCarthy, Noblesse Oblige (wie Anm.5); Helen Lefkowitz Horowitz, Culture & The City. Cultural Phi-
lanthropy in Chicago from the 1880s to 1917. Chicago/London 1976. 20
Ludwig, Der Fall Charlottenburg (wie Anm.3).
21
Michael Werner, Stiftungsstadt und Bürgertum. Hamburgs Stiftungskultur vom Kaiserreich bis in den
Nationalsozialismus. München 2011. 22
Kathleen D. McCarthy, Women and Political Culture, in: Friedman/McGarvie, Charity, Philanthropy,
and Civility in American History (wie Anm.8), 179–197; Kathleen D. McCarthy, Parallel Power Structures:
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Mit Manuel Freys „Macht und Moral des Schenkens“ (1999) 23 und Olivier Zunz‘ „Philanthropy in America“ (2012) 24 liegen auch erste, wenn auch zum Teil umstrittene Versuche einer Gesamtdarstellung zur Geschichte des Stiftungswesens in beiden Ländern vor. Sowohl im amerikanischen als auch im deutschen Fall haben die umfangreichen Forschungen zur Geschichte des Stiftungswesens allerdings nur einen sehr begrenzten Einfluss auf die Nationalgeschichtsschreibung ausgeübt. In beiden Ländern kommen selbst sozial- und kulturgeschichtlich fundierte Standarddarstellungen zur jeweiligen Nationalgeschichte ohne Verweise oder Nennung von Stiftungen oder stifterischer Initiativen aus. Eine Integration der Forschungen zum Stiftungswesen in die jeweiligen Nationalgeschichten erscheint aber aus mehreren Gründen nötig und fruchtbringend. Stiftungen sind nicht in einem Vakuum entstanden, sondern reflektieren und konservieren immer die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstanden sind. Insofern sind Stiftungen auch eine Reflektion der Gesellschaft und ihre Erforschung kann uns viel über die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen zur Entstehungszeit mitteilen. Viel wichtiger ist aber, dass Stifter über ihr stifterisches Handeln soziale Strukturen geformt, Kultur produziert und die Formierung von Eliten bestimmt haben. Stiften war ein wesentliches Mittel, wie dies auch Rupert Graf Strachwitz in seinem Beitrag zu diesem Band herausstellt, Gesellschaft zu verändern oder die Veränderung von Gesellschaft aufzuhalten. 25
Das Verhältnis von Staat, Stiftungswesen und Markt Wenn man, wie dies Sozialwissenschaftler oftmals tun, die sich der Erforschung des sogenannten Dritten Sektors verschrieben haben, das Phänomen des Stiftens und der Stiftung losgelöst von ihrem sozialen und wirtschaftlichen Kontext betrachtet, werden entscheidende Zusammenhänge zwischen Stiftungen, Staat und
Women and the Voluntary Sphere, in: Hammack, Making the Nonprofit Sector in the United States (wie Anm.8), 248–263. Für den deutschen Fall siehe: Thomas Adam, Stifteten Frauen anders als Männer? Stifterinnen und Ihre Stiftungen von 1800 bis 1945, in: Zeitschrift für Stiftungs- und Vereinswesen 9.6, 2011, 217–223. 23 Frey, Macht und Moral des Schenkens (wie Anm.4). 24 Olivier Zunz, Philanthropy in America. A History. Princeton/Oxford 2012. 25 Thomas Adam, Stiften für das Diesseits – Deutsche Stiftungen in der Neuzeit, in: GWU 63.1/2, 2012, 5–20.
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Markt übersehen. Die soziologische Annahme, dass es sich beim Stiftungswesen um einen Dritten Sektor handelt, der unabhängig und außerhalb des ersten Sektors (Staat) und des zweiten Sektors (Markt) operieren würde, verleitet leicht zu der Annahme, dass Stiftungen autonome und außerhalb der Volkswirtschaft stehende Einheiten seien, die scheinbar nach eigenen Gesetzen funktionieren. Diese sowohl von einigen Zeitgenossen und vor allem von Soziologen und Politikwissenschaftlern geteilte Ansicht, unterschlägt aber die direkte und notwendige Verbindung von Stiftungen und Markt, da Kapitalstiftungen (Anstaltsstiftungen werden hier aus pragmatischen Gründen nicht betrachtet) ihr Grundkapital in Land, Aktien oder Staatsanleihen anlegen mussten, um eine Verzinsung der ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmittel zu erreichen. 26 Es sind ja nur diese aus den Zinsen gewonnenen Finanzmittel, die für die Verwirklichung des Stiftungszweckes ausgegeben werden dürfen. Und hier schaltete sich auch der Staat ein. In beiden Ländern griffen die bundes- und einzelstaatlichen Regierungen in die Anlagepraktiken der Stiftungen ein, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise und in unterschiedlicher Stärke, und lenkten die Stiftungskapitalien in bestimmte Anlageoptionen. Während in den USA die Anlageoptionen für jede Stiftung und philanthropische Einrichtung per
Einzelgesetz geregelt wurde, dafür aber eine große Bandbreite von Anlageoptionen erlaubt wurde, galt in den deutschen Staaten die bindende generelle Verpflichtung der mündelsicheren Anlage, die im Laufe des 19.Jahrhunderts nach und nach vor allem auf die Anlage der Stiftungskapitalien in Staatsanleihen hinauslief. 27 Stiftungen konnten also ohne den Finanzmarkt, in dem die Stiftungskapitalien zinsbringend angelegt wurden, nicht existieren. Nun stellt sich natürlich auch die Frage, ob denn der Markt ohne Stiftungen hätte existieren können. In ihrem 2003 erschienenen Buch „American Creed“ hat Kathleen McCarthy die These aufgestellt, dass die in amerikanischen non-profit-Organisationen in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts angesammelten Kapitalien eine große Rolle bei der Finanzierung der Industriellen Revolution in den Neuenglandstaaten gespielt habe. Das hier akkumulierte liquide Kapital konnte in Form von Darlehen für Projekte wie den Bau 26
Zur Begriffsbestimmung und Begriffsgeschichte der Stiftung siehe den Beitrag von Rupert Graf Strach-
witz in diesem Band. 27
Thomas Adam, Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Stiftungen und „totem Kapital“, in: Thomas
Adam/Manuel Frey/Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.), Stiftungen seit 1800. Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Stuttgart 2009, 183–193; Thomas Adam, Studienförderung an amerikanischen und deutschen Universitäten von 1800 bis 1945, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 15, 2012, 149–172.
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des Eriekanals verwendet werden und garantierte den Investoren eine gute und sichere Verzinsung. 28 In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurden die in Stiftungen angesammelten Vermögen dann zunehmend in die Konstruktion und den Betrieb von Eisenbahnlinien und hier insbesondere in den von diesen Aktiengesellschaften herausgegebenen Anleihen und nicht in deren Aktien angelegt. Anleihen wurden von den Stiftungen deswegen bevorzugt, weil sie über den Grundbesitz der Eisenbahngesellschaften abgesichert waren und daher zumindest bis in die späten 1920er Jahren als fast ebenso sicher galten wie Staatsanleihen. Anleihen hatten längere Laufzeiten und warfen auch nur einen begrenzten und vergleichsweise niedrigen Profit von drei bis fünf Prozent ab. Durch den Verkauf dieser Anleihen wurde das notwendige Kapital für die Konstruktion von etwa 55 bis 70 Prozent des amerikanischen Eisenbahnnetzwerkes aufgebracht. 29 Auch in Deutschland stellten die in Stiftungskapitalien akkumulierten Finanzmittel eine enorme Finanzreserve dar, die aber aufgrund der mündelsicheren Anlage nicht direkt zur Finanzierung der Industrialisierung des Landes beitrugen. Über die Anlage in Staatsanleihen trat hier der Staat als Vermittler auf, der über den Einsatz dieser Finanzmittel entschied. Während in den USA die Stiftungskapitalien zum Ausbau der Infrastruktur des Landes eingesetzt wurden, leitete die deutsche Regierung einen signifikanten Teil der Stiftungskapitalien in den Ausbau des Sozialstaates und hier vor allem den Arbeiterwohnungsbau sowie in die Modernisierung des Militärs. 30 Sowohl in Deutschland als auch in den USA wurde ein Großteil der von Stiftungen verwalteten Kapitalien zur Finanzierung von Kriegen eingesetzt. Kriegsanleihen ersetzten Staatsanleihen als bevorzugte Anlage für Stiftungskapitalien während des Ersten Weltkrieges in Deutschland und während des Zweiten Weltkrieges in den USA. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Entscheidung, den Krieg weitgehend durch den Verkauf von Kriegsanleihen zu finanzieren, sah sich die kai-
28 McCarthy, American Creed (wie Anm.7), 6, 45, 81. 29 Melville J. Ulmer, Capital in Transportation, Communications, and Public Utilities. Its Formation and Financing. Princeton 1960, 168–169; Frederick A. Cleveland/Fred Wilbur Powell, Railroad Promotion and Capitalization in the United States. London/Bombay/Calcutta 1909, 280–281; Augustus J. Veenendaal, Jr., European Investment in American Railways, in: Ralf Roth/Günter Dinhobl (Hrsg.), Across Borders: Financing the World’s Railways in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Aldershot/Burlington 2008, 167; Barrie A. Wigmore, The CRASH and Its Aftermath. A History of Securities Markets in the United States, 1929–1933. Westport/London 1985, 287–288. 30 Adam, Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Stiftungen (wie Anm.27), 193–197.
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serliche Regierung dazu gezwungen, Käufer für die insgesamt neun Kriegsanleihen zu finden. In seinen Untersuchungen zur Kriegsfinanzierung kam Konrad Roesler zu dem Schluss, dass in der ersten Kriegshälfte vor allem Angehörige des bürgerlichen Mittelstandes als Zeichner von Anlagen zwischen 1000 und 10 000 Mark auftraten. In der zweiten Kriegshälfte waren es laut Roesler vor allem Angehörige der Oberschicht, die Anleihen mit Nominalwerten von über 10 000 Mark zeichneten. 31 Die Rolle von Stiftungen, die über die mündelsichere Anlagepflicht und staatlichen Druck dazu gezwungen wurden, ihre Stiftungskapitalien in Staats- oder Kriegsanleihen anzulegen, spielten in den bisherigen Untersuchungen zu den Zeichnern der Kriegsanleihen und damit der Kriegsfinanzierung keine Rolle. Aus detaillierten Statistiken über die von Fideikommissen und allgemeinen Stiftungen erworbenen Kriegsanleihen im preußischen Finanzministerium geht jedoch hervor, dass der preußische Staat enormen Druck auf Stiftungen ausübte, um diese zum Erwerb von Kriegsanleihen zu bewegen. Nachdem Stiftungen bei dem Vertrieb der ersten vier Kriegsanleihen nur eine marginale Rolle gespielt hatten 32, erließ der preußische König am 14.September 1916 eine spezielle auf Stiftungen zugeschnittene Verordnung, die den Erwerb von Kriegsanleihen durch Stiftungen erheblich erleichtern sollte. 33 Die preußische Regierung beließ es jedoch nicht bei dieser Gesetzesänderung. An die Adresse der Fideikommisse gerichtet, erinnerte die Regierung deren Verwalter daran, dass der „so vielfach angefeindete gebundene Besitz“ die patriotische Verpflichtung habe, „durch die Tat zu beweisen, daß die Angriffe grundlos sind und daß der Stand der Fideikommißbesitzer allen übrigen Teilen des Volkes an Bereitschaft dem Vaterlande zu helfen, vorangeht. Tut er dies nicht, so wird er es sich selbst zuzuschreiben haben, wenn die auf Abschaffung der Fideikommisse gerichteten Bestrebungen, die schon einmal durch Annahme des Antrages Ablaß im Reichstage Ausdruck gefunden haben, an Boden gewinnen. Die Gefahr wird eine imminente, wenn und sobald gleiches Wahlrecht zum Abgeordnetenhause eingeführt wird. Die Sozialdemokratie wird dort weitaus die stärkste Partei bilden, sie wird mit Polen, Dänen, Welfen und dem Fortschritt die Mehrheit haben, und wenn das nicht, so werden wenige Stimmen aus der Zentrumspartei oder von dem linken Flügel der Nationalliberalen genügen
30
31
Konrad Roesler, Die Finanzpolitk des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. Berlin 1967, 78.
32
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Hauptabteilung I, Rep. 84a, Nr.50079, Bl. 250.
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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Hauptabteilung I, Rep. 84a, Nr.50078, Bl. 60.
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eine radikale Majorität zu sichern. Den Tendenzen einer solchen auch nur durch Passivität Vorschub zu leisten, muß unter allen Umständen vermieden werden. Der patriotischen Pflicht tritt die der Selbsterhaltung hinzu, deshalb darf die vielleicht letzte Gelegenheit die Position des gebundenen Besitzes zu stärken nicht unbenutzt vorübergehen. Es prüfe daher ein jeder Fideikommißbesitzer, in welcher Weise er sein gebundenes Vermögen zum Erwerbe eines möglichst hohen Kriegsanleihebetrages verwenden kann.“ 34
Dieser fast schon erpresserischen Aufforderung, die mit verstärktem Druck auf lokaler Ebene einherging, beugten sich mehr und mehr Verwalter der Fideikommisse. In der Kur- und Neumark beteiligten sich 241 Fideikommisse mit mehr als 20 Millionen Mark an der fünften und sechsten Kriegsanleihe. Das waren immerhin 36 Prozent aller Fideikommisse in dieser Landschaft. 35 Im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf belief sich der durch Fideikommisse aufgebrachte Zeichnungsanteil an der achten Kriegsanleihe auf etwa 8 Millionen Mark. Diese Summe entsprach „etwa 1/6 des Gesamtliegenschaftswertes sämtlicher Fideikommisse des Bezirks, der auf 45 bis 50 Millionen Mark“ geschätzt wurde. 36 Tab.: Gesamtergebnis der Beteiligung der gebundenen Vermögen an der V. bis IX. Kriegsanleihe 37 Kriegsanleihe
Fideikommisse
Stiftungen
Zahl der Zeich- Betrag in RM nungen
Zahl der Zeich- Betrag in RM Zahl der Zeich- Gesamtbetrag nungen nungen in RM
Gesamt
V.
295
27 050 114
280
7 272 433
575
VI.
584
92 376 900
309
9 793 950
893
102 170 850
VII.
421
61 308 768
217
7 496 125
638
68 804 893
VIII.
318
36 047 325
191
5 647 591
509
41 694 916
IX.
319
31 391 648
143
2 762 687
462
34 154 335
1937
248 174 755
1140
32 972 786
3077
281 147 541
34 322 547
Damit belief sich der Anteil der durch preußische Stiftungen insgesamt erworbenen Kriegsanleihen auf etwa 0,5 Prozent der durch die fünfte bis neunte Kriegsanleihe aufgebrachten 61 Milliarden Mark. Leider liegen keine vergleichbaren Daten für die durch die Stiftungssektoren der anderen deutschen Bundesstaaten erworbenen Kriegsanleihen vor. Es erscheint damit unmöglich, den exakten Anteil der deut-
34 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Hauptabteilung I, Rep. 84a, Nr.50079, Bl. 251–252. 35 Ebd., Bl. 268. 36 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Hauptabteilung I, Rep. 84a, Nr.50080, Bl. 54r-55v. 37 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Hauptabteilung I, Rep. 84a, Nr.50078, Bl. 28.
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schen Stiftungen an der Finanzierung des Ersten Weltkrieges zu ermitteln. Auch wenn Preußen der größte deutsche Flächenstaat war, sollte man dennoch davon ausgehen, dass der preußische Stiftungssektor bezüglich der Zahl der Stiftungen und des akkumulierten Stiftungskapitals kleiner war als etwa der Stiftungssektor in Bayern oder Sachsen. Preußen verfügte im Jahre 1866 (dies ist leider das einzige Jahr für das wir eine quantitative Erfassung des preußischen Stiftungssektors haben) über 4200 Stiftungen und Vereine mit einem kombinierten Vermögen von etwa 130 Millionen Mark. 38 Das um ein vielfaches kleinere Bayern zählte – allerdings zwanzig Jahre später im Jahre 1887 (das ist das erste Jahr für das wir eine statistische Erfassung des bayerische Stiftungswesens haben) – über 17000 Stiftungen mit einem kombinierten Stiftungsvermögen von über 400 Millionen Mark. 39 Insofern ist davon auszugehen, dass Stiftungen bei der Weltkriegsfinanzierung eine größere Rolle spielten, als aus den konkreten Zahlen für Preußen ersichtlich ist. In den USA gab es eine Verschiebung der Anlagefelder von Stiftungskapitalien im Zuge der Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er Jahre. Die Anleihen der Eisenbahngesellschaften verloren rasch an Wert und boten sich daher nicht mehr als eine sichere Anlage an. Stiftungen investierten daher zunehmend zuerst in Staatsanleihen und nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg in Kriegsanleihen. Während wir für den deutschen Fall eine vollständige Erfassung des von Stiftungen in Kriegsanleihen angelegten Kapitals zumindest für Preußen haben, besitzen wir für den amerikanischen Fall nur punktuelle Informationen über den Umfang der von Stiftungen erworbenen Kriegsanleihen. Aus der Untersuchung des amerikanischen Ökonomen J. Harvey Cain aus dem Jahre 1951 über die Investitionsstrategien amerikanischer Universitäten geht hervor, dass die 29 größten Universitäten, die zusammen über 1,5 Milliarden Dollar Stiftungskapital verfügten – das entsprach etwa 60 Prozent des gesamten an allen amerikanischen Universitäten akkumulierten Stiftungskapitals –, immerhin etwa 26 Prozent ihrer Stiftungskapitalien in Staats- bzw. Kriegsanleihen investiert hatten. Weitere 18 Prozent waren in industriellen Anleihen, 37 Prozent in industriellen Aktien und 17 Prozent in Grundbesitz investiert. 40 38
R. F. Rauer, Preußisches Landbuch. Hand-Notizen über die im Lande bestehenden Wohlthätigkeits-
Anstalten, milden und gemeinnützigen Stiftungen, Institute, Gesellschaften, Vereine etc. Berlin 1866. 39
Die Stiftungen in Bayern nach dem Stand vom Jahre 1910. (Heft 85 der Beiträge zur Statistik des Kö-
nigreichs Bayern hg. v. K. Statistischen Landesamt) München 1913, 20. 40
J. Harvey Cain, College Investment Funds and How They Grow, in: College & University Business 13.1,
1952, 25–27.
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Stiftungen waren also keineswegs ein marginales und zu vernachlässigendes Phänomen der amerikanischen und der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft. Aufgrund ihrer Position an der Schnittstelle zwischen staatsbürgerlichen, staatlichen und marktwirtschaftlichen Aktivitäten nahmen moderne Stiftungen eine zentrale Position in der Industrialisierung und Modernisierung beider Länder ein und trugen auch zur Finanzierung beider Weltkriege bei. Daher erscheint es geradezu zwingend, die Erforschung des Stiftungswesens enger mit der Erforschung der nationalen Geschichte zu verbinden.
Die Angst vor der „toten Hand“ Im Gegensatz zu Deutschland, wo es zu keinem grundsätzlichen rechtlichen Konflikt zwischen Staat und Stiftungssektor kam und damit auch zu keiner verbindlichen Definition der Stiftung oder des dem Stiftungswesens zugewiesenen Raumes, gilt in den USA der Rechtskonflikt zwischen der Regierung von New Hampshire und dem Dartmouth College als der Gründungsakt des amerikanischen Stiftungswesens. Im Mittelpunkt dieses Rechtsstreites stand mit dem Dartmouth College die einzige Einrichtung universitärer Bildung im Bundesstaat New Hampshire, die sich sowohl durch staatliche Zuschüsse als auch durch private Spenden und Stiftungen finanzierte. Als nun im Jahre 1816 der Gouverneur von New Hampshire William Plumer und das Parlament mehr Einfluss auf die Verwaltung der Hochschule und die Gestaltung des Lehrplanes zu erlangen suchten, wehrte sich die Hochschule und zog vor Gericht. Nachdem das Oberste Gericht von New Hampshire sich auf die Seite der Regierung gestellt hatte, erhielt die Hochschule im Berufungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht der USA Recht. Mit dieser Entscheidung aus dem Jahre 1819, das dem Staate New Hampshire untersagte, fortan in die inneren Angelegenheiten des Dartmouth Colleges einzugreifen, sprach das Gericht dem College Autonomie von jeder staatlichen Beeinflussung zu, und begründete damit die separate von staatlicher Beeinflussung freie Zone des Stiftungswesens. 41 Diese Entscheidung errichtete nicht nur eine Mauer zwischen Staat und Stif-
41 Hammack, Making the Nonprofit Sector (wie Anm.8), 123–141; Mark D. McGarvie, The Dartmouth College Case and the Legal Design of Civil Society, in: Friedman/McGarvie, Charity, Philanthropy, and Civility (wie Anm.8), 91–105; McCarthy, American Creed (wie Anm.7), 83–87.
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tungssektor, sondern beförderte auch die von staatlicher Beeinflussung unabhängige, aber dadurch außerordentlich stark in religiöser Abhängigkeit erfolgende Entwicklung des amerikanischen Hochschul- und Universitätssystems. Sicher vor staatlicher Einflussnahme, selbst wenn die betreffende Institution staatliche Zuschüsse erhielt, wandten sich die verschiedenen religiösen Gruppen der Gründung privater Hochschulen zu, die so typisch für das amerikanische Bildungssystem bis zum heutigen Tage sind. Damit entwickelte sich ein Hochschulsystem, das die religiösen Strömungen in den USA widerspiegelte und natürlich auch reproduzierte. Diese Hochschulen dienten vor allem dazu, eine elitäre Klasse von Priestern, Rechtsanwälten, Ärzten und Gelehrten heranzubilden, waren aber wenig geeignet, die Industrialisierung und Säkularisierung des Landes voranzutreiben. Im 19.Jahrhundert hatte die Dartmouth-Entscheidung einen wesentlich größeren Einfluss auf die Entwicklung des höheren Bildungswesens als auf die Entwicklung des Stiftungswesens. Dies hing vor allem aber nicht ausschließlich mit dem Fehlen von wohlhabenden potentiellen Stiftern zusammen. Große Stiftungen waren etwa im Gegensatz zur Entwicklung des Stiftungswesens in Deutschland die absolute Ausnahme in der amerikanischen Gesellschaft vor 1900. Auch wenn wir nur unvollständige Statistiken über die Stiftungsaktivitäten in Deutschland haben, so wird doch deutlich, dass hier insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewaltige Millionenbeträge in Stiftungen flossen. Hier soll zur Illustration nur auf das Beispiel der Stadt Leipzig verwiesen werden. Im Jahre 1902 verwaltete die Stadt Leipzig Stiftungen mit einem Gesamtvermögen von über 28 Millionen Mark. Davon waren allein über 23 Millionen Mark in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestiftet worden. Von diesen 23 Millionen Mark wurden wiederum erstaunliche 12 Millionen Mark von nur vier Stiftern aufgebracht. 42 Derartig große Stiftungen waren in den USA aus verschiedenen Gründen kaum vorstellbar. Zunächst fehlte es an wohlhabenden Personen. Im Jahre 1850 wurde die Zahl der amerikanischen Millionäre auf gerade einmal 20 geschätzt. Bis in die 1870er Jahre stieg sie wohl auf etwa 100. Und um 1900 sollen es dann etwa 3000 bis 4000 gewesen sein. Erst am Vorabend des Ersten Weltkrieges überholte die USA Deutschland in Bezug auf die Zahl der Millionäre. Im Jahre 1913 soll es in Deutschland etwa 16 000 Millionäre gegeben haben und in den USA drei Jahre später, im Jah-
42
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H.Geffcken/H.Tykocinski, Stiftungsbuch der Stadt Leipzig. Leipzig 1905, XLIV.
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re 1916, etwa 40000. 43 Die USA waren mittlerweile ebenso wie Deutschland durch die fortschreitende Industrialisierung zu einem reichen Land geworden, das wie Deutschland durch eine ausgeprägte ungleiche Verteilung der Einkommen – eine Grundvoraussetzung für den Aufbau eines umfassenden Stiftungssektors 44 – charakterisiert wurde. Doch selbst wenn es wohlhabende und stiftungsfreudige Personen gegeben hätte, wären deren Stiftungsaktivitäten arg beschränkt gewesen. In der amerikanischen Gesellschaft bildete sich im 19.Jahrhundert aus zwei weiteren Gründen zunächst eine fundamental ablehnende Haltung gegenüber Stiftungen heraus: Zum einen bestand eine große Skepsis gegenüber der Kontrolle über gewaltige Geldsummen durch Personen, die verstorben waren, und zum anderen dominierte die Furcht, dass Religionsgemeinschaften, die ja eine große Zahl der wohltätigen Organisationen betrieben und kontrollierten, durch den Zufluss von zu viel Kapital dominierende Positionen in der Gesellschaft zurückerlangen und dem säkularen Staat damit zur Gefahr werden könnten. Die erste Einstellung resultierte aus dem zeitgenössischen Unverständnis darüber, wie Stiftungskapitalien angelegt wurden. Offenbar wurde diese Angst durch einen Blick in die Geschichte auf die gewaltige Ansammlung von Land in den Händen der katholischen Kirche in der vorreformatorischen englischen Gesellschaft gespeist. 45 Zeitgenossen befürchteten, dass die Errichtung von Stiftungen zu einer Ansammlung von zu großen Geldsummen außerhalb der Wirtschaftskreisläufe führen würde, diese Gelder damit den Gesetzen der Marktwirtschaft entzogen wären und somit die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gehemmt würde. Die zweite Furcht – die Furcht vor einer Theokratie – ergab sich aus der säkularen Tradition der amerikanischen Gesellschaft, die durch die Trennung von Staat und Kirche zementiert wurde und die den verschiedenen religiösen Gemeinschaften gleiche Wirkungsmöglichkeiten zuwies. Stiftungen schienen
43 Die Angaben für Deutschland wurden errechnet auf der Basis der Jahrbücher des Vermögens und Einkommens der Millionäre in den deutschen Ländern und Stadtstaaten die von Rudolf Martin verfasst wurden. Für die USA siehe: Zunz, Philanthropy in America (wie Anm.24), 8. 44 Paul Nolte, The Faces of Social Inequality, in: John Keane (Hrsg.), Civil Society. Berlin Perspectives. New York/Oxford 2006, 71–90. 45 Carl Zollmann, American Law of Charities. Milwaukee 1924, 341–342. Dies war bei weitem kein auf England beschränktes Problem, sondern charakterisierte die Besitzrechte an Grund und Boden im gesamten vorreformatorischen Europa und dem nachreformatorischen katholischen Europa. Rupert Graf Strachwitz verweist in seinem Beitrag in diesem Band etwa auf die Tatsache, dass 3/8 des Bodens in den österreichischen Erblanden im 18.Jahrhundert sich im Besitz der Kirche bzw. von Stiftungen befanden.
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in den Augen ihrer Kritiker, für die es offenbar keine säkularen Stiftungen gab, der Kirche verlorengegangene Räume und Machtpositionen wiederzugeben. Aus diesen im Wesentlichen drei Gründen wurden Stiftungen nicht als ein Gewinn oder Ausdruck einer aktiven Bürgergesellschaft gesehen, sondern als eine Gefahr für den säkularen modernen Staat. Daher führten Bundesstaaten wie Pennsylvania im Jahre 1855 und New York im Jahre 1860 Gesetze ein, die den Transfer von Kapital durch Testamente von Privatpersonen an wohltätige Institutionen stark beschränkten. Es stimmt also nicht, wie Volker Then und Konstantin Kehl in ihrem Beitrag zu diesem Band behaupten, dass das amerikanische Stiftungsrecht im Wesentlichen ein Stiftungssteuerrecht gewesen sei. 46 Das New Yorker Gesetz von 1860 bestimmte etwa, dass eine Person, die von einem Ehepartner, Kindern oder Eltern überlebt wurde, lediglich bis zu 50 Prozent ihres Vermögens an Stiftungen hinterlassen durfte. Derartige gesetzliche Regelungen verhinderten den Transfer von größeren Summen in den Stiftungssektor und sorgten dafür, dass der amerikanische Stiftungssektor zumindest bis zur Jahrhundertwende verhältnismäßig klein blieb. 47 Stiftungen wie die Errichtung des Smithsonian Institutes im Jahre 1846 waren daher die Ausnahme. Dazu kommt, dass der britische Mineraloge James Smithson sein Vermögen über 500 000 Dollar eigentlich der amerikanischen Regierung hinterlassen hatte und diese dann beschloss, das Geld zur Errichtung einer Stiftung einzusetzen. Hier spielte offensichtlich die Angst vor steigenden staatlichen finanziellen Verpflichtungen für die Unterhaltung dieser Einrichtung eine große Rolle. Stephen Girards Spende über sechs Millionen Dollar an verschiedene Einrichtungen in Philadelphia und New Orleans sowie an das Girard College (2 Millionen) war wohl die größte und außergewöhnlichste Stiftung des 19.Jahrhunderts in den USA. Der französisch-amerikanische Geschäftsmann, der im Handel und im Bankenwe-
46
Siehe hierzu die den Beitrag von Volker Then und Konstantin Kehl in diesem Band. Siehe auch: Hall,
A Historical Overview of Philanthropy (wie Anm.8), 32–65. 47
Robert Ludlow Fowler, Decedent Estate Law of the State of New York. Chapter Thirteen of the Consoli-
dated Laws together with all Amendments. New York 1911, 88–94; Laws of the General Assembly of the State of Pennsylvania. Passed at the Session of 1855. Harrisburg 1855, 328–333; Zollmann, American Law of Charities (wie Anm.45), 341–360. Eine detaillierte Geschichte dieser Gesetzgebung mit einer allerdings etwas anderen Interpretation findet sich bei: Stanley N. Katz, Barry Sullivan und C. Paul Beach, Legal Change and Legal Autonomy. Charitable Trusts in New York, 1777–1893, in: Law and History Review 3.1, 1985, 51– 89.
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sen aktiv war und seit 1776 in Philadelphia lebte, war einer der reichsten Männer seiner Zeit in den USA. Alle anderen Stiftungen kamen an diese Summen nicht heran. Zu den herausragenden Einrichtungen darunter gehörten: John Lowells Stiftung über 250 000 Dollar für das Lowell Institute in Massachusetts und Benjamin Busseys Stiftung von 300 000 Dollar für Harvard College. Insgesamt gab es nicht mehr als zehn derart großer Stiftungen im Laufe des 19.Jahrhunderts. 48 Während es auch in Deutschland einige Wirtschaftswissenschaftler gab, die dem Anwachsen des Stiftungssektors aus wirtschaftlichen Gründen skeptisch bis ablehnend gegenüber standen und die Akkumulierung von Kapital im Stiftungswesen sowie die gesetzliche Regelung kritisierten, dass diese Gelder mündelsicher anzulegen waren und damit den Wirtschaftskreisläufen scheinbar entzogen würden, ist keine Ablehnung aus religiösen Motiven nachweisbar, was aus der fehlenden verfassungsmäßigen Trennung von Kirche und Staat in Deutschland resultierte. Es gab daher auch nur begrenzte gesetzliche Eingriffe in den Transfer von Kapital von Privatpersonen in den Stiftungssektor. Zum einen bedurften zumindest in Preußen alle Stiftungen über 1000 Thaler der Genehmigung des Landesherrn. Diese Regelung wurde mehrfach angepasst und zuerst auf 3000 Mark im Jahre 1870 und dann auf 5000 Mark im Jahre 1900 angehoben. 49 Darüber hinaus mussten Personen, die einen Teil ihres Nachlasses einer Stiftung vermachten, nachweisen, dass ihre Nachfahren dadurch nicht enterbt und mittellos wurden. 50 Da eine sehr hohe Zahl von Stiftungen zu Lebzeiten der Stifter errichtet wurden, konnte diese oftmals gesetzlichen Regelungen wie die des Minimumanteils am Erbe dadurch umgehen, dass sie die für die Gründung einer Stiftung notwendigen Kapitalien ihren laufenden Ausgaben entnahmen; damit griff die Erbschaftsklausel nicht. Einer der bekanntesten Fälle ist Herrmann Julius Meyer, der so umfangreiche Kapitalien in die nach ihm benannte Wohnstiftung in Leipzig investierte, dass er sogar die finanziellen Grundlagen seines Bibliographischen Institutes – so sahen es zumindest seine Söhne – gefährdete.
48 McCarthy, American Creed (wie Anm.7), 83–84. 49 Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts (wie Anm.2), 245–250; Gesetz betreffend die Genehmigung zu Schenkungen und letzwilligen Zuwendungen, sowie zur Übertragung von unbeweglichen Gegenständen an Korporationen und andere juristische Personen. Vom 23.Februar 1870 (abgedruckt in: GesetzSammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1870, S.118–120); Thomas Adam, Stipendienstiftungen und der Zugang zu höherer Bildung in Deutschland von 1800 bis 1960. Stuttgart 2008, 66–69. 50 Adam, Stipendienstiftungen (wie Anm.49), 66–67.
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Da diese Stiftung noch zu Lebzeiten von Meyer geschaffen wurde, hatten seine Söhne allerdings keine Möglichkeit, gegen ihn vorzugehen. 51 Kritik am Stiftungswesen kam in Deutschland aus drei unterschiedlichen Richtungen und zielte auf ganz verschiedene Aspekte des Stiftungswesens. Eine frühe und auch fundamentale Kritik, die der amerikanischen Kritik sehr ähnlich war, wurde bereits in den 1840er Jahren von dem einflussreichen Rechtsgelehrten Carl von Savigny vorgebracht. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen erkannte Savigny das Potential des Stiftungswesens als einer gesellschaftsverändernden Kraft, als er die Frage aufwarf: „Wenn eine reiche Stiftung zur Verbreitung staatsgefährlicher irreligiöser oder sittenloser Lehren oder Bücher gemacht wird, sollte der Staat dies dulden? In unseren Tagen wird niemand sagen, daß dergleichen unmöglich sei. Es gab reiche Leute unter den Saint-Simonisten, und warum sollte nicht einer auf den Gedanken kommen, eine große Stiftung zur Beförderung seiner Lehre zu machen?“ 52
Diese grundsätzliche Frage blieb jedoch ohne politische oder gesetzliche Konsequenzen wohl auch deshalb, weil die marxistisch geprägten Sozialisten die Möglichkeiten der Stiftung als gesellschaftsverändernde Kraft im Gegensatz zum konservativen Savigny unterschätzten und sich anstelle dessen auf die Organisationsform des Vereins beschränkten und durch den Einfluss Ferdinand Lassalles allein im Staate ein Instrument gesellschaftlicher Veränderungen sahen. 53 Savigny warnte in diesem Zusammenhang aber auch vor einer übertriebenen Vermehrung des Kapitals in „toter Hand“. 54 Während seine erste Warnung ungehört verschallte, wurde seine zweite Warnung wohl doch von Wirtschaftswissenschaftlern wie Felix Hecht in den 1870er Jahren aufgenommen und ausgebaut. Hecht kritisierte jedoch nicht das gesamte Stiftungswesen, sondern lediglich die rechtliche Bestimmung der mündelsicheren Anlage der Stiftungskapitalien, die in 51
Thomas Adam, Buying Respectability. Philanthropy and Urban Society in Transnational Perspective,
1840s to 1930s. Bloomington/Indianapolis 2009, 111–112; Thomas Adam, Das soziale Engagement Leipziger Unternehmer – Die Tradition der Wohnstiftungen, in: Ulrich Heß/Michael Schäfer/Werner Bramke/ Petra Listewnik (Hrsg.), Unternehmer in Sachsen. Aufstieg – Krise – Untergang – Neubeginn. Leipzig 1998, 109–115. 52
Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2. Berlin 1840, 278.
53
Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München 1970, 51–52.
54
Zu Savigny und seine Rechtsauffassung bezüglich der Stiftungen s. den Beitrag von Rupert Graf
Strachwitz in diesem Band.
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seinem Verständnis darauf hinaus lief, dass der Industrialisierung des Landes gewaltige Kapitalien durch die Anlage in Staatsanleihen entzogen würden. Hecht war davon überzeugt, dass die deutsche Volkswirtschaft schneller wachsen könnte, wenn es den Stiftungen erlaubt wäre, ihre Kapitalien auch in industriellen Aktien anzulegen. Doch auch diese Kritik führte zu keinerlei Änderungen an den Investitionsbeschränkungen der Stiftungen. 55 Nach der Erfahrung der Hyperinflation im Jahre 1923 und der Entwertung der Kriegs- und Staatsanleihen am Anfang der 1920er Jahren nahmen Rechtswissenschaftler wie Theodor Kipp und Finanzexperten wie Heinrich Rittershausen diese Gedanken wieder auf und unterzogen das Prinzip der mündelsicheren Anlage (in Staatspapieren) einer grundsätzlichen Kritik. 56 Doch selbst die Erfahrung, dass dieses Prinzip zu einer weitgehende Zerstörung des Stiftungswesens geführt hatte, konnte deutsche Politiker noch nicht davon überzeugen, Stiftungen mehr Freiheit in der Anlage ihrer Stiftungskapitalien zu geben. Einrichtungen wie die Kaiser Wilhelm Gesellschaft setzen sich jedoch über geltendes Recht hinweg und investierten in den 1920er Jahren ihre Stiftungskapitalien in riskante Industrieaktien und nicht mehr in die vom Gesetz vorgeschriebenen Staatsanleihen. 57 Im Kontext der Einführung einer Reichserbschaftssteuer 58 in den Jahren 1905/06 kam es im Reichstag zu heftigen Debatten um den steuerrechtlichen Status der Stiftungen und den Vorschlag der Nationalliberalen Partei, Stiftungen von der Erbschaftssteuer zu befreien. In den parlamentarischen Debatten stellten sozialdemokratische Redner wie Eduard Bernstein Stiftungen mit Kirchen auf eine Ebene und beklagten die Ansammlung von Kapital in der „toten Hand“. Bernstein ging es jedoch weniger um die volkswirtschaftlichen Folgen dieser Akkumulation als vielmehr um die Verwaltung der in Stiftungen akkumulierten Kapitalien. In diesem Zusammenhang wurden auch zum ersten Mal Vorwürfe von Korruption und Misswirtschaft in Stiftungen erhoben. Bernstein begründete die Ablehnung der Steuerbefreiung von
55 Felix Hecht, Die Mündel- und Stiftungsgelder in den Deutschen Staaten. Stuttgart 1875. 56 Theodor Kipp, Mündelsicherheit, in: Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts 1923, 497–514; Heinrich Rittershausen, Die Reform der Mündelsicherheitsbestimmungen und der industrielle Anlagekredit. Zugleich ein Beitrag zum Erwerbslosenproblem. Jena 1929. 57 Wolfgang Biedermann, Struktur der Finanzierung vom Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (1924–1944). Berlin 2006, 17–18. 58 Walter Mathiak, Das preußische Einkommensteuergesetz von 1891 im Rahmen der Miquelschen Steuerreform 1891/93. Vorgeschichte, Entstehung, Begleitgesetze, Durchführung. Berlin 2011.
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Stiftungen damit, dass „mit den Wohltätigkeitsstiftungen und auch bei Stiftungen für wissenschaftliche Zwecke oft sehr viel Mißbrauch betrieben wird.“ 59 Bernstein verwies in diesem Zusammenhang auch explizit auf den Mißbrauch der Stiftungen durch amerikanische Multimillionäre. In seinen Ausführungen argumentierte Bernstein, dass deutsche und amerikanische Multimillionäre eine „Gefahr für die Reinheit und Ehrlichkeit der Wissenschaft“ darstellten. „Diese Leute gründen und kaufen Universitäten, sie können mit ihren Riesensummen einen Einfluß ausüben, der um so größer ist, als er sich der Kontrolle der Öffentlichkeit entzieht. Sie können die Wissenschaft verderben, und wir haben Beispiele in den Vereinigten Staaten verschiedentlich gehabt, wo große Kapitalisten Stiftungen an Universitäten gegeben, sich dadurch einen Einfluß auf die Universitäten gesichert und später durch ihren Einfluß durchgesetzt haben, daß Dozenten, die andere Ansichten äußerten oder lehrten, als ihnen genehm war, einfach von der Universität weggeschickt wurden. Eine Korruption der Wissenschaft und eine Korruption der Kunst ist von dieser Ansammlung von Riesenkapitalien zu befürchten.“ 60
Bernsteins Polemik verweist zum einen implizit auf das enorme Wachstum von Stiftungen um 1900 in den USA und zum anderen auf die Einflussnahme von Stiftern auf die von ihnen finanzierten Einrichtungen. Insbesondere Professoren, die gängige Interpretationen in Bezug auf das amerikanische Wirtschaftssystem kritisierten oder unternehmerische Praktiken in Arbeitsauseinandersetzungen anprangerten, wurden unter dem Druck von Stiftern wiederholt zum Opfer von Entlassungen. 61 Während Stiften in der amerikanischen Gesellschaft bis in das späte 19. Jahrhundert nur wenig Akzeptanz fand, lösten sich Befürchtungen hinsichtlich einer religiösen Dominanz in der Gesellschaft durch Stiftungen sowie der Macht der „toten Hand“ allmählich auf und machten einer neuen Einstellung Platz, in der Stiften zu einer Erwartungshaltung vor allem gegenüber Multi-Millionären wie John D. Rockefeller und Andrew Carnegie wurde. Doch selbst Rockefeller und Carnegie sahen
59
Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags XI. Legislaturperiode. II. Session
1905/1906. Erster Sessionsabschnitt vom 28.November 1905 bis zur Vertagung der Session am 28.Mai 1906. Vierter Band. Berlin 1906, 3351. 60
Ebd., 3052.
61
Richard Hofstadter/Walter P. Metzger, The Development of Academic Freedom in the United States.
New York 1955, 413–467.
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sich einer skeptischen Öffentlichkeit und einem viel skeptischerem politischen Establishment gegenüber, das Stiftungen unter einen Generalverdacht stellte und wiederholt auf den Prüfstand stellte. Selbst in den 1960er Jahren zweifelten prominente amerikanische Politiker die Notwendigkeit von Stiftungen in der modernen Gesellschaft wiederholt an. 62 Die Akzeptanz des Stiftens in der amerikanischen Gellschaft wuchs nur sehr allmählich. Dabei gerieten große Stiftungen wie die Rockefeller-Stiftung und die FordStiftung immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik, was dazu beitrug, dass der Stiftungssektor oftmals in der öffentlichen Wahrnehmung auf diese außerordentlichen Stiftungen reduziert wurde. Darüber hinaus wurde das Stiftungskapital eben nicht – wie in Deutschland – außerhalb der Volkswirtschaft in Staatsanleihen, sondern vor allem in Infrastrukturprojekten angelegt und trug somit zum Ausbau der regionalen und nationalen Verkehrswege bei. Und auch wenn Rockefeller seine Stiftung für die Universität Chicago durch die Baptist Education Society machte, so wurde die Universität doch keine religiös gebundene Einrichtung der Baptistischen Kirche, sondern entwickelte sich zu einer Hochschule, die allen offen stand. 63
Verein, Aktiengesellschaft oder Stiftung Sowohl in Deutschland als auch in den USA realisierte sich stifterisches Engagement im 19.Jahrhundert in verschiedenen Unternehmensformen von der Aktiengesellschaft, in welcher der Gewinn der Aktieninhaber auf vier bis fünf Prozent begrenzt war oder aber kein Gewinn unter den Aktionären verteilt wurde, über Vereine bis hin zu unselbständigen (von staatlichen Körperschaften verwalteten) Stiftungen und selbständigen Stiftungen. Aktiengesellschaften und Vereine waren in beiden Ländern die bevorzugte Organisationsform zur Gründung, Finanzierung und Unterhaltung von Museen, Zoologischen Gärten, Unterstützungsvereinen und sozialen Wohnungsunternehmen. 64
62 Hall, Philanthropie, Wohlfahrtsstaat (wie Anm.8), 80–81. 63 Zunz, Philanthropy in America (wie Anm.24), 26–30. 64 Siehe hierzu auch den Beitrag von Volker Then und Konstantin Kehl in diesem Band sowie Thomas Adam, Profit and Philanthropy. Stock Companies as Philanthropic Institutions in Nineteenth Century Germany, in: Voluntas 25, 2014, 337–351.
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Unter den ersten amerikanischen Wohltätigkeitsvereinen befanden sich ethnische Hilfsvereine wie etwa die im Jahre 1764 in Philadelphia gegründete German Society. Am Anfang kümmerte sich dieser Verein um die Arbeits- und Lebensbedingungen der deutschen Einwanderer, die ihre Überfahrt dadurch bezahlten, dass sie sich für sechs Jahre dienstverpflichteten (indenture). Nach der Abschaffung dieses Systems, wandte sich der Verein im 19.Jahrhundert der Unterstützung von neuangekommenen Einwanderern zu und begann, seine Aufgabe auch in der Bewahrung der deutschen Kultur zu suchen. Er wurde zum Vorbild für ähnliche Vereine in anderen Städten wie zum Beispiel der 1784 gegründeten German Society of the City of New York. Im Gegensatz zu seinem Vorläufer in Philadelphia verstand sich der New Yorker Verein von Anfang an als eine Sozialeinrichtung, die armen deutsch-amerikanischen Mitbürger Unterstützung gewähren sollte. 65 Schon in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurden in Städten wie Boston und New York Vereine auch als Träger von Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen, später dann auch von Museen gegründet. Die Mitgliedschaft war oftmals hart umkämpft zwischen den alteingesessenen holländischen und englischen Familien sowie den später angekommenen französischen und deutschen Familien. Die Association for Improving the Conditions of the Poor ist ein Beispiel für diese Art von wohltätigen Vereinen. Gegründet im Jahre 1843, um sich der Armenfürsorge anzunehmen, wuchs ihre Mitgliedschaft rasch auf etwa 200 Personen an. Die Mitglieder teilten die Stadt in Armenbezirke mit jeweils 25 Familien ein und wiesen jeweils einen Bezirk einem Mitglied zur Verwaltung zu. Diese Person sollte die in ihrem Bezirk wohnenden bedürftigen Familien in ihren Häusern besuchen und über die Unterstützung der betreffenden Familie aus dem Vereinsvermögen entscheiden. 66 Der Machtkampf zwischen den etablierten und den neuen bürgerlichen Gruppierungen lässt sich am eindrucksvollsten am Beispiel des New York Opernhauses erläutern. Seit seiner Eröffnung im Jahre 1854 war die Academy of Music das Opernhaus für das New Yorker Bürgertum. Diese Einrichtung wurde durch die alten niederländischen Familien mit klangvollen Namen wie Stuyvesant, Roosevelt und
65
Harry W. Pfund, A History of the German Society of Pennsylvania. Bicentenary Edition, 1764–1964.
Philadelphia 1964; Klaus Wust, Guardians on the Hudson. The German Society of the City of New York, 1784–1984. New York 1984. Siehe auch die Artikel in: Thomas Adam (Hrsg.), Germany and the Americas: Culture, Politics, and History, Bd. 2: G-N. Santa Barbara/Denver/Oxford 2005, 428–432. 66
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Adam, Buying Respectability (wie Anm.51), 45.
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Rhinlander finanziert und dominiert. Aber das Gebäude war recht klein und insbesondere die Zahl der Logen war mit 24 viel zu gering, um das Geltungsbewusstsein der reichen (alten und neuen) Familien zu befriedigen. Logen waren dazu da, um „gesehen zu werden“ und um sich von der Masse der Opernbesucher räumlich und symbolisch abzuheben. Mit der Eröffnung waren die 24 Logen unter den etablierten Familien und Stiftern des Opernhauses verkauft worden. Wenn durch den Tod oder Bankrott eines Stifters eine Loge frei wurde, entbrannte darum regelmäßig eine bittere öffentliche Auseinandersetzung zwischen den alteingesessenen Familien und den neuen Familien. Nachdem William H.Vanderbilt mehrfach versucht hatte, eine frei gewordene Loge zu ersteigern – er bot im Jahre 1880 immerhin 30 000 Dollar und wurde dennoch abgelehnt – entschloss er sich zusammen mit mehreren „neureichen“ Familien, ein eigenes Opernhaus mit einer größeren Zahl von Logen zu errichten. So entstand im Jahre 1883 das Metropolitan Opera House, das mit seinen 122 Logen ausreichend Platz für das Geltungsbedürfnis des (neuen und alten) New Yorker Bürgertums aufwies. Zwei Jahre später, im Jahre 1885, schloss die Academy of Music, da sie durch die Konkurrenz der Metropolitan Opera in den Bankrott getrieben wurde. Die alten Familien baten um Aufnahme in die Metropolitan Opera und die Zuweisung von Logen und erkannten damit die Vormacht der „neureichen“ Familien an. Dieses Ereignis markierte den Sieg der „neureichen“ Familien über die etablierten Familien in New York. 67 Vereine für soziale und kulturelle Projekte finanzierten ihre Arbeit über eher geringe Mitgliedsbeiträge ihrer Mitglieder, die entsprechend ihres sozialen Status verschiedenen Mitgliederklassen zugeordnet waren. Im Falle der Metropolitan Museum Association war die Mitgliederzahl ursprünglich auf 250 Gentlemen aus alteingesessenen Familien beschränkt und in drei Klassen unterteilt worden: Für 1000 Dollar Jahresbeitrag konnte man sich Patron nennen, für 500 Dollar Fellow in Perpetuity und für 200 Dollar Fellow for Life. Die Aufnahme von neuen Mitgliedern basierte auf Nominierungen durch existierende Mitglieder und war auf die Gruppe des etablierten Bürgertums vor allem niederländischer Herkunft beschränkt. Diese Mitgliederstruktur wurde vom Trägerverein für das American Museum of Natural History, das als Gegenentwurf zum Metropolitan Museum von Vertretern vor allem des
67 John Warren Frick, The Rialto. A Study of Union Square, the Center of New York’s First Theatre District, 1870–1900. Diss phil. New York 1983, 28–62; Jack W. Rudolph, Launching the MET, in: American History Illustrated 18 (1983), 2125.
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neuen durch die Industrialisierung reich gewordenen Bürgertums englischer und deutscher Herkunft entwickelt wurde, kopiert. Auch hier konnte man den Titel eines Patron oder eines Fellow in Perpetuity oder eines Fellow for Life erwerben. Im Gegensatz zum Metropolitan Musem of Art waren die Beitragssätze mit 2500, 1000, und 500 Dollar aber erheblich höher. 68 Auch wenn deutsche Vereine wie zum Beispiel der Leipziger Kunstverein zum Teil ähnliche hierarchische Mitgliederstrukturen aufwiesen, die eben auch als Vorbild für die Museumsvereine in New York gedient hatten 69, waren sie doch wesentlich weniger stark hierarchisch aufgebaut als ihre amerikanischen Nachahmer. Sowohl in Deutschland als auch in den USA haben Stifter immer nach einer Anerkennung ihrer Stiftungsleistung in Form von Titeln, Inschriften oder der Benennung von Gebäuden gestrebt. Im Gegensatz zum Stiften in der Antike und im Mittelalter kam es in der Neuzeit nicht nur zu einer Säkularisierung des Stiftens, sondern auch zu einer wachsenden Fokussierung des oftmals öffentlichkeitswirksam inszenierten Stiftungsprozesses auf die Stifterfigur. Stiften war in der Regel keine selbstlose Tat eines anonymen Stifters, wie dies auch aus den Beiträgen von Rupert Graf Strachwitz und Volker Then/Konstantin Kehl in diesem Band hervorgeht, sondern wurde öffentlich arrangiert und diente oftmals – wenn auch nicht immer – der Zurschaustellung des wirtschaftlichen Erfolges des Stifters oder der Stifterfamilie. Stiftungen sowie Vereine und Aktiengesellschaften, die eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Umsetzung stifterischer Projekte in Deutschland spielten, boten ihren Unterstützern und Förderern jedoch recht unterschiedliche Formen der Anerkennung an. Während eine Stiftung automatisch die Aufmerksamkeit auf ihren Stifter lenkte, galt es bei Vereinen und Aktiengesellschaften, die oftmals Hunderte von Unterstützern versammelten, Instrumente der Anerkennung in Form von Titeln und Mitgliedschaftsklassen mit entsprechenden Privilegien zu schaffen, die Stiftern soziale Distinktion vermittelten. Dies erwies sich als besonders schwierig in Aktiengesellschaften, da hier soziale Distinktion nur über die Zahl der zu erwerbenden Aktien und der damit verbundenen Anrechte (wie z.B. Stimmrechte) erreicht werden konnten. Dennoch scheinen deutsche Stifter die Unternehmensform der Aktiengesellschaft aus zwei Gründen bevorzugt zu haben. Zum einen waren die Stifter oftmals
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68
Adam, Buying Respectability (wie Anm.51), 107.
69
Ebd., 15–23.
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auch Unternehmer und daher bestens mit der Funktionsweise von Aktiengesellschaften vertraut; zum anderen war die Aktiengesellschaft eine der ersten Unternehmensformen, die per Gesetz zumindest in Preußen im Jahre 1843 definiert und damit legitimiert wurde. 70 Von Anfang an haftete der Aktiengesellschaft nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine gemeinnützige Funktionszuschreibung an. So konnten Aktiengesellschaften „aus überwiegenden Gründen des Gemeinwohls“ aufgelöst werden. 71 Als im Jahre 1847 Berliner Wohnungsreformer um den Landbaumeister Carl Wilhelm Hoffmann sich zusammenfanden, um einen Weg zu finden, erschwingliche und hygienische Wohnungen für Arbeiterfamilien in der schnell wachsenden Metropole bereit zu stellen, fiel die Entscheidung unter Einfluss englischer Vorbilder schnell zugunsten einer Aktiengesellschaft, die ihren Aktionären aber nur einen auf etwa vier Prozent beschränkten Gewinn auszahlen sollte. Dieses Unternehmen wurde zum Vorbild für ähnliche soziale Wohnungsunternehmen in Frankfurt am Main, Hamburg und Breslau. 72 Doch nicht nur Sozialeinrichtungen, sondern auch kulturelle Projekte wie das Leipziger Kunstmuseum wurden auf der Basis einer Aktiengesellschaft gegründet. Während die Aktien im Falle der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft auf 100 Thaler festgesetzt wurden, belief sich der Aktienpreis für den Förderverein des Leipziger Museums auf gerade einmal 3 Thaler. 73 Und auch wenn die Zahl der Aktionäre im Falle des Leipziger Museums auf fast 1000 Personen anstieg, reichten die über die Aktien eingenommenen Mittel nicht zur Finanzierung eines Museumsgebäudes. Derartige Aktiengesellschaften blieben daher auf Zustiftungen und Geschenke
70 Gesetz über die Aktiengesellschaften für die Königlich Preussischen Staaten vom 9.November 1843. Text und Materialien herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Theodor Baums. Aalen 1981; Walther Hadding/Erik Kießling, Anfänge deutschen Aktienrechts. Das Preußische Aktiengesetz vom 9.November 1843, in: Jörn Eckert (Hrsg.), Der praktische Nutzen der Rechtsgeschichte. Hans Hattenhauer zum 8.September 2001. Heidelberg 2003, 159–190; Paul C. Martin, Die Entstehung des preußischen Aktiengesetzes von 1843, in: VSWG 56.4, 1969, 499–542. 71 Gesetz über die Aktiengesellschaften (wie Anm.70), 214. 72 Die unter dem Protectorat Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II. stehenden Berliner gemeinnützigen Bau-gesellschaft und Alexandra-Stiftung – 1847 bis 1907 – Zusammengestellt von Krokisius, Landgerichtsrath, seit 1879 Vorsitzender des Vorstandes der Gesellschaften. Berlin 1901; C. W. Hoffmann, Die Wohnungen der Arbeiter und Armen I. Heft: Die Berliner Gemmeinnützige Bau-Gesellschaft. Berlin 1852. 73 Annett Müller, Der Leipziger Kunstverein und das Museum der bildenden Künste – Materialien einer Geschichte (1836–1886/87). Leipzig 1995, 27–28.
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ihrer Mitglieder wie die Stiftung des Seidenwarenhändlers Heinrich Schletter angewiesen, die wesentlich höhere Finanzmittel in die Kassen der Aktiengesellschaft brachten und unter anderem den Bau eines eigenen Museumsgebäudes ermöglichten, das im Jahre 1858 eröffnet wurde. 74 Auch zoologische Gärten wie in Berlin und Dresden wurden als Aktiengesellschaften begründet und finanzierten über den Verkauf von Aktien und Anleihen die Errichtung von Schauhäusern und Käfigen sowie von Parkanlagen, während das dazu nötige Gelände von den jeweiligen Königen gestiftet worden war. 75 Diese Aktiengesellschaften waren nicht gewinnorientiert, sondern dienten dazu, die städtische Infrastruktur zu entwickeln und der Bevölkerung kulturelle und soziale Leistungen anzubieten. Im Falle der Wohnungsbaugesellschaften wurde eine begrenzte Dividende ausgezahlt, im Falle der Museen und Zoologischen Gärten erhielten die Aktieninhaber Privilegien wie zum Beispiel freien Eintritt für ihre Person und ihre Familie. 76 Die Aktien wurden nicht öffentlich gehandelt, sondern von Generation zu Generation weitergegeben, als Ausweis stadtbürgerlichen Engagements. Auch wenn ihr Wert von Jahr zu Jahr stieg, galten sie nicht als gewinnbringende Investition, sondern eher als ein Familienwertstück, das man etwa eingerahmt im Büro oder in der Wohnung an die Wand hängte. 77 Diese Aktienvereine brachten oftmals Hunderte von Bürgern zusammen, die sich für ein bestimmtes Projekt interessierten und ihre begrenzten Finanzmittel zu dessen Realisierung einsetzten. Die Mitspracherechte der einzelnen Stifter waren daher sehr begrenzt und hingen von der Zahl der Aktien ab, über die eine Person verfügte. In der Regel gab es Obergrenzen für die Zahl der Aktien, die eine Person erwerben durfte, und bezüglich der damit verbundenen Stimmrechte. Im Falle der Frankfurter Gemeinnützigen Baugesellschaft war die Maximalzahl der Stimmen z.B. auf 20 pro
74
Ebd., 86–93.
75
Für Berlin: Allerhöchste Bestätigungsorder die Statuten des Aktienvereins des zoologischen Gartens
bei Berlin und der damit verbundenen zoologischen Gesellschaft betreffend; vom 27.Februar d. J. Berlin, den 7.Mai 1845. Für Dresden: Gesellschaftsvertrag des Aktien-Vereins “Zoologischer Garten“ zu Dresden. Dresden 1888. 76
Allerhöchste Bestätigungsorder die Statuten des Aktienvereins des zoologischen Gartens bei Berlin
(wie Anm.76), 5–6. 77
Zum Wert der Zoo-Aktien siehe: Heinz-Georg Klös/Hans Frädrich/Ursusla Klös, Die Arche Noah an der
Spree. 150 Jahre Zoologischer Garten Berlin. Eine tiergärtnerische Kulturgeschichte von 1844–1994. Berlin, 474.
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Aktionär beschränkt. 78 Frauen waren weder vom Erwerb von Aktien noch vom Stimmrecht ausgeschlossen, auch wenn sie persönlich, wie im Falle der Berliner Gemeinnützigen Baugesellschaft, die Aktionärstreffen nicht besuchen durften und sich durch einen männlichen Repräsentanten vertreten lassen mussten. 79 Sowohl in den USA als auch in Deutschland ergriffen Frauen die sich ihnen bietenden Möglichkeiten der stifterischen und öffentlichen Betätigung in diesen Vereinen und Aktiengesellschaften. Eine statistische Auswertung von verschiedenen stifterischen Vereinen und Aktiengesellschaften in Leipzig, Toronto, Boston und New York hat jedoch ergeben, dass sich Frauen zu einem höheren Anteil in sozialen Vereinen wie Wohnungsunternehmen und Krankenhäusern engagierten und weniger in kulturellen Projekten wie Museen. Dies war jedoch eher den rechtlichen Rahmenbedingungen sowie den geschlechterspezifischen und normierenden Erwartungshaltungen des 19.Jahrhunderts geschuldet und weniger ein Ergebnis der freien Wahl der betreffenden Stifterinnen. Im Gegensatz zu bürgerlichen Männern hatten deren Ehefrauen und Töchter einen besonderen Zugang zum Stiften. Die gesellschaftlichen Normen des 19.Jahrhunderts erlaubten es Frauen – insbesondere wenn es um die Fürsorge für andere Menschen ging –, sich für soziale Zwecke zu betätigen. In diesem Zusammenhang war die Tätigkeit von Frauen außerhalb des bürgerlichen Haushaltes gesellschaftlich akzeptiert. Von der Fürsorge für Arme und Verletzte gelang es Frauen dann nach und nach und fast unbemerkt, Verantwortung für Hilfsorganisationen zu übernehmen. Und von hier war es ein logischer Schritt für Frauen aus wohlhabenden Familien auch zur Finanzierung dieser Unternehmen beizutragen. Damit wurde Stiften zu einem gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensmuster für bürgerliche Frauen, das ihnen den Weg von der Armenpflege zu sozialen Wohnungsunternehmen, zur Errichtung von Bildungsstiftungen und schließlich auch zur Beteiligung an der Gründung und Unterhaltung von Museen und Kunstgalerien eröffnete. Um 1900 waren etwa 30 bis 40 Prozent der Stifter für Sozialeinrichtungen in den USA und Deutschland Frauen. Die Betätigung auf diesem Feld sollte aber nicht mit Emanzipation verwechselt werden. Es kann eher als ein alternativer Weg der Emanzipation beschrieben werden. Hier ging es nicht um politische Mitbestimmungsrechte, sondern um eine Alternative, Macht auszuüben.
78 Jacob Wilhelm Günther und Georg Varrentrapp, Aufforderung zur Gründung einer gemeinnützigen Baugesellschaft in Frankfurt am Main. Frankfurt am Mian 1860, 8–9. 79 Hoffmann, Die Wohnungen der Arbeiter und Armen (wie Anm.72), 52.
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Stiften ermöglichte es den beteiligten Personen – Männern wie auch Frauen –, an der Gestaltung ihrer Umwelt teilzuhaben und ihre spezifische Vision für die Gestaltung eines Ausschnittes der sie umgebenden Welt zu realisieren. Jeder Stifter und jede Stifterin hatte eine konkrete Vision aus der sich ihr stifterisches Handeln herleitete. 80 Am Anfang des 20.Jahrhunderts verließen sich selbst die von Stiftern und Monarchen gegründeten Museen wie zum Beispiel das Städel‘sche Kunstinstitut in Frankfurt am Main und das Kaiser-Friedrich Museum in Berlin auf die finanzielle Unterstützung durch Museumsvereine, die sich durch Mitgliedsbeiträge finanzierten. 81 Vereine und Aktiengesellschaften bildeten damit wichtige Säulen des deutschen Stiftungswesens und vergrößerten durch ihre Mitgliederorganisation die personelle Basis des Stiftungswesens erheblich. Auch wenn eine statistische Auswertung der von R. F. Rauer im Jahre 1865 zusammengestellten Übersicht über die wohltätigen Einrichtungen Preußens mit 1280 Vereinen mit einem kombinierten Vermögen von über 32 Millionen Mark gegenüber 2922 Stiftungen mit einem kombinierten Vermögen von über 97 Millionen Mark zwar ein eindeutiges Übergewicht zugunsten der Stiftungen ergibt, sollte dabei nicht vergessen werden, dass die meisten Stiftungen auf nur eine Gründerpersönlichkeit zurückgingen während in den Vereinen oftmals mehrere hundert Mitglieder sich stifterisch betätigten. 82
Ausblick Der deutsche Blick auf die amerikanische Stiftungslandschaft scheint heute allzu oft auf die großen spektakulären Stiftungen der Rockefellers und Gates verengt zu sein. Deutsche Beobachter glauben, das amerikanische Stiftungswesen auf wenige große, aber weithin bekannte Stiftungen reduzieren zu können. Peter Dobkin Hall und andere Experten erinnern uns aber immer wieder daran, dass diese großen Stiftungen eben nur ein Segment des amerikanischen Stiftungswesens waren und sind. Hinter diesen weithin bekannten Stiftungen verbergen sich unzählige kleine Stiftungen, Vereine, lokale Initiativen und religiöse Organisationen. Allen gemein ist
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80
Adam, Buying Respectability (wie Anm.51), 126–152.
81
Adam, Stiften für das Diesseits (wie Anm.25), 14.
82
Rauer, Preußisches Landbuch (wie Anm.38).
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das Bestreben, soziale, kulturelle und bildende Angebote einer Gesellschaft zu unterbreiten, die von der Bereitstellung derartiger Angebote abhängig ist. Stiften war und ist eine gesellschaftsgestaltende und gesellschaftserhaltende Kraft, die von verschiedenen Individuen und Gruppen von Individuen ausgeübt wird, die über finanzielle, materielle oder zeitliche Ressourcen verfügen, die sie abtreten können. Stiften erfolgte und erfolgt nicht in einem Vakuum. Stifter waren durch die Gesellschaft und ihre kulturelle Normen geprägt und handelten ihren moralischen und ethischen Vorstellungen entsprechend. Die von ihnen bereitgestellten finanziellen und materiellen Ressourcen gingen den Volkswirtschaften nicht verloren, sondern trugen durch ihre Investition in den Finanzmärkten zur weiteren Entwicklung der ökonomischen Systeme bei. Doch es zeigt sich auch, dass der Staat regulierend und lenkend in die Beziehungen zwischen Markt und Stiftungswesen eingriff, indem er Gesetze erließ, die die Anlage von Stiftungskapitalien unter dem Vorwand ihres Schutzes vor gefährlichen Spekulationen, in als krisensicher eingeschätzte Anlageoptionen lenkte. Insofern erweist sich die traditonelle Sichtweise einer in drei voneinander isolierten Sektoren gespaltenen Gesellschaft als grundsätzlich fragwürdig. Stiftungskapitalien trugen im Falle der USA wesentlich zur Finanzierung des Ausbaus der Infrastruktur des Landes bei. Hier scheint sich ein interessanter Kreislauf aufzutun: Die Industrielle Revolution führte zur Ansammlung enormer Kapitalvermögen in den Händen erfolgreicher Unternehmer. Diese Unternehmer legten die von ihnen erworbenen Reichtümer zum Teil direkt in den Ausbau ihrer industriellen Unternehmen an und gaben einen Teil ihrer Vermögen an Stiftungen, die ihre Stiftungskapitalien dann, um eine Verzinsung zu erzielen, wiederum in industrielle Projekte investierte. Insofern scheint das Stiftungswesen vor allem in den USA zu einer Diversifizierung der Anlage von Kapital und darüber hinaus zur gesell-
schaftlichen Wertschöpfung beigetragen zu haben. Aktiengesellschaften und Vereine, wie sie in diesem Aufsatz diskutiert worden sind, erscheinen vor diesem Hintergrund wesentlich weniger kapitalistisch als Stiftungen, die vom Kapitalmarkt abhängig waren, da sie ja nur die Zinsen des Stiftungskapitals ausgeben durften. Es bleibt zu hoffen, dass die Erkenntnisse aus der Erforschung der Geschichte des Stiftungswesens künftig mehr Beachtung in der Geschichtswissenschaft finden, da Stiftungen eine wesentliche Rolle bei der wirtschaftlichen Entwicklung und sozialen Strukturierung moderner Gesellschaften spielten, indem sie wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Projekte finanzierten sowie sozialen und kulturellen Raum in der Gesellschaft den Visionen der Stifter entsprechend formten. Das
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Streben der Stifter nach sozialer Distinktion erwies sich dabei als ein konstitutives Element des Stiftungsprozesses und sollte als motivierender Faktor auch in der Gegenwart nicht unterschätzt werden.
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Kinder unseres Viertels – Das islamische Stiftungswesen in Ägypten von Franz Kogelmann
„I studied law, but it seems that everything changes.“ “Everything except the waqf. To this day it has not changed.” 1
Naǧīb Maḥfūẓ und das islamische Stiftungswesen Als der ägyptische Literaturnobelpreisträger Naǧīb Maḥfūẓ (1911–2006) im Jahr 1959 „Kinder unseres Viertels“ (arab. aulād ḥāratinā) als Fortsetzungsroman in der halbamtlichen Tageszeitung al-Ahrām publizierte, löste er damit Proteste religiös konservativer Kreise aus. Maḥfūẓ erzählt darin die Geschichte eines Viertels von Kairo und seiner Bewohner. Ǧabalāwī, Familienpatriarch und Gründervater dieses Viertels, hat vor langer Zeit in der Wüste am Stadtrand von Kairo auf einem weitläufigen Gelände, umgeben von einer hohen Mauer und ausgestattet mit einem Garten, ein prächtiges Haus errichtet. 2 Eines Tages rief er seine fünf Söhne Idrīs, cAbbās, Raḍwān, Ǧalīl und Adham zu sich, um ihnen mitzuteilen, die Verwaltung seines Anwesens übergeben zu wollen. Seine Wahl fiel allerdings nicht, wie es zu erwarten gewesen wäre und der Tradition entspräche, auf Idrīs, den Ältesten, sondern auf Adham, den Jüngsten seiner Söhne, zudem geboren von einer schwarzen Dienstmagd. Der Erstgeborene begehrt gegen seinen Vater auf und wird daraufhin von ihm verstoßen. Damit begründete er eine Generationen andauernde Familienfehde, in deren Mittelpunkt die Kontrolle über das vom Ahnherrn Ǧabalāwī geschaffene Anwesen steht.
1 Gespräch zwischen Jaafar al-Rawi, dessen Großvater sein gesamtes Vermögen in eine islamische Stiftung umwandelte, um seinen Enkel zu enterben, und dem Ich-Erzähler, der in der Stiftungsverwaltung arbeitet, in: Naguib Mahfouz, Heart of the Night. Cairo/New York 2011, 2. 2 Nagib Machfus, Die Kinder unseres Viertels. Zürich 2004; Saad El-Gabalawy, The Allegorical Significance of Naguib Mahfouz's Children of Our Alley, in: International Fiction Review 16, 1989, 91–97; Mehnaz Mona Afridi, Naguib Mahfouz and Modern Islamic Identity. Diss. phil. Pretoria 2008, 138–145.
DOI
10.1515/9783110400007.51
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Nicht nur religiös konservative Kreise sahen in diesem Roman eine Allegorie auf Gott und die Begründer der drei monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam. Offenbar porträtierte Maḥfūẓ den Patriarchen Ǧabalāwī und seine Nachkommen als Durchschnittsägypter, die das Leben von Kain und Abel, Moses, Jesus und Muḥammad leben. Die vorgebliche Blasphemie erwirkte eine Indizierung dieses Romans in der gesamten arabischen Welt, mit der Ausnahme des Libanon. Erst 2006, also 18 Jahre nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an Maḥfūẓ, konnte dieses Werk als Buch auch in Ägypten legal verlegt und verkauft werden. Von primärem Interesse ist hier nicht der Vorwurf der Gotteslästerung mit allen Implikationen religiös-politischer Art. An dieser Stelle soll auch nicht anhand dieses Beispiels allegorischer Literaturproduktion, die eine Kritik an den herrschenden Machtverhältnissen übt und womöglich nicht nur das damalige Regime kritisiert, sondern durchaus auch Bezüge in die Gegenwart erlaubt, reflektiert werden. Von größerer Relevanz ist der Umstand, dass der ursprüngliche Grund für das Familienzerwürfnis und somit der zentrale Handlungsstrang, die Verwaltung von – sprich Kontrolle über – ein beträchtliches Vermögen, Ǧabalāwīs Anwesen, ein waqf, eine islamische Stiftung, ist. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein der Phantasie eines Literaten entsprungenes Werk, der zwar ein wichtiger Zeitzeuge der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Ägyptens über einen langen Zeitraum war und diese nachhaltig in seinen Werken kommentiert hat, sondern auch um die Verarbeitung praktischer Lebenserfahrung von Maḥfūẓ, da er lange Zeit beruflich für das ägyptische Stiftungsministerium tätig war. Er hatte vom Ende der 1930er bis Mitte der 1950er Jahre eine Reihe unterschiedlicher Positionen innerhalb des Ministeriums inne. 3 Seine Karriere im Stiftungsministerium begann er als dem Minister zugeordneter parlamentarischer Sekretär, in dessen Aufgabenbereich die Bearbeitung von Anfragen aus allen Schichten der ägyptischen Gesellschaft bezüglich islamischer Stiftungen war. „The variety of claimants there that he came in contact with in his official capacity ranged, according to him, from descendants of the Ottoman Sultan, cAbd al3 Rasheed El-Enany, Naguib Mahfouz. The Pursuit of Meaning. London, New York 1993, 29–30. El-Enany datiert sein Wirken innerhalb des Stiftungsministeriums auf 1938 bis in die frühen 1950er Jahre. Hartmut Fähndrich, Nagib Machfus. München 1991, 55. Fähndrich spezifiziert den Zeitraum seiner Tätigkeit nicht. Haim Gordon, Naguib Mahfouz's Egypt. Existential Themes in his Writings. New York 1990, 132. Gordon spricht von 1939 bis 1955. Stewart im Vorwort zu seiner Übersetzung von aulād ḥāratinā datiert seine Tätigkeit auf die Jahre 1939 bis 1955, siehe Naguib Mahfouz, Children of Gebelawi. London 1981, viii.
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Ḥamīd, to poor Egyptian peasants.” 4 Ab Mitte der 1940er Jahre bis zum Ende seiner Anstellung übernahm er die Leitung der qarḍ al-ḥasan-Abteilung. Hierbei handelt es sich um die Vergabe wohltätiger und zinsloser Darlehen an Bedürftige. 5 Nach dem Roman „Die Kinder unseres Viertels“ griff Maḥfūẓ 1975 in „Das Herz der Nacht“ (arab.: qalb al-lail) die Stiftungsthematik abermals auf. 6 Somit kann er nicht nur als ein Biograph des islamischen Stiftungswesens angesehen werden, sondern durch seine langjährige berufliche Tätigkeit für das Stiftungsministerium auch als Insider hinsichtlich der waqf-Verwaltungspraxis erachtet werden, indem er intensive Einblicke in die Praxis bzw. in die an das islamische Stiftungswesen von Ägypten gestellten Erwartungen gewährt. Nach eigener Auskunft benutzt er seine literarischen Produkte um die Politik des Landes zu kommentieren, selbst wenn dies auf den ersten Blick nicht offenkundig scheint. „La politique est présente dans tous mes écrits. Vous-pouvez trouver un roman où l'amour est absent, mais la politique jamais, car elle est au coeur de nos préoccupations. Le débat politique est présent même dans Les fils de la médina [Kinder unseres Viertels], que l'on pourrait qualifier de roman métaphysique, à travers le problème du waqf.“ 7 Zudem fand die Veröffentlichung des Romans im Jahr 1959 zu einem Zeitpunkt statt, als das Regime der "Freien Offiziere" seit sieben Jahren an der Macht war und als Teil umfassender politischer, wirtschaftlicher und sozialer Reformen das islamische Stiftungswesen grundlegenden Umwälzungen unterworfen war. Maḥfūẓ spricht schließlich auch von einer politischen Debatte, die er anhand des waqf-Problems darstellt. Somit war der Zeitpunkt eines Romans, dessen Handlung sich um die Kontrolle einer islamischen Stiftung entwickelt, klug gewählt und zu dieser Zeit im Bewusstsein der ägyptischen Öffentlichkeit durchaus gegenwärtig. Naǧīb Maḥfūẓ war zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre nicht mehr Teil der Stiftungsverwaltung und hatte einen gewissen Abstand zu dieser Ministerialbürokratie.
4 El-Enany, Pursuit (wie Anm.3), 29. 5 Mona Atia, Islamic Approaches to Development: A Case Study of Zakat, Sadaqa and Qurd al Hassan in Contemporary Egypt. Eighth International Conference on Islamic Economics and Finance. Sustainable Growth and Inclusive Economic Development from an Islamic Perspective. Qatar Foundation. Doha 19.21.Dezember 2011, http://www.iefpedia.com/english/wp-content/uploads/2011/12/Mona-Atia.pdf (23.11. 2013), 8–11. 6 Mahfouz, Heart (wie Anm.1). 7 Najīb Maḥfūẓ/Jamāl Ghīṭānī, Mahfouz par Mahfouz. Entretiens avec Gamal Ghitany. Paris 1991, 122.
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Das Stiftungswesen im Islam Der frühe Vertreter der world history Marshall G.S.Hodgson stellte fest, dass das islamische Stiftungswesen sich im Laufe seiner Geschichte rasch zum „vehicle for financing Islam as a society“ entwickelte und dazu diente „to hold together the various social groupings“. 8 Die Sorge für notdürftige Mitglieder der Gemeinschaft und das Almosengeben sind mit der traditionellen islamischen Frömmigkeit eng verbunden und Teil der religiösen Pflichten eines jeden Muslims. Unter anderem durch die Gründung von Stiftungen bekam dieser Sinn für religiös motivierte und auch geforderte Wohltätigkeit und Philanthropie einen institutionellen Rahmen. 9 Historisch nachweisbar sind auqāf (Pl. von waqf) spätestens seit dem 8.Jahrhundert. 10 Das islamische Stiftungswesen entwickelte sich rasch zu einem in nahezu allen muslimischen Gesellschaften vorhandenen komplexen Phänomen von einem bedeutenden sozialen, kulturellen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Stellenwert. Seine Erscheinungsformen sind mannigfaltig und spiegeln die umfassenden Aufgabenbereiche der auqāf wider. 11 So war auch das islamische Stiftungswesen in Ägypten spätestens seit der Mamlukenzeit (1250–1517) so hoch entwickelt, dass „almost every aspect of urban life had become in some way entangled in the web of pious foundations“. 12 Im Zuge der Entwicklung der islamischen Jurisprudenz (arab. fiqh) stellte das islamische Stiftungswesen ein Problem dar, da es für den waqf keinen Beleg im Koran gibt. Islamische Gelehrte machen den Ursprung der islamischen Stiftung daher an einer Prophetentradition (arab. ḥadīṯ) fest. Inwieweit vor- oder nichtislamische Ein-
8 Marshall G. S.Hodgson, The Venture of Islam. Conscience and History in a World Civilization, Bd. 2: The Expansion of Islam in the Middle Periods. Chicago 1974, 124. 9 Yaacov Lev, Charity and Gift Giving in Medieval Islam, in: Miriam Frenkel/Yaacov Lev (Hrsg.), Charity and Giving in Monotheistic Religions. Berlin/New York 2009, 236–264; Michael Bonner, Poverty and Charity in the Rise of Islam, in: Michael Bonner/Mine Ener/Amy Singer (Hrsg.), Poverty and Charity in Middle Eastern Contexts. Albany, NY 2003, 13–30. 10
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Adam Sabra, Poverty and Charity in Medieval Islam. Mamluk Egypt, 1250–1517. Cambridge 2006,
69–100; Mine Ener, Managing Egypt's Poor and the Politics of Benevolence, 1800–1952. Princeton 2003, 3–10. 12
Doris Behrens-Abouseif, Egypt's Adjustment to Ottoman Rule. Institutions, Waqf and Architecture in
Cairo, 16th and 17th Centuries. Leiden/New York 1994, 145.
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flüsse auf die Praxis islamischer Stiftungen eine Rolle gespielt haben, ist unklar. 13 In muslimischen Herrschaftsgebieten mit religiösen Minderheiten, wie etwa in Ägypten, pflegten Christen oder Juden weiterhin ihr eigenes Stiftungswesen oder gründeten Stiftungen mit gewissen Einschränkungen nach Art des islamischen waqf. 14 Diese Einschränkungen sollten vor allem verhindern, dass die dem Islam fremde Institution Kirche eine starke und vor allem unabhängige wirtschaftliche Grundlage entwickeln konnte. Wesentliche Punkte des islamischen Stiftungswesens waren unter den Gründervätern des islamischen Rechts strittig. Selbst innerhalb ein und derselben Rechtsschule sind divergierende Lehrmeinungen üblich, so dass sich unterschiedliche Rechts- und Verwaltungspraktiken entwickelten. Trotz dieser Mannigfaltigkeit hat sich ein im Wesentlichen einheitliches Grundkonzept des waqf manifestiert. Der Stiftungsakt legt eine Sache für einen gottgefälligen Zweck (arab. qurba) unveräußerlich und in der Regel zeitlich unbegrenzt fest. Sie ist somit dem freien Handelsverkehr entzogen. Der Stifter gibt seine Eigentumsrechte an dieser Sache auf und bestimmt sowohl den Zweck seiner Stiftung als auch die Richtlinien zu deren Nutzung. In der Regel ernennt der Stifter ferner einen Stiftungsverwalter, der wiederum der Aufsicht eines islamischen Richters (arab. qāḏī) unterstellt ist. Meist ist der Stifterwille in einer Stifterurkunde (arab. rasm al-taḥbīs / waqfiyya) niedergeschrieben. Da dem Anspruch der ewigen Dauer durch unbewegliche Güter leichter Genüge zu leisten ist, handelt es sich bei islamischen Stiftungen mit wenigen Ausnahmen um Immobilien. Rege Stiftertätigkeit hat im Laufe der Geschichte weite Teile des städtischen Immobilienbestandes in auqāf umgewandelt. Ein ähnliches Phänomen hat im ländlichen Raum stattgefunden, so dass eine große Anzahl von in Privatbesitz befindlichen fruchtbaren Bodens oder gar ganze Dörfer als islamische Stiftungen deklariert waren. Der religiös-sakrale Charakter des waqf bot einen gewissen Schutz vor widerrechtlichem Zugriff, wie etwa durch staatliche Konfiskationen. Das Hauptmerkmal einer islamischen Stiftung ist ihre Abgrenzung vom profanen Raum. Im Idealfall ist eine für die Ewigkeit gestiftete Sache dem üblichen, profanen sozio-ökonomischen Gebrauch entzogen. Durch den Stiftungsakt wird diese Sache dem Rechtsanspruch Gottes (arab. ḥaqq Allāh) unterstellt und es wird somit sa-
13 Hennigan, Legal Institution (wie Anm.10), 50–70. 14 Richard van Leeuwen, Notables and Clergy in Mount Lebanon. The Khāzin Sheikhs and the Maronite Church, 1736–1840. Leiden/New York 1994, 30–33.
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kraler Raum geschaffen, der eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Die beiden bekanntesten Formen islamischer Stiftung sind die wohltätige öffentliche Stiftung (arab. waqf ḫairī/ cāmm) und die private Familien- bzw. Nachkommenschaftsstiftung (arab. waqf ahlī/ḫāṣṣ/ḏurrī). Nach islamischem Rechtsverständnis ist der Begriff der Gottgefälligkeit (arab. qurba) weit gefasst – so ist die Sorge für die eigene Nachkommenschaft durchaus als gottgefällig zu erachten. Islamische Rechtsgelehrte betrachten folglich diese beiden Stiftungsformen als zwei unterschiedliche Manifestationen eines identischen Phänomens. Ein privatnütziges waqf hat die eigene Nachkommenschaft oder ein Teil davon als primäre Zielgruppe. Nach Ableben des letzten Begünstigten gehen private Familienstiftungen in eine wohltätige öffentliche Stiftung über. Während der Zeit des europäischen Kolonialismus lief das Konzept der islamischen Stiftung als eines sakralen Raumes den Plänen der Kolonialverwaltung zuwider. Vor allem in Siedlerkolonien wie Algerien, wo der Bedarf an fruchtbarem Land groß war, kam es zu einem Interessenkonflikt zwischen Siedlern und dem unveräußerlichen und ewigen Charakter islamischer Stiftungen. Letztendlich interpretierte die Kolonialverwaltung das islamische Recht bezüglich der auqāf in ihrem Sinne um. Da das islamische Stiftungswesen die im Koran festgelegten Erbfolgeregeln außer Kraft setzen kann, erklärten europäische Orientalisten private Familienstiftungen zu einem unislamischen Phänomen. 15 Zur besseren begrifflichen Abgrenzung dieser beiden Gattungen bietet sich die Unterscheidung zwischen gemeinnützigem und privatnützigem waqf an. 16 In der Vergangenheit nahmen Stiftungen in muslimischen Gesellschaften eine große Anzahl gemeinnütziger Aufgaben wahr. Islamische Staaten verfügten zwar sehr früh in ihrer Geschichte über eine effiziente Verwaltung, allerdings „it neither endorsed nor developed a policy of financing municipal services such as primary education, health or religious services, including mosques“. 17 Islamische Stiftungen deckten grundlegende Interessen des Gemeinwohls ab und stellten die entsprechen-
15
David S.Powers, Orientalism, Colonialism, and Legal History: The Attack on Muslim Family Endow-
ments in Algeria and India, in: CSSH 31, 1989, 535–571. 16
Andreas H.E. Kemke, Stiftungen im muslimischen Rechtsleben des neuzeitlichen Ägypten. Die schari-
atrechtlichen Gutachten (Fatwas) von Muhammad 'Abduh (st. 1905) zum Wakf. Frankfurt am Main 1991, 63. 17
Maya Shatzmiller, Islamic Institutions and Property Rights: The Case of the 'Public Good' Waqf, in:
Journal of the Economic and Social History of the Orient 44, 2001, 44–74.
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de Infrastruktur zur Verfügung. 18 Aber auch Armenpflege erfolgte mittels islamischer Stiftungen. Diese philanthropischen Aktivitäten der herrschenden Eliten hatten jedoch eine starke politische Dimension. „In creating institutions for the poor […] they drew attention to themselves as benefactors. Their cognizance of the political import of their actions is evident in the strategic placement of the institutions they established and in royal ceremonies displaying their beneficence.“ 19 Der Einfluss des islamischen Stiftungswesens auf die religiöse Infrastruktur war enorm. Der Bau und Unterhalt von Moscheen, die Entlohnung der Kultusangestellten oder die Finanzierung des islamischen Bildungswesens garantierten dem Stifter nicht nur hohes gesellschaftliches Ansehen und die Hoffnung auf Belohnung im Jenseits, sondern eröffneten ihm auch direkten Einfluss auf die Inhalte der islamischen Lehre „by founding a masjid [mosque] or a madrasa for one of the madhabs [school of Islamic law] to the exclusion of the others“. 20 Die Träger und Vermittler religiöser Gelehrsamkeit (culamā’) waren einerseits eine bevorzugte Zielgruppe für Stiftungen, andererseits oblag ihnen als Experten des islamischen Rechts die Kontrollfunktion über die rechtlich korrekte Verwaltung des islamischen Stiftungswesens. 21 Diese privilegierte Stellung innerhalb des Stiftungssystems weckte allerdings auch Begehrlichkeiten. „The huge accumulation of real estate and fixed assets in the religioacademic establishment was an enticing trove of revenue ripe for mulcting.“ 22 Das Aufkommen einer kapitalistischen Auffassung von Grund und Boden – im Sinne einer ungehindert erwerb- und handelbaren Ware – stand dem Grundkonzept des ewigen und sakralen Charakters sowie der Unveräußerlichkeit islamischen Stiftungen diametral entgegen. Zwar zeigte sich das islamische Recht immer flexibel im Umgang mit den auqāf unter sich wandelnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umständen – so waren etwa unter gewissen Voraussetzungen der Tausch von
18 Randi Deguilhem, The Waqf in the City, in: Salma Khadra Jayyusi/Renata Holod/Attilio Petruccioli/ Andre Raymond (Hrsg.), The City in the Islamic World. Leiden 2008, 923–950. 19 Ener, Managing (wie Anm.11), 5. 20 George Makdisi, The Rise of Colleges. Institutions of Learning in Islam and the West. Edinburgh 1981, 36. 21 Richard van Leeuwen, Waqfs and Urban Structures. The Case of Ottoman Damascus. Leiden/Boston 1999, 67–92; Baber Johansen, The Servants of the Mosques, in: Baber Johansen (Hrsg.), Contingency in Sacred Law. Legal and Ethical Norms in the Muslim Fiqh. Leiden/Boston 1998, 107–128. 22 Carl F. Petry, Scholastic Stasis in Medieval Islam Reconsidered: Mamluk Patronage in Cairo, in: Poetics Today 14, 1993, 323–348.
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Stiftungsimmobilien oder langfristige Miet- bzw. Pachtverträge möglich. 23 Doch grundlegende Bodenreformen hatten zur Folge, dass das Stiftungsrecht modifiziert und gewisse Stiftungsformen staatlicherseits schlicht und ergreifend liquidiert wurden. Durch die Anwendung des Prinzips des Gemeinwohls (arab. maṣlaḥa) nahm diese Entwicklung bereits im 18.Jahrhundert ihren Anfang – „waqf property was frequently alientated, as it entered more and more into market transactions. The principle of maslaha was often used in the case of such alienations, the argument being that they were beneficial to the waqf as a whole.“ 24 Zudem zentralisierte der moderne Staat die Verwaltung des islamischen Stiftungswesens und konnte somit direkter auf dessen wirtschaftliches Potential zugreifen und es so in seine Dienste stellen. Der religiöse Aspekt des islamischen Stiftungswesens war kein ausreichender Schutz vor Konfiszierung und Unterwerfung unter die jeweilige Staatsräson – sakraler Raum wurde wieder in profanen Raum umgewandelt.
Das islamische Stiftungswesen in Ägypten Von der Mamlukenzeit bis 1952 Die Machtübernahme der Mamluken (1250) in Ägypten brachte einen gewaltigen Urbanisierungsschub Kairos mit sich, der sich durch „a coherent strategy behind the implantation of the great endowments“ 25 auszeichnete. Im Laufe dieser Ära ergaben sich strukturelle Veränderungen des gemeinnützigen Stiftungswesens. 26 Zu Beginn der Mamlukenzeit waren die auqāf-Projekte vollständig in die städtische Umgebung eingebettet, d.h. die gestifteten Strukturen, die für die Erwirtschaftung
23
Franz Kogelmann, Islamische fromme Stiftungen und Staat. Der Wandel in den Beziehungen zwischen
einer religiösen Institution und dem marokkanischen Staat seit dem 19.Jahrhundert bis 1937. Würzburg 1999, 68–79; Leonor Fernandes, Istibdal: The Game of Exchange and its Impact on the Urbanization of Mamluk Cairo, in: Doris Behrens-Abouseif (Hrsg.), The Cairo Heritage. Essays in Honor of Laila Ali Ibrahim. Cairo/New York 2000, 203–222. 24
Nelly Hanna, The Administration of Courts in Ottoman Cairo, in: Nelly Hanna (Hrsg.), The State and
its Servants. Administration in Egypt from Ottoman Times to the Present. Cairo 1995, 44–59. 25
Sylvie Denoix, A Mamluk Institution for Urbanization: The Waqf, in: Doris Behrens-Abouseif (Hrsg.),
The Cairo Heritage. Essays in Honor of Laila Ali Ibrahim. Cairo/New York 2000, 191–202. 26
Denoix, Heritage (wie Anm.25), 198–200; Muḥammad cAfīfī, al-auqāf wa’l-ḥayāt al-iqtiṣādīya fī miṣr fi’l-
c
aṣr al-cuṯmānī. [Die islamischen Stiftungen und das Wirtschaftsleben in Ägypten zur osmanischen Zeit].
al-Qāhira [Kairo] 1991.
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von Überschüssen verantwortlich waren, befanden sich am gleichen Ort wie ihre bestifteten Empfänger. Vermietete Stiftungsimmobilien fungierten als Einkommen generierender Annex der mit auqāf bedachten religiösen Infrastruktur. Bedingt durch eine Saturierung des urbanen Raums von Kairo kam es später jedoch häufig zu einer räumlichen Trennung von Gestiftetem und Destinatär. Nicht nur städtische Immobilien, sondern auch landwirtschaftlich nutzbare Liegenschaften im ländlichen Raum waren für die Erwirtschaftung der Überschüsse und die Sicherstellung des Stifterwillens verantwortlich. Diese großzügigen Stiftungen sind abgesehen von ihren religiösen, philanthropischen und wirtschaftlichen Aspekten auch als Ausdruck eines mamlukischen Memorialwesens 27, als Machtdemonstration und Machtlegitimation der herrschenden Elite sowie zum Aufbau von Klientelstrukturen und zur Festigung der Familienbande „as means of hoarding assets to benefit a sinecured group“ 28 zu verstehen. Mit diesem strukturellen Wandel des islamischen Stiftungswesens ging auch ein funktioneller Wandel einher. Auqāf entwickelten sich in Kairo unter der Osmanenherrschaft (ab 1517) zu einer „strictly economic institution […] the waqf was to be […] merely a money-making enterprise. […] So, from being khayri, the majority of waqfs became ahli.“ 29 Die Gründe für die Schaffung eines privatrechtlichen waqf mögen vielfältig, aber immer rational zielgerichtet auf Besitzstandswahrung gewesen sein – wie die Versorgung der eigenen Familie, dem Risiko von Beschlagnahmung durch die Schaffung eines sakralen Raums vorzubeugen oder die Umgehung unflexibler, da koranischer Erbschaftsregelungen 30 –, Fakt ist aber, dass unter osmanischer Herrschaft landwirtschaftlich genutzte waqfLändereien (arab. rizaq iḥbāsīya) stark zugenommen haben. Waren zu Beginn des 14.Jahrhundert lediglich zwischen 2,4 und 3,6 Prozent der damals landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Ägyptens rizaq iḥbāsīya, lag ihre Zahl in der ersten Hälfte des
27 Ulrich Haarmann, Joseph's Law – the Careers and Activities of Mamluk Descendants before the Ottoman Conquest of Egypt, in: Thomas Philipp/Ulrich Haarmann (Hrsg.), The Mamluks in Egyptian Politics and Society. Cambridge/New York 1998, 55–84. 28 Petry, Stasis (wie Anm.22), 344. Siehe auch Doris Behrens-Abouseif, Patterns of Urban Patronage in Cairo, in: Thomas Philipp/Ulrich Haarmann (Hrsg.), The Mamluks in Egyptian Politics and Society. Cambridge/New York 1998, 224–234; Khaled Ahmad Alhamzeh, Late Mamluk Patronage. Qansuh Al-Ghuri's Waqf and his Foundations in Cairo. Diss. phil. Columbus 1993. 29 Denoix, Heritage (wie Anm.25), 200. Sowie Haarmann, Mamluks (wie Anm.27), 70–77. 30 André Raymond, Grandes villes arabes à l'époque ottomane. Paris 1985, 222; Nelly Hanna, Making Big Money in 1600. The Life and Times of Ismaʻil Abu Taqiyya, Egyptian Merchant. Cairo 1998, 125–126.
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16.Jahrhunderts bereits bei 11,8 Prozent, um schließlich Anfang des 19. Jahrhunderts auf zirka 30 Prozent zu klettern. 31 In Ägypten waren Reformen islamischer Stiftungen – im Sinne gezielter und nachhaltiger Eingriffe in ein dynamisches Stiftungssystem – spätestens seit der osmanischen Eroberung im 16.Jahrhundert geläufig. Hinsichtlich des islamischen Stiftungswesens handelt es sich um ein wiederkehrendes Muster: Bei bedeutenden politischen Umbrüchen versuchten die neuen Machthaber waqf-Liegenschaften zu inventarisieren sowie zentral zu erfassen, um sie anschließend zu reorganisieren und in ihre Dienste zu stellen. 32 So erkannte auch der albanischstämmige Muḥammad cAlī – Begründer der bis 1953 herrschenden Dynastie – zu Beginn seiner Herrschaft als Statthalter der Hohen Pforte (1805–1848) die Notwendigkeit umfassender Landreformen zur Finanzierung seiner Maßnahmen zum Umbau des Staates. 33 Die Konsolidierung der eigenen Machtposition und der Aufstieg Ägyptens zu einer führenden Regionalmacht machten den Aufbau einer schlagkräftigen und modernisierten Armee erforderlich. Zur Abschöpfung der hierfür benötigten finanziellen Mittel zapfte Muḥammad cAlī unter anderem das wirtschaftliche Potential des islamischen Stiftungswesens an. Ab 1809 veranlasste er die zentrale Erfassung sowie Besteuerung landwirtschaftlich genutzter rizaq iḥbāsīya. Waren die Titelinhaber nicht dazu in der Lage, fristgerecht glaubhafte Urkunden vorzuweisen, fiel das Land zurück an die Staatsdomäne. 34 Muḥammad cAlīs Nachfolger reorganisierten die von
31
Byron D. Cannon, The Waqf in Egyptian Land Reform and Central Administration, 1800–1914, in:
Andrew W. Cordier (Hrsg.), Columbia Essays in International Affairs. New York/London 1967, 247–276; Nicolas Michel, Les rizaq iḥbāsiyya, terres agricoles en mainmorte dans l'Égypte mamelouke et ottomane. Étude sur les Dafātir al-Aḥbās ottomans, in: Annales Islamologiques 30, 1996, 105–198. Allgemein zu waqfLand in Ägypten s. Gabriel Baer, A History of Landownership in Modern Egypt 1800–1950. London 1962, 147–185; Gabriel Baer, Waqf Reform, in: Gabriel Baer (Hrsg.), Studies in the Social History of the Middle East. Haifa 1969, 79–92. 32
Im Fall von Marokko vgl. Kogelmann, Fromme Stiftungen (wie Anm.23), 149–298; Franz Kogelmann,
Die Entwicklung des islamischen Stiftungswesens im postkolonialen Staat. Prozesse der Säkularisierung in Ägypten, Algerien und Marokko, in: Astrid Meier/Johannes Pahlitzsch/Lucian Reinfandt (Hrsg.), Islamische Stiftungen zwischen juristischer Norm und sozialer Praxis. Berlin 2009, 233–260; Miroslav Melčák, The Development of Dīwān al-awqāf in Egypt in the 19th Century: Regulations of 1837 and 1851, in: Archiv Orientální/Oriental Archive 78, 2010, 1–34. 33
Kenneth M. Cuno, The Pasha's Peasants. Land, Society, and Economy in Lower Egypt, 1740–1858.
Cambridge/New York 1992, 103–197. 34
Melčák, Dīwān al-awqāf (wie Anm.32), 2–8; Cannon, Waqf (wie Anm.31), 250–259; Baer, Social History
(wie Anm.31), 79
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ihm gegründete zentrale waqf-Verwaltung und statteten sie sukzessive mit mehr Kompetenzen aus. 35 Das als dīwān al-auqāf bezeichnete Kontrollorgan rationalisierte die Verwaltung der unter staatlicher Kontrolle stehenden islamischen Stiftungen. Das Bestreben des ägyptischen Staates, über gemeinnützige islamische Stiftungen eine enge Kontrolle auszuüben, erlebte aufgrund des hohen Finanzbedarfs von Ismācīl, Khedive von Ägypten (1863–1879), seinen vorläufigen Höhepunkt. „But it was Isma'il's need for ever larger revenues to pay for his many modernization schemes that ultimately induced him to siphon off revenues of the awqāf khayriyya. […] Since Ismacil's time, government interference in the administration of the waqfs of the religious community has been a way of life. Whatever remaining control the ulama had enjoyed over such waqfs after Muhammad cAli's reign was now ended.“ 36
Unterschiedliche Interessengruppen bemühten sich, Einfluss auf das islamische Stiftungswesen zu erhalten. Neben dem Palast hatten islamische Gelehrte ein vitales Interesse, die auqāf zu kontrollieren. Mit der Okkupation Ägyptens im Jahr 1882 durch Großbritannien kam ein weiterer Akteur ins Spiel. Sich direkt in religiöse Angelegenheiten einzumischen, gestaltete sich für die britische Besatzungsmacht zwar schwierig, doch unter dem Vorwand der Bekämpfung der angeblich virulenten Korruption im islamischen Stiftungswesen sowie mittels des Vorwurfs, der Einfluss der Stiftungsverwaltung auf das öffentliche Gesundheitswesen sei unzureichend, mahnte Großbritannien einschneidende Umgestaltungen an. Letztendlich handelte es sich jedoch um das machtpolitische Kalkül, die anti-britische nationalistische Bewegung finanziell auszutrocknen, die unter dem Khediven (1882–1914) Unterstützung aus Mitteln der auqāf erhalten hatte.
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Abbās Ḥilmī
37
Die Reform der Stiftungsverwaltung von 1895 zentralisierte das Stiftungswesen schließlich. 38 Der dīwān al-auqāf erhielt erweiterte Kompetenzen und die Zentralisierung mündete schließlich durch britischen Druck 1913 in die Schaffung eines Ministeriums mit unabhängiger Organisationsstruktur und eigenem Budget. 39 Als
35 Melčák, Dīwān al-awqāf (wie Anm.32), 8–15. 36 Daniel Crecelius, The Waqf of Muhammad Bey Abu al-Dhahab in Historical Perspective, in: International Journal of Middle East Studies 23, 1991, 57–81. 37 Ener, Managing (wie Anm.11), 94–95. 38 A. Sékaly, Le problème des wakfs en Égypte. Extrait de la Revue des Études Islamiques Année 1929 – Cahiers I-IV. Paris 1929, 308–323. 39 Sékaly, wakf (wie Anm.38), 120–126.
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Ägypten schließlich 1923 zu einer konstitutionellen Monarchie unter der Kontrolle Großbritanniens wurde, entwickelte sich das Parlament zu einem weiteren Faktor im Kampf um die Kontrolle über das Stiftungswesen. 40 Die seit den Zeiten Muḥammad cAlīs anhaltende Tendenz, die Verwaltung islamischer Stiftungen zu bürokratisieren und zu zentralisieren, erreichte 1924 ihren vorläufigen Höhepunkt, als es zu einer Kompetenzerweiterung des Ministeriums kam. Eine Vielzahl privatnütziger auqāf stand fortan unter der Aufsicht des Ministeriums. Bereits kurze Zeit später fand eine öffentliche Debatte über die Zukunft des Stiftungswesens statt. 41 „Den Anlaß dazu gaben weniger die allgemein bekannten jahrhundertealten Mißbräuche des Waqf-Systems als moderne volkswirtschaftliche Erwägungen.“ 42 Im Laufe dieser Debatte kristallisierten sich drei unterschiedliche Interessengruppen heraus: 43 Die Vertreter des konservativen Lagers lehnten jegliche Änderung des islamischen Stiftungswesens, insbesondere der privatnützigen auqāf, ab. Sie wurden angeführt vom ehemaligen Groß-Mufti Muḥammad Baḫīt al-Muṭīcī, also einem exponierten Vertreter des konservativen religiösen Establishments, und unterstützt durch den Palast. 44 Unter der Leitung des Anwalts, Politikers und ehemaligen waqf-Ministers Muḥammad cAlī cAllūba fanden Reformbefürworter einen Sprecher. Ihre Bemühungen zielten auf eine grundlegende Reform des islamischen Stiftungswesens ab. Eindringlich wird vor den „conséquences dangereuses, voire néfaste, des wakfs appelés: wakfs Ahli ou wakfs de famille“ 45 gewarnt. Noch tiefgreifendere Einschnitte, wie ein generelles Verbot der Neugründung und Auflösung aller bestehender privatnütziger auqāf forderte ein Gesetzesentwurf der beiden Juristen und Abgeordneten Aḥmad Ramzī und Yūsuf Aḥmad al-Ǧindī im Juli 1927. 46 Beide Parlamentarier führten während zweier Parlamentsdebatten im Mai 1927 einen heftigen Schlagabtausch gegen das Stiftungsministerium. Der Aufhänger wa-
40
Sékaly, wakf (wie Anm.38), 277–285.
41
Sékaly, wakf (wie Anm.38), 282–294.
42
Joseph Schacht, Šarīca und Qānūn im modernen Ägypten. Ein Beitrag zur Frage des islamischen Moder-
nismus, in: Der Islam 20, 1932, 209–236. 43
Zu den Petitionen, Stellungnahmen und Gesetzesentwürfen der Protagonisten siehe Sékaly, wakf (wie
Anm.38), 402–454, 601–659; A. Cotta, Le régime du wakf en Égypte. Paris 1926; Youssef Mohamed Delavor, Le wakf et l'utilité économique de son maintien en Egypte. Paris 1926. 44
Zu Muḥammad Baḫīt al-Muṭīcī siehe Jakob Skovgaard-Petersen, Defining Islam for the Egyptian State.
Muftis and fatwas of the Dār al-Iftā. Leiden/New York 1997, 133–144.
62
45
Sékaly, wakf (wie Anm.38), 437.
46
Sékaly, wakf (wie Anm.38), 618–649.
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ren finanzielle Unregelmäßigkeiten unter anderem im Zusammenhang mit dem 1926 in Kairo abgehaltenen Kalifatskongress. 47 Diese Debatte verdeutlichte, dass einige politische Strömungen das Stiftungswesen unter eine direkte Kontrolle unabhängiger Instanzen stellen wollten. Einerseits wären diese angestrebten Reformen des Stiftungswesens auf eine Beschneidung der Kompetenzen und Privilegien der islamischen Gelehrten hinsichtlich der auqāf hinausgelaufen, andererseits hätte jeglicher Eingriff in das privatnützige Stiftungswesen weitreichende Konsequenzen für die Landeigentumsverhältnisse Ägyptens gehabt. Mit steigender Tendenz war 1927 etwa ein Achtel des kultivierbaren Bodens Ägyptens als unveräußerliche Stiftungen ausgewiesen. 48 Eine weitere problematische Dimension dieses Reformvorhabens ist mit dem sakralen Charakter des islamischen Rechts als geoffenbarte göttliche Wahrheit verbunden. Diese Sakralität wirft zumindest grundsätzliche Fragen nach der Wandel- bzw. Anpassungsfähigkeit des islamischen Rechts sowie nach dem Prozedere der Kodifizierung des islamischen Stiftungsrechts auf. Doch ehe dieses politische Tauziehen in einen Konflikt mit den Eliten des Landes mündete, löste König Fu’ād I. im Juli 1928 das Parlament auf und setzte die Verfassung außer Kraft. Somit fanden vorläufig keine Änderungen am islamischen Stiftungswesen statt – „dissolution came to parliament before it came to the waqf“. 49 Die Reform des islamischen Stiftungswesens nahm die Legislative erst wieder 1936 auf. 50 Erstaunlicherweise fand sich im vorbereitenden waqf-Ausschuss eine Mehrheit, die für eine Abschaffung der privatnützigen Stiftungen sowie für eine Einschränkung der gemeinnützigen Stiftungen stimmte. Ein erster Gesetzentwurf lag schließlich sechs Jahre später vor, und es vergingen weitere vier Jahre ehe der Gesetzgebungsprozess vollständig abgeschlossen war. Von einer radikalen Abschaffung privatnützlicher auqāf war in diesem Gesetz jedoch keine Rede mehr. Die wohl 47 Malak Badrawi, Financial Cerberus? The Egyptian Parliament, 1924–52, in: Arthur Goldschmidt/Amy J. Johnson/Barak A. Salmoni (Hrsg.), Re-Envisioning Egypt 1919–1952. Cairo/New York 2005, 94–122. Zum Kalifatskongress in Kairo siehe Reinhard Schulze, Islamischer Internationalismus im 20.Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte der Islamischen Weltliga. Leiden 1990, 74–80. 48 Sékaly, wakf (wie Anm.38), 448. 49 Baer, Landownership (wie Anm.31), 148. Baer zitiert hier Aḥmad Ramzī. 50 Zur Genese und dem Inhalt dieses „Gesetzes über stiftungsrechtliche Bestimmungen“ (qānūn bi-aḥkām al-waqf) siehe J. N. D. Anderson, Recent Developments in Sharia Law IX: The Waqf System, in: The Muslim World 42, 1952, 257–276; Andreas H.E. Kemke, Privatautonome Rechtsgestaltung im modernen Staat. Stiftungen in Ägypten, Deutschland und der Schweiz. Berlin 1998, 109–176.
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bedeutendste Neuerung im Stiftungsrecht war die zeitliche Begrenzung privatnütziger Stiftungen. 60 Jahre nach Ableben des Stifters fällt der waqf dem letzten Berechtigen zu. „This reform represents an almost revolutionary change in the waqf system.“ 51 Die für islamische Stiftungen charakteristische Ewigkeit war somit hinfällig und ein privatnütziges waqf wurde nach Wegfall des letzten Destinatärs nicht mehr automatisch in eine gemeinnützige Stiftung umgewandelt. Selbst wenn die Sorge um die eigene Familie durchaus als Gottgefälligkeit zu verstehen ist und somit eine islamische Stiftung legitimiert, war die altruistische Komponente – bislang gewährleistet durch die letztendliche Gemeinnützigkeit – hinfällig. Zudem entfiel „für die Familienstiftung jedweder – wenn auch nur mittelbare – religiös-verdienstliche Charakter des Zwecks der Stiftung“. 52 Islamische Stiftungen in Ägypten ab 1952 Als am 23.Juli 1952 die Freien Offiziere erfolgreich gegen die konstitutionelle Monarchie putschten, begann in vielerlei Hinsicht eine neue Ära in der Geschichte Ägyptens. Erstmals seit über 2000 Jahren Fremdherrschaft standen wieder Ägypter an der Spitze des Staates. Aber damit begann auch eine bis heute – mit einer kurzen Unterbrechung – anhaltende Herrschaft des Militärs. Der Kreis der Freien Offiziere war nicht mit der herrschenden Elite der konstitutionellen Monarchie verbunden und sie waren somit in einer Position, die radikale Reformen ermöglichte. König Fārūq (1936–1952) war gezwungen, zugunsten seines minderjährigen Sohns Fu’ād II. – er war zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum König sechs Monate alt – auf den
Thron zu verzichten. Schließlich rief am 18.Juni 1953 die neue durch Militärs geprägte Staatsführung die Republik aus. Unter der Führung der charismatischen Persönlichkeit von Ǧamāl cAbd al-Nāṣir trieb das revolutionäre Regime die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung Ägyptens voran, unterstützte antikolonialistische Bewegungen und strebte eine Vormachtstellung in der arabischen Welt an. Zur Legitimierung ihrer Herrschaft positionierten sich die ägyptischen Militärs, wie auch ihre Offizierskollegen in anderen arabischen Staaten, „as an authentic instrument for organizing socio-economic, such as implementing agrarian reform, participating in public works, educational campaigns or emergency rescue“. 53 Unter
64
51
Anderson, Sharia Law (wie Anm.50), 261–262.
52
Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 111.
53
Elizabeth Picard, Arab Military in Politics: from Revolutionary Plot to Authoritarian State, in: Albert
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ihrer Ägide entwickelte sich der Staat zum „main and nearly exclusive agent of economic decisions, through a series of seizures and nationalizations which would give it the necessary legal and economic means“. 54 Diese politischen Umwälzungen und Neuordnungen, geprägt von einem autoritären Nationalismus, machten auch vor den islamischen Stiftungen nicht halt. 55 Bereits im August 1952 kamen alle unter direkter Kontrolle des Königs stehenden Stiftungen – sie machten etwa ein Fünftel des Gesamtbestandes islamischer Stiftungen aus 56 – unter die Verwaltung des Stiftungsministeriums. Ein Jahr später konfiszierte der Staat zudem das Stiftungsvermögen von Mitgliedern der königlichen Familie. 57 Im September 1952 wiederum regelte der Gesetzgeber die Auflösung sämtlicher „Stiftungen zugunsten nichtwohltätiger Einrichtungen“ 58 (arab. waqf c
alā ġair al-ḫairāt) und untersagte deren Neugründung. Das Phänomen der privat-
nützigen Familienstiftung verfügte in den Jahrzehnten vor 1952 über große Zuwachsraten, so dass weite Teile des fruchtbaren Bodens von Ägypten Stiftungsland waren. Somit handelte es sich „um einen der gravierendsten gesetzgeberischen Eingriffe in das moderne ägyptische Stiftungswesen überhaupt“. 59 Einen weiteren Eingriff in das islamische Stiftungswesen von großer Tragweite vollzog der Gesetzgeber im Mai 1953. Das Stiftungsministerium übernahm die vollständige Kontrolle über alle gemeinnützigen Stiftungen mit Ausnahme von auqāf, deren Stifter noch lebten und ihre auqāf selbst verwalteten. Zudem war der Minister autorisiert, die Einnahmen jeglicher gemeinnütziger Stiftung – auch entgegen der ursprünglichen Zweckbestimmung – für einen beliebigen Zweck zu verwenden, „if that purpose was more deserving of support than the founder’s one”. 60 Und von dieser Möglichkeit hat der Minister offenbar auch reichlich Gebrauch gemacht. „Most of the waqf revenues Hourani/Philip S.Khoury/Mary C. Wilson (Hrsg.), The Modern Middle East. A Reader. London 1993, 551–578. 54 Picard, Arab Military (wie Anm.53), 568. 55 Zur Entwicklung des islamischen Stiftungswesens nach 1952 siehe Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 236–334; Daniela Pioppi, Declino e rinascita di un'istituzione islamica. Il waqf nell'Egitto contemporaneo. Roma 2006, 51–140; Baer, Social History (wie Anm.31), 88–92, und Ibrāhīm al-Bayūmī Ġānim, Alauqāf wa’l-siyāsa fī miṣr. [Das islamische Stiftungswesen und die Politik in Ägypten]. al-Qāhira [Kairo] 1998, 458–499. 56 Baer, Landownership (wie Anm.31). 57 Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 237–239. 58 Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 240. 59 Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 241. 60 Baer, Social History (wie Anm.31), 90
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were invested in the growing public economy, particularly in food and chemical public industries as well as in the housing sector […].“ 61 Somit war in Ägypten die Nationalisierung des islamischen Stiftungswesens binnen eines erstaunlich kurzen Zeitraums vollzogen und vor allem im Zusammenhang mit der Abschaffung privatnütziger Stiftungen massenhaft sakraler in profanen Raum, sprich frei handelbare Ware, umgewandelt worden. Die Protagonisten dieser Umwandlung argumentierten mit dem Gemeinwohl. Erst die Anpassung der Stiftungsländereien an die zeitgenössischen Erfordernisse garantiere Gottgefälligkeit. Hier standen die ägyptischen Revolutionäre im Einklang mit Max Weber, der „die höchst nachhaltige Immobilisierung akkumulierten Besitzes in Gestalt der Wakufgebundenheit […] für die ökonomische Entwicklung des Orients“ 62 als – im negativen Sinne – sehr bedeutend angesehen hat, sowie ebenso mit dem zeitgenössischen Kritiker des traditionellen islamischen Stiftungswesens Timur Kuran, dem zufolge „an unintended consequence of the waqf system was the dampening of incentives to develop organizational forms suitable to large and durable commercial operations“. 63 Das islamische Stiftungssystem hemme den Fortschritt und sei daher zu beseitigen bzw. in den Dienst eines sich geänderten Wohltätigkeitsbegriffes zu stellen. Nicht Sinekuren für Mitglieder der feudalen Oberschicht oder des religiösen Establishments symbolisierten Gottgefälligkeit, sondern „den einzelnen Individuen wo immer möglich Gelegenheit zu eigenverantwortlicher Arbeit zu schaffen“. 64 Dies konnte nach dem Verständnis der neuen ägyptischen Führung nur der Staat garantieren. In diesem Lichte ist die fast zeitgleich mit der Abschaffung der privatnützigen Stiftungen begonnene Landreform zu verstehen. 65 Nachdem diese Form islamischer Stiftungen per Gesetz zu profanen und grundsätzlich uneingeschränkt verkehrsfähigen Immobilien erklärt worden war, sind sie auch unter die Höchstgrenzen priva61
Daniela Pioppi, From Religious Charity to the Welfare State and Back. The Case of Islamic Endowments
(waqfs) Revival in Egypt. European University Institute. EUI Working Papers. RSCAS No.2004/34. San Domenico di Fiesole 2004, 3, http://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/2776/04_34.pdf?sequence=1 (19.6. 2014). 62
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5.Aufl. Tübingen
1980, 644. 63
Timur Kuran, The Long Divergence. How Islamic Law Held Back the Middle East. Princeton 2011, 128.
64
Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 243.
65
Zur Landreform siehe Gabriel S.Saab, The Egyptian Agrarian Reform. London 1967; Doreen Warriner,
Land Reform and Development in the Middle East. London 1962, 10–54; 191–212.
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ten Landeigentums von anfangs 200 Feddan (ca. 84 ha) gefallen und somit Teil des vom Staat umzuverteilenden Grund und Bodens. 66 Als Entschädigung für Enteignungen hat der Staat den Betroffenen frei handelbare Regierungsobligationen angeboten. Auf den ersten Blick sah dies wie ein Bedeutungs- und Machtzuwachs des Stiftungsministeriums aus – erstmals in seiner Geschichte konnte es über nahezu alle islamischen Stiftungen des Landes Kontrolle ausüben. Dieser erste Eindruck täuschte: Zwar kamen privatnützige Stiftungen anfangs unter die Verwaltung des Stiftungsministeriums, von dort wurden sie jedoch auf das Ministerium für Agrarreform übertragen. Zudem führte die Reform des islamischen Stiftungswesens zum Erliegen der Bereitschaft der Bevölkerung zu stiften. 67 „The road to reform […] would lead to unchallenged state control and the subsequent weakening of religious leadership […] and to a reduction of the autonomy of popular religious institutions.” 68 Funktion und Macht des Stiftungsministeriums waren fortan auf die Verwaltung und Aufsicht der Moscheen, Wohltätigkeit und das Investment seiner Einnahmen aus den verbliebenen Stiftungen reduziert. Nach dem überraschenden Tod von Ǧamāl cAbd al-Nāṣir im Jahr 1970 kam sein Stellvertreter Anwar al-Sādāt an die Macht. Al-Sādāt sah sich mit einer Reihe schwerwiegender und ungelöster politischer, sozio-ökonomischer und militärischer Probleme konfrontiert. 69 Zum Ausbau und zur Festigung seiner eigenen Machtbasis vollzog er eine politische Kehrtwende. Parolen des arabischen Sozialismus waren passé, missliebige politische Gegner wurden kaltgestellt und die sogenannte infitāḥ-Politik eingeläutet. Diese Öffnungspolitik beendete den Arabischen Kalten Krieg – es kam zu einer Annäherung an das konservative Saudi-Arabien –, die Wirtschaftspolitik wurde liberalisiert und der politische Diskurs islamisiert. Gerade die Islamisierung des politischen Diskurses hatte auch auf das islamische Stiftungswesen Auswirkungen. Der Gesetzgeber machte einige grundlegende Reformen der 1950er und 1960er Jahre unwirksam. Eine innerhalb des Stiftungsministeriums geschaffene Kommis-
66 Anouar Abdel-Malek, Ägypten: Militärgesellschaft. Das Armeeregime, die Linke und der soziale Wandel unter Nasser. Frankfurt am Main 1971, 116–118. 67 Morroe Berger, Islam in Egypt Today. Social and Political Aspects of Popular Religion. Cambridge 1970, 46. 68 Berger, Islam (wie Anm.67), 45. 69 Franz Kogelmann, Die Islamisten Ägyptens in der Regierungszeit von Anwar as-Sadat (1970–1981). Berlin 1994, 67–116.
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sion hatte die Aufgabe die Administration aller islamischen Stiftungen zu übernehmen. 1973 begann schließlich eine Rücküberführung aller noch nicht im Laufe der Agrarreform umverteilten waqf-Immobilien in die Verwaltungshoheit des Stiftungsministeriums. „The official aim […] was the recuperation of the institution of waqf for its 'traditional Islamic utilisation' under a centralised public administration.“ 70 Frappierend ist die Ähnlichkeit der Kritik, die im Zusammenhang mit der waqf-Verwaltung in der Zeit vor und unter Ǧamāl cAbd al-Nāṣir geübt wurde. So rechtfertigte sich der ehemalige Stiftungsminister Aḥmad Ḥasan al-Baqūrī (1952–1959) in seinen Memoiren für sein Handeln: 71 Die weitreichenden Reformen seien notwendig gewesen, um der grassierenden Korruption und Zweckentfremdung Herr zu werden und den Reichtum der Stiftungen im Sinne des Gemeinwohls für die Entwicklung des Landes einzusetzen. cAbd al-Muncim al-Nimr, Stiftungsminister von 1979 bis 1980, wiederum kritisierte zu Beginn seiner Amtszeit in einem Pamphlet die Einbindung von Stiftungsländereien in die Agrarreform und die damit verbundene Korruption und Misswirtschaft. 72 Dieses Pamphlet gab Anlass für eine Debatte im ägyptischen Parlament. Islamistische Abgeordnete brandmarkten die unter Ǧamāl cAbd al-Nāṣir umgesetzten Gesetze als unislamisch und forderten die Wiederherstellung sämtlicher islamischen Stiftungen. Diese Parlamentsdebatte wurde aus verfahrenstechnischen Gründen abgebrochen und der Stiftungsminister war ob seiner Enthüllungen zum Rücktritt gezwungen. 73 Nach der Ermordung von Anwar al-Sādāt durch islamistische Extremisten im Jahr 1981 führte Ḥusnī Mubārak während seiner nahezu dreißig Jahre währenden Herrschaft die liberal inspirierte Politik seines Vorgängers fort. 74 Aufgrund der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung des Landes setzte die ägyptische Regierung ab 1991 Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds um. Ein Merkmal dieser neo-liberalen Wirtschaftspolitik war der Rückzug des Staates aus ehedem zentralen Verantwortungsbereichen wie Industrie, Handel und auch staatlicher Wohlfahrt. Der private Sektor erfuhr eine Stärkung bei
70
Pioppi, Charity (wie Anm.61), 4.
71
Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 245–250.
72
Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 320–322; Kamal Barbar/Gilles Kepel, Les Waqfs dans l'Egypte
contemporaine. Kairo, 31–64. 73
Kemke, Rechtsgestaltung (wie Anm.50), 291 FN 284.
74
Eberhard Kienle, A Grand Delusion. Democracy and Economic Reform in Egypt. London/New York
2001.
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gleichzeitiger Reduzierung staatlicher Subventionen für Grundnahrungsmittel. Zaghafte Demokratisierungsansätze und das Aufkeimen einer Zivilgesellschaft brachten unter anderem eine sich islamisch gerierende Opposition hervor. 75 Der Abbau staatlicher Wohlfahrt begünstigte das Aufkommen eines politischen Islam, der in das entstandene Vakuum stieß. Private, jedoch unter strikter staatlicher Kontrolle stehende, islamische Wohlfahrtseinrichtungen deckten das fehlende staatliche Engagement weitgehend ab: Wohlfahrt wurde privatisiert – mitunter ein Grund für den Erfolg islamistischer Parteien in den ersten freien Wahlen im Jahr 2012. Dieser ab den 1990er Jahren einsetzende Trend privatisierter Wohlfahrt unter islamischem Vorzeichen machte auch vor der Institution der islamischen Stiftung nicht halt. Unter dem Banner der „Bewegung zur Wiederbelebung des waqf “ (arab.: al-ḥaraka iḥyā' al-waqf ) erfuhr das islamische Stiftungswesen in Ägypten eine Neuinterpretation. 76 Als genuin islamische Institution „the waqf is represented as an essential institution capable of granting the running of an efficient private welfare system“. 77 Westliche zivilgesellschaftliche Organisationen seien nur eine Kopie des islamischen Stiftungswesens, das in seiner ursprünglichen Form dezentral und unabhängig von staatlicher Einflussnahme zum Wohle islamischer Gesellschaften operierte. 78 Hatte der ägyptische Staat unter sozialistischen Vorzeichen – die Errichtung staatskapitalistischer Strukturen unter Ǧamāl cAbd al-Nāṣir waren offiziell als arabischer Sozialismus tituliert – die maximale Kontrolle über das islamische Stiftungswesen angestrebt und versucht, ihr wirtschaftliches Potential in die Dienste der nationalen Entwicklung zu stellen, bevorzugt der neo-liberale ägyptische Staat zwar eine ausgelagerte, privatisierte Wohlfahrt, doch eine weitgehende Restituierung der islamischen Stiftungen oder gar Privatisierung ist bislang nicht absehbar.
75 Denis Joseph Sullivan/Sana Abed-Kotob, Islam in Contemporary Egypt. Civil Society vs. the State. Boulder 1999. 76 Pioppi, Declino (wie Anm.55), 131–140. Siehe auch Ibrāhīm al-Bayūmī Ġānim, naḥwa iḥyā‘ daur al-waqf fi’l-tanmīya al-mustaqilla. [Plädoyer für eine Wiederbelebung der Rolle der islamischen Stiftung im Bereich der unabhängigen Entwicklung], in: al-mustaqbal al-carabī 235, 1998, 95–125. 77 Pioppi, Charity (wie Anm.61), 6. 78 Die Ergebnisse einer zwischen dem 8. und 11.Oktober 2001 in Beirut abgehaltenen Konferenz zum Thema Zivilgesellschaft und islamische Stiftungen in der arabischen Welt wurden hier publiziert: Ibrāhīm al-Bayūmī Ġānim (Hrsg.), Niẓām al-waqf wa’l-muǧtamac al-madanī fi’l-waṭan al-carabī. [Das islamische Stiftungswesen und die Zivilgesellschaft in den arabischen Ländern]. Bairūt [Beirut] 2003. Zum Problem der public sphere und waqf siehe: Miriam Hoexter, The Waqf and the Public Sphere, in: Miriam Hoexter/S.N. Eisenstadt/Nehemia Levtzion (Hrsg.), The Public Sphere in Muslim Societies. Albany 2002, 119–138.
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Vereinzelte Rückübereignungen von Stiftungen durch das waqf-Ministerium sind offenbar erratischer Natur, „following a clientelistic logic, similarly to what is happening in other cases for public sector privatisation or state licenses allowances“. 79 Protagonisten eines politischen Islam hatten jedenfalls im Laufe der vergangenen Jahrzehnte weder mit einer sozialistischen noch einer neo-liberalen Ideologie Adaptionsprobleme. Die gegenwärtigen Entwicklungen des islamischen Stiftungswesens sind bislang nur schwer einzuordnen – zu volatil ist das politische Umfeld. Seit dem Sturz von Ḥusnī Mubārak und dem Rücktritt von Maḥmūd Ḥamdī Zaqzūq – er amtierte von 1996 bis 2011 – ernannten die unterschiedlichen Regierungen bislang vier Minister an der Spitze des Stiftungsministeriums.
Die Kinder unseres Viertels Als Naǧīb Maḥfūẓ 1959 seinen Roman „Kinder unseres Viertels“ veröffentlichte, stand bereits das gesamte islamische Stiftungswesen Ägyptens unter staatlicher Kontrolle, sein Reichtum war nationalisiert. In einer tour de force schildert er in seinem Roman die bis zum Äußersten gehenden Anstrengungen unterschiedlicher Akteure – allesamt Nachfahren des Ǧabalāwī und ihrem Verständnis nach ungerechtfertigt nicht bedachte Stiftungsdestinatäre –, die Kontrolle über den waqf wiederzuerlangen. Zwischen der Stiftung und den vermeintlichen Nutznießern stand jedoch immer die Verwaltung, die nur einen sehr eingeschränkten Personenkreis in den Genuss der Stiftung kommen ließ. „Wie sehr mußten die Menschen schon wegen dieser verlorengegangenen Stiftung und der blinden Gewalt leiden! Verfluchen wir also die Stiftung und die Gewalt.“ 80 Die Kontrolle über die Stiftung war mit einem von Wohlstand erfüllten Leben gleichgestellt – sine cura animarum. Selbst als offenbar eine gütliche Einigung zwischen den rivalisierenden Gruppen vereinbart war und „wenn also nun das Vermögen gerecht verteilt und damit Gutes getan würde, dann führten die Menschen das glücklichste Leben aller Zeiten“ 81, trat dies nicht ein; vielmehr wird der scheinbar unsterbliche und gleich einem Phantom auf seinem waqf lebende Stifter Ǧabalāwī von einem seiner Nachfahren ermordet. Diese Tat ist
70
79
Pioppi, Charity (wie Anm.61), 7.
80
Machfus, Kinder (wie Anm.2), 271.
81
Machfus, Kinder (wie Anm.2), 308.
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nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der Stiftung oder ihrer Umverteilung, sondern sie stärkt vielmehr die Machtstellung der Verwaltung und deren Gewaltherrschaft. „Das Viertel lebte in düsterster Furcht und erbittertem Haß.“ 82
Fazit Das islamische Stiftungswesen hat in Ägypten zweifellos Entscheidendes zur Entwicklung von Gesellschaft und Kultur beigetragen. Es hat die soziale Textur des Landes über Jahrhunderte geprägt und religiös geforderte Wohltätigkeit institutionalisiert. Die Motivation, für die Ewigkeit zu stiften, um Gottgefälligkeit zu demonstrieren, mag vielfältig gewesen sein, sie ging jedoch nicht vom Staat an sich aus. Ein idealer islamischer Staat zeichnet zwar für die Umsetzung islamischer Rechtsvorstellungen verantwortlich, die Umsetzung der inhaltlichen Dimension islamischer Politik – selbst die Schaffung einer religiösen Infrastruktur – entzog sich weitgehend seinem Verantwortungsbereich und oblag der Initiative der Muslime. So traten alle Bevölkerungsschichten, die über Eigentum verfügten, als Stifter auf, um eine islamische Gesellschaft zu finanzieren. Die Gründung von auqāf hatte die Schaffung von sakralem, dem Verantwortungsbereich Gottes unterworfenem Raum zur Folge. Erst mit dem Aufkommen eines Nationalstaats kam es massenhaft zur Profanisierung sakralen Raums. Der moderne ägyptische Staat unterwarf das islamische Stiftungswesen einer zentralen Kontrolle und nationalisierte seinen Reichtum. Anstelle eines partikularen Stifterwillens trat schließlich die Staatsraison.
82 Machfus, Kinder (wie Anm.2), 560.
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Jüdische Wohltätigkeit in Religion und Tradition sowie innerjüdischer Praxis in Deutschland seit dem Mittelalter von Elisabeth Kraus
Religiöse Grundlagen: Texte, Weisungen, Vorgaben Wohltätigkeit, also die soziale Fürsorge, die Armen- und Krankenpflege, die Unterstützung von Witwen, Waisen und anderer auf Hilfe angewiesener Personen, war im jüdischen Verständnis seit jeher religiöse Pflicht, oberstes sittliches Gebot und Mittelpunkt des Judentums. So etwa schloss der Berliner Gemeinderabbiner und aktive Zionist Juda Bergmann seine Ausführungen über die Mildtätigkeit in einer vom „Verband der Deutschen Juden“ anlässlich seiner fünften Hauptversammlung im Jahr 1914 herausgegebenen apologetischen Schrift mit dem Ausruf: „Menschenliebe ist Gottesdienst“ 1. Anders als das Christentum, dem es kaum um soziale Verbesserungen oder gar „soziale Erlösung“, sondern primär um „Seelenheil, Monotheismus, Unsterblichkeit, kirchliche Organisation“ sowie „Forderungen christlicher Lebensstrenge“ 2 ging, maß die soziale Ethik des Judentums der sozialen Dimension des Lebens bereits seit dem zweiten christlichen Jahrhundert hohen Wert bei. Sie galt als „die einzige Dimension, in der dem Menschen zu leben gegeben ist, so daß auch sein Tun innerhalb dieser Dimension ein gottgefälliges Tun sein kann“ 3.
1 Soziale Ethik im Judentum, hrsg. v. Verband der Deutschen Juden, 3.Aufl., Frankfurt am Main 1914 (Beitrag Juda Bergmann), 51ff., hier 70. Von „Humanität als Erziehungsziel im Judentum“ und davon, dass „zur wahren Frömmigkeit [...] Menschenliebe ebenso wie Gottesliebe [gehört]“, spricht Leo Prijs, Die Welt des Judentums. Religion, Geschichte, Lebensweise. München 1982, 76. Der 1998 verstorbene Judaistik-Professor an der Universität München war der Sohn des Rabbiners Joseph Prijs, erster Biograph der jüdischen Stifterfamilie von Hirsch; vgl. hierzu: Ittai J. Tamari, Vater und Sohn, oder über die Anfänge der Jüdischen Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in: Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur Heft 2, 2009, 107–118. 2 Ernst Troeltsch, zitiert nach Lutz Junghans, Juden als Stifter in Berlin und Frankfurt am Main in der Zeit von 1812–1933 (unveröffentlichte Magisterarbeit Freie Universität Berlin 1966), 182. 3 René König, zitiert nach Junghans, Juden (wie Anm.2).
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10.1515/9783110400007.73
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Zweifellos steht die Wohltätigkeit im Zentrum des sozial-normativen Moralkodex‘ des Judentums, und die Stiftungstätigkeit als eine ihrer tragenden Säulen „ist und bleibt der schönste Ausdruck der menschlichen Würde, der Solidarität und der Nächstenliebe“ 4. Ein zentraler Begriff für das jüdische Verständnis von Mild- und Wohltätigkeit, zedaka, bedeutete zunächst nur „Gerechtigkeit“, und zwar eine ausgleichende, jedem das Seine zusprechende, soziale Gerechtigkeit. Sie gründet im biblischen Postulat der sozialen Gleichheit aller Menschen als Gottes Ebenbild und ist zu „einer obersten ethischen Forderung des Judentums geworden“ 5. Das Wort zedaka spiegelt auch, wie es Jonathan Sacks, Großrabbiner von London und des Commonwealth, formulierte, „die Idee, nach der jeder Besitz letztlich Gott gehört, weshalb auch eher der Sinn für Gleichheit als der für Großzügigkeit Spenden für andere fordert“ 6. Insofern auch handelt es sich bei der zedaka nicht um eine freiwillige, persönliche Entscheidung, sondern um die Erfüllung eines der wichtigsten Gebote des jüdischen Religionsgesetzes, die unabhängig von der individuellen Überzeugung zu geschehen hat. Neben dem Schenken, Spenden und Stiften, also der Bereitstellung materieller Güter für wohltätige Zwecke im Sinne eines sozialen Ausgleichs, ist ein weiterer wichtiger Bestandteil der jüdischen Wohltätigkeit die Gabe von Empathie, Mitleid und (mit-)menschlicher Unterstützung, die tätige Nächstenliebe, die ebenso wie die zedaka eine religiöse Pflicht darstellende gemilut chessed. Diese ist in mancherlei Hinsicht umfassender, weshalb sie gelegentlich auch als im Vergleich zur zedaka höherwertig bezeichnet wird. 7 Sie äußert sich nicht „in der kaltherzigen Hingabe von Geld, sondern vielmehr in der persönlichen Teilnahme an dem Schicksal des Notlei-
4 Arno Lustiger (Hrsg.), Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1988 und 1994, 9. Zur Begrifflichkeit vgl. auch Werner Friedrich Kümmel, „Säulen der Wohltätigkeit“: Jüdische Stiftungen und Stifter in Frankfurt am Main, in: Medizinhistorisches Journal 28, 1993, 275ff. 5 Verena Hennings, Jüdische Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 2008, 70. Zu pauschal dürfte jedoch die Behauptung sein, dass „dieser gesellschaftliche Gerechtigkeitsbegriff [...] im Weimarer Wohlfahrtsstaat nicht nur in der jüdischen Wohlfahrtspflege, sondern allgemein in der deutschen Sozialpolitik von Bedeutung gewesen“ sei; ebd., 326. 6 Jonathan Sacks, Wohlstand und Armut. Eine jüdische Analyse, in: ZEDAKA. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit. 75 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 1917–1992. Frankfurt am Main 1992, 14–29, hier 21. Auf die Sinngebung dieses Wortes in der Bibel als „righteousness, in the sense of piety, as justice, as right in one’s claims“ verweist auch das Lemma „Zedakah“ in der Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, 962. 7 So etwa bei Hennings, Wohlfahrtspflege (wie Anm.5), 72.
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denden“. Gemilut chessed kann nicht nur Armen gegeben werden, sondern sehr wohl auch Reichen, nicht nur Lebenden, sondern auch Toten. Die Ausübung dieser religiösen Pflicht geschieht in mannigfaltiger Weise: „Sie besteht in der Aufrichtung der Sinkenden, in der Fürsorge für die Schwachen und Bedürftigen, in der Hilfe für die Verlassenen und Vereinsamten, besonders für die Waisenkinder und das hilflose Alter, in der gastfreundlichen Aufnahme der Ortsfremden, in der Auslösung unschuldiger Gefangener, in der Unterstützung notleidender Toragelehrter, in der Ausstattung und Verheiratung mittelloser Bräute, in der Schonung und Pflege der Kranken, in der Tröstung Trauernder und in der würdevollen Bestattung der Toten.“ 8
Somit erhält auch der Arme, der materielle Unterstützung nicht gewähren kann, die Möglichkeit, eine mitzve, ein gute Tat, zu vollbringen und das Gebot der Mildtätigkeit zu erfüllen, indem er persönlichen Beistand leistet. 9 Während in biblischer Zeit Armenpflege und Sozialfürsorge ausschließlich privat und individuell gestaltet waren und nicht in der Obhut einer Gemeinde oder karitativen Organisation lagen, entstand im nachexilischen Judentum seit dem christlichen Mittelalter in Umsetzung der beiden Säulen jüdischer Wohltätigkeit, der zedaka und der gemilut chessed, eine ungemein breite Palette entsprechender Institutionen bzw. Vereinigungen, die mit der kehilla, der Gemeinde, assoziiert waren. Die Armenkasse ist hierbei zu nennen, die Einrichtungen zur Speisung Armer und zur Verteilung von Kleidung oder auch Brennmaterialien, Begräbnisfonds für Arme und, der Hochschätzung von Ehe und Familie entsprechend, Ausstattungsfonds für unbemittelte Bräute. Schließlich wurde einerseits Ehelosigkeit von Frauen als Ursache für Verarmung betrachtet, wie es andererseits die biologische Reproduktionsfähigkeit von Gemeinde und Gemeinschaft zu sichern galt. Neben diesen diversen Unterstützungskassen trat in vielen Gemeinden auch ein kleines Hospital, das hekdesch, das ursprünglich als ein Armen-, Kranken- oder auch Nachtasyl fungierte. Die Verwaltung der dafür gespendeten Mittel, die sog. „hekdesch-Gelder“, bildete ein Ehrenamt in der Gemeinde. Somit ist auch die etymologisch auffällige Erscheinung, dass der Gemeindevorsteher parnass, also wohl der von ihm geleiteten bzw. überwachten Armenpflege wegen „Ernährer“ genannt wurde, nicht weiter kurios. 8 Wilhelm Lewy, Wohltätigkeit, in: Jüdisches Lexikon, Bd. V, 1930, 1475–1479, hier 1478 (beide Zitate). 9 Den Grundlehren der Tora entsprechend war eine mitzve nur aus einem einzigen Grund zu üben, „nicht aus Furcht und nicht um Ehre zu suchen, sondern nur seinem Schöpfer zu Ehren“; Julius Höxter, Quellentexte zur jüdischen Geschichte und Literatur. Wiesbaden 2009, 192 (Genesis 39, 9).
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Hinzu kamen in fast allen Gemeinden Mitteleuropas seit dem ausgehenden 16.Jahrhundert hoch angesehene, religiös-soziale Vereinigungen für unterschiedliche karitative Zwecke oder verschiedene Bedürftigenkreise. Diese als chawurot („Bruderschaften“) bezeichneten Vereinigungen, allen voran die bereits seit dem Mittelalter bestehende chewra kadischa, die Beerdigungsbruderschaft, kümmerten sich zwar „anfänglich nur um das Bestattungswesen und die Krankenpflege innerhalb der Gemeinden“ 10, übernahmen aber allmählich die gesamte innerjüdische Wohlfahrtspflege und entwickelten sich zu deren eigentlichen Trägern. Später wurden entsprechende Frauenvereine gegründet, Betreuungsvereine für Kranke und Wöchnerinnen oder auch Brautausstattungsvereine. 11 In der Lesart, wonach die Welt auf drei Dingen stehe, „auf der Lehre, dem Gottesdienst und der Liebeserweisung“ ebenso wie in der Schöpfung der Gemeinde mit ihrem Gotteshaus, dem Gottesdienst und den sozialen Einrichtungen, ist, und diese Einschätzung dürfte nicht von der Hand zu weisen sein, „das Judentum dem Christentum vorangegangen“ 12. Die im Mittelpunkt des sozial-normativen Moralkodex' des Judentums stehende soziale Fürsorge, die sich in Unterstützungskassen ebenso formiert hatte wie in wohltätigen Vereinen, erstreckte sich schon der Bibel zufolge nicht nur auf Arme, Witwen und Waisen, sondern auch auf Fremde, worunter nicht nur Ortsfremde, sondern durchaus auch Glaubensfremde verstanden wurden. Zwar war die wohltätige Gabe, sei es in Form von Sach- oder aber auch Dienstleistung, in erster Linie für den – durchreisenden – ortsfremden Glaubensbruder bestimmt. Schließlich stand dieser schon gemäß den Weisungen der Thora unter dem besonderen Schutz Gottes, waren die Israeliten doch während ihrer Sklavenzeit in Ägypten ebenfalls Fremde gewesen, „auf dass sie dann in ihrem eigenen Lande das Fremdsein nicht verachten, sondern sich an ihr eigenes Schicksal erinnern, und die Fremdverachtung, die sie selbst erfahren hatten, in Fremdenliebe verwandeln mögen“ 13. Die Wohl- oder Liebestat sollte der Jude allerdings auch dem nicht-jüdischen
10
Andreas Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege in Deutschland. Das jüdische Krankenhaus in Bres-
lau 1726–1944. Hannover 1999, 17. 11
Ester Alexander-Ihme, Zur Praxis der Zedaka, in: ZEDAKA. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit (wie
Anm.6), 242–245, hier 243. Es ist gut möglich, dass tatsächlich „die Chewra Kadischa noch in der Weimarer Republik die vorherrschende wohlfahrtspflegerische Vereinsform“ innerhalb einer jüdischen Gemeinde war, wie Hennings, Wohlfahrtspflege (wie Anm.5), 135, schreibt.
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12
Soziale Ethik im Judentum (Beitrag Bergmann, wie Anm.1), 56.
13
Pinchas Lapide, Können wir die Fremden lieben? Mainz 1988, 56.
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Fremden erweisen „in order to preserve good relations“ 14; dies hatte freilich nachgeordnete Priorität. So seien in einschlägige Maßnahmen etwa „auch die unterstützungswürdigen christlichen Studenten [einzubeziehen], falls es keine bedürftigen Juden gebe“ 15. Dennoch werden Glaubensfremde ausdrücklich in die jüdische Armengesetzgebung und deren Hilfesysteme eingeschlossen, „damit dem Ziel der Tora, eine friedliche Welt zu gestalten, nichts im Wege steht“ 16. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der spätere Paritätsgedanke bei jüdischen Stiftungen und Stiftern in dieser Definition des Fremden seine Wurzeln, wenngleich sie nur ein Motiv unter mehreren für das großzügige, überproportionale, gleichermaßen auch auf die christliche Umgebung ausgreifende oder ganz und gar „ohne konfessionelle Beschränkung“ gewährte philanthropische Wirken von Juden seit der Emanzipationszeit bildete. 17 Die Aussagen und Festlegungen zum Armenwesen, zu Armut, ihrer Vorbeugung, Linderung oder Beseitigung, zum Armenrecht innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaft, zu Rechten und Pflichten des Armen, aber auch des Gebenden sowohl in der Bibel wie in der jüdischen Traditionsliteratur sind zahllos, vielschichtig und detailliert; durchgängig ist gleichwohl der in allen nur denkbaren Facetten aufscheinende Gedanke der Prävention sozialer und anderer Notlagen als weiteres Charakteristikum der jüdischen Sozialethik. 18 Zudem galt es nicht erst am Lebensabend, sondern schon deutlich früher, der Gefahr der Verarmung eines Men-
14 Encyclopaedia Judaica (charity), 338–354, hier 342. Vgl. hierzu auch Cornelia Foerster, Wohlfahrtsvereine und Sozialpolitik im deutschen Judentum, in: Manfred Treml/Wolf Weigand (Hrsg.) Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe. München 1988, 339–351, bes. 340. 15 Aryeh Grabois, Der Jude als „der Fremde“ der mittelalterlichen Gesellschaft und die Wohltätigkeitspraxis, in: ZEDAKA. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit (wie Anm.6), 30–43, hier 39. 16 Cornelia Wustmann, „Das Ideal will nicht gelobt, es will gelebt werden.“ Jüdische Wohlfahrt am Beispiel der wohltätigen jüdischen Stiftungen in Dresden und Leipzig. St. Katharinen 2002, 14. Für Leo Prijs bezeichnet die Bibel mit dem Begriff des Fremdling den Nichtjuden überhaupt. Er wird deshalb Fremdling genannt, „weil zur Zeit des biblischen jüdischen Staatswesens der Nichtjude in der Regel aus dem Ausland, also aus der ‚Fremde’ kam“; Prijs, Die Welt des Judentums (wie Anm.1), 79. 17 Vgl. Elisabeth Kraus, Jüdische Stiftungen in München im 19. und 20.Jahrhundert. Gründung, Entfaltung, „Arisierung“ und Rückerstattung, in: Oberbayerisches Archiv, hrsg. v. Historischen Verein von Oberbayern 134, 2010, 195–211, v.a. 198. 18 Bis in die Emanzipationszeit hinein und in dieser selbst war das oberste Gebot des gesamten jüdischen Wohlfahrtswesens und -systems, nicht nur in Deutschland, sondern beispielsweise auch in Großbritannien „to prevent rather than ameliorate poverty“; Rainer Liedtke, Jewish Welfare in Hamburg and Manchester c.1850–1914. Oxford 1998, 233.
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schen entgegenzutreten. Hilfeleistung stellte eine religiöse Pflicht dar, der jeder Jude nicht irgendwann später, sondern unverzüglich nachkommen musste. „Das große Prinzip der Nächstenliebe [...] muß im Leben der Juden verwirklicht werden“. 19 Damit wurde in der jüdischen Wohltätigkeit die Bedeutung der Kapitalhöhe relativiert, denn jeder Jude war bei Erkennen einer Notlage umgehend zur Hilfe verpflichtet. Kapital wog demnach in seiner sozialen Gewichtung mehr als in seiner ökonomischen. Die unmittelbare wohltätige Leistung hatte Vorrang vor einer testamentarischen Stiftung als krönendem Abschluss eines wirtschaftlich erfolgreichen Erwerbslebens. In diesen Kontext gehört auch die bei Juden offenbar – im Vergleich zu christlichen Stiftern – größere Bereitschaft, zu Lebzeiten, also mit warmen Händen zu geben. Schon immer wurde Wohltätigkeit eines gesunden, auf Heilung nicht hoffen müssenden, die Gabe also nicht instrumentalisierenden Gläubigen im jüdischen Moralkodex höher eingeschätzt als entsprechende testamentarische Bestimmungen. So forderte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Berliner Gemeinderabbiner Juda Bergmann unter Rekurs auf Maimonides von der rechten Mildtätigkeit: „Die Almosen, die der Gesunde gibt, sind Gold, die der Kranke spendet, sind Silber, die man im letzten Willen verfügt, sind Kupfer.“ 20 Der im Vergleich zu den – katholischen – Christen bei den Juden mutmaßlich geringere Anteil der Testamentsstiftungen und -spenden mag womöglich auch diesem Grunde geschuldet sein. Generell war die Heilserwartung im Judentum schwächer ausgeprägt als im Christentum abendländischer wie östlicher Prägung oder im Islam, und „die Aussicht auf eine jenseitige Belohnung gottgefälliger Taten“ fungierte weit weniger als Stiftungsimpuls. 21 Die gute Tat im Hier und Jetzt, die diesseitige Verantwortung des Einzelnen war gefragt, nicht zuletzt wohl auch, weil die „Rolle der Höllenfurcht“ und somit auch das „Bedürfnis nach stellvertretender und postmortaler Buße“ nachrangig waren. 22 19 Der englische Oberrabiner J.H.Hertz, zitiert nach Prijs, Die Welt des Judentums (wie Anm.1), 84 (Kursiv im Original). 20 Soziale Ethik im Judentum (Beitrag Bergmann, wie Anm.1), 62 (Zitat Maimonides). 21 Deshalb dürfte man auch kaum von einer bei allen drei monotheistischen Weltreligionen gleichermaßen stark ausgeprägten „Jenseitshoffnung bei Befolgung des jüdisch-christlich-islamischen Barmherzigkeitsgebots“ sprechen können; vgl. Sylvelin Wissmann, Wohltätig für Wohltäter. Vom doppelten Nutzen der Philanthropie an Bremer Beispielen des 19.Jahrhunderts, in: Traverse 13, 2006 (= Philanthropie und Macht, 19. und 20.Jahrhundert), 47–61, hier 47. 22 Ralf Lusiardi, Stiftung und Seelenheil in den monotheistischen Religionen des mittelalterlichen Euro-
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Auch bei den Anlässen für mildtätige und Almosengaben treten Unterschiede im Verhalten von Christen und Juden zutage. Bei Juden stellten religiös-kultische und hiervon nicht eindeutig zu trennende familiäre Begebenheiten und Einschnitte weit häufiger den Anlass für Zuwendungen und Spenden dar als bei Christen, sei es bei der Geburt eines Kindes, der Beschneidung, der Bar Mitzvah, der Hochzeit, bei Ehejubiläen, bei Genesung von einer Krankheit, anlässlich des Todes oder bei Jahrestagen verstorbener Angehöriger. Insbesondere bei Begräbnissen war es üblich, für die Armen zu spenden. 23 Im Emanzipationszeitalter traten zunehmend auch säkulare Anlässe hinzu wie etwa Firmen- und Geschäftseröffnungen bzw. -jubiläen oder auch Regierungs-, Regenten- und Stadtjubiläen, bei denen sich dem assimilationswilligen und spendenfreudigen jüdischen Bürgertum die Möglichkeit bot, sich im politischen Koordinatensystem als gleichermaßen loyale Staats- wie anhängliche Stadtbürger zu beweisen. Doch nicht nur der rechte Zeitpunkt der wohltätigen Gabe, die „keine Gunst, sondern für den Armen ein Recht, für den Reichen eine Pflicht“ 24 war, wurde festgelegt, auch über Art und Umfang der Zuwendungen gab es durchaus detaillierte Vorschriften. Den verschiedenen Stufen und Graden der Armut – von Bedürftigen über Sinkende, Herabgekommene, Mangelleidende bis zu Verarmten reichte die Skala – entsprechend gab es neben der obligatorischen Sammlung von Geldspenden für die Kuppa, das Korbalmosen der Gemeinde, das Schüsselalmosen für die noch schlechter gestellten, um die nackte Existenz kämpfenden und mit Naturalien zu versorgenden Armen. 25 Der Armenpflege sollte etwa ein Zehntel der Einkünfte zufließen, keinesfalls aber mehr als ein Fünftel, damit der Gebende nicht selbst in absehbarer Zeit unterstützungsbedürftig würde. Weder wurde – wie im Christentum – einer Verdammung weltlicher Güter das Wort geredet und ein Hohelied auf die Askese angestimmt, noch war Unterstützung der Armen gleichbedeutend mit Aneignung von Armut in religiöser, womöglich ka-
pa. Eine komparative Problemskizze, in: Michael Borgolte (Hrsg.), Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne. Auf der Suche nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in religiösen Grundlagen, praktischen Zwecken und historischen Transformationen. Berlin 2005, 47–69, hier 47 bzw. 68. 23 Vgl. hierzu Prijs, Die Welt des Judentums (wie Anm.1), 86. 24 Foerster, Wohlfahrtsvereine und Sozialpolitik (wie Anm.14), 339. 25 Vgl. Wilhelm Neumann, Entwickelung der jüdischen Wohlthätigkeits-Einrichtungen. Fürsorge und Selbsthilfe. o.O. 1901, 4f.
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thartischer Absicht. Auch sollte niemand die Armut anderer lindern, wenn dies zu Lasten eigener Verarmung ging; erklärtes Ziel von Wohltätigkeit war stattdessen die Unabhängigkeit von ihr. Schließlich galt Armut als Erzübel der Menschheit, bekanntlich schlimmer als fünfzig Plagen, das absolute Gegenteil eines glücklichen und erstrebenswerten Zustandes und auch nicht „als irgend einer Tugend förderlich“ 26. Armut, die immer auch Erniedrigung durch Abhängigkeit bedeutete, musste zwar kurzfristig gemildert, langfristig aber durch Bekämpfung ihrer Ursachen nach Möglichkeit beseitigt werden. „Eine Tat, die den Empfänger in die Lage versetzt, auf Wohltätigkeit nicht mehr angewiesen zu sein, ist höher zu bewerten als jedes Wohltätigsein.“ 27 Einen hohen Stellenwert hatte somit das der Armutsprophylaxe dienende Prinzip der Nachhaltigkeit von Hilfe, Fürsorge und Unterstützung, das häufig mit einem weiteren, nicht weniger wichtigen Grundsatz sinnvoll ergänzt und verknüpft wurde, nämlich der bereits im 12.Jahrhundert genauer definierten Hilfe zur Selbsthilfe. Das (spät-)mittelalterliche ohnehin, aber auch noch das neuzeitliche Urteil der rechten Mildtätigkeit weist viele Rückbezüge auf die von Maimonides (1135/8– 1204) in 13 Glaubenssätzen niedergelegten Grundprinzipien des Judentums auf. Rabbi Moses ben Maimon, abgekürzt RaMBaM, war einer der bedeutendsten jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters und begründete den „jüdischen Aristotelismus“ 28. Geboren im südspanischen Cordoba, einer Stadt, in der Anhänger aller drei monotheistischen Weltreligionen seinerzeit – noch – friedlich miteinander lebten, verband Maimonides „in sich [...] talmudische Gründlichkeit und philosophischen Scharfsinn“ 29. Bei seinen Ausführungen zur Wohltätigkeit im Judentum präsentierte der seit 1165 in Ägypten lebende Philosoph eine stark differenzierende, nach insgesamt acht Graden unterscheidende Wertigkeitsskala. Die unterste Stufe stellt ein Geben dar, das – gleichsam in Erledigung einer als lästig empfundenen Pflicht – unfreundlich geschieht. Bereitwillig, aber weniger als angemessen zu geben, kennzeichnet die zweitunterste Stufe, Geben, nachdem man darum gebeten wurde, und Geben, bevor man gebeten wird, die nächstfolgenden. Bei der fünften Stufe kennt der Gebende nicht den Namen des Bedürftigen, bei der sechsten Stufe erfährt der
26
80
Sacks, Wohlstand und Armut (wie Anm.6), 15.
27
Ebd, 16.
28
Michael Tilly, Das Judentum. Wiesbaden 2007, 135.
29
Maurice-Ruben Hayoun, Geschichte der jüdischen Philosophie. Darmstadt 2004, 103.
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Arme umgekehrt nicht den Namen des Spenders. Den zweithöchsten, siebten Grad erreicht derjenige, der im Stillen und Verborgenen gibt. Sind somit Gradmesser für die Stufeneinteilung bislang Freundlichkeit, Zuvorkommenheit im buchstäblichen Sinne sowie Anonymität, kann die höchste Wertigkeit, die achte Stufe, derjenige erzielen, der im Sinne der – modern gesprochen – Hilfe zur Selbsthilfe agiert und „dem Armen beisteht, indem er ihm ein Geschenk macht oder ihm ein Darlehen gibt, indem er mit ihm eine Geschäftspartnerschaft eingeht oder ihm hilft, eine Arbeit zu finden – einfach gesagt, indem er ihn in die Lage versetzt, die Hilfe anderer Menschen entbehren zu können“ 30. Im Gegensatz zum katholischen ist im jüdischen Verständnis Wohltätigkeit „keinesfalls gerechtfertigt durch das Gute, das sie für die Seele des Gebenden meint, sondern durch das Maß, in dem sie das Elend des Empfängers, physisch und mehr noch psychisch, beseitigt“ 31. Das seelische Leid, das durch Armut hervorgerufen wird, äußert sich in Gefühlen der Erniedrigung, Entwürdigung, Schmach und Schande, weshalb in den einschlägigen Vorgaben und Weisungen des Judentums zur Milderung und Behebung von Armut mehr die Würde des Armen als dessen Würdigkeit diskutiert wird. In der Wertschätzung der Anonymisierung der Gabe spiegelt sich ein wichtiges, in der talmudischen Literatur varianten- und anekdotenreichreich aufscheinendes Prinzip, „den Armen nicht durch Almosen zu beschämen“ 32, wie auch die gesamte Gesetzgebung in hohem Maße Rücksichtnahme auf die Gefühle der Almosenempfänger fordert. 33 Die Kehrseite der vielfältigen Wohlfahrtsaktivitäten der Religionsgemeinde bildete die massive Inanspruchnahme und Einforderung der Hilfsbereitschaft, und entsprechend groß, zuweilen drückend waren die Auflagen, die eine Gemeinde ihren Mitgliedern zumutete. Wohltätigkeit zu Lebzeiten, zumal in einer Größenordnung, die dem 10. Teil des Einkommens gleichkam, wurde ebenso erwartet wie Testamentsvermächtnisse, und als Repressionsmittel bei Vernachlässigung oder Verweigerung dieser religiösen Pflicht standen Strafen, wie die von Maimonides geforderte Zwangsvollstreckung, oder gar die Ausstoßung aus der Gemeinde parat.
30 Maimonides, Hilkhot Mattenot Ani’im 10, 7–14, zitiert nach Sacks, Wohlstand und Armut (wie Anm.6), 16. 31 Ebd. 32 Prijs, Die Welt des Judentums (wie Anm.1), 85. 33 Vgl. Sacks, Wohlstand und Armut (wie Anm.6), 22. Umgekehrt wurde der Almosenempfänger dazu angehalten, „sich einzuschränken und lieber zu leiden, als von anderen abhängig und der Gemeinde eine Last zu sein“; Wustmann, Jüdische Wohlfahrt (wie Anm.16), 19.
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Ob und inwieweit diese Mittel jemals zum Einsatz kamen, ist fraglich bzw. nicht genau zu klären. Ohnedies dürfte kaum die Abschreckung, sondern die Überzeugung, die Einsicht in die Notwendigkeit der Hilfe und das Bedürfnis der Erfüllung eines religiösen Gebots das hohe Niveau jüdischer Wohltätigkeit begründet haben. Von daher gilt wohl für die meisten jüdischen Stifter, welcher konkreten religiösen Orientierung auch immer, diese Einschätzung: „For some Jewish activists, however, philanthropic activity did not merely affirm Jewish identity but actually defined it“ 34.
Vereine und Stiftungen Die innerjüdische, zumindest die innerhalb der Gemeinde praktizierte, institutionalisierte Wohltätigkeit basierte auf dem Fundament von zedaka und gemilut chessed und fußte auf den kräftigen Säulen der zahlreichen Wohlfahrtsvereine, -ausschüsse und Bruderschaften sowie der milden, auch religiös-kultusbezogenen Stiftungen, etwa zur Verteilung von Holz, Kleidung oder Ostermehl. Sie war vielfach vernetzt und verstrebt, stets aber getragen von den Prinzipien der Hilfe zur Selbsthilfe, der Fürsorge und Nachhaltigkeit, der Prävention und Parität. Während vermutlich erst im 18.Jahrhundert Juden in der innergemeindlichen Wohlfahrtspolitik zunehmend zum Instrument der Stiftungen griffen, geht die Tradition wohltätiger Vereine und Ausschüsse bereits auf das Mittelalter zurück. Nach älteren, möglicherweise revisionsbedürftigen, aber nicht völlig unzutreffenden Einschätzungen haben die vor allem durch die Kreuzzüge heimatlos gewordenen Fremden zusammen mit den ansässigen Armen die Zahl der Bedürftigen beträchtlich in die Höhe getrieben. Dies führte seit dem 13.Jahrhundert bei den Vorständen der jüdischen Gemeinden in Deutschland dazu, dass die von ihnen zunächst „nicht begünstigte Hilfsaktion der Vereine in Anspruch genommen werden (musste), die einmal anerkannt, zu einer schier unbegrenzten Differenzierung der Einzelzwecke fortschritten und sich eine dominierende Stellung auf dem Gebiete der Wohltätigkeitspflege eroberten.“ 35 Insbesondere die (Beerdigungs-)Bruderschaften orientierten sich dabei am gesellschaftlichen und organisatorischen Vor-
34
Derek Penslar, Philanthropy, the „Social Question“ and Jewish Identity in Imperial Germany, in: Year
Book des Leo Baeck Instituts 38, 1993, 51–73, hier 58. 35
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Neumann, Wohlthätigkeitseinrichtungen (wie Anm.25), 9.
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bild der christlichen Zünfte. Hierarchisch gegliedert und strengen Disziplinarregeln unterworfen, bildeten sie „die Elite der Gemeinde“, da „nur die Besten – sowohl in religiöser als auch in materieller Beziehung – in die Bruderschaft als Mitglieder aufgenommen wurden“ 36. An der Wende zum Emanzipationszeitalter existierte in den jüdischen Gemeinden eine Fülle von Vereinen und Vereinigungen als „annähernd freiwillige Zusammenschlüsse frommer Personen zu religiösen und wohltätigen Zwecken“; in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts freilich entwickelten sich viele von ihnen „von einem traditionell jüdischen zu einem bürgerlichen Verein“, wobei allmählich „die religiösen Inhalte teilweise oder durchgängig durch säkulare Ansätze ersetzt wurden“ 37. Die in der Folge auftretende Entfaltung des jüdischen Vereinswesens macht eine Kategorienbildung sinnvoll, wobei sich fünf nicht strikt voneinander zu trennende, sondern sich in der Praxis wohl gelegentlich ergänzende Gattungen herausschälen: Es waren dies religiöse Vereine im engeren Sinne, soziale und Fürsorgevereine, Vereine zur Förderung der Berufsumschichtung, Lese- und Bildungs- sowie Geselligkeitsvereine. 38 Sicherlich nicht von Beginn an, aber im Laufe der Zeit und besonders in der Phase der Emanzipation vom ausgehenden 18.Jahrhundert an hatte das religiöse wie soziale oder bildungsbezogene Vereinswesen der Juden(-Gemeinden) in Deutschland mehrere Funktionen: Zunächst und in hohem Maße der Ausprägung und Festigung der Gruppenidentität in der Ghetto-Existenz dienend, führte die Modernisierung des jüdischen Vereinswesens zu einer Verbürgerlichung desselben, indem Mitgliederrekrutierungs- und Organisationsstrukturen sich den im nicht-jüdischen Vereinswesen vorgefundenen Prinzipien und Praktiken anpassten und allgemein-philanthropische Inhalte rezipiert und diskutiert wurden. Dies musste jedoch keineswegs und überall eine Aufgabe und Loslösung der Verbindungen zum Judentum bedeuten. Gleichzeitig aber stellte das im Prozess der Aneignung von Elementen der Mehr-
36 Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Erster Band 1600–1780. München 1996, 168. 37 Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004, 526. 38 Dies nach ebd., 528ff. Allgemein zum – neueren, bürgerlichen – jüdischen Vereinswesen und dessen Rolle im Prozess der Akkulturation der deutschen Juden siehe David Sorkin, The Transformation of German Jewry, 1780–1840. New York 1987, und auch George L. Mosse, German Jews beyond Judaism. Bloomington 1985.
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heitskultur modifizierte jüdische Vereinswesen durchaus den Ort dar, wo das akkulturierte jüdische Bürgertum die Zugehörigkeit zu dieser sozialen Schicht ebenso demonstrieren konnte wie sein durch die Erfahrung von Ausschluss und Diskriminierung geprägtes Selbstverständnis und jüdisches Selbstbewusstsein. „Hierin liegt wohl der entscheidende Grund für das Engagement des jüdischen Bürgertums in den Vereinen, das den Auf- und Ausbau der jüdischen Wohlfahrtspflege im 19. Jahrhundert überhaupt erst ermöglichte.“ 39 Die gemeinsame, der Tradition, also dem sozialnormativen Moralkodex verpflichtete Tätigkeit in den diversen Wohltätigkeitsvereinen und -vereinigungen hatte zudem eine die unterschiedlichen sozialen Schichten zwar nicht nivellierende, sie aber überwölbende Wirkung: Sie brachte „arme mit reichen Juden, religiöse mit nicht-religiösen Juden, jüdische Migranten aus verschiedenen Regionen, moderne mit traditionellen Juden [zusammen]. Die Identifikation mit jüdischer Wohltätigkeit war eine Möglichkeit, sich jüdisch zu fühlen, ohne sich von religiösen oder anderen Einstellungen zu lösen.“ 40 Der Blick auf die Funktion (im Unterschied zur Intention) jüdischer Wohltätigkeitsvereine im Zeitalter von Aufklärung und Emanzipation, nimmt Themen wie Transformation, Identität, Inklusion, Exklusion, Beziehungsgeschichte und auch Migration von Juden nach der Öffnung des mittelalterlichen Ghettos unter die Lupe. 41 Insbesondere der transatlantische Vergleich ermöglicht hierbei aufschlussreiche Erkenntnisse. Die innerkonfessionell betriebene jüdische Wohltätigkeit in Mitteleuropa im 19.Jahrhundert beispielsweise mag durchaus auch und in gewisser Weise als ein Hindernis auf dem Weg zur Integration gewirkt haben. Die traditio-
39
Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege (wie Anm.10), 306. Darin beschreibt der Autor am Beispiel
der Jüdischen Gemeinde in Breslau und insbesondere ihrer Chewra Kadischa, wie sich die Modernisierung traditioneller jüdischer Organisationsformen seit dem Ende des 18.Jahrhunderts in dem bisher wenig beachteten Bereich des jüdischen Wohlfahrtswesens vollzog, 40
Tobias Brinkmann, Separierung versus Integration: Ein Vergleich der Funktion jüdischer Wohltätig-
keit in Deutschland und den USA im 19.Jahrhundert, in: Thomas Adam/James Retallack (Hrsg.), Zwischen Markt und Staat: Stifter und Stiftungen im transatlantischen Vergleich. Leipzig 2001, 81–105, hier 97. 41
So kann eine auf 18 Seiten gedrängte und zudem auf lediglich drei jüdische Persönlichkeiten fokus-
sierte, vergleichende Analyse von „strategic political uses of Jewish philanthropy between 1880 und 1914 in various countries of Western Europe“ die Ausgangshypothese in tautologischer Weise und damit denkbar wenig erkenntnisfördernd nur bestätigen, dass nämlich „Jewish philanthropy as a means to social and political integration varied in different countries“; Luisa Levi D’Ancona, Philanthropy and Politics. Strategies of Jewish Bourgeoisie in Italy, France and England Between the End of 19th and Beginning of 20th Century, in: Traverse (wie Anm.21), 83–100, hier 83 bzw. 96.
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nellen, sozialen Aufgaben in der Gemeinde gewidmeten jüdischen Bruderbünde ermöglichten es mitunter nämlich „dem modernen Juden nicht, Geselligkeit und Religiosität mit Nicht-Juden zu teilen, über die Grenzen der lokalen Gemeinde hinaus aktiv zu werden oder eine bürgerlich-säkulare Identität zu entwickeln“ 42. Deutlich verschieden hiervon verlief die Entwicklung im gleichen Zeitraum in den USA. Dort existierten spätestens seit der Mitte des 19.Jahrhunderts jüdische communities, die lockerer organisiert und auch offener waren als die vom Staat regulierte deutsche Einheitsgemeinde. Ihre gemeinschaftsorientierte Wohltätigkeit bewirkte weniger eine „Isolierung der Juden als Gruppe, sondern förderte vielmehr die ‚Integration‘ – zu amerikanischen Bedingungen“ 43. Im Unterschied zu den wesentlich älteren männlich dominierten, wohltätigen Vereinigungen sind die karitativ wirkenden jüdischen Frauenvereine eine Erscheinung der Epoche der Aufklärung. Doch nicht nur im Entstehungszeitpunkt, auch in der Rollenzuweisung oder der selbst definierten Aufgabenstellung gab es signifikante Unterschiede: Während jüdische Männer oftmals in (Beerdigungs-)Bruderschaften, Talmud Thora-Vereinen oder anderen Vereinen mit vorwiegend oder ausschließlich religiösem Charakter agierten, „betätigten sich jüdische Frauenvereine als Selbsthilfe-, Krankenpflege- und Wohltätigkeitsvereine“ 44. Insgesamt wohl räumte der Übergang von einem religiöse Pflichten und Gebote erfüllenden zu einem säkular orientierten Vereinswesen, zumal vor dem Hintergrund der Verbürgerlichung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und dessen Vereinswesen, „jüdischen Frauen größere Beteiligungsmöglichkeiten“ ein und zwar in mehr als 150 jüdischen Frauenvereinen, die zwischen 1745 und 1870 in Deutschland existierten. 45 Mit Blick auf den Anteil von Frauen in der (inner-)jüdischen Philanthropie, sei es in pflegerischen oder fürsorgerischen Vereinen oder aber als Initiatorinnen und
42 Cornelia Wilhelm, Deutsche Juden in Amerika. Bürgerliches Selbstbewusstsein und jüdische Identität in den Orden B’nai B’rith und Treue Schwestern, 1843–1914. Stuttgart 2007, 52. 43 Brinkmann, Separierung versus Integration (wie Anm.40), 103. 44 Benjamin Maria Baader, Vom Rabbinischen Judentum zur bürgerlichen Verantwortung: Geschlechterorganisation und „Menschenliebe“ im jüdischen Vereinswesen in Deutschland zwischen 1750 und 1870, in: Adam/Retallack, Zwischen Markt und Staat (wie Anm.40), 14–29, hier 21. 45 Ebd.28 bzw. 16. Vgl. hierzu ausführlicher ders., Gender, Judaism and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870. Bloomington 2006, worin die These einer Feminisierung des Judaismus, die sich nicht zuletzt auch in der Integration von Frauen in das jüdische Vereinswesen zeige, vertreten und begründet wird.
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Gründerinnen von Stiftungen für karitative und wohltätige Zwecke in einer von der Umweltgesellschaft separierten und diskriminierten Ethnie, in der zudem das außerhäusliche Leben von Männern repräsentiert und geprägt wurde, dürfte diese Frage erkenntnisfördernd sein: Hat die doppelte Zurücksetzung als Frau und als Jüdin womöglich ein entsprechend breiteres oder intensiveres Engagement jüdischer Frauen in der Wohlfahrtspflege der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in der Zeit vor ihrer zumindest rechtlichen Gleichstellung 1870/71 bewirkt? Oder haben sich Jüdinnen mit der ihnen zugewiesenen Nischenexistenz abgefunden, sich mit der sozial-karitativen Tätigkeit in den Wohlfahrtseinrichtungen zufrieden gegeben und auch etwa das Instrument der Stiftung gar nicht anzufassen gewagt? Trifft es auch für die jüdischen Frauen (wie dies für ihre nicht-jüdischen, christlichen Geschlechtsgenossinnen angenommen wird) zu, dass sie, sollten sie überhaupt als Stifterinnen hervorgetreten sein, damit nicht gleich Suffragetten geworden oder gewesen sind? 46 War das wohltätige Engagement jüdischer Frauen, welche Form auch immer es angenommen hat, ein Emanzipationskatapult auch für sie selbst und nicht nur für die Ethnie insgesamt? Oder macht es hierbei im Gegenteil mehr Sinn, „to reconsider Philanthropy as a countermodel to emancipation“ 47? Der derzeitige Forschungsstand sowohl zum jüdischen Vereins- wie zum innerkonfessionellen Stiftungswesen im allgemeinen als auch zu dem Anteil von Frauen in beidem lässt noch keine dezidierten Antworten auf diese Fragen zu. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Wechselwirkungen zwischen Prinzipien und Praxis des jüdischen und des nicht-jüdischen, meist christlichen Wohlfahrtswesens. Die Frage, wer hier voran ging, wessen Methoden professioneller, auch innovativer, origineller, nachhaltiger, wessen Personal besser ausgebildet, wessen Strukturen anpassungsfähiger und reformfreudiger waren, bei wem insgesamt die Professionalisierung der Sozialarbeit weiter fortgeschritten war bzw. ob und inwieweit es eine wechselseitige Befruchtung, Ergänzung und Bereicherung gab, ist derzeit noch nicht eindeutig zu beantworten. Weitere Untersuchungen der innerkonfessionellen Sozialarbeit wie auch beziehungs- und transfergeschichtliche Studien könnten den für Frankfurt am Main erhobenen Befund auch für andere jüdische Gemeinden bestäti-
46
Dies meint Kathleen McCarthy, Noblesse Oblige. Charity and Cultural Philanthropy in Chicago, 1849–
1929. Chicago 1982, hier 23. 47
Thomas Adam, Buying Respectability: Philanthropy and Urban Society in Transnational Perspective,
1840s to 1930s. Bloomington 2009, 9.
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gen bzw. korrigieren, wonach gegen Ende des 19.Jahrhunderts zumindest die geschlossene Fürsorge in Form der jüdischen Wohlfahrtsanstalten „den christlichen an Organisationsgrad, Differenziertheit, moderner Ausstattung und wissenschaftlicher Reife bereits so überlegen waren, dass sie meist zu den eigentlichen Trägern des gesamtstädtischen Gesundheits- und Sozialsystems wurden“ 48. Vorerst ist zwar noch nicht immer detailgenau und für eine nennenswerte Anzahl jüdischer Gemeinden in Deutschland geprüft, inwieweit die allgemeine, überkonfessionelle Entwicklung von Sozialstaat, Sozialversicherungswesen und professioneller Sozialarbeit unter Einschluss von Beratung, Ausbildung und Umschulung entsprechende Tätigkeitsbereiche bei den deutschen Juden durchdrang und veränderte. Ebenso wenig ist geklärt, ob sie umgekehrt von dem weit ausgreifenden und offenbar recht wirksamen System jüdischer Wohlfahrtspflege beeinflusst und vorangebracht wurde. Fest steht in jedem Fall: „Der Gesamtumfang jüdischer Wohltätigkeits- und Fürsorgeaktivitäten war beträchtlich“. So existierten im Jahr 1906 etwa 5000 jüdische Wohlfahrtsorganisationen, inklusive Unterrichtsanstalten und den für die Abwehr von Antisemitismus eintretenden Vereinigungen 49; an ausschließlich der Wohlfahrt gewidmeten Vereinen waren es noch immer etwa 3000. Eine Untersuchung von gut einem Zehntel davon ergab, dass nur ganz wenige vor 1800 gegründet worden waren, knapp ein Fünftel zwischen 1800 und 1850, „aber 70% nach 1880“ 50. Die enorme Fülle von kurativen und karitativen Vereinen, Ausschüssen, Selbsthilfe-Kassen und ähnliche Organisationen legte eine Zentralisierung aller wohlfahrtspflegerischen Aktivitäten und Institutionen nahe, was mit der Gründung des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes (DIGB) im Jahr 1869 in Leipzig auch versucht wurde. Uneingeschränkt erfolgreich war diese Unternehmung, die auf dem Wege über die Bündelung auch eine Effektivierung aller auf dem Gebiet der Wohl-
48 Patricia Stahl, Die Tradition jüdischer Wohlfahrtspflege in Frankfurt am Main vom 15. bis zum 19.Jahrhundert, in: ZEDAKA. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit (wie Anm.6), 58–70, hier 64. Im Jahr 1901 meinte der Rabbiner und Sozialreformer Emil G. Hirsch mit Blick auf die Juden Chicagos ganz entschieden, dass die jüdische Wohltätigkeit „mit ihrer spezifischen Tradition […] ein Katalysator für die Modernisierung der Wohltätigkeit allgemein“ sei; siehe Brinkmann, Separierung versus Integration (wie Anm.40), 104. 49 Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Dritter Band, 1871–1918. München 1997, 131. 50 Alexander-Ihme, Zur Praxis der Zedakah, in: ZEDAKA. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit (wie Anm.6), 242–245, hier 245.
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fahrt tätigen Kräfte erreichen wollte, jedoch allein schon deshalb nicht, weil ihm „nie mehr als 50% aller jüdischen Gemeinden angehörten“ 51. Dies gelang im Grunde erst Jahrzehnte später mit der Schaffung der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden im Herbst 1917 in Berlin als Spitzenverband der jüdischen Wohlfahrtsorganisationen. Die Gründungskörperschaften waren neben dem DIGB auch die Großloge des Ordens B‘nai B‘rith sowie der Jüdische Frauenbund. Trotz Ausschlusses von den Gründungsvorbereitungen bot auch der Hilfsverein der deutschen Juden, der 1901 ursprünglich zur Unterstützung notleidender Juden im Nahen Osten und in Osteuropa gegründet worden war, sich dann aber vorwiegend um die Ausreise osteuropäischer Juden aus deutschen Häfen nach Nordamerika kümmerte, der Neugründung „seine zukünftige Mitarbeit an“ 52. Insgesamt wohl ging das stabile, variantenreich ausgestaltete Vereinswesen der deutschen Judenheit in der Zeit nach ihrer Emanzipation „bewundernswert auf ihre sozialen Bedürfnisse ein“ 53. Aus der traditionellen, rabbinisch geprägten religiösen Wohltätigkeit war an der Wende zum 20.Jahrhundert in den jüdischen Gemeinden in Deutschland ein modernes, professionelles Wohlfahrtswesen entstanden. Nach dem Übergang von der spontanen, planlosen zur rationalen, gesteuerten Armenpflege, von ehrenamtlicher zu berufsmäßiger Sozialarbeit und von der offenen zur geschlossenen, anstaltlichen Fürsorge brachte es eine beachtliche Zahl von oft sehr fortschrittlichen, mindestens auf der Höhe der zeitgenössischen (sozial-)pädagogischen oder medizinischen Erkenntnisse befindliche Wohlfahrtsinstitutionen hervor. So wurden etwa zwischen 1763 und 1918 vierzig Altersheime errichtet, und zwar in großen Gemeinden wie Hamburg-Altona oder Fürth ebenso wie im Pommerschen Stargard. Es entstanden, v.a. gegen Ende des 19.Jahrhunderts, Dutzende von Krankenanstalten und Hospitälern, (Heil-)Anstalten für Behinderte, insbesondere für Blinde, Taubstumme, Nerven- und Geisteskranke, Lungensanatorien, Kinderheilstätten und Ferienheime, Waisen- und Erziehungshäuser, Mütter- und Säuglingsheime, Mädchen-, Lehrlings-,
51
Ebd.
52
Rachel Heuberger, Die Gründung der „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“ im Jahre 1917, in:
ZEDAKA. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit (wie Anm.6), 71–78, hier 72. Zum Hilfsverein siehe neu-
erdings Tobias Brinkmann, Zivilgesellschaft transnational: Jüdische Hilfsorganisationen und jüdische Massenmigration aus Osteuropa in Deutschland, 1868–1914, in: Rainer Liedtke/Klaus Weber (Hrsg.), Religion und Philanthropie in den europäischen Zivilgesellschaften. Entwicklungen im 19. und 20.Jahrhundert. Paderborn 2009, 138–157, bes. 150ff. 53
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Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780–1918. München 1994, 93.
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Umschulungs- und Ausbildungsstätten. Am Ende des Kaiserreichs gab es im Rahmen der geschlossenen Fürsorge „113 Anstalten, die zu fast 80% durch Stiftungen und Vereine getragen“ 54 wurden. So ist es nicht verwunderlich, dass im Jahr 1909 in 1014 jüdischen Gemeinden 3010 Wohlfahrtsvereine tätig waren, in der nur 28 Mitglieder zählenden Gemeinde Fellheim bei Augsburg allein drei Vereine existierten 55 und „20.000 Berliner Juden mindestens einer jüdischen Wohltätigkeitsorganisation angehörten und viele Tausende mehr als einer“ 56. Die quantitativ wie qualitativ imponierenden, mitunter sicherlich auch für das christliche Pendant vorbildlichen Wohlfahrtseinrichtungen der jüdischen Gemeinden in Deutschland in Kaiserreich und Weimarer Zeit wurden errichtet und unterhalten von den Gemeinden selbst, von den zahllosen Vereinen oder aber basierten auf Stiftungen für gemeinnützige, in diesem Falle sozial-karitative Zwecke; religiöskultischen Zwecken gewidmete Stiftungen wie etwa die Jahrzeit-Stiftungen für Gebete und Lichter am Todestag des Stifters kamen hinzu. Wann genau Juden in Deutschland als Privatpersonen innerhalb ihrer Gemeinden dieses, in der christlichen Umweltgesellschaft schon lange zuvor genutzte Instrument in die Hand nahmen, um ihre entsprechenden Vorstellungen und Motive zu verwirklichen, kann beim derzeitigen Forschungsstand ebenso wenig geklärt werden wie der Anteil von Stiftungen am innergemeindlichen Wohlfahrtswesen im Vergleich zu den anderen Trägern und die sektorale Entwicklung dieses Instruments mit Blick auf Schwerpunkte, Ausdehnung und eventuellem Bedeutungszuwachs. 57 Festzustehen scheint jedoch, dass sich das innerkonfessionelle Stiftungswesen 54 Wustmann, Jüdische Wohlfahrt (wie Anm.16), 45 und ausführlich zu den einzelnen Anstaltsgruppen 41–45. Einer Übersicht der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden aus dem Jahr 1925 zufolge bestanden zu diesem Zeitpunkt „43 Altersheime, 29 Einrichtungen für Kranke, körperlich und geistig Behinderte, 28 Heime zur Erholungsfürsorge von Kindern, 16 Heime zur Erholung Erwachsener, 20 Schwesternheime und 4 Obdachlosenheime. Im Bereich der Jugendwohlfahrt existierten 73 Einrichtungen und 46 in der offenen und halboffenen Fürsorge“; vgl. ebd., 63. 55 Ebd., 47. 56 Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Dritter Band (wie Anm.49), 131. 57 Die bereits vor mehr als 20 Jahren bezeichneten Forschungslücken sind, trotz etlicher ertragreicher Anstrengungen in der jüngsten Zeit, noch nicht annähernd zufriedenstellend geschlossen. „So stehen auch für die vielfältigen Formen jüdischer Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik eingehende Untersuchungen noch aus. Fragen etwa der Mitgliederstruktur, der internen Arbeitsweise, der Motive, der öffentlichen Einflußnahme usw. sind noch offen“. Siehe Foerster, Wohlfahrtsvereine und Sozialpolitik (wie Anm.14), 349. Auch der aktuellen Einschätzung, dass „die Forschungen zu jüdischen Stiftungen noch am Anfang stehen“, ist uneingeschränkt zuzustimmen; vgl. Andreas Ludwig/Kurt Schilde (Hrsg.), Jüdische Wohlfahrtsstiftun-
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analog zur wachsenden Bleibe-Wahrscheinlichkeit entfaltet hat. Anders als Vereine mit einer prinzipiell endlichen, begrenzten Existenzdauer sind Stiftungen grundsätzlich unbegrenzt, jedenfalls sehr langfristig angelegt und erfordern eine gewisse Konstanz und Überschaubarkeit der Verhältnisse sowohl des Stifters wie der von ihm bedachten Gemeinschaft und dies in jeder, sei es wirtschaftlicher, politischer oder auch rechtlicher Hinsicht. Diese war natürlich nicht gegeben in der Jahrhunderte dauernden Diaspora-Situation der Juden, „die dort, wo sie als Bedrohung für langfristige institutionelle und soziale Strukturen und damit für einen dauerhaften Stiftungsvollzug wahrgenommen wurde, das Interesse an Stiftungen beeinträchtigt haben könnte“ 58. Somit dürfte erst im Zeitalter der Emanzipation oder zumindest des Emanzipationsversprechens das Mittel der Stiftung mit der Aussicht auf eine gewisse Bleibe-Gewähr häufiger gewählt worden sein. In der Tat werden sozial-karitative Stiftungen erst nach der Beseitigung der Gefahr der Vertreibung und mit Verbesserung des Rechtsschutzes der Gemeinden in nennenswerter Anzahl errichtet. Die wenigen von absolutistisch regierenden Landesherrn mit Privilegien ausgestatteten Juden hatten die wirtschaftlichen Möglichkeiten geschaffen, in der Gemeinde oder, sofern diese noch nicht offiziell bestand, für sie stifterisch aktiv zu werden. So entstanden beispielsweise in Frankfurt am Main bis 1810 allein 63 jüdische Stiftungen mit einem Gesamtvermögen von ca. 200000 Gulden. Die Zinsen aus dem von der Gemeinde verwalteten Vermögen wurden entweder am Todestag der Stifter zur Verteilung an Arme ausgeschüttet oder aber für arme Wöchnerinnen, Bräute sowie zur Beschaffung von Lebensmitteln und Heizmaterial für mittellose Juden verausgabt. 59 Im Jahr 1906 belief sich das Gesamtkapital der jüdischen Gemeindeanstalten, Vereine und Stiftungen auf ca. 20 Millionen Mark. 60 Während die jüdische Gemeinde in Hamburg vor 1812 auf die Erträge von 77 Stiftungen zurückgreifen konnte 61, gab es in Dresden, wo 1794 die erste Stiftung entstanden war, im Jahr 1870 noch immer erst 37 Stiftungen, die vorwiegend für Arme,
gen. Initiativen jüdischer Stifterinnen und Stifter zwischen Wohltätigkeit und sozialer Reform. Frankfurt am Main 2010, 22. 58 Lusiardi, Stiftung und Seelenheil (wie Anm.22), 69. 59
Stahl, Jüdische Wohlfahrtspflege in Frankfurt am Main (wie Anm.48), 60. Hiervon gewährten allein
15 Stiftungen in der Zeit zwischen 1717 und 1839 Legate für arme Bräute; siehe ebd.
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60
Ebd., 67, jedoch ohne Angabe zum Anteil des Stiftungsvermögens daran.
61
Wustmann, Jüdische Wohlfahrt (wie Anm.16), 21.
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Alte und im weitesten Sinne Bedürftige errichtet worden waren. Dennoch bedeutete dies für die 2500 Dresdner Juden „eine wesentliche Form zur Linderung von Not und für die Gemeinde eine erhebliche Entlastung im Etat der Wohlfahrtspflege“ 62. Mit Blick auf die Zahl der Stiftungsneugründungen und den hohen Anteil an Stiftungen für sozial-karitative Zwecke verlief die Entwicklung des innerjüdischen weitgehend analog zum allgemeinen, christlichen Stiftungswesen. Seit Beginn des Kaiserreichs und damit dem Abschluss der formalrechtlichen Emanzipation stieg die Stiftungstätigkeit der Juden Dresdens sprunghaft an, so dass im Jahr 1905 beachtliche 84 Stiftungen mit einem Gesamtvermögen von 1,3 Millionen Mark existierten 63. Hierbei entsprachen die Erträge aus wohltätigen, milden Stiftungen in etwa denen der gemeindlichen Armenunterstützung. 64 Für Leipzig sind Stiftungsgründungen vor 1850 nicht belegt; erst 1858 wurde eine Stipendienstiftung errichtet. Wohl aber gibt es, ebenso wie in Dresden, eine rasante Zunahme des einschlägigen Engagements von Juden in der Zeit des Kaiserreichs, in welchem 82 Stiftungen entstehen. 24 davon widmen sich der Unterstützung Bedürftiger und der Wohlfahrtspflege, und von größerer Bedeutung sind auch „die wohltätigen Stiftungen zur Ausbildung von Handwerkern, Händlern und Dienstboten“ 65. Im Jahr 1905 verfügten die für die Gemeinschaft der Leipziger Juden wirkenden wohltätigen Stiftungen über ein Gesamtvermögen von etwa 900000 Mark. 66 Vorbehaltlich weiterer Untersuchungen zum innerkonfessionellen jüdischen Stiftungswesen nahmen möglicherweise tatsächlich, ebenso wie die wohltätigen Vereine, Bruderschaften und sonstigen Vereinigungen, auch die sozial-karitativen Zwecken gewidmeten Stiftungen „eine Art Mittlerfunktion innerhalb der Gemeinden ein. Für die einen verkörpern sie die Tradition, und weniger religiös orientierte Juden finden in ihnen die Widerspiegelung des bürgerlichen Ideals.“ 67
62 Ebd., 142 bzw. 146. 63 Ebd., 147 bzw. 152. 64 Im Jahr 1911 beispielsweise gab die Gemeinde mehr als 25000 Mark für die Armenfürsorge aus, mehr als 29000 Mark an entsprechenden Stiftungsausschüttungen jedoch gingen an diese Bedürftigenkreise; vgl. ebd., 238. 65 Ebd., 151 bzw. 146, 147 und 148. 66 Ebd., 152. 67 Ebd., 234. Besonders verdienstvoll ist die Darstellung von Wustmann auch deshalb, weil stets die unterschiedlichen Zweck- und Schwerpunktsetzungen der jüdischen wohltätigen Stiftungen, sei es für Kinder und Jugendliche, Witwen und Waisen, Frauen und arme Bräute, Krankenpflege oder Mietbeihilfen, in Leipzig und Dresden detailliert vergleichend herausgearbeitet werden.
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Ausblick Zukünftig wird im Einzelfall, nicht nur einer speziellen Gemeinde, sondern eines jeden Stifters zu prüfen sein, welches Motiv aus dem von Wilhelm Merton gesteckten Strauß von Motiven jeweils das vorrangige, welches ein beiläufiges und welches ein nachgeordnetes, unwichtiges oder einfach nicht zutreffendes bei der Gründung der Stiftung war. Der Frankfurter jüdische Unternehmer, Sozialpolitiker und Philanthrop listete 1892, wenige Jahre vor seiner Konversion zum Protestantismus, in (selbst-)ironischer Weise ganz allgemein verschiedene Antriebskräfte für Wohltätigkeit auf: „In ihrer reinsten Form entspringt sie dem Mitleid und der Nächstenliebe; im Weiteren dem Gefühl für das allgemeine Wohl; sie erfolgt aus Gewohnheit; zur persönlichen Befriedigung, wenn nicht gar aus Selbstsucht; zumeist aber aus einer Mischung dieser verschiedenen Beweggründe. Auf diese gibt es eine Unzahl von Varianten. Der eine spendet, weil er hinter anderen nicht zurückstehen will, ein zweiter denkt dabei an sein Seelenheil. Manche hoffen materielle Vorteile und nicht wenige streben nach Titeln, Orden oder sonstiger Huld von oben“ 68.
Dieses Streben allerdings zielte auf die Anerkennung durch die städtischen, landesherrlichen und später staatlichen Obrigkeiten der christlichen Umweltgesellschaft und weist somit voraus auf die Darstellung und Analyse der Motive deutscher Juden für die ebenfalls sehr ausgedehnte und deutlich hervortretende interkonfessionelle Spenden- und Stiftungstätigkeit. Bei ihrem einschlägigen innerkonfessionellen Engagement jedenfalls, der kurz-, aber auch langfristigen, materiellen, aber auch moralischen Aufrichtung von Armen, Alten, Schwachen und Hilfsbedürftigen, hatten die deutschen Juden zunächst wohl die rein physische Bestandswahrung im Blick, wollten also die Existenz wie auch die Autonomie der jüdischen Population in Deutschland sichern, jüdische Identität kultivieren, ein Gemeinde- und Gemeinschaftsgefühl stärken sowie normative Traditionen aufrechterhalten und weitergeben. Später, in der Zeit der Aufklärung und der „bürgerlichen Verbesserung“,
68
Die öffentliche und private Fürsorge, gemeinnützige Tätigkeit und Armenwesen mit besonderer Be-
rücksichtigung auf Frankfurt am Main. Im Auftrag des Institutes für Gemeinwohl zu Frankfurt am Main, bearbeitet von Dr. N. Brückner, I. Heft Erziehung und Unterricht. Frankfurt am Main 1892, Vorwort VI f. Vgl. auch Wilhelm Merton (1848–1916), von Siegbert Wolf, in: Lustiger, Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main (wie Anm.4), 355–360.
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mag als Beweggrund hinzugetreten sein, unterschiedliche innergemeindliche Strömungen mithilfe säkularer, jedenfalls zeitgenössisch üblicher, akzeptierter und vielleicht auch erwarteter Wohltätigkeitsstrategien zweckorientiert zu verbinden. Ferner wollten jüdische Spender und Stifter ihre „innere Verbundenheit zur jüdischen Gemeinschaft“ beweisen, und gelegentlich verbanden sie „mit den Stiftungen die Hoffnung, sich oder einzelnen Familienmitgliedern ein dauerhaftes Denkmal zu setzen“ 69. Nicht zuletzt galt es schon immer auch, der öffentlichen Fürsorge bloß nicht zur Last zu fallen und „risches“, antisemitischen Agitationen und Tätlichkeiten, vorzubeugen. Mochte sie allerdings auch noch so umfassend und großzügig sein, dies gelang weder der inner-, noch der interkonfessionellen jüdischen Wohltätigkeit.
69 Stahl, Jüdische Wohlfahrtspflege in Frankfurt am Main (wie Anm.48), 67.
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Stiftungen für die Blinden im osmanischen Damaskus. Eigeninteresse und Altruismus im islamischen Stiftungswesen von Astrid Meier
This strange system, by which the dead provide for the living, is typical for a society which is becoming static and ceases to be competitive and enterprising. 1
Einleitung Am 21. Dhū l-Qaʿda 1143/28.Mai 1731 erschien vor dem Oberrichter von Damaskus eine Frau namens Fāṭima, mit dem Titel „Pilgerin“ (ḥājja), Tochter von Sayyid Ibrāhīm b. al-Ḥājj Murād al-Bayyūrī, und bekam von ihrem Bruder Muḥammad „dem Sehenden“ (al-baṣīr) seine Pension (murattab) aus der Stiftung der Blinden von Damaskus (waqf al-sāda al-ʿumyān bi-Dimashq) überschrieben. 2 Der Blinde, so die übertragene Bedeutung von al-baṣīr, 3 hatte diesen Betrag seit mindestens Ende Ṣafar 1134/19.Dezember 1721 erhalten, dem Datum des Dokumentes, mit dem er vor Gericht seinen Anspruch auf die Zuwendung untermauerte. Jetzt trat er diesen Anteil 1 Shelomo Dov Goitein, Changes in the Middle East (950–1150) as Illustrated by the Documents of the Geniza, in: Donald S.Richards (Hrsg.), Islamic Civilisation (950–1150). Oxford 1973, 17–32, hier 30. 2 Der Fall stammt aus den Gerichtsurkunden von Damaskus, die heute im Zentrum für Historische Dokumente (Dār al-wathāʾiq) des Syrischen Nationalarchivs in Damaskus archiviert sind. Hier wie im Folgenden werden Akten aus den Bänden der Serie „Kadiamtsregister Damaskus“ (Maḥākim sharʿiyya, Dimashq) mit Band, Seite, Nummer des Eintrags (Datum nach islamischem Kalender/Umrechnung nach christlichem Kalender) aufgeführt: 64/114/204 (21. Dhū l-Qaʿda 1143/28. Mai 1731). Die Stiftung heisst wörtlich für „die blinden Herren in Damaskus“, für die in Damaskus verbreitete höfliche Anrede als „sayyid, sāda“, nicht im Sinne der Abkömmlinge des Propheten, für das die Bezeichnung auch gebraucht wird, s.: Aus einem Briefe des Herrn Consul Wetzstein an Prof. Fleischer [30. November 1868], in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 23, 1869, 309–313, hier 312. 3 Zu den verschiedenen Begriffen, die Blinde bezeichnen, s. Fedwa Malti-Douglas, Pour une rhétorique onomastique: les noms des aveugles chez as-Safadî, und Dreams, the Blind, and the Semiotics of the Biographical Notice, in: dies., Power, Marginality, and the Body in Medieval Islam. Aldershot 2001, 7–19, 137–162.
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aus freiem Willen und gemäß dem Dokument auch nach geltendem Recht an seine Schwester ab. Das attestiert dem Vorgang ebenfalls eine Anzahl prominenter Zeugen. Der Blinde, so heißt es im Dokument, erschien vor Gericht nicht selbst, sondern ließ sich durch einen Repräsentanten (wakīl) vertreten. Nichts spricht dafür, dass seine Schwester ebenfalls blind war. 4 Eine frühneuzeitliche Stiftung, die, wie es scheint, speziell für Blinde eingerichtet war und durch eine jährliche Pensionszahlung ihre materielle Versorgung absicherte, entspricht in vielem dem heutigen Verständnis von philanthropischer, altruistischer Wohltätigkeit. In ihrer Form, nämlich einer jährlichen Auszahlung an einen Blinden, zeigt die Damaszener Institution erstaunliche Parallelen zu Stiftungsformen, wie sie in England und Schottland im Verlauf der Frühen Neuzeit aufkamen und im frühen 20.Jahrhundert im Laufe der verstärkten Absicherung sozial randständiger Gruppen durch den Staat wieder obsolet wurden. 5 Eine solche Stiftung für die Blinden könnte so als vielversprechendes Beispiel erscheinen, Stiften als „soziale Investition“ in komparativer Perspektive zu betrachten. Dabei wären soziale Investitionen mit Volker Then und Konstantin Kehl zu verstehen als „alle Formen privater Beiträge zum Gemeinwohl, die freiwillig erbracht und von der entsprechenden gesellschaftlichen Öffentlichkeit als legitim anerkannt werden“ 6. Islamische Stiftungen entsprechen in einigen Charakteristika durchaus dieser Festlegung, denn es handelt sich dabei zumindest in der Theorie immer um freiwillige Beiträge von Einzelnen, und das Festhalten am Stifterwillen (Autonomie) und die Erhaltung des Stiftungskapital (Effizienz) gehören zu den wichtigsten Leitregeln des Stiftungsrechts. Trotzdem sind Begriffe wie „privat“, „öffentlich“ und „Ge-
4 Wie so oft lassen sich die in diesen Fall involvierten Hauptpersonen nicht in den einschlägigen Biographiensammlungen der Zeit finden, da sie nicht zum gelehrten Milieu und nicht zu den prominenten Personen gehören. Doch auch wenn die Schwester blind gewesen wäre, bleiben die Hauptpunkte meiner Argumentation unverändert. 5 Dazu Gordon A. Phillips, The Blind in British Society. Charity, State and Community, c. 1780–1930. Aldershot 2004, v.a. 8, 181–183. Für eine kurze Einführung zu islamischen Stiftungen, siehe Astrid Meier, Art.„Stiftung, 2. Islam“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart 2010, 1009–1015; zur Diskussion von Stiftungen im interkulturellen Vergleich s. Michael Borgolte (Hrsg.), Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne. Auf der Suche nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in religiösen Grundlagen, praktischen Zwecken und historischen Transformationen. Berlin 2005; einen guten Einblick in die Diskussionen bietet auch Gabriel Baer, The Waqf as a Prop for the Social System (Sixteenth – Twentieth Centuries), in: Islamic Law and Society 4.3, 1997, 264–297. 6 Volker Then/Konstantin Kehl, Stiften als soziale Investition, in diesem Band, 261.
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meinwohl“, wenn sie so verstanden werden wie in der modernen europäischen Geschichte, schwierig auf die Entwicklung des islamischen Stiftungswesens zu übertragen, das über lange Zeit nach Kategorien funktionierte, die nicht in diese Konzepte zu fassen sind. 7 Das ist der Ansatzpunkt dieses Artikels: Um die Grundlagen zu legen, das Phänomen Stiftung in historischer und vergleichender Perspektive betrachten zu können, ist es nicht nur nötig, solche sozialwissenschaftlich geprägten Modelle und ihre Vorannahmen zu hinterfragen, sondern auch die islamwissenschaftliche und auf islamische Stiftungen bezogene historische Diskussion. 8 Sie ist noch immer stark von normenzentrierten Debatten zum Stiftungswesen geprägt und blendet damit wesentliche Facetten einer islamisch fundierten Stiftungspraxis aus. Ein grundlegendes Problem liegt dabei in der starken Fokussierung auf die Person des Stiftenden und den in der Stiftungsurkunde festgelegten Stifterwillen. In diesen Hinsichten wirft der geschilderte Fall, bereits oberflächlich betrachtet, eine Anzahl grundlegender Fragen auf: Selbst wenn „Blinde“ auf den ersten Blick als eine klar umrissene soziale Gruppe erscheinen mögen und die Sorge um sie aus heutiger Sicht als philanthropisch und altruistisch gelten kann, sind sie, wie dieser Artikel zeigen wird, keine Kategorie, die als Empfänger islamischer Wohlfahrt unmittelbar einleuchtet. Angenommen, die Sorge um sie beruhe auch aus islamrechtli7 Dies entgegen der folgenden Behauptung der Autoren: „Eine solche analytische Herangehensweise bietet für die Grundlegung historischer Forschung den Vorteil, dass sie begrifflich nicht an die Voraussetzungen der Moderne gebunden ist und nicht die Rechts- und Organisationsformen der Moderne in vergangene Epochen projiziert.“ Then/Kehl in diesem Band, 263. Zu islamischen Konzeptionen von Wohlfahrt jetzt Amy Singer, Charity in Islamic Societies. Cambridge 2008; Yaacov Lev, Charity, Endowments, and Charitable Institutions in Medieval Islam. Gainesville 2005. Michael Bonner/Mine Ener/Amy Singer (Hrsg.), Poverty and Charity in Middle Eastern Contexts. Albany 2003. Die Probleme solch unterschiedlicher Auffassungen von Wohlfahrt sind ein zentrales Thema bei Norbert Oberauer, Waqf im kolonialen Sansibar. Der Wandel einer islamischen Stiftungspraxis unter britischer Protektoratsherrschaft. Würzburg 2012. 8 Zum Stand der Forschung vgl. Miriam Hoexter, Waqf Studies in the 20th Century. The State of the Art, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 41.4, 1998, 474–495; Art.„waḳf“, in: Encyclopaedia of Islam, Bd 11, Leiden 22003, 59–99; Supplement, Bd.12, Leiden 2004, 823–828; Astrid Meier/ Johannes Pahlitzsch/Lucian Reinfandt (Hrsg.), Islamische Stiftungen zwischen juristischer Norm und sozialer Praxis. Berlin 2009; Pascale Ghazaleh (Hrsg.), Held in Trust. Waqf in the Islamic World. Kairo 2011; für das osmanische Damaskus siehe Richard van Leeuwen, Waqfs and Urban Structures. The Case of Ottoman Damascus. Leiden 1999; alle mit ausführlichen Bibliographien zum Stiftungswesen. Eine der klarsten Einführungen speziell zum hanafitischen Stiftungsrecht bleibt Janos Krcsmárik, Das Waḳfrecht vom Standpunkte des Šarîʿatrechtes nach der hanefitischen Schule, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 45, 1891, 533–576.
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cher Sicht auf ihrem Status als „Menschen mit Behinderungen, Behinderten“ (im Arabischen etwa dhawū l-ʿahāt, Sg. dhū l-ʿahāt) 9, warum konnte dann eine solche Pension an eine Frau übertragen werden, die wahrscheinlich sehen konnte? Wer bestimmt in langfristiger Perspektive, wer tatsächlich von einer Stiftung profitiert? Auf den ersten Blick könnte es sich hier um einen der vielen Fälle handeln, in denen die Regeln einfach missachtet werden. Bei genauerer Betrachtung zeigt es sich allerdings, dass es sich in dieser Urkunde um einen weit komplexeren Punkt handelt, der nur dann aufscheint, wenn die weit verbreitete Annahme überprüft wird, dass Begünstigte lediglich passive Empfänger der ihnen von den Stiftenden zugesprochenen Beiträge seien und dass die Entscheidungsgewalt über eine Stiftung ausschließlich bei der Verwaltung liege, in seltenen Fällen beim Richter als Vertreter der Staatsgewalt. 10 Dabei stellt sich auch die Frage nach der Natur des ausbezahlten Betrages nach zeitgenössischem Verständnis: Handelt es sich um ein Almosen, eine Pension, eine Lohnzahlung oder etwas ganz anderes? Auf jeden Fall ist die Auszahlung zu hoch, als dass sie lediglich das Überleben absicherte, und entspricht in etwa einem guten Professorengehalt an einer renommierten Madrasa oder dem doppelten Jahresgehalt des Verwalters der gleichen Stiftung. Wie viele Rentenempfänger dieser Art konnte sich eine Stiftung für die Blinden leisten und über was für eine materielle Basis musste sie verfügen, dass sie solche Beiträge auszahlen konnte? Die Stiftung für die Blinden im osmanischen Damaskus ist so Ausgangspunkt weitergehender Überlegungen zum islamischen Stiftungswesen. Doch werden selbst für dieses Fallbeispiel einige dieser Fragen wegen fehlender Quellengrundlagen unbeantwortet bleiben müssen. Sie zeigen jedoch die Schwierigkeiten, mit dem Konzept „sozialer Investition“ die vielen Facetten verschiedenartiger Investitionen zu verstehen, die im islamischen Stiftungswesen gebündelt sind. Wenn Gleichset9 Der arabische Ausdruck ist vielleicht offener zu übersetzen als Personen mit „physischen Auffälligkeiten“, denn in den Aufzählungen finden sich u.a. auch blaue oder Glubschaugen. Zur Diskussion um „Behinderung“ in der arabisch-islamischen Welt vgl. jetzt Kristina L. Richardson, Difference and Disability in the Medieval Islamic World. Blighted Bodies. Edinburgh 2012; Vardit Rispler-Chaim, Disability in Islamic Law. Dordrecht 2007; und Sara Scalenghe, The Body Different. Disability in the Arab-Islamic World 1500– 1800. Cambridge 2014. 10
Dies nicht zuletzt auf der Grundlage der oft zitierten Rechtsmaxime „Die Stipulation eines Stifters gilt
wie ein autoritativer Text des [göttlichen] Gesetzgebers“ (sharṭ al-wāqif ka-naṣṣ al-shāriʿ), siehe u.a. Eyal Ginio, Violations of Founders’ Stipulations in the Shariʿa Court of Jaffa During the British Mandate, in: Islamic Law and Society 4.3, 1997, 389–415.
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zungen wie „privat = eigennützig“ und „öffentlich = gemeinnützig“ nicht greifen, welche Dynamiken prägen dann das islamische Stiftungswesen? Allerdings spielen für ein umfassenderes Verständnis dessen, was eine Stiftung leisten konnte, nicht nur die Stiftungszwecke eine Rolle, denn das islamische Stiftungswesen spannt wie jedes andere ein komplexes Netz zwischen Personen, Dingen, Werten, Regeln und Praktiken. Es verbindet, zeitlich gesehen, Stifterinnen und Stifter mit Generationen von Begünstigten – Personen und Institutionen, die sehr unterschiedlicher Art sein können – und denjenigen Personen, die für das Management einer Stiftung verantwortlich zeichnen, Verwaltern, Inspektoren und Buchhaltern sowie denjenigen, die für eine Stiftung arbeiten. Trotz der augenscheinlichen Konstanz und Langlebigkeit, die in der Institution angelegt scheint, unterscheidet sich der Umgang mit Stiftungen jeweils nach dem jeweiligen historischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext der betreffenden Akteure. Zudem spielen für die Performanz einer Stiftung auch weitere Faktoren eine bedeutende Rolle. Dazu gehören sich verändernde Marktkräfte 11 ebenso wie der „Staat“ oder zumindest staatliche Institutionen, die im Laufe der Geschichte versuchen, gegen den im islamischen Recht angelegten hohen Autonomiegrad Stiftungslegung und Stiftungsverwaltung einer mehr oder minder starken Kontrolle zu unterwerfen. 12 Das Verhältnis von Stiftung und Staat ist zwar teilweise mit Begriffen wie Komplementarität (Ergänzung staatlicher Leistungen durch private Stiftungstätigkeit) oder Devolution (Übernahme staatlicher Aufgaben durch private Stiftungen) zu beschreiben, wie dies auch Then und Kehl tun, doch setzt dies voraus, dass in dieser Weise zwischen „modernem“ Staat und „privatem“ Stiftungswesen getrennt werden kann. 13 Das ist selbst für das 19.Jahrhundert schwierig, obwohl sich in dessen Verlauf solche dichotomischen Auffassungen auch im Stiftungsverständnis in der islamischen 11 Then/Kehl in diesem Band, 262. 12 John Robert Barnes, An Introduction to Religious Foundations in the Ottoman Empire. Leiden 21987; Franz Kogelmann, Islamische fromme Stiftungen und Staat. Der Wandel der Beziehungen zwischen einer religiösen Institution und dem marokkanischen Staat seit dem 19.Jahrhundert bis 1937. Würzburg 1999. 13 Die Neuverteilung von Aufgaben zwischen Stiftungswesen und Staat lässt sich auch für die „vormoderne“ Zeit diskutieren, siehe z.B. „The waqf-model of financing was increasingly applied to public and semi-public institutions and duties.“ Stefan Heidemann, Charity and Piety for the Transformation of the Cities. The New Direction in Taxation and Waqf Policy in Mid-Twelfth-Century Syria and Northern Mesopotamia, in: Miriam Frenkel/ Yaacov Lev (Hrsg.), Charity and Giving in Monotheistic Religions. Berlin 2009, 153–174, hier 154.
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Welt immer stärker durchsetzen. 14 Dieser Prozess liegt nicht zuletzt an einer zunehmend global ausgerichteten Debatte über Ziele, Objekte und Instrumente „moderner“ Wohlfahrt und Philanthropie begründet. 15 In ihrem Verlauf wurde die materielle Absicherung von als gefährdet und marginalisiert wahrgenommenen Gruppen immer mehr als eine staatliche Aufgabe verstanden, und das nicht nur in Europa und Amerika, sondern auch im Nahen Osten. Mit dem Schicksal von Blinden und den Möglichkeiten, es zu verbessern, befasste sich ab den 1830er Jahren zum Beispiel eine Reihe internationaler Konferenzen, auf denen Vertreter von Regierungen und soziale Organisationen und Verbände zusammentrafen. In diesen Debatten ging es in erster Linie um Hilfe zur Selbsthilfe: Blinde sollten dazu ermächtigt werden, ihren Teil zum Allgemeinwohl beizutragen. 16 Auf diesen Kongressen traten regelmäßig auch Regierungsvertreter aus Kairo und Istanbul auf. In Kairo und Istanbul wurden dann auch nach europäischem und nordamerikanischem Vorbild Schulen für Blinde eingerichtet. 17 In Istanbul ließ Sultan ʿAbdül-Hamid II. im Rahmen anderer Reformprojekte 1889 eine Schule für Taubstumme einrichten, der 1891 eine Abteilung für Blinde angegliedert wurde (Sağır, Dilsiz ve Amalar Mektebi). Einige Dutzend Studenten wurden zu Musikern oder aber zu Koranrezitatoren ausgebildet. Die Blindensektion wurde 1897 wegen mangelnden Interesses wieder aufgelöst, der Rest bestand bis 1911. 18 Dieses Unter14
David S.Powers, Orientalism, Colonialism, and Legal History. The Attack on Family Endowments in
Algeria and India, in: CSSH 31, 1989, 535–571; Gregory Kozlowski, The Changing Political and Social Contexts of Muslim Endowments. The Case of Contemporary India, in: Randi Deguilhem-Schoem (Hrsg.), Le waqf dans l’espace islamique. Outil de pouvoir socio-politique. Damaskus 1995, 277–291; Astrid Meier, „Waqf Only in Name, Not in Essence.“ Early Tanzīmāt Waqf Reforms in the Province of Damascus, in: Jens Hanssen/Thomas Philipp/Stefan Weber (Hrsg.), The Empire in the City. Arab Provincial Capitals in the Late Ottoman Empire. Beirut 2002, 201–218. 15
Mine Ener, Managing Egypt’s Poor and the Politics of Benevolence, 1800–1952. Princeton 2003.
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Art.„Welfare of the Blind. The Work of the International Brussels Congress. The Braille System Criti-
cised“, in: The New York Times, September 7, 1902. [Electronic Archive, last consulted 12.01.2012]. Der philanthropische Grundsatz Hilfe zur Selbsthilfe ist viel älter und spielt auch im islamischen Stiftungswesen eine Rolle: Siehe z.B. die Versorgung von hundert armen Witwen mit einem Grundkapital, um damit Baumwolle zu kaufen, was die Stiftungsurkunde explizit charakterisiert als „ihr Grundkapital (raʾs ul-māl), das ihr ein auskömmliches Leben garantieren soll“. Birgit Hoffmann, Waqf im mongolischen Iran. Rašīduddīns Sorge um Nachruhm und Seelenheil. Stuttgart 2000, 348. 17
Zum Hintergrund der Reformen des Schul- und Bildungswesens, vgl. Michael Winter, Art.„Maʿārif“, in:
Encyclopaedia of Islam, Bd.5, Leiden 21986, 902–921. 18
Für Einzelheiten siehe Ludger Busse, Ferdi Garati und seine Schule für Gehörlose und Blinde in Istan-
bul – Die Ursprünge des türkischen Sonderschulwesens, in: Hörgeschädigtenpädagogik 48.4, 1994, 227–
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nehmen wurde aus der Staatskasse finanziert, ergänzt durch direkte Zuwendungen des Sultans und Spendensammlungen in der breiteren Öffentlichkeit. In Kairo finanzierte das Stiftungsministerium eine solche Schule von 1874 bis 1889, bis sie aus Kostengründen wieder aufgegeben wurde. Die Stiftungsministerien selbst waren Produkte der bürokratischen Reformen, die auf die Kontrolle der jetzt als öffentlich und gemeinnützig definierten Stiftungen durch den Staat abzielten. Das wissenschaftliche Interesse an diesen Entwicklungen ist neu, und viele Aspekte sind noch nicht untersucht. 19 Weit schwieriger dürfte es aber sein, die Zeit vor 1800 in ähnlicher Weise zu beleuchten, denn die entsprechenden funktionalen Äquivalente der Sorge um Blinde lassen sich nur sehr schwer dokumentieren. Dabei spielt auch die Vielfalt eine Rolle, die das islamische Stiftungswesen in seiner historischen Entwicklung prägt. Auf diese Schwierigkeit hat die neuere historische Forschung wiederholt hingewiesen. 20 Sie setzt sich damit bewusst von älteren Ansätzen ab, die auf die Rechtsentwicklung fokussierten und deshalb in oft übermäßiger Weise Konstanten und Gemeinsamkeiten im Stiftungswesen betonten. Negative Urteile zur gesellschaftlichen und ökonomischen Performanz des Stiftungswesens gründeten sich oft auf der Gleichsetzung mit der „Toten Hand“, der Immobilisierung von Besitz, die in europäischen Debatten oft für fehlenden Fortschritt und Erfindungsgeist verantwortlich gemacht wurde. Goitein steht nicht allein mit seiner Einschätzung, die am Anfang dieses Artikels zitiert wird. 21 Heute stehen eher die Flexibilität und die Anpassungsfähigkeit des Stiftungskonzepts im Vordergrund. 22 Stiftungshistorikerinnen und -historiker konzentrieren sich vermehrt auf einzelne Stiftungsgeschichten und versuchen, möglichst viele gesellschaftlich relevante Bereiche in den Blick zu bekommen, auch wenn das soziale Phänomen Stiftung in seiner „Totalität“ wegen der schwierigen Quellenlage über weite Strecken nur in einzelnen Teilbereichen erhellt werden kann. 23 Dass das isla-
235; İzi Harika Karakaş, An Analysis of Policies towards the Born Disabled, Victims of Work Accidents and Natural Disasters During the Hamidian Era (1876–1909), unpubl. MA Thesis, Boğaziçi University, Istanbul 2007, 23–42. 19 Ener, Managing Egypt’s Poor (wie Anm.15), 24–48. 20 Meier/Pahlitzsch/Reinfandt (Hrsg.), Islamische Stiftungen (wie Anm.8). 21 Goitein, Changes in the Middle East (950–1150) (wie Anm.1), 30; vgl. Wilhelm Heffening, Art.„waḳf“, in: Enzyklopädie des Islam (EI1), Bd. 4, Leiden/Leipzig 1934, 1187–1194. 22 Ghazaleh, Held in Trust (wie Anm.8). 23 Zum „totalen“ Phänomen Stiftung siehe Michael Borgolte, „Totale Geschichte“ des Mittelalters. Das Bei-
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mische Stiftungswesen äußerst wandlungs- und anpassungsfähig war, ist längst ausreichend belegt worden. 24 Es stellt sich heute eher die Frage nach den Motoren dieses Wandels und dem Zusammenspiel der verschiedenen Bereiche. Dieser Artikel hat zum Ziel, in einer langfristigen Perspektive das komplexe Verhältnis von Eigeninteresse und Altruismus im islamischen Stiftungswesen zu diskutieren. Dafür ist es nötig, sowohl die normativen Grundlagen von Stiftungen in der Rechtsdiskussion wie auch ihre Umsetzung in die Praxis zu betrachten. Ausgangs- und Endpunkt der Überlegungen ist das eingangs geschilderte Fallbeispiel, das für Stiftungshistoriker einige Probleme sowohl in theoretischer wie auch praktischer Hinsicht birgt. Damit möchte ich einerseits Material für eine historisch fundierte komparative Betrachtung von verschiedenen Stiftungstraditionen bereitstellen, andererseits auch auf die mit einem solchen Vorhaben verbundenen Probleme hinweisen. Dafür ist es nötig, zuerst die spezifische Form einer Stiftung im islamischen Recht (waqf, im Maghreb und Nordafrika vor allem auch ḥabs) zu betrachten. In welcher Form eine Stiftung für die Blinden in Damaskus vor allem im 18.Jahrhundert erscheint, ist das Thema des nächsten Abschnitts. Der vierte und fünfte Teil kehren zur juristischen Argumentation zurück, ob und warum Blinde als Gruppe einen legitimen Stiftungszweck darstellen und ob Stiftungsertrag „zweckentfremdet“ eingesetzt werden kann, wie es im Falle der Übertragung an die Schwester der Fall zu sein scheint.
Stiftungen im islamischen Recht Laut den vier sunnitischen Rechtschulen (nur diese und im Besonderen die hanafitische werden im Folgenden betrachtet) hat eine rechtsgültige Stiftung das Ziel, diejenigen, die sie einrichten – erwachsene und rechtsfähige Männer oder Frauen –
spiel der Stiftungen. (Humboldt-Universität zu Berlin, Öffentliche Vorlesungen, H.4) Berlin 1993; ders., Von der Geschichte des Stiftungsrechts zur Geschichte der Stiftungen, in: Hans Liermann (Hrsg.), Geschichte des Stiftungsrechts. 2.Aufl., Tübingen 2002, 13–69; zur islamischen Welt Hoexter, Waqf Studies (wie Anm.8), 474–495; Meier/Pahlitzsch/Reinfandt (Hrsg.), Islamische Stiftungen (wie Anm.8); Ghazaleh, Held in Trust (wie Anm.8). 24 Then/Kehl in diesem Band, 281: „Stiftungen könnten sich gerade ihres ahistorisch-dauerhaften Charakters wegen als besonders wandlungsfähige Organisationen erweisen.“
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Gott näher zu bringen (qurba). Für ihre gute Tat bekommen Stiftende oder auch andere Personen ihrer Wahl Lohn (thawāb) im Jenseits, der ihnen am Jüngsten Tag bei der Abrechnung der guten und der bösen Taten gutgeschrieben wird. Die Stiftung wird deshalb als „immerwährende fromme Gabe“ (ṣadaqa jāriya) verstanden und ist eine der wenigen Institutionen des islamischen Rechts, die über den Tod hinaus Bestand haben und Wirkung zeigen. 25 Deshalb ist die Sorge um das eigene Seelenheil oder auch das anderer Personen eine starke Motivation, eine Stiftung einzurichten, und wird in verschiedenen Formen immer wieder im Kontext von Stiftungslegungen erwähnt. 26 Hier zeigt sich auch der stark auf den oder die Einzelne bezogene Charakter einer Stiftung, der ebenfalls in einer zweiten Motivation deutlich wird, nämlich die Erinnerung an Stifter oder Stifterin lebendig zu halten, ein „zweites Leben“ in der Welt zu ermöglichen, wie es in der Stiftungsurkunde eines osmanischen Großwesirs wörtlich heißt. 27 Der Memorialaspekt zeigt sich in verschiedenen Formen, unter anderem im Namen einer Stiftung oder durch zusätzliche Maßnahmen wie tägliche Koranlesungen, jährliche Erinnerungszeremonien oder die Verteilung von Essen an Bedürftige am Grab oder anderen Orten, die mit den Stiftenden identifiziert werden. 28 Die Grundlagen für eine Stiftung sind allerdings materiell, denn nur Personen,
25 Dafür wird oft ein Prophetenwort (ḥadīth) als Beleg angeführt: „Der Prophet (Allahs Frieden und Segen seien mit ihm) sagte: ‚Wenn ein Mensch stirbt, finden all seine Taten ein Ende abgesehen von dreien: eine fortdauernde fromme Gabe (ṣadaqa jāriya), nützliches Wissen und ein frommes Kind, das für ihn betet.“ Ṣaḥīḥ Muslim, Kitāb al-waṣiyya, 14 (1631); Krcsmárik, Das Waḳfrecht (wie Anm.8); vgl. auch Art.„waḳf“, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. 11, Leiden 22003, 59–99; Suppl. Bd. 12, Leiden 2004, 823–828. 26 Vgl. u.a. Claude Cahen, Réflexions sur le waqf ancien, in: Studia Islamica 14, 1961, 37–56. 27 Astrid Meier, The Charities of a Grand Vizier. Towards a Comparative Approach to Koca Sinân Pasha’s Endowment Deeds (989–1004/1581–1596), in: Turcica 43, 2011, 303–337, hier 316.; und bereits früher bei Sultan Baybars, Johannes Pahlitzsch, Memoria und Stiftung im Islam. Die Entwicklung des Totengedächtnisses bis zu den Mamluken, in: Michael Borgolte (Hrsg.), Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne, Berlin 2005, 71 -94, hier 92. 28 Siehe Pahlitzsch, Memoria (wie Anm. 27) und Johannes Pahlitzsch, The Concern for Spiritual Salvation and Memoria in Islamic Public Endowments in Jerusalem (XXII–XVI C.) as Compared to the Concepts of Christendom, in: U. Vermeulen/J. van Steenbergen (Hrsg.), Egypt and Syria in the Fatimid, Ayyubid and Mamluk Eras III, Proceedings of the 6th, 7th and 8th International Colloquium organized at the Katholieke Universiteit Leuven in May 1997, 1998 and 1999. Leuven 2001, 329–344; Astrid Meier, „Only Good Works Remain“. Waqf and the Memory of Families, Damascus in the 17th and 18th Centuries, in: Angelika Neuwirth/Andreas Pflitsch (Hrsg.), Crisis and Memory in Islamic Cultures. Proceedings of the Third Summer Academy of the Working Group Modernity and Islam Held at the Orient Institute of the German Oriental Society in Beirut. Würzburg 2001, 261–282.
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die etwas besitzen und voll rechtsfähig sind, kommen als Stifter überhaupt in Frage: Güter aus dem Privatbesitz (milk) werden „auf ewig“ bereitgestellt, indem man sie dem üblichen Verkehr von Kauf, Tausch, Erbe und Gabe entzieht – die Rechtsexperten nennen diesen Vorgang „immobilisieren, sequestrieren, festsetzen“ (ḥabs). Mit dem Ertrag dieser Güter sollen bis zum Jüngsten Tag die gottgefälligen Werke finanziert werden, die der Stiftungszweck umschreibt. In der knappen Formulierung der Juristen besteht also eine Stiftung (waqf) aus zwei getrennten Vorgängen, nämlich erstens der Immobilisierung eines Gutes, mit dessen Ertrag zweitens ein frommer Zweck finanziert wird (ḥabs al-ʿayn wa-taṣadduq bi-l-manfaʿa). In der Ausgestaltung einer Stiftung spielt der Stifterwille eine große Rolle. Das gilt für die zukünftige Verwaltung einer Stiftung ebenso wie für die Zwecke, für die die Erträge ausgegeben werden sollen. Bei der Stiftungslegung wird ein für allemal festlegt, wer künftig als Verwalter für die Stiftung als inkorporierte Rechtsfigur verantwortlich zeichnet. Das sind in den meisten Fällen Nachkommen bzw. andere Familienangehörige der Stiftenden oder aber Personen, die für Institutionen wie Moscheen, Madrasen (Hochschulen) etc. verantwortlich zeichnen. Während diese beiden Personengruppen manchmal gleichzeitig, manchmal gestaffelt genannt werden, werden staatliche Stellen wie Provinzgouverneure oder der Herrscher selbst nur selten als erste Verantwortliche genannt. Sie stehen aber als letzte Instanz in fast allen Urkunden, wenn nämlich die Stiftung zuhanden der Armen allgemein oder der armen Muslime verwaltet werden soll. Die Versorgung von Bedürftigen ist eine der grundlegendsten Aufgaben, die islamische Stiftungen übernehmen können. Für die Juristen ist dies auch einer der unproblematischsten Zwecke, weil hier alle Bedingungen für eine gültige Stiftung erfüllt werden: Der Almosencharakter (ṣadaqa, taṣadduq) ist dadurch gewährleistet, dass nach der juristisch relevanten Definition von Armut nur materiell Bedürftige von der Stiftung profitieren sollten. Als gottgefälliger Zweck gelten aber auch religiöse und karitative Institutionen wie Moscheen, Madrasen, Krankenhäuser, Hospize oder Konvente, selbst der Unterhalt von Infrastruktur wie Brücken und Straßen oder die Finanzierung und sonstige Unterstützung von Kriegszügen zur Verteidigung muslimischen Gebietes (jihād). Der Unterhalt von einzelnen Personen und Personengruppen verschiedenster Art ist ebenfalls ein legitimer Stiftungszweck. Der größte Unterschied zu in Europa verankerten Vorstellungen von Wohltätigkeit dürfte darin liegen, dass Stiftungen für Nachkommen und andere Familienmitglieder sowie freigelassene Sklavinnen und Sklaven als ebenso gottgefällig gelten wie
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die Sorge um andere Personen oder die Allgemeinheit. In einer ersten Phase ist es gemäß einer verbreiteten Rechtsmeinung sogar möglich, dass Stifter sich selbst als Begünstigte einsetzen. Auf eine detailreichere Diskussion der legitimen Stiftungszwecke wird unten zurückzukommen sein. In der Forschung wird je nach erstem Stiftungszweck oft unterschieden zwischen Familien- und karitativen, manchmal sogar privat- und gemeinnützigen Stiftungen (waqf ahlī/dhurrī vs. waqf khayrī). Das ist eine oft irreführende Kategorisierung, weil sich in einer synchronen Perspektive diese Aspekte nicht zwangsläufig ausschließen und in einer diachronen Perspektive oft verschiedene Phasen derselben Stiftung betreffen. Das Konzept der Stiftung im islamischen Recht vereint also in derselben Institution die Sorge um sich, um nahe Angehörige, um verschiedenartige soziale und religiöse Gruppen, die Allgemeinheit oder die Armen und Bedürftigen. Stiftungen können im zeitlichen Ablauf ihre Zweckbestimmung verändern: Jede Stiftung wird theoretisch einmal gemeinnützig. Im Verlauf des 19.Jahrhunderts wurde insbesondere Familienstiftungen zunehmend ihre Legitimität abgesprochen, indem man sie als Pervertierung einer ursprünglich rein gemeinnützigen Rechtsidee auffasste. 29 Diese öffentliche und zuweilen sehr heftig geführte Debatte führte nach dem Zweiten Weltkrieg dazu, dass in einigen Staaten nicht-gemeinnützige Stiftungen ganz abgeschafft oder zumindest in ihrer Dauer stark eingeschränkt wurden. 30 Doch auch das Verhältnis zwischen gemeinnützigen Stiftungen und dem Staat veränderte sich in dieser Zeit. Unter den Vorzeichen einer auf Modernität abzielenden Reform vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sah sich der Staat als wichtigster Repräsentant des Gemeinwohls und aller Interessen, die nicht als privat begriffen werden konnten. 31 So wurden an vielen Orten die jetzt als gemeinnützig definierten Stiftungen der direkten Kontrolle der staatlichen Bürokratie in der Form neugeschaffener Stiftungsministerien unterstellt.
29 Dies entspricht nicht der historisch dokumentierten Entwicklung des Stiftungswesens, soweit wir sie heute kennen, vgl. Peter Charles Hennigan, The Birth of a Legal Institution. The Formation of the Waqf in the Third-Century A.H.Ḥanafī Legal Discourse. Leiden/Boston 2004; Cahen, Réflexions sur le waqf ancien (wie Anm.26), 37–56; Christian Décobert, Le mendiant et le combattant. L’institution de l’islam. Paris 1991. 30 Powers, Orientalism (wie Anm.14); Barnes, An Introduction (wie Anm.12); Franz Kogelmann in diesem Band. 31 Meier, “Waqf Only in Name” (wie Anm.14), 201–218; Kogelmann, Islamische fromme Stiftungen und Staat (wie Anm.12).
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Die Stiftung für die Blinden im frühosmanischen Damaskus Blinde sind ebensowenig eine homogene soziale Gruppe wie Sehende. 32 Warum sind sie dann als Gruppe als legitime Empfänger einer frommen Gabe oder von Stiftungszuwendungen gelten, muss im Folgenden eingehender betrachtet werden. Auch dabei wird es in erster Linie um juristische Argumentationen gehen. In diesem Zusammenhang ist es jedoch von Belang, sich damit auseinanderzusetzen, wie sich eine solche Stiftung in den Quellen fassen lässt. Dafür soll hier mit der Stiftung für die Blinden im frühosmanischen Damaskus ein Beispiel gegeben werden. Maßnahmen, die darauf abzielten, das Betteln zu verhindern, gehören zu den ersten überlieferten Akten des jungen umayyadischen Staates. So soll Kalif al-Walīd b. ʿAbd al-Malik (st. 96/715) laut dem Historiker Abū Jaʿfar Muḥammad al-Ṭabarī (st. 310/923) im Jahr 88/707 befohlen haben, in Damaskus Pensionen an Blinde und Leprakranke zu verteilen, um sie vom Betteln abzuhalten; Ersteren ließ er zudem einen Führer aus der Staatskasse finanzieren. 33 Über die Form dieser Zuwendungen oder „Gaben“, so die wörtliche Übersetzung des von Ṭabarī benutzten Ausdrucks (ʿaṭā), lässt sich nur spekulieren, es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass es sich hier um eine frühe Form der Stiftung handelte, wie Dols vermutete. 34
32
Für das mittelalterliche Ägypten lässt sich dies leicht nachlesen in einer Sammlung von Biographien
von Blinden, verfasst von einem der berühmtesten Vertreter des Genres, dem Ägypter Ṣalāḥ al-Dīn alṢafadī (st. 764/1362). Die vergleichsweise frühe Edition dieses Werkes verdankt sich dem internationalen Interesse an Blindenfürsorge: Zum Anlass des 4. internationalen Blindenkongress, der 1911 in Kairo stattfand, ließ die ägyptische Regierung ihren Vertreter Aḥmad Zakī Pasha die Herausgabe des Werkes auf Arabisch wie auch eine französische Teilübersetzung vorbereiten. Darin betonten sie, dass sich „der Islam“ schon immer philanthropisch um die Schwächeren der Gesellschaft gekümmert habe. Dabei wäre im Buch nachzulesen, wie vielfältig die Lebenswege von Blinden in der frühen islamischen Periode gewesen waren, auch wenn sich Ṣafadī aus seiner Gelehrtenperspektive auf seinesgleichen konzentrierte. Ṣalāḥ al-Dīn alṢafadī, Nakt al-himyān fī nakt al-ʿumyān, ed. Aḥmad Zakī Pasha. Repr. Kairo 1420/2000 (1.Aufl. 1911); Ahmed Zéki Pacha, Safadi. Dictionnaire biographique des aveugles illustres de l’Orient. Notice bibliographique et analytique. Le Caire 1911. Zum Kongress vgl. Dr. Landolt und C. Rohart, Rapport sur le congrès international du Caire pour l‘amélioration du sort des aveugles, 20 au 25 février 1911. Paris 1911. Ein noch älteres Werk, das u.a. Blinde vorstellt, ist Abū l-ʿUthmān al-Jāhiz, Kitāb al-burṣān wa-l-urjān wa-l-ʿumyān wa-lḥūlān, ed. ʿAbd al-Salām Muḥammad Ḥārūn. Beirut 1990. 33
Muḥammad b. Jarīr al-Ṭabarī, Taʾrīkh al-rusul wa-l-mulūk. Kairo 1964, Bd.6, 437, 496; Michael W. Dols,
The Leper in Medieval Islamic Society, in: Speculum 38, 1983, 891–916, hier 899; Vgl. u.a. Adam Sabra, Poverty and Charity in Medieval Islam. Mamluk Egypt 1250–1517. Cambridge 2000, 46, 61. 34
Zu frühen Pensionen aus der Staatskasse, u.a. auch an Blinde, vgl. Arthur S.Tritton, Notes on the Mus-
lim System of Pensions, BSOAS, 16, 1954, 170–172, hier v.a. 170.; zum osmanische Ägypten, Stanford J. Shaw,
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Schon vor der osmanischen Eroberung von 922/1516 von Damaskus gibt es verschiedentlich Erwähnungen einer Stiftung für die Blinden, doch bleiben die Umstände ihrer Entstehung ebenso im Dunkeln, wie es nicht klar ist, ob es sich dabei immer um dieselbe Stiftung handelt. In mamlukischer Zeit verfügte eine Stiftung für die Blinden über Landbesitz in Dārayyā, einem bedeutenden Dorf in der westlichen Ghuta, der Oase von Damaskus. 35 Kurz vor der osmanischen Eroberung spricht der Historiker Yūsuf b. ʿAbd al-Hādī (st. 909/1503) von landwirtschaftlich nutzbaren Böden in der Nähe des Vorortes al-Ṣāliḥiyya, der den Blinden zugeordnet sei (al-mazāriʿ al-mansūba ilā l-ʿumyān) und auf dem eine Moschee (masjid) ohne Dach stehe. 36 Die Existenz solcher Stiftungen könnte darauf hindeuten, dass Blinde organisiert waren, wenn auch vielleicht nur in einer losen Art und Weise. 37 In einem hohen Grad organisiert treten die Blinden im Kairo des 18.Jahrhunderts auf, wo von ihnen als „Korporation“ (ṭāʾifa) inklusive Vorsteher wie bei Handwerkern gesprochen wird. Ihr Sitz ist der Konvent der Blinden (zāwiyat al-ʿumyān) bei der Azhar-Moschee, eine Stiftung von ʿUthmān Ketkhuda al-Qazdağlı (st. 1149/1736) aus der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts, die ursprünglich 300 blinde Studenten unterstützte. 38 Die wirtschaftliche und politische Position ihres Shaykh muss nach den Schilderungen des Historikers Jabartī und dem Zeugnis von Edward William Lane beträchtlich gewesen sein. 39 The Financial and Administrative Organisation and Development of Ottoman Egypt, 1517–1798. Princeton 1962, 184–238. 35 Howayda N. al-Ḥarithy (Hrsg.), The Waqf Document of Sultan al-Nāṣir Ḥasan b. Muḥammad b. Qalāwūn for his Complex in al-Rumaila. Beirut/Berlin 2001, 45–47; Brigitte Marino, L‘approvisionnement en céréales des villes de la Syrie ottomane (XVIe-XVIIIe siècle), in: Brigtte Marin/Catherine Virlouvet (Hrsg.), Nourrir les cités de la Méditerrannée: Antiquité – Temps moderns. Paris 2003, 491–515; Astrid Meier, For the Sake of God Alone? Food Distribution Policies, Takiyyas and İmarets in Early Ottoman Damascus, in: Nina Ergin/Christoph K. Neumann/Amy Singer (Hrsg.), Feeding People, Feeding Power. Imarets in the Ottoman Empire. Istanbul 2007, 121–150, hier 132, 144–145. 36 Yūsuf b. ʿAbd al-Hādī, Thimār al-maqāṣid fī dhikr al-masājid, ed. Muḥammad Asʿad Ṭlas. Beirut 1975, 148. 37 Muḥammad b. Ṭūlūn, Mufākahat al-khillān fī ḥawādith al-zamān, ed. Muḥammad Muṣṭafā. 2 Bde., Kairo 1964, Bd.2, 20. 38 Zur Stiftung vgl. Jane Hathaway, The Politics of Households in Ottoman Egypt. The Rise of the Qazdağlıs. Cambridge 1997, 78; Bayard Dodge, al-Azhar. A Millennium of Muslim Learning. Washington D.C. 1961, 86–87, zu den Blinden auch 44, 206. 39 ʿAbd al-Raḥmān al-Jabartī’s History of Egypt (Ajāʾib al-Āthār fī l-tarājim wa-l-akhbār), hrsg. von Thomas Philipp/Moshe Perlmann. 4 Teile in 2 Bden., Stuttgart 1994, Teil 3, 96–97 (Shaykh Sulaymān al-Jawsaqī); Edward William Lane, Manners and Customs of the Modern Egyptians, Written During the Years 1833–
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Für Damaskus im 16.Jahrhundert verzeichnen zwei osmanische Steuerregister den Immobilienbesitz der Stiftung für die Blinden in fast identischer Weise: So verfügt die Stiftung über Anteile an zwei Mühlen, einige Landstücke in der Stadt und in der näheren Umgebung, darunter ein Garten in Arza auf dem Weg zum Vorwort alṢāliḥiyya; der Rest sind langfristig verpachtete Landstücke, bei denen der Stiftung nur noch der Bodenzins zukam (muḥākara, ḥikr). 40 Bis ins 18.Jahrhundert veränderte sich dieses Portfolio nicht grundlegend. 41 Die Erträge dieser Stiftung sind schwierig einzuschätzen, weil die jährlichen Abrechnungen der Stiftungsverwalter fehlen. Doch ergeben die Pachteinnahmen, über die Informationen zugänglich sind, zusammen nicht viel mehr als 200 bis 250 Qirsh 42 im Jahr. Damit rangiert die Stiftung, was die Einkünfte betrifft, auch ohne weitere Einnahmen im mittleren Bereich, über den meisten, aber nicht allen Familienstiftungen, aber weit unter den wirklich finanzstarken Stiftungen der osmanischen Eliten. Die Betrachtung der Einnahmen ist deshalb wichtig, so rudimentär sie hier erscheinen, weil nur sie einen oberflächlichen Eindruck der Finanzen der Stiftung möglich macht. Denn bereits auf den ersten Blick scheinen im Vergleich zu den Einnahmen die Ausgaben beträchtlich: Erwähnt wurde der Betrag von 24 Qirsh im Jahr, der 1143/1731 an Ḥājja Fāṭima übertragen wurde. Dass dies außergewöhnlich hoch ist, zeigt der Vergleich mit einem anderen Beitragsempfänger: 1140/1727 bekommt
1835. London 1896, 222; André Raymond, Artisans et commerçants au Caire au XVIIIe siècle. 2 Bde., Damaskus 1973, Bd.2, 419, 505–507. 40
In den osmanischen Steuerlisten (Tapu tahrir defterler, TT) befinden sich im Başbakanlık-Archiv in
Istanbul; cf. TT 581, no. 579; TT 602, S.294, no. 1. Auch in den Steuerregistern von Ṣafad (heute Jordanien) wird eine Stiftung für die „Blinden in Damaskus, Männer und Frauen“ erwähnt, s. Muhammad A. Bakhit, Safad et sa région d’après des doucments de waqf et des titres de propriété 780/964 H.(1378/1556), in: Revue des études sur le monde musulman et la Méditerranée, 55–56, 1990, 101–123, hier Nr.74 (866), 114– 115. 41
Das bestätigt eine Reihe von Mietverträgen, die bei den Damaszener Gerichten registriert wurden: 33/
233/377 (11. Dhū l-Ḥijja 1124/9. Januar 1713); 43/417/719 (5. Muḥarram 1134/26. Oktober 1721); 43/418/ 720 (5. Muḥarram 1134/26. Oktober 1721); 47/419/831 (3. Dhū l-Ḥijja 1135/4. September 1723); Serie waqfiyyāt w/n 23 und 10 (13. Dhū l-Ḥijja 1141/10. Juli 1729); Serie ḥ/40 (21. Rajab 1176/5. Februar 1763); ḥ/41 (10. Jumādā II 1177/16. Dezember 1763). 42
Der Qirsh oder Piaster (türkish oft kuruş) ist eine weit verbreitete osmanische Silbermünze, äquivalent
zu 40 Para. Siehe Şevket Pamuk, Money in the Ottoman Empire, 1326–1914, in: Halil İnalcık und Donald Quataert (Hrsg.), An Economic and Social History of the Ottoman Empire, Band 2, Cambridge 1994, 945– 980.
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Shaykh Ismāʿīl b. Qadrī, wieder ein „Sehender“ (al-baṣīr), einen Betrag von 3 Qirsh pro Jahr zugesprochen. 43 Auch im Vergleich mit den Verwaltern der Stiftung erscheint Fāṭimas Pension außerordentlich hoch. 1101/1689 bekommt der Verwalter der Stiftung (mutawallī), der in Personalunion auch als Inspektor (nāẓir) und Finanzverantwortlicher (jābī) fungiert, einen Jahreslohn von 8 Qirsh. 44 Rund zwanzig Jahre später reduzierte der Richter den jährlich ausbezahlten Lohn des einen Verwalters von 20 auf 12 Qirsh, da nur die in der Stiftungsurkunde genannte Höhe ausbezahlt werden dürfe. 45 Die Beträge scheinen aber immer wieder zu schwanken. Die Verwaltung dieser Stiftung wurde im Laufe des 18.Jahrhunderts zu einer Familienangelegenheit. Solche Tendenzen zeigen sich seit der Mamlukenzeit, und so ist in diesem Fall eher der späte Zeitpunkt als das Phänomen an und für sich erwähnenswert. Allerdings ist die Dokumentation sehr lückenhaft. Ein Gerichtsdokument von 1101/1689 nennt zwei Minderjährige, Söhne des verstorbenen Shaykh Muḥammad al-Baytimānī, als Mieteneintreiber (jābī) und Aufseher (nāẓir) der Stiftung. Verantwortlicher Verwalter (mutawallī) war zu jenem Zeitpunkt Shaykh Aḥmad Jelebi b. ʿAbd al-Salām Bawwābji b. Shaykh Muḥammad, der vielleicht selbst blind war. 46 Als sein Bevollmächtigter in Finanzfragen trat Aḥmad Jelebi b. Muḥammad Jelebi auf, Übersetzer am Gerichtshof für Erbangelegenheiten (tarjumān maḥkamat al-qisma al-ʿarabiyya). 47 Die Verwaltung der Stiftung blieb dann mehr als zwanzig Jahre lang in den Händen der letztgenannten Funktionsträger. Im Jahr 1123/1711 bestätigte der Richter ebendiesen Shaykh Aḥmad b. Muḥammad Jelebi – jetzt mit dem Beinnamen alKhayyāṭ, was so viel wie der „der Schneider“ bedeutet – in seinen Funktionen als Mieteneintreiber und Aufseher. 48 Wenig später fungierte dieser dann mehr als ein Jahrzehnt lang als Verwalter. 49 Die Kontrolle durch das Haus Khayyāṭ verstärkte 43 59/200/360 (17. Jumādā I 1140/29. Dezember 1727). 44 18/286/459 (15. Muḥarram 1101/29. Oktober 1689). 45 32/25/42 (5. Dhū al-Qaʿda 1123/15. Dezember 1711). 46 Es ist nicht klar, ob sich der Zusatz der „Sehende“ (al-baṣīr) bei dieser Namensliste auf den Verwalter selbst oder seinen Großvater bezieht. Für den Großvater spricht, dass in keinem anderen Dokument von Blindheit die Rede ist. 47 18/286/459 (15. Muḥarram 1101/29.Oktober 1689). 48 32/25/42 (5. Dhū l-Qaʿda 1123/15.Dezember 1711). 49 43/417/719 (5. Muḥarram 1134/16. Oktober 1721); 47/419/831 (3. Dhū l-Ḥijja 1135/4. September 1723), w/n 23 und 10 (13. Dhū l-Ḥijja 1141/19. Juli 1729).
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sich, als im Jahr 1148/1735 Aḥmads Sohn Muṣṭafā auf den Posten als „Verantwortlicher (mushārif)“ gesetzt wurde. 50 Nach dem Tod von Shaykh Aḥmad 1150/1737 ging die Dominanz der Familie Khayyāṭ wieder zu Ende. Die Verwaltung der Stiftung ging 1153/1741 nach einem langen Streit an Fayẓ Allāh Efendi al-Naqshbandī, einen Außenstehenden. 51 Allerdings besetzten auch immer wieder Mitglieder der Khayyāṭ-Familie Posten in der Stiftung für die Blinden. 52 Nichts scheint diese Männer, Erwachsene wie Minderjährige, mit Blindheit in Verbindung zu bringen. Die Stiftung für die Blinden wurde so verwaltet wie viele andere Stiftungen in Damaskus. Doch waren Blinde nicht nur, wie bisher geschildert, ein Verwaltungsproblem oder Empfänger von Zuwendungen. In den Gerichtsakten sind auch Fälle dokumentiert, in denen Blinde in ganz anderen Rollen auftreten und wie Sehende vom Stiftungswesen profitieren. 53 Das zeigt der außergewöhnliche Fall von Shaykh Ayyūb „dem Blinden“ (in den Akten jeweils al-aʿmā, al-ḍarīr, al-baṣīr). 54 Auch zu ihm gibt es keine weiteren Informationen in der zeitgenössischen Literatur. Im Jahr 1100/1689 wurde er vom Damaszener Richter auf der Grundlage von zwei Ernennungsurkunden (berat), die in Istanbul ausgestellt worden waren, auf zwei prestigereiche Posten berufen: erstens zum Mieteneintreiber (jābī) in der Stiftung von Darwīsh Pasha, einem ehemaligen Gouverneur von Damaskus, ein Posten, der mit einem Jahreslohn von 15 Qirsh besser entlohnt war als der des Verwalters der Stiftung der Blinden (12 Qirsh); zum zweiten übertrug ihm der Richter die Verwaltung der Vorräte (wakīl al-kharj) der Madrasa von Abū ʿUmar im Vorort Ṣāliḥiyya, die ihm 30 Qirsh pro Jahr einbrachte. 55 Die zweite Aufgabe verlor er nach wenigen Monaten, als es dem Sohn seines Vorgängers gelang, den Richter davon zu überzeugen, dass sein Vater den Posten seit 1087/1676–7 innegehabt hatte und er ihn ebendiesem Sohn übertragen habe (faghār
50
72/203/361 (3. Jumādā I 1148/21. September 1735).
51
Das Todesdatum von Aḥmad al-Khayyāṭ ist der 12. Jumada II 1150/7. Oktober 1737 nach Muḥammad
Ibn Kannān, Yawmiyyāt šāmiyya min 1111h. ḥattā 1153h. 1699m. ḥattā 1740m., ed. Akram H.ʿUlabī. Damaskus 1994, 486; die Neubesetzung erfolgt in 94/238/421 (25. Shawwāl 1153/13. Januar 1741), die Ernennungsurkunde (berat) datiert vom 28. Shawwāl 1150/18. Februar 1738. 52
139/172/183 (15. Rabīʿ II 1166/19. Februar 1753); Serie ḥ/40 (21. Rajab 1176/5. Februar 1763).
53
Für den möglichen Ausschluss von Blinden aus Verwaltungsposten in der Stiftung des mamluki-
schen Sultans Baybars siehe Richardson, Difference and Disability (wie Anm.9), 42.
110
54
Für die Bezeichnungen, vgl. Malti-Douglas, Noms des aveugles (wie Anm.3), 8–15.
55
18/49/77 (15. Dhū l-Ḥijja 1100/30. September 1689).
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lahu). 56 Kurz darauf nominierte der Richter Shaykh Ayyūb für zwei andere Aufgaben, und zwar in der noch prestigereicheren Umayyadenmoschee. Die beiden Posten betreffen die Organisation von Bittgebeten und Koranrezitationen. Auch wenn sie zusammen etwas weniger einbrachten als das verlorene Amt, waren sie mit zusammen 27 Qirsh pro Jahr immer noch sehr gut entlohnt. 57 Einen dritten Posten, der Shaykh Ayyūb ebenfalls im Jahr zuvor in Istanbul zugeteilt worden war, nämlich Shaykh der Umayyadenmoschee, hatte er bereits wenige Tage nach der Ernennung wieder verloren: Der Richter gab seinem direkten Gegenspieler den Vorzug, der ebenfalls eine Ernennungsurkunde (berat) aus Istanbul vorweisen konnte, die etwa gleichzeitig mit seiner ausgestellt worden war. 58 Nach diesem fast kometenhaften Auftreten verschwindet Shaykh Ayyūb aus dem Blick der Historiker, trotzdem genügt sein Beispiel als Hinweis darauf, die gesellschaftliche, aber auch die rechtliche Stellung von Blinden im Recht vor allem in Bezug auf das Stiftungswesen genauer in den Blick zu nehmen.
Blinde im islamischen Stiftungsrecht In seinem Werk zu „Ähnlichkeiten und Entsprechungen in der hanafitischen Rechtsschule“ (al-Ashbāh wa-l-naẓāʾir ʿalā madhhab Abī Ḥanīfa al-Nuʿmān) widmet der ägyptische Jurist Zayn al-Dīn Ibn Nujaym (st. 970/1563) den Blinden ein kurzes Kapitel. Es beginnt mit dem knappen Statement: „Blinde sind wie Sehende, außer in folgender Hinsicht“: 59 Sie seien nicht verpflichtet, am Jihad (hier am kollektiven Verteidigungskrieg), am Freitagsgebet oder an der Pilgerfahrt teilzunehmen, selbst wenn sie einen Führer finden; sie dürfen nicht als Zeugen vor Gericht auftreten und können weder als qāḍī noch als Herrscher fungieren. Es ist verpönt (makrūh), dass ein Blinder als imām die Vorbeterrolle übernimmt, es sei denn, er sei der Verständigste der Gruppe. Blinde dürfen ihr Vermögen selbständig verwalten, also auch Kaufgeschäfte abwickeln, solange die betreffenden Gegenstände ihnen beschrieben wer-
56 18/235/342 (3. Jumādā II 1101/14. März 1690). 57 18/237/347 (9. Jumādā II 1101/20. März 1690). 58 18/288/462 (14. Jumādā II 1101/25. März 1690). 59 „Aḥkām al-aʿmā: huwa ka-l-baṣīr illā fī masāʾil“, Zayn al-Dīn Ibn Nujaym, al-Ashbāh wa-l-naẓāʾir ʿalā madhhab Abī Ḥanīfa al-Nuʿmān , ed. Zakariya ʿUmayarat. Beirut 1999, 270.
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den können. Ansonsten können sie wie alle anderen Rechtsfähigen auch einen Agenten (wakīl) einsetzen. Blinde können als Testamentsvollstrecker oder Vormund für Waisen (waṣī) agieren und folgerichtig ebenfalls als Verwalter oder Aufseher einer Stiftung, wie schon al-Khaṣṣāf (st. 261/874), eine Autorität der frühen hanafitischen Rechtsschule, in seinen „Regeln für Stiftungen (Aḥkām al-awqāf)“ ausführt. 60 Wenn Blinde aber in den Überlegungen der Juristen in fast allen Lebensbereichen den Sehenden gleichgestellt sind und selbst die Verantwortung für Stiftungen übernehmen können, warum erscheinen sie doch als Gruppe eine besondere Rolle im Stiftungswesen einzunehmen? Um dies zu beantworten, müssen noch einmal die Regeln für eine gültige Stiftung im Hinblick auf die Auswahl legitimer Stiftungszwecke betrachtet werden: Eine Stiftung hat, wie bereits dargelegt, das Ziel, die Stiftenden näher zu Gott zu bringen. Darum soll eine Stiftung auf Dauer, idealerweise bis zum Jüngsten Tag, bestehen bleiben, sowohl was ihre Grundausstattung mit ertragsbringenden Gütern als auch was die Empfänger der frommen Zuwendung betrifft. In den Augen der Juristen ist Letzteres nur garantiert, wenn wenigstens als letzte in einer beliebig langen Reihe von Begünstigten Gruppen oder Institutionen genannt werden, deren Existenz für immer garantiert ist. Das können solch unterschiedliche Dinge sein wie eine Moschee (die für immer in den Besitz Gottes übergeht, li-llāh khāliṣan) oder der jihād fī sabīl Allāh, „die Anstrengung auf dem Wege Gottes“, oft der Verteidigungskrieg. Letztlich sind aber die Armen und Bedürftigen (al-fuqarāʾ wa-l-masākīn) der beste Stiftungszweck. Sie erfüllen alle Kriterien der Stiftungsidee, denn die Sorge für sie ist gottgefällig und entspricht dem Almosencharakter der Stiftungen. Zudem wird es nach Ansicht der Rechtsgelehrten diese Gruppe der Bedürftigen immer geben, denn sie treten in vielen Bereichen an die Stelle Gottes, der über allen Mangel erhaben ist, was im Gottesnamen al-ghanī Ausdruck findet. Arme sind damit integraler Bestandteil der Schöpfung. 61 Auch andere Personengruppen kommen als Begünstigte in Frage, doch sie müssen in den Überlegungen der Juristen weiteren Kriterien genügen. Stiftende können
60
Abū Bakr Aḥmad b. ʿAmr al-Shaybānī al-maʿrūf bil-Khaṣṣāf, Kitāb aḥkām al-awqāf. Kairo o.J., 346; Burhān
al-Dīn Ibrāhīm b. Mūsā al-Ṭarābulusī, Kitāb al-isʿāf fī aḥkām al-awqāf, ed. Amīn Hindiyya. 2. Aufl., Kairo 1902, 49. 61
Michael Bonner, Poverty and Charity in the Rise of Islam, in: ders./Mine Ener/Amy Singer (Hrsg.), Po-
verty and Charity in Middle Eastern Contexts. Albany 2003, 13–30.
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bestimmte Personen wie ihre Kinder, Ehefrauen, andere Familienangehörige, freigelassene Sklavinnen und Sklaven und all deren Nachkommen als Begünstigte einsetzen, aber nicht als letzte Kategorie, da die Juristen davon ausgehen, dass jede menschliche Abstammungslinie einmal zu Ende geht und die Stiftung dann aufgelöst werden müsste. In dieser Personenkategorie der spezifizierten Nennung (waqf khāṣṣ) sind im Prinzip alle gleichberechtigt – Arme und Reiche, Frauen und Männer, (selbst ungeborene) Kinder und Erwachsene, Freie und ehemalige Sklaven; die verschiedenen Rechtsschulen sehen Einschränkungen nur für die Stiftenden selbst und ihre Sklavinnen und Sklaven vor, denn juristisch gelten sie als Besitz und sind so identisch mit ihnen. Stiftende können aber auch sich selbst als erste Begünstigte (waqf ʿalā l-nafs) einsetzen, wenigstens gemäß der Mehrheitsmeinung in der hanafitischen und der hanbalitischen Rechtsschule. Die anderen halten dies in ihrer Mehrheit für problematisch, weil es dem Grundprinzip des taṣadduq widerspricht, denn es gibt per definitionem keine fromme Gabe an sich selbst. 62 Generell gilt aber, dass eine Person selbst am meisten Anrecht auf ihr Vermögen hat und nicht etwa die Erben oder eine wie auch immer definierte Allgemeinheit oder eine religiöse Gemeinschaft. 63 Trotz dieser Einwände lassen die genannten Juristen aus pragmatischen Gründen zu, dass man sich selbst als ersten Begünstigten einsetzt, bei den Hanafiten zum Beispiel, weil sie der Meinung sind, diese Klausel sei ein wichtiger Anreiz zum Stiften. Burhān al-Dīn al-Ṭarābulusī (st. 922/1516), der im frühen 16.Jahrhundert ein einflussreiches Handbuch zum Stiftungsrecht verfasst hat, nennt als Grund, dass man in dieser Weise „die Leute zum Stiften bringen könne“ (targhīban li-l-nās fī l-waqf). 64 Weil das aber nur eine kurze Phase im Leben einer Stiftung betraf, gab es für die Juristen weit problematischere Kategorien von Begünstigten als die Stifter selbst. Dazu gehören Stiftungen für ganz allgemein umschriebene Gruppen (waqf ʿāmm), die nicht aus genau genannten oder beschriebenen Personen bestehen, welche sich nicht identifizieren und zählen lassen. In dieser Rubrik nennt im 9.Jahrhundert Khaṣṣāf Stiftungen für die Menschheit (ʿalā banī Ādam), solche für die Einwohner 62 Thomas H.Weir/Aaron Zysow, Art.„ṣadaḳa“, in: Encyclopaedia of Islam, Bd. 8, Leiden 21995, 729–737. 63 Diese Einstellung stützt sich auf ein oft zitiertes, aber schwach überliefertes Prophetenwort (ḥadīth): „Jeder, der Vermögen besitzt, hat mehr Anspruch darauf als alle anderen (kull dhī māl aḥaqq bi-mālihi min alnās ajmāʿīn).“ Abū Bakr Aḥmad b. al-Ḥusain al-Bayhaqī, Kitāb al-sunan al-kubrā, ed. Yūsuf ʿAbd al-Raḥmān al-Marʿashlī. Beirut 1992, Bd.6, 178 (Nr.11098). 64 Ṭarābulusī, Kitāb al-isʿāf (wie Anm.60), 94.
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von Bagdad, für die Araber oder die Perser, aber auch solche für Frauen, Männer oder die Jugend im Allgemeinen. Nach den vorstehenden Ausführungen mag erstaunen, dass in dieser Reihe wie selbstverständlich auch die chronisch Kranken (zamnā), die Blinden (ʿumyān) und die Einäugigen (ʿawrān) erscheinen. 65 Irritierend sind aber auch die „Koranrezitatoren“ (qurrāʾ al-Qurʾān), die „Rechtsgelehrten“ (fuqahāʾ), die Experten der Prophetenüberlieferung (ahl al-ḥadīth), die Muslime im Allgemeinen oder speziell die Poeten (shuʿarāʾ), sind das doch, abgesehen von den letzten beiden, in der Geschichte der islamischen Welt sehr prominent ausgewiesene Kategorien von Stiftungsbegünstigten. In den Augen der frühen Juristen kamen sie als Stiftungsbegünstigte nicht in Frage, weil die unter diesen Gruppen subsummierten Personen sich nicht zählen lassen, sie vermutlich für immer existieren werden und weil in ihnen Arme und Reiche zusammengefasst sind. 66 Der ṣadaqa-Charakter einer Stiftung ließe sich so selbst mit der Staffelung der Begünstigten nicht mehr bewahren. Solche Rechtspositionen waren jedoch keineswegs endgültig, war doch Khaṣṣāfs Abhandlung nicht etwa ein Gesetzbuch, sondern nur ein, wenn auch sehr einflussreicher Beitrag zu einer Debatte über die Regelungen eines Rechtsinstituts, das in seiner Zeit gerade erst schärfere Konturen annahm. 67 Als der hanafitische Rechtsgelehrte Ibn Ābidīn (st. 1836) im frühen 19.Jahrhundert in Damaskus die in seiner Schule vertretenen Meinungen zu den Stiftungen für die Blinden Revue passieren ließ, war die Bandbreite erstaunlich und spiegelt auch die stetige Fortentwicklung des Konzepts „Stiftung“ in Theorie und Praxis. 68 Nur wenige Juristen vertraten in der Nachfolge von Khaṣṣāf die absolut gesetzte Unzulässigkeit der genannten Stiftungen. Allerdings findet sich dieses Verbot noch unter den Rechtsgutachten des bekannten Rechtsexperten Khayr al-Dīn al-Ramlī (st. 1081/1671). 69
65
Khaṣṣāf, Aḥkām al-awqāf (wie Anm.60), 125, 276; vgl. Cahen, Réflexions (wie Anm.26), 48.
66
„Fa-l-waqf bāṭil min qibal anna hādhā l-waqf li-l-ghanī wa-l-faqīr wa-hum lā yuḥṣawna.“ Khaṣṣāf, Aḥkām al-
awqāf (wie Anm.60), 125, 276. 67
Dazu Hennigan, Birth of a Legal Institution (wie Anm.29). Vgl. auch den Beitrag zu christlichen Stif-
tungen für Kirchen und Klöster, eine Form von waqf, die nach Khaṣṣāf ungültig war, weil sie den Kriterien für Gottesnähe nicht entsprach, Johannes Pahlitzsch, Christian Waqf in the Early and Classical Islamic Period (7th to 12th C.), in: Randi Deguilhem und Sabine Saliba (Hrsg.), Les fondations pieuses waqf-habous chez les chrétiens et les juifs en terre d'Islam, Paris, im Druck. 68
Muḥammad Ibn ʿĀbidīn, Radd al-muḥtār ʿalā al-durr al-mukhtār sharḥ tanwīr al-abṣār, Kairo 1327/
1909, Bd. 3, 471–473. 69
Khayr al-Dīn al-Ramlī, al-Fatāwā al-khayriyya li-nafʿ al-barriyya. 2 Bde., Bulaq 1300/1882–3, Bd.1, 153–
154.
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Für die Zulässigkeit solcher allgemeinen Stiftungen argumentierte aus einer wiederum pragmatischen Perspektive u.a. die zentralasiatische Rechtsautorität Shams al-Dīn al-Sarakhsī (st. um 490/1096) am Beispiel der „Grenzkrieger (ghāzī, pl. ghazzāt)“: Die Reichen unter ihnen sollten nur in den Genuss von Zuwendungen kommen können, wenn sie namentlich genannt und damit identifizierbar seien (bi-ʿtibār aʿyānihim), ihre Zahl also überschaubar ist; wenn das nicht der Fall sei, dann dürfe nur an die Armen unter ihnen ausbezahlt werden. 70 Dies gelte besonders für die Verteilung von Stiftungserträgen (ghilla), nicht aber falls es sich um eine Immobilie von religiösem oder allgemeinem Nutzen handelt. 71 So sollte etwa eine Moschee allen zugänglich sein, nicht nur den Armen, ebenso wie ein Friedhof oder eine Karawanserei. Dies begründete Sarakhsī damit, dass selbst Reiche solche Institutionen benötigten und ihr Reichtum ihnen in einer Situation, in der sie auf sie angewiesen seien, nicht unbedingt nütze. 72 Ibn ʿĀbidīn stützt sich im frühen 19.Jahrhundert auf ebendiese Argumentation, wenn er in seiner Erklärung für die in seiner Zeit vorherrschende Situation weitere autoritative Texte anführt, die den Spielraum für allgemeine Stiftungen bedeutend erweitern: „Auf dieser Regel beruht die Zulässigkeit (ṣiḥḥa) der Stiftungen für die chronisch Kranken, die Blinden, die Koranleser, die Juristen und die Ḥadīth-Experten: Eigentlich berücksichtigt man nur die Armen unter ihnen, […] weil man davon ausgeht, dass Blindheit und die Beschäftigung mit Wissenschaft einen daran hindert, sich um den Erwerb zu kümmern, und so unter Blinden und Gelehrten Armut vorherrscht. Ebenso verhält es sich mit den Sufis, denn unter ihnen ist die Armut weiter verbreitet als unter den Blinden. So werden sie alle unter die Armen gezählt […]“. 73
Wer als arm gilt, ist also nicht zwangsläufig auch materiell bedürftig. Reich und Arm sind von der Konvention gesetzte Kategorien, die sich im Laufe der Zeit verändern und sich selbst von einem Juristen zum anderen unterscheiden kön-
70 Shams al-Dīn Muḥammad al-Sarakhsī, Kitāb al-Mabsūṭ. 30 Teile in 15 Bden., Kairo 1324/1906, Bd.12, 34. Die Unterscheidung Wohnrecht (suknā) und Anteil an Erträgen (ghilla) ist allerdings schon bei Khaṣṣāf zu finden, der Wohnrecht per begründetes Abweichen vom Analogieschluss (istiḥsān) auch Reichen zugesteht, Khaṣṣāf, Aḥkām al-awqāf (wie Anm.60), 320. 71 Dies ebenso bereits bei Khaṣṣāf, Aḥkām al-awqāf (wie Anm.60), 320. 72 Sarakhsī, Mabsūṭ (wie Anm.70), Bd.12, 46. 73 Muḥammad Ibn ʿĀbidīn, Radd (wie Anm.68), Bd.3, 471; Ramlī, Fatāwā (wie Anm.69), Bd.1, 153.
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nen. 74 Trotzdem spielt materielle Bedürftigkeit eine Rolle in den Diskussionen darüber, was denn eine Stiftung ausbezahlt.
Almosen, Lohn, Pension: Die Leistungen einer Stiftung und wer darüber bestimmen darf Die Zahlung aus der Stiftung für die Blinden konnte also mit einem allgemeinen Bezug zur Bedürftigkeit einer Vielzahl von Blinden gerechtfertigt werden. Wie aber konnte ein solcher Betrag an jemanden übertragen werden, der nicht blind war, und zwar offensichtlich weil ein Begünstigter auf seinen Anteil verzichtete und ihn nach seinem Gutdünken an eine Person seiner Wahl weitergab, wie das im hier untersuchten Beispiel der Fall war. Begünstigte sind im Prinzip nicht in die Stiftungsverwaltung involviert. Sie haben aber einen einklagbaren Anspruch (istiḥqāq) auf ihren Anteil am Ertrag oder der ihnen zugesprochenen Leistung, solange eine Stiftung ordnungsgemäß und ausreichend finanziert ist und die Instandhaltungskosten der Stiftungsgüter gedeckt sind. Wenn nicht, müssen die Begünstigten als erste verzichten, und sie können auch nicht in einem Folgejahr rückwirkend ihre Anteile einfordern. Ansprüche an die Stiftung sind also limitiert und nur eingeschränkt mit anderen privatrechtlichen Forderungen wie Schulden (dayn) oder Lohn (ajr, ujra) gleichzusetzen. Leistungen einer Stiftung gibt es in unterschiedlichen Formen. Zu den einfachsten Formen der Begünstigung gehört das reine Wohnrecht (suknā) in einem Haus, in der Zelle einer Hochschule (madrasa) oder in einem Hospiz (khānqāh, zāwiya, ḥawsh). 75 Texte erwähnen verschiedentlich Gebäude, in denen Blinde Wohnrecht
74
Für eine Diskussion der verschiedenen Konzepte von Armut, vgl. Sabra, Poverty and Charity (wie
Anm.33), 8–31; Jean-Michel Mouton/Dominique Sourdel/Janine Sourdel-Thomine, A propos de la „pauvreté“ à Damas à l’époque ayyoubide: deux documents inédites, in: ArchPap 71, 2011, 99–108; Miriam Hoexter, Charity, the Poor, and Distribution of Alm in Ottoman Algiers, in: Michael Bonner/Mine Ener/Amy Singer (Hrsg.), Poverty and Charity in Middle Eastern Contexts. Albany 2003, 145–164, hier 148–151; Ingrid Mattson, Status-Based Definitions of Need in Early Islamic Zakat and Maintenance Laws, in: ebd., 31–52; Eyal Ginio, Living on the Margins of Charity. Coping with Poverty in an Ottoman Provincial City, in: ebd., 165– 184, hier 166–167. 75
Für eine Aufzählung der verschiedenen Formen von Stiftungsleistungen, s. Khaṣṣāf, Aḥkām al-awqāf
(wie Anm.60), 320–326.
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hatten. Vielleicht gab es im 18.Jahrhundert in Damaskus gar ein Asyl für Blinde: Eine Gerichtsakte nennt einen ḥawsh al-ʿumyān im Stadtbezirk Shaghūr, 76 ein Gebäude, das vielleicht analog zu den Hospizen für die Leprakranken (ḥawsh al-qaʿāṭila) funktionierte. 77 Im viel bevölkerungsreicheren Kairo erwähnt im 16. Jahrhundert ein berühmter Mystiker und Ordensvorsteher namens ʿAbd al-Wahhāb alShaʿrānī (st. 973/1565) in seiner Autobiographie, dass von den zweihundert Insassen seiner zāwiya ganze neunzehn blind waren. Sie durften nach seiner Aussage im Unterschied zu den Sehenden ohne Skrupel von Geschenken der Mächtigen, u.a. Nahrung und Kleidung, profitieren. 78 Im 17. und 18.Jahrhundert diente der bereits erwähnte „Konvent der Blinden“ (zāwiyat al-ʿumyān) bei der Azhar als Zentrum der organisierten Aktivitäten in Kairo. Im 19.Jahrhundert war dann Platz für Blinde im Armenhospiz. 79 Eine weitere Kategorie von Leistungen verteilt den Ertrag der Stiftungsgüter (ghilla) in unterschiedlichen Formen, von Nahrung (ṭaʿām, khubz, ḥinṭa) über Kleider bis zu Geldzahlungen. Letztere können Lohnzahlungen für geleistete Arbeit sein, aber auch Pensionen, die ohne Gegenleistung ausbezahlt werden. 80 Die Formenvielfalt, wie Stiftungen Zuwendungen leisteten, und die zugrunde liegenden Ansprüche machten es auch den Rechtsexperten nicht einfach, die Natur der Zahlungen eindeutig zu bestimmen. Mit der Entwicklung des Stiftungswesens war es längst nicht mehr offensichtlich, dass es sich hier primär um Zahlungen mit einem ṣadaqa-Charakter handelte, wie es die Definition des waqf als Rechtsinstitution impliziert. Exemplarisch zeigt das eine weitere Passage aus den „Ashbāh“ von Ibn Nujaym, in der er die unterschiedlichen Aspekte von Bezügen aus Stiftungen und ihre Konsequenzen diskutiert. Solche Zahlungen haben zum Teil Charakteristika von ‚Lohnʿ (ujra, ajr), gleichzeitig ähneln sie aber „Gaben“ oder „Geschenken“ (ṣila, hiba, ʿaṭāʾ)
76 MSD 167/100/219 (Mitte Shawwāl 1175/Mai 1762); vgl. „Haus der Blinden“ (Türkisch körhane) im osmanischen Manisa, Karakaş, An Analysis of Policies (wie Anm.18), 18. 77 Dols, Leper (wie Anm.33), 911; Aus einem Briefe des Herrn Consul Wetzstein, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 23, 1869, 310–312; vgl. Ulrich Jasper Seetzen, Reisen durch Syrien, Palästina, Phönicien, die Trans-Jordan-Länder, Arabia Petraea und Unter-Aegypten, hrsg. von Friedrich Kruse [Berlin 1854]. Hildesheim 2004, 33. 78 Michael Winter, Society and Religion in Early Ottoman Egypt. New Brunswick 1982, 41. 79 Mine Ener, The Charity of the Khedive, in: Bonner/Ener/Singer, Poverty and Charity (wie in Anm.7), 185–201, hier 195. 80 Vgl. Nasir Ibrahim, The Sadir al-fuqahaʿ wa-l-fuqaraʿ endowment (Salah al-Din al-Ayyubi) in Alexandria during the Eighteenth Century, in: Ghazaleh (Hrsg.), Held in Trust (wie Anm.8), 73–102.
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und auch „Almosen“ oder „frommen Gaben“ (ṣadaqa). Jeder dieser Aspekte hat seine eigenen Konsequenzen für die Auszahlung von Beträgen (al-jāmikiyya fī l-awqāf lahā shibh al-ujra wa-shibh al-ṣila wa-shibh al-ṣadaqa wa-yuʿṭā kull shibh mā yunāsibuhu): 81 1. Lohn (ujra) wird gezahlt nach geleisteter Arbeitszeit oder ähnlichem, auch an Reiche; die Auszahlung erfolgt meist pro Tag oder pro Monat, beim Tod des Berechtigten wird genau abgerechnet; Erben haben Anrecht auf ausstehende Zahlungen. 82 2. Gaben (ṣila), darunter auch Pensionen, werden gemäß den Stipulationen der Stifter verteilt; es ist keine Gegenleistung erforderlich; meist erfolgt die Zahlung einmal im Jahr, und, einmal ausbezahlt, gehört der gesamte Jahresbetrag den Empfängern oder ihren Erben, wenn jemand im Lauf des Jahres stirbt. Falls jedoch bei einem Todesfall die Zahlung noch nicht erfolgt ist, kann von den Erben nichts eingefordert werden. 3. Fromme Gaben oder Almosen (ṣadaqa) dürfen nur an Bedürftige und Arme, keinesfalls an Reiche ausbezahlt werden, da dies die Grundlage des gottgefälligen Charakters einer Stiftung ist. Arme sind definiert über Einkommen und Vermögen, und so werden oft Obergrenzen von Bezügen aus Stiftungen diskutiert. Wie bei der Almosensteuer (zakāt) können Statusfragen eine Rolle spielen. 83 Im hier interessierenden Fall der Blindenstiftung wird die Form der Auszahlung im Dokument murattab – etwa Pension oder allgemeiner Zuwendung – genannt. Ibn ʿĀbidīn charakterisiert das so Bezeichnete damit, dass es kein Entgelt für einen geleisteten Dienst darstellt, sondern zum Wohl des Empfängers oder wegen seines Wissens oder seiner Armut ausbezahlt werde. 84 Materielle Bedürftigkeit ist also gewiss nicht der einzige Grund für eine Auszahlung. Damit stellt sich jetzt wieder die bereits am Anfang aufgeworfene Frage, wer bestimmt, an wen solche Zuwendungen ausbezahlt werden. Aus theoretischer Perspektive scheint die Antwort zunächst einfach, denn das wichtigste Regelwerk einer Stiftung ist neben den allgemein geltenden Normen die Stiftungsurkunde (waqfiyya). An die darin festgelegten Bestimmungen der Stiftenden sind die mit der Ver81
Ibn Nujaym, Ashbāh (wie Anm.59), 168–169; vgl. dazu den Kommentar von Ibn ʿĀbidīn, Radd (wie
Anm.68), Bd.3, 457. 82
Das ist zumindest die Position der späteren Hanafiten (al-mutaʾakhkhirūn). Vgl. die Diskussion in Ibn
ʿĀbidīn, Radd (wie Anm.68), Bd.3, 457; Ramlī, Fatāwā (wie Anm.69), Bd.1, 152, 189–190.
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83
Vgl. Mattson, Status-Based Definitions (wie Anm.74), 31–52.
84
Ibn ʿĀbidīn, Radd (wie Anm.68), Bd.3, 457.
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waltung betrauten Personen gebunden. Verwalter (mutawallī) und Inspektoren (nāẓir) sind im Übrigen die einzigen, die im Namen der Stiftung entscheiden können. Auch ein Richter darf nur in Ausnahmefällen im Namen des öffentlichen Interesses (oder genauer für die Rechte Gottes) intervenieren. 85 Zuwendungen sind also zunächst gemäß Stifterwillen auszurichten. Einmal ausbezahlt, stehen sie ganz zur Verfügung derer, die sie bekommen. Sie können damit tun, was sie wollen. Doch geht das so weit, dass ein Begünstigter eigenwillig und ohne Rücksicht auf die Stiftungsbestimmungen jemanden in seine Rechte einsetzen kann, wie das bei Muḥammad und seiner Schwester Fāṭima augenscheinlich der Fall war? Hatte der Blinde das Recht, seinen Anteil „zweckentfremdet“ einzusetzen? Das scheint von heutiger Warte aus fast undenkbar, da sie der Zweckbindung von Stiftungen in krasser Weise widerspricht. Für die hanafitischen Juristen scheint diese Frage seit der frühen Zeit eindeutig beantwortet, und zwar nicht im Sinne einer absoluten Geltung des Stifterwillens. Als das Stiftungsrecht begann Konturen anzunehmen, bei Khaṣṣāf zum Beispiel, wird der Grundsatz formuliert, ein Begünstigter habe das Recht, seinen Anteil an jemanden abzutreten, und solange er oder sie selbst lebte und der Anspruch (istiḥqāq) weiterbestand, war auch der Anspruch des Ersatzes rechtens. Er wurde erst hinfällig, wenn der oder die ursprünglich Anspruchsberechtigte starb oder in irgendeiner anderen Weise den Anspruch verlor. 86 Umstrittener war, was passieren soll, wenn der neue Anspruchsberechtigte zuerst stirbt. Ibn ʿĀbidīn stellt im frühen 19.Jahrhundert fest, das sei ein häufig auftretender Fall, wonach er wiederholt gefragt werde. Laut ihm geht der Anteil nicht zurück an den ursprünglich Berechtigten. Denn die einmal gefällte und vor Gericht bezeugte Entscheidung, auf einen Anteil zu verzichten, sei endgültig; der frei werdende Anteil solle bis zum Tod des ursprünglich Berechtigten an die Armen ausbezahlt werden, wenn es sich um Erträge handle; bei einem Amt solle der Richter entscheiden, wer es übernehme. 87 Allerdings gibt es auch andere Rechtsmeinungen, die
85 Für einen umfassenden Überblick über die Rolle der Richter, siehe Muhammad Khalid Masud, Rudolph Peters, David S.Powers (Hrsg.), Dispensing Justice in Islam. Qadis and Their Judgements. Leiden 2006. 86 Ibn ʿĀbidīn, Radd (wie Anm.68), Bd.3, 462,;vgl. Muḥammad Ibn ʿĀbidīn, al-ʿUqūd al-durriyya fī tanqīḥ al-fatāwā al-ḥāmidiyya, Bulaq 1300/1882–83, Bd.1, 185; Ibn Nujaym, Ashbāh (wie Anm.59), 165–166; Ramlī, Fatāwā (wie Anm.69), Bd.1, 141. Vgl. auch Muḥammad Qadrī Pasha, Qānūn al-ʿadl wa-l-inṣāf li-qaḍāʾ ʿalā mashākil al-awqāf, ed. ʿAbd Allāh Nazīr Aḥmad Mizzī. Mekka 2007, 223–224. 87 Ibn ʿĀbidīn, Radd (wie Anm.68), Bd.3, 462.
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darauf insistieren, dass man ein Recht oder einen Anspruch (ḥaqq, istiḥqāq), gerade im Bereich der Stiftungen, nicht einfach aufgeben könne und der Anspruch weiter bestehen bleibe. 88 Das Erstaunliche an diesen Argumentationen bleibt, dass in solchen Fällen auch gegen explizite Stiftungsbestimmungen verstoßen werden darf, in den Worten von Ibn Nujaym: „Wer ein solches Anerkenntnis (iqrār) ablegt, nämlich dass er oder sie zugunsten von jemand anderem ganz oder teilweise auf den ihm oder ihr zustehenden Anteil – und nur auf diesen, nicht auf die Ansprüche seiner Kinder oder weiterer Nachkommen – verzichtet, hat das Recht dazu, auch wenn es gegen den dokumentierten Stifterwillen verstößt (ṣaḥḥa fī ḥaqq al-muqirr dūna ghayrihi min awlādihi aw dhurriyatihi wa-law kāna maktūb al-waqf mukhālifan lahu).“ 89
Für den hier vorgestellten Fall von Fāṭima und Muḥammad könnte das heißen, die Schwester erhielte ihren Anteil nur so lange, wie ihr Bruder am Leben war. Nach seinem Tod würde sein Anteil wieder an einen ursprünglich Berechtigten, einen oder eine Blinde also, übertragen werden. Sollte sie hingegen vor ihm sterben, ginge ihr Anteil theoretisch an die allgemeine Stiftung für die Armen. Vergleichbare Fälle sind in der Literatur schwierig zu finden, weil der Verstoß gegen die Stiftungsbestimmungen oft nicht leicht zu erkennen ist. Viele Transfers geschahen innerhalb einer Familie oder eines anderen sozialen Netzwerkes. So bekamen oft Minderjährige von ihren Vätern oder Brüdern ein Amt übertragen, für das sie nicht ausgebildet waren. Stellvertreter erfüllten dann die Funktion, bis sie alt und qualifiziert genug waren. Wie im vorliegenden Fall ist es schwierig nachzuvollziehen, ob für diese Abtretung von Rechten eine Gegenleistung gefordert wurde. Die Käuflichkeit von Ämtern und Posten führte in jedem Fall zu verbreiteten Klagen in der Literatur über den Niedergang der Wissenschaft und den Missbrauch des Stiftungswesens. 90
88
Zayn al-Dīn Ibn Nujaym, Risāla fī bayān mā yasquṭ min al-ḥuqūq bi-l-isqāṭ wa-lā yasquṭ, in: Rasāʾil Ibn
Nujaym al-iqtiṣādiyya wa-l-musammāt al-rasāʾil al-zayniyya fī madhhab al-hanafiyya, ed. Muḥammad Aḥmad al-Sarrāj und ʿAlī Jumʿa Muḥammad. Kairo 1419–1420/1998–1999, 235–238, hier v.a. 237–238. 89
Ibn Nujaym, Ashbāh (wie Anm.59), 165–166; zitiert auch in Ramlī, Fatāwā (wie Anm.69), Bd.1, 141; vgl.
Khaṣṣāf, Aḥkām al-awqāf (wie Anm.60), 23–26. 90
Astrid Meier, „Ich mache damit, was ich will“. Zu einer Streitschrift von ʿAbd al-Ġanī al-Nābulusī über
Missbrauch im Stiftungswesen, in: Der Islam 80, 2003, 67–78.
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Einer der wenigen dokumentierten Fälle eines Ämterkaufs in Damaskus findet sich in einer literarischen Quelle, nämlich dem Tagebuch eines mamlukischen Gerichtsschreibers namens Ibn Ṭawq. Ganz zu Beginn seiner Einträge berichtet er davon, wie er Anfang 887/im Februar 1482 einen Vorgang bezeugen musste, in dem zwei Männer einander gegenseitig beglaubigten, dass der eine dem anderen seinen Posten als Koranrezitator überlassen hatte, ein Amt, das der erste selbst von seinem Vater übertragen bekommen hatte. Damals war der Transfer an den Sohn in einem Dokument festgehalten worden, und auf ebendiesem Dokument wurde jetzt die neue Übergabe in einem Nachtrag (dhayl) angeführt. Doch dann fügt Ibn Ṭawq den verräterischen Satz an: „Mein Herr, der Sayyid Kamāl al-Dīn, übergab ihm (aʿṭāhu), nämlich an Muḥyī al-Dīn Yaḥyā b. Fakhr al-Dīn al-Ḥawarī, als Geschenk (hiba) 150 Silberstücke für seine Beglaubigung (ʿalā taṣdīqihi).“ Der Schenker war der Vater des neu bestellten Koranrezitators. 91 Festzuhalten bleibt, dass entgegen der weit verbreiteten Ansicht, der Stifterwille lege Stiftungszweck ein für allemal fest und Begünstigte seien bestenfalls Empfänger von Stiftungsleistungen, Letztere durchaus eigene Interessen verfolgen konnten, die Stifterwillen und Stiftungszweck zumindest temporär außer Kraft setzten. Damit wird der Eigentumscharakter der ausbezahlten Leistungen betont, die insbesondere im Falle von Pensionen nicht mit Kategorien von Sozialhilfe für solche, die sie verdienen (deserving poor), oder staatlicher Unterstützung wegen Behinderung in Deckung zu bringen sind. Somit erscheinen das „Private“ und das „Gemeinnützige“ in diesem Fall so verschränkt, dass das von Then und Kehl vorgeschlagene Modell von „sozialer Investition“ nur bedingt zu einem vertieften Verständnis von Stiftungsgeschichten in einer transkulturellen Perspektive beiträgt.
91 Shihāb al-Dīn Aḥmad b. Ṭawq, al-Taʿlīq, ed. Jaʿfar al-Muhājir. Bd.1, 124; den Hinweis verdanke ich Yehoshua Frenkel, Piety and Charity in Late Medieval Egypt and Syria, in: Miriam Frenkel/ Yaacov Lev (Hrsg.), Charity and Giving in Monotheistic Religions. Berlin, New York 2009, 175–202, hier 193; doch interpretiere ich das Verb im rechtlichen Sinne als beglaubigen, nicht „uses saddaqa in the sense of to give up voluntarily incomes in favor of other recipient[s].“
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Zusammenfassung Stiften unter islamischen Vorzeichen lässt sich in vielen Aspekten als „soziale Investition“ verstehen, wie sie von Volker Then und Konstantin Kehl beschrieben wird. Doch greift das in diesem Ansatz vorausgesetzte Verständnis von privater und allgemeiner Sphäre, von Eigeninteresse und Gemeinwohl zu kurz, um dem äußerst flexiblen Konstrukt der islamischen Stiftung in Rechtstheorie und sozialer Praxis gerecht zu werden. Das gilt besonders für den Bereich der gesellschaftlichen Legitimation und rechtlichen Akzeptanz einzelner Formen von Stiftungen. Auch wenn eine Stiftung für Blinde auf den ersten Blick als eine unproblematische philanthropische Einrichtung für Bedürftige wirkt, für die wegen ihrer Behinderung gesorgt werden muss, so zeigt eine genauere Analyse, wie sich in historischer Perspektive rechtlich-theoretische Legitimation und gesellschaftliche Praxis im Umfeld einer solchen Stiftung veränderten. Doch nicht nur das Umfeld, auch die innere Organisation einer Stiftung ist selbst in der Rechtstheorie dynamischer angelegt, als das die Forschung gemeinhin annimmt. Wenn Begünstigte der Stiftung das Recht haben, nach ihren eigenen Interessen zu entscheiden, wem ihr Anspruch auszuzahlen ist, und dieses Recht auch tatsächlich in Anspruch nehmen, dann bedeutet das auch für die historische Forschung, dass sich die sozialen, politischen, ökonomischen und religiös-kulturellen Funktionen von Stiftungen um diese Facetten erweitern und in eigenwilliger Art und Weise zu gesellschaftlichen Realitäten beitragen. Stiftungsgeschichten dürften sich so noch stärker als Knotenpunkte lokaler und translokaler personaler und institutioneller Netzwerke erweisen, als das in der bisherigen Forschung der Fall war. Eigeninteressen und Altruismus im islamischen Stiftungswesen lassen sich also nicht generell, strukturell und typologisch festlegen, sondern ihre jeweiligen Ausprägungen und ihr gegenseitiges Verhältnis müssen in der historischen Praxis untersucht werden. Gerade vergleichende Betrachtungen in transkultureller Perspektive müssen versuchen, dieser Komplexität Rechnung zu tragen, um nicht bei Allgemeinplätzen stehen zu bleiben, denn es sind auch in der islamischen Welt weit stärker die Lebendigen, die in diesem „seltsamen System“ des Stiftungswesens den Toten ihren Willen aufzwingen, als umgekehrt.
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Stiftungen in den protestantischen Reichsstädten der frühen Neuzeit von Gury Schneider-Ludorff
Aspekte des spätmittelalterlichen Stiftungswesens Im Jahr 1339 stiftete der vermögende Kaufmann und Kreditgeber Konrad Groß (gest. 1356) in Nürnberg das Heilig-Geist-Spital für die Versorgung von Hilfsbedürftigen. In der Stiftungsurkunde äußerte er seine Absicht, „für sich zeitliche Güter gegen himmlische einzutauschen.“ Es sei der „Ratschluss Gottes, dass die einen im Laufe des Lebens Überfluss haben, während die anderen an vergänglichen Gütern Mangel leiden, damit die Reichen durch Unterstützung der Unglücklichen und Darbenden Christi Gebot erfüllen“. 1 Die Vorstellung des Tauschs irdisch-vergänglicher Güter gegen jenseitig dauerhafte Schätze bzw. die Tilgung von Sündenstrafen und Belohnung im Jenseits war Grundlage der Stiftungsfrömmigkeit des Mittelalters. 2 Ohne Stiftungen – von Hospitälern, von Kirchen und Klöstern, von Kunst in den Kirchen, der Armen-, Waisen- und Witwenversorgung, der Altar- und Messstiftungen, der Pfründestiftungen – ist das städtische Gemeinwesen des Mittelalters nicht zu denken. Die mittelalterliche Stadtentwicklung und die relative Autonomie der Stadtkultur verdankt sich der reichen Stiftungstätigkeit ihrer Bürger. Das Stiftungswesen war gerade im Spätmittelalter in erster Linie religiös geprägt und Ausdruck von Frömmigkeit. Stiftungen zählten zu den piae causae, den frommen, guten Werken. Sie waren „Stiftungen für das Seelenheil“. Als „frommes Werk“
1 Georg Löhlein, Die Gründungsurkunde des Heilig-Geist-Spitals Nürnberg vom 1339, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Nürnbergs 52, 1963/64, 65–76, hier: 67. Vgl. dazu auch Berndt Hamm, „Zeitliche Güter gegen himmlische eintauschen. Vom Sinn spätmittelalterlicher Stiftungen“, in: Udo Hahn/ Thomas Kreuzer/Susanne Schenk/Gury Schneider-Ludorff (Hrsg.), Geben und Gestalten. Brauchen wir eine neue Kultur der Gabe? Münster 2008, 51–66. 2 Michael Borgolte, Art.Stiftung, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8 (1999), 178–180; Michael Borgolte (Hrsg.), Stiftung und Stiftungswirklichkeiten. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Berlin 2000; Hans-Rudolf Meier/ Carola Jäggi/Philippe Büttner (Hrsg.), „Für irdischen Ruhm und himmlischen Lohn. Stifter und Auftraggeber in der mittelalterlichen Kunst“. Berlin 1995.
DOI
10.1515/9783110400007.123
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waren sie zum einen an Gott selbst gerichtet. Dieser sollte den Geber oder die Geberin dafür mit dem ewigen Leben belohnen oder zumindest die Zeit im Fegefeuer verkürzen. Vor allem aber wurden vielfach die Personen, die durch eine Stiftung gefördert wurden, zur Fürbitte für den Stifter in Gebeten und der Teilnahme an Messefeiern verpflichtet. Neben der liturgischen Memoria, die das Heil der Seele sichern half, dienten Stiftungen dabei auch als Erinnerung unter der Lebenden, die den Stifter über seinen Tod hinaus im Andenken bewahren sollten. Durch ihr memoriales Handeln, vor allem aber durch die Nennung des Stifternamens im Totengedenken, vergegenwärtigten die Lebenden die Stiftung und damit den Stifter oder die Stifterin. Erhellende Erkenntnisse zum Verhältnis von Stiftung und Memoria verdankt die historische Forschung seit den 1980er Jahren den Untersuchungen Gerhard Otto Oexles sowie den Mittelalterhistorikern Arnold Angenendt und Michael Borgolte. Oexle konnte zeigen, dass die Toten im Mittelalter auch über ihren Tod hinaus als Personen im rechtlichen Sinn betrachtet wurden; sie galten als rechtsfähig und somit noch immer als Subjekte sozialer Beziehung. Die Toten waren so „unter den Lebenden gegenwärtig“. Das Totengedächtnis war also ein wesentlicher Aspekt mittelalterlicher Stiftungen. Mit dieser Vergegenwärtigung des Stifters wurden soziale Beziehungen zwischen Stifter und jenen, denen die Stiftung zugute kam, formuliert und dauerten über den Tod des Stifters hinaus an.
Der Wandel der Bedeutung von Stiftungen durch die Reformation und die Folgen für das Stiftungswesen in den protestantischen Reichsstädten Mit Beginn der Reformation geriet das Stiftungswesen zunächst in eine Krise. Die harte und zum Teil kompromisslose theologische Kritik Martin Luthers am Ablass, an den „Stiftungen für das Seelenheil“ und an der mittelalterlichen Memorialkultur stellten die religiöse Legitimation des Stiftungswesens erstmals seit Jahrhunderten in Frage. Es musste im protestantischen Bereich religiös neu begründet werden, was zugleich zu einer Veränderung der als legitim und stiftungswürdig betrachteten und gesellschaftlich akzeptierten Stiftungszwecke führte. Dies lässt sich am Beispiel der sich vor dem Hintergrund der reformatorischen Lehre ausprägenden Stiftungskultur in den protestantischen Reichsstädten im 16. und 17.Jh. nachzeichnen.
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Die theologischen Impulse der Reformationszeit veränderten die überkommenen Überzeugungen dessen, was als „Gutes Werk“ anzusehen sei, sowie die Art und Weise, wie die Verstorbenen geehrt werden und in Erinnerung bleiben sollten. Mit seiner Kritik am Ablasswesen und spätestens seit seiner Schrift „Von den Guten Werken“ (1520) 3 hatte Martin Luther eine Korrektur an den bisherigen Vorstellungen von guten Werken vollzogen. Er ließ nur jene als gute Werke gelten, die von Jesus gestiftet worden waren und den Aspekt der Nächstenliebe vorweisen konnten. Auch mit dem Verweis Luthers darauf, dass gute Werke nicht gerecht vor Gott machten, war die bisherige religiöse Legitimation des Stiftungswesens fragwürdig geworden: 4 Stiftungen an Klöster und Kirchen – bisher gute Werke vor Gott, die dem Seelenheil dienten –, wurden nun als Aberglaube und Götzendienst, als unnütz oder – was noch schlimmer war – als „Eigennutz“ interpretiert. 5 Warum sollte man dann noch stiften? Wie sich dies auf das städtische Zusammenleben auswirken würde, war kaum zu prognostizieren, da mit den Messstiftungen, mit Altarstiftungen und Bildern auch noch weitere finanzielle Mittel für die Armen- und Krankenversorgung sowie das Bildungswesen verloren zu gehen drohten. So kam es, dass die Reformatoren alsbald ausdrücklich erklärten, dass gute Werke weiterhin nötig und wichtig seien, und nun genauer definierten, was als gutes Werk zu gelten habe. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Argumentation, die die Verbindung von „Gemeinem Nutzen“ und guten Werken für das Wohl des Gemeinwesens als wahrer Caritas herstellt und damit eine theologische Deutung vollzieht: Dies findet sich in einer der ersten reformatorischen Maßnahmen des Rates der Stadt Nürnberg 1523: der „Ordnung des großen Allmosens“, die vom Ratsschreiber Lazarus Spengler entworfen worden war. 6 Hier erfolgte unter der sich wandelnden theologischen Deutung eine Definition, was als gute Werke angesehen werden könne. Es sind die „Werk der Lieb“: 3 Luther WA 6, 202–276. 4 Vgl. dazu Hamm, „Zeitliche Güter gegen himmlische eintauschen“ (wie Anm.1), 51–66. 5 Vgl. dazu auch: Gury Schneider-Ludorff, Stiftung und Memoria im theologischen Diskurs der Reformationszeit, in: Die Macht der Erinnerung. Jahrbuch für Biblische Theologie 22, 2007, 253–268. Gury SchneiderLudorff, Protestantisches Stiften nach der Reformation, in: Udo Hahn/Thomas Kreuzer/Susanne Schenk/ Gury Schneider-Ludorff (Hrsg.), Geben und Gestalten. Brauchen wir eine neue Kultur der Gabe? Münster 2008, 79–91. Der Hinweis auf die Diskreditierung „Eigennutz“ findet sich auch im Diskurs um das Stiftungswesen in der Antike: vgl. die Beiträge von Harter-Uibopuu und von Reden in diesem Band. 6 Zu Lazarus Spengler vgl. Berndt Hamm, Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube. Tübingen 2004.
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„Und diese werk der lieb sind die frucht, die aus einem rechten lebendigen glauben erwachsen, und heißen darumb gut, das sie aus einem wahrhaften vertrauen in Got fließen und dem nächsten zu nutz und gut reichen söllen. Es würde auch (nach anzeig des heiligen evangeliums) ein jeder christenmensch am jüngsten Tag solicher werk halben, nemlich: ob er umb Christus willen seine negsten dürftigen armen und notleidenden geliebt, sie gespeist, getrenkt, beklaidt, heimgesucht und in summa inen hilf und handreich erzaigt hab, und nit, ob er vil messen gestift, kirchen gepauet, walfart getan und andere dergleichen von Christo ungepotene werk geübt hab, rechenschaft geben müssen“ 7.
Gute Werke sind danach Früchte des Glaubens, für die man sich vor Gott im Jüngsten Gericht verantworten muss. In der theologischen Argumentation wurde der Aspekt, sich Gottes Zuneigung durch gute Werke und für die Vorsorge für das eigene Seelenheil zu erwerben, als obsolet erklärt. Wahrer Glaube zeige sich im Vertrauen auf die zuvorkommende Gnade Gottes. Der wahrhaft Gläubige musste sich damit nicht mehr um sein eigenes Seelenheil sorgen, sondern sollte aus diesem Glauben heraus seinen Nächsten, den Bedürftigen Gutes tun. Zugelassen wurden nun nur noch Stiftungen, die die Fürsorge für den Nächsten im Blick hatten, zunächst besonders der Kranken und Armen, Witwen und Waisen. Abgeschafft wurden in den evangelischen Reichsstädten und Territorien alle Formen der Messstiftungen, der Altarstiftungen und Stiftungen, die der Fürbitte für das Seelenheil der Stifter nach dem Tode dienten. Es fand also eine Verschiebung der Adressaten von Stiftungen bzw. eine Fokussierung allein auf den Nächsten als Orientierungspunkt von Stiftungen statt: Zur Ehre Gottes – als Dank für seine Gnade – und dem Nächsten zu Gute. Damit war auch eine klare Abgrenzung zum überkommenen mittelalterlichen Stiftungswesen vollzogen sowie zu den Städten und Territorien, die sich der Reformation nicht anschlossen. Dort wurde das mittelalterliche Stiftungswesen in der bisherigen Form fortgeführt und der Aspekt der Stiftungen für das Seelenheil, der Mess- und Altarstiftungen als konstitutiv für den wahren Glauben und als dem Willen Gottes gehorsame Form der Selbst- und Nächstenfürsorge angesehen. Zu den zwar in der frühen Ordnung von 1523 in Nürnberg zunächst abgelehnten, dann aber vom Rat der evangelischen Reichsstädte zunehmend gestatteten Stiftungen zählten die Stiftungen von Kirchenbau und Kunst in den Kirchen, die stets auch
7 Emil Sehling (Hrsg.), Kirchenordnungen des 16.Jahrhunderts, Bd. 11: Franken. Tübingen 1961, 23.
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einen Prestigezuwachs in der städtischen Gesellschaft für den Stifter bedeutet hatten. Allerdings wurde dies nun aufgrund einer theologisch anders gelagerten Argumentation befürwortet: Durch die für die Städte unverzichtbaren Kirchenbauten wurden die Stifter zu Vorbildern. Sie waren beispielgebend für das Gemeinwesen, indem sie den Lebenden Raum und Grundlagen für die rechte Glaubensausübung bereitstellten. Damit sicherten sie den im reformatorischen Sinne als „wahr“ erkannten Gottesdienst und trugen zur Stärkung des rechten – in diesem Falle – reformatorischen Bekennens und Glaubens bei. Sie leisteten im Sinne des von Luther geforderten „Priestertums aller Gläubigen“ ihren eigenen Beitrag zur Verkündigung des Evangeliums und zum Heil der Seele ihrer Mitbürger. Es zeigt sich, dass gerade die Stiftungen in den Reichsstädten wie Nürnberg oder Ulm nach der Reformationszeit zunahmen – und das nicht nur bei den Patriziern, sondern gerade in Kreisen der „Ehrbarkeit“, also der sonstigen im Rat der Stadt vertretenen Familien und darüber hinaus. 8 Die neu gegründeten Stiftungen spiegeln damit das zunehmende religiös-konfessionelle Selbstbewusstsein bestimmter bürgerlicher Gruppen in den protestantischen Reichsstädten nach der Reformation wider. An drei Beispielen soll diese Veränderung im Folgenden skizziert werden: Am Beispiel von Stiftungen im Bereich der Armenfürsorge, an der veränderten Memorialkultur und am Beispiel der Stipendienstiftungen, die das Bildungswesen beförderten. Stiftungen und Armenversorgung Ein sinnfälliges Beispiel für eine Stiftung, die den reformatorischen Vorgaben im Blick auf die Neudefinition von „Guten Werken“ aufs Beste entsprach, weil sie den zentralen Bereich der Armenversorgung betraf, findet sich noch heute im Ulmer Münster. Es ist die Almosentafel, die der Ulmer Ratsherr Eitel Eberhard Besserer (1501–1575) im Jahr 1562 stiftete. 9 Das Kunstwerk trägt ein breites Schriftband am unteren Ende des Bildes und fordert die Betrachter auf: „Gebt um Gottes Willen 8 Zum Begriff der „Ehrbarkeit“, vgl. Berndt Hamm, Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit, in: Hamm, Lazarus Spengler (wie Anm.6), 1–72. 9 Vgl. dazu Anna Mortah-Fromm, Von der Abtuhung der Bilder‘ in Ulm, in: Meisterwerke – Massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Nikolaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500. Ausstellungskatalog, hrsg. vom Württembergischen Landesmuseum Stuttgart. Stuttgart 1993, 431–432 mit Abb.578. Die Almosentafel ist noch heute im Ulmer Münster aufgestellt.
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Abb. 1: Altarbild der Ulmer Almosentafel von Georg Rieder d.Ä., 1562. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung der evangelischen Kirchenpflege Ulm.
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Hausarmen Leit“ 10. Hier wird also um eine Spende für die städtisch registrierten Armen 11 gebeten. Man soll sich ein Beispiel an den dargestellten Personen nehmen, die zugleich als christliche Vorbilder dienen: In einer Halle eines städtischen öffentlichen Gebäudes stehen – den gütigen Blick den sie umgebenden Armen zugewandt – der Stifter und einige Mitglieder seiner Familie, ebenso der Maler. 12 Sie verteilen Almosen an die Armen und Kranken, die ihnen erwartungsvoll ihre Hände, Hüte oder Holzschalen entgegenstrecken. Die Stiftung erinnert an die fromme Pflicht und Verantwortung, für das Gemeinwohl zu sorgen – im Terminus der damaligen Zeit: für den „Gemeinen Nutzen“ einzutreten. Sie mahnt zugleich eine Verantwortung der Christinnen und Christen an – hier konfessionell akzentuiert: als Protestantinnen und Protestanten, denn es handelt sich ja um ein nachreformatorisches Stifterbild – für den „Gemeinen Nutzen“ an. Die Stiftung des Ulmer Ratsherrn umfasste erhebliche Geldmittel für die Armenversorgung der Stadt, das Hospital und die diversen Gruppen der Armen, Witwen und Waisen. Das im Münster aufgestellte Stifterbild hatte eine dreifache Funktion: Zum einen wurde das großzügige Engagement des Ratsherrn für das städtische Leben öffentlich gemacht. Zum zweiten wurde Besserer als Vorbild im neuen protestantischen Glauben dargestellt, indem seine Unterstützung für die Armen, also sein Dienst am Nächsten akzentuiert wurde. Zum dritten diente das Stifterbild der Memoria des Stifters – ein Aspekt, der bis heute augenfällig ist und fast fünfhundert Jahre überdauert hat. Es ist allerdings bemerkenswert, dass ein Kunstwerk mit diesem Bildprogramm, das einen Stifter samt Familie zeigt und ikonographisch weder zu biblischen Gestalten noch zu Christus einen Bezug bildet, in einem protestantischen Kirchenraum seinen Ort gefunden hat. Bedenkt man zudem, dass knapp drei-
10 Ebd., Abb.578. 11 Es handelte sich dabei um die Armen der Stadt, die fromm, fleißig, gut beleumundet und unverschuldet in Not geraten waren und nicht betteln gingen, weiterhin Alte, Kranke, Kinderreiche, Knechte und Mägde, Witwen und Waisen. Vgl. dazu Sebastian Kreiker, Armut, Schule, Obrigkeit. Armenversorgung und Schulwesen in den Kirchenordnungen des 16.Jahrhunderts. Bielefeld 1997, 79–93. Zur Armenfürsorge im Mittelalter und der Reformation s. weiterhin Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland 1. Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. Stuttgart 1998, 25–40; Robert Jütte, Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfürsorge der Frühneuzeit, in: Christoph Sachße/ Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt am Main 1986, 101–118. 12 Die Ulmer Almosentafel hatte der Maler Georg Riederer d. Ä. 1562 angefertigt, vgl. dazu MorahtFromm, Abtuhung (wie Anm.9), 431–432.
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ßig Jahre zuvor jene große Ausräumaktion von „Tafeln, Bildnissen, Altären und Götzen“ aus dem Ulmer Münster stattgefunden hatte und die Form von Stifterbildern, die neben dem Hinweis auf die fromme Stiftung auch noch der Repräsentation der bürgerlichen Stifterfamilie dienten, damit abgelehnt worden war. 13 Die Almosentafel in Ulm scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass sich Mitte des 16.Jahrhunderts nach den zunächst kritischen Auseinandersetzungen im theologischen Diskurs ein Wandel im Verständnis von Stiftung und guten Werken vollzog, das Stiftungen zugunsten der Armenfürsorge normierte und in diesem Zusammenhang auch neue Bildprogramme zur Selbstdarstellung der Stifterpersonen zuließ. Die Selbstdarstellung war also durchaus erwünscht, wenn sie im Blick auf den Vorbildcharakter der Taten und damit des frommen Bekenntnisses im Sinne der neuen Lehre auf den Stifter verwies und ihn samt seiner guten Werke für die Bedürftigen in Erinnerung hielt. Der allseits bekannte Akt der „frommen Stiftung für das Seelenheil“ wurde also umgedeutet. Diese manifestierte sich auch in der Ausstattung des Kirchenraums. Von kunsthistorischer Seite ist auf die hohe Zahl an protestantischen Altarretabeln und Bildern aufmerksam gemacht worden 14, die trotz der reformatorischen Bilderkritik nach der Reformation in den Kirchen als Stiftungen oder im Rahmen der beträchtlichen Stiftungen für das Armenwesen der Reichstadt Einzug hielten. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in den mit der Reformation einhergehenden Veränderungen der Memorialkultur. Da der Erhalt der Memoria der Verstorbenen unter den Lebenden, wie oben beschrieben, ein zentraler Aspekt von Stiftungen im Mittelalter war, der auch nach der Reformation eine wichtige Motivation für die Stiftungstätigkeit darstellte, ist es im Blick auf das veränderte Stiftungswesen in den protestantischen Reichstädten unabdingbar, die Transformationen und neuen Begründungslinien im Blick auf die angemessene Form der Erinnerung an die Verstorbenen im Folgenden näher zu beleuchten.
13
Vgl. dazu Gudrun Litz, Die Reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten. Tübingen
2007. 14
In der Folge der Untersuchungen von Freya Strecker, Augsburger Altäre zwischen Reformation (1537)
und 1635. Münster 1997.
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Stiftungen und Memoriakultur Martin Luther legte in der Vorrede zu den Begräbnisliedern von 1542 die folgenden Überlegungen zum Totengedenken dar: „Demnach haben wir in unsern Kirchen die Bepstlichen Grewel, als Vigilien, Seelmessen, Begengnis, Fegefewr und alles ander Gaukelwerck fur die Todten getrieben, abgetan und rein ausgefegt. Und wollen unser Kirchen nicht mehr lassen Klagheuser oder Leidestete sein, sondern, wie es die alten Veter auch genennet, Koemiteria, das ist, fur Schlaffheuser und Rugestete halten. Singen auch kein Trauwlied noch Leidegesang bey unsern Todten und Grebern, sondern tröstliche Lieder von vergebung der sunden, von Ruge, Schlaff, Leben und Aufferstehung der verstorbenen Christen, Damit unser Glaub gesterckt und die Leute zu rechter Andacht gereitzt werden.“ […] „Dahin auch gehört, was die Christen bisher und noch thun, an den Leichen und Grebern, Das man sie herrlich tregt, schmückt, besinget und mit Grabzeichen zieret. Es ist alles zuthun umb diesen Artickel von der aufferstehung, das er feste in uns gegründet werde, Denn er ist unser endlicher, seliger, ewiger trost und freude wider den Tod, Helle, Teuffel und alle traurigkeit […] Wenn man auch sonst Greber wolt ehren, were es fein, an die Wende, wo sie da sind, gute Epitaphia oder Sprüche aus der Schrift darüber zu malen oder zu schreiben [...]“ 15
Mit der neuen Lehre sollte auch eine Veränderung im Totengedenken einhergehen. 16 Der Umgang mit den Verstorbenen änderte sich. Die Seele der Verstorbenen
15 Luther WA 35, 478–480. 16 Zum Thema der Veränderungen der Begräbnis- und Epitaphkultur nach der Reformationszeit sind in der letzten Zeit zahlreiche Untersuchungen entstanden, vgl. dazu: Klaus Raschzok/Dietmar H.Voges, „…dem Gott gnädig sei.“ Totenschilde und Epitaphien in der St. Georgskirche Nördlingen. Nördlingen 1998; Christine Steininger, „Ich weiß, daß mein Erlöser lebet.“ Überlegungen zur Verbindung von biblischem Text und biblischen Bild auf Epitaphien des 16.Jahrhunderts und frühen 17.Jahrhunderts und ihrer konfessionellen Relevanz, in: Gertrud Mras/Renate Kohn (Hrsg.), Epigraphik 2000. Neunte Fachtagung für mittelalterliche Epigraphik, 9.–12.Oktober 2000. (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters Bd. 10) Wien 2006, 241– 255; Susan C. Karant-Nunn, Tod, wo ist Dein Stachel? – Kontinuität und Neuerung bei Tod und Begräbnis in der jungen evangelischen Kirche, in: Christine Magin/Ulrich Schindel/ Christine Wulf (Hrsg.), Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext. Beiträge zur 11. Internationalen Fachtagung für Epigraphik vom 9.–12.Mai 2007 in Greifswald. Wiesbaden 2008, 193–204; Dagmar Hüpper, Gedenken und Fürbitte – Inschriften des Totengedächtnisses zwischen Wandel und beharrendem Zeitgeist, in: Christine Magin/Ulrich Schindel/Christine Wulf (Hrsg.), Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Wiesbaden 2008, 123–148; Christine Wulf, Bildbeischriften im frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext. Funktionswandel von Inschriften auf kirchlichen Ausstattungsstücken vom hohen Mittelalter bis zum 16.Jahrhundert, in: Magin/Schindel/Wulf Traditionen, Zäsuren, Umbrüche (wie oben), 37–54; Oliver Meys, Memoria und Bekenntnis. Die Grabdenkmäler evangelischer Landes-
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wurde Gott anbefohlen, der Tod als Schlaf bis zum Jüngsten Gericht gedeutet. Neue Friedhöfe wurden am Rande der Stadt angelegt, meist als Parkanlagen, Beinhäuser wurden abgeschafft, ebenso die Gedächtnismessen, Klageweiber und Totenwachen. Ab Mitte des 16.Jahrhunderts setzten sich die Leichenpredigten durch, die die Verstorbenen als Personen und als Vorbilder im Glauben ehrten. 17 Das Totengedenken hatte also nicht mehr die Funktion der Fürbitte vor Gott für die Seele der Verstorbenen im Fegefeuer, die Blickrichtung kehrte sich vielmehr um: Die Lebenden rückten nun in den Blick – es ging um die Stärkung ihres Glaubens und damit um deren Heil. Mit der Anregung Luthers, „gute Epitaphia oder Sprüche aus der Schrift“ im Rahmen der Memoria des Verstorbenen zu erstellen, war auch die teilweise vehement tobende Kontroverse um die Bilder in den Kirchen in gemäßigte Bahnen gelenkt. 18 Denn das Epitaph, das sich im 14.Jahrhundert entwickelt hatte, war ein Ausdruck städtischer und bürgerlicher Memorialkultur und Frömmigkeit. Und damit repräsentierte sich die städtische Gesellschaft geschlossen und prominent im Kirchenraum. Epitaphien kam im Sinne einer „politischen Ikonographie“ eine für das städtische Gemeinwesen zentrale Bedeutung zu, was auch nach der Reformation noch der Fall war. 19 Dies zeigt beispielsweise die vehemente Auseinandersetzung um die Epitaphien und Totenschilde in Ulm, bei der es den Theologen nicht gelang, das Entfernen dieser Erinnerungszeichen gegen den Rat der Stadt durchzusetzen. Es ist aber auch die Erklärung für die Aufstellung der Almosentafel im Ulmer Münster, das damit zugleich als eine Form des Epitaphs fungierte. 20 Klaus Raschzok hat darauf hingewiesen, dass die Epitaphien den Kirchen nur anvertraut waren und im Privatbesitz der Familien blieben. Sie waren nicht in die liturgische Totenmemoria eingebunden und daher unabhängig von der Abschaffung
herrn im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung. Regensburg 2009; Inga Brinkmann, Grabdenkmäler, Grablegen und Begräbniswesen des lutherischen Adels. Adelige Funeralrepräsentation im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert. Berlin/München 2010. Berndt Hamm/Volker Leppin/Schneider-Ludorff (Hrsg.), Media salutis. Gnadenund Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Tübingen 2011. 17 Vgl. zu den Veränderungen im Begräbniswesen: Karant-Nunn, Kontinuität und Neuerung (wie Anm.16), 196–202, Brinkmann, Grabmäler (wie Anm.16), 47–80. 18
Zur Auseinandersetzung um die Bilder in der Reformationszeit vgl. Litz, Reformatorische Bilderfrage
(wie Anm.13).
132
19
Vgl. Raschzok/Voges, „…dem Gott gnädig sei“ (wie Anm.16), 16–17.
20
Vgl. dazu Litz, Die reformatorische Bilderfrage (wie Anm.13), 108–132.
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der Seelmessen und Jahrtage. So konnten sie mit der Reformation neue Funktionen im Totengedenken übernehmen. 21 Während die Aufforderung zur Fürbitte für die Verstorbenen zurücktrat, übernahmen die Epitaphien nun die Funktion des Trostes und der Stärkung des Glaubens der Lebenden: zum einen durch die Darstellung bestimmter biblischer Szenen, denen Kommentare aus der Bibel beigegeben wurden, zum andern durch Veranschaulichung der neuen reformatorischen Theologie. So spiegelten die Epitaphien die Bekenntnisse ihrer Stifter wider, mit denen sie sich einerseits den Lebenden zum Vorbild im Glauben präsentierten und andererseits der Forderung Luthers nachkamen, durch „Gute Epitaphia und Sprüche aus der Schrift“ zur Vergegenwärtigung des Heils und damit zur Stärkung des Glaubens der Lebenden beizutragen. 22 Es ging also darum, mit den Stiftungen – besonders eben der Form von Epitaphien als Stiftungen für den Kirchenraum – neben der eigenen Memoria auch das Bekenntnis zur neuen reformatorischen Lehre zu vergegenwärtigen. Damit dienten diese Stiftungen von Altarbildern und Epitaphien, deren Einrichtung sich auch nach der Reformation einer ungebrochen Beliebtheit und Attraktivität erfreute, in den Reichsstädten der religiösen Zurüstung der Lebenden. Durch die Betrachtung der Bilder und Epitaphien sollte die wahre Lehre vor Augen geführt werden, was wiederum dem Glauben, Leben und Gestalten eines wahrhaft christlichen Gemeinwesens dienen sollte. Im Zuge der Reformation verschärften sich die Bedingungen für diese Form von Stiftungen, die der Memoria dienten und immer auch eine prestigeträchtige Präsentation und Selbstdarstellung des zumeist kleinen Kreises wohlhabender und herausragender Bürger, Pfarrer, Superintendenten und in der Stadt ansässiger Adeliger implizierten: Dies geriet zunehmend in die Kritik und in den Bezug zum „eigenen Nutzen“ einer zu sehr auf die Selbstdarstellung bezogenen Generosität. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Ratsbeschluss der evangelischen Reichsstadt Nördlingen von 1589. Er verfügte, dass das Aufhängen eines Epitaphs oder Totenschildes in St. Georg nur dann erlaubt werde, wenn zuvor in erheblichem Maße fi-
21 Vgl. Raschzok/Voges, „…dem Gott gnädig sei“. (wie Anm.16), 18. 22 Vgl. dazu Volker Leppin, Medialität und Totenmemoria im Luthertum, in: Hamm/Leppin/SchneiderLudorff (Hrsg.), Media Salutis, (wie Anm.16), 201–222. Zu den Grabdenkmälern von Protestantischen Landesfürsten vgl. Meys, Memoria und Bekenntnis (wie Anm.16), 243; Gury Schneider-Ludorff, Der fromme Fürst. Medialität des Heils und landesherrliche Selbstrepräsentation, in: Hamm/Leppin/Schneider-Ludorff (Hrsg.), Media Salutis, (wie Anm.16), 182–200.
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nanzielle Mittel für das bürgerliche Spital gestiftet worden seien. 23 In Ulm war dies, wie die Almosentafel zeigt, wohl schon Mitte des 16.Jahrhunderts Bedingung für diese Form der Memorial- und Präsentationsform von Stifterinnen und Stifter. Stiftungen und Bildungswesen Der hohe finanzielle Aufwand, der die Memoria der Stifterperson garantierte, aber zugleich auch die Verantwortlichkeit und das Bekenntnis zur neuen Lehre dokumentierte, wirft die Frage auf, welche Möglichkeiten der Partizipation an diesen Formen von memoria und Bekenntnis andere Mitglieder der städtischen Gesellschaft, beispielsweise wohlhabende Handwerker oder bürgerliche Frauen, sahen und wie sich dies auf die Stiftungskultur in den protestantischen Reichsstädten auswirkte. Für die evangelischen Reichstädte wie Ulm oder Nürnberg lässt sich feststellen, dass nach der Reformation diejenigen Stiftungen zunahmen, die nun als „gute Werke“ bezeichnet wurden. Zu diesen „frommen Stiftungen“ gehörten neben den Stiftungen für die Armen besonders die Stiftungen zu Bildungszwecken. In seiner Studie zum Stipendienwesen in Nürnberg hat Bernhard Ebneth darauf hingewiesen, dass die Studienförderung seit der Mitte des 15.Jahrhunderts nahezu vollständig auf den privaten Stiftungen von Bürgern der Reichsstadt basierte. 24 Nur eine sehr vermögende Oberschichte konnte es sich leisten, Stipendien zu stiften, denn die Gründung eines Stipendiums verlangte einen hohen finanziellen Aufwand. Dieser war wesentlich höher als beispielsweise die Legate an das neue Spital zum Heiligen Geist oder an das Findelhaus oder die Almosen für hausarme Leute, welche allesamt schon für wenig Geld verteilt werden konnten. Denn zusätzlich mussten ein potentieller Stifter oder eine Stifterin die Bereitschaft besitzen, nicht nur für Studenten, sondern indirekt auch für die Kirchen, Schulen und Ämter der Reichsstadt zu sorgen. So war der überwiegende Teil der mittelalterlichen Stipendienstiftungen von Mitgliedern des Patriziats – meist im Rahmen von Familienstiftungen – getätigt
23
Vgl. dazu Raschzok/Voges, „…dem Gott gnädig sei“ (wie Anm.16), 17.
24
Vgl. dazu und zum Folgenden: Bernhardt Ebneth, Stipendienstiftungen in Nürnberg. Eine historische
Studie zum Funktionszusammenhang der Ausbildungsförderung für Studenten am Beispiel einer Großstadt (15.–20.Jahrhundert). Nürnberg 1994, 144. Vgl. auch Bernhard Ebneth, Stipendienstiftungen in Bayern – Zur Geschichte der Studienförderung für Studierende der evangelisch-lutherischen Theologie vom 16. bis 21.Jahrhundert, in: Hahn/Kreuzer/Schenk/Schneider-Ludorff (Hrsg.), Geben und Gestalten (wie Anm.1), 91–105.
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worden 25. Die 23 ratsfähigen Familien hingegen, die nach der Reformation Stipendien einrichteten, zeichneten sich dadurch aus, dass sie „fromme Stiftungen“ zu Gunsten von Studenten gründeten, die überwiegend auch anderen Bürgern der Stadt zugänglich waren. Es gab aber auch Stiftungen von Kaufleuten und Handwerkern, wobei gerade bei den Handwerkern auffällt, dass die nach 1543 gegründeten 15 Stiftungen der ratsfähigen Handwerker zu einem Drittel von Frauen ausgerichtet worden sind. 26 Wie das Stiftungsbuch der Stadt Ulm zeigt, rangieren neben den Stiftungen für die Armenversorgung die Stipendienstiftungen auf dem zweiten Platz. 27 Auffällig ist, dass von ca. 90 Stipendienstiftungen 77 dem Theologiestudium vorbehalten sind. Ein Beispiel dafür ist die Stiftung der Cäcilia Auerin, Witwe von Bronn, eine der größten Stiftungen der Zeit nach der Reformation in Ulm. Die Auerin war ursprünglich eine Protestantin aus Österreich, die auf Druck der gegenreformatorischen Maßnahmen wohl um 1600 aus Österreich ausgewanderte und in Ulm eine neue Heimat fand. Sie vermachte der Reichsstadt ein Kapital von 15000 Gulden und hatte in ihrem Testament 1606 die Verfügung getroffen, einen größeren Betrag dem Almosenkasten und zu frommen, zu sozialen Zwecken einzusetzen, zum Beispiel dem Verschenken von Brennholz an die frommen Armen in der Stifterin Namen. Neben der Armenfürsorge war der Auerin auch die Unterstützung der Bildung wichtig.;sie richtete auch Stipendien für Theologiestudenten ein: „Etlichen jungen Studiosis, die sich auf die Academias zu begehen vorhaben, oder allbereit daselbsten seyn, und von ihren Professoribus ihres Wohlverhaltens und fleissigen Studierens gut Gezeugnis haben, und kundtlich einer Hülf bedürftig, soll durch die Stifts-Verwalter je Einem 10. 15. 20. fl. und zweyen oder dreyen Baccallaureis oder Magistris, so sie beglaubte gute Testimonia von den Universitäten ihrer Qualitäten halber, und dasß sie der ungeänderten Augsburgischen Confession sincere beigethan, fürbringen, sollen zu 30. 40.
25 Insgesamt gab es 146 Stifter und Stifterinnen in Nürnberg, von denen sich 93 nach ihrer sozialen Situation einordnen lassen, Ebneth: Stipendienstiftungen (wie Anm.24), 144. 26 Ebneth, Stipendienstiftungen (wie Anm.24), 115; dort auch die Liste der Stiftungen der ratsfähigen Handwerker. 27 Zum Ulmer Stiftungswesen vgl. Gudrun Litz, Beispiele aus dem Ulmer Stiftungswesen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Hahn/Kreuzer/Schenk/Schneider-Ludorff (Hrsg.), Geben und Gestalten (wie Anm.1), 67–78.
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oder da sie gut gelernt, bis auf die 50 fl. als eine christliche Handreichung gefolgt werden.“ 28
Wichtig ist hier der Hinweis auf die Kriterien der Zielgruppe: Ein moralisches und sittliches Wohlverhalten, gute Studienleistungen und vor allem die Zugehörigkeit zur Confessio Augustana von 1530. Damit dient diese Stiftung neben der Memoria dem Bekenntnis. Es ist ein dezidiertes Bekenntnis der Stifterin zum von der Stadt Ulm als recht erkannten reformatorischen Glaubens – in der Form des im Jahre 1530 von den lutherischen Ständen und Städten auf dem Reichstags zu Augsburg niedergelegt und unterzeichnetes Bekenntnis zur neuen Lehre. Cecilia Auerin bekannte sich also mit ihrer Stiftung zur konfessionell lutherischen Profilierung ihrer neuen Heimatsstadt, indem sie im Sinne der rechten Lehre ausgebildeten Theologiestudierenden und zukünftigen Pfarrer Ulms finanziell förderte. Damit präsentierte sie sich nicht nur als ein Vorbild im Glauben, sondern schaffte auch die Voraussetzungen für eine nachhaltige, generationenübergreifende Sicherung der in ihrem Sinne verstandenen „wahren“ Lehre.
Transformationen im Stiftungswesen in den protestantischen Reichsstädten – Zusammenfassende Überlegungen Besonders die Zunahme an Stipendienstiftungen im städtischen Bürgertum, das bislang nur einen geringen Beitrag zum Stiftungswesen geleistet hatte, zeigt, dass hier das Moment der Memoria mit der Verantwortung für die Lehre verschränkt wurde – die „gesunde, heilsame“ Lehre, die auch als „Gutes Werk“ gegenüber den Nächsten angesehen wurde, da es den wahren Glauben und damit das Seelenheil der Lebenden befördern sollte. Auch mit dem Errichten eines Stipendiums für das Theologiestudium nach dem Tode der Stifter wurden ebenso wie bei den Stiftungen für die Armenversorgung, die Stiftung von Epitaphien und Altarbildern zwei Interessen der Stifterpersonen deutlich: Erstens war es das Bedürfnis, nach dem Tod der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben. So ist der Brauch nachgewiesen, dass die Auszahlung der jährlichen Legate aus Stiftungen in Nürnberg wie in Ulm fast durchweg am Namenstag des Stifters bzw. 28
Das Testament der Cäcilia Auerin ist abgedruckt in: Christoph Leonhard v. Wolbach, Urkundliche Nach-
richten von den ulmischen Privatstiftungen. Ulm 1847, 27–30.
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seines Ehegatten stattfand 29. Und auch Caecilia Auerin verfügte, dass die Stipendien „einmal in den Pfingstfeiertagen und das andere Mal am Tage Ceciliae (am 22, November) ausgeteilt werden; wobei nach Gelegenheit und Orts durch die, so der Musik kundig, eine schöne geistliche muteta, oder zwo gesungen, und durch den beiwesenden Prediger ein Bericht und Vermahnung gethan, und für den Wohlstand gemeinen Vaterlands gebetet werden soll.“ 30 Zum anderen wird das Interesse und das Selbstbewusstsein eines sich ausprägenden protestantischen Bürgertums sichtbar, zur Förderung der „rechten, heilsamen Lehre“ beizutragen und in diesem Sinne nachhaltig und über Generationen hinweg das städtische Gemeinwesen durch Stiftungen im Bereich der Armenversorgung, der religiösen Kunst und der Bildung zu gestalten. Es zeigt sich also, dass die neu gegründeten Stiftungen in den protestantischen Reichsstädten im 16. und 17.Jahrhundert neben den sozialen, rechtlichen und ökonomischen Aspekten die religiösen Hintergrundüberzeugungen des aufstrebenden protestantischen Bürgertums konfessionell profilierten und den Stiftungen damit normierende und das Gemeinwesen prägende Kraft zukam. Die protestantischen Reichsstädte stilisierten sich somit auch durch das neu organisierte und strukturierte Stiftungswesen, das „Gute Werke“ im Sinne der lutherischen Lehre als Früchte des Glaubens und als Sorge für den Nächsten definierte sowie im Rahmen einer veränderten Memorialkultur als bewusste Alternative zu den Städten und Territorien, die sich der Reformation nicht angeschlossen hatten und in denen das mittelalterliche Stiftungswesen ungebrochen fortgeführt wurde.
29 Vgl. Ebeneth, Stipendienstiftungen (wie Anm.24), 152. 30 Wolbach, Urkundliche Nachrichten (wie Anm.28), 28.
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II. Vormoderne Stiftungswesen
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Stifter in alttürkischen buddhistischen Texten aus dem 10. bis 14.Jahrhundert von Yukiyo Kasai
Einleitung Die Uiguren, ein türkischer Stamm, von denen ein großer Teil heute im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang in China leben, stammen ursprünglich aus der Steppe der Mongolei. Dort führten sie zuerst ein nomadisches Leben und standen unter der Herrschaft eines anderen türkischen Stammes, den Tujue 突厥 . Die Herrschaft der Tujue 突厥 dauerte 200 Jahre während des 6.–8.Jahrhunderts, wenn man die Phase, in der sie und die meisten anderen Nomaden unter die Kontrolle der chinesischen Dynastie gerieten mit einschließt. Während dieser Zeit nahmen die Uiguren gegenüber den Herrschern eine wichtige Position ein, obwohl sie oft vom starken Untertan zum mächtigen Feind wechselten. In der Mitte des 8.Jahrhunderts kamen die Uiguren endlich selbst an die Macht und gründeten ihr eigenes nomadisches Reich, das Ostuigurische Kaganat. 1 Genau wie ihr Vorgänger spielte auch ihr Kaganat nicht nur in der Mongolei und in Zentralasien, sondern auch in China eine bedeutende Rolle. Eine Zeit lang war das Ostuigurische Kaganat zweifellos das mächtigste Reich in Ost- und Zentralasien und kontrollierte die Handelswege zwischen Osten und Westen. Nach dem Tod ihres mächtigen Herrschers Ay Täŋridä Kut Bulmıš Alp Bilgä Kagan (808–821) begann die Macht der Uiguren zu bröckeln. In der Mitte des 9.Jahrhunderts schließlich ging das Reich infolge des Angriffs der Kirgisen, eines anderen türkischen Stammes, unter, und die meisten Uiguren wan-
1 Die Geschichte der Uiguren und ihres Kaganats wird in zahlreichen Aufsätzen und Büchern behandelt. Zum Überblick vgl. z.B. Colin Mackerras, The Uighurs, in: Denis Sinor (Hrsg.) The Cambridge History of Early Inner Asia. Cambridge 1990, 317–342; Peter Benjamin Golden, An Introduction to the History of the Turkic People. Ethnogenesis and State-Formation in Medieval and Early Modern Eurasia and the Middle East. Wiesbaden 1992, 155–163; Denis Sinor/Geng Shimin/Yevgenij Ivanovič Kychanov, The Uighurs, the Kyrgyz and the Tangut (eighth to the thirteenth century), in: Muchamed Sajfitdinovič Asimov/Clifford Edmund Bosworth (Hrsg.) History of Civilizations of Central Asia. Bd. IV. The Age of Achievement: A.D. 750 to the End of the Fifteenth Century. Part One. The Historical, Social and Economic Setting. Paris 1998, 191–214.
DOI
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derten Richtung Westen nach Zentralasien. Dort gründeten sie das Westuigurische Königreich, dessen Hauptstädte später nach Turfan (heute auch Turfan / Tulufan 吐魯番 ) und Bešbalık (heute Jimsar / Jimusaer 吉木薩爾 ), die wichtigen Oasenstädte
an der Seidenstraße, verlegt wurde. 2 Im Gegensatz zu der nomadischen Lebensweise in ihrem ersten Reich wurden die Uiguren in diesem Reich zunehmend sesshaft. Das neue Königreich umfasste unterschiedliche neue Stämme, die von alters her in diesem Gebiet sesshaft gewesen waren. Einige der Einheimischen besaßen ein hoch entwickeltes Regierungssystem, und die Uiguren bauten zum Teil unter dem Einfluss dieser Einheimischen ihr eigenes System auf. Der nächste Wendepunkt in der Geschichte der Uiguren kam am Anfang des 13.Jahrhunderts. Als die Mongolen unter Činggiz Khan in der Mongolei und in Zentralasien ihren Einfluss rasch ausdehnten, unterwarf sich der König des Westuigurischen Königreichs zusammen mit seinem Volk freiwillig. Diese Entscheidung brachte den Uiguren eine Sonderposition unter der mongolischen Herrschaft, die fast ganz Eurasien dominierte. Während der Mongolenzeit (13.–14.Jahrhundert) wurden sie von mongolischen Herrschern bevorzugt und fanden damit eine große Chance, am Hof des mongolischen Kaisers als einer seiner Untertanen eine neue Karriere anzufangen. Auch das Königreich genoss eine gewisse Selbständigkeit, obwohl man den zunehmend starken Einfluss des mongolischen Kaisers nicht übersehen kann. 3 Bis zu der Zeit, als das Mongolenreich sein Zentrum nach Norden verla-
2 Zur Wanderung der Uiguren nach Westen und der Gründung des Westuigurischen Königreichs vgl. 森 安孝夫 Moriyasu Takao, ウ ィ グルの西遷について [Franz. Nebentitel: Nouvel examen de la migration des Ouï-
gours au milieu du IXe siècle], in: 東洋学報 Tōyō gakuhō 59.1/2, 1977, 105–130; Die Geschichte des uigurischen Manichäismus an der Seidenstraße. Forschungen zu manichäischen Quellen und ihrem geschichtlichen Hintergrund. Wiesbaden 2004, besonders 165–166. 3 Zur freiwilligen Unterwerfung des uigurischen Königs und der folgenden Entwicklung vgl. z.B. 佐口透 Saguchi Tōru, モ ン ゴル人支配時代の ウ イ グ リ ス タ ン ( 上 ) ( 下 ) [Uiguristan unter der mongolischen Herrschaft (I, II)], in: 史学雑誌 Shigaku zasshi 54.8/9, 1943, 1–71, 72–97; 安部健夫 Abe Takeo, 西 ウ イ グル国史の研究 Nishi Uigurukokushi no kenkyū [Die Geschichte des Westuigurischen Königreichs]. Kyoto 1955, bes. 1–138; Thomas T.Allsen, The Yüan Dynasty and the Uighurs of Turfan in the 13th Century, in: Morris Rossabi (Hrsg.), China among Equals. The Middle Kingdom and its Neighbours, 10th-14th Centuries. Berkeley/Los Angeles/London, 1983, 243–280, besonders 264–280. Der starke Einfluss des mongolischen Kaisers wird in alttürkischen Dokumenten aus der Mongolenzeit deutlich widergespiegelt, vgl. z.B. 梅村坦 Umemura Hiroshi, 違約罰納官文言のあ る ウ ィ グル文書 – と く にその作成地域 と 年代の決定について – [Engl. Nebentitel: Uighur Documents with a Forfeiture Clause: Where and When They Were Written], in: 東 洋 学 報 Tōyō gakuhō 58.3/4, 1977, 01–040, besonders 027–029; 1 3 世紀 ウ ィ グ リ ス タ ン の公権力 [Engl. Nebentitel: Official Powers in Uighuristan of the 13th Century], in: 東洋学報 Tōyō gakuhō 59.1/2, 1977, 01–031, besonders 017–024.
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gerte (1368), spielten die Uiguren in führenden Positionen oder als Berater an der Seite der mongolischen Herrscher eine bedeutende Rolle in der Geschichte Zentral- und Ostasiens. Die Uiguren waren aber nicht nur im politischen Bereich tätig, sondern ihr Einfluss dehnte sich auch auf wirtschaftliche, militärische und kulturelle Bereiche aus. Religiöse Aktivitäten nahmen darunter eine zentrale Stellung ein. 4
Religionen der Uiguren Die Uiguren traten während des Ostuigurischen Kaganats in der Mongolei zum Manichäismus über und verliehen ihm sogar den Status einer Staatsreligion, was in der Geschichte des Manichäismus ein einmaliges Ereignis blieb. 5 Nach dem Untergang dieses Reichs und der Wanderung nach Westen blieben sie eine Weile ihrem Glauben treu. Im Turfan-Gebiet lebten jedoch traditionell buddhistische Bevölkerungen, Tocharer und Chinesen. Die Sprache der Tocharer ist eine indogermanische Sprache, die innerhalb dieser Sprachfamilie am weitesten nach Osten wanderte und deren Existenz erst durch die Turfan-Funde ans Licht gekommen ist. Während der tocharische Buddhismus eine starke Tendenz des Theravāda-Buddhismus hatte, war unter den Chinesen der Mahāyāna-Buddhismus weit verbreitet. Abgesehen von diesem Richtungsunterschied waren sie gläubige Buddhisten, und durch ihren Einfluss wurden auch die Uiguren nach und nach Buddhisten. Am Ende des 10.Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 11.Jahrhunderts wurde der Buddhismus Staatsreligion. 6 Bei der Entstehung des uigurischen Buddhismus leistete der tocharische Buddhismus, der stark vom Theravāda-Buddhismus geprägt war, neben dem chinesischen einen wichtigen Beitrag. Dies spiegelt sich deutlich in zahlreichen buddhistischen Termi-
4 Zu den Tätigkeiten der Uiguren im Mongolenreich und den relevanten Forschungen zu diesem Thema vgl. Yukiyo Kasai, Die uigurischen buddhistischen Kolophone. (Berliner Turfantexte Bd. 26) Turnhout 2008, besonders 15–19. 5 Zur Bekehrung der Uiguren zum Manichäismus und ihrer Problematik vgl. z.B. Édouard Chavannes/ Paul Pelliot, Un traité manichéen retrouvé en Chine, in: Journal Asiatique 1911, 499–617, 1913, 99–199, 261– 394, besonders 190–199; Moriyasu, Manichäismus (wie Anm.2), 34–35; Larry Vernon Clark, The Conversion of Bügü Khan to Manichaeism, in: Ronald Eric Emmerick/Werner Sundermann/Peter Zieme (Hrsgg.), Studia Manichaica. IV. Internationaler Kongreß zum Manichäismus, Berlin, 14.–18.Juli 1997. Berlin 2000, 83– 123. 6 Moriyasu, Manichäismus (wie Anm.2), 35–38, 174–192.
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ni wider, die vom Tocharischen vermittelt wurden. 7 Später übte jedoch der chinesische Mahāyāna-Buddhismus zunehmend einen stärkeren Einfluss aus und wurde schließlich die Hauptquelle des uigurischen Buddhismus. 8 Die Uiguren hielten auch während der Mongolenzeit an ihrem Glauben fest und legten sogar die Grundlage für den mongolischen Buddhismus, was etwa durch die Tatsache deutlich nachzuweisen ist, dass zahlreiche buddhistische Termini aus dem Alttürkischen ins Mongolische übernommen wurden. 9
7 庄垣内正弘 Shōgaito Masahiro, ‘ 古代 ウ イ グ ル語 ’ におけ る イ ン ド 来源借用語彙の導入経路につい て [Der Prozess der Übernahme der Sanskrit-Termini ins Uigurische], in: ア ジ ア ‧ ア フ リ カ言語文化研究 Ajia, Afurika gengo bunka kenkyū 15, 1978, 79–110; Eddy Moerloose, Sanskrit Loan Words in Uighur, in: Journal of Turkish Studies 4, 1980, 61–78. 8 Zur Entstehung des uigurischen Buddhismus gibt es zwei Thesen. Während eine den Einfluss des tocharischen Buddhismus betont (tocharische Hypothese), behauptet die andere These, dass die Sogder, ein iranisches Volk, die Vermittler des Buddhismus für die Uiguren waren (sogdische Hypothese). Die tocharische Hypothese wurde von T.Moriyasu dargestellt, vgl. Moriyasu Takao, L’origine du bouddhisme chez les Turcs et l’apparition des textes bouddhiques en turc ancien, in: Akira Haneda (Hrsg.), Documents et archives provenant de l’Asie Centrale. Actes du Colloque Franco – Japonais organisé par l’Association Franco – Japonaise des Études Orientales. Kyoto 1990, 147–165. Die sogdische Hypothese wird dagegen u.a. von J. P. Laut vertreten, vgl. Jens Peter Laut, Der frühe türkische Buddhismus und seine literarischen Denkmäler. Wiesbaden 1986, besonders, 1–12. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass zahlreiche buddhistische Termini über das Tocharische ins Alttürkische übernommen wurden, ist die tocharische Hypothese überzeugender. Die Vertreter der sogdischen Hypothese lassen den großen Einfluss des tocharischen Buddhismus nicht außer Acht, wie J. P. Lauts Zusammenarbeit mit G.-P. Pinault deutlich zeigt, vgl. Geng Shimin/Jens Peter Laut/Georges-Jean Pinault, Neue Ergebnisse der Maitrisimit-Forschung (I), in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 154.2, 2004, 347–369; Neue Ergebnisse der Maitrisimit-Forschung (II): Struktur und Inhalt des 26. Kapitels, in: 内陸ア ジ ア言語の研究 Nairiku ajia gengo no kenkyū 19, 2004, 29–94. Die jüngste Forschung weist andererseits darauf hin, dass die Uiguren zumindest die sogdischen buddhistischen Texte verwendet haben, vgl. Yoshida Yutaka (übersetzt von Yukiyo Kasai in Zusammenarbeit mit Christiane Reck), Die buddhistischen sogdischen Texte in der Berliner Turfansammlung und die Herkunft des buddhistischen sogdischen Wortes für Bodhisattva. Zum Gedenken an Prof. Kōgi Kudaras Arbeiten an den sogdischen Texten, in: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 61.3, 2008, 325–358, besonders 340–344. Deshalb ist die enge Beziehung der Uiguren zu den sogdischen Texten selbst nicht auszuschließen. 9 György Kara, L’ancien ouigour dans le lexique mongol, in: Journal Asiatique 269–1/2, 317–323; 庄垣内 正弘 Shōgaito Masahiro, モ ン ゴル語仏典中の ウ イ グル語仏教用語について [Zu den buddhistischen uigurischen
Termini in mongolischen Sūtras], in: 崎山理&佐藤昭裕 ( 編 ) ア ジ アの諸言語 と 一般言語学 Osamu Sakiyama/ Akihiro Satō (Hrsgg.), Ajia no shogengo to ippan gengogaku. Tokyo 1990, 157–175; Uighur Influence on Indian Words in Mongolian Buddhist Texts, in: Sven Bretfeld/Jens Wilkens (Hrsgg.), Indien und Zentralasien. Sprach- und Kulturkontakt. Vorträge des Göttinger Symposions vom 7. bis 10.Mai 2001. Wiesbaden 2003, 119–143.
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Alttürkische buddhistische Quellen Nach ihrer Bekehrung zum Buddhismus verfassten die Uiguren im Westuigurischen Königreich und weiter zur Zeit des Mongolenreichs zahlreiche buddhistische Texte in ihrer eigenen Sprache, dem Alttürkischen. Da der Einfluss des chinesischen Buddhismus zunehmend stärker wurde, sind die meisten alttürkischen buddhistischen Texte Übersetzungen aus dem Chinesischen. Aber es gibt einige Texte, deren Vorlage in anderen Sprachen wie dem Tocharischen verfasst war. 10 Ein Teil dieser Texte ist aufgrund des extrem trockenen Klimas Zentralasiens überliefert und durch die europäischen, japanischen und chinesischen Expeditionen, die seit dem Anfang des 20.Jahrhunderts in unregelmäßiger Abfolge durchgeführt wurden und heute noch fortgesetzt werden, in der ganzen Welt (einschließlich Deutschland) verstreut aufbewahrt. Besonders die vier preußischen Expeditionen, die sich auf Ausgrabungen im Turfan-Gebiet, dem Zentrum des Westuigurischen Königreichs, konzentrierten, brachten zahlreiche alttürkische Fragmente nach Deutschland, und heute befindet sich in Berlin eine der größten Sammlungen alttürkischer Fragmente. Die alttürkischen Texte der Berliner Turfansammlung sind vollständig digitalisiert und auf der Webseite des Akademienvorhabens Turfanforschung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Digitalen Turfanarchiv (DTA) frei recherchierbar (http://www.bbaw.de/forschung/turfanforschung/dta/index.html). Der Erwerb dieser Materialien war der Anstoß für die Erforschung des uigurischen Buddhismus, der mangels Quellen lange vage blieb. Als Quellenmaterial stehen dafür in erster Linie zahlreiche Handschriften und Blockdrucke der buddhistischen Sūtras und Kommentare zur Verfügung. 11 Außerdem gibt es Dokumente und andere Fragmente, in denen die uigurischen Buddhisten in verschiedener Weise Erwähnung finden. Während die Erforschung der Ersteren die dogmatische und kul10 Für einen Überblick zu den bisher bekannten alttürkischen buddhistischen Texten vgl. z.B. Johan Elverskog, Uygur Buddhist Literature. Turnhout 1997. 11 Diese Texte in der Berliner Turfansammlung wurden und werden in der Serie „Berliner Turfantexte“ der Reihe nach veröffentlicht, vgl. z.B. Yukiyo Kasai, Der alttürkische Kommentar zum VimalakīrtinirdeśaSūtra. (Berliner Turfantexte, Bd. 29) Turnhout 2011, Anhang: Liste der bisher publizierten BT-Bände. Die Katalogisierung der Texte wird vom Forschungsprojekt „Katalogisierung der Orientalischen Handschriften in Deutschland“ (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen) fortgesetzt. Zu den bisher veröffentlichten und in Arbeit bzw. Druck befindlichen Katalogbänden der alttürkischen Texte, vgl. Jens Wilkens, Alttürkische Handschriften. Teil 10. Buddhistische Erzähltexte. (Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland, Bd. 13, 22) Stuttgart 2010, Anhang: Liste der Katalogbände (http://kohd.adw-goe.de/).
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tische Seite des uigurischen Buddhismus ans Licht bringt, bieten Letztere ein reales Bild der uigurischen Buddhisten und ihrer Aktivitäten. Denn im Gegensatz zu den Sūtras und Kommentaren, die von den individuellen Schreibern im Prinzip nicht verändert wurden, verfasste man u.a. jedes Dokument als Unikat.
Kolophone und Stifter Wie spiegeln sich die Aktivitäten der uigurischen Stifter in diesen Texten wider und in welcher Textgattung werden sie besonders deutlich erwähnt? Im Buddhismus wird die Stiftung an Gemeinden als religiöser Verdienst (Sanskrit puṇya) angesehen. Wenn Stifter Gebäude, Ausstattungen von Tempeln bzw. Klöstern oder Güter für den täglichen Bedarf der Mönche stiften, erlangen sie dadurch religiöse Verdienste, deren Ansammlung zur Erfüllung ihrer Wünsche führt. 12 Es ist dabei erwähnenswert, dass diese Verdienste auf andere übertragen werden können. Neben materiellen Stiftungsarten gibt es darüber hinaus die sogenannte „Stiftung an den dharma (= buddhistische Lehre)“. 13 Diese Stiftung wird demjenigen zugewendet, der den Text abschreibt und damit den dharma erhält. Wie anderen Religionen ist die Verbreitung der Lehre auch im Buddhismus ein wichtiges Thema, und so leistet das mehrmalige Abschreiben des Textes einen nennenswerten Beitrag. Die Wichtigkeit von Textabschriften wird in buddhistischen Sūtras, wie zum Beispiel dem Saddharmapuṇḍarīka-Sūtra, einem der beliebtesten Sūtras, wiederholt betont. 14 Wenn Stifter einen buddhistischen Text abschreiben ließen, verfassten sie oft selbst einen kleinen Text (oder ließen sie verfassen) und fügten ihn am Ende des Haupttextes hinzu. Diese zusätzlichen Texte werden Kolophone genannt und beziehen sich inhaltlich nicht auf den Haupttext. Stattdessen geben sie eine Beschreibung des Stifters und seiner Stiftungstätigkeit. 15 Unter den alttürkischen buddhistischen Texten ist eine beträchtliche Anzahl von Kolophonen erhalten, was darauf schlie12
Dazu vgl. z.B. Petra Kieffer-Pülz, Die buddhistische Gemeinde, in: Heinz Bechert et al., Der Buddhismus
I. Der indische Buddhismus und seine Verzweigungen. Stuttgart 2000, 281–402, besonders 335–336, 350.
13
Zu verschiedenen Stiftungen, vgl. z.B. Kieffer-Pülz, Gemeinde (wie Anm.12), 332–335.
14
Vgl. z.B. Tsugunari Kubo & Akira Yuyama, The Lotus Sutra. Translated from the Chinese of Kumārajīva
(Taishō, Volume 9, Number 262). Berkeley 1993, besonders 169, 263. 15
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Neben den Kolophonen der Stifter gibt es die Kolophone, die vom Verfasser bzw. Übersetzer des Tex-
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ßen lässt, dass die Stiftung in dieser Form eine weitverbreitete Praxis unter uigurischen Buddhisten war. P. Zieme hat als erster die Bedeutung dieser Textgattung erkannt und zahlreiche alttürkische Kolophone veröffentlicht und kommentiert. 16 Er identifizierte eine bestimmte Struktur in den Stifterkolophonen, die folgende Elemente umfasst: A. Einleitungsformel, B. Datum, C. Stifter, D. Anlass, E. Verdienstzuwendung (E 1. an die Schutzgottheiten, E 2. an die Herrscher, E 3. an Familienmitglieder des Stifters, E 4. für die Stifter selbst), F. Wünsche und Ziel, G. Abschlussformel. 17 Diese Struktur ist in den meisten erhaltenen Stifterkolophonen gut zu erkennen, so dass es naheliegt, dass Kolophone nach einem bestimmten Grundmuster verfasst wurden. Auch lassen sich ähnliche Strukturen in Texten anderer Sprachen finden, so dass es naheliegt, dass die alttürkischen Kolophone unter chinesischem Einfluss entstanden sind. 18 Hier ein Beispiel: 19 „(1–6) Nun haben wir, der Laienbruder Alp Bars und die Laienschwester Kökäč, die den reinen Glauben an das triratna haben und das ErlösungWesen(?) in der Brust-Leerheit des cintāmaṇi-Juwels verborgen halten, die Vergänglichkeit des Körpers und die Verderblichkeit von Hab und Gut [erkannt] und verstanden und (deshalb) den guten Sinn hervorgebracht, daß wir mit dem vergänglichen Körper unzerstörbare Puṇya-Taten ansam[meln], und haben ergebenst diesen ein juan (chines. 卷 Rolle) (umfassenden) Lobpreis2 auf den Bodhisattva Ārya-Avalokiteśvara abschreiben lassen.
tes verfasst wurden (Verfasser- oder Übersetzerkolophon), bzw. jene, die vom Schreiber oder Leser stammen (Schreiber- und Leserkolophone). 16 Peter Zieme, Religion und Gesellschaft im Uigurischen Königreich von Qočo. Opladen 1992. 17 Zur ausführlichen Beschreibung der Struktur vgl. Zieme, Religion (wie Anm.16), 46–89. 18 Zu einer detaillierten Untersuchung dieses Musters und dem Vergleich mit den Kolophonen in anderen Sprachen vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 22–44. 19 U 4921 [T II D 199]. Das Image dieses Fragments ist unter http://www.bbaw.de/forschung/turfanforschung/dta/u/images/u4921seite1.jpg abzurufen. Üblicherweise wird in Aufsätzen der alttürkischen Philologie die Transkription des Textes zusammen mit der deutschen Übersetzung wiedergegeben. Wegen der Besonderheit des vorliegenden Tagungsbandes wird auf eine Transkription verzichtet. Für Transkription und Kommentar, vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 229–231, Kolophon Nr.124. Der Kolophonteil ist etwas kleiner geschrieben als der Haupttext und beginnt ab Zeile 8 nach einigen frei gehaltenen Zeilen. Die eckigen Klammern in den folgenden deutschen Übersetzungen beziehen sich auf Ergänzungen der Autorin, während die tiefgestellte 2 auf ein Hendiadyoin (zwei Begriffe in der Übersetzung als einer wiedergeben) hinweist.
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(6–8) Die Puṇya-Tat, die aus dieser Schrift entstanden ist, (wende ich zu): Brahmā, Indra, Viṣṇu, Maheśvara, Sk[andhak]umāra, Kapila, Maṇibhadra, Mišan Sar [...] und weiter den guten Geist[ern] mit den Erde und Stadt beschützenden Geiste[rn] an der Spitze. (9–11) Durch die Kraft dieser Puṇya-Tat mögen ihre göttlichen Kräfte und ihre Stärke zunehmen und anwachsen, und nach innen mögen sie (uns) krankheitslos2, nach außen ohne Feind und Wolf, gefahr- und notlos machen und uns behüten und beschützen! (11–13) Wir wenden diese Puṇya-T[at] zu: unserer Mutter und [unserem] Vater, die uns die leuchtende [We]lt gezeigt und gegeben haben, unseren Verwandten2 und meiner Frau Alkatmıš. Nun möge (diese Puṇya-Tat ihnen) zugeteilt werden! (13–15) Und wenn sie an Orten, wohin (die Lehre) [nicht] gelangt, geboren werden, mögen sie sogleich erlöst und befreit werden und vor dem Buddha Maitreya geboren werden! (15–16) Wir wenden diese Puṇya-Tat allen Lebewesen der vier Geburten in den fünf Existenzen zu. (17–19) Durch die Kraft dieser Puṇya-Tat mögen sie dem Buddha Maitreya begegnen, vom Buddha Maitreya für die Buddhaschaft die vyākṛti-Weihe bekommen, sich vom saṃsāra befreien und sogleich die nirvāṇa-Ruhe [errei]chen! Gut, gut.“
Der Kolophon beginnt mit dem ersten Element A, der Einleitungsformel „Nun“ (Z. 1). Das zweite Element B (Datum) fehlt zwar, aber C (Stifter) werden in Z. 2–3 namentlich erwähnt, wobei es sich hier um ein Laienpaar Alp Bars und Kökäč handelt. Dann erörtert man D (Anlass für ihre Stiftung) in Z. 3–4: Die Vergänglichkeit des Körpers, die Verderblichkeit von Hab und Gut und das Sammeln von religiösen Verdiensten (Skt. puṇya). Das Stifterpaar wollte seine Verdienste, die durch diese Stiftung entstanden sind, anderen zuwenden, so dass ab Z. 12 die Verdienstzuwendung beginnt. Sie beschränkt sich jedoch auf (E 3) Familienmitglieder, nämlich Mutter, Vater, die andere Frau von Alp Bars (Z. 12–13) und (E 4) den Stifter selbst; (E 1) Schutzgottheiten und (E 2) Herrscher werden nicht erwähnt. In Z. 17–19 werden (F) Wünsche und Ziel des Stifter vermerkt, die hier sehr charakteristisch für den Buddhismus sind: die Wiedergeburt angesichts des Buddha Maitreya, des zukünftigen Buddha, und das Erreichen des Nirvāṇa. Der Kolophon endet mit G. Abschlussformel „Gut, gut“ in Z. 19. Die Stiftungstätigkeit der Uiguren beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Stiftung an den dharma. Auch bei anderen buddhistischen Aktivitäten verfassten die Stifter Texte, die ihre Stiftungstätigkeit und Wünsche enthielten. Die Struktur dieser Texte ist der der Kolophone vergleichbar. Beim Errichten eines Tempels schrie-
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ben die Stifter z.B. einen Text auf einen Pfahl (Pfahlinschrift), der in die Erde geschlagen wurde. 20 Zudem sind noch Tempelbanner zu nennen, auf denen sich ebenfalls Inschriften von Stiftern dieser Banner finden. 21 Das erste Beispiel, Pfahlinschriften, ist an dieser Stelle erwähnenswert, denn in einer Pfahlinschrift betont man die Wichtigkeit des Errichtens eines Tempels: „If anyone builds a (Buddhist) tempel like (the size of) a nutshell, and/or makes/adorns/installs(?) a Buddha image like (the size of) a grain of wheat, and/or puts/places a relic of the Buddha like the size of one-seventh of a mustard seed, and/or erects a spire of a stūpa like (the size of) a needle, he will attain the highest merit“. 22
Im Vergleich mit den Kolophonen ist die Zahl dieser Inschriften jedoch sehr gering, was auf eine geringere Bedeutung dieser Art von Stiftungstätigkeit im Vergleich zur Stiftung für die Abschrift des buddhistischen Textes schließen lässt. Die überragende Bedeutung der Textabschrift ist auch aus Kolophonen selbst herauszulesen: „Wenn irgendjemand ein (aus nur) einem śloka (bestehendes) Sūtra-Juwel abschreiben lässt, und in diesem einen śloka sind 32 Silben, so übertrifft2 dieses Puṇya, die gute Tat, des Schreibens dieses (aus nur) einem śloka (bestehenden) Sūtra-Juwels das Puṇya des Errichtens von 32, die wie bei der Zahl dieser Silben ist, mit den sieben Juwelen ausgestatteten vihāras.“ 23
20 Bis jetzt sind insgesamt fünf Pfahlinschriften bekannt. Drei davon sind im Museum für Asiatische Kunst in Berlin aufbewahrt. Zur Erforschung dieser Inschrift vgl. z.B. Friedrich Wilhelm Karl Müller, Zwei Pfahlinschriften aus den Turfanfunden. (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse Br. 3.). Berlin 1915; 森安孝夫 Moriyasu Takao, ウ ィ グル仏教史史料 と し ての棒杭文書 [Engl. Nebentitel: Three Stake Inscriptions as Source Materials for the History of Uighur Buddhism], in: 史学雑誌 Shigaku zasshi 83.4, 1974, 38–54; Uighur Buddhist Stake Inscriptions from Turfan, in: Louis Bazin/Peter Zieme (Hrsg.), De Dunhuang à Istanbul. Hommage à James Russell Hamilton. Turnhout 2001, 149–223; James Russell Hamilton, Remarks Concerning Turfan Stake Inscription III, in: Desmond Durkin-Meisterernst/Simone-Christiane Raschmann/Jens Wilkens/Marianne Yaldiz/Peter Zieme (Hrsg.), Turfan Revisited – The First Century of Research into the Arts and Cultures of the Silk Road. Berlin 2004, 121–124. 21 Diese Texte auf den Bannern im Museum für Asiatische Kunst Berlin wurden von T.Moriyasu in der Zusammenarbeit mit P. Zieme veröffentlicht, vgl. Takao Moriyasu (Zusammenarbeit mit Peter Zieme), Uighur Inscriptions on the Banners from Turfan Housed in the Museum für Indische Kunst, Berlin, in: Chhaya Bhattacharya-Haesner, Central Asian Tempel Banners in the Turfan Collection of the Museum für Indische Kunst, Berlin. Berlin 2003, 461–474. 22 Moriyasu Buddhist Stake (wie Anm.20), 159–164, Z. 05–07. 23 Vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 82–85, Kolophon Nr.17, Z. 30–37. Zur ausführlichen Beschreibung und zum Kommentar zu diesem Kolophon vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 80–86. Zur Wichtigkeit die-
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Anlässe und Wünsche der Stifter Ein wichtiger und grundlegender Beweggrund der uigurischen Stifter für diese Tätigkeit war die Erwartung, dass ihr Wunsch eines Tages erfüllt wird, wenn sie durch solche Stiftungstätigkeiten genügend religiöse Verdienste gesammelt haben. Dies ist auch in dem oben zitierten Stifterkolophon in Worte gefasst (Z. 3–4): Die Stifter haben „die Vergänglichkeit des Körpers und die Verderblichkeit von Hab und Gut [erkannt] und verstanden und (deshalb) den guten Sinn hervorgebracht, daß wir mit dem vergänglichen Körper unzerstörbare Puṇya-Taten ansam[meln]“. Die weiteren Anlässe und Wünsche der Stifter waren unterschiedlicher Natur. Während manche sich wegen eines weltlichen Grundes mit dieser Tätigkeit beschäftigt haben, handelt es sich bei den anderen um religiöse Wünsche. Wenn Stifter einen weltlichen Anlass hatten, war ihr Wunsch entsprechend weltlich und persönlich. Eine Stifterin hat z.B. einen Text abschreiben lassen, weil sie krank wurde und sich Heilung wünschte: „Ferner nun habe ich, Sılıg Tegin, als ich durch ... Krankheiten2 bedrückt war, von der Vortrefflichkeit2 dieses Yetikän-Sūtra gehört, und ich habe ergebenst den Wunsch2 hervorgebracht, von der Krankheit2 befreit und in keiner Existenz mehr in einem Mädchen-Körper geboren zu werden.“ 24
Eine andere Stifterin beauftragte das Drucken eines Textes für ihren Ehemann, der sich im Schlachtfeld befand, damit er gesund zu seiner Familie zurückkommen möge: „weil ich gehört habe, dass maß- und zahllose, hunderttausend Myriaden von Lebewesen-Stämmen, wenn sie, viele2 bittere2 Leiden erleidend, (dies) bedenkend2 den Bodhisattva Guan shi yin 觀世音 anrufen, von den Nöten getrennt werden, damit besonders2 mein Herr (= Gemahl), der you cheng 右丞 Yol Tämür, (der) zu einer großen Aufgabe (= Befriedung) nach Qaračang (= chin. Yun nan 雲南 ) gesandt worden war, (nachdem ihn) der Hoffnung seiende Bodhisattva Guan shi yin unversehrt gemacht hat, mit den Nachkommen, Verwandten, Söhnen und Töchtern (wieder) vereinigt werde, (so) habe ich
ser Tätigkeit vgl. auch Hans-Joachim Klimkeit, Der Stifter im Land der Seidenstraßen. Bemerkungen zur buddhistischen Laienfrömmigkeit, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 35.4, 1983, 289–308, besonders 300–304; Zieme, Religion (wie Anm.16), 61–62. 24 Vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 133–134, Kolophon Nr.50, Z. 14. Zu einer ausführlichen Beschreibung und zum Kommentar zu diesem Kolophon vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 132–134.
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dieses in allen Nöten Hoffnung seiende dharma-Juwel mit der reinen2 Lobpreis2-Widmung rein und gut abschreiben, sorgfältig2 auf Druckstöcke schneiden lassen, nicht mehr und nicht weniger, tausend Abzüge drucken lassen und ergebenst verteilt.“ 25
Wenn die Wünsche der Stifter religiös waren, waren sie weniger spezifisch und konkret. Viele wünschten sich das Erlangen der Buddhaschaft bzw. die Wiedergeburt im Land Buddhas, wobei es sich hierbei um das endgültige Ziel der Buddhisten handelt. 26 Aber für manche Stifter war dies Ziel offenbar zu hoch, so dass sie sich damit begnügten als Menschen oder noch besser als Götter wiedergeboren zu werden. 27
Übertragung des Verdienstes Die religiösen Verdienste, die die Stifter durch die buddhistischen Tätigkeiten erlangten, waren auf andere Personen übertragbar. Dies wurde sogar nahezu ausnahmslos von allen uigurischen Stiftern vollzogen. Die uigurischen Stifter nennen oft zahlreiche Namen von Personen, denen sie ihre Verdienste zuwenden möchten. In manchen Kolophonen bildet gar die Zuwendung den größten Teil des Textes. 28 Im oben zitierten Kolophon U 4921 [T II D 199] befindet sich dieser Teil in Z. 11–13: „Wir wenden diese Puṇya-T[at] zu: unserer Mutter und [unserem] Vater, die uns
25 Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 56–57, Kolophon Nr.6, Z. 6–17. Zu einer ausführlichen Beschreibung und zum Kommentar zu diesem Kolophon vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), auch Zieme, Religion (wie Anm.16), 63. 26 Wenn man die Buddhaschaft erlangt, wird man nicht mehr wiederholt in den fünf bzw. sechs schlechten Existenzformen, nämlich Götter-, Menschen-, Tier-, Hungergeist-, Asura-, und Höllenexistenz, wiedergeboren, sondern letztlich im Buddhaland und dort bleibt man für immer. Die Leiden und die Befreiung von ihnen im Buddhismus werden z.B. von H.W. Schumann gut zusammengefasst vgl. Hans Wolfgang Schumann, Buddhismus. Stifter, Schulen und Systeme. Kreuzlingen/München 2005, besonders 62–116, 170–191. Der Wunsch nach dem Erlangen der Buddhaschaft bzw. der Wiedergeburt im Buddhaland wird in vielen Kolophonen erwähnt, vgl. z.B. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 112–115, Kolophon Nr.40, Z. 26–29; 118–120, Kolophon Nr.42, Z. 37–44; 132–134, Kolophon Nr.50, Z. 15–18. 27 Dies ist z.B. in der Wunschäußerung für die verstorbenen Eltern des Stifters in einem Kolophon zu sehen: „Durch die Kraft der Puṇya-Tat, dieses Sūtra geschrieben zu haben, mögen meine von hier gegangene [= verstorbene] Mutter und mein Vater, in welcher Existenz sie auch wiedergeboren werden mögen, durch die Kraft dieser Puṇya-Tat, durch das Wohlwollen meiner Mutter und meines Vaters, im Himmelsland, dem besten, und dann in der Menschenexistenz wiedergeboren werden!“ vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 157–161, Kolophon Nr.71a, Z. 4–9. 28 P. Zieme analysiert diesen Teil ausführlich, vgl. Zieme, Religion (wie Anm.16), 64–83.
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die leuchtende [We]lt gezeigt und gegeben haben, unseren Verwandten2 und meiner Frau Alkatmıš. Nun möge (diese Puṇya-Tat ihnen) zugeteilt werden!“
Wie dieses Beispiel zeigt, kommen bei der Übertragung in erster Linie die Familienmitglieder der Stifter in Frage. 29 Aber auch Herrscher und Götter kommen in den Zuwendungen vor. Bei den Herrschern handelt es sich überwiegend um die mongolischen Herrscher, und man wünscht ihnen, ihrer Familie und ihrem Reich ein langes Leben. 30 In der Mongolenzeit (13.–14.Jahrhundert) behielt das Westuigurische Königreich zwar noch seine Selbständigkeit, doch war es zweifellos der mongolische Kaiser, der als Herrscher über dem uigurischen König und damit über allen Uiguren stand. Die Nennung der mongolischen Herrscher als Destinatäre der Verdienstübetragung weist auf die zunehmende Bedeutung und Akzeptanz der neuen Herrschaft hin. Die Übertragung beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Menschheit, auch Gottheiten konnten Verdienste zugewendet werden. Ein Beispiel dafür haben wir bereits im oben zitierten Stifterkolophon (U 4921) gesehen, in dem zahlreiche Götter genannt wurden (Z. 6–8): 31 „Die Puṇya-Tat, die aus dieser Schrift entstanden ist, (wende ich zu): Brahmā, Indra, Viṣṇu, Maheśvara, Sk[andhak]umāra, Kapila, Maṇibhadra, Mišan Sar... und weiter den guten Geist[ern] mit den Erde und Stadt beschützenden Geiste[rn] an der Spitze.“
Die Stifter wünschten ihnen dabei meistens die Zunahme ihrer Kraft sowie den Schutz des Landes und der Bevölkerung durch diese Kraft, was sich zweifellos wieder auf die Menschheit und den Stifter auswirkte. 32 29
Zu den Kolophonen, in denen zahlreiche Namen von Familienmitgliedern genannt werden vgl. z.B.
Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 268–272, Kolophon Nr.151, 152, auch Zieme, Religion (wie Anm.16), 80–82. Sie gehören zu den für die Erforschung der alttürkischen Namen bedeutendsten Materialien, wie die Untersuchungen P. Ziemes zeigen, vgl. Peter Zieme, Materialien zum uigurischen Onomasticon I, in: Türk Dili Araştırmaları Yıllığı Belleten 1977, 1978, 71–86; Materialien zum uigurischen Onomasticon II, in: Türk Dili Araştırmaları Yıllığı Belleten 1978–1979, 1981, 81–94; Materialien zum uigurischen Onomasticon III, in: Türk Dili Araştırmaları Yıllığı Belleten 1984, 1987, 267–283. 30
Vgl. z.B. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 265–266, Kolophon Nr.149, Z. 8–13, auch Zieme, Religion (wie
Anm.16), 73–80. Die einzige Ausnahme bildet der Kolophon, in dem der König des Westuigurischen Königreichs Erwähnung findet, vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 195–199, Kolophon Nr.100, bes. Z. 22– 23. Dieser Kolophon ist ins 11.Jahrhundert zu datieren, so dass die Zuwendung an den Herrscher selbst bereits in diesem Zeitraum belegt ist.
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31
Dazu auch Zieme, Religion (wie Anm.16), 64–72.
32
Vgl. z.B. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 177–181, Kolophon Nr.81, Z. 47–56.
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Soziale Stellung der Stifter Die Pfahlinschriften, die in das 10.–12.Jahrhundert zu datieren sind, geben uns Auskunft darüber, dass ihre Stifter aus der uigurischen Königsfamilie stammten bzw. in enger Beziehung zu ihr standen. 33 Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies eine Tätigkeit war, die sich Angehörige der Oberschicht leisten konnten, da die Errichtung eines Tempels kostspielig war. Da zudem in derartigen Inschriften zahlreiche Namen von Personen vorkommen, die den Bau des Tempels gemeinsam finanzierten, ist anzunehmen, dass selbst Stifter aus der Oberschicht die gesamten Kosten des Baus nicht allein tragen konnten. Dagegen fehlen aus vormongolischer Zeit Informationen über die soziale Stellung von Stiftern, die sich der Textabschrift widmeten. Bisher ist ein einziger Kolophon bekannt, der uns zu dieser Frage Auskunft gibt. Es handelt sich dabei um ein Stifterpaar, dessen Frau aus der königlichen Familie stammt und dessen Ehemann den Amtstitel des Premierministers trägt. 34 Jenseits davon wissen wir nichts über die soziale Stellung anderer Stifter, aber es wird angenommen, dass auch sie der Oberschicht angehörten. 35 Denn auch das Abschreiben eines Textes war ein kostspieliges Unternehmen. Allerdings zeigt sich, dass im Gegensatz zur Errichtung eines Tempels zumeist nur ein Stifterpaar bzw. ein Stifter / eine Stifterin dafür verantwortlich war. Anderes als in vormongolischer Zeit liefern die aus der Mongolenzeit (13.–14. Jahrhundert) stammenden Kolophone mehr Informationen. Hier treten ausschließlich Angehörige der Oberschicht auf, was sowohl auf ihre Bedeutung in der vormongolischen Zeit als auch auf die Kontinuität der uigurischen Oberschicht als Stifter hindeutet. Die Mongolenzeit war die Blütezeit des Blockdrucks, und dank dieser neuen Technik konnten zahlreiche Exemplare gleichzeitig gedruckt und verteilt werden. In einigen Kolophonen wird die Zahl der gedruckten Exemplare genannt
33 Vgl. Moriyasu, Three Stake (wie Anm.20), 42–44; Moriyasu, Buddhist Stake (wie Anm.20), 159–164, Z. 04–05, 12–02’, dazu auch Anmerkungen zu Z. 04, Z. 15. 34 Vgl. Yukiyo Kasai, Ein Kolophon um die Legende von Bokug Kagan, in: 内陸ア ジ ア言語の研究 Nairiku ajia gengo no kenkyū 19, 2004, 1–27; Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 203–205, Kolophon Nr.107. 35 Vgl. Claudia Weber, Buddhistische Beichten in Indien und bei den Uiguren. Unter besonderer Berücksichtigung der uigurischen Laienbeichte und ihrer Beziehung zum Manichäismus, Wiesbaden 1999, besonders 111; Moriyasu, Banner (wie Anm.21), 463, Kommentar 05.
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und beläuft sich bisweilen auf über 10000 Exemplare. 36 Dies wurde nicht zuletzt durch die finanzielle Unterstützung der Oberschicht ermöglicht. Erwähnenswert ist auch, dass selbst die mongolischen Kaiser und ihre Familien als Stifter in alttürkischen Kolophonen vorkommen. 37 Im Mongolenreich wurden Texte in verschiedenen Sprachen zur Erinnerung an besondere Ereignisse wie die Inthronisation des neuen Kaisers oder einen militärischen Erfolg auf Befehl des Kaisers gedruckt. Einige Kolophone weisen darauf hin, dass auch alttürkische buddhistische Texte für solche Feierlichkeiten ausgewählt und in den Druck gegeben wurden. 38 Dies unterstreicht die Wichtigkeit und den starken Einfluss des uigurischen Buddhismus auf die Mongolen.
Schlussbemerkungen Die uigurischen Stifter und ihre Tätigkeiten spiegeln sich in Stifterkolophonen wider, die häufig beim Abschreiben und später dem Druck der buddhistischen Texte verfasst wurden. Dies war stark mit der Sammlung religiöser Verdienste verbunden, die man als Buddhist für die Erfüllung seines Wunsches benötigte. Die Anlässe und die Beweggründe der Stifter waren sowohl weltlich als auch religiös, und manchmal handelte es sich um ganz persönliche Wünsche. Die von den Stiftern gesammelten Verdienste konnten auf andere Empfänger übertragen werden, zu denen nicht nur Familienmitglieder, sondern auch Herrscher und Götter zählten. Die Stifter, die in Kolophonen genannt wurden, stammten mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl in der vormongolischen als auch in der mongolischen Zeit aus der Oberschicht, was für die Unterstützung dieser kostspieligen Tätigkeit eine wichtige Voraussetzung gewesen sein muss. In mongolischer Zeit eigneten sich auch die mongolischen Kaiser die
36
Vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 121–122, Kolophon Nr.43, besonders Z. 6. Die genannten Zahlen
der gedruckten Exemplare sind sonst relativ hoch, vgl. z.B. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 56–58, Kolophon Nr.6, 132–134, Kolophon Nr.50 (1000 Exemplare), 118–121, Kolophon Nr.42 (110), 122–123, Kolophon Nr.44, 235–239, Nr.128 (108), 112–115, Kolophon Nr.40 (100). 37
Vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 112–115, Kolophon Nr.40; 261–262 Kolophon Nr.144; 118–120,
Kolophon Nr.42; 265–266, Kolophon Nr.149. Dazu auch Zieme, Religion (wie Anm.16), 52–54. Die anderen hochrangigen Uiguren kommen außerdem auch als Stifter vor, vgl. Zieme, Religion (wie Anm.16), 54–56; Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 235–239, Kolophon Nr.128; vgl auch Zieme, Religion (wie Anm.16), 50–51. 38
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Zur ausführlichen Diskussion dieses Themas vgl. Kasai, Kolophon (wie Anm.4), 21–22.
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Stiftung von Textabschriften bzw. ihres Druckes an, was auf den starken Einfluss des uigurischen Buddismus im Mongolenreich hindeutet.
Ich möchte hiermit Frau Dr. Simone-Christiane Raschmann meinen herzlichen Dank dafür aussprechen, dass sie das Deutsche korrigiert und mir wertvolle fachliche Hinweise gegeben hat. Mein Dank gilt auch Frau Nikan Tiouri, Frau Dr. Iris Coldiz und Frau Susann Rabuske, die die deutsche Korrektur dieses Beitrags durchgeführt haben. Für alle Fehler bin ich natürlich selbst verantwortlich.
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Cities within Cities. Early Hospital Foundations and Urban Space von Peregrine Horden
Prospects A prospect, or bird’s-eye view print, of St Thomas’s Hospital, London, was engraved in the eighteenth century. 1 A medieval foundation, the hospital had survived the English Reformation and had escaped the Great Fire of London (1666). Yet by the closing decade of the seventeenth century it had become dilapidated and was seen as unfit for purpose. Supported by voluntary subscription, its governors paid for it to be refurbished and enlarged, to consist of three quadrangles and a number of subordinate buildings. ‘Prospect’ prints of this sort were circulated in the eighteenth century to attract benefactions to public projects. 2 Some were notably successful. The greatest benefactor of St Thomas’s was Sir Robert Clayton. 3 The governors acknowledged and proclaimed his outstanding generosity by erecting a statue to him inside the hospital. In the version of the prospect on p. 159, published in 1756 in Maitland’s Survey of London, the statue is visible in the quadrangle most distant from the viewer. The hospital, with its large connected courts, appears to drive a wedge through the capital’s topography towards the distant horizon. No building round about seems to rival it in spaciousness. Its elegant architecture contrasts with the cramped zigzags of roofs everywhere else in view. And, in the middle distance on the central axis, stands the statue of its great benefactor, virtually its second founder. Did he hope for a statue or some such memorial when he transferred the funds that helped make all this possible? As Bernard Mandeville wrote in The Fable of the Bees in 1714, not long
1 For what follows see Christine Stevenson, Medicine and Magnificence. British Hospital and Asylum Architecture, 1660–1815. New Haven/London 2000, 128. 2 Christine Stevenson, Prints “Proper to Shew to Gentlemen”. Representing the British Hospital, in: John Henderson/Peregrine Horden/Alessandro Pastore (eds), The Impact of Hospitals 300–2000. Oxford 2007, 195–218. 3 William Maitland, The History and Survey of London from its Foundation to the Present Time, vol. 2. London 1756, 1322.
DOI
10.1515/9783110400007.157
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after Clayton would have earned his memorial, “pride and vanity have built more hospitals than all the Virtues together”. 4 Clayton’s wealth had refashioned not only the hospital but the entire landscape of this part of London (Southwark). Consider the likely number of patients housed around those three quadrangles, the staff needed to attend them, and the ramifications of an establishment on this apparent scale for the local movement of goods and people. Especially if we see St Thomas’s through the eye of the engraver, who has magnified it, and heightened the contrast with its surrounding buildings, it is easy to envisage this hospital as a city within a city. In the early modern period, that was an ambivalent position for a hospital – a presumed source of infection. To take an example from a different capital: the large, overcrowded and reputedly highly insalubrious Hôtel-Dieu, the great hospital of Paris on the Ile de la Cité opposite the façade of Notre Dame, was always seeking extra accommodation. 5 In 1548, though they acknowledged it to be “like a heart in the middle of a man”, the city governors rejected a request to expand onto two of the connecting bridges. They wanted to keep the hospital central yet – on account of its infectiousness – separate, literally insulated. In 1786, after the hospital had been gutted by fire, a similar request was rejected on similar grounds. A committee of the Académie des Sciences reminded the hospital authorities that, with its population of some 5000, it was already like a city. Indeed, they added, it was bigger than threequarters of the cities in France. This paper takes seriously the idea that one kind of foundation, the hospital, can be city-like and, as such, can exercise a profound and potentially controversial influence on urban topography. It further raises the possibility that founders or benefactors of major hospitals foresaw this political dimension to their endeavours – political in both its literal (of the polis, the city) and its more usual, broader sense. And it does so by showing that that dimension is evident right at the beginning of hospital history, so far as Europe and the Mediterranean world is concerned: with some of the very early forerunners of St Thomas’s and the Hôtel-Dieu.
4 Frederick Benjamin Kaye (ed.), Bernard Mandeville, The Fable of the Bees, or, Private Vices, Publick Benefits. Oxford 1924, vol. 1, 261. 5 Stevenson, Medicine (note 1), 184, citing Michel Foucault et al. Les machines à guérir. Bruxelles 1979, 94. For context see Tim McHugh, Hospital Politics in Seventeenth-Century France. The Crown, Urban Elites and the Poor. Aldershot 2007.
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Abb. 2 Old St. Thomas Hospital, Southwark. Reproduced by permission of the Wellcome Library, London
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The first hospital-city Here is a verbal ‘prospect’ of a hospital thirteen hundred years older than St Thomas’s: “Go a little way from this city and gaze on the new city: the storehouse of piety, the common treasury of those with possessions, where the superfluities of wealth, as well as necessities, lie stored up because of his exhortation – shaking off the moths, giving no joy to the thieves, escaping the assaults of envy and the corruption of time – where disease is treated with philosophy, where misfortunes are called blessings, and compassion is held in real esteem.” 6
Gregory of Nazianzus in Cappadocia (modern Nenizi, Turkey), priest, rhetorician, and bishop, pronounced that injunction to visit a “new city” in the course of his funeral oration for his friend, Basil, bishop of Caesarea (modern Kayseri, right in the middle of Turkey). 7 Basil had died in January 379. Gregory was prevented from attending Basil’s funeral (he claims) by illness, and by what we might call religio-political preoccupation – combatting the so-called Arian heresy in Constantinople and trying to establish his leadership of the “orthodox”. He probably did not speak about his departed friend and patron until the third anniversary of Basil’s death, in early 382. By this time others had naturally orated, including Basil’s brother, another bishop, Gregory of Nyssa, who may have delivered his own speech a year earlier. 8 The Nazianzen Gregory needed to make his mark. He wrote much more than Basil’s brother did – more than could actually have been delivered; the text was either cut down for oral rendition or elaborated afterwards. And he went into much more detail of Basil’s career and activities. The “new city” outside Caesarea, perhaps in its suburbs, was a complex of institu-
6 Gregory of Nazianzus, Oration 43.63, 1–7, ed. and trans. Jean Bernardi, Grégoire de Nazianze, Discours 42–43. (Sources chrétiennes, vol. 384) Paris 1992, 260–262. My translation differs slightly from Bernardi’s French version. 7 For full detail and references on what follows see Peregrine Horden, Poverty, Charity and the Invention of the Hospital, in: Scott Fitzgerald Johnson (ed.), The Oxford Companion to Late Antiquity. Oxford 2012, 715–743, esp. 715–718. See also Brian Daley, Building a New City. The Cappadocian Fathers and the Rhetoric of Philanthropy, in: Journal of Early Christian Studies 7, 1999, 431–461. For the genre of funerary oration see David Konstan, How to Praise a Friend. St. Gregory of Nazianzus’s Funeral Oration for St. Basil the Great, in: Tomas Hägg/Philip Rousseau/Christian Høgel (eds), Greek Biography and Panegyric in Late Antiquity. Berkeley 2000, 160–179. 8 Gregory of Nyssa, Opera Omnia, vol. X/1, ed. Otto Lendle, Leiden 1990, 109–34.
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tions that Basil had founded for the sick and needy. The description by Gregory of Nazianzus is allusive, even abstract. After all, his hearers – readers – could see for themselves. That is perhaps why, before him, Gregory of Nyssa did not mention these institutions at all. Gregory of Nazianzus, trying to go one better, needed to remind Caesareans of this achievement, but he did not need to describe. For a little more information we have to look to Basil himself. In a letter to the provincial governor, Elias, written when the complex was either very new or still under construction, Basil referred to a place for the reception of “strangers”, “both for those on a journey, and for those needing therapies on account of sickness”. 9 He also seems to refer to the staff members who would tend them, people good at “doctoring”, and the workshops required by the support staff (or perhaps even for the temporary gainful employment of the transients). There was also a facility for housing or looking after lepers, the neediest of the sick. Some in the city had clearly found their presence, as beggars, offensive. In his oration Gregory of Nazianzus goes on to say that Basil’s foundation had removed the “terrible and piteous spectacle” of leprosy from civic gatherings, to a place where they could be objects of compassion rather than hatred. A later (sixth- or seventh-century) biography of Gregory of Nazianzus by yet another Gregory, reports, plausibly, that Basil built several dwellings (plural) for the lepers, raised money for their maintenance from rich citizens, gathered all the sick into them (lepers presumably included), and called the buildings “refuges [or secluded places, phrontisteria] for the poor”. 10 The “new city” was thus a centre for charity and healing. It offered lodging for needy transients, a medical facility for the sick, shelter for the poor. We should not worry about the different but overlapping target groups, and the varying terms used, any more than contemporaries did. The bigger point Gregory (of Nazianzus) makes in his eulogy is that “because of Basil’s persuasion”, those with superfluous wealth had made pious benefactions to the philanthropic complex. Accumulated riches or goods are vulnerable to theft and depreciation. Wealth given to this hospital – as we can call it for brevity – stores up benefits which are there for the poor and sick when they require it. It also stores up future spiritual benefits for the wealthy, because they
9 Basil of Caesarea, Letter 94, ed. Yves Courtonne, Saint Basile, Lettres. 3 vols, Paris 1957–66, vol. 1, 204– 208. 10 Gregorii presbyteri vita sancti Gregorii theologi, 11, ed. and trans. Xavier Lequeux. (Corpus Christianorum series graeca, vol. 44.) Leuven 2001, 156–9.
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are addressing, however partially, the “eye of the needle” problem set out for them by St. Matthew. 11 They could gain those benefits not only from the act of charity itself, but also from the grateful prayers of the poor inmates of the institution. These had been offered compassion, and a “philosophical” response to their ailments. This was philosophy of both a spiritual and a medical kind. Although the Christian way of life had long been promoted as “the true philosophy”, we also know that Basil himself had acquired some medical learning – medicine underpinned by Aristotelian philosophy – and he made sure that the poor people in his hospital received “doctoring”, if not from self-professed doctors then from those with some medical experience. 12 Thus was the hospital “a stairway to heaven”, as Gregory goes on to say, not in the sense that patients were all expected to die quickly, but because of the blessedness of the life lived there, and perhaps also because it enhanced the chances of salvation for the rich benefactors. The philanthropic complex must have been quite sizeable. Gregory of Nazianzus continues his oration by likening it to the seven wonders of the (ancient) world. We should think, more realistically, of the hospital, or hospitals – presumably lepers were housed separately given the fear of infection at which Gregory hints in his discourse; of the church that would have been attached; of their outhouses and accommodation for support staff; of the rooms kept for the bishop, and for the provincial governor should he visit. We should think of all the comings and goings between old and new cities or between both and their common hinterland: that is, of families visiting inmates, of pious visitors, priests or monks, vendors or officials. Compare the new city to the old in size and prestige. In 1500, the earliest date for which any serious estimates are possible, the city could boast only 2287 tax-paying adults. 13 A late antique population of only a few thousand citizens is entirely conceivable, indeed likely. On such a yardstick the population of the philanthropic complex was not infinitesimally small. And it was likely to grow. It may be that it formed the nucleus of modern Kayseri, which is not on the exact site of Caesarea. Just as new urban centres would crystallize round cathedrals in the early Middle
11
See now Peter Robert Lamont Brown, Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the
Making of Christianity in the West, 350–550 AD. Princeton/Oxford 2012. 12
Owsei Temkin, Hippocrates in a World of Pagans and Christians. Princeton/London 1991, 172–177.
13
Suraiya Faroqhi, Men of Modest Substance: House Owners and House Property in Seventeenth-Cen-
tury Ankara and Kayseri. Cambridge 1987, 43.
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Ages, a hospital and its associated community could also play some part in refocusing an urban population. In Basil’s time hospitals of this kind were beginning to change cities in many ways. It is essential to realize how very new such establishments were in the 370s and 380s – only two decades or so old as urban institutions, and scarcely much older as institutions in any setting, with virtually no precedents in classical antiquity. When Basil became a bishop in 370 they were still in many ways unusual. They had come about – to simplify – for two main reasons. 14 First, because the alms, the pious donations, of local Christian populations had long been channelled through the bishop (so much so that the laity were sometimes exhorted not to suppose themselves thereby off the hook, but to undertake direct giving to the poor). Second, because in the wake of the Constantinian revolution, the establishment of Christianity as the religion of empire, bishops and priests had benefitted from considerable tax benefits and relief from public obligations – in return for the life of prayer and charity to which they could more effectively devote themselves. To put it crudely, but not with undue cynicism, the Church needed a form of conspicuous expenditure to validate itself as a privileged institution. The hospital – as a permanent building, an architectural expression of charity more visible than say a distribution centre for food or money – answered this need admirably. And it was part of a revaluation of urban and suburban space by Christians of this period, the later fourth century, that also took in cemeteries for the poor as well as prisons where inmates might, in charitable spirit, be visited and supported. 15 All this, of course, along with church building, an activity that reflected both some spectacular benefactions by the rich and smaller, but more numerous, and perhaps in aggregate quite substantial donations by those of modest means. The framework within which such transfers of wealth were taking place – into churches, but also into hospitals – was changing, in ways that are far more clear-cut in retrospect than they will have seemed at the time. In the late antique Roman world the long-established form of giving – the “natural” transaction – was between citizens. Wealthy citizens paid for the erection or repair of public buildings (much as they would in eighteenth-century England) and also laid on games and distributions
14 Peter Robert Lamont Brown, Poverty and Leadership in the Later Roman Empire. Hanover/London 2002, 29–35. Brown, Eye of a Needle (note 11), 35–6. 15 Horden, Poverty (note 7), 719–20.
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of food for the rest of their fellow citizens. The parameters of the gift were entirely civic: local non-citizen poor people and transients were not included. And it was a two-way process. Those who benefited would offer in return the adulation, fame, or political support that the rich expected. Such city-based philanthropy may have been in decline in volume in the Cappodocia of Basil’s day. None the less it retained its hold on the collective social “imaginary”, as it continues to do on that of modern historians, who have given it the label euergetism and who associate it with the pagan classical world. 16 But there was a Christian euergetism too – so natural was it. Wealthy benefactors of churches, whose donations of silver bore their names, were inviting the gratitude of their fellow citizens in the churches in a way that would have been recognizable to their pagan forebears. 17 Basil himself posed as a ‘”nourisher” of his city, an urban patron on the classical model. The hospital he founded came to bear his name – the Basileias – in a way that would remind future generations of his benevolence. One of the features of his achievement that marked him out as an ascetic monk-bishop rather than a pagan giver was the probability that he did not plan it this way. He did not seek to stamp his name on “his” hospital. 18 Of course there was more to it than a change of tone. Christian benefactors were making a down-payment on salvation, in a way the pagan ones were not. And however much the language of Christianity was accommodated to old civic patterns, there was a profoundly novel ingredient. The old transaction between rich citizens and the rest was being replaced by one between rich and poor. In the classical model the poor as poor had had no place. There were poor citizens, who counted, and poor non-citizens, who did not. The beggar was, in the strict sense, a-political: outside the polis. The Church’s fastening on the case of the poor, as expressed most assertively in hospitals and institutional charity more generally, was meant to signal its concern for the very margins of society – destitute transients, beggars, the sick without means, above all lepers. And this care was offered to citizens and non-citizens alike. The old civic framework of giving was being dissolved. 16
Paul Veyne, Le pain et le cirque. Sociologie historique d’un pluralisme politique. Paris 1976, remains
the classic account. 17
Brown, Poverty (note 14), 29.
18
For hospital naming see Peregrine Horden, Alms and the Man: Hospital Founders in Byzantium, in:
John Henderson/Peregrine Horden/Alessandro Pastore (eds), The Impact of Hospitals 300–2000. Oxford 2007, 59–76.
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Several “new cities” were thus symbolized in Basil’s suburban hospital. There was the city of God, to which the hospital was a stairway. In this life none had any continuing city; all were sojourners. Thus the strangers to which the hospital catered were such in a spiritual sense, even if they were not quite “real” migrants (though some of them wold have been that too). There was the “old city” that still made itself felt in the vocabulary of Christian benefactors. And the “new” city that was – both symbolically and geographically – outside the old. In the name of God but under the name of Basil. No wonder the whole early history of this hospital and its creator was politically fraught. Christians were still, in around 370, a minority in the population of Caesarea. It was only a few years since the death of the last pagan emperor, Julian, who may have admired and planned to imitate Christian charity but whose religious revival was still a chilling memory. Within Christian society itself, Basil’s relations with his predecessor, with the local governor, and with the “Arian” emperor Valens (d. 378, at the Battle of Adrianople) had all been strained. Even though Valens may at some point have provided for the hospital’s endowment, there was clearly a sense that Basil’s various philanthropic initiatives, in a time of severe food shortage, were damaging to state interests. It is hard for us now to credit how unsettling his help for the poor may have been, both before he became bishop and ran a soup kitchen and persuaded the rich not to hoard their grain, and after he was chosen bishop, and started on his “new city”. 19 The Basileias shows us the politics of foundation and its effects on urban space. The reconfiguration of that space is indeed an essential aspect of the politics. Every feature of organised charity is, or can become, a political matter. In Basil’s time local churches were starting to keep lists of the poor they supported with their doles. 20 Those listed were, presumably, the vetted and approved poor, the demonstrably deserving. One of Basil’s successors as bishop would fret that the Basileias might fill up with peasants escaping their obligations on the area’s great estates. 21 Church leaders of different Christological persuasions would accuse each other of
19 For more detail on what follows see Horden, Poverty (note 7), 719–720. Also, for a different approach, Richard Finn, Almsgiving in the Later Roman Empire. Oxford 2006, 228–231. 20 Finn, Almsgiving (note 19), 74–76. 21 Firmus of Caesarea, Letter 43, ed. Marie-Ange Calvet-Sebasti and Pierre-Louis Gatier, Firmus de Césarée, Lettres. (Sources chrétiennes, vol. 350) Paris 1989, 166–7.
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enrolling different groups of poor, those who were theologically sound more than genuinely deserving. 22 We do not know the details of any of the patients in Basil’s hospital. We may guess they were as subject to “ethical approval” as any pauper enrolled on the Church’s list. The question remains, however: what did Basil think he was doing? And how would he have articulated it if pressed? Out of undoubled piety, he wanted to help the poorest of the poor in a time of severe food stress, discharging to the full the responsibilities of his new position as bishop. Still, there were many ways of doing that. Charity ran in Basil’s family, but mostly in the form of distributions. His soup kitchen was only the most recent in a line of such initiatives. Yet a hospital is more than a soup kitchen – in scale and in permanence. Basil’s predecessor as bishop had undertaken no major new charitable works, so far as we know. He kept his head down. Basil, having somehow patched up a quarrel with him (the details are now obscure), acted, in that predecessor’s last few years, virtually as coadjutant bishop. Once bishop in his own right – we may conjecture – he needed to consolidate his position: he needed a way of enhancing his reputation as a philanthropist and making his mark. Perhaps he thought he might impress the pagan population with his hospital complex.Julian after all had urged his co-religionists to build hospitals of their own. 23 But all this was obviously risky. We know how Basil justified himself when the governor took exception for some reason to the Basileias, probably while it was under construction. “Who are we harming?” in setting up a hospital – and a suite for the governor – he asked with faux-naïveté. 24 Somehow he involved the emperor. There is a later, yet credible, report that Valens, the ‘Arian’, contributed to the endowment of the hospital of Basil, the adherent of Nicaea. 25 Basil would have been aware, as he assembled the financial resources for his project, of the politics that had to be played.
22
For some context see David Gwynn, Athanasius of Alexandria. Bishop, Theologian, Ascetic, Father. Ox-
ford 2012, 39–40, 137–138. 23
Jean Bouffartigue, L’authenticité de la Lettre 84 de l’empereur Julien, in: Revue de philologie 79, 2005,
231–242, defends the authenticity of the document in question. 24
Basil (note 9), Letter 94.
25
Theodoret of Cyr, Ecclesiastical History, 4.19, ed. Léon Parmentier/Günther Christian Hansen, Theo-
doret Kirchengeschichte. 3rd edn. Berlin 1998, 245. I am much indebted to the dossier of texts on hospitals as well as the discussion of them in Mark Alan Anderson, Hospitals, Hospices and Shelters for the Poor in Late Antiquity. Diss. PhD. Yale 2012, esp. 232–238, and to the author for permission to cite his work here.
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Quite how Basil’s hospital was funded, and within what legal framework, we do not know. The evidence is altogether lacking. We cannot assume that what emerged as the law governing the establishment and endowment of pious foundations of this kind in later centuries was clear at the time the Basileias was being built. Churches had been able to own property since well before Constantine’s conversion. Hospitals would be assimilated to them in their legal capacity. Yet did Basil put his own wealth into the hospital and if so how much, and in what form? Did Valens really support it with some grant of land, and if so by what mechanism of transfer, and as an individual or as the embodiment of the late Roman “state”? Did the hospital benefit from hypothecated revenues from rural or urban property or from directly managed estates? Was it legally independent of the Church in Caesarea? How important were the continuing donations of local Christians to its economic survival? We can only speculate – and look forward, riskily, to the clearer legislation of the fourth and fifth centuries on the legal status of the euageis oikoi, the “sacred houses” – a category that subsumed both philanthropic establishments and churches. 26 The one point we can make with reasonable confidence is the importance of knowing good accountants [numerarioi]. Basil corresponded with two of them, albeit about hospitals outside Caesarea. 27 Right from the start of its long history the endowment and financing of a hospital was never easy. To attempt a summing up of Basil’s endeavour. His foundation was not the first hospital we know of in fourth-century Asia Minor. But it still came very early on, belonging to the earliest wave of documented facilities. It was the first foundation of any scale, so far as we can tell, and the first in a major Byzantine city outside Constantinople. A political analysis of it would place it within the larger setting of the Church’s attempts to legitimize or justify its newly growing wealth and its financial privileges. It would also place the hospital within the local setting of Basil’s concern to secure his position as bishop and leader of the community. Basil and his hospital upset a lot of people: the emperor, the governor, other clerics, the non-Christian population. Not surprisingly: it changed Caesarea, both ideologically, through its novel representation of a Christian community, and topographically, through its reconfiguration of urban and suburban space. The first big hospital in the Mediterranean
26 Aleksandr Petrovich Kazhdan/Alice-Mary Maffry Talbot/Anthony Cutler (eds), The Oxford Dictionary of Byzantium. 3 vols. Oxford/New York 1991, s. v. euageis oikoi. 27 Basil (note 9), Letters 142, 143. Anderson, Hospitals (n. 25), 231–2.
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world, its effects are in some ways the clearest. The evidence for many other, later hospitals does not allow us to observe their effects with equal clarity. I suggest, none the less, that we envisage those later hospitals as potentially transformative in similar ways, sometimes to an even greater extent. The ambient details will be beyond recovery. A hospital may be built on virgin land, most likely on the edge of or outside a city. It may be on a ‘brown field’ suburban site, or pre-existing houses or other buildings may be converted or demolished to make way for it. Each of these processes will have had subtly different effects on urban space, the local traffic of people and goods, and the way this part of the city, or indeed the city as a whole, is conceived. And yet the evidence is not detailed enough for us to differentiate these effects.
Capital spaces Consider, as a second Byzantine example, the Sampson hospital of Constantinople. 28 Here was a late antique foundation that survived until the Latin conquest of the city, and, under crusader control, spawned a new military order. 29 When the eponymous saint lived and how he came to set up a hospital are obscure. It is possible that Sampson lived in the fourth century, but the hospital first clearly enters the light of history in the sixth, when Justinian restored and enlarged it after it had been destroyed by fire in the Nika riot of 532. What is interesting in the present context is the way notions of urban space are built into how the hospital and its past were represented. The earliest biography of St. Sampson, composed around 700, has him being born, not in Constantinople, but in Rome, to a senatorial family. 30 His parents were however related to the first Christian emperor, Constantine. In Rome he studied scripture and medicine. After his parents died he moved to Constantinople, where he combined those two strands in his education by opening his small house as a home for the charitable care of those who were destitute and seriously ill. Hospitals like Sampson’s are being given a genealogy within the larger narrative of the 28
See Timothy Miller, The Sampson Hospital of Constantinople, in: Byzantinische Forschungen 15, 1990,
101–135. I am greatly indebted to this paper for details of the various biographies of Sampson, set out in n. 1, while differing from several of its interpretations. See also Anderson, Hospitals (note 25), 209–212. 29
Dionysios Stathakopoulos, Discovering a Military Order of the Crusades. The Hospital of St. Sampson of
Constantinople, in: Viator 37, 2006, 255–268. 30
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Miller, Sampson (note 28),104–5.
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establishment of Constantinople as the New Rome, and of the (entirely legendary) movement of philanthropic, hospital-founding senators from one capital to the other. 31 The beginnings of the hospital are modest, a converted domicile – even though that does not sit with the orphaned future saint’s presumed wealth. Even before Justinian’s re-foundation it may already have grown quite sizeable. Its position was prime: in the symbolic heart of it the city, near to Hagia Sophia, between it and the Church of Hagia Eirene; and it may have begun as a dependent institution of Hagia Sophia since tradition, revealed in the early biography, has Sampson serving in the Great Church as a skeuophylax – sacristan, priest looking after the sacred treasures – which is in keeping with his supposed social background. Around 1300 one historian would claim that Justinian, in his re-foundation, won as much renown for the hospital as he did for Hagia Sophia – this at a time when the buildings were probably no longer functioning as a hospital. 32 Certainly Justinian worked on a considerable scale. His new, lavishly endowed Sampson hospital was a multi-storey affair, and it may be that the complex ground-plan, surrounding a central courtyard, which archaeologists have uncovered to the north-east of the Great Church really is that of the hospital. Justinian also established two further hospitals in the vicinity, as well as restoring the suburban church of St Mocius in which Sampson, thus present at both the centre and the periphery of the city, was buried. Under Latin occupation, and perhaps before 1204 too, the hospital had its own cemeteries and cistern. 33 Unlike suburban Caesarea, this was of course no virgin site. But of the clearance of existing buildings on it, and the effects on local population and economy, we have no evidence. To understand anything of how the hospital interacted with the larger urban space and its various ecologies we have to change focus – to make the most of the evidence we do have. For some light – highly refracted – on hospitals in Constantinople of the seventh century, the time when the first Life of Sampson was probably written, we can turn to a set of miracle stories. These are not the ones appended to later reworkings of Sampson’s biography, but those of a saint whose shrine lay in the Church of St. John Prodromos, in the Oxeia quarter of the city. The saint was Artemios, and his healing
31 Gilbert Dagron, Naissance d’une capitale. Constantinople et ses institutions de 330 à 451. Paris 1974. 32 Miller, Sampson (note 28),101–102. 33 Anderson, Hospitals (note 25), 213, nos 25, 26. Stathakopoulos, Discovering (note 29), 259.
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powers, at least as they were written up in around the 660s, seemed to concentrate on male genitals. 34 “Stephen, deacon of the Great Church and a ‘cheerleader’ of the Blue Faction, related this tale: In my testicles I suffered a rupture […] out of shame I concealed myself for a considerable time, watching for a chance to bathe alone in the small hours. At long last I disclosed my misfortune to my parents and after many treatments had been performed on me, finally, after taking counsel with them, I entrusted myself to the surgeons of the hospital of Sampson and I reclined in the hospital room near the entrance to the eye clinic. After I had been treated all over for three nights and days with cold cauteries, surgery was performed on the fourth day. [Scar heals; apparent success; relapse; again shameful hiding.] I had a plan to approach the holy martyr [Artemios], as I had heard of his many great miracles. Still I was unwilling to wait in the venerable church, feeling ashamed before friends and acquaintances to be seen by them in such a condition. But I frequently used to pass by […] and so I descended to the holy tomb of his precious relics and I cast some of his holy blessing, i.e. oil, on my testicles, hoping to procure a cure in this manner. And frequently I entreated him to deliver me from the troublesome condition. […] one day because of some need I went out to the church, and […] returned to my home at a late hour of the evening. But on the way the thought occurred to me to purchase candles and to approach the holy martyr […] So taking the candles, I headed for the holy house and I lit them in the church, crying out to him from my soul. Next, after descending to the holy tomb, I found the doors in front open and I was astounded that they were open at such an hour. This was the doing of the martyr in his desire to pity me. Stretching out face down on the holy coffin, I straddled it and thus contrived to rub the corner of the same holy tomb on the spot where I was ailing. And with tears I spoke again to the martyr: ‘St. Artemios, by God who has given you the gift of cures, no doctor on earth will ever touch me again. So if you please, cure me. But if not, to your everlasting shame I will live thus without a cure.’ And after some days I went to the bath in the quarter of Anthemios, the one called Livanon, to bathe by myself at dawn in order not to be seen by anyone […] upon exiting I had no injury.” 35
34
Miller, Sampson (note 28), 116–117, 120–122. The miracles of Artemios were edited in Athanasios Pap-
adopoulos-Kerameus, Varia graeca sacra. St. Petersburg 1909. This edition was reprinted, with translation, by Virgil Crisafulli/John Nesbitt, The Miracles of St. Artemios. Leiden 1997. 35
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Miracle 21: Crisafulli/Nesbitt, Miracles (note 34), 127–129.
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That passage, and a further one relating to yet another nearby hospital, the Christodotes, have normally been sifted for details of internal organization and medical personnel. What needs emphasis here is, rather, the different spaces involved, and the place of the hospital in the narrative, which is a narrative both of health seeking and of the articulation of related yet contrasting spaces. What spaces? Public ones, first. We have here the story of a deacon of the nearby Great Church, thereby reaffirming the long-standing link between it and the Sampson hospital: not a pauper in the strict sense but one of “Christ’s poor”, a member of an enormous priestly and lay community. He has another public role, involving another great space. He is leader of one of the two circus factions that thronged the nearby Hippodrome, regularly focusing almost the whole population of the city on one central, agonistic space – a city at once united in its sporting addiction yet divided in its team loyalties. He must be a celibate too, and thus suffers the most shameful affliction of testicular rupture. He wants to go to the public baths – for hygiene, for recreation, perhaps in the hope of healing (in water that must in reality have been a soup of harmful bacteria). But he has to go when the baths are quiet – when the public space is empty. After retreating to the more private space of his home, he tells his parents, and is treated in the family house. His parents advise him to risk surgery (and the company of pauper patients) in the Sampson hospital. His bed is near the entrance to the eye clinic or ward, which presumably really was there since these miraculous stories had to seem realistic to a local audience. But its position is also symbolic of the discernment of whence his cure will ultimately be derived – the shrine of that patron saint (in effect) of afflictions such as his. There is a space beyond, a space of healing in which sight is restored, which he can glimpse but to which he does not quite yet have access. To cut the rest of the story short: only when he finds the crucial door unwontedly open, and straddles the martyr’s tomb in quasi-sexual intimacy, rubbing his genitals against it, will he find relief. But not immediately: that happens only when he re-enters the public space of the bath, at dawn, symbolically the dawn of a new chapter in his life. That is the spatial interpretation of the hospital and its place in the hierarchy of healing institutions – as seen by a hagiographer, for whom, of course, the saint’s shrine rather than the hospital must be the setting of his story’s triumphant conclusion. For a final Byzantine example, I could turn to the most discussed and most medicalized hospital, that of the Pantokrator Monastery and imperial mausoleum. But I have argued elsewhere that that hospital did not exist, at least as
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planned. 36 Instead let us look to a different kind of charitable institution, still in the heart of Constantinople, the great orphanotropheion or orphanage. 37
Eastern apogee Whether or not established by a St. Zotikos in the mid-fourth century, that is, just before the Basileias, the institution comes into the clear light of evidence only in the early twelfth century, by which time its patron saint seems to have been the Apostle Paul. It had long been lavishly endowed with estates, and imperial revenues – and its successive directors, the Orphanotrophoi, could reasonably see their post as a stepping stone to a prominent career in the Church and at court. But by the time of Alexios I (from 1081) it was, however, clearly not functioning well. Alexios re-endowed it, including not only estates but (probably) tolls or customs dues levied on the city’s commercial maritime traffic. Our most vivid, though not necessarily most reliable, information about what Alexios did for the orphanage itself, comes from the celebrated memoir of his daughter Anna, the Alexiad. Like the Basileias, the restored philanthropic complex included a leprosarium (which may always have been the orphanage’s twin institution). And it catered for the disabled as well as orphans. The residences of the disabled, two-storied to house both the needy and their designated attendants, formed a circle. That perhaps marked the perimeter of the complex. Within, built around the Church of St. Paul, were to be found the orphanage itself, a school for the orphans, houses for deaconesses and female religious. On the Acropolis – the summit of the city – of Constantinople the emperor “built in this place another city within the imperial city”. 38 If this highly visible “new city”, set on a hill, was not all Alexios’ doing he certainly restored it and made it financially secure for a time. This theme – of the hospital as a type of foundation at the heart of urban development, and attractive to funders and benefactors for precisely that reason – could be 36
Peregrine Horden, How Medicalized were Byzantine Hospitals?, in: Neithard Bulst and Karl-Heinz
Spiess (eds), Sozialgeschichte Mittelalterlicher Hospitäler. (Vorträge und Forschungen, vol. 65.) Ostfildern 2007, 213–35. 37
For what follows see esp. Timothy Miller, The Orphans of Byzantium. Child Welfare in the Christian
Empire. Washington DC 2003, 176–246. 38
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Alexiad, 15.7.4, ed. Bernard Leib, Anne Comnène, Alexiade, vol. 3, Paris 1945, 215.
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pursued in a number of directions. The examples so far given have concerned Byzantine history, the tradition of foundation that saw ‘the birth of the hospital’. 39 If we look eastward to Baghdad in the ninth to tenth centuries, we can see the beginnings and early development of a distinct tradition of Islamic hospital foundation. 40 This owes much to Byzantine, as well as to Sasanian Persian, exemplars. It also reflects the translations, under court patronage, of medical texts, especially Galen’s, from Greek into Arabic. That is relevant because the hospitals were founded by rulers, viziers and courtiers in the major centres of power and their doctors came to be the hospital doctors too, shuttling between court and hospital in a way that had no precedent in Byzantium. The legal framework for such foundations, though again deriving much from Byzantine and Sasanian law, was also new. The waqf, or perpetual pious endowment, did not initially develop to support hospitals but rather seems to have functioned as a family trust. 41 Yet though its main objects came to be the madrasa and the mosque, hospitals certainly fell within its scope. And by the twelfth century, royal or elite foundations could be massive complexes, including mosques, mausoleums and hospitals – as with that of Nur al-Din in Damascus. 42 The apogee of this development came in the Ottoman empire. Waqfs in general seemed to underlie a considerable proportion of all urban space in the major centres and to determine its very fabric. 43 Complexes including mosques and hospitals became bigger than ever before. The Süleymaniye, of Süleyman I, in Istanbul, comprised (besides a hospital) a mosque big enough to hold several thousand, four colleges (medrese), a primary school, a soup kitchen, an insane asylum, a hamam (bath house), a caravanserai, a guest house offering food and lodging to travellers for three nights, and a large public courtyard. 44 Writing of such complexes Singer notes that
39 Timothy Miller, The Birth of the Hospital in the Byzantine Empire. 2nd edn. Baltimore/London 1997. 40 For what follows see Peter E. Pormann, Islamic Hospitals in the Time of Al-Muqtadir, in: John Nawas (ed.), ‘Abbasid Studies II. (Orientalia Lovanensia Analecta, vol. 177.) Leuven/Paris/Walpole, MA 2010, 337– 381. I return to the topic in more detail in a forthcoming monograph. 41 Adam Sabra, Public Policy or Private Charity. The Ambivalent Character of Islamic Charitable Endowments, in: Michael Borgolte (ed.), Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne. Auf der Suche nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in religiösen Grundlagen, praktischen Zwecken und historischen Transformationen. Berlin 2005, 95–108. 42 Peter E. Pormann/Emilie Savage-Smith, Medieval Islamic Medicine. Edinburgh 2007, 98–99. 43 Richard van Leeuwen, Waqfs and Urban Structure. The Case of Ottoman Damascus. Leiden 1999. 44 Godfrey Goodwin, A History of Ottoman Architecture. London 1987, 215–217.
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“it is easy to understand how a neighbourhood of the city grew up around them, taking advantage of the public and commercial spaces, and the social services that they offered, as well as opportunities for employment. Seen from this perspective, the Süleymaniye and other complexes were high-profile urban development projects and answered the obvious needs of a growing metropolis”. 45
Where such foundations were initially extra-mural, as at another Ottoman capital, Bursa, the city can be seen to have expanded its suburbs to embrace them. 46 Nothing on this scale could have been found in Byzantium, or in medieval western Europe, although the Hôtel-Dieu in early modern Paris might have approached it. As “the hospital idea” had, in the earlier Middle Ages, spread slowly from Constantinople and Asia Minor round the Mediterranean and north into the Frankish world, we can discern charitable foundations enhancing the complex of cathedral and bishop’s house in the centre of some cities, but not having the obvious effects that a Basil or a Süleyman would have witnessed in their own life times. 47 Later in the Middle Ages, when the evidence of urban topography and its evolution becomes much more plentiful, many hospitals can be seen to have been founded on extra-mural sites, but not because of fear of infection or a precocious predilection for the liminal – that nebulous state once beloved of historians as of anthropologists. Rather, they were taking advantage of the greater availability of building space, and they lay on major thoroughfares, well placed to attract benefactions. They also marked the foci or the boundaries of lay lordships or communal jurisdictions. In idealized views of Renaissance cities, the forerunners of those prospects with which we began, hospitals configured urban topography along with other monuments of civic pride. 48 Even small hospitals in minor conurbations – along with their other functions of
45
Amy Singer, Charity in Islamic Societies. Cambridge 2008, 104. I am indebted to Professor Singer for
further advice here. 46
Miri Shefer-Mossensohn, Ottoman Medicine. Healing and Medical Institutions, 1500–1700. Albany, NY,
2009, 154–155. Aptullah Kuran, A Spatial Study of Three Ottoman Capitals. Bursa, Edirne, and Istanbul, in: Muqarnas 13, 1996, 117. 47
Peregrine Horden, The Earliest Hospitals in Byzantium, Western Europe, and Islam, in: Mark Cohen
(ed.), Journal of Interdisciplinary History 35, 2005, 361–389. (Special issue, Poverty and Charity: Judaism, Christianity, Islam.); Thomas Sternberg, Orientalium more secutus. Räume und Institutionen der Caritas des 5. bis 7.Jahrhunderts in Gallien. Münster 1991. 48
John Henderson, The Renaissance Hospital. Healing the Body and Healing the Soul. New Haven/
London 2006, 3–12. I am grateful to Professor Henderson for discussion.
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helping the poor and redeeming their founders’ souls – had a political point to make about urban topography. “Whether directed towards those visiting or living within the town, these public displays of charity aimed to shape both a day-to-day experience of government and the perception of its reach”. 49 That was written of English towns of the twelfth to thirteenth centuries. But it applies also, for example, to the little hospital that nestled beside, and connected with, the imposing central tower erected by a consul in the French city of Montauban in the early fourteenth century; possibly the best defended hospital of its age. 50 Abstracted from its particular economic and social context, the view of a hospital’s role in urban politics implied by its proximity to that tower is one that Basil of Caesarea could have recognized and endorsed.
49 Sethina Watson, City as Charter. Charity and the Lordship of English Towns, 1170–1250, in: Caroline Goodson/Anne E. Lester/Carol Symes (eds), Cities, Texts, and Social Networks. Experiences and Perceptions of Medieval Urban Space. Farnham/Burlington, VT, 235–262 (quotation from 262). 50 Claude Collu, Urbanisme et cadres d’assistance à Montauban (XIIIe–XVI siècles), in: François-Olivier Touati (ed.), Archéologie et architecture hospitalières de l’antiquité tardive à l’aube des temps modernes. Paris 2004, 305–324.
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Stadt und Stifter: Rechtshistorische Einblicke in die Struktur und Verwaltung öffentlicher Stiftungen im Hellenismus und in der Kaiserzeit von Kaja Harter-Uibopuu
Einleitung Der Wunsch, die Gemeinschaft, in der man lebt, auch materiell zu unterstützen, verbindet die Antike und die Moderne über zwei Jahrtausende hinweg. Neben Schenkungen und anderen Zuwendungen in Einzelfällen bot das Modell der Stiftung, der einmaligen Übertragung von Kapital mit dauerhafter Nutzung der daraus entstehenden Zinsen, nicht nur der politischen Oberschicht die Möglichkeit, den Lebensraum ihrer Bürgerschaft aktiv zu gestalten, sondern auch ihrer eigenen memoria ein Denkmal zu setzen. Wenn uns auch keine normativen Texte erhalten sind, die die rechtlichen Rahmenbedingungen für Stiftungen definieren, ermöglicht die Untersuchung der einzelnen Stiftungsakte es dennoch, Grundlinien der Verwaltung in der Antike festzuhalten und dem modernen Stiftungsrecht gegenüberzustellen. Vor allem die stete Angst der Stifter vor dem Missbrauch des von ihnen eingesetzten Kapitals und der Vernachlässigung des Stiftungszwecks sowie die dagegen eingeführten Kontrollmechanismen, Prüfungsverfahren und Sanktionen finden ihre Entsprechung in den Erklärungen moderner Stifter. Für Rechtshistoriker gehören die zahlreichen Texte, die die Statuten antiker Stiftungen oder Teile daraus überliefern, aus verschiedenen Gründen zu den interessantesten Quellen aus den griechischen Stadtstaaten. Sie zeigen das Zusammenspiel zwischen Bürgern und Stadtverwaltung und verdeutlichen die Flexibilität, mit der die Polis (Stadtstaat) und ihre administrativen Organe sich auf neue Aufgaben einstellen konnten. Ihnen lassen sich oft auch detaillierte Informationen zur Verfassung der Stadt entnehmen. Neben verschiedenen Amtsträgern werden Entscheidungsgremien genannt, zusätzlich wird häufig auf bestehende Gesetze verwiesen. Darüber hinaus sind gerade diese Texte faszinierende Dokumentationen der Rechts-
DOI
10.1515/9783110400007.177
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technik in der entwickelten griechischen Polis, die zur Durchführung der administrativen Vorschriften und zum Schutz der Stiftungen angewandt wurde. Wir erhalten aber auch Einblick in Details der Kultorganisation oder die praktische Durchführung von Festen. Nicht zuletzt informieren gerade Stiftungstexte immer wieder über die herausragende Rolle reicher Frauen in ihren Heimatstädten. 1 Im Folgenden werde ich mich mit den öffentlichen Stiftungen der griechischen Antike auseinandersetzen. Dort wo Stifter über reine Privatinteressen hinaus einer öffentlichen Einrichtung Geld zur Verfügung stellten, damit aus den Erträgen Leistungen für die Bürger erbracht werden konnten, hatte die Stadt zumeist auch die Kontrolle über die Stiftungen und war sowohl in die Verwaltung als auch die Durchführung des Stiftungszwecks eingebunden. Daneben existierten wohl auch zahlreiche private Stiftungen, über deren Gründung und Verwaltung wir aber nur in seltenen Fällen informiert sind. Da diese Stiftungen jederzeit auch ohne Zustimmung der Polis errichtet werden konnten, bestand in den meisten Fällen auch kein Interesse an einer dauerhaften Publikation der Statuten auf Stein somit fehlen die für den Rechtshistoriker notwendigen Quellen zur Administration. In den erhaltenen Zeugnissen findet sich kein eigener griechischer terminus technicus für „Stiftung“ oder „stiften“. Die in den Texten verwendeten Begriffe weisen zumeist auf die Art der Kapitalerrichtung hin. Die häufigsten Beispiele sind etwa καταλείπειν oder ἀπολείπειν für „stiften durch eine letztwillige Verfügung“ sowie ἀνατιθέναι, καθιεροῦν oder διδόναι für „stiften“ zu Lebzeiten. Entsprechend dieser Verben finden sich auch Substantive, die den Stiftungsakt bezeichnen: κατάλειψις, ἀνάθεσις, ἀνιέρωσις, δόσις oder διάταξις. Zudem wird die Einrichtung manchmal als χάρις bezeichnet, um das Geschenk und die Güte des Stifters zu betonen. 2 Gerade diese Vielfalt an termini, die erst durch ihren Kontext als “Stiftung” oder “stiften” im juristischen Sinn übersetzt werden können, zeigt, dass dem griechischen Recht ein konkretes theoretisches Konzept der Stiftung fremd war. Dies hat
1 Obwohl die Einführung von Laum aus dem Jahr 1914 veraltet ist und eine Überarbeitung und Neuedition wünschenswert bleibt, stellt sie immer noch die beste Sammlung inschriftlich überlieferter Stiftungen aus der griechischen und römischen Welt dar. Bernhard Laum, Stiftungen in der griechischen und römischen Antike, Bd. I und II, Berlin 1914. Auf die Einträge in der Textsammlung in Band II wird mit dem Hinweis „Laum Nr.“ verwiesen. Auf die angesprochene Flexibilität der griechischen Polis im späten Hellenismus und der Kaiserzeit weist geht Sitta von Reden in ihrem Beitrag in diesem Band ein, auf den in Folge häufig verwiesen werden wird. 2 Vgl. Laum, Stiftungen I (wie Anm.1), 116–126.
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allerdings nicht zu verwundern, da rechtstheoretische Überlegungen auch in anderen Bereichen der städtischen Verfassung und Verwaltung fehlen. Die Einrichtung der Stiftung selbst war aber bekannt und beliebt, und – spätestens ab dem Hellenismus – auch notwendig. Von jeher waren finanzielle Zuwendungen aller Größenordnungen in den griechischen Städten, staatlichen Gremien oder privaten Vereinigungen ein notwendiges Mittel, um verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens in angemessener Form ausgestalten zu können. Die Stiftung unterscheidet sich dabei auch in der Antike deutlich von der Schenkung oder der mit ihr eng verwandten epidosis, dem Aufruf zur privaten Finanzierung in einer Krisensituation. 3 Während Schenkungen und epidoseis in Geldzuwendungen bestanden, die – wenn sie auch an einen bestimmten Zweck gebunden waren – einmalig erfolgten, sollten die Erträge aus Stiftungen zum regulären Einkommen der Stadt beitragen. Stiftungen waren auf Dauer ausgerichtet. Im Unterschied zu Schenkungen, die entsprechend einfach in den städtischen Kassenbüchern als Eingang vermerkt werden konnten 4, war also ein gewisses Maß an Verwaltung notwendig, um den Stiftungszweck zu erreichen. Die Stützung der städtischen Wirtschaft durch Bereitstellung von Getreide oder Öl, nachhaltige Unterstützung bei der Errichtung öffentlicher Bauten und deren Erhalt sowie finanzielle Entlastung für einzelne Ämter sind als derartige Projekte ebenso überliefert wie Geldverteilungen. Ebenso prominent finden sich Belege für die Finanzierung von Festen, Wettkämpfen und – damit zumeist in engem Zusammenhang – Zuwendungen an das Gymnasion der Stadt. Nicht zuletzt wurden auch Stiftungen für Schulen und Unterricht eingerichtet. 5
3 Zu diesem Aufruf zu freiwilligen Spenden siehe Leopold Migeotte, Les souscriptions publiques dans les cités grecques. (École pratique des hautes études 4.3 Hautes études du monde gréco-romain 17) Genf 1992, und immer noch Adolphe Kuenzi, Epidosis. Sammlung freiwilliger Beiträge zu Zeiten der Not in Athen. Bern 1923. Beispiele für epidoseis: IG II2 1627 Z.421–429 (Athen, 338/7 v.Chr.); 1628 (Athen, 328/7 v.Chr.); IG V 2, 331 (Megalopolis, 2.Jh. v.Chr.), weitere Texte bei Kuenzi, Epidosis, 67–80. 4 So etwa IG II2 1492 B Z.97–104, Vermerk eines Geschenks von 140 Talenten, das athenische Gesandte von Antigonos I Monophthalmos 306/5 v.Chr. der Stadt überbrachten. Der Eingang wurde in der entsprechenden Abrechnung der tamiai der Athena Polias erfasst. 5 Einige typische Beispiele seien an dieser Stelle genannt, die Nummern in Klammer beziehen sich jeweils auf die Edition und Übersetzung bei Laum, Stiftungen II (wie Anm.1). Eine genauere Aufstellung und Analyse des Stiftungszwecks nach den erhaltenen Quellen findet sich bei Laum, Stiftungen I (wie Anm.1), 65–105. Bereitstellung oder Ankauf von Getreide: IG V 2, 268, B Z.16–18 (Laum Nr.5, Mantineia, 10 v.Chr. – 10 n.Chr.); CIG 3422, Z.13–16 und 18–25 (Laum Nr.86, Philadelphia, kaiserzeitl.); TAM II 578, Z.24–30
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Eine öffentliche Stiftung lässt sich für die Antike wie folgt definieren: Das vom Stifter versprochene Kapital wurde der Stadt, einer ihrer Unterorganisationen oder einem Heiligtum mit der Auflage übergeben, es anzulegen und den Ertrag daraus für einen vom Stifter vorher festgelegten Zweck zu verwenden. 6 Als Grundstockvermögen konnten sowohl Geld als auch Land eingesetzt werden, wobei in der Antike zunächst die Stiftung von Immobilien, und dann ab dem 2.Jh. v.Chr. die Übergabe von (Laum Nr.139, Patara, kaiserzeitl.). Öl: IG XII 9, 236, Z.14–24 (Laum Nr.61, Eretria, 100 v.Chr.); IG V 1, 1208 (Laum Nr.9, Gytheion, 1.Jh. n.Chr., vgl. unten bei Anm.22); TAM V 2, 828 B (Laum Nr.72, Attaleia, kaiserzeitl.); I.Iasos 114 Z.4–6 (Laum Nr.123, Iasos, kaiserzeitl.). Öffentliche Bauten: IG XII 4,1 99, Z.12–18 (Laum Nr.46, Halasarna, Anf. 2.Jh. v.Chr.); I.Assos 22/23 (Laum Nr.67, Assos, kaiserzeitl.); I.Ephesos 5113 (Laum Nr.77, Stiftungsurkunde der Celsus-Bibliothek, Ephesos, 2.Jh. n.Chr.). Ämter: Flav. Jos. De bell. Iud. 1,423 (Laum Nr.49, Herodes Atticus stellt den Koern die Mittel für eine ewige Gymnasiarchie zur Verfügung, 2.Jh. n.Chr.); TAM V 2, 1345 (Laum Nr.80, Magnesia am Sipyl., kaiserzeitl., ewige Stephanephorie); I.Magnesia 188 (Laum Nr.127, Magnesia/M., kaiserzeitl., ewige Gymnasiarchie); I.Ephesos 22 B (Laum Nr.131, Ephesos, kaiserzeitl., ewige Gymnasiarchie). Geldverteilungen: IAph 2007 12.538 (Laum Nr.103, Aphrodisias, kaiserzeitl.); IAph 2007, 11.403 (Laum Nr.109, Aphrodisias, kaiserzeitl.); I.Tralles 145 Z.16–19 (Laum Nr.95, Tralles, 1.Jh. n.Chr.); I.Ephesos 27 (Laum Nr.74, Stiftung des Salutaris, Ephesos, 103/4 n.Chr.). Feste und Agone: IG XII 7, 515 (Laum Nr.50, Aigiale auf Amorgos, 2.Jh. v.Chr., vgl. unten bei Anm.37); IAph 2007 15.330 (Laum Nr.101, Aphrodisias, kaiserzeitl., gestiftete Agone erwähnt); IG IX 1, 128 (Laum Nr.31, Elateia, 2.Jh. n.Chr.); IG VII 190, Z.27–30 (Laum Nr.22, Pagai, 67–59 v.Chr.). Schulstiftungen: I.Milet I 3, 145 (Laum Nr.129, Stiftung des Eudemos, 200–199 v.Chr.); Syll.3 672 (Laum Nr.28, Delphi, 166 v.Chr.); Syll.3 578 (Laum Nr.90, Stiftung des Polythrus, Teos, 2.Jh. v.Chr.). 6 Eine Definition der antiken Stiftung als Zusammenfügung (σύνθεσις) einseitiger Selbstbindungen, die ein gemeinsames Gesetz zum Handeln schaffe, findet sich bei Anneliese Mannzmann, Griechische Stiftungsurkunden. (Fontes et commentationes, Schriftenreihe des Instituts für Epigraphik an der Universität Münster 2) Münster 1962, 68 (vgl. auch 19–23). Ihre Auffassung vom Rechtscharakter der Stiftungen konnte sich aber nicht durchsetzen und wurde sowohl von Hans Julius Wolff, Rez. A. Mannzmann, Griechische Stiftungsurkunden, in: Iura. Rivista internazionale di diritto romano e antico 13, 1962, 265–275, als auch von Kurt Latte, Rez. A. Mannzmann, Griechische Stiftungsurkunden, in: ZRG RA 79, 1962, 374–376, scharf zurückgewiesen. Vgl. auch das österreichische Bundes-Stiftungs- und Fondsgesetz, Bundesgesetzblatt 11/ 1975, §2: (1) „Stiftungen im Sinne dieses Bundesgesetzes sind durch eine Anordnung des Stifters dauernd gewidmete Vermögen mit Rechtspersönlichkeit, deren Erträgnisse der Erfüllung gemeinnütziger oder mildtätiger Zwecke dienen.“ Für das deutsche Stiftungsrecht gilt: „Der Prototyp einer Stiftung ist die rechtsfähige Stiftung bürgerlichen Rechts. Sie ist das klassische Instrument zur Verwirklichung eines auf Dauer angelegten Zwecks und untersteht der staatlichen Stiftungsaufsicht. Ihre Entstehungsvoraussetzungen sind in den §§ 80ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches geregelt, die durch die Landesstiftungsgesetze ausgefüllt werden. Auch wenn somit nicht automatisch eine bestimmte Rechtsform mit dem Begriff der Stiftung einhergeht, verfügen Stiftungen über einheitliche charakteristische Merkmale. Die Stiftung ist gekennzeichnet als Vermögensmasse, die einem bestimmten Zweck, insbesondere gemeinnützigen Zwecken, auf Dauer gewidmet ist. Welche Zwecke die Stiftung verfolgt und wie ihre innere Organisation aussieht, legt der Stifter nach seinem Willen in der Satzung fest.“ Quelle: www.stiftungen.org / Bundesverband Deutscher Stiftungen.
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Geld überwog. 7 Allerdings wurden Stiftungen weder im griechischen noch im römischen Recht als juristische Personen angesehen und unterscheiden sich damit gravierend von den rechtsfähigen Stiftungen oder Stiftungen bürgerlichen oder öffentlichen Rechts moderner Staaten. Eher lässt sich die antike Stiftung mit der treuhänderischen Stiftung vergleichen, in der (durchaus auch juristische) Personen das Stiftungsvermögen verwalteten. 8 Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass der Gründungsakt der Stiftungen – wie gleich zu zeigen sein wird – demjenigen der modernen rechtsfähigen Stiftung sehr ähnlich ist. Die Quellen zu den öffentlichen Stiftungen aus der Antike sind zahlreicher, als diejenigen zu den privaten Stiftungen, wie etwa der Einrichtung eines Totenkultes, für den der Erblasser selbst Vorsorge treffen wollte. Ein Grund für diesen Befund mag die Tatsache sein, dass die Publikation privater Stiftungsakte auf Stein seltener vorgenommen worden sein wird als im Fall öffentlicher Stiftungen. Bei Letzteren lag die Publikation des Stiftungsaktes nicht zuletzt im Interesse des Stifters. Sie trug einerseits zur Sicherung der Stiftung bei, andererseits konnte – und sollte – sie das Ansehen des Stifters in seiner Heimatstadt über seine eigene Lebenszeit hinaus bewahren. Überzeugend argumentiert Sitta von Reden in diesem Band, dass auch die Polis selbst Interesse daran hatte, sich in den Stiftungsdekreten als funktionierende Organisation gerade unter der Herrschaft hellenistischer Könige und später römischer Kaiser zu präsentieren. Neben den Stiftungsdekreten informieren vor allem Ehrendekrete, Siegerinschriften, aber auch Festkalender und die Abrechnungen städtischer Kassen, alle aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Zielen, über Stiftungen. Aus der Sicht des Rechtshistorikers stehen einerseits die Verwaltung des Stiftungskapitals und andererseits der Rechtsschutz, der die Einrichtung vor Missbrauch bewahren sollte, im Mittelpunkt des Interesses. Daher werde ich im Folgen7 Vgl. den Überblick bei Laum, Stiftungen I (wie Anm.1), 145, und die Analyse 133–145. Zum Aufschwung des Stiftungswesens im Hellenismus und in der Kaiserzeit sowie zu seinen wirtschaftlichen und politischen Hintergründen s. den Beitrag von Sitta von Reden in diesem Band. 8 „Eine Treuhandstiftung (auch unselbstständige, nichtrechtsfähige oder fiduziarische Stiftung genannt) wird durch einen Vertrag zwischen dem Stifter und dem Treuhänder (Träger) oder per Verfügung von Todes wegen errichtet. Der Stifter überträgt das Stiftungsvermögen dem Treuhänder, der es getrennt von seinem eigenen Vermögen gemäß den Satzungsbestimmungen der Stiftung verwaltet. Anders als eine rechtsfähige Stiftung verfügt eine Treuhandstiftung über keine eigene Rechtspersönlichkeit und kann auch mit weniger als 50.000 Euro gegründet werden.“ Quelle: www.stiftungen.org / Bundesverband Deutscher Stiftungen.
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den anhand einiger ausgewählter Beispiele darstellen, wer für das Grundstockvermögen, seine Anlage und die Akkumulation der Erträge einerseits, sowie für die Ausführung des Stiftungszweckes andererseits verantwortlich war. Darüber hinaus soll der Frage nachgegangen werden, wer über die Einrichtung der Stiftungsverwaltung bestimmte. Welche prozessualen Mittel garantierten die Einhaltung der einmal getroffenen Regelungen? 9 Die Quellen, die zur Beantwortung dieser Frage herangezogen werden können, sind vor allem die zahlreich erhaltenen Inschriften, die auf Stein zumeist an öffentlich gut zugänglichen Plätzen publiziert wurden. Zwar gibt es auch einige literarische Texte, die von der Großzügigkeit der antiken Stifter berichten, ihnen lässt sich aber nur wenig rechtshistorisch Relevantes entnehmen, da die verwaltungstechnischen Fragen nicht berührt werden. Die Verwaltung der Stiftung folgte in hellenistischer Zeit und in der Kaiserzeit den gleichen Grundideen, auch wenn sich die politischen und sozialen Rahmenbedingungen natürlich veränderten. Daher werden im Folgenden Beispiele aus beiden Epochen zur Erläuterung herangezogen, wobei auf die möglichen Eingriffe durch Kaiser und Statthalter gesondert eingegangen wird.
Einrichtung der Stiftung Grundsätzlich besaßen Stiftungen in der Antike keine eigene Rechtspersönlichkeit sondern wurden durch den Stifter, seine Erben oder die für sie eingesetzten Verwalter vertreten. Für die Errichtung einer öffentlichen Stiftung waren zwei Schritte notwendig: Zunächst wurde der Vorschlag des Stifters in Form einer Stiftungsurkunde vorgelegt, die seine Verpflichtung zur Übergabe des Kapitals, den eingesetzten Empfänger sowie möglicherweise Vorschriften für die Administration des Stiftungskapitals und die Durchführung des Stiftungszwecks und schließlich Vorschläge zur Absicherung der Stiftung enthielt. Diese Zusage, die für den Stiftenden bereits bindend war, wurde den zuständigen Gremien der Polis unterbreitet, zumeist dem Rat und der Volksversammlung, die durch einen entsprechenden Beschluss die Annahme der Stiftung erklärten. Die Beschlüsse, die sogenannten Stiftungsdekrete,
9 Vgl. Kaja Harter-Uibopuu, Money for the Polis – Public Administration of Private Donations in Hellenistic Greece, in: Onno M. Van Nijf/Richard Alston (Hrsg.), Political Culture in Greek City after the Classical Age. (Groningen-Royal Holloway Studies on the Greek City after the Classical Age, vol. 2) Louvain 2011.
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sind wesentlich häufiger erhalten als die ihnen vorausgehenden Stiftungsurkunden. Letztere konnten aber als Anträge inkorporiert sein, sodass wir in wenigen Fällen beide Teile der Stiftung, den Vorschlag des Stifters und die endgültige Version nach dem Beschluss der Stadt vor uns haben. 10 Auch das umfangreiche Dossier des C. Vibius Salutaris über die Einrichtung einer Stiftung in Ephesos 103/4 n.Chr. enthält nicht nur das Stiftungsdekret, sondern auch die Stiftungsurkunde sowie zwei Bestätigungsschreiben römischer Amtsträger. 11 Die Polis, die als Stiftungsträger fungierte, verwaltete die ihr übertragenen Gelder oder Ländereien und kümmerte sich um den Eingang der Zinsen und die Ausführung des Stiftungszwecks. Am einfachsten war es also für den Stifter, der Stadt das Geld zu überantworten und die Details der Verwaltung ihr anheim zu stellen. Mit verwaltungstechnischen Fragen musste er sich nicht befassen, er hatte aber auch
10 Laum, Stiftungen I (wie Anm.1), 2–8, vgl. unten bei Anm.26. Auch in modernen Stiftungen finden sich beide Schritte. Dort, wo Stiftungen eigene Rechtspersönlichkeit zuerkannt wird, bedarf es natürlich der Zustimmung der zuständigen Behörde. Vgl. etwa das österreichische Bundes-Stiftungs- und Fondsgesetz, Bundesgesetzblatt 11/1975, §3: „Zur Errichtung einer Stiftung sind die Erklärung des Stifters, durch Zweckwidmung eines bestimmten Vermögens eine Stiftung errichten zu wollen (Stiftungserklärung), sowie die behördliche Entscheidung, daß die in der Stiftungserklärung vorgesehene Errichtung der Stiftung zulässig ist, erforderlich.“ oder §80 (1) BGB: „Zur Entstehung einer rechtsfähigen Stiftung sind das Stiftungsgeschäft und die Anerkennung durch die zuständige Behörde des Landes erforderlich, in dem die Stiftung ihren Sitz haben soll.“. Die treuhänderische Stiftung auf der anderen Seite bedarf keiner behördlichen Genehmigung und ist privatrechtlich organisiert. Interessant für die folgenden Überlegungen zu antiken Stiftungen ist auch die deutsche Sonderform der kommunalen Stiftung, die sowohl öffentlich als auch privat organisiert sein kann und in das Gefüge der kommunalen Verwaltung eingebunden ist. Dominique Jakob, Schutz der Stiftung. Die Stiftung und ihre Rechtsverhältnisse im Widerstreit der Interessen. Tübingen 2006, 76: „Die kommunale Stiftung zeichnet sich dadurch aus, dass sie einer kommunalen Gebietskörperschaft zugeordnet ist, ihr Zweck im Rahmen der öffentlichen Aufgaben dieser Körperschaft liegt und sie (in der Regel) von Organen dieser Körperschaft verwaltet wird.“. 11 I.Ephesos 27, Stiftung des C. Vibius Salutaris, 103/4 n.Chr. (Laum Nr.74), vgl. dazu ausführlich Guy MacLean Rogers, The Sacred Identity of Ephesos, Foundation Myths of a Roman City, London 1991. Das Dossier enthält den Volksbeschluss der Stadt über die Stiftung des Salutaris und die Ehrung des Stifters (A Z.1– 133), einen Brief des Salutaris mit dem Stiftungsversprechen und Details zur Ausführung der Stiftung (diataxis, B Z.134–332), einen Brief des Proconsul C. Aquilius Proculus mit einer Bestätigung der Stiftung (C Z.333–369), einen Brief des legatus pro praetore P. Afranius Flavianus mit der Bestätigung der Stiftung (D Z.370–413), einen Beschluss des Rates von Ephesos über die Mitwirkung der chrysophorountes „Goldträger“ an der Prozession mit den gestifteten Statuen (E Z.414–430), einen Beschluss des Rates von Ephesos über die Ehrenplätze im Theater für die chrysophorountes (F Z.431–334) sowie einen Nachtrag zur Stiftung, der die Vorlage einer zusätzlichen Stiftung von Statuen unter den Bedingungen der ersten Stiftung enthält (G Z.447–568).
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keinen weiteren Einfluss darauf. Als Beispiel hierfür sei das Testament des Alkesippos aus Delphi angeführt, das drei Bestimmungen enthielt: 12 „Unter dem archon Damosthenes, im Monat Poitropios, stiftete unter folgenden Bedingungen Alkesippos, Sohn des Boutheras, Kalydonier, dem Gott und der Stadt der Delpher 130 Goldstücke und aus Silber 22 Minen und 30 Statere, für den Fall seines Todes, damit die Stadt ein Opfer und eine Volksbewirtung für Apollon jedes Jahr ausführen kann, welche Alkesippeia genannt werden, aus den Zinsen des Golds und des Silbers. [...] Die Amtsträger sollen im Heiligtum (dieses Dekret) aufzeichnen, und die Stiftung soll rechtsgültig sein. Auch seinen übrigen Besitz hinterlässt er, für den Fall seines Todes, dem Gott und der Stadt, [...]“
Der Stifter Alkesippos, Sohn des Boutheras, aus Kalydon, hinterließ testamentarisch der Stadt eine beträchtliche Summe Geldes, aus deren Erträgen (ἀπὸ τῶν τόκων, Z.5–6) jährlich eine Feier zu Ehren Apollons durchgeführt werden sollte. Das Fest sollte den Namen des Stifters erhalten und Alkesippeia genannt werden (Z.5). 13 Zusätzlich fielen der Stadt als Legat auch noch die Bronzemünzen, die im Haus gefunden würden, abzüglich der Begräbniskosten zu (Z.11–13). Dies ist die einfachste Form der antiken Stiftung: Das Kapital selbst ist genau definiert, die genauen Vorschriften für die Verwaltung aber lagen nicht im Interesse des Stifters. Andererseits war es Alkesippos ein Anliegen, den Stiftungszweck im Detail zu definieren. Eine pompe (Festzug) sollte entlang einer von ihm bestimmten Route durchgeführt werden (Z.6–8). An dem Festzug sollten der Priester, der archon (oberster Stadtmagistrat), die Prytanen und die Bürger der Stadt Delphi teilnehmen, die damit natürlich nicht nur Apollon ehrten, sondern auch das Ansehen des Stifters bewahrten.
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Syll.3 631, Z.1–6 und Z.8–9: ἄρχοντος Δαμοσθένεος, μηνὸς Ποιτροπίου, ἐπὶ τοῖσδε ἀνέθηκε
Ἀλκέσιππος | Βουθήρα Καλυδώνιος τῶι θεῶι καὶ τᾶι πόλει τᾶι Δελφῶν χρυσοῦς ἑκατὸν τρι|άκοντα καὶ ἀργυρίου μνᾶς εἴκοσι δύο στατῆρας τριάκοντα, εἴ τί κα πάθῃ | Ἀλκέσιππος, ὥσστε θυσίαν καὶ δαμοθοινίαν συντελεῖν τὰν πόλιν τῶν Δελφῶν |5 τῶι Ἀπόλλωνι τῶι Πυθίωι κατ’ ἐνιαυτόν, ποτονομάζοντας Ἀλκεσίππεια, ἀπὸ | τῶν τόκων τοῦ τε χρυσίου καὶ ἀργυρίου· | . . . ἀναγραψάντω δὲ οἱ ἄρ|χοντες ἐν τῶι ἱερῶι, καὶ ἀνάθεσις κυρία ἔστω· καὶ τὰ ἄλλα πάντα τὰ ἴδια {α} |ἀνατίθητι, εἴ τί κα πάθῃ, τῶι θεῶι καὶ {και} τᾶι πόλει, ... Laum Nr.27; LSS Nr.81; Margerita Guarducci, Epigrafia Greca, III, Epigrafi di carattere privato, Rom 1974, 257; Kaja Harter-Uibopuu, Money for the Polis (wie Anm.9), 121–122. Ergänzungen in runden Klammern der Übersetzung sind erklärende Zusätze der Autorin. 13
Feste nach dem Stifter zu benennen, hat in Griechenland lange Tradition, Beispiele dafür finden sich
vor allem in Kleinasien in der Kaiserzeit. Laum, Stiftungen I (wie Anm.1), 51 und 91–95.
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Einen gänzlich anderen Weg wählte die Wohltäterin Lalla, über deren Stiftung wir aus einem Ehrendekret der Stadt Tlos in Lykien aus dem 2.Jh. informiert sind: 14 „Nachdem sie für die Leitung des Gymnasiums der neoi 12500 Denare versprochen hatte, verpflichtete sie sich in Bezug auf diese auch vertraglich, Zinsen zu entrichten, damit in dieser (Angelegenheit) die Stadt davon profitiere, weder ekdaneistai (Ausleiher) wählen zu müssen, noch anapraktai (Eintreiber). 15 Dabei versicherte sie selbst, jährlich aus dem Zins jedem der 1100 Männer, die Getreide empfangen (dürfen), einen Denar zu geben, am 15. des Monats Xandikos am ersten Tag der Wahlen der Amtsträger.“
Lalla hatte sich also ihrer Heimatstadt gegenüber verpflichtet, eine Stiftung in der Höhe von 12500 Denaren zu errichten, die auf Zinsen angelegt werden sollten. Mit den Einkünften sollten die Kosten für das Amt des gymnasiarchos, des Leiters des Gymnasium der neoi, zumindest zu einem Teil getragen werden. Allerdings übernahm die Stifterin selbst die Entrichtung der Zinsen, um die Stadt mit dieser Aufgabe nicht zu behelligen (Z.4–6). Vordergründig ist hierin wohl ein weiteres Entgegenkommen der Stifterin ihrer Heimatstadt gegenüber zu sehen, die sie von allen Unannehmlichkeiten frei halten wollte. 16 Vor dem Hintergrund der zahlreichen Klauseln, die Stiftungen gegen ineffiziente Verwaltung und Missbrauch schützen sollten, wird man in dieser Maßnahme aber auch das Misstrauen der Stifterin der städtischen Verwaltung gegenüber erkennen können. So war es ihr wohl lieber, die erhebliche Summe nicht in die Hände der Stadt zu übergeben, sondern selbst als Darlehensnehmerin aufzutreten und jährlich nur die Zinsen zu zahlen. 17 14 SEG 27, 938, Z.1–12: [- – - – -] τῳ δωρεα Ι … ΕΙ Ι ΙΙ ΚΕ | [ὑ]ποσχομένη ἀντὶ γυμνασιαρχίας νέ|ων (δηνάρια) μ(ύρια) βφ´ ἅτινα καὶ ὑποσυνγέγρ[α]|πται αὐτῇ τοκοφορεῖν εἰς τὸ καὶ ἐ[ν] | τούτῳ τὴν πόλιν ὠφελεῖσθαι ἐκ | τοῦ μήτε ἐκγδανειστὰς αἱρεῖσθαι | μήτε ἀναπρακτὰς, ἠσφαλισμένης | αὐτῆς κατ’ ἔτος ἐκ τοῦ τόκου διδό|ναι ἑκάστῳ τῶν σειτομετρουμέ|10νων ἀνδράσιν χειλίοις ἑκατὸν ἀνὰ [(δηνάριον)] α´ ἐν τῇ ιε´ τοῦ Ξανδικοῦ μηνὸς | τῇ πρώτῃ τῶν ἀρχαιρεσίων ἡμέρᾳ. Christian Naour, Inscriptions de Lycie, in: ZPE 24, 1977, 265–271 Nr.1, editio princeps mit Foto. Möglicherweise stammt der quadratische Block vom Grabbau der Stifterin Lalla. 15 Ἐκδανεισταί sind inschriftlich auch aus der Stadt Ephesos überliefert (I.Ephesos 8, Z.37–38): In den Dekreten über den Krieg gegen Mithridates werden mit diesem terminus Personen bezeichnet, die dazu befugt waren, Darlehen auszugeben. Für die ἀναπρακταί lassen sich weder epigraphische noch literarische Belege finden. Naour ist aber zuzustimmen, wenn er – entsprechend den häufig verwendeten verwandten Begriffen ἀναπράσσειν und ἀνάπραξις – von Amtsträgern ausgeht, die für die Einhebung der Zinsen und anderer geschuldeter Summen zuständig waren, Naour, Inscriptions (wie Anm.14), 169. 16 In dieser Art interpretiert Naour, Inscriptions (wie Anm.14), 268–269 die Klauseln, ich sehe aber keinen Hinweis darauf, dass Lalla das Kapital selbst anlegte und Zinsen einhob. 17 Das Einbehalten des versprochenen Stiftungskapitals stellt in den erhaltenen Quellen einen Sonder-
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Verwaltung der Stiftung Während in modernen Stiftungen der Stiftungsvorstand oder Stiftungsrat für die Anlage des Kapitals ebenso verantwortlich ist wie für die Ausführung des Stiftungszwecks, finden sich in antiken Stiftungen dafür oft zwei verschiedene Gremien oder Kommissionen. 18 Die Trennung dieser beiden Elemente der Stiftung entspricht wohl einerseits der Angliederung an die städtische Verwaltung, in der diejenigen Amtsträger, die für die Verwaltung der Kassen zuständig waren, zumeist von denjenigen Amtsträgern, die für die Organisation von Veranstaltungen oder für die Administration begünstigter Institutionen verantwortlich zeichneten, unterschieden waren. Andererseits mag die Aufteilung der Agenden an zwei verschiedene Verwalter dem Stifter die Sicherheit gegeben haben, dass diese bestmöglich durchgeführt wurden. Sowohl die möglichst gewinnbringende Anlage des Geldes, das zumeist auf Zinsen verliehen wurde, als auch die pünktliche Einbringung dieser Zinsen standen im Mittelpunkt der erhaltenen Vorschriften zur Verwaltung des Kapitals. Der Zinssatz konnte entweder vom Stifter selbst vorgeschrieben werden oder von den für die Ver-
fall dar, ist aber belegt. Vergleichbar ist eine Stiftung, die in den Digesten 50,12 (de pollicitationibus) erhalten ist. Modestinus (libro primo responsorum) zitiert eine griechische Stiftungsurkunde als Beispiel dafür, dass die Stifterin das Kapital zurückhalte, auf geeignete Hypotheken aber verspricht, regelmäßig die Zinsen zu entrichten. In dieser Art und Weise tritt sie selber als Darlehensnehmerin der Gemeinde auf. (D 50,12,10). Weiters sei an dieser Stelle auf die Stiftung des C. Vibius Salutaris in Ephesos verwiesen, der ebenfalls das versprochene Kapital der Stadt nicht sofort übergeben wollte, sondern sich zunächst zur Ablieferung der Zinsen verpflichtete (die versprochenen Statuen hatte er sofort bereit gestellt). Im Stiftungsdekret finden sich dort Vorschriften, die eine Abgabe des gesamten Kapitals zu einem bestimmten Zeitpunkt festhalten und somit der Stadt die Zugriffsmöglichkeit auf die Stiftung bieten (I.Ephesos 27, Z.62–73, s. auch Anm.12). Auch Demosthenes von Oinoanda entschied sich dazu, zunächst kein Kapital der Stadt zu übertragen, sondern verpflichtete sich zu regelmäßigen jährlichen Zahlungen, möglicherweise handelte es sich dabei aber um eine Übergangslösung bis zu einem nahen Zeitpunkt, an dem der Stifter entsprechende Ländereien der Stadt übergeben wollte: Michael Wörrle, Stadt und Fest im kaiserzeitlichen Kleinasien. (Vestigia 39) München 1988, 152–154. 18
Eine der wenigen Stiftungen, in der beide Aufgaben in der Hand einer Kommission lagen, ist die Stif-
tung des Attalos II Philadelphos für Delphi, durch die Unterricht ebenso finanziert wurde, wie ein Fest, Syll.3 672. Dazu jüngst Léopold Migeotte, La fondation d’Attale II à Delphes: Dispositions administratives et financières, in: Dike. Rivista di storia del diritto greco ed ellenistico 12/13, 2009/10, 203–217. Text und Übersetzung sowie weitere bibliographische Angaben finden sich auch bei Klaus Bringmann/Hans von Steuben, Schenkungen hellenistischer Herrscher an griechische Städte und Heiligtümer I, Berlin 1995, Nr.94. Vgl. Harter-Uibopuu, Money for the Polis (wie Anm.9) 135–137.
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waltung eingesetzten Amtsträgern oder Gremien festgesetzt werden. Üblicherweise wird man mit einem Zinssatz von 10% pro Jahr zu rechnen haben. 19 Die Strafklauseln, die in den entsprechenden Texten breiten Raum einnehmen, informieren dabei über Gefahren, die von den Stiftern bereits im Vorhinein erkannt wurden. Nachdem der Stifter der Stadt das Geld übergeben hatte, wurde dieses zumeist in einer eigenen „Unterkasse“ verbucht, also in die städtischen Finanzen eingegliedert. 20 Es konnte in weiterer Folge entweder von den regulär dafür zuständigen Amtsträgern betreut werden oder von einer Kommission, die eigens für die Stiftung einberufen wurde. Den ersten Weg wählte etwa Phaenia Aromation, eine reiche Wohltäterin der Stadt Gytheion in Lakonien, die 43 n.Chr. Öl für die Gymnasien finanzierte. 21 Die größte Sorge der Stifterin galt der anhaltenden Dankbarkeit der Stadt und ihrer Bürger für die Zuwendungen, daher erschließt sich die Administration der Stiftung nur aus verstreuten Hinweisen in den Strafklauseln. „Alle Treue und allen Eifer sollen die Amtsträger (archontes) und die Beiräte (synedroi) jedes Jahr einbringen, damit ununterbrochen die Gabe des Öls dem
19 Laum, Stiftungen I (wie Anm.1) 148–154; Migeotte, Fondation d’Attale II (wie Anm.18) 207 und Anm.12; Hans Kloft, Die Wirtschaft der griechisch-römischen Welt, Darmstadt 1992, 143–144; Hans Taeuber, Die Inschriften, in: Martin Steskal et al., Die Damianosstoa in Ephesos. Bericht über die Ausgrabung 2002 im Abschnitt Kathodos III, in: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Institutes in Wien 72, 2003, 267, geht von einem typischen Zinssatz von 12% in der Kaiserzeit aus. In der gleich zu besprechenden, späthellenistischen Stiftung des Aristomenes und der Psylla (unten bei Anm.25) beträgt der Zinssatz für Darlehen aus dem Stiftungskapital allerdings 24% (B Z.53–55). 20 Zu den Strafklauseln: Kaja Harter-Uibopuu, Bestandsklauseln und Abänderungsverbote. Der Schutz zweckgebundener Gelder in der späthellenistischen und kaiserzeitlichen Polis, in: Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte 28, 2013, 51-96. Siehe u.a. Graham P. Burton, The Roman Imperial State, Provincial Governors and the Public Finances of Provincial Cities 27 B.C. – A.D. 235, in: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte 53, 2004, 316–317. Vgl. IG XII 9, 236, Z.64–65 (Laum Nr.61, Eretria, ca. 100 v.Chr.). 21 IG V 1, 1208 (SEG 13, 258), Z.15–25: πᾶσάν τε πίστιν καὶ σπουδὴν [οἱ ἄρχον|τες καὶ οἱ σύ]νεδροι εἰσφέρωνται κατ’ ἔτος, ὅπως ἀΐδιο[ς ἡ τοῦ ἐ|λαίου δόσις τῶι] γυμνασίωι διαμίνῃ καὶ τῇ πόλει, μηδενὸ[ς τολμῶν|τος μήτε κατ’ ἰδία]ν μήτε δημοσίᾳ τῆς ἐμῆς χάριτος κατολ[ιγωρεῖν. | ἐὰν δὲ οἱ γινόμ]ενοι κατ’ ἔτος ἄρχοντες ἢ οἱ σύνεδροι ἢ ἡ πό[λις ὀ|20λιγωρήσωσιν] τῆς εἰς αἰῶνα τοῦ ἐλαίου χορηγίας ἢ μὴ κα[τὰ τὰ | γεγραμμένα ἐγ]δανείσωσι τὸ ἀργύριον ἢ μὴ ἀξιοχρέονας [ἐνγαί|ους ἐγγύας λάβωσ]ιν παρὰ τῶν τὸν ἐλαϊκὸν μελλόντων [τῶι δημο|[σίωι ἀποφέρε]ιν τόκον, ἵνα ἐκ παντὸς ᾖ τὸ ἄλειμμα [τῇ πόλει, | ἢ μὴ πολυπρα]μνήσωσι εἰς τὸ τὴν ἐμὴν τοῦ ἀργυρίου [δόσιν |25 ἀΐδιον μένει]ν, ... Laum Nr.9; vgl. ausführlich Kaja Harter-Uibopuu, The Trust Fund of Phaenia Aromation (IG V,1 1208) and Imperial Gytheion, in: Studia Humaniora Tartuenses 5, 2004 (http://www.ut.ee/klassik/sht/2004/harter-uibopuu1.pdf).
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Gymnasion und der Stadt verbleibe und niemand soll es wagen, weder privat noch öffentlich, meine Schenkung gering zu erachten. Wenn aber die jeweils jährlich ins Amt kommenden archontes oder synedroi oder die Stadt die ewige Bereitstellung des Öls verringern, oder nicht entsprechend den Aufzeichnungen das Kapital ausleihen, oder nicht wertentsprechende Sicherheiten einfordern von denjenigen, die den für das Öl bestimmten Zins dem Volk abliefern sollen, damit das Öl zur Gänze bereit stehe für die Stadt, oder nicht verbleiben innerhalb der Bestimmungen meiner Schenkung des Kapitals, [...]“
Die Amtsträger der Stadt waren verpflichtet, das Kapital gegen die Stellung von wertentsprechenden Sicherheiten, die sicherlich in Hypotheken bestanden, auszuleihen. 22 Sie wurden zwar persönlich nicht für etwaige Versäumnisse in der Verwaltung haftbar gemacht, die Stadt als Ganzes riskierte aber, das Stiftungskapital zu verlieren. 23 Man wird davon ausgehen müssen, dass die zuständigen Amtsträger (archontes) und Beiräte (synedroi) im Rahmen der regulären Rechenschaftsverfahren, die am Ende ihrer Amtszeit durchzuführen waren, auch in Stiftungsangelegenheiten belangt werden konnten. Der Beginn der Inschrift zeigt, dass die städtischen Amtsträger auch dafür zuständig waren, die Bereitstellung des Öls in den Gymnasien zu organisieren. So wie bei der Stiftung des Alkesippos war also die Verwaltung der Stiftung zur Gänze der Polis anheimgestellt, in diesem Fall aber mit detaillierten Vorschriften der Stifterin über den Ablauf der notwendigen Verfahren.
22
Zu den dinglichen Sicherheiten siehe nun vor allem Julie Velissaropoulos-Karakostas, Droit grec d’Al-
exandre à Auguste (323 av. J.-C. 14 ap. J.-C.) II. Personnes – Biens – Justice, Athen 2011, 142–189 mit zahlreichen Beispielen und weiterführender Literatur. Vgl. auch Laum, Stiftungen I (wie Anm.1), 171–177. Die Stellung von Hypotheken verlangen etwa folgende Stiftungen: IG XII 3, 329, Z.11–14 (Laum Nr.44, Thera, 2.Jh. v.Chr.); Syll.3 672, Z.23–27 (Laum Nr.28, Delphi, 160/59 v.Chr.); IG XII 9, 236, Z.19–20 (Laum Nr.61, Eretria, ca. 100 v.Chr.); IG XII 4,1 102, Z.9 (Laum Nr.47, Kos, ca. 190 v.Chr.). 23
Mit einem derartigen Verfall des Stiftungskapitals drohen auch L. Nassius und seine Erben in Chios
(IGR IV 1703, Z.6–8, 1.Jh. v.Chr.): ἐ̣ὰ̣ν δέ τις πράξῃ παρὰ τὰ πρὸ τοῦ διησφαλισμένα ἢ τὰ νῦν ἐγνωσμένα, ἔστω τὰ χρήματα [ταῦ|τα πάντα] τῶν Λευκίου κληρονόμων· ἐὰν δὲ μὴ πράξωνται οἱ κληρονόμοι, ἔστω τοῦ δήμο̣[υ | τοῦ Ῥω]μαίων, ... „Wenn aber jemand entgegen den früheren Beschlüssen oder den jetzt gefällten Beschlüssen handelt, soll alles Kapital den Erben des Lucius gehören. Wenn die Erben es nicht eintreiben, soll es dem populus Romanus gehören.“
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Kontrolle der Stiftungsverwaltung Dort, wo Kapital ausgeliehen werden sollte, bestand immer die Möglichkeit, dass dieses nicht zurückgezahlt wurde oder dass sogar bereits die Zinszahlungen unterblieben. Dagegen versuchte man sich zu schützen, indem man – neben den üblichen Vorschriften für die Darlehensnehmer – besonders strenge Regeln über die Sicherheiten, die diese zu stellen hatten, erließ. Andererseits wurden aber auch diejenigen in die Verantwortung genommen, die die Ausleihe vornahmen, etwa indem sie mit ihrem eigenen Kapital für die Eintreibung der Zins- und Kapitalrückzahlungen hafteten. Derartige Vorschriften finden sich in der Stiftung der beiden reichen Korkyreer Aristomenes und Psylla, die im 2.Jh. v.Chr. jeweils 60 Minen korinthischen Silbers zur Verfügung stellten, um aus dem Ertrag die Löhne für die Künstler, die an den Dionysia teilnehmen sollten, finanzieren zu können. 24 Wiederum wurden Kapitalanlage und Stiftungszweck von zwei verschiedenen Gremien durchgeführt, wobei die Anlage des Stiftungskapitals diesmal von einer neu einzusetzenden Kommission unternommen wurde, die Vergabe der Aufträge für die Dionysia andererseits vom städtischen Amtsträger für die Durchführung der Wettkämpfe (agonothetes). Gerade an dieser Stelle ist es interessant, den Unterschied zwischen dem Stiftungsversprechen und dem Stiftungsdekret zu beachten. Während Aristomenes und Psylla im Stiftungsversprechen lediglich die Wahl einer Kommission von drei Männern unter den finanzkräftigsten Bürgern der Stadt auf ein Jahr fordern und die Anlage des Kapitals, die Einforderung und die übrige Verwaltung dem Rat der Stadt anheimstellen, bietet das Stifungsdekret in 21 Zeilen Details zu den Voraussetzungen zur Durchführung des neuen Amts und zur Kapitalanlage. Z.42–47 enthalten die Regelungen zur Wahl der Verwalter des Grundstockvermögens: 25 24 Die Inschrift IG IX 12 4, 798 (Laum Nr. 1); Mannzmann, Stiftungsurkunden, wie Anm.6, 39–51) enthält sowohl den Vorschlag, den die beiden Stifter der Stadt unterbreiteten (Z.1–38), als auch das Dekret, mit dem die Stadt die Stiftung annahm (Z.39–146). Die folgenden Zitate aus dem Text entstammen alle dem in Verwaltungsfragen umfangreicheren und detaillierteren Dekret der Stadt. Vgl. Harter-Uibopuu, Money for the Polis (wie Anm.9), 131–134. 25 IG IX 12 4, 798, Z.42–49: . . . ἔδοξε τᾶι βουλᾶι, τὸ δοθὲν ἀργύριον παρὰ | Ἀριστομένεος καὶ Ψύλλας ἐκδανεῖσαι τοὺς αἱρεθέντας· ἑλέ|σθαι δὲ τὰν βουλὰν τοὺς χειριξοῦντας τὸ ἀργύριον ἄνδρας |45 τρεῖς εἰς ἐνιαυτὸν τοὺς δυνατωτάτους χρήμασι, καὶ πλει|ονάκις τοὺς αὐτοὺς διαλιπόντας ἔτη δύο, μὴ νεωτέρους | ἐτῶν τριάκοντα πέντε μηδὲ πρεσβυτέρους ἑυδομήκον|τα· αἱρεῖσθαι δὲ ἑκάστου ἐνιαυτοῦ μηνὸς Μαχανέος ἐμ βου|λᾶι ἢ ἁλίᾳ· Stiftungsversprechen: Z.8– 12: ἑλέσθω δὲ ἁ βουλὰ ἑκαστάκις εἰς ἐνιαυτὸν τοὺς ἐκδα|νισοῦντας τὸ ἀργύριον ἄνδρας τρεῖς
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„[...] beschloss der Rat: Das von Aristomenes und Psylla gestiftete Geld haben die gewählten (Männer) auszuleihen; der Rat hat zur Verwaltung des Geldes drei Männer unter den geldmächtigsten zu wählen jeweils für ein Jahr, und auch mehrmals dieselben mit Abstand von zwei Jahren, nicht jünger als fünfunddreißig Jahre und nicht älter als siebzig; er hat sie zu wählen jedes Jahr im Monat Machaneus in der Rats- oder Volksversammlung; [...]“
Die Wahl der Verwalter des Stiftungskapitals hatte in der Rats- und Volksversammlung jeweils im Monat Machaneus zu erfolgen, der allerdings im Jahresablauf nicht zu fixieren ist. Iteration war möglich, wenn ein Jahr Abstand zwischen den beiden Perioden der Amtsausübung bestand. Das Verbot, ein Amt durchgehend innezuhaben, entsprach dem Bedürfnis der Stifter und der Stadt nach Absicherung gegen unkontrollierte Machtausübung. Interessant sind die Altersgrenzen, die zusätzlich zu den geforderten Privatmitteln sicher stellen sollten, dass die Kandidaten über die notwendige Erfahrung verfügten und gegen Unterschlagung und Veruntreuung ebenso gefeit waren, wie gegen eventuelle Bestechungsversuche. 26 Auf diese Stelle folgen detaillierte Vorschriften, wie die Verwalter das Geld auszuleihen hatten, wobei auffällig ist, dass keine Hypotheken oder andere Sicherheiten für die Darlehensvergabe gefordert werden. Die Bedingungen des Darlehens liegen – abgesehen von der Höhe des Zinssatzes und den Zahlungsterminen – im Ermessen der Verwalter. Im Anschluss daran findet sich eine umfangreiche Strafklausel für die Verwalter: 27
τοὺς δυνατωτάτους |10 χρήμασιν· ἁ δὲ ἐκδάνεισις καὶ ἀνάπραξις τοῦ ἀργυρίου γι|νέσθω καὶ ἁ λοιπὰ διοίκησις, καθώς κα δοκῆι βουλᾶι κα|λῶς ἔχειν· „Der jeweilige Rat wähle für ein Jahr unter den geldmächtigsten drei Männer, die das Geld ausleihen. Die Ausleihe und die Eintreibung des Geldes und die übrige Verwaltung geschehe, wie es der Rat für gut befindet.“ (Übersetzung K. Hallof, pom. bbaw.de/ig/). 26 Laum, Stiftungen I (wie Anm.1) 177. Altersgrenzen finden sich unter anderem auch in der Stiftung des Eumenes II für die Versorgung Delphis mit Getreide und zur Durchführung von Ehren und Opfern, FD III 3, 239, Z.14, und derjenigen des Kritolaos in Aigiale auf Amorgos, IG XII 7, 515, Z.96–97. Vgl. aber auch das Gymnasiarchengesetz von Beroia, I.Beroia 1, Z.22–24, oder das Mysteriengesetz von Andania, IG V 1, 1390, Z.120–126. 27
IG IX 12 4, 798, Z.66–76: εἰ δὲ οἱ αἱρεθέντες ἐπὶ τὰν χείριξιν τοῦ ἀργυρί|ου μὴ ποιήσαιέν τι
τῶν γεγραμμένων, εἰ μὴ ἐκδα|νείσαιεν τὸ ἀργύριον καθὼς γέγραπται δυνατοὶ ἐόν|τες, ἀποτισάντω ἀργυρίου Κορινθίου μνᾶς τριάκοντα |70 καὶ τὸ κεφάλαιον ὅ κα παραλάβντι παραδόντω, εἰ δὲ | ή, διπλῆ ἀποτισάντω τὸ κεφάλαιον. περὶ δὲ τοῦ ἀδυ|νάτου βουλὰ καὶ ἁλία ἐπιγινωσκέτω. εἰ δὲ ἐγδανεί|σαντες μὴ ἀνπράξαιεν τὸ κεφάλαιον καὶ τὸν τόκον, | ἢ μὴ παραδοῖν {το} τοῖς αἱρεθεῖσι, καθὼς γέγραπται, |75 ἀποτισάντω τό τε κεφάλαιον καὶ τὸν τόκον διπλῆ, ὁπό|τερόν κα μὴ παραδντι. Übersetzung nach K. Hallof, pom.bbaw.de/ig/
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„Wenn aber die zur Verwaltung des Geldes gewählten (Männer) etwas von den Vorschriften nicht ausführen, wenn sie das Geld nicht wie vorgeschrieben ausleihen, obwohl möglich, sollen sie als Strafe dreißig Minen korinthischen (70) Silbers zahlen und das übernommene Kapital übergeben; wenn aber nicht, sollen sie als Strafe das Kapital doppelt zahlen; über (den Fall der) Unmöglichkeit sollen Rat und Volksversammlung befinden. Wenn sie nach der Ausleihe Kapital und Zins nicht eintreiben oder beides den gewählten (Männern) nicht wie vorgeschrieben übergeben, (75) sollen sie als Strafe das Kapital und den Zins doppelt zahlen, je nachdem, was von beidem sie nicht übergeben.“
Die strenge Strafklausel zeigt deutlich, warum der Rat von Korkyra den gewählten Verwaltern des Stiftungskapitals freie Hand bei der Wahl der Darlehensnehmer und der geeigneten Sicherheiten geben konnte: Sie selbst hafteten für jeden Ausfall der Zinsen oder der Kapitalrückerstattungen. Derartige Vorfälle wurden ihnen als ungenügende Durchführung ihrer Pflichten angelastet und mit strengen Strafen bedroht. Wenn es überhaupt nicht zu einer Ausleihe des Geldes gekommen war, mussten sie mit einer Strafzahlung von 30 Minen rechnen, dies war ein Viertel des gesamten Stiftungskapitals. In allen anderen Fällen mussten sie zumindest dasjenige Kapital und die Zinsen, die sie nicht erhalten hatten, in doppelter Höhe abliefern. So waren die für die Verwaltung des Geldes gewählten Männer (αἱρεθέντες ἐπὶ τὰν χείριξιν τοῦ ἀργυρίου) de facto selbst die Bürgen für die Zinszahlungen und damit das Anwachsen des Stiftungskapitals. 28 Dort, wo Stiftungen ohnehin von regulären städtischen Amtsträgern verwaltet wurden, durchliefen diese am Ende ihrer Amtszeit die obligatorischen Rechenschaftsverfahren, denen Gerichtsverfahren und strenge Strafen folgen konnten. Für die speziell eingesetzten Kommissionen – wie hier im Fall der Stiftung des Aristomenes und der Psylla – wurden die Rechenschafts28 Eine Einschränkung der Haftung bedeutet allerdings die Klausel δυνατοὶ ἐόντες „wenn sie dazu in der Lage sind“ in Z.68/9, die in Z.71/2 durch die Erklärung näher definiert wird, dass über die „Möglichkeit“ die Boule und die halia (die Volksversammlung) zu entscheiden haben. Dies zeigt, dass sich die Verwalter bei ihrer Rechenschaftsablage vor der Boule und der halia mit äußeren, von ihnen nicht beeinflussbaren Umständen, zu rechtfertigen versucht haben könnten. Z.132 derselben Inschrift nennt als anrechenbaren Grund für die Unmöglichkeit, Künstler für die Dionysia zu engagieren, etwa Krieg. IG V 2, 6 (Bauvergabeordnung von Tegea, 350 v.Chr.), Z.6–15 beschäftigt sich ebenfalls mit den Folgen des Krieges, diesmal auf die Vergabe von Bauaufträgen und die notwendigen Durchführungen von Arbeiten, beim Bau des Tempels der Athena Alea. Auch IG XII 9, 207, Z.65–71 (Eretria, 3.Jh. v.Chr.) spricht von einer Prüfung der Umstände, die dionysische Techniten an der Erfüllung ihrer Aufträge gehindert hatten. Siehe dazu Mannzmann, Stiftungsurkunden (wie Anm.6), 66 und Harter-Uibopuu, Money for the Polis (wie Anm.9), 132.
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ablagen, die meist mit der Übergabe des Kapitals an die nächste Kommission verbunden waren, entweder neu geregelt oder den üblichen Verfahrensabläufen unterstellt. Z.97–105 des vorliegenden Stiftungsdekrets erläutern dies: 29 „Abrechnung geben auch die jeweiligen Verwalter des Geldes vor dem Rat im Monat Artemitios, die übernehmenden und die übergebenden, wie sie jegliches übernommen und übergeben haben. Wenn aber etwas von diesen Vorschriften die Verwalter des Geldes oder die Magistrate nicht ausführen, zahlt der Schuldige als Strafe dreißig Minen korinthischen Silbers und doppelt, was er Schadens tat; wenn aber der Festspielleiter oder die Verwalter des Geldes etwas nicht korrekt abrechneten, sollen die Gesetzeswächter es überprüfen ebenso wie die anderen sakralen und öffentlichen Gelder.“
Die Regelung zeigt, dass die Verwalter des Kapitals der Boule jeweils zwei Berichte vorzulegen hatten, einen zu Beginn ihrer Amtszeit und einen am Ende derselben. Die Strafklausel bestimmt wiederum eine Zahlung von 30 Minen sowie des Doppelten des angerichteten Schadens. Auffällig ist ein Unterschied zu den Regelungen, die Phaenia Aromation für ihre Stiftung in Gytheion vorgeschlagen hatte: Die Stadt war nicht mit dem Verlust des Stiftungskapitals bedroht, lediglich die Verwalter wurden in jedem Fall für ihre Unterlassungen und Vergehen verantwortlich gemacht und mit hohen Geldstrafen belegt. 30 Die bewusste Einbindung der Stiftung in die reguläre städtische Finanzverwaltung zeigt der Einsatz der Gesetzeswächter (nomophylakes), die ansonsten in Korkyra nicht belegt sind. 31 Die Inschrift belegt, dass dieses Gremium normalerweise für jede Kontrolle von Tempel- und Stadtvermögen (hiera und demosia chremata) zuständig war. Der Verweis ist nicht nur im materiell-rechtlichen Sinn zu verstehen, sondern auch im verfahrensrechtlichen Sinn. Er enthielt – für uns nicht mehr zu rekonstruieren, aber für die Korkyreer verständlich und nach29
IG IX 12 4, 798, Z.97–105: ἀπολογιξάσθωσαν δὲ καὶ οἱ χειρίζοντες τὸ ἀργύριον ἑκα|στάκις εἰς
βουλὰν μηνὸς Ἀρτεμιτίου, οἵ τε παραλαβόντες | καὶ οἱ παρα{δι}δόντες, καθώς κα ἕκαστα παραλάβντι καὶ πα|100ραδντι. ἰ δὲ μὴ ποιήσαιέν τι τῶν γεγραμμένων οἵ τε χει|ρίζοντες τὸ ἀργύριον ἢ οἱ ἄρχοντες, ἀποτισάτω ὁ αἴτιος ἀρ|γυρίου Κορινθίου μνᾶς τριάκοντα καὶ ὅ καταβλάψηι διπλῆ· εἰ | δέ τί κα ὁ ἀγωνοθέτας ἢ οἱ χειρίζοντες τὸ ἀργύριον μὴ ὀρθῶς | ἀπολογίξωνται, νομοφύλακες ἐκλογιζούσθω καθὼς καὶ τὰ ἄλ|105 λα τὰ ἱερὰ καὶ δημόσια χρήματα· Siehe auch Pierre Fröhlich, Les cités grecques et le contrôle des magistrats. (École pratique des hautes études 4.3 Haute études du monde gréco-romain 33) Genf 2004, 401. 30
Entgegengesetzter Meinung sind Mannzmann, Stiftungsurkunden (wie Anm.6), 67 und Laum, Stiftun-
gen I (wie Anm.1) 206–207. 31
Fröhlich, Contrôle (wie Anm.29) 241–243 vergleicht die nomophylakes dieser Inschrift mit anderen Gre-
mien dieser Art in hellenistischer Zeit.
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vollziehbar – alle notwendigen Hinweise auf die zuständigen städtischen Gremien, das Verfahren und die ausstehenden Strafen. In gleicher Weise war die Rechenschaftsablage für diejenigen epimeletai (Aufseher) geregelt, die die Agenden der Stiftung Attalos II. in Delphi verwalten. Diese wurden den städtischen Amtsträgern in verschiedenen Belangen gleichgestellt (Z.38–44 und 47–49): 32 „Die eingesetzten epimeletai sollen schwören wie die übrigen Beamten und sollen vor dem 15. Endyspoitropios die Zinsen des Geldes einziehen. Das Geld für die Lehrer sollen sie im Monat Herakleios im Tempel niederlegen und im folgenden Jahr sollen sie die Lehrer monatlich besolden, und sie sollen der Stadt Rechenschaft ablegen. Wenn sie aber nicht so handeln, wie festgelegt [...] wenn nicht, dann sollen die mastroi gemäß dem Gesetz über die mastroi ein Verfahren gegen sie einbringen wegen Diebstahls (heiliger Gelder).“
Auch sie hatten also – wie andere Amtsträger – zu Beginn ihrer Amtszeit einen Eid zu schwören und am Ende der Amtszeit der zuständigen Kontrollbehörde, den mastroi, Rechenschaft abzulegen. 33 Diese sind in Delphi lediglich in der Stiftung des Attalos II. sowie in der ihr verwandten Stiftung des Eumenes II. belegt, die ebenso deutlich die Gleichstellung der neuen epimeletai mit städtischen Amtsträgern zeigt. 34 32 Syll.3 672, Z.38–44 und Z.47–49: οἱ δὲ κα[τα]|σταθέντες ἐπιμεληταὶ ὀμνυόντω καθὼς καὶ τὰ λοιπὰ ἀρχεῖα, καὶ ἐκπράξαντες |40 τοῦ ἀργυρίου τοὺς τόκους ἐμ μηνὶ Ἐνδυσποιτροπίωι πρὸ τᾶς πεντεκαιδεκάτας τὸ μὲν εἰς τοὺς παιδευτὰς γινόμενον ἀργύριον καταθέντω ἐν τὸν ναὸν ἐν τῶι | Ἡρακλείωι μηνί, καὶ ἐν τὸν ἐπεχεῖ ἐνιαυτὸν μισθοδοτεόντω τοὺς παιδευτὰς κατὰ | {κατὰ} μῆνα, καὶ λόγον ἀποδιδόντω τᾶι πόλει. εἰ δὲ μὴ ποιήσοντι καθὼς γέγρα̣|[πται, ... |47 εἰ δὲ μή, οἱ μαστροὶ ἱ[ερῶν] | [δίκαν ἐναγ]όντω κατ’ αὐτῶν κλοπᾶς κατὰ τὸμ μ[αστρι|κὸν νόμ]ον· Die Ergänzung in Z.48 folgt Migeotte, Fondation d’Attale II (wie Anm.18) 212 mit Anm.26 und vor ihm Adolf Wilhelm, Zu den Beschlüssen der Delpher über die Schenkungen der Attaliden, in: Werner Peek (Hrsg.), Adolf Wilhelm, Akademieschriften zur griechischen Inschriftenkunde III, Leipzig 1974, 448–449. Hierin ist ein Hinweis auf die Tätigkeit der mastroi als Gerichtsmagistrate zu sehen, deren Aufgabe nicht die Entscheidung in einem Verfahren war, sondern die Einbringung des Verfahrens vor die zuständigen – uns aber unbekannten – Gremien. 33 Fröhlich legt überzeugend dar, dass die mastroi nicht nur am Ende der Amtszeit der von ihnen kontrollierten Funktionäre, sondern auch während des Jahres tätig werden konnten, und für die Einhaltung der Bestimmungen zu den heiligen und öffentlichen Geldern zuständig waren. Die Aufgabe der mastroi in Delphi ist unter anderem im Rahmen des Abänderungsverbotes, das die Bestimmungen des Stiftungsdekrets sichern sollte, genauer beschrieben (Z.13–19). Fröhlich, Contrôle (wie Anm.29) 183–185 zur Situation in Delphi und 185–192 zu vergleichbaren Institutionen in anderen griechischen Städten. Zu den Abänderungsverboten siehe unten bei Anm.46. 34 FD III 3, 328, Z.1–5: καταστα[θ]έντες ὀ[μνυόντω κ]αθ[ὼ]ς [καὶ τὰ] ἄλλα ἀρχεῖα καὶ ἐκπρ[ά]ξαντες τοῦ ἀργυρίο[υ | τοὺς τόκ]ους συντελείντω τὰν θ[υσίαν καὶ τὰς] τιμὰς καὶ τὰν δαμοθ-
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„Die Eingesetzten sollen in gleicher Weise schwören, wie auch die übrigen Behörden. Sie treiben die Zinsen des Stiftungskapitals ein und führen das Opfer, die Ehrungen und die Volksbewirtung am 11. Herakleios so schön als möglich durch. Rechenschaft legen sie vor den mastroi in eben diesem Monat ab und sie sind auf dieselbe Art und Weise verantwortlich, wie die übrigen Verwalter von heiligen und öffentlichen (Geldern). Sie unterliegen denselben Strafen gemäß dem Gesetz über die mastroi.“
Für die Technik der Rechtsfolgenverweise und Querverweise, die so charakteristisch für das Prozessrecht der hellenistischen und kaiserzeitlichen Polis ist, sind Texte zu den Stiftungen gerade wegen der Schaffung neuer Rechtssätze von höchstem Wert. In diesen Situationen zeigt sich, wie neu geschaffene Gremien einerseits mit besonderen Aufgaben ausgestattet und in ihren Kompetenzen genau auf die Anforderungen der Stiftungsverwaltung ausgerichtet, andererseits aber in das bestehende städtische Rechtssystem eingepasst wurden. Zumeist waren die Rechenschaftsablage und die drohenden Strafen dem bereits geltenden Recht angeglichen, während die Wahl, die Aufgabenbeschreibung und die Durchführungsvorschriften den Erfordernissen der Stiftungsverwaltung angemessen neu gestaltet waren. 35 Es gibt einige Stiftungen, bei denen deutlich wird, dass der Stifter wesentlich mehr an Vorgaben zur Durchführung des Stiftungszwecks interessiert war als an der Verwaltung des Kapitals. In diesen Texten finden sich dann die eingangs erwähnten detailreichen Angaben zu Festen, Banketten und Wettkämpfen sowie Ehrungen, Geldverteilungen und ähnlichen Veranstaltungen. Eines der prominentesten Beispiele dazu ist die Stiftung des Kritolaos aus Aigiale auf Amorgos. Der Text stammt aus dem 2.Jh. v.Chr. und ist immerhin über 130 Zeilen lang. Er enthält somit eine der umfangreichsten Regelungen, die wir zu Stiftungen aus dem Hellenismus kennen. Der Anlass für die Stiftung war der Tod des jungen Athleten Aleximachos. Sein Vater Kritolaos, der unbestreitbar zur reichen Elite seiner Vaterstadt gehört haben muss, betreibt die Heroisierung seines Sohnes und lässt ein Fest (demothoinia) sowie einen Agon einrichten. Dieser knüpft an die reiche Tradition der Leichenspiele, beginnend mit den homerischen für Patroklos, an. Der Stifter legte dabei die Verantwortung für den egdaneismos in die Hände der regulären städtischen Finanzverwaltung, wobei er οινίαν ἐν τῶι Ἡρακλείωι μηνὶ τᾶ[ι | δωδεκ]άται ὡς κάλλιστα καὶ λόγον ἀ[ποδιδόντ]ω τοῖς μαστροῖς ἐν τῶι αὐτῶι μηνὶ ὑπεύθυνοι ὄντες, | [ὥσ]περ καὶ οἱ τὰ ἄλλα ποθίερα καὶ δαμ[ό]σια [χε]ιρίζοντες, καὶ ἐν τοῖς αὐτοῖς ἐπιτιμίοις ἔνοχοι ἔστ[ω|5 σαν κατὰ τὸμ μαστρικὸν νόμον· 35 Auf die Flexibilität der Städte verweist Sitta von Reden in diesem Band.
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selbst an der Auswahl der Darlehensnehmer beteiligt sein wollte (Z.8–11). Auch die Eintreibung der Zinsen war Aufgabe der boule (Rat) gemeinsam mit dem archon und einem ansonsten für Aigiale unbekannten Gremium, den logistai. 36 Die Verwaltung des Stiftungszwecks schien ihm aber weitergehende Maßnahmen notwendig werden zu lassen. Zwei epimeletai (Verwalter) sollten zunächst gewählt und in weiterer Folge bestimmt werden, wobei sie ein Mindestalter von 30 Jahren haben mussten (Z.39–42): 37 „Damit die Volksbewirtung im Jahr nach dem archon [...], S.d. Ariston, ausgeführt werde, sollen diejenigen, die im Apatourion Vorsitzende der Versammlung sind (prytaneis), zwei Verwalter (epimeletai) aus allen Aigialeiern wählen, nicht jünger als 30 Jahre.“
Gemeinsam mit dem gymnasiarchos (Vorsteher des Gymnasions) war es ihre Aufgabe, das Bankett und den Wettkampf auszurichten und durchzuführen, für die jeweils detaillierte Angaben bis hin zu den Blumenarrangements vorhanden sind (Z.42–74 und 74–86). Hervorzuheben sind Z.51–53, in denen die epimeletai gemeinsam mit dem gymnasiarchos der Stadt dazu aufgefordert werden, eigene finanzielle Mittel beizusteuern, wenn die Einkünfte aus der Stiftung für eine entsprechende Durchführung des Festes nicht ausreichen. Diese Vorschrift zeigt deutlich den liturgischen Charakter des durch die Stiftung neu eingerichteten Amts. Auch die Tatsache, dass die Verwalter keine „andere Liturgie“ innehaben dürfen, weist in dieselbe 36 Da die logistai in Aigiale nur in der vorliegenden Inschrift erwähnt sind, und ihnen in dieser keine Funktion im Rahmen der normalen Rechenschaftsablage der städtischen Amtsträger nachgewiesen werden kann, möchte Fröhlich ihnen nicht automatisch die Befugnisse anderer logistai zuweisen, Contrôle (wie Anm.29) 84–85. 37 IG XII 7, 515, Z.39–42: ὅπως δὲ [κ]αὶ ἡ [δημοθ]οινία ἐπιτελε|40σ]θεῖ τὸν {ἐν} ἐνιαυτὸν τὸν μετὰ ἄρχοντ̣α η̣ν̣ τ̣ὸ̣ν̣ Ἀ̣ρ̣ί̣σ̣τ̣ωνος, το̣[ὺς | π]ρυτανεύοντας τὸμ̣ μῆνα τὸν Ἀπατουρ̣ι̣ῶ̣[να ἑλέ]σ[θαι] ἐπιμελητὰς δύο ἐξ ἁ[π]άντων [Α]ἰγιαλέων μ̣ὴ̣ νε̣ω̣τέρ̣ους ἐ̣τῶν τ̣ρ̣ι̣[άκο]ν̣τα. Laum Nr.50. Vgl. HarterUibopuu, Money for the Polis (wie Anm.9) 126–130. Siehe zur Tradition des Agons vor allem Andreas Helmis, Entre les vivants et les morts. La fondation à la mémoire d'Aleximachos fils de Critolaos, in: Gerhard Thür/ Francisco J. Fernández Nieto (Hrsg.), Symposion 1999. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte, Köln 2003, 463–480. Nicht nur die Verwaltung des Stiftungszwecks, sondern auch die Anlage des Kapitals ist in diesem Fall von besonderem Interesse. Die 2000 Drachmen, die Kritolaos der Stadt übergeben hatte, sollten in Tranchen von bis zu 200 Drachmen ausgeliehen werden, gegen die Stellung von Hypotheken im Wert von zumindest 2000 Drachmen pro Tranche (Z.8–19) und unter der Bedingung, dass eine Rückzahlung des ausgeliehenen Kapitals zu keinem Zeitpunkt erfolgen durfte (Z.21–22). Kritolaos war es gelungen, der Stadt dauerhaft neue Einkünfte in der Höhe von 200 Drachmen pro Jahr zu verschaffen, die durch Grundstücke gesichert waren, und ausschließlich für das von ihm ins Leben gerufene Fest verwendet werden durften.
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Richtung (Z.97). Die Vorschriften zur Rechenschaftsablage enthalten einen ausführlichen Eid, in dem die epimeletai ihre korrekte Amtsführungsowie Regelungen zur Wahl ihrer Nachfolger und deren Registrierung bestätigen. 38 „Bevor der Wettkampf durchgeführt wird, sollen die Verwalter Rechnung legen über den Aufwand, wobei sie (sie) auf Tafeln für die Prytanen und den gymnasiarchos aufschreiben. Diese sollen (sie) ausstellen zur Einsicht für jeden, der dies möchte. Die Verwalter sollen folgenden Eid schwören: ‚Wir schwören bei Zeus, Poseidon und Demeter: Wir haben alles vorgesehene Geld für die Volksbewirtung und den agon aufgewandt, abzüglich des Preises für neun Metreten Wein. Wir haben nichts für uns entwendet, und wir werden als Verwalter aus den Wohltätern und denjenigen, die keine öffentliche Verpflichtung (leitourgia) innehaben, den Vermögendsten einsetzen, damit er unter großem Aufwand das Amt ausführe. Dem wahr Schwörenden soll es wohl ergehen, dem Meineidigen (drohe) das Gegenteil.‘ Wenn sie geschworen haben, wählen die Verwalter (neue) Verwalter, die nicht jünger als 30 Jahre sind und keine andere städtische Verpflichtung innehaben. Die Ausgewählten sollen die Verwaltung gemäß den Vorschriften in der Satzung durchführen und, nachdem sie das angefallene Kapital in der Ratsversammlung übernehmen, aufgeschrieben werden. Die ausgewählten (Verwalter) trägt der Schreiber (in die Listen) ein.“
Deutlich wird die Hauptsorge des Stifters und der Stadtverwaltung in dem Eid der Amtsträger angesprochen: Alle Gelder, die für die Volksbewirtung und den Wettkampf vorgesehen waren, wurden auch wirklich darauf verwandt, die epimeletai bestätigen zudem, dass sie nichts entwendet und keine Unterschlagungen begangen haben. Auch die vorhin angesprochene Verpflichtung jedes einzelnen Verwalters, eventuell eigene Gelder aufzuwenden, wird in dem Eid erwähnt, indem versichert
38
IG XII 7, 515, Z.87–100: πρὸ τοῦ δὲ τὸν ἀγῶνα συντεθῆναι, οἱ ἐπιμεληταὶ λόγον ἀποδότ-
ωσαν | [τ]ῆ̣ς δαπάνης, γράψαντες εἰς σανίδας τοῖς τε πρυτάνεσι καὶ τῷ γυμ|νασιάρχωι, οἱ δὲ ἐκτιθέτωσαν σκοπεῖν τῶι βουλομένωι, καὶ ὀμοσά|90[τ]ωσαν οἱ ἐπιμεληταὶ τόνδε τὸν ὅρκον· "ὀμνύομεν Δία Ποσειδῶ Δήμητρα· | ἐδαπανήσαμεν τὸ ἀργύριον πᾶν τὸ ἀπ[ο]τεταγμέ[ν]ον [ε]ἴς τ[ε] τὴν δημο|[θο]ινίαν καὶ τὸν ἀγῶνα ἀφειρημένης τιμῆς οἴνου [με]τρητῶν ἐννέα, καὶ | [ο]ὐ νοσφισόμεθα οὐθέν, καὶ καταστήσομ[εν] ἐπιμελητὴν τῶν {ἐν τοῖς} ε[ὐ]ερ̣|[γε]τῶν καὶ ἀλειτουργήτων τὸν εὐπορώτατον, ὅπω[ς ἂν κ]αὶ κράτιστα λει|95[το]υργήσηι̣. εὐορκοῦντι μὲν εὖ εἶναι, ἐπιορκοῦντι δὲ τ̣ἀ̣ναντία"· ὅταν δὲ ὀμό|[σω]σι[ν], ἑλέσθωσαν οἱ ἐπιμεληταὶ ἐπιμελ[η]τὰ[ς] μεὶ νε[ωτ]έ[ρου]ς ἐτῶν τριακό[ν|τα] καὶ μὴ ἔχοντας ἄλλην λειτουργίαν πολιτικήν· οἱ δ[ὲ] ἁιρεθέντες διοι|[κε]ίτωσαν κατὰ τὰ προγεγραμμέν[α] ἐν τῷ νόμω[ι καὶ π]αραλαμβάνοντε[ς|τὸ] ἀργύριον τὸ πῖπτον ἐν τεῖ βουλεῖ ἀναγρ[α]φέσ̣θ̣ωσαν· τοὺς δὲ αἱρεθέν|100[τ]ας ὁ γραμματεὺς ἀναγραψάτω.
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wird, denjenigen einzusetzen, der das Amt „unter großem Aufwand“ ausführen würde. Die Einbindung des neuen Amtes in das städtische Rechtssystem, die für die delphischen Stiftungen detailliert erläutert wurde, findet sich auch in Aigiale. Z.81–83 enthalten die Vorschriften für die Ausrufung der Wettkämpfe und die Festsetzung der Wettkampfpreise, die gemeinsam mit dem Vorsteher des Gymnasions gemäß dem Gesetz über seine Kompetenzen zu geschehen hatte. 39
Schutz der Stiftung vor Missbrauch Auf die einzelnen Kontrollen, Strafmöglichkeiten und Gerichtsverfahren, die in den Stiftungsdekreten vorgeschrieben sind, detailliert einzugehen, ist im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht möglich. Dennoch sei auf zwei wichtige Punkte kurz hingewiesen. Zur Beobachtung der Einhaltung der Regeln einer Stiftung war – wie in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Rechts auch – die gesamte Bevölkerung aufgerufen. Anzeigen und Klagen konnten zumeist vom Popularkläger, gr. ὁ βουλόμενος, also „jedem, der dies will“, eingebracht werden. 40 Ein typisches Beispiel dafür ist die bereits oben zitierte Stiftung der Phaenia Aromation aus Gytheion. 41
Nach der detaillierten Beschreibung des Tatbestandes (Z.17–25) werden die
39 Z.82/83: κατὰ τὸν γuμνασιαρχικὸν νόμον. Vgl. zu den Pflichten eines gymnasiarchos I.Beroia 1, das Gymnasiarchengesetz mit dem umfangreichen Kommentar Philippe Gauthier/Miltiades Hatzopoulos, La loi gymnasiarchique de Beroia. Athen 1993. 40 Der Schutz von Stiftungen wird ausführlich in Harter-Uibopuu, Bestandsklauseln und Abänderungsverbote (wie Anm. 20), 66–85, behandelt. Vgl. etwa: IG XII 5, 595, Z.14–19 (Laum Nr.59, Ioulis, Keos, 3./2.Jh. v.Chr.), der Popularkläger wird im Rahmen der Kontrolle der Amtsträger tätig; IG XII 9, 236 mit Suppl. 533, Z.56–60 (Laum Nr.61, Eretria, ca. 100 v.Chr.), der Popularkläger überwacht die Einhaltung des Abänderungsverbotes; IG IX 12 4, 798, Z.118–119 (Laum Nr.1, Korkyra, 2.Jh. v.Chr., Stiftung des Aristomenes und der Psylla), der Popularkläger überwacht die Einhaltung des Abänderungsverbotes, wenn die zuständigen Amtsträger nicht schnell genug reagieren; IG XII 4,1,100, Z.26–29 (Kos, Anf. 2.Jh. v.Chr.), der Popularkläger überwacht die Sicherheit des Stiftungskapitals; I.Lampsakos 9, Z.32–34 (Laum Nr.66, Lampsakos, 2.Jh. v.Chr.), der Popularkläger überwacht wohl den korrekten Ablauf der Opfer; I.Ephesos 3214 (SEG 33, 946, Ende 1.Jh. n.Chr.), der Popularkläger überwacht die notwendige praxis der archontes nach dem Verstoß gegen ein Abänderungsverbot. Allgemein zur Popularklage Lene Rubinstein, Volunteer Prosecutors in the Greek World, in: Dike. Rivista di storia del diritto greco ed ellenistico 6, 2003, 87–113. Die Autorin befasst sich mit den Verhältnissen in der griechischen Poliswelt außerhalb Athens, die von ihr zusammen gestellten Belege stammen größtenteils aus Vorschriften aus dem öffentlichen Recht. 41 Vgl. oben bei Anm.22.
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Rechtsfolgen angeführt. Z.25–26 betreffen die Einleitung des Verfahrens, das im Falle eines Schuldspruches zum Verlust des Stiftungskapitals führt: 42„[...] soll jedem der es will, von den Griechen oder Römern, freistehen, die Geringschätzung der Stadt anzuklagen beim Volk der [...]“. Eine der ausführlichsten Beschreibungen des Einsatzes eines Popularklägers zum Schutz einer Stiftung stammt aus dem Dekret der Stadt Teos über die Stiftung des Polythrous, Sohn des Onesimos, der für die Finanzierung des Schulunterrichtes sorgte. Z.48–59 sehen vor: 43 „Wer aber in Wort oder Tat etwas diesem Gesetz Entgegenstehendes unternommen oder etwas unterlassen hat, was in diesem Gesetz vorgeschrieben ist, der soll untergehen, er selbst und seine Familie. Er soll Tempelräuber sein und an ihm soll alles vollzogen werden, was in den Gesetzen über Tempelraub geschrieben ist. Schulden soll ferner der Stadt jeder von denen, die diesem Gesetz zuwidergehandelt haben hinsichtlich des Geldes oder das Vorgeschriebene unterlassen haben, 10000 Drachmen. Klage anstrengen soll gegen ihn, wer will, in privatem wie öffentlichem Verfahren, sowohl nach dem monatlichen Finanzbericht, wie auch zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Keines dieser Verfahren darf auf Grund von Fristversäumnis oder auf sonst eine Weise hinfällig gemacht werden. Wer verurteilt wird, hat das Doppelte zu zahlen; die Hälfte der Strafsumme fällt an die Stadt, geweiht dem Hermes, dem Herakles und den Musen, und ist zuzuweisen dem oben genannten Titel, die andere Hälfte soll dem gehören, der ihn überführt hat.“
42
IG V 1, 1208, Z.25–26: ... ἐξέστω] τῷ βουλομένῳ καὶ Ἑλλήνων καὶ Ῥωμαίω[ν̣ κα|τηγορῆσαι
ὀλι]γωρίας τῆς πόλεως ἐπὶ τοῦ δήμου [τῶν . . . .] Leider ist der zuständige Richter, der über die Missachtung der Gytheaten und damit den Verbleib des Kapitals entschied, nicht erhalten. Während Wilhelm und Kolbe vermuteten, dass die Anzeige bei den Lakedaimoniern eingebracht werden musste, habe ich in Phaenia Aromation (wie Anm.22) bei Anm.37 argumentiert, dass der Rat von Gytheion das zuständige Gericht gewesen sein muss. 43
Syll.3 578, Z.48–59: ὁ δὲ εἴ]πας ἢ [πρή|ξ]ας τι παρὰ τόνδε τὸν νόμον ἢ μὴ ποιήσας τι τῶν
προστεταγμένων ἐν τῶι |50 νόμωι τῶιδε ἐξώλης εἴηι καὐτὸς καὶ γένος τὸ ἐκείνου καὶ ἔστω ἱερόσυλος, καὶ συν|τελείσθω πάντα κατ’ αὐτοῦ ἅπερ ἐν τοῖς νόμοις τοῖς περὶ ἱεροσύλου γεγραμμ[ένα ἐστί, | ὀφειλέτω δὲ καὶ τῆι πόλει ἕκαστος τῶν πρηξάντων τι παρὰ τόνδε τὸν νόμον | περὶ τοῦ ἀργυρίου τούτου ἢ μὴ ποιούντων τὰ προστεταγμένα δραχμὰς μυρί[ας,] | δικασάσθω δὲ αὐτῶι ὁ βουλόμενος καὶ ἐν ἰδίαις δίκαις καὶ ἐν δημοσίαις καὶ μετὰ |55 τοῦ λόγου τοῦ ἐπιμηνίου τὴν ἀπήγησιν καὶ ἐγ καιρῶι ὧι ἂν βούληται, προθεσμίαι | δὲ μηδὲ ἄλλωι τρόπωι μηθενὶ ἐξέστω τῶν δικῶν τούτων μηδεμίαν ἐγβαλεῖν, | ὁ δὲ ἁλισκόμενος ἐκτινέτω διπλάσιον καὶ τὸ μὲν ἥμισυ ἔστω τῆς πόλεως, ἱερὸν | Ἑρμοῦ καὶ Ἡρακλέους καὶ Μουσῶν, καὶ καταχωριζέσθω εἰς τὸν λόγον τὸν προγε|γραμμένον, τὸ δὲ ἥμισυ τοῦ καταλαβόντος ἔστω, ... Laum Nr.90, Teos, 3.Jh. v.Chr., zur Schulorganisation siehe Erich Ziebarth, Aus dem griechischen Schulwesen. Leipzig 1909, 54–59.
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In einer Generalklausel wird der Inhalt des Dekrets unter Schutz gestellt. Jeder, der aktiv oder aber durch Unterlassung entgegen die Vorschriften handelte, unterlag verschiedenen Strafen. Ein Fluch wurde über ihn und seine Familie ausgesprochen, wobei in Z.60–64 ausgeführt ist, dass die Verfluchung von den städtischen Amtsträgern, den timouchoi, im Rahmen der regelmäßigen öffentlichen Verfluchung durchgeführt werden sollte. Die Tat wurde als Tempelraub (hierosylia) qualifiziert und wie diese verfolgt und geahndet und zusätzlich wurde eine Geldstrafe von 10000 Drachmen fällig, deren Hälfte dem boulomenos zustand, wenn er vor Gericht obsiegte. Auch am Ende des erhaltenen Teils der Inschrift ist noch einmal von einer Popularklage die Rede, wenn den zuständigen Kassenbeamten, den tamiai, die das Stiftungskapital verwalten sollten und es entweder nicht ausliehen oder die Gehälter nicht überwiesen, eine Strafe von 2000 Drachmen angedroht wird (Z.65–68). Wiederum scheint der Popularkläger die Hälfte der Strafsumme zu erhalten. Nicht nur die hier vorgestellten Texte aus Stiftungen legen nahe, dass es dem Popularkläger oblag, die Verfahren als Kläger auch wirklich durchzuführen und nicht nur Anzeige zu erheben. 44 Interessant ist, dass in den Stiftungsdekreten niemals auswärtige Gerichte oder fremde Richter eingesetzt werden, die über Streitfragen aus Stiftungen entscheiden sollten. Die Parteien, also der boulomenos und die Amtsträger, die die Stiftung verwalteten, oder die Amtsträger und eventuelle Darlehensnehmer in Streitigkeiten über nicht eingegangene Zinsen, standen einander also vor den städtischen Gerichten gegenüber. Wenn die Stadt auch eigentlich Nutznießer der Stiftung war, und man ihr eine gewisse Voreingenommenheit in Verfahren gegen ihre eigenen Amtsträger vorhalten könnte, wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit doch als so effizient angesehen, dass sie regelmäßig eingesetzt wurde. Neben der schlechten Verwaltung des Stiftungskapitals oder der ungenügenden Ausführung des Stiftungszwecks gab es noch eine weitere Gefahr, derer sich die Stifter und die Stiftungsträger sehr bewusst waren. Grundsätzlich konnte jeder städtische Beschluss durch einen anderen Beschluss abgeändert oder außer Kraft gesetzt werden. Dagegen halfen entweder Bestandsklauseln, die die Dauer des Beschlusses „auf alle Zeiten“ festsetzten, oder Klauseln, die eine Abänderung des Beschlusses un-
44 Rubinstein, Volunteer Prosecutors (wie Anm.38), 104–107 zu den termini, mit denen die Aufgaben des Popularklägers beschrieben werden.
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ter Strafandrohung verboten. 45 Als ausführliches Beispiel für ein derartiges Verbot sei noch einmal eine Stelle aus der Schulstiftung des Polythrous aus Teos zitiert (Z.40–48): 46 „Weder die tamiai, die jetzt im Amt sind, noch die, die es jeweils werden, dürfen dieses Kapital entgegen der Vorschriften übergeben. Auch kein anderer Amtsträger oder Privatmann darf einen Antrag stellen, etwas tun, vorschlagen, zur Abstimmung stellen oder ein Gesetz einbringen, das diesem entgegensteht, oder dieses Gesetz auf irgendeine Art und Weise aufheben oder unter irgendeinem Vorwand, wonach es notwendig sei, das Stiftungskapital anzugreifen oder die Zinsen darauf nicht dafür zu verwenden, wofür das Gesetz es vorsieht, oder auf irgendeine andere Art zu veruntreuen und nicht zu dem (zu verwenden), wofür in dem Gesetz Vorkehrungen getroffen sind. Das Ausgeführte soll ungültig sein und die tamiai, die nach diesen (Vorfällen) folgen, sollen in den gesetzmäßigen Etat die gleiche Menge an Geldern aus den städtischen Einkünften wieder einbringen. Alles Übrige sollen sie gemäß diesem Gesetz ausführen, ...]“
In für Abänderungsverbote typischer Weise werden zunächst alle möglichen Personengruppen von dem Verbot erfasst, die tätig werden konnten: Weder Amtsträgern noch Privatpersonen war es erlaubt, gegen die Stiftungsbestimmungen vorzugehen. Gerade Ersteren sollte es verboten sein, unter irgendeinem Vorwand die Bestimmungen aufgrund ihrer Amtsgewalt umgehen zu können. 47 Interessant ist auch die Erweiterung dieser „Amtsträger–Privatmann-Klausel“ in der Stiftung des C.
45
Harter-Uibopuu, Bestandsklauseln und Abänderungsverbote (wie Anm.20).
46
Syll.3 578, Z.40–48: ἢν δὲ οἱ ἐνεστηκότες ταμίαι ἢ οἱ ἑκάστοτε γινόμενοι | μὴ παραδῶσιν τὸ
ἀργύριον τοῦτο κατὰ τὰ γεγραμμένα, ἢ ἄλλος τις ἄρχων | ἢ ἰδιώτης εἴπηι ἢ πρήξηται ἢ προθῆι ἢ ἐπιψηφίσηι ἢ νόμον προθῆι ἐναντίον τού|τωι ἢ τοῦτον τὸν νόμον ἄρηι τρόπωι τινὶ ἢ παρευρέσει ἡιοῦν ὡς δεῖ τὸ ἀργύρι|ον κινηθῆναι ἢ μὴ ἀναλίσκεσθαι ἀπ’ αὐτοῦ εἰς ἃ ὁ νόμος συντάσσει, ἢ ἄλλ[ηι που] |45 καταχωρισθῆναι καὶ μὴ εἰς ἃ ἐν τῶιδε τῶι νόμωι διατέτακται, τά τε πραχθέν|τα ἄκυρα ἔστω, καὶ οἱ μετὰ ταῦτα ταμίαι καταχωριζέτωσαν εἰς τὸν λόγον κατὰ | τὸν νόμον τόδε τὸ πλῆθος τῶν χρημάτων τὸ ἴσον ἐ[κ τῶ]ν τῆς πό[λεως πρ]οσό| δων καὶ τἄλλα πάντα συντελείτωσαν κατὰ τὸν νόμον τόνδε, ... 47
Üblicherweise werden als Adressaten eines derartigen Verbotes ἄρχοντες (Amtsträger) und ἰδιώται
(Privatpersonen) einander gegenüber gestellt. Vgl. etwa Syll.3 672, Z.19–21 (Laum Nr.28, Delphi, 166 v.Chr.); SEG 38, 1462, Z.36 (Oinoanda, Stiftung des Demosthenes, 124–125/6 n.Chr.) oder I.Iasos 248, Z.54– 57 (Stiftung des C. Caninius Synallason). In manchen Fällen werden aber auch spezielle Amtsträger gesondert erwähnt, denen etwa eine privilegierte Stellung im Rahmen der Beschlussfassung einer Stadt zugekommen war, so etwa in IAph 2007, 12.26, b Z.1–3 (Laum Nr.102, Stiftung des Attalos Adrastos, hadrianisch) [– μηδενὶ | ἐξέστω μήτε ἄρχοντι μήτε γραμ|ματε]ῖ μή[τε] ἰδιώτῃ ... niemandem sei es gestattet,
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Vibius Salutaris aus Ephesos: In dem ausführlichen Dossier ist das Abänderungsverbot an vier verschiedenen Stellen ausgeführt. Die detaillierteste Version findet sich im Brief des Salutaris, der das Stiftungsversprechen enthält, und verbietet neben den Amtsträgern und Privatpersonen auch dem ekdikos, dem Vertreter der Stadt vor den römischen Behörden, jegliches Einschreiten zur Veränderung der Stiftung. So wie auch in der Stiftung des Demosthenes von Oinoanda sollte in diesem kaiserzeitlichen Text über die Befugnisse der Polis hinaus auch ein Mitwirken der römischen Provinzial-herrschaft an einer möglichen Abänderung der Stiftungsbedingungen verhindert werden. 48 Andererseits werden in den entsprechenden Klauseln auch die einzelnen Schritte aufgeführt, die notwendig waren, um zu einem verfassungskonformen Beschluss zu kommen: Weder das Einbringen eines Antrages noch die Weiterleitung desselben vor das zuständige städtische Gremium, die Aufnahme in die Tagesordnung der entsprechenden Sitzung oder die Abstimmungsleitung in dieser Angelegenheit waren gestattet. 49 Somit sollte jede legale Möglichkeit der Abänderung des Stiftungsdekrets von vornherein ausgeschlossen sein, dem Stifter und der von ihm bedachten Gemeinschaft war höchste Rechtssicherheit garantiert. Eigentlich hätten derartige Regelungen, die nicht nur in Stiftungsdekreten, sondern natürlich auch in anderen städtischen Beschlüssen fast immer zu finden waren, jeden Missbrauch verhindern müssen. 50 Dennoch scheint die Realität in den Städten von der Theorie weit entfernt gewesen zu sein. Seit langem beschäftigt sich die moderne Forschung mit Phänomenen der schlechten Finanzverwaltung in den
weder einem Amtsträger, noch einem grammateus noch einem Privatmann, ..., ergänzt nach IAph 2007, 12.803, Z.46–48 (Laum Nr.100, Stiftung des Aristokles Molossos, 1.Jh. n.Chr.). 48 I.Ephesos 27, Z.315–319: μηδεν[ὶ] δὲ ἐξέστω ἄρχοντι ἢ ἐκδίκῳ ἢ ἰδιώ|τῃ πε̣[ιρᾶ]σαί τι ἀλλάξαι ἢ μεταθεῖναι ἢ μετοικονομῆσαι ἢ μετα|ψηφί[σ]ασθα[ι] τῶν καθιερωμένων ἀπεικονισμάτων ἢ τοῦ | ἀργυρίου ἢ τῆς [π]ροσόδου αὐτοῦ ἢ μεταθεῖναι εἰς ἕτερον πόρον | ἢ ἀνά̣[λ]ωμα ... Es steht niemandem zu, sei er ein Amtsträger, ein Anwalt oder ein Privatmann, zu versuchen, etwas zu ändern oder umzustellen oder einer anderen Verwendung zuzuführen oder anders zu beschließen betreffend die geweihten Statuen oder das Kapital oder die Einkünfte daraus, ... (Zur Salutaris-Stiftung siehe oben bei Anm.12). 49 Vgl. Harter-Uibopuu, Bestandsklauseln und Abänderungsverbote (wie Anm.20), bei Anm.17 und 64. 50 Zu den hellenistischen Quellen für Abänderungsverbote siehe Lene Rubinstein, Response to James P. Sickinger, in: Edward Harris/Gerhard Thür (Hrsg.), Symposion 2007, Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte (Durham, 2.–6.September 2007). Wien 2008, 117 mit Anm.13. Zu den kaiserzeitlichen Beispielen Harter-Uibopuu, Bestandsklauseln und Abänderungsverbote (wie Anm.20).
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griechischen Städten und untersucht die dazu vorhandenen literarischen (auch juristischen) Quellen ebenso wie die epigraphischen Zeugnisse. Gerade weil Theorie und Praxis in diesem Bereich so weit auseinander zu klaffen scheinen, ist es wichtig, den Überlieferungen zum Wirtschafts- und Finanzwesen der Städte im Osten des römischen Reichs, unter anderem bei Plinius, Dio Chrysostomus oder etwa in dem berühmten Dekret des Paullus Fabius Persicus, auch die Normen gegenüber zu stellen, mittels derer die Poleis versuchten, den Missbrauch öffentlicher Gelder zu verhindern. Deutlich zeigen die hier vorgestellten Texte meines Erachtens, dass neben den angesprochenen Unterschlagungen vor allem die Versuche der Abänderung der Statuten einer Stiftung und Anträge auf eine zweckentfremdete Verwendung bestimmter Gelder das Hauptproblem gebildet haben dürften. Die entsprechenden Anträge wurden im Rat (und in Folge wohl auch in der Volksversammlung) zur Abstellung gestellt und beschlossen. In Zeiten, in denen die Ratsmitglieder nicht mehr jährlich wechselten, sondern auf Lebenszeit bestimmt waren, waren Cliquenbildungen und Verabredungen unter den Ratsmitgliedern natürlich leichter und wohl an der Tagesordnung. Dagegen richtete sich das System von Strafen, mit dem die Stifter ihre Einrichtungen zu sichern versuchten. Gerade bei den Abänderungsverboten wird aber auch das Zusammenspiel zwischen römischen Autoritäten und griechischer Polis deutlich. Einerseits wurden Statthalter und auch die Kaiser selbst um Bestätigung der Stiftungsvorschriften gebeten, wie man am Beispiel der Subskription des Statthalters im Text aus Oinoanda ebenso sehen kann wie an den Briefen der römischen Magistrate an C. Vibius Salutaris in Ephesos. Sowohl die Kaiser als auch die Statthalter verliehen in Edikten und Reskripten ihrem Wunsch Ausdruck, die Zweckbindung von Kapital unbedingt zu erhalten, wie dies in den Briefen Hadrians an die dionysischen Techniten deutlich wird. 51
51
SEG 56, 1359, Z.8–10 und Z.17–18: τοὺς ἀγῶνας πάντας ἄγεσθαι κελεύω καὶ μὴ ἐξεῖναι πόλει
πόρους ἀγῶνος κατὰ νόμον ἢ ψήφισ|μα ἢ διαθήκα̣ς ἀγομένου{ς} μετενενκεῖν εἰς ἄλλα δαπανήματα οὐδὲ εἰς ἔργου κατασκευὴν ἐφίημι |10 χρήσασθαι ἀ̣ργυρίῳ, ἐξ οὗ ἆθλα τίθεται ἀγωνισταῖς ἢ συντάξεις δίδονται τοῖς νε[ι]κήσασιν·... |17 ... τὸν δὲ εἰσηγησάμενόν τι τοιοῦτο ἢ̣ ἐπιψηφίσαντα ἢ τὸ ἔργον πράξαντα ἐγὼ | καλέσω δώσοντα εὐθύνας τοῦ παρακοῦσαι τῶν διατεταγμένων καὶ ὑφέξοντα τὴν δικαίαν τειμωρίαν· Die Briefe datieren aus den Jahren 131–134 n.Chr., die Inschrift wurde in antoninischer Zeit aufgezeichnet. Zum Text siehe vor allem Georg Petzl/Elmar Schwertheim, Hadrian und die dionysischen Künstler. (Asia Minor Studien Band 58) Bonn 2006, 8–17 (Text und dt. Übersetzung); Christopher P. Jones, Three New Letters of the Emperor Hadrian, in: ZPE 161, 2007, 145–156.
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„Ich ordne an, dass alle Wettkämpfe durchgeführt werden müssen und dass es einer Stadt nicht freisteht, die Mittel für einen Agon, der gemäß Gesetz, Volksbeschluss oder Testamenten durchgeführt wird, auf andere Aufwendungen zu übertragen. Ebenso wenig lasse ich es zu, dass Geld für die Errichtung eines Bauwerks verwendet wird, aus dem die Preise für die Wettkämpfer gestellt oder die Prämien (syntaxeis) den Siegern gegeben werden. [...] Denjenigen, der etwas Derartiges eingebracht oder zur Abstimmung gestellt hat oder an der Errichtung eines Gebäudes beteiligt hat, werde ich auffordern, Rechenschaft abzulegen über die Missachtung der Vorschriften, damit er die gerechte Strafe empfängt.“
Unter den von Hadrian angesprochenen Agonen waren sicherlich einige, die im Rahmen einer Stiftung eingerichtet worden waren. Dies ist zumindest für diejenigen anzunehmen, die „gemäß einem Testament“ durchgeführt wurden. Ihren Bestand sicherte der Kaiser in seiner Anordnung. Andererseits scheint gerade das Eingreifen römischer Autoritäten, namentlich des Statthalters, ein Problem gewesen zu sein, dem die Stifter in den Abänderungsverboten entgegen treten wollten. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang das Edikt des L. Memmius Rufus über den Betrieb des Gymnasions von Beroia aus dem Anfang des 2.Jh. n.Chr. 52 Der Proconsul ließ in Beroia einen Fonds einrichten, aus dem die notwendigen Gelder für das immer wieder von der Schließung bedrohte Gymnasion zur Verfügung stehen sollten. Dazu führte er allerdings die Erträge aus verschiedenen Stiftungen, die jeweils einem anderen Zweck zugedacht gewesen waren, nun dem Gymnasion zu. Damit übertrat er Verbote wie diejenigen, die eben vorgestellt wurden und die dazu gedacht waren, Stiftungen vor einer Umwidmung zu schützen. Wenn wir auch keine Angaben dazu haben, wie etwa Plautianus Alexandros die Gelder für die Phallus-Prozession schützen wollte oder Eulaios diejenigen für die Getreideversorgung, müssen wir wohl doch davon ausgehen, dass auch in Beroia ähnliche Bestimmungen vorhanden waren, wie in den meisten anderen Stiftungstexten. 53 Die Provinzialverwaltung konnte also sowohl gegen eine Ver52 I. Beroia 7 (SEG 48, 742), Pantelis M. Nigdelis / Giorgos A. Souris, „Ἀνθύπατος λέγει”. Ἐνα διάταγμα των αυτοκρατορικών χρόνων για το γυμνάσιο της Βέροιας [The Proconsul speaks: An Edict of Imperial Times on the Gymnasium of Beroia.]. (Tekmeria. Contributions to the History of the Greek and Roman World, Supplement No.1) Thessaloniki 2005. 53 Chaniotis vermutet, dass unter der einfachen Bevölkerung von Beroia wohl Widerstand gegen die Maßnahmen des Proconsuls herrschte, da Gelder, die bislang der Verehrung des Dionysos und der Getreideversorgung gedient hatten, nun nur mehr der Elite der Stadt zur Verfügung stehen sollten. Angelos Cha
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wendung zweckgebundener Gelder als auch dafür institutionalisiert werden. Abgesehen von der offensichtlichen Einbindung römischer Autoritäten lassen die kaiserzeitlichen Stiftungsurkunden und -dekrete aber keine strukturellen Unterschiede zu den hellenistischen Texten erkennen. Die erhaltenen Urkunden legen vielmehr nahe, dass im Bereich des Verwaltungsrechts der griechischen Polis große Eigenständigkeit herrschte und Traditionen aus hellenistischer Zeit weitergeführt wurden.
Ausblick Die Unterschiedlichkeit der aus der Antike erhaltenen Regelungen zu einzelnen Stiftungen zeigt deutlich ein Charakteristikum griechischen Rechts: Fernab von starren Konventionen oder Normen wurden die Vorschriften den Bedürfnissen der Parteien und der jeweiligen Situation angepasst. Zur Verwaltung des Stiftungskapitals und des Stiftungszwecks wurden neue Kommissionen eingesetzt und neue Ämter geschaffen oder bestehende Amtsbereiche erweitert und Befugnisse von Amtsträgern den Notwendigkeiten entsprechend geordnet. Aus der Erfahrung mit ähnlichen Einrichtungen oder der allgemeinen Finanzverwaltung der Stadt, in die sie als reiche Bürger wohl durchwegs eingebunden waren, lernten Stifter und Begünstigte die Gefahren kennen, die der Stiftung drohten und versuchten darauf bereits vorab durch die Formulierung differenzierter Strafklauseln zu reagieren. Das flexible System des städtischen Rechts erlaubte beiden Seiten große Freiheiten. Zumindest anhand der uns vorliegenden Texte kann man davon ausgehen, dass eventuelle Differenzen zwischen Stiftern und Städten über Details der Durchführung erfolgreich ausgeräumt werden konnten. Leider stellen alle erhaltenen Quellen zu den Stiftungen Momentaufnahmen dar, die zumeist zum Zeitpunkt der Einrichtung der Stiftung entstanden. Über die Dauerhaftigkeit der wichtigen und notwendigen Finanzierung von Festen, Agonen oder anderen städtischen Belangen lässt sich indes aus den Inschriften keine Aussage treffen.
niotis, Macht und Volk in den kaiserzeitlichen Inschriften von Aphrodisias, in: Gianpaolo Urso (Hrsg.), Popolo e potere nel mondo antico. Atti del convegno internazionale, Cividale del Friuli, 23–25 settembre 2004. Pisa 2005, 58.
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Stiftungen und politische Kommunikation in hellenistischen Städten von Sitta von Reden
Antike und Moderne Plinius der Jüngere, römischer Senator und Mäzen seiner Heimatstadt Comum in Oberitalien, schreibt im ersten Jahrhundert: „Alle Menschen fühlen sich ja von Natur verpflichtet, ihr Geld zusammenzuhalten; mich befreite die ausgiebig und lang erwogene Liebe zur Freigiebigkeit von den gemeinen Banden des Geizes, und meine Großzügigkeit musste umso lobenswerter erscheinen, als sie nicht einer Laune, sondern reiflicher Überlegung entsprang. Ein weiterer Grund war, dass ich nicht Wettspiele oder Gladiatorenkämpfe versprach, sondern alljährliche Zuwendungen für die Förderung freigeborener Kinder […]. Doch wie ich damals mehr auf den Nutzen für die Allgemeinheit als auf persönliche Selbstverherrlichung abgesehen hatte, als ich um Verständnis für Absicht und Wirkung meiner Stiftung warb, so befürchte ich jetzt, wo es sich um die Veröffentlichung handelt, es könne vielleicht so aussehen, als hätte ich nicht den Nutzen für andere, sondern nur dem eigenen Ruhm dienen wollen.“ 1
Antike Überlegungen über die Bedeutung des Stiftens sind uns so vertraut, dass sie unmittelbar verständlich sind. Insbesondere aus dem Umfeld der römischen Stoa sind uns Gedanken überliefert, die der Norm selbstlosen Handelns für das Gemeinwohl im Sinne einer christlichen Verantwortungsethik sehr nahe stehen. 2 So stellt auch Plinius langfristige, altruistische und gesellschaftlich nützliche Stiftungen den
1 Plin. Ep. 1, 8, 9–10 und 13; ca. 97 n.Chr. 2 Susanne Pickert, Sehnsucht nach Ewigkeit. Römische Stiftungen aus der Zeit des Augustus (27 v.Chr.– 14 n.Chr.). Saarbrücken 2008, 110–122; zur Unterscheidung paganer und frühchristlicher Wohltätigkeitsethik: Arthur R. Hands, Charities and Social Aid in Greece and Rome. London 1968, 18–25, 75f. Peter Brown, From Civic Euergetism to Christian Giving. The Parameters of a Change, in: Peter Eich/Eike Faber (Hrsg.), Religiöser Alltag in der Spätantike. Stuttgart 2012, 7–14. Umfassend zur stoischen Wohltätigkeitslehre, Jan Wolkenhauer, Senecas Schrift „Über die Wohltaten“ in ihrer Entstehungszeit. Diss. phil. Freiburg 2012.
DOI
10.1515/9783110400007.205
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publikumswirksamen, auf persönliche Geltung abzielende Spenden gegenüber und wirft die Frage auf, wie sichtbar Wohltaten und ihre Stifter sein sollten. 3 Doch die Ähnlichkeiten sind nur vordergründig. Plinius ging es weder um die moralische Arbeit an einem an Nächstenliebe oder Gemeinwohl orientierten Individuum, noch um strategische Ziele für Stiftung und Philanthropie, sondern um Wohltätigkeit als Instrument im politischen Wettbewerb. 4 Die Großzügigkeit (gr. euergesia, lat. magnificentia), kann als eine zentrale Verhaltensnorm politischer und sozialer Eliten von der griechischen Archaik bis zum Ende der paganen Antike angesehen werden. Sie wurde im Sinne der anthropologischen Gabe als langfristiges Tauschverhältnis verstanden, in dem den Stiftern, ihren Familien und Nachkommen für ihre Großzügigkeit Erinnerung, Ehre, Ruhm und politischer Vorrang zustanden. 5 Daraus leiteten sich sowohl politische Führungsansprüche als auch soziale Netzwerke ab, die als zeitübergreifende Kette des Gebens und Nehmens verstanden werden konnten und damit sinnstiftend für Geschichte und friedliche Gemeinschaft waren. Stiften wurde allerdings immer dann unter ethischen Gesichtspunkten (und Geschmacksfragen) in Frage gestellt, wenn sich Statusinkongruenzen bezüglich der sozialen Gruppen auftaten, die sich an der politisch symbolträchtigen Praxis der Großzügigkeit beteiligten. Kritik am Stiftungsverhalten und seinen Zwecken wurde immer dann laut, wenn soziale Aufsteiger sich daran beteiligten. 6 Trotz bedeutender ideologischer Unterschiede dient die Antike immer wieder als Ausgangspunkt für heutige Überlegungen zu Stiftung und Philanthropie. So verweist der Direktor des Instituts für vergleichende Vermögenskultur an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien auf die Wurzeln der Philanthropie im archaischen Griechenland: „Philanthropie wurde zur Tugend des Regenten. Dies hat Homer bereits am Ende des 8.Jh. v.Chr. in der Odyssee beschrieben. Als Odysseus nach Ithaka
3 Plin. Ep. 4, 13; ferner Ep. 2,4, 3f. 4 Zu römischer Stiftungsethik s. Kathryn Lomas/Tim Cornell, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Bread and Circuses. Euergetism and Municipal Patronage in Roman Italy. London 2003, 1–11; Arjan Zuiderhoek, The Ambiguity of Munificence, in: Historia 56, 2007, 196–213; Ders., The Politics of Munificence in the Roman Empire. Cambridge 2009, 12–17. 5 Sitta von Reden, Glanz der Stadt und Glanz dem Bürger. Stiftungen in der Antike, in: GWU 63, 2012, 21– 36. 6 Wolkenhauer, Über die Wohltaten (wie Anm.2). Zum Begriff der „philanthropia“ von Reden, Glanz, (wie Anm.5), 26f. mit Plat. Euth. 3 d, Xen. Kyr. 1,4,1; Xen. Kyr. 7,7,73.
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zurückkehrte, prüfte er die Einstellung der Menschen, indem er sich als Bettler verkleidete. Nur das Verhalten gegenüber den Bedürftigen zeigte in der Erzählung den wahren Charakter, und nur die Tugend konnte der Vollendung des Menschen zum Glück verhelfen“. 7
Und Bernhard Lorentz, Direktor der Stiftung Mercator GmbH Essen, bemerkt eine schon in der Antike erkennbare „doppelte Zielvorgabe“ der Stiftungstätigkeit. Schon damals hätten Stiftungen als Instrumente der Stabilisierung oder Stärkung gefährdeter Projekte gedient. Platon habe sein persönliches Vermögen gestiftet, um die Akademie und die Entwicklung seiner Philosophie auch nach seinem Tod sicherzustellen. 8 In römischer Zeit, so Lorentz, habe sich dann ein zweiter Stiftungsgedanke entwickelt, der nicht nur auf Bewahrung, sondern Innovation abzielte. Hinter den Bildungsstiftungen des Plinius habe eine Vision gelegen, die gesellschaftliche Veränderung zum Ziel hatte. Auch habe Plinius erkannt, dass gestiftete Mittel breitenwirksam sein müssen, um langfristig strategisch wirksam zu sein. Über die Beteiligung einer breiten Bevölkerungsgruppe, denen er die nötigen Finanzmittel stiftete, habe er die Möglichkeit geschaffen, seine Stiftungsprojekte im Zeitverlauf veränderten Anfordernissen anzupassen. Von der strategischen Stiftungstätigkeit des Plinius im Bildungsbereich sei der Anstoß zur Transformation des gesamten Bildungswesens der römischen Kaiserzeit ausgegangen. 9 Wenn auch Lorentz’ Kommentar einige überlegenswerte Beobachtungen enthält, ist doch bedenklich, dass historische Konstanten in den Mittelpunkt gestellt werden, wo Nuancierung notwendig ist. Selbst das antike Stiften war zeitlichen Veränderungen unterworfen, denen pauschale Urteile nicht gerecht werden. 10 Außer-
7 Thomas Druyen, Der Ursprung und die Bedeutung philanthropischen Handelns, in: Forum. Aktuelle Information der LTG Bank Deutschland & Co OHG. Ausgabe April/Mai 2011, 3–5, hier 4. Die Idee der Wohltätigkeit als Hilfe für Bedürftige bei Homer ist fehl am Platz. Platon war ferner nicht der einzige, der seine Akademie als Stiftung hinterließ. Ähnliche Testamente sind für Epikur, Lykon und Theophrastos bei Diogenes Laertius überliefert. 8 Bernhard Lorentz, Geben ohne Gegengabe? in: GWU 63, 2012, 81–91. Zur althistorischen Diskussion dieser Einschätzung . Chrstina Kokkinia, Games vs. Buildings as Euergetic Choices, in: Katharine Coleman/ Jocelyne Nelis-Clément (Hrsg.) L’organisation des spectacles dans le monde romain. Genf 2012. Arjun Zuiderhoek, The Politics of Munificence in the Roman Empire 2009. 9 Lorentz, Geben ohne Gebengabe (wie Anm.8) mit Gesine Manuwald, Eine ‚Schule‘ für Novum Comum (Epist. 4, 13), in: Eckard Lefèvre/Luigi Castagna (Hrsg.), Plinius der Jüngere und seine Zeit. München/ Leipzig 2003, 204–207. 10 Zum Wandel von Wohltätigkeit und Euergetismus in der griechischen Antike, Marc Domingo Gygax, Euergetismus und Gabentausch, in: Mètis 1, 2003, S.181–200; von Reden, Glanz (wie Anm.5).
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dem läuft der Rückgriff auf historische Konstanten Gefahr, lediglich die eigene Handlungsweise zu rechtfertigen. Problematisch ist auch, dass in den fachfremden Stellungnahmen allein Theoretiker und literarisch stilisierte Äußerungen zitiert werden, während die weit komplexere Stiftungspraxis, auf der diese Äußerungen aufbauen, unberücksichtigt bleibt. 11 Über Inschriften aus Stadtgemeinden im Hellenismus und der Kaiserzeit kennen wir diese Praxis recht gut und können die besonderen Zielrichtungen von Wohltätigkeit erkennen. Stiftungen waren eng verbunden mit Gemeinschaftsbildungsprozessen, kollektiver Identität und dem politischen Bestand städtischer Bürgerschaften. Sie stellten Mittel bereit für Opfer, Feste, Kulte und öffentliche Banketts zu Ehren von Königen, Göttern und verstorbenen Familienangehörigen. Über Stiftungen wurden Trainer für Sportwettkämpfe, Personal und Utensilien für Gymnasien und Schulen, aber auch öffentliche Gebäude, Tempel und Festungsmauern finanziert. 12 Oft waren Stiftungen optisch prägend für einen ganzen Stadtraum. Auch bei Schulstiftungen ging es lange Zeit weniger um den Wert der Bildung als um die Zurschaustellung einer vortrefflichen Jugend bei Prozessionen, die das Glück und den Fortbestand der Stadt symbolisch umschrieben. Ihre Finanzierung durch reiche Bürger oder Könige stand in der Tradition der griechischen Wohltätigkeit, die den Glanz und den Wohlstand einer Stadt sichtbar machte, gleichzeitig aber auch eine soziale Elite in ihrer Rolle bestätigte und für die ideologische Abmilderung von Statusdifferenzen sorgte. 13 Die auffällige Praxis, den Tauschkomplex von Stiftung und Dankbarkeit auf einem inschriftlichen Denkmal
11
Michael Wörrle, Stadt und Fest im kaiserzeitlichen Kleinasien. Studien zu einer agonistischen Stiftung
aus Oinoanda. München 1988. Guy MacLean Rogers, The Sacred Identity of Ephesos. Foundation Myths of a Roman City. London 1991. Michael Wörrle/Paul Zanker (Hrsg.): Stadtbild und Bürgerbild im Hellenismus. München 1995. Die Stiftungsinschriften sammelte erstmals Bernhard Laum, Stiftungen in der griechischen und römischen Antike. Ein Beitrag zur antiken Kulturgeschichte. Leipzig/Berlin 1914. 12
Phillipe Gauthier: Les cités grecques et leurs bienfaiteurs. Paris 1985; Klaus Bringmann, Geben und Neh-
men. Monarchische Wohltätigkeit und Selbstdarstellung im Zeitalter des Hellenismus. Mit einem numismatischen Beitrag von Hans-Christoph Noeske. Berlin 2000. S. auch Walter Ameling, Wohltäter im hellenistischen Gymnasion, in: Daniel Kah/Peter Scholz (Hrsg.) Das Hellenistische Gymnasion. Berlin 2004, 129–162; Cédric Brélas, Une Approche historiographique de l’euergetism, in: Olivier Curty (Hrsg.) L’huile er l’argent. Gymnasiarchie et evergetisme dans la Grèce hellénistique. Paris 2009, 37–56; Sophia Aneziri, Stiftungen für sportliche und musischen Agone, in: Kaja Harter-Uibopuu/Thomas Kruse (Hrsg.), Sport und Recht in der Antike. Wien 2014, 147–166; Ludwig Meier, Finanzierung öffentlicher Bauten in der hellenistischen Polis. Berlin 2012, bes. 141–165. 13
Grundlegend aber nicht mehr in allen Punkten zutreffend, Paul Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaft-
liche Macht und politische Herrschaft in der Antike. Frankfurt am Main 1988 [franz. Orig. 1976]; zum Über-
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zu veröffentlichen, nahm im Hellenismus zu und liefert uns detaillierte Einblicke in den engen Zusammenhang zwischen Politik, Repräsentation, Gemeinschaftsbildung und öffentlichen Ausgaben in griechischen Städten. 14 Anschließend an die detaillierte rechtshistorische Untersuchung der Stiftungsstrukturen von Kaja Harter-Uibopuu im vorangegangenen Beitrag sollen hier politische und kommunikative Aspekte des hellenistischen Stiftungswesens im Mittelpunkt stehen. Es soll um den Kommunikationsprozess gehen, den nicht nur das Stiften selbst, sondern die Veröffentlichung der Stiftungsurkunden und Ehrendekrete in Gang setzte. Es gilt in der Forschung als nahezu gesichert, dass die Zunahme der Sichtbarkeit von Stiftungsakten nicht mit einer Zunahme von Euergesie insgesamt einherging, dass Städte wohl kaum vom Stiftungssektor finanziell abhängig waren und der größte Anteil stifterischen Vermögens an öffentlichen Ausgaben sich auf bestimmte Ausgabenbereiche konzentrierte. 15 Auch wird bezweifelt, dass Stiftungen mit den im Hellenismus steigenden Militärausgaben, die die städtischen Finanzen tatsächlich belasteten, in direktem Zusammenhang stehen. Ihre Sichtbarkeit und ihre Zwecke sind ein davon unabhängiges Phänomen. 16 In diesem Zusammenhang möchte ich einige weitere Überlegungen zur Disposition stellen. Erstens: Angesichts der immensen Bedeutung der Dokumentation von Stiftungsbeziehungen und ihrer Kontrolle durch die Institutionen der Polis muss die öffentliche Dokumentation in hellenistischen Städten wesentlich für die Öffentlichkeit und ihr Selbstverständnis als Polisgemeinde gewesen sein. Dies gilt nicht nur für die Kontrolle, die die Polisinstitutionen und -gremien auf die Einhaltung der Zwecke und ihre sachgemäße Durchführung ausübten, sondern auch für die Wah-
blick, Hans-Joachim Gehrke: Euergetismus, in: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hrsg.): Der Neue Pauly, Bd. 4, Stuttgart 1998, 228–230. 14 Für lateinische und griechische Inschriften als Medien der Kommunikation auch außerhalb des Ostmittelmeerraums, Elizabeth Meyer, Epigraphy and Communication, in: Michael Peachin (Hrsg.) Oxford Handbook of Social Relations in the Roman World. Oxford 2011, 191–226. 15 Aneziri, Stiftungen (wie Anm.12), 158–162 betont, dass die Dauerhaftigkeit, die Stiftungen für die Finanzierung von Festen und Wettkämpfen garantierten, ein wesentlicher Grund dafür war, dass Stiftungen sich so häufig auf diesen Zweck bezogen; für eine generelle Einordnung der Bedeutung von Stiftungen in die städtischen Finanzen, Léopold Migeotte, L’évergétisme des citoyens aux periods classique et héllenistique, in: Christol/Masson, Actes, 183–198; Werner Eck, Der Euergetismus im Funktionszusammenhang der kaiserzeitlichen Städte, in: Michel Christol/Olivier Masson (Hrsg.) Actes du Xe Congrès International d‘Épigraphie Grecque et Latine. Bd. II: Évergtisme et Épigraphie. Paris 1997, 305–331. 16 Brélas, Approche historiographique (wie Anm.12).
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rung der vermeintlichen Tauschbeziehung, die eine Stiftung darstellte. Zweitens: Während Euergesie und Großzügigkeit eine lange Tradition in der griechischen Gesellschaft hatten, wurden sie im Hellenismus zu einer Institution, die ein maßgebliches kommunikatives Regelsystem für den Ausgleich von Eliten und Bürgern bereitstellte. Lokale Stifter rekrutierten sich im Wesentlichen aus einer politisch aktiven Schicht angesehener Amtsträger, agierten aber als Einzelpersonen nicht innerhalb, sondern gegenüber den politischen Institutionen der Stadt. Damit standen sie zwischen Gremien und Volk und leisteten einen Ausgleich über kommunikative Mittel zwischen den zunehmend oligarchisch geprägten Verfassungseinrichtungen (Rat, Gerichtshöfen und Volksversammlungen) und der sich als demokratisch verstehenden Öffentlichkeit. Drittens: Stifter positionierten sich zwischen den Königsdynastien, die die Städte beherrschten, und der sich als autonom verstehenden Stadtgemeinden. Während sich Bürger und Könige gleichermaßen als Stifter und Wohltäter betätigten, was auch mit religiösen Heils- und Glückserwartungen verbunden war, wurden die Stifter selbst unter die politische Aufsicht von Bürgerschaften gestellt, um diese potenziell sozial gefährliche Wohltätigkeit in den sozialen und politischen Verband der Stadt zu re-integrieren. Bevor diese Überlegungen diskutiert werden können, sind einige Vorbemerkungen nötig. Im Folgenden möchte ich zunächst versuchen, antike Stiftungen innerhalb Thens und Kehls Modell der sozialen Investition zu verorten. Anschließend sind einige Bemerkungen zur antiken Demokratie und ihrem Wandel nötig, um die spezifische Funktion der Stiftung in der demokratischen Öffentlichkeit im Hellenismus verdeutlichen zu können.
Hellenistische Stiftungen und soziale Investitionen Das Tausch und Integrationsmodell der antiken Stiftung lassen sich trotz ihrer unterschiedlichen sozialen und symbolischen Einbettung gut in das Konzept der sozialen Investition (s.u. Kehl/Then) einordnen. Zunächst muss aber ein weiterer wesentlicher Unterschied der politischen Kulturen unterstrichen werden. Weder die oben von Harter-Uibopuu beschriebenen „öffentlichen“ Stiftungen noch private Familienstiftungen können ohne weiteres in diese Kategorien eingesperrt werden. Selbst private Totenkulte hatten eine öffentliche und gemeinnützige Bedeutung, insofern sie die Stellung eines Toten in der Gemeinschaft bestätigten, seine Erinne-
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rung vor einer Kultgemeinde aufrecht erhielten und den Status der Familie in der Öffentlichkeit kenntlich machten. Finanzielle Mittel sowohl für familiäre wie auch andere Zwecke bereitzustellen, gehörte gleichermaßen zu den Pflichten wohlhabender Bürger. Aus dieser Überschneidung von öffentlichen und privaten, aber auch politischen und sozialen Zwecken ergibt sich, dass ein mit der „Zivilgesellschaft“ vergleichbarer sozialer Raum jenseits der politisch verfassten Bürgerschaft in der griechischen Polis nicht leicht zu greifen ist. In der antiken Stadt herrschte unter Bürgern nahezu eine Einheit zwischen Regierenden und Regierten, die sich lediglich in ihren Rollen ablösten. Staatliche Herrschaft im Sinne eines anonymen Staatsapparats gab es nicht, und so gab es auch öffentliches Handeln, das von politischem Handeln trennbar gewesen wäre, für einen Bürger nicht (s. unten S. 214). In der nachklassischen Zeit verschob sich das Verhältnis von öffentlichem und politischem Handeln, insofern sich soziale und ökonomische Zugangsbeschränkungen zur Teilhabe an den politischen Gremien auf nicht ganz eindeutige Weise in der Praxis vergrößerten. In diesem Zuge entwickelte sich über einen längeren Zeitraum hinweg ein Verständnis von städtischer Gemeinschaft, das weniger von der Teilnahme an politischen Gremien als von der Teilnahme an Ritualen und Festen geprägt war, gleichzeitig aber zunehmend breitere Bevölkerungsschichten einschließlich Frauen, Fremde und Sklaven einbezog. Über die Frage, ob sich in diesem Kontext eine Art „Zivilgesellschaft“ gegenüber der in den Gremien aktiven Bürgerschaft sowie eine Trennung von Politik und öffentlicher Gemeinschaft entwickelte, lässt sich diskutieren. Sie war aber nicht Voraussetzung, sondern eher ein Resultat des öffentlichen sozialen Lebens, das durch Stiftungen unterstützt wurde (s. unten S. 222ff.). Trotz dieser Einschränkungen kann die hellenistische Stiftung sinnvoll als „sektorübergreifende“ soziale Investition analysiert werden. Sie erfüllte gleichzeitig ökonomische, soziale, politische, kulturelle und religiöse Zwecke und fand charakteristischer Weise an den funktionalen Grenzen der Sektoren statt. Keine hellenistische Stiftung lässt sich als primär ökonomisch, politisch oder religiös verstehen. Auch wird bei der hellenistischen Stiftung die gemeinschaftsbildende Wirkung ganz besonders deutlich: Nicht nur einzelne Stiftungen, sondern die Institution der Stiftung an sich förderte Formen der Gemeinschaftsbildung und Identität unter den Destinatären. Schließlich lässt sich an dem hohen Publizitätsinteresse das Ausmaß öffentlicher Wahrnehmung von Stiftern und ihrer Kontrolle erkennen. Das Publikationsinteresse war zentral für die Anerkennung des Verhältnisses zwischen Stiftern und Destinatären und förderte den Zusammenhalt ökonomisch und sozial he-
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terogener Gemeinschaften. Gleichzeitig festigte die Publizität die städtische Kommunikation und beeinflusste das demokratische Selbstverständnis. Schließlich auch waren antike Stifter angesichts des immensen politischen Wettbewerbs, der unter ihnen herrschte, auf Innovationen angewiesen. Sowohl die Intention der Stiftung, noch mehr aber ihre öffentliche Bekanntmachung, konnte zu neuen „Wahrnehmungsmustern, Vorgehensweisen, Wertvorstellungen oder sozialen Bezügen zum Durchbruch verhelfen“ (Then/Kehl, S. 272). Dies zeigt sich sowohl in der Unterstützung neuartiger Projekte als auch in der zunehmenden Zahl von Frauen, die als Stifterinnen in der Politik sichtbar wurden. 17
Stiften und Schenken Für den hier verwendeten Stiftungsbegriff verweise ich auf Harter-Uibopuu (s. oben S. 180). 18 Zu betonen sind allerdings drei Aspekte: Zum einen waren hellenistische Stiftungen keine selbständigen Organisationen, sondern Stifter überließen ihr Vermögen der Stadt, einem Tempel, einem Verein oder einer Kommission zur treuhänderischen Verwaltung nach vertraglich festgelegten Grundsätzen. 19 Zum anderen ist es wegen der mangelnden Organisationsform hellenistischer Stiftungen wenig sinnvoll, ideelle, also nicht-materielle Stiftungen in den Stiftungsbegriff einzubeziehen. In der hellenistischen Stiftung ging es immer um Vermögenswerte (Geld, Land oder Gebäude), deren finanzielle Erträge einem konkreten Stiftungszweck zugeführt werden sollten. Davon unberührt ist die Tatsache, dass materielle Leistungen mit ideellen Begriffen wie Wohlgesonnenheit (eunoia), Wohl-
17
Johannes Nollé, Frauen wie Omphale?, in: Maria H.Dettenhofer (Hrsg.), Reine Männersache? Frauen in
Männerdomänen der antiken Welt. Köln 1994, 229–259; Gauthier, Cités, (wie Anm.12), 75 zum Entstehungsprozess; Riet van Bremen, The Limits of Participation. Women and Civic Life in the Greek East in the Hellenistic and Roman Periods. Amsterdam 1996; Guy Maclean Rogers, The Constructions of Women at Ephesos, in: ZPE 90, 1992, 215–223; Eftychia Stavrianopoulou, “Gruppenbild mit Dame”. Untersuchungen zur rechtlichen und sozialen Stellung der Frau auf den Kykladen im Hellenismus und der römischen Kaiserzeit. Stuttgart 2006, 228–236. s. auch von Reden, Glanz, (wie Anm.2), 33f. 18
Laum, Stiftungen (wie Anm.11), 1f.; Bringmann (wie Anm.10), 2; Franz Georg Maier, Griechische Mau-
erbauinschriften. Teil 2. Heidelberg 1961, 63f.; Meier, Finanzierung (wie Anm.12), 70, und 307, Anm.519 zur Problematisierung eines begrenzten Stiftungsbegriffs. 19
Zu dem Versuch, einer Stiftung eine eigenständige Organisationsform zu geben, s. das Beispiel der Stif-
tung der Epikteta von Thera, IG XII3 330 (= Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.43 (210–195 v.Chr.).
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tätigkeit (euergesia) oder Menschenliebe (philanthropia) umschrieben werden konnten. 20 Schließlich noch hängt das antike Stiften begrifflich, ideologisch und politisch untrennbar mit dem des Schenkens zusammen, obwohl die Stiftung als Vertragsform eine getrennte Institution darstellte. Stiftungen waren wie Schenkungen doseis (Gaben), leiteten sich aus den gleichen normativen Voraussetzungen ab, hatten ähnliche politische Konsequenzen und führten zu ähnlichen persönlichen und gesellschaftlichen Vorteilen. Ihr einziger, für die Zukunft des Stiftungswesens wichtiger Unterschied war, dass sich die Dauerhaftigkeit einer Stiftung in verstetigten materiellen Erträgen ausdrückte, was eine verstärkte Beteiligung der städtischen Institutionen und ihres Rechts nach sich zog. Die Schenkung dagegen war auf immaterielle Formen der Langfristigkeit (dauerhafter Nutzen, Permanenz eines Gebäudes usw.) angewiesen, und die begünstigten Bürgerschaften waren an dem Tausch nur symbolisch langfristig beteiligt. Im Folgenden soll die Stiftung im engeren Sinne im Mittelpunkt stehen, Schenken aber nicht grundsätzlich aus der Betrachtung ausgeschlossen werden.
Antike Demokratie: klassische Tradition und hellenistische Praxis Antike Demokratien unterschieden sich von modernen grundlegend. 21Entscheidend ist zunächst, dass sich in griechischen Poleis politische Rechte aus den Ansprüchen auf Freiheit und Gleichheit von männlichen Bürgern, nicht von Menschen schlechthin ableiteten. Jeder Versuch, politische Rechte auszuweiten, bezog sich ex-
20 Zum Begriff der philanthropia, s. oben Anm.6; zur eunoia, Werner Schubart, Das hellenistische Königsideal nach Inschriften und Papyri, Arch. Pap. 12, 1937, 1–26; Jacqueline de Romilly, Eunoia bei Isokrates oder die politische Bedeutung der Gewinnung von Wohlwollen‘, in: F. Seek, (Hrsg.), Isokrates. Wege der Forschung Bd. 351, Darmstadt 1976, 253–274; Bringmann, Geben und Nehmen (wie Anm.12), 89; Ameling, Wohltäter, (wie Anm.12): Die auf eunoia basierenden Taten eines Herrschers begründeten im Sinne des oben genannten Tauschprinzips außerrechtliche moralische Bindungen. 21 Paul Cartledge, Eine Trilogie über die Demokratie. Stuttgart 2008; s. auch Morgans H.Hansen, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 1995, Kap. 14; Winfried Nippel, Antike oder Moderne Freiheit. Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt 2008, bes. 339–345. Zur anglo-amerikanischen Demokratiediskussion, s. die Aufsätze in Josiah Ober/Charles Hedrick (Hrsg.) Demokratia. A Conversation on Democracies Ancient and Modern. Princeton 1996.
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klusiv auf männliche Bürger. Wesentlich ist ferner, dass der Staat, wie oben schon angesprochen, weder in der Praxis noch in der Theorie von den Bürgern (den politai) getrennt war. Staatliche Gemeinschaft (politeia) und Zivilgesellschaft lassen sich nicht als zwei verschiedene Handlungsräume verstehen, in denen soziales von politischem Handeln getrennt war. Aristoteles definiert die politeia als die bedeutendste und beste Gemeinschaft (koinonia), die sich aus kleineren und ursprünglicheren Gemeinschaften, insbesondere der Hausgemeinschaft, zusammensetzt. 22 Damit waren Demokratien direkt, die Bürgerschaft – der demos – verfügte über Macht und Entscheidungskompetenz in allen operativen Bereichen und sah sich zunächst nicht als ein Gegenüber des Staates an. Unterschieden vom demos waren lediglich die politischen Institutionen: Rat, Gerichtshöfe, Volksversammlungen und Magistraturen. Kennzeichen einer Demokratie war es, dass Gremien und Magistraturen von allen männlichen Vollbürgern gegebenenfalls rotierend besetzt wurden, die Amtsperiode von Magistraten, Ratsmitgliedern und Richtern zeitlich begrenzt war und sie – von einigen Ausnahmen abgesehen – durch Losverfahren gewählt wurden. 23 Entscheidend für das demokratische Selbstverständnis war, neben Freiheit und Selbstbestimmung, die politische Gleichheit aller Bürger. 24 Diese wurde zunächst über die Teilnahme an der Volksversammlung und der Einrichtung von Volksgerichtshöfen wahrgenommen und ab dem 5.Jh. als Herrschaft des Rechts definiert. Darüber hinaus war das Losverfahren für die Wahl von Amtsträgern und Richtern sowie ein institutionalisiertes Kontrollverfahren (dokimasia) der Amtsinhaber durch die Volksversammlung und Volksgerichtshöfe unverzichtbarer Bestandteil des Gleichheitsgedankens. 25 Eine gewisse und historisch begründete Angst vor mächtigen Einzelpersonen oder Tyrannen bestimmte die öffentliche politische Praxis wie auch die Theorie. 26 Die Verbannung übermächtiger Politiker durch Mehrheitsentscheidung (ostrakismos) war ein hilfreiches Korrektiv für den Fall, dass die 22
Arist. Pol. I, 1 1252 a1–7.
23
Aristoteles definiert Demokratie wiederholt als die Teilhabe aller Bürger am Staat, alternierend in der
Rolle der Regierenden und Regierten (Pol. 1259b4–6; 1261a32–35; a 39-b6; 1279a8–13; 1288a12–15). 24
Zur isonomia, später dann häufiger als isegoria oder parrhesia bezeichnet, vgl. Polyb. 6, 8, 4 mit Peter Sc-
holz, „Demokratie in Hellenistischer Zeit“ im Licht der literarischen Überlieferung, in: Christian Mann/ Peter Scholz (Hrsg.), „Demokratie“ im Hellenismus. Von der Herrschaft des Volkes zur Herrschaft der Honoratioren? Berlin 2012, 29–34. 25
Jochen Bleicken, Die Athenische Demokratie. 4.Aufl. Paderborn 1995, bes. 312–338.
26
Zur Bedeutung der hubris: Donald M. MacDowell, Hybris in Athens, in: Greece & Rome 23, 1976, 14–31;
Nick Fisher, Hybris. A Study in the Values of Honour and Shame in Ancient Greece. Warminster 1992; Chris-
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Verfahren der Machtkontrolle versagten. Denkmäler von Tyrannenmördern, die in Athen und anderen Poleis auf herausragenden Plätzen positioniert wurden, waren Symbole der Freiheit und eines sozialintegrativen Hintergrundkonsenses über den Wert des Rechts und der Gleichheit. 27 Im Übergang von klassischer zur hellenistischen Zeit (Ende des 4.Jh. v.Chr.) ergaben sich wesentliche Veränderungen in der Politik griechischer Poleis. Bedeutend war zunächst der Verlust der außenpolitischen Autonomie, der sich mit den Eroberungen Alexanders und seiner Nachfolger für die griechischen Poleis ergab. Daraus ist bis in die 1980er Jahre die These des „Untergangs“ der Polis abgeleitet worden. 28 Gleichsam als Nachruf auf dieses Modell hat der Soziologe W. G. Runciman die griechische Polis als eine evolutionäre Sackgasse bezeichnet. 29 Zwar existierten die griechischen Städte physisch weiter, aber ihr Wesensmerkmal – außenpolitische Freiheit, wirtschaftliche Unabhängigkeit und Macht über ihre Mittel – war verloren. Der politische Handlungsradius griechischer Poleis war auf Lokalpolitik begrenzt. Gründe dafür waren nicht etwa Einzelphänomene wie die militärische Schlagkraft Alexanders oder dessen Zugriff auf ganz neue Größenordnungen von Ressourcen, insbesondere Gold, Menschen und Tribute; auch eine mögliche strukturelle Überlegenheit autokratischer Tributsysteme gegenüber stadtstaatlichen republikanischen Strukturen erklärten die Überlegenheit der Monarchie gegenüber der Polis nicht. Ursachen für den Verfall der Polis als politisches System sei vielmehr die Unfähigkeit der griechischen Bürgerschaften gewesen, ihre politischen Institutionen
tel Brüggenbrock, Die Ehre in Zeiten der Demokratie. Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit. Göttingen 2006, 163–180. 27 Charlotte Schubert, Die Entstehung eines politischen Mythos in Athen. Von der Tyrannis zur Demokratie, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 3 (2010), 132–169; Beat Schweizer, Harmodius und Aristogeiton. Die sog. Tyrannenmörder im 5.Jh. v.Chr., in: Natasha Kreuz (Hrsg.) Tekmeria. Archäologische Zeugnisse in ihrer kulturhistorischen Dimension. Festschrift W. Gauer. Münster 2006, 291–314. Zur sozialintegrativen Bedeutung von Gründungsmythen und ihre Denkmäler, Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Frankfurt 1992, 351–362. 28 Bleicken, Athenische Demokratie (wie Anm.25), 472–480; zur älteren Forschung, aber gleichzeitig kritisch, Walter Eder, Die athenische Demokratie im 4.Jh. v.Chr. Krise oder Vollendung?, in: ders. (Hrsg.) Die Athenische Demokratie im 4.Jh. v.Chr. Stuttgart 1995, 11–28; ebenfalls kritisch: Eric S.Gruen, The Polis in the Hellenistic World, in: Ralf M. Rosen/John Farrell (Hrsg.), Nomodeiktes. Festschrift Martin Ostwald. Ann Arbor 1993, 339–354. 29 William G. Runciman, Doomed to Extinction: the Polis as an Evolutionary Dead End, in: Oswyn Murray/Simon Price (Hrsg.), The Greek City from Homer to Alexander. Oxford 1990, 347–367.
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den neuen Bedürfnissen anzugleichen und, anders als Rom, für eine imperiale Herrschaft auszustatten. Das egalitäre Bürgerbild ließ griechische Bürgerschaften vor zu großer Macht zurückschrecken und sanktionierte autokratische Herrschaft und die Unterwerfung der Welt. In der neueren Forschung wird dagegen die beachtliche Lebenskraft der griechischen Poleis gegenüber den wirtschaftlichen und militärisch übermächtigen makedonischen Monarchien betont. Die griechischen Städte wurden nämlich nicht einfach Teile der neuen Imperien, sondern blieben ein wesentlicher politischer und auch kultureller Faktor im Konflikt der Mächte. 30 Zwar waren Autonomie und außenpolitische Entscheidungsfreiheit immer wieder durch militärische Besatzung begrenzt. Doch war es gerade die Freiheit der griechischen Städte, um die in vielen militärischen Auseinandersetzungen der hellenistischen Dynastien gekämpft wurde und die den Poleis diplomatische Spielräume erschloss. Der Kampf um die Freiheit der Städte war nicht allein öffentliche Rhetorik: Könige und Poleis, oft in Bundestaaten und Staatenbünden vereinigt, waren Partner eines Austauschs, der legitimierend auf beide Seiten wirkte. 31 Auch bildete das klassische Stadtkonzept mit Bürgerrechten, Räten, Volksversammlungen und Gymnasien genau jenes Modell, mit dem die Könige ihre Großreiche institutionell gestalteten und beherrschten. Aus den alten griechischen Städten und den neuen Gründungen rekrutierten die Könige loyale Untertanen, Funktionsträger und Herrschaftsschichten und integrierten sie in eine neue politische Kultur. 32 Während die Polis also gerade keine evolutionäre Sackgasse war, transformierte sie sich sowohl politisch als auch sozial. Evident ist eine deutlichere Sichtbarkeit von Eliten, die sich auch archäologisch an der Zunahme von aufwendigen und wehrhaften ländlichen Gehöften zeigt. 33 Deutlich wird die wiedererwachende soziale Macht bürgerlicher Oberschichten auch in der gesteigerten Bereitschaft, politi-
30
John Ma, Antiochos III and the Cities of Western Asia Minor. Oxford 1999; ders. Peer Polity Interaction
in the Hellenistic Age, in: P&P 180, 2003, 9–39; s. auch Anm. 31 und 32. 31
Christian Mann, Überlegungen zum Stand der Forschung, in: ders./Scholz, „Demokratie“ (wie
Anm.24), 12. 32
Ebd.13; s. auch Richard Billows, Cities, in: Andrew Erskine (Hrsg.), A Companion to the Hellenistic
World. Oxford 2003, 179–195. 33
Hans Lohmann, Die Chora Athens im 4.Jh. v.Chr.: Festungswesen, Bergbau und Siedlungen, in: Eder,
Athenische Demokratie (wie Anm.28), 515–549; Christof Schuler, Die Polis und ihr Umland, in: Gregor Weber (Hrsg.), Hellenismus. Eine Kulturgeschichte. Stuttgart 2007, 56–77, bes. 65ff.
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sche Leistung, Familienprestige, wirtschaftliche Potenz und damit auch den Vorrang einzelner Bürger anzuerkennen. Unzählige Denkmäler, Inschriften und Feste zu Ehren vortrefflicher Personen prägten das Stadtbild hellenistischer Städte. 34 Was geschah also mit der Demokratie und dem Gleichheitsgedanken? Dem Namen nach blieben hellenistische Poleis Demokratien. Zensusbeschränkungen für die Wahrnehmung von Bürgerrechten wurden nicht eingeführt, das Bürgerrecht blieb gehütet und wurde nicht etwa aufgeweicht. 35 In manchen, aber keineswegs allen uns bekannten Verfassungen zeigt sich allerdings eine Tendenz, Magistrate zu wählen und ihre Amtsfähigkeit möglicherweise von einem Zensus abhängig zu machen. Die Rolle der Räte im Gesetzgebungsverfahren erscheint prominenter. Auch zeigt sich in vielen, aber wiederum nicht allen Poleis eine vermehrte Sichtbarkeit von Vorsitzenden und Vorständen (prohedroi, probouloi, prytaneis u.ä.), die Anträge in Rat und Volksversammlungen vorbereiteten und damit den Entscheidungsprozess vorstrukturierten. 36 Insgesamt manifestiert sich ein deutliches Interesse an individueller Leistung und Vorrang. 37 Befunde zum Fortbestand der Demokratie und ihrem Charakter sind dennoch uneindeutig und in der Forschung unterschiedlich bewertet worden. 38 Jochen Bleicken bezeichnete beispielsweise die Verfassung des hellenistischen Athen als eine Oligarchie in demokratischem Festgewand. 39 Nur der formale Aufbau der Institutionen bewahrte Ähnlichkeit mit der klassischen Demokratie. Tatsächlich aber wurde die Volksversammlung vom Rat und dessen Vorständen gelenkt, die Gerichtshöfe verschwanden nach und nach, und Ämter wurden an Liturgien (Selbstzahlung der Amtsführungskosten) geknüpft und damit den Rei-
34 Ralf Krummeich/Christian Witschel, Hellenistische Statuen in ihrem räumlichen Kontext: das Beispiel der Akropolis und der Agora von Athen, in: Albrecht Matthai/Martin Zimmermann (Hrsg.) Stadtbilder im Hellenismus. Berlin 2009, 173–226. 35 Grundlegend immer noch Arnold Hugh Martin Jones, The Greek City from Alexander to Justinian. Oxford 1940, 160f. 36 Ebd., 166 f; und unten. 37 Karl Rosen, Ehrendekrete, Biographie und Geschichtsschreibung. Zum Wandel der Polis im frühen Hellenismus, in: Chiron 17, 1987, 277ff. 38 Mann, Überlegungen (wie Anm.31); zu den Veränderungen im Stadtraum Martin Zimmermann, Stadtbilder im Hellenismus – die hellenistische Polis in neuer Perspektive, in: Matthai/Zimmermann (wie Anm.34), 9–22. 39 Bleicken (wie Anm.25), 480; ähnlich Jones, Greek City (wie Anm.35); und in Zusammenfassung des Forschungsstandes Hans-Joachim Gehrke, Geschichte des Hellenismus. Oldenburg Grundrisse der Geschichte. 3.Aufl. München 2003, 72 und 193f.
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chen vorbehalten. Richter wurden von Außen bestellt und das Losverfahren wich der Bestätigung selbsterwählter Würdenträger durch die Volksversammlung. Da die Poleis über zu geringe materielle Ressourcen verfügten und die Kosten von Politik und Militär unter dem Druck der Monarchien gewaltig anstiegen, waren die Bürgerschaften vom Vermögen, d.h. den Stiftungen, Schenkungen und Liturgien einzelner Personen und Familien, abhängig geworden. Daher habe sich bald eine Honoratiorenschicht entwickelt, die den hohen Aufwand an Zeit und Geld, die ein politisches Amt und der Schutz der Stadt mit sich brachten, zu leisten im Stande war. Zwar seien die Beschlüsse der Polis in der Volksversammlung von formal gleichberechtigten Bürgern gefasst worden, doch sei die politische Willensbildung von Honoratioren beherrscht worden. 40 Derartige Urteile sind allerdings insbesondere im Licht der Schenkungs- und Stiftungstätigkeit in Zweifel gezogen worden. So argumentiert Philippe Gauthier, dass nicht etwa Honoratioren, sondern die Könige zunächst als die großen Euergeten aufgetreten und der Knappheit der Städte durch finanzielle Unterstützung von Bauten und Festungsmauern oder Getreidelieferungen begegnet seien. 41 Erst mit dem langsamen Niedergang der Monarchien selbst und dem Aufstieg Roms habe sich im Laufe des 2.Jh. v.Chr. die Rolle des finanzkräftigen Wohltäters von den Königen auf reiche Bürger der Polis übertragen und das politische Gleichgewicht innerhalb der Bürgerschaften verschoben. 42 Gauthier führte eine neue chronologische Zäsur ein, die heute weitgehend akzeptiert ist. Bis in die Mitte des 2.Jh. v.Chr. scheinen die Volksversammlungen und Volksgerichtshöfe funktionsfähig geblieben zu sein; sie traten regelmäßig zusammen, waren gut besucht und scheinen auch ihre gesetzgebende Kompetenz bzw. die Beamtenkontrolle beibehalten zu haben. 43 Manche Poleis
40
Friedemann Quaß, Die Honoratiorenschicht in den Staaten des griechischen Ostens. Untersuchungen
zur politischen und sozialen Entwicklung in hellenistischer und römischer Zeit. Stuttgart 1993. Zur Diskussion, Mann, Überlegungen (wie Anm.31). 41
Gauthier, Cités, (wie Anm.12).
42
Vgl. Susanne Calsson, Hellenistic Democracies. Freedom, Independence and Political Procedure in
some East Greek City States. Stuttgart 2010; dies, Koan Democracy in Context, in: Kerstin Höghammer (Hrsg.), The Hellenistic Democracy of Kos. State, Economy and Culture. Upsala 2004, xxx–xxx; Volker Grieb, Hellenistische Demokratie. Politische Organisation und Struktur in freien griechischen Poleis nach Alexander dem Großen. Stuttgart 2008; zur Diskussion, Mann, Überlegungen (wie Anm.31), 15, Anm.11. 43
Pierre Fröhlich, Les cités grecques et le contrôle des magistrats, IVe –Ier siècle av. J.-C. Genf 2004, 452ff.;
s. auch die Aufsätze in ders./C. Müller (Hrsg.) Citoyenneté et participation à la basse époque hellénistique. Actes de la table ronde des 21–22 mai 2004, Paris. Genf 2005.
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konnten sogar eine Diätenzahlung für Magistrate, Ratsmitglieder und den Besuch der Volksversammlung aufrechterhalten. In Inschriften wurde der Anspruch, dass in einer Demokratie Beamte und Richter die Bürger “gleich und gerecht“ zu behandeln haben, normativ aufrecht erhalten. 44 Wenn sich Poleis in Bündnissen zusammenschlossen, wurde die gegenseitige Pflicht betont, den Gleichheitsgedanken umzusetzen. Neubürger sollten an allen politischen Ämtern und Stadtkulten in gleicher Weise teilhaben und den anderen Bürgern gleichgestellt und gleichberechtigt (isos kai homoios) sein. Nach einer Inschrift aus Smyrna sollten die Neubürger sogar einen Eid schwören, dass sie jeden, der die Demokratie oder Isonomie abzuschaffen versuchte, anzeigen würden. 45 Das Bürgerrecht als Statusgemeinschaft einer zumindest als gleich bezeichneten Bürgerschaft bestand in allen Poleis weiter. Allerdings zeigt die exzessive Betonung der Gleichheit auch die Sorge um ihren Bestand. Ab der Mitte des 2.Jh. v.Chr. änderte sich die Situation, wenn auch nicht in allen Poleis gleichzeitig und unter gleichen Bedingungen. Hervorzuheben ist, dass viele Inschriften für gute Beamte ab der zweiten Hälfte des 2.Jh. von diesen selbst vorverfasst wurden und die öffentliche Darstellung guter Amtsführung selbstgewählten Mustern folgte. 46
Wohltätigkeit und Demokratie Harter-Uibopuu hat oben die rechtlich-administrativen Versuche diskutiert, Stiftungen durch demokratische Instanzen zu kontrollieren. Hierzu zählten die Rechenschaftspflicht der für die Ausführung der Stiftung betrauten Amtsträger und Kommissionen vor Rat oder Volksversammlung, der Treueeid der Stiftungsverwalter vor diesen Gremien und die vielerorts anzutreffende Popularklage gegen die 44 S.auch Arist. Pol. 1299a25. 45 I. Smirna 573, 67–69; (c. 244/3 v.Chr.). 46 Patrice Hamon, Gleichheit, Ungleichheit und Euergetismus: Die isotes in den kleinasiatischen Poleis der hellenistischen Zeit, in: Mann/Scholz „Demokratie“ (wie Anm.23), 56–73. Andreas Victor Walser, Rechtsprechung und Demokratie in den hellenistischen Poleis, in: Mann/Scholz, Demokratie, (wie Anm.24), 74–108; Patrice Hamon, Élites dirigeantes et processus d’aristocratisation à l’époche hellénistique, in: HenriLouis Fernoux/Christian Stein (Hrsg.), Aristocratie antique. Modèles et exemplarité sociale. Dijon 2007, 79–100; Peter Scholz, Die Macht der Wenigen in den hellenistischen Städten, in: Hans Beck u.a. (Hrsg.), Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und edler Lebensstil in Antike und früher Neuzeit. München 2008, 71–99.
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Wandlung der Stiftung. 47 Patrice Hamon hat darüber hinaus gezeigt, wie reiche Amtsträger der Stadt gerade durch ihre Stiftungen zur Aufrechterhaltung der Gleichheit und des Gleichheitsgedankens angehalten waren. 48 Ein gewisser Metrodoros aus Pergamon zum Beispiel wurde mit einer Statue dafür geehrt, dass er als Leiter des Gymnasions bei seiner Amtsführung „Gleichheitssinn und Tugend“ (isotes kai aretes) an den Tag gelegt habe. Besonders den Aufmarsch der Jugendlichen bei Staatsbegräbnissen habe er in besonders egalitärer Weise weiterentwickelt. Metrodoros führte diesen Aufmarsch selbst an, was bewirkt habe, „dass auch die ganz einfachen Leute und nicht nur die Herausragenden der Stadt auf diese Weise geehrt wurden“. 49 Nicht nur die Tatsache selbst, sondern auch ihre Ehrung zeigt, dass derartige Initiativen kollektiv anerkannt wurden. Da Metrodoros die Kosten dafür selbst trug und die soziale Ausweitung „besonders beharrlich“ durchsetzte, mag sein Ehrgeiz möglicherweise Schule gemacht haben. Auch andere Wohltäter waren auf diese Weise sozialpolitisch erfindungsreich. Grundsätzlich bezogen sich Gleichheit und Gerechtigkeit nur auf den exklusiven Verband der Bürger. Wurden öffentliche Feste von Wohltätern gefördert oder eingerichtet, waren Fremde und Unfreie normalerweise angehalten, in ihren Privathäusern ebenfalls zu opfern, nicht aber am gestifteten Geschehen teilzunehmen. Allerdings bezogen sich Stiftungen häufig auf den Ausbau von Gymnasien und die Ausbildung der Jugendlichen und Athleten, die dort stattfand. 50 Gymnasien bildeten eine interessante Schnittstelle zwischen politischem und sozialem Leben. Sie waren weniger politisch als die Gremien, in denen sich die Amtsträger versammelten. Dennoch waren sie politische Räume: Zum einen wurden hier Söhne von Bürgern militärisch ausgebildet und zu Bürgern erzogen, zum anderen trainierten in der Palaistra des Gymnasions die Athleten, die bei öffentlichen Festen zu Ehren der Götter, Könige oder Euergeten im Wettkampf antraten. 51 Ursprünglich ein Wettbewerbs- und
47
Harter-Uibopuu in diesem Band.
48
Hamon, Gleichheit (wie Anm.44), 62–54 mit H.Hepding, AM 32, 1907, Nr.10 (133/130 v.Chr.).
49
Ebd. Z. 23. Zu Aufgaben und Bedeutung des Gymansiarchen s. Christof Schuler, Die Gymnasiarchie in
hellenistischer Zeit, in: Kah/Scholz, Gymnasion (wie Anm.12), 163–191; Michael Wörrle, Zu Rang und Bedeutung von Gymnasion und Gymnasiarchie im hellenistischen Pergamon, in: Chiron 37, 2007, 501–516. Zur kollektiven Bedeutung von Staatsbegräbnissen, Nicole Loraux, L’invention d’Athènes. Histoire de L’oraison funèbre dans la cité classique. Paris 1981.
220
50
Zu Gymansiarchie und Euergetismus, die Aufsätze in Curty, L’huile, (wie Anm.16).
51
Daniel Kah, Militärische Ausbildung im hellenistischen Gymnasion, in: Kah/Scholz, Gymnasion, (wie
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Lernort für Adlige und ihre Söhne, verbürgerlichte sich die Institution im 5.Jh. v.Chr. und wurde im Hellenismus zum einem gesellschaftlichen Zentrum von Städten, das auch neue Bevölkerungsschichten integrierte. Gerade in dieser Funktion entwickelte sich das Gymnasium im 2.Jh. v.Chr. zu einem mit der Agora und ihren Gebäuden konkurrierenden halb-öffentlichen Raum. 52 Allerdings konzentrierte sich die Integration auf eine wirtschaftlich exklusive Schicht, die sich Muße, Sport und Bildung leisten konnten. Ärmere waren aus ökonomischen, weniger aus politischen Gründen ausgeschlossen. Anfang des 1.Jh. v.Chr. ließ sich der Dioskurides aus Priene hierzu etwas Neues einfallen. 53 Zu seinem Amtsantritt spendete er allen Gymnasiasten ein Festmahl mit einer Portion Rindfleisch und darüber hinaus „allen Bürgern, Anwohnern ohne Bürgerrecht und Römern, die im Gymnasion trainierten“, kostenloses Öl. 54 Noch dazu öffnete er das Gymnasion für ein Amtsjahr all jenen, die durch „bösen Zufall“ (tuchen kaken) davon ausgeschlossen gewesen waren. Es entspricht den Vorstellungen der Zeit, dass sich der „böse Zufall“ nicht auf persönliches oder körperliches Unglück, sondern den Verlust von Status und Reichtum bezog. 55 Während derartige Maßnahmen die Wohltätigkeit auf Kreise, die über den Bürgerverband hinausreichten, ausweiteten, zeigen weitere Beispiele, dass das Bestreben, Gleichheit und Gemeinschaft zu fördern, neue Begriffe von politischer – nunmehr städtischer – Gemeinschaft förderte. 56 So stiftete Soteles aus der Stadt Pagai bei seinem Amtsantritt als Festbeauftragter um die Jahre 65–56 v.Chr. ein glanzvolles Essen für alle „Bürger und Anwohner, Römer und ihre Söhnen, Sklaven sowie Frau-
Anm.12), 47–90; zur athletischen Bedeutung: Ingomar Weiler, Gymnastik und Agonistik im Hellenistischen Gymnasion, in: Kah/Scholz, Gymnasion, (wie Anm.11), 25–46. 52 Henner von Hesberg, Das griechische Gymnasion im 2.Jh. v.Chr., in: Wörrle/Zanker, Stadtbild (wie Anm.11), 13–28; s. auch Hamon, Gleichheit (wie Anm.46), 65. 53 I. Priene 123 (c. 70–60 v.Chr.); Hamon, Gleichheit (wie Anm.44). 54 Elena Mango, Bankette im hellenistischen Gymnasion, in: Kah/Scholz, Gymnasion (wie Anm.12), 274–311. 55 Zur sozialen Bedeutung von Finanzhilfen, Philippe Gauthier, Un gymansiarque honoré à Colophon, in: Chiron 35, 2005, 101–112; Pierre Fröhlich, Les activité évergétiques et gymnasiarches à l’époche hellénistique tardive: la founiture de l’huile, in: Curty, L’huile (wie Anm.16), 57–94. 56 Wiederum ist die Bindefunktion der antiken Stiftung vor die soziale Motivation hellenistischer Stiftungen zu stellen, s. etwa Peter Scholz, Wohltaten zugunsten von Migranten und Nichtbürgern. Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Fremden in griechischen Städten, in: Joachim Bahlke, Rainer Leng, Peter Scholz (Hrsg.), Migration als soziale Herausforderung. Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis zum 20.Jahrhundert. Stuttgart 2011, 1–18, hier 16.
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en: Bürgerinnen, Anwohnerinnen, Sklavinnen und ihre Töchter“. 57 Die Reihenfolge der Aufzählung zeigt die bleibende Bedeutung von politischen Statusgruppen, aber zum Anlass des festlichen Schmauses war die soziale Hierarchie zeitweise suspendiert. Ähnliches hatte schon Kritolaos aus Amorgos in einer Stiftung zur Finanzierung eines regelmäßigen Festes zur Heroisierung seines Sohnes verfügt. Das Opfer und der Wein, die während des Festmahls im Gymnasion ausgeteilt werden sollten, waren nicht nur für die Bürger, sondern auch für Anwohner, Fremde, Römer und Frauen, sofern sie im Gymnasion anwesend waren, bestimmt. Die Getreidespenden richteten sich an Bürger, Anwohner, Fremde und Kinder. 58 Interessant ist, dass im Zuge der inklusiven Rhetorik der gemeinschaftsfördernden Stiftung die Stadtbewohnerschaft als koinonia von Gleichen in Erscheinung tritt. So versprach Zosimos aus Priene zum Antritt des höchsten Bürgeramtes (der stephanephorie) schon bei seiner Wahl eine Einladung auf private Kosten an alle „Bürger und Anwohner, Römer, Ausländer und Sklaven“. Und er machte den „ersten Tag seiner Amtsführung zu einem für alle gleichen Gemeinschaftserlebnis“ (koinopoesamenos pasin ep‘ ison). Die Verbindung von sozialer Gemeinschafts- und Gleichheitssemantik, als dessen Schöpfer (poesamenos) Zosimos auftritt, ist hier besonders augenfällig. 59 Hinter der Gleichheitssemantik verbargen sich sehr unterschiedliche politische Realitäten. Trotz unterschiedlicher Entwicklungen in einzelnen Poleis zeigt sich aber doch deutlich eine Entpolitisierung des Demokratiebegriffs, der sich zunehmend auf neue, soziale Ideale unter dem Leitbegriff der Gleichheit bezog. An der Herausbildung neuer Formen der Gemeinschaftsbildung waren die Euergesie und ihre öffentliche Bekanntmachung maßgeblich beteiligt.
Stiftung, Öffentlichkeit und demokratische Kommunikation Inschriften zu Ehren des Stifters und Stiftungsdekrete befanden sich auf dem Sockel des Denkmals für den Stifter, neben seiner Statue, dem gestifteten Gebäude oder
57
A. Wilhelm JÖAI 10, 1907, 19–20 (= ders. Abhandlungen I, 263–264); Hamon, Gleichheit (wie Anm.44),
70.
222
58
IG XII 515 = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.50 (2.Jh. v.Chr.).
59
I. Priene 113, 36–39; 53–56; Hamon, Gleichheit (wie Anm.44), 70.
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an einem für die Stiftung signifikanten Ort. 60 Sie waren Teil des Austauchs zwischen Stifter und Volk und setzten die Gabe, den Dank und deren Monumentalisierung in Beziehung. Sie sind kennzeichnend für die politische Kultur des Hellenismus, in der Politik, Fest, Bild und Inschrift aufs Engste verbunden waren. 61 Um sich ein Bild von dem emotionalen und sprachlichen Überschwang, aber auch von der Gemeinschaftssemantik der Inschriften zu machen, sei ein kleiner Ausschnitt aus einer vielzitierten Inschrift aus der griechischen Stadt Sestsos am nördlichen Ufer des Hellespont aus etwa dem Jahr 120 v.Chr. genannt. 62 Hier werden dem Menas, Sohn des Menes, auf einer fast zwei Meter hohen Stele höchste Ehren für seine Zuwendungen von Öl und Geräten an das städtische Gymnasion sowie für die großzügige Ausübung seines Amtes als Leiter desselben zuerkannt. Gleichzeitig gibt die Inschrift Einblicke in den Vorbildcharakter und die Verbindlichkeiten von Stiftungen, die über die Publikation der Ehren des Stifters und Dankbarkeit des Volkes bekräftigt wurden. Wesentlich ist dabei die Bedeutung der Sichtbarkeit der gegenseitigen Verpflichtungen und ihrer Erfüllung, die wiederholt mit Begriffen des Sehens im Text betont und durch das Ehrenmonument selbst unterstrichen wurde: „Damit man nun sieht, dass das Volk die edlen unter den Männern ehrt und diejenigen zu schätzen weiß, die von frühester Kindheit an ihren Ehrgeiz auf das Gemeinwohl gerichtet und Ruhm zu ihrem Ziel gemacht haben, und es an Dank (charis) nicht fehlen lässt, und damit alle anderen durch die Betrachtung der Ehren, die den Edlen vom Volk zu Teil werden, zum Streben nach Schönstem motiviert und auf Tugend hin ausgerichtet werden, und damit schließlich das Gemeinwesen daran aufblüht, dass alle im Streben nach Ruhm ermuntert sind, der Heimat ohne Unterlass Gutes zu tun. Deswegen möge zum guten Gelingen der Rat und das Volk beschließen: Menas, Sohn des Menes, soll gelobt werden für alles, was oben aufgeschrieben steht und für das Wohlwollen (eunoia), das er fortwährend gegenüber dem Volk empfand [...]“ 63
Die sorgfältig gewählten Formulierungen verweisen auf eine Reihe traditioneller Bilder, die die Inschrift zu mehr als einer kulturell austauschbaren Vignette machen. 60 Krummeich/Witschel, Hellenistische Statuen (wie Anm.34) bes. 186ff. 61 John Ma, Hellenistic Statues and Inscriptions, in: Zarah Newby/Ruth Leader-Newby (Hrsg.) Art and Inscriptions in the Ancient World, Cambridge 2007, 203–220. 62 Michael Wörrle, Vom tugendsamen Jüngling zum‚“gestressten“ Euergeten. Überlegungen zum Bürgerbild hellenistischer Ehrendekrete, in: Wörrle./Zanker, Stadtbild (wie Anm.11), 231–250. 63 IvSestos 1, 86–93 = OGIS 339, 86–93. Zusätze in runden Klammern sind erklärende Ergänzungen bzw. Begriffsklärungen der Autorin.
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Sie betten die Schenkung in die Werte einer idealen Polisgesellschaft ein, die seit den Epen Homers in der Verbindung von Schönheit, Tugend, Großzügigkeit und gesellschaftlichem Wohlergehen bestand. Zu diesen Werten gehörte auch, dass Ansehen eine visuelle Komponente hatte, die sich in der Sichtbarkeit von schönen Taten manifestierte und durch den schauenden Betrachter gesellschaftlich wirksam wurde. Die Qualität eines menschlichen Körpers, eines Charakters oder einer Leistung konstituierte sich nach griechischer Vorstellung zunächst weniger in seiner inhärenten Qualität als im Auge des Betrachters. Schon der homerische Heros war Held, Krieger, Freund, Ehegatte und König nur im Ansehen seines Gegenübers. Im Laufe der Einbindung von Volksversammlungen und Bürgern in politische Entscheidungen in der nachhomerischen Zeit übernahm das Volk diese Rolle. 64 Dies zeigt sich allenthalben im griechischen Theater, im Gerichtshof, in der Volksversammlung, auf dem Schlachtfeld und bei anderen öffentlichen Veranstaltungen, in denen eine betrachtende Volksmenge die Leistungen und Entscheidungen der politischen Anführer auf ihren Bühnen beurteilte. Die Rhetorik der Sichtbarkeit, die herausragende Rolle der Öffentlichkeit und die gemeinschaftsbildende Verklammerung von Volk und Elite, die davon ausging, waren nicht nur typisch für Ehrendekrete, sondern fanden Eingang in scheinbar ganz funktionale Stiftungsurkunden, die die rechtliche und organisatorische Ausgestaltung einer Stiftung zum Inhalt hatten. Hier ein Beispiel aus dem kaiserzeitlichen Aphrodisias: „Da Aristokles, Sohn des Artemidoros, Molossos, in ausgedehntester und großzügigster Weise rühmliche Gaben, Spenden und kostbare Ämter für unsere Stadt während seines Lebens geleistet hat, auch sonst sich selbst sehr entgegenkommend der Stadt gegenüber gezeigt hat und sie über alles stellte: Auch auf dem Sterbebette änderte er seine Liebe zur Vaterstadt nicht, sondern setzte ein Testament auf, in dem er zu all dem anderen, was er schon für die Stadt hinterlassen hatte, noch verordnete, dass den Bürgern jedes Jahr Geldspenden gegeben würden aus den Erträgen seiner Äcker, die er für die Gesamtheit (to koinon) hinterlassen hatte zusammen mit allem Übrigen, was er schon zu Lebzeiten gestiftet hatte; er sucht seinen Ruhm darin, dass er wegen der Geschenke, die er aus seinem Vermögen bereitet, und infolge die-
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Simon Goldhill, The Seduction of the Gaze: Socrates and his Girlfriends, in: Paul Cartledge/Paul Millett/
S.von Reden (Hrsg.), Kosmos. Essays in Order, Conflict and Community in Classical Athens. Cambridge 1998, 105–124.
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ser letztwilligen Verfügung sein Entschluss, der aus der Liebe zur Vaterstadt entsprang, ewig in Erinnerung bleibe. So ist es nötig, dass so viel wie möglich seine Verordnungen in allem gehütet werden.“ 65
Aristokles liegt schon im Grab, aber der Verweis auf sein Leben und die Taten, die er für die Vaterstadt und die Gemeinschaft erbracht hatte, rufen sein Leben mit auf. Gleichzeitig wird der tote Stifter innerhalb traditioneller Muster ins Heroische apostrophiert, indem seine Stiftung zur Ursache ewigen Ruhmes stilisiert wird. Homerische Heroen erlangten Ruhm durch Tod in der Schlacht; Städtegründer erlangten nach diesem Muster ewigen Ruhm und kultische Verehrung durch Heroisierung; siegreiche Athleten konnten nach ihrem Tod heroisiert werden, so dass ihr Ruhm der Heimatstadt dauerhaften Segen spendete. Auch wenn Aristokles Molossos keinen Kult in seiner Stadt erhielt, so wird dennoch angedeutet, dass seine Taten der Stadtbevölkerung Segen bringen würden, wie es von verstorbenen Heroen zu erwarten war. Doch der dauerhafte Segen war abhängig vom Dank der begünstigten Bürgerschaft. Die Inschrift hatte eine konkrete Funktion im Tauschverhältnis zwischen Stifter und Bürgerschaft. Sie stellte die Stiftung in den breiteren Rahmen von schönen Taten, Tugend, Dankbarkeit und deren langfristiger gesellschaftlicher Wirkung. Die Betrachter der Inschrift, die dankende Menge und der Stifter selbst schufen ein dreipoliges Beziehungsgeflecht, das zur Aufrechterhaltung des städtischen Wohlstandes notwendig war. Gleichzeitig verwandelte der Dank der Gemeinschaft das Ungleichheitsverhältnis zwischen Wohltäter und Bürgerschaft in eines von Gleichheit und Harmonie. Die Harmonie der dankenden Bürgerschaft genauso wie jene zwischen Stifter und Bürger wirkte in ihrer Idealität gemeinschaftsbildend. In einer Passage zur idealen demokratischen Ordnung formuliert der hellenistische Historiker Polybios das Lob auf die Demokratie in ganz ähnlicher Weise wie in den Stiftungsdekreten der Städte. Hier wird philanthropia gepaart mit isotes als Kennzeichen des Gemeinschaftssinns und der „Demokratie“ des achäischen Bündnisses auf der Peloponnes herausgestellt: 66 „Eine reinere, von echterem Gemeinschaftssinn getragene Form der Gleichberechtigung (isegoria) und der Meinungsfreiheit (parrhesia), kurz einer wahren
65 IAph 2007, 12.803 = Laum Stiftungen (wie Anm.11), Nr. 100, 13–30; 1.Jh. n.Chr. Für ein, wenn auch nicht ganz so eindrückliches Beispiel aus hellenistischer Zeit, s. unten die Stiftung des Alkesippos, Syll.3 632 (Delphi 182 v.Chr.) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.27. 66 Zur finanziellen Bedeutung von philanthropia s. oben Anm.7; zur Bedeutung von königlichen Schenkungen: Polyb.29, 24, 13–16 (Schenkung der Ptolemäer an die Achaier); Polyb. 31, 31, 1–3 (Schenkung des
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Demokratie wird man nicht leicht finden als sie bei den Achaiern besteht […] Denn indem sie keinem der ursprünglichen Mitglieder ein Vorrecht (pleonektema) ließen, sondern die jeweils Beitretenden jenen völlig gleichstellten (isa de panta poiousa), gelangten sie schnell an ihr Ziel, wobei sie zwei sehr wirksame Momente in die Waagschale zu werfen hatten: Gleichheit und Philanthropie (isotes kai philanthropia). Daher muss man in dieser Verfassung die erste und eigentliche Ursache dafür erkennen, dass die Peloponnesier zur Einigkeit (sumphronesis) und dadurch zu ihrem jetzigen Glück (eudaimonia) gekommen sind.“ 67
Auch hier ist die als Leistung und Gegenleistung verstandene Philanthropie wesentliche Voraussetzung für Gemeinschaft, Gleichheit und politische Stabilität (eudaimonia). Die materielle Bedeutung von philanthropia, die ihr wesentlicher Kern war, ist in auffälliger Weise unterbetont. Philanthropie wird zu einer demokratischen Ethik, die den Zusammenhalt und die langfristige Stabilität einer egalitären Gemeinschaft bedingt und fördert.
Demokratische Kontrolle und Legitimation von Stiftungen Stiftungen erhielten Rechtskraft durch ihre Aufzeichnung und Veröffentlichung an sichtbaren Plätzen. Schon die erste uns bekannte Stiftung des athenischen Strategen Nikias auf Delos wurde auf eine Stele geschrieben. 68 Der literarische Bericht über die Stiftung erwähnt dieses Detail und bezeichnet die Stele als „Hüterin der Stiftung“. Auch Antiochos von Komagene ließ seine Stiftung auf „unverletzbaren Stelen“ einschreiben, damit sie für immer fortbestehe. 69 Publikationsklauseln in Stiftungsdekreten bestimmten meist, wo die Urkunde publiziert werden sollte. So sah die testamentarische Stiftung des Alkesippos zu Ehren des delphischen Apollon die Veröffentlichung im Tempel des Gottes vor. 70 Die Stiftung zur Instandhaltung des Apollon-Heiligtums auf Keos sollte in einer Altarnische des Pythions inschrift-
Eumenes II an Rhodos); Polyb. 18, 16,1–4 (Schenkung des Attalos von Pergamon an Sikyon); weitere Beispiele in Bringmann, Geben (wie Anm.12). 67 Polyb. 2, 38, 4–9; 2.Jh. v.Chr.
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Von Reden, Glanz (wie Anm.5), 25 mit Plut. Nikias 3,5.
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OGIS 383 (69 – 34 v.Chr. Kommagene) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.210, Z. 106–110.
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Syll.3 632 (Delphi 182 v.Chr.) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.27.
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lich festgehalten werden. 71 Das Stiftungsdekret des Kritolaos von Aigiale auf Amorgos wurde auf die öffentlichen Gesetzestafeln der Stadt geschrieben, zum anderen verpflichtete sich Kritolaos, eine weitere Publikation neben seiner Statue anzubringen. 72 Im letzteren Fall zeigt sich durch die doppelte Aufstellung des Stiftungstextes symbolisch die doppelte Grundlegung der Stiftung, die noch heute im Willen des Stifters einerseits und der Annahme und Durchführung des Stifterwillens durch bürgerliche Rechtsorgane andererseits liegt. Besonders explizit formuliert eine Inschrift aus Milet das Zusammenspiel von Stifter und bürgerlichen Institutionen: „Damit aber der Entschluss des Volkes und der von Eudemos [dem Stifter] in dieser Angelegenheit bewiesene Ehrgeiz (philotimia) allen bekannt werde, soll die Mauerbaukommission mit dem Architekten dafür Sorge tragen, dass dieser Volksbeschluss [über die Stiftungsverwaltung] auf zwei steinernen Tafeln aufgeschrieben wird. Und sie sollen die eine in der Palaistra der Knaben aufstellen, wo es passend ist, die andere im Heiligtum des Apollon Delphinios an der von Eudemos, Sohn des Thallion, geweihten Exedra.“ 73
Die Veröffentlichung der Stiftungsurkunde und ihrer Durchführungsbestimmungen hatte zunächst eine juristische Funktion: Sie machte die Stiftung rechtskräftig und erklärte im Detail die Aufsicht über Kapitalanlage und Zweck. Die umfangreichen Bestimmungen sind aber auch, wie es das Dokument aus Milet deutlich zum Ausdruck bringt, Zeugnis für die gegenseitige Abhängigkeit von Stifter und Bürgerschaft. Es dokumentiert das Selbstinteresse des Stifters (seine philotimia), aber auch die maßgebliche Beteiligung des demos und seiner Rechtsordnung an der Umsetzung der Stiftung. Wie es Then und Kehl formulieren, hängt die gesellschaftliche Akzeptanz und damit auch die Wirkung sozialer Investitionen immer von der Kooperation gesellschaftlicher Gruppen oder Instanzen mit dem Stifter ab, ohne deren Mitwirkung der Erfolg gefährdet ist, da soziale Investoren nicht über exekutive Durchsetzungskraft verfügen (s. unten S. 268). Diese Mitwirkung stellte die Bürgerschaft in ihren Dekreten bewusst und geradezu greifbar in Anspruch. Eine lange Stiftungsinschrift aus Kerkyra kann dies noch deutlicher veranschaulichen. 74 Die Inschrift ist in zwei Teile geteilt, die sich als Stiftungsurkunde (dosis) einerseits und Dekret (dogma) über die Ausführung der Stiftung andererseits verste71 IG XII 5, 595 (Ioulis, Keos, 3./2.Jh. v.Chr.) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.59. 72 IG XII 7, 515 (Aigiale auf Amorgos, 2.Jh. v.Chr.) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.50. 73 I. Milet I 3, 145(Milet 200–199 v.Chr.) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.129. 74 IG IX 1. 694 (3./2.Jh. Kerkyra) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.1.
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hen lassen. Für den antiken Betrachter waren diese Dokumente aber nicht getrennt, sondern schlossen unmittelbar aneinander an. Die Abfolge der Bestimmungen, die sich vertragstechnisch als Klauseln darstellen lassen, waren durch Übergangsfloskeln wie ei de oder epei de (wenn aber; nachdem aber) aneinander angeschlossen. In dem fortlaufenden Text von knapp 150 Zeilen treten drei Akteure auf: (1) die Stifter Aristomenes, Sohn des Aristolaides, und Psylla, Tochter des Alkimous; (2) der Rat, das Gericht und die Volksversammlung mit ihren jeweils vorbereitenden Magistraten (den probouloi und prodikai) sowie (3) die Polis und die mit der Ausführung des Stiftungszweck betrauten Festleiter (Agonotheten). Eine vierte Instanz ist das Agonothetengesetz, nach dessen Richtlinien das Fest ausgerichtet werden soll. Auch das Gesetz steht als Ausdruck des demokratischen Willens, da es Resultat eines demokratischen Gesetzgebungsverfahrens war. Die profilierteste Rolle in der Ausführung der Stiftung spielen Rat und Volksversammlung. Der Rat wählt jährlich die Kommission der drei Männer, die das Kapital auf Zins legen; er fasst auch den Beschluss über die Verwaltung der Stiftung, der der Stiftungsurkunde angehängt ist; Rat und Volksversammlung im Verbund urteilen die Mitglieder der Kommission ab, wenn sie das Kapital nicht pflichtgemäß austeilen oder die Zinsen nicht eintreiben. Vor dem Rat haben sowohl die Agonotheten als auch die Verwaltungskommission der Stiftung Rechenschaft abzulegen. Den prodikai obliegt es, Anklage gegen die Agonotheten oder die Verwaltungskommission zu erheben, wenn sie das Geld der Stiftung zweckentfremden oder eine der Vorschriften missachten. Die prodikai des Rates sollen eine schriftliche Anklage erheben und sie bei den probouloi einreichen. Diese sollen sie binnen 30 Tagen vor das Volksgericht bringen. In der Abschluss- und Publikationsklausel wird die Stiftung noch einmal explizit an die Beschlüsse des Rats in Zusammenarbeit mit der Volksversammlung gebunden: „alles übrige soll ausgeführt werden nach den Beschlüssen von Rat und Volksversammlung“ (Z. 139 f.). Etwas anders wird die demokratische Kontrolle in dem schon erwähnten Stiftungsdekret von Aigiale auf Amorgos konstruiert. 75 Hier tritt der demos zunächst als das politische Organ auf, das die Männer, die den Gesetzesantrag für die Ausführung der Stiftung stellen sollen, wählen (Z.1–3). Diese Männer sind allerdings gleichzeitig jene, die die Heroisierung des verstorbenen Aleximachos, Sohn des Kritolaos, beantragt hatten (Z.3–4). Kritolaos, der Vater, hatte selbst die Summe von 2000 Drach-
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IG XII 7, 515 (Aigiale auf Amorgos, 2.Jh. v.Chr.) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.50
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men gestiftet. Die Wahl scheint eher die Bestätigung einer selbstdesignierten Gruppe gewesen zu sein, in deren Interesse die Heroisierung des Verstorbenen lag. Dennoch notiert das Dekret, das Volk habe der Heroisierung zugestimmt (Z.7). Die Stiftung wird anschließend unter die Aufsicht exklusiver Kommissionen und Amtsträger sowie dem Stifter selbst gestellt (Z.22ff.). Hier scheint also eine, in ihrer freien Willensbildung recht beschränkte Bürgerschaft dem Rat, den Beamten, der Verwaltungskommission und dem Stifter selbst gegenüberzustehen. Die Macht des Volkes besteht jedoch in seiner Identifikation mit dem Recht, das in ähnlicher Weise nur von höheren Instanzen geschützt werden kann. Der Rechenschaftsbericht über die Ausgaben der Stiftung soll nämlich einerseits unter Schwur gestellt und andererseits aufgeschrieben werden (Z.90–98) und „jedem, der will“ zugänglich sein (Z.89). Schließlich erkennt die Inschrift jedem Aigialer, „der es möchte und dem es zusteht“, das Recht auf Klage gegen die Veruntreuung oder Umwidmung des Kapitals oder seiner Erträge zu (Z.130–131): „Wenn jedoch einer den Antrag stellt oder zur Abstimmung bringen will oder der Vorsteher (epistates) oder die Vorsitzenden (prohedroi) der Volksversammlung es zur Verhandlung stellen oder aber der Schreiber protokolliert oder vorliest, man müsse diese Gelder zu irgendeinem anderen Zweck benutzen oder etwas von dem in dem Gesetz (nomos) vorgeschriebenen ändern, soll der, der es tut, das Bürgerrecht verlieren und sein Vermögen konfisziert werden. Jeder Bürger von Aigiale, der es möchte und der das Recht dazu hat, soll Klage erheben bei den Thesmotheten mit Aussicht auf die Hälfte der Strafsumme.“
Allein die klagefähigen Bürger von Aigiale treten als Instanz für die Wahrung der Stiftung auf. Die Volksversammlung erscheint in zweiter Reihe hinter den prohedroi, epistatai und ihren öffentlichen Schreibern. Nicht die Volksversammlung als Institution der demokratischen Verfassung, sondern „jeder Bürger, der möchte“, tritt als Schutz der Stiftung und Repräsentant der Rechtsordnung auf. In der etwas kürzeren Inschriftengruppe aus Ioulis, die auf zwei Steine verteilt war, erscheinen Rat, Volksversammlung und thesmophylakes (Gesetzeshüter) als kooperierende Instanzen der Kontrolle über eine Stiftung. Die Stiftung galt der Instandhaltung eines Apollontempels sowie Opfern für den Gott. 76 Die demokratischen Gremien scheinen intakt: Rat und Volksversammlung fassen gemeinsam Beschluss (Z.1–3), die Aufsichtskommission wird per Los gewählt und das Umset-
76 IG XII 5, 595 (3./2.Jh. v.Chr., Ioulis/ Keos) = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.59.
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zungsverfahren der Stiftung wird detailliert beschrieben (Z.10–13). Das Zusammenwirken der städtischen Gremien und die Macht der Gesetze sowie die typischen demokratischen Verfahrensregeln lassen allerdings nicht unbestreitbar auf eine echtere Demokratie als in Aigiale schließen. Liest man die Inschrift als Dokumentation der Spielregeln zwischen potentiell im Konflikt stehenden sozialen Gruppen, tritt die Hierarchisierung von städtischen und Tempelinstitutionen besonders augenfällig hervor. Hieropoioi („Opferdiener“) waren säkulares Personal, das grundsätzlich dem städtischen Rat und der Volksversammlung rechenschaftspflichtig und unterworfen war. Allerdings erhalten wiederum die städtischen Gesetze (gehütet durch die Möglichkeit der Privatklage) und die wiederholt genannten thesmophylakes Zentralität in der Kontrolle über das die Stiftung ausführende Tempelpersonal (Z.14-23): „Wenn von den Opferdienern einer etwas zerteilt oder von dem Geld etwas nimmt oder es nicht zahlt, soll er 10000 Drachmen zahlen, die dem Apollon zukommen. Jeder, der will, soll Anzeige erheben dürfen bei den thesmophylakes. Die thesmophylakes sollen für den Angezeigten eine Strafe von 10000 heiligen Drachmen erheben und ihn innerhalb von 10 Tagen vor Gericht stellen. Sie sollen gegen ihn dem Gesetz gemäß das Verfahren der Pfändung eröffnen. Wenn er nicht zahlt, sollen die thesmophylakes ihn im Pythion auf einer steinernen Stele unter Hinzufügung des Vaternamens aufschreiben und hinzufügen, wie viel heilige Drachmen er schuldet. Dieser Beschluss (psephisma) soll auf einer steinernen Stele vor dem Pythion aufgestellt werden und als Gesetz (nomos) gelten über die Gelder des Apollon für alle Zeiten.“
Die Stifter treten dagegen bemerkenswert in den Hintergrund. Die Stiftung wird geschützt durch die private Klagemöglichkeit bei den thesmotheten. Die Polis stellt das Verfahren und das Personal bereit. Das harmonische Zusammenwirken der städtischen Institutionen erklärt sich aus ihrer Gegenüberstellung mit den Institutionen und dem Personal des Tempels. Es mag deutlich geworden sein, dass Stiftungsinschriften unterschiedliche Machtverhältnisse zum Ausdruck brachten und auf Dauer aufrechterhielten. Sie spiegeln den gesellschaftlichen Rahmen wider, in dem sich Stiftungen entfalteten. Wenn wir darüber hinaus bedenken, dass viele (wenn auch nicht alle) Stiftungsurkunden öffentliche Monumente waren, die den Stadtraum prägten und Stiftungen in ihrem konkreten Rezeptionsrahmen Bedeutung verliehen, wird deutlich, dass sie Teil eines Diskurses waren, in dem politische Beziehungen vergegenwärtigt, auf-
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recht erhalten und für die Zukunft fest gehalten wurden. Trotz lokaler und zeitlicher Unterschiede positionierte sich in den öffentlichen Dokumenten das demokratische Volk als Hüter des Rechts. Die maßgebliche Beteiligung am Stiftungsprozess, die die Öffentlichkeit hellenistischer Städte für sich in Anspruch nahm und die Stimme, die politische Institutionen, Verfahrensregeln und die Rechtsordnung dabei erhielten, legitimierten Stiftungen demokratisch und festigten umgekehrt ein kollektives Verständnis von Demokratie: im konkreten Sinne einer Herrschaft des Volkes, der „Mehrheit“ oder städtischen „Öffentlichkeit“. 77 Dies soll abschließend noch einmal anhand eines Volksbeschlusses zu Ehren König Antiochos I. aus der Frühzeit des Hellenismus veranschaulicht werden. Jenseits seiner Funktion als Stiftungssicherung integrierte der rechtskräftige Volksbeschluss die königliche Stiftung demonstrativ und kommunikativ in den Verfahrensrahmen der Polis. Die inschriftliche Veröffentlichung des Volksbeschlusses repräsentierte, wie wir gezeigt haben, die demokratische Legitimierung des hier monarchischen Stifterwillens. In diesem Fall schuf sie einen Ausgleich zwischen monarchischem Einfluss und demokratischer Autonomie. Die Ehrung des Königs war nur die eine Seite der Wechselbeziehung, die durch die Stiftung in Gang gesetzt wurde und auf deren anderer Seite die Akzeptanz der Stiftung durch die Bürger von Milet stand. „Beschluss der Bürger (edoxe toi demoi), Antrag der Synhedroi. Deodamas, Sohn des Aristeides, stellte den Antrag: Antiochos der Ältere, Sohn des Seleukos --erbietet sich, eine Stoa…in der Stadt zu bauen. Die Erträge, die sie für alle Folgezeit aufbringt, sollen nach dem Willen des Stifters für bauliche Maßnahmen im Heiligtum zu Didyma verwendet werden […]. Die Milesier beschlossen daher, Antiochos zu ehren wegen der dem Gott bewiesenen Frömmigkeit und des den Bürgern gezeigten Wohlwollens: als Platz für die Stoa soll ihm die Stelle angewiesen werden, die der gewählte Architekt zusammen mit der von Antiochos bestellten Kommission anweisen wird. Die Schatzmeister --- und die eingesetzten Prytanen nehmen die Erträge, die [die Stoa] einbringt, deponieren sie getrennt und verpachten sie in der Weise, wie es die Bürger beschließen (an toi demoi dokei).“ 78
Die Bürger nehmen die Stiftung gleichsam graduell in Besitz. In enger Zusammenarbeit, so weist es die Inschrift aus, bestimmen der städtisch gewählte Architekt 77 Cartledge, Trilogie (wie Anm.21), 13. 78 Syll. 213 (Milet 306 – 293 v.Chr.), = Laum, Stiftungen (wie Anm.11), Nr.128.
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und die monarchisch eingesetzte Kommission den Platz für die Stoa. Doch erst durch das städtische Verfahren der Stiftungsverwaltung (Schatzmeister, Prytanen und Volksbeschluss) wird die Stiftung des Antiochos zum langfristigen Ertrag für die Polis und zur Ehre des Königs. Es ist kein Zufall, dass die Niederschrift nicht nur mit dem formelhaften „Beschluss der Bürger“ (edoxe toi demoi) beginnt, sondern über die Erwähnung „der Milesier“ im Zentrum der Inschrift mit denselben Worten auch schließt (an toi demoi dokei).
Resümee Die gemeinschaftsbildende Kraft des hellenistischen Stiftungswesens lässt sich nur im Zusammenhang mit antiken Demokratievorstellungen und ihrem Wandel verstehen. Wohltätigkeit war zunächst eine politische Arena des Adels, in der Vorrang, Ansehen und Ehre verteilt wurden. Während der klassischen athenischen Demokratie wurde sie weitgehend institutionalisiert und in Form von Liturgien oder unregelmäßige Versorgungsmaßnahmen (Getreide, Holz, Edelmetall) an die Polis insgesamt adressiert, um soziale Abhängigkeiten, Patronage und die herausgehobene Stellung einzelner Wohltäter zu beschränken. Euergesie war kein Mittel der sozialen Umverteilung, sondern eine Möglichkeit, den Reichtum einzelner Bürger gefahrlos für den demokratischen Bestand einer Bürgerschaft zu vereinnahmen. Da antike Regierungen keine Sozialpolitik verfolgten, die soziale Gleichheit abgemildert hätte, war gesteigerter kommunikativer Aufwand erforderlich, um die politischen Konsequenzen von sozialer Ungleichheit einzudämmen. Dieser Aufwand wurde umso größer, als sich die griechische Gesellschaft nicht nur sozial, sondern auch politisch wieder stärker hierarchisierte. Während die Euergesie der Reichen deren politische Sichtbarkeit noch erhöhte, wurden im Austauschprozess zwischen Stiftern und Volk der Stifter und das Stiftungswesen auf den Gleichheitsgedanken verpflichtet. Stiftungen mussten durch Volksbeschluss angenommen werden, sie wurden von demokratischen Institutionen kontrolliert, und hatten der Gleichheit des Bürgerverbandes zu dienen. Innerhalb des langsamen Wandels, dem das demokratische Selbstverständnis griechischer Bürgerschaften im Laufe des Hellenismus unterlag, verschwand in vielen Poleis der Einfluss des Volkes, des demos, in den Gremien. Doch unterstützten insbesondere auch Stiftungen neue Begriffe von Gemeinschaft und Gleichheit, die im Sinne einer städtischen Gemein-
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schaft auch Nicht-Bürger und Frauen einschließen konnten. Während die politischen Rechte der städtischen Bürgerschaft geringer wurden, wurde der demos zunehmend inklusiv. Gerade auch die Veröffentlichung von Stiftungen an das Volk, die demokratische Kontrolle des Stiftungsverfahrens und die Sicherung der Stiftung durch das Volk hielt nunmehr veränderte Demokratiebegriffe aufrecht und legitimierte Stiftungen als demokratische Institution. Hinter der Förderung von isotes (Gleichheit) verbargen sich höchst unterschiedliche soziale Spannungen, die in den Stiftungsurkunden selbst zutage treten. Während die Formulierungen der öffentlichen Urkunden legitimierend auf die Stiftung wirkten und jede Stiftung in die Verfahrensregeln der organisierten Bürgerschaft integrierte, waren sie Medien eines Austauschprozesses zwischen Stiftern, Aufsichtskommissionen, Gremien, Funktionären und Bürgern. Dieser Austauschprozess verwischte faktische Ungleichheiten, Statusunterschiede und den Demokratieverlust der politischen Gremien, aber er löste diese Spannungen auch kommunikativ und trug somit zu einem bleibenden Demokratiebewusstsein der Bürgerschaften bei. Es mag sein, dass am Ende des Hellenismus die politischen Institutionen ihre demokratische Grundlage verloren, aber in dem bleibenden Willen nach bürgerlicher Kontrolle über Macht und Recht, für die gerade auch die Stiftungsdokumente eine wichtige Plattform bildeten, blieben die hellenistischen Bürgerschaften im Kern doch recht demokratisch. 79
79 Ich danke Sofia Aneziri, Universität Athen, Christian Mann, Universität Mannheim und Felix Maier, Universität Freiburg für hilfreiche Kommentare und Hinweise. Für Irrtümer bleibe ich selbstverständlich selbst verantwortlich.
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III. Stiftungen in der Gegenwart
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Der Stifter als Unternehmer: Parallelen und Unterschiede der Philanthropie im 19. und 21.Jahrhundert von Georg von Schnurbein
Einleitung Stifterpersönlichkeiten sind immer Objekt großer Bewunderung. Dies gilt gleichermaßen für heutige, lebende Stifter wie für die Stifter vergangener Epochen: angefangen mit Gaius Maecenas, dem Namensgeber aller Mäzene, und Jakob Fugger, dem Erfinder der staats- und kirchenunabhängigen Sozialinstitution 1, über die Wohltäter des Industriezeitalters wie Andrew Carnegie, John D. Rockefeller oder Will Kellogg in den USA oder Ernst Abbe und Robert Bosch in Deutschland, bis hin zu den heutigen Philanthropen wie Bill Gates, Warren Buffet, Klaus Jacobs, Stefan Schmidheiny oder Reinhard Mohn. Dabei überstrahlt der Glanz der guten Tat meist die vorausgehende unternehmerische Aktivität. Schließlich ist bis heute der Archetyp des Stifters ein Unternehmer, der sich nach seiner erfolgreichen Wirtschaftskarriere wohltätigen Aufgaben widmet. Die Stiftung ist damit „der Überflussbetrag der Unternehmertätigkeit“. 2 Anders ausgedrückt sind Stiftungen Kinder der Wohlstandsgesellschaft, denn es bedarf eines frei verfügbaren Vermögens, um eine Stiftung zu gründen. Daher fallen die Hochzeiten des Stiftungswesens zum Ende des 19.Jahrhunderts 3 und wiederum ab 1990 bis heute 4 wenig überraschend in Jahrzehnte wirtschaftlicher Aufbruchsstimmung. Aus der heutigen Perspektive wird die Philanthropie des 19.Jahrhunderts vor allem mit den Stiftungen der amerikanischen Magnaten in Verbindung gebracht.
1 Marion Tietz-Strölbel, Die Fuggerei in Augsburg. Studien zur Entwicklung des sozialen Stiftungsbaus im 15. und 16.Jahrhundert. Tübingen 1982. 2 Jörg Allgäuer, Die rechte und die linke Hand: Motive der Gründung einer Stiftung. Baden-Baden 2008, 108. 3 Thomas Adam, Stiften für das Diesseits – Deutsche Stiftungen in der Neuzeit, in: GWU 63, 2012, 11ff. 4 Rupert Graf Strachwitz, Die Wiederentdeckung des Stiftungswesens, in: GWU 63, 2012, 57.
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10.1515/9783110400007.237
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Diese erfanden das Konzept der philanthropic oder grantmaking foundation. 5 Außerdem konnte sich die amerikanische Philanthropie bis heute kontinuierlich entwickeln, während in Europa das 20.Jahrhundert von Kriegen, Diktaturen und wirtschaftlichen Katastrophen geprägt war. Denn es gibt auch europäische Leitfiguren der frühen Philanthropie, wie beispielsweise Ernst Abbe 6, Christoph und Margarete Merian 7, Maurice de Hirsch 8 und Robert Bosch 9. Erfreulicherweise erfolgt gerade in Deutschland in den letzten Jahren eine kontinuierliche Aufarbeitung der historischen Wurzeln der Philanthropie. 10 Sowohl in Amerika wie auch in Europa berufen sich die heutigen Stifterinnen und Stifter in ihrem Handeln oftmals auf die Philanthropen des 19.Jahrhunderts. Der vorliegende Beitrag setzt sich daher zum Ziel, Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Epochen herauszuarbeiten. Dabei wird insbesondere auf die Rolle der Stifterpersönlichkeit, den Einfluss des Unternehmertums und das Verhältnis zum Staat eingegangen. Zudem soll der Frage nachgegangen werden, worin der innovative Charakter der jeweiligen Stiftungstätigkeit gelegen hat. Die Ausführungen machen deutlich, dass die heutige Philanthropie zwar auf dem im 19. Jahrhundert entwickelten Verständnis beruht, Unternehmertum und Stiftung heute jedoch viel enger verbunden sind als damals.
5 Frank Adloff, Philanthropisches Handeln. Frankfurt/New 2010. Siehe auch Kenneth Prewitt, Foundations, in: Walter W. Powell/Richard Steinberg (Hrsg.), The Nonprofit Sector. New Haven/London 2010, 361. 6 Rupert Graf Strachwitz, Ernst Abbe (1840–1906), in: Fest Joachim (Hrsg.), Die großen Stifter. Berlin 1997, 135–160. 7 Robert Labhardt, Kapital und Moral. Basel 2011. 8 Maurice de Hirsch, My Views on Philanthropy, in: North American Review, Nr.416, 1891, 1–4. 9 Michael Stürmer, Robert Bosch (1861–1942), in: Fest Joachim (Hrsg.), Die großen Stifter. Berlin 1997, 249–268. 10
Beispielhaft Thomas Adam/Manuel Frey/Rupert Graf Strachwitz, Stiftungen seit 1800 – Kontinuitäten
und Diskontinuitäten. Stuttgart 2009; Frank Adloff, Operative und fördernde Stiftungen, in: Rupert Graf Strachwitz/Florian Mercker (Hrsg.), Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis. Berlin 2005; Adloff, Philanthropisches Handeln; Allgäuer, Motive; Fest, Stifter (wie Anm.6); Rupert Graf Strachwitz, Die Stiftung – ein Paradox? Stuttgart 2010.
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Entwicklung der Philanthropie im 19.Jahrhundert Auch wenn der Begriff „Philanthropie“ aus dem Griechischen stammt und allgemein mit „Menschenfreundlichkeit“ übersetzt wird, gilt das heutige Verständnis als eine Erfindung des 18.Jahrhunderts. 11 Im Laufe der Zeit hat sich das Verständnis von Philanthropie immer wieder gewandelt und entwickelt. Ausschlaggebend waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der geltende Wertekanon oder die wirtschaftliche Situation. In der Ideengeschichte wird der Begriff vielfältig verwendet. Seine Bedeutung und Interpretation unterlagen einem stetigen Wandel. Schon die griechischen Philosophen diskutierten, was Philanthropie umfasst und wer dazu fähig ist. 12 Einige Philosophen sahen Philanthropie als ein Resultat höchster Bildung und Erziehung und fügten dem Begriff somit eine pädagogische Komponente hinzu, die insbesondere durch den Theologen und Pädagogen Johann Bernhard Basedow im 18.Jahrhundert wieder aufgenommen wurde. 13 Im Mittelalter wurde Philanthropie ersetzt durch Mildtätigkeit, die geprägt war von der christlichen Lehre und den kirchlichen Institutionen. Almosen waren Ausdruck christlicher Nächstenliebe und daher Teil des eigenen religiösen Heilsstrebens. Im Übergang von Mittelalter zur Neuzeit löste sich die Philanthropie aber aus der kirchlichen Dominanz heraus. Ein Beispiel für diesen Wandel stellt Jakob Fugger dar, der 1521 in Augsburg die erste Sozialsiedlung der Welt stiftete. Statt Kirche und Stadt in die Führung der Stiftung einzubinden, blieb die Verwaltung und Finanzierung immer in den Händen der Familie Fugger, die dazu umfangreiche Ländereien in die Stiftung einbrachte. Während für Jakob Fugger das eigene Seelenheil und der richtige Glaube noch ein zentraler Beweggrund für sein Engagement waren, wählte er in Fragen der Umsetzung bewusst eine private Lösung fern der kirchlichen Institutionen. 14
11 Rupert Graf Strachwitz, Stiften, Philanthropie und Venture Philanthropie, in: Philipp Hoelscher/ Thomas Ebermann/ Andreas Schlüter (Hrsg.), Venture Philanthropy in Theorie und Praxis. Stuttgart 2010, 54. 12 Zum Konzept der Philanthropie in der Antike s. Sitta von Reden, Glanz der Stadt und Glanz der Bürger: Stiftungen in der Antike, in: GWU 63, 2012, 21–38. 13 Alexander Brink, Corporate Philanthropy aus strategischer Perspektive, in: Die Unternehmung, 63, 2009, 75–100. 14 Georg von Schnurbein, Gutes tun ist gut genug? Philanthropie zwischen Mission und Management, in: Georg Pfleiderer/Peter Seele (Hrsg.), Wirtschaftsethik kontrovers. Zürich 2012, 163.
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Vor allem durch die gesellschaftlichen Veränderungen der Industrialisierung und begleitet von den Vorstellungen der Aufklärung entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein neues Verständnis der Philanthropie, oftmals als scientific philanthropy 15 bezeichnet. Zentrale Wesensmerkmale dieser neuen Sichtweise waren eine gesamtgesellschaftliche Perspektive, eine Ausweitung der Unterstützungsbereiche und eine Entfernung vom religiösen Kern der Wohltätigkeit hin zu einer wissenschaftlichen Fundierung. 16 Die gesamtgesellschaftliche Perspektive Stiftungen im Mittelalter waren als piae causae weitestgehend auf das nähere Umfeld, also Absicherung der Familienmitglieder, Almosen und Nothilfe für die sozial Schwachen in der eigenen Stadt oder Schulbildung für die Kinder der eigenen Angestellten beschränkt. 17 Die amerikanische Soziologin Jane Addams beschreibt die Entwicklung der Philanthropie ausgehend von der Behandlung sozialer Probleme: „As gradual changes in charitable methods have irresistibly led from Cure to Prevention, so they are now leading in the same gradual but unresting manner from Prevention to Vital Welfare.“ 18 Philanthropie dient nicht nur der Linderung von Not, sondern übernimmt eine tragende Rolle in der Entwicklung von Gesellschaft und Staat. Als Beispiel nennt Addams das Engagement von philanthropists zum Schutz von Schornsteinfegern in England, das mit der Gründung der “Society for Superseding the Work of Climbing Boys” im Jahr 1803 seinen Anfang nahm. Drei Maßnahmen wurden ergriffen: Erstens wurde ein Preis für die beste Schornsteinfegemaschine ausgelobt, zweitens wurde ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der die Jungen schützen sollte. Der Entwurf passierte das House of Commons, scheiterte aber im House of Lords. Die dritte und innovative Maßnahme waren privat finanzierte Inspektoren, die das Verhalten von Schornsteinfegermeistern überwachten. Diese Inspektionen wurden über siebzig Jahre finanziert, bis schließlich 1875 ein Gesetz erlassen wurde, das den Schutz der jungen Schornsteinfeger regelte, und das Prinzip der Inspektion vom Staat übernommen wurde. 19 Wie an diesem Beispiel deutlich
240
15
Prewitt, Foundations (wie Anm.5), 361.
16
Adloff, Philanthropisches Handeln (wie Anm.5), 255.
17
Michael Borgolte, Planen für die Ewigkeit – Stiftungen im Mittelalter, in: GWU 63, 2012, 41.
18
Jane Addams, Charity and Social Justice, in: North American Review 656, 1910, 69.
19
Ibid., 70f.
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wird, vereinte die wissenschaftliche Philanthropie (scientific philanthropy) moderne Technologien, politisches Engagement und innovative Methoden, um Lösungen zu schaffen, die langfristig und gesamtgesellschaftlich eine Veränderung bewirkten. Diese Form der Philanthropie grenzte sich dadurch von früheren Formen wohltätigen Engagements ab, die primär dem Prinzip der Umverteilung von Reich zu Arm folgten, ohne grundsätzliche, systemverändernde Maßnahmen zu ergreifen. Insbesondere die neue Industrie-Elite in Amerika war sich bewusst, dass es ihre Pflicht war, ihren Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft zu leisten und damit auch den sozialen Frieden zu sichern. So schreibt Andrew Carnegie 1889 in seinem Artikel „Wealth“ in der North American Review, der später als „The Gospel of Wealth“ Berühmtheit erlangt: „The problem of our age is the proper administration of wealth, so that the ties of brotherhood may still bind together the rich and the poor in harmonious relationship.“ 20 Auch wenn die Mehrheit der großen amerikanischen Stifter männliche selfmademen und nord- oder mitteleuropäischer Abstammung waren 21, stellt sich bei näherer Betrachtung ein sehr heterogenes Bild ein. 22 Viele von ihnen, z.B. Andrew Carnegie oder die Guggenheims, hatten selbst die große Armut der Einwanderer erfahren, andere wie Will Kellogg oder John Rockefeller stammten aus der Mittelschicht, während John Morgan oder Andrew Mellon aus Bürgerfamilien stammten, die sich in Amerika bereits etabliert hatten. Das wohltätige Engagement war daher nicht dasjenige einer einzelnen gehobenen Schicht (z.B. des Adels) für den Rest der Gesellschaft, sondern entstand sozusagen aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Hinzu kam die Institutionalisierung der Philanthropie insbesondere durch Stiftungen. 23 Wenngleich sich Stifter und Stiftungen Ende des 19.Jahrhunderts nicht etwa als Opposition zum Staat verstanden, so war es dennoch ein Novum, private Organisationen zu gründen, deren ausschließlicher Zweck die Finanzierung – und nicht die Umsetzung – gemeinnütziger Aufgaben war. 24 Andrew Carnegie lieferte mit „Gospel of Wealth“ den gedanklichen Unterbau der neuen Philanthropie. Dabei stand im Zentrum die Verpflichtung der Reichen, der 20 Andrew Carnegie, Wealth, in: North American Review 599, 1889, 526. 21 Fest, Stifter (wie Anm.5), 11. 22 Waldemar A. Nielsen, Inside American Philanthropy – The Dramas of Donorship. Norman/London 1996, 17. 23 Prewitt, Foundations (wie Anm.5), 361. 24 Strachwitz, Die Stiftung (wie Anm.10), 115.
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Gesellschaft etwas zurückzugeben. Denn schließlich war es die Gesellschaft bzw. der Staat, der den Reichen ihr Vermögen und ihren Aufstieg ermöglicht hatte. Selbst für religiös geprägte Stifter wie John D. Rockefeller war dieser Aspekt neben der christlichen Pflicht ein wesentlicher Antrieb. 25 Insbesondere bei den Kunstsammlern Morgan und Mellon lässt sich die Idee des wohltätigen Einsatzes für die Gesellschaft nachzeichnen. Beide Philanthropen hatten ihren Reichtum durch Finanzgeschäfte erworben und stellten sich schon im Geschäftsleben in den Dienst des Staates. Morgan organisierte – nicht zu seinem Verlust – die amerikanischen Staatsfinanzen in einer Zeit ohne Nationalbank 26, während Mellon von 1921 bis 1932 Finanzminister der USA war. Ihre Sammeltätigkeit in der Kunst war weniger von persönlicher Vorliebe oder Begeisterung geprägt als vielmehr von einer mehr oder weniger systematischen Akquise bedeutender Werke. Insbesondere Morgan hatte sich zum Ziel gesetzt, dem jungen Amerika die ästhetischen und gelehrten Traditionen Europas zu vermitteln und damit zur Nationenbildung beizutragen. 27 Ihre Sammeltätigkeit verfolgten sie also nicht als persönliches Hobby, sondern sie war vom Patriotismus geleitet. 28 Ein weiteres Motiv, warum die Avantgarde der Leistungsgesellschaft ein großzügiges wohltätiges Engagement entwickelte, war die Suche nach Bestätigung und Anerkennung in der Gesellschaft. 29 Zum einen regte sich schon zu Lebzeiten der Unmut in Teilen der Gesellschaft und der Politik über die oftmals rabiaten Geschäftsmethoden. Dem sollte mit Großzügigkeit im Sozialwesen begegnet werden. Zum anderen suchten die neureichen Emporkömmlinge die Anerkennung der bestehenden Eliten und hofften, durch ihre Spendentätigkeit den Zugang zu den gehobenen Kreisen zu gewinnen. Die Philanthropie war also durchaus ein Instrument der eigenen Interessen und ein Statussymbol des eigenen Aufstiegs. 30
25
Allgäuer, Motive (wie Anm.2), 121.
26
Jean Strouse, John Pierpont Morgan (1837–1913), in: Fest, Stifter (wie Anm.5), 87ff.
27
Ebd., 105f.
28
Allgäuer, Motive (wie Anm.2), 117.
29
Thomas Adam, Philanthropy and the Shaping of Social Distinctions in Nineteenth Century U.S., Cana-
dian, and German Cities, in: Thomas Adam (Hrsg.), Philanthropy, Patronage, and Civil Society, Experiences from Germany, Great Britain, and North America. Bloomington 2004, 17. 30
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Allgäuer, Motive (wie Anm.2), 110f.
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Ausweitung der Unterstützungsbereiche Als Folge der gesamtgesellschaftlichen Perspektive richtete sich die Philanthropie auf mehr Gesellschaftsbereiche aus als die bestehende Mildtätigkeit. Während sich die Mildtätigkeit vornehmlich auf soziale Zwecke beschränkte und vor allem Personen mit Schicksalsschlägen (z.B. Kranke, Behinderte, Waisen) half, wurden durch die neuen Philanthropen allgemeine Themen wie Bildung, Forschung, Erholung und Kunst aufgenommen. 31 Carnegie förderte durch den flächendeckenden Bau von Bibliotheken den Zugang zu Bildung für breite Schichten der Bevölkerung. Rockefeller unterstützte die Forschung an verschiedenen Universitäten des Landes und gründete 1901 das Rockefeller Institute for Medical Research in New York. 32 Morgan schenkte seine gesamte Kunstsammlung nach seinem Ableben öffentlichen Museen, für die er teilweise schon zu Lebzeiten aktiv gewesen war. 33 Aus diesen Aktivitäten wird deutlich, dass die Philanthropie nicht als Almosen verstanden wurde, mit dem eine Umverteilung des Vermögens von reich zu arm gewährleistet werden sollte. Vielmehr wurde auf der Grundlage einer sozialdarwinistischen Denkhaltung der Philanthropie die Leistungsorientierung eingepflanzt, die für die Stifter auch im Berufsleben von zentraler Bedeutung gewesen war. 34 Aus der Überzeugung, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei und dass Leistung belohnt werde, wurde das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ geschaffen. 35 Der Zugang zu Bildung, Forschung, Kunst oder auch ärztlicher Versorgung sollte die Entwicklungschancen der Menschen erhöhen, ohne sie zu bevormunden. Durch die Ausweitung der Unterstützungsbereiche wurden mithilfe der Philanthropie die wesentlichen Fundamente der heutigen amerikanischen Zivilgesellschaft gelegt.
31 Andrew Carnegie benennt folgende beste Felder der Philanthropie: Universitäten, Bibliotheken, Krankenhäuser und andere medizinische Institutionen, öffentliche Einrichtungen wie Parks, Veranstaltungshallen, Schwimmbäder und schließlich Kirchen. Vgl. Andrew Carnegie, The Best Fields for Philanthropy, in: North American Review 397, 1889, 687ff. 32 Prewitt, Foundations (wie Anm.2), 361. 33 Strouse, Morgan (wie Anm.26), 105. 34 Prewitt, Foundations (wie Anm.2), 361. 35 Nathan Straus, Helping People to Help Themselves, in: North American Review 415, 1894, 542–553.
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Entfernung vom religiösen Kern der Wohltätigkeit Für die großen Stifter des 19.Jahrhunderts waren ihr unermesslicher Reichtum und ihre Religiosität kein Widerspruch; vielmehr war das Erste eine Konsequenz des etzteren. 36 Gerade im pietistisch und calvinistisch geprägten Protestantismus ist weltlicher Reichtum ein Zeichen von Gottes Segen. Erlösung konnte man nicht durch Werke, sondern nur durch die Gnade Gottes erlangen. 37 Deshalb war die Philanthropie nicht vorwiegend religiös geprägt. Zur Verpflichtung der Nächstenliebe und Barmherzigkeit gesellten sich die Motive der Leistungsorientierung sowie die Werte der Aufklärung. „The modern idea of philanthropy rests on a recognition of progress and choice; it makes the eradication of poverty possible, not through divine intervention but through human endeavor.“ 38 Die Wohltätigkeit erfolgte nicht primär zur Sicherung des eigenen Seelenheils, denn die Stifter waren von der Richtigkeit ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten überzeugt. Sie hatten sich dem Fortschritt und der gesellschaftlichen Entwicklung verschrieben. Dabei zählte die Gesellschaft als Ganzes und nicht der Einzelne. Beispielhaft für diese generalistische Perspektive ist der Stiftungszweck der Rockefeller Foundation, der sich nach dem „well-being of mankind around the world“ 39 richtet. Rockefeller wird nachgesagt, dass er privat sehr geizig gewesen sei und Gästen in seinem Privathaus zum Abschied eine Rechnung überreicht haben soll. 40 Selbst bei seinen Spenden habe er immer überlegt, ob er das Geld nicht für einen besseren Zweck einsetzen könnte. Sein umfangreiches und ernst gemeintes gemeinnütziges Engagement galt daher nicht einzelnen Personen, sondern den Menschen generell. 41 Im Gegensatz zu den veränderten Vorstellungen vom Sinn der Wohltätigkeit, widmeten auch die neuen Philanthropen den größten Teil ihres Vermögens – insbesondere ihre Stiftungen – erst nach dem Tod der Gemeinnützigkeit. Damit blieben sie in der Tradition der Stiftung als Denkmal der eigenen Person verhaftet.
36
Ron Chernow, Titan – the Life of John D. Rockefeller, Sr. New York 1998, 54. Rockefeller sah es als sein
Gott gegebenes Talent, Geld zu vermehren: „God gave me money.“ 37
Prewitt, Foundations (wie Anm.2), 362.
38
Barry D. Karl/Stanley N. Katz, Foundations and Ruling Class Elites, in: Daedalus – Journal of the Ame-
rican Academy of Arts and Sciences 116, 1987, 6.
244
39
Prewitt, Foundations (wie Anm.2), 363.
40
Jörg von Uthmann, John D. Rockefeller (1839–1937), in: Fest, Stifter (wie Anm.6), 134.
41
Chernow, Titan (wie Anm.36), 314.
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Betrachtet man die Entwicklung und Konzeption der scientific philanthropy im ausgehenden 19.Jahrhundert aus theoretischer Perspektive, so lässt sich ein unmittelbarer Bezug zu Max Webers protestantischer Ethik herstellen. Die Akkumulation von großem Reichtum und dessen Rückgabe an die Gesellschaft gehören zusammen. Nach Weber sind es protestantische Askese, Pflichtgefühl und die Suche nach Selbstgewissheit, die den modernen Kapitalismus befördert haben. 42 Insbesondere im Calvinismus galt erfolgreiches Wirtschaften als ein Zeichen der Erwähltheit, gleichzeitig war jegliche Form der Verschwendung oder des Müssiggangs verpönt. Entsprechend Andrew Carnegies „Gospel of Wealth“ war ein erfolgreicher Unternehmer daher nicht Eigentümer seines Reichtums, sondern nur dessen Verwalter und verpflichtet, es zum Besten der Gemeinschaft zu reinvestieren. 43 Damit stimmt auch die Einstellung europäischer Philanthropen wie etwa des Baslers Christoph Merian überein, der sein ererbtes Vermögen als göttliche Wohltat und damit auch als Verpflichtung verstanden hat, das Vermögen als von Gott anvertrautes Gut zu verwalten. 44 Gestützt wurde dieses Verständnis auch durch die vorherrschende sozialdarwinistische Denkhaltung. Für Carnegie, Rockefeller oder Morgan war es unzweifelhaft, dass die vorherrschenden ökonomischen Regeln von Wettbewerb, Konzentration und Verteilung den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand sicherten und daher die Ungleichverteilung von Reichtum als eine Konsequenz daraus akzeptiert werden müsse. 45 Kritik an diesem auf Ungleichverteilung beruhenden Gesellschaftsverständnis übte 1891 Robert Ingersoll, der in einer Parabel drei Philanthropen beschrieb: 46 Der erste versklavt die Menschen, die er fördert, mit dem Argument, dass ihnen das Wissen fehlt, um für sich selbst zu sorgen. Er legt ihnen strenge Regeln auf und reguliert ihr Leben, so dass es ihnen für den Preis der Freiheit am Ende besser als vorher geht, der Philanthrop aber auch immer reicher wird. Auf seinem Grabstein steht: „Er war die Fürsorge der Armen“. Der zweite Philanthrop beruft sich auf das
42 Max Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hrsg. von Dirk Kaesler. München 2010. 43 Carnegie, Philanthropy (wie Anm.31), 684. 44 Labhardt, Kapital (wie Anm.7), 263. Entsprechend vermachte Christoph Merian, dessen Ehe mit Margarete Merian-Burckhardt kinderlos blieb, sein gesamtes Vermögen testamentarisch nach seinem Tod 1857 der Stadt Basel „zum Wohle der Mitbürger und zur Ehre Gottes“. 45 Carnegie, Philanthropy (wie Anm.31), 684. 46 Robert G. Ingersoll, The Three Philanthropists, in: North American Review 421, 1891, 661–671.
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HZB-66.book Seite 246 Freitag, 20. März 2015 12:46 12
Gesetz von Angebot und Nachfrage und kümmert sich nicht unmittelbar um das Wohl seiner Arbeiter. Dafür nutzt er seinen Reichtum, um viele öffentliche Institutionen zu fördern. Sein Grabstein ziert die Inschrift: „Er lebte für andere“. Der letzte Philanthrop schließlich beteiligt seine Mitarbeiter am Erfolg und teilt den Gewinn zwischen allen auf, die an der Erwirtschaftung beteiligt waren. Auf seinen Grabstein schreiben die Arbeiter: „Er ermöglichte anderen, selbst zu leben“. Die Philanthropie wurde im 19.Jahrhundert nicht erfunden, aber sie erhielt entscheidende Anstöße für eine Neuausrichtung. Die herausragende Stellung der amerikanischen Stifter dieser Zeit ergibt sich einerseits aus der Konsequenz und Kontinuität, mit der sie im wirtschaftlichen wie im philanthropischen Bereich agierten. Zum anderen ergab sich trotz vergleichbarer philanthropischer Aktivität diesseits und jenseits des Atlantiks ein Unterschied aufgrund der differenzierenden Staatsverständnisse. Während in den USA eine Tradition des weak state gepflegt wurde, der vorzugsweise indirekt privates Engagement förderte statt selbst aktiv zu werden 47, so waren die bürgerlichen Philanthropen in Europa in ein nach wie vor feudales Staatswesen eingebunden, in dem Adel und Kirche wesentliche Rollen übernahmen. 48 Es überrascht daher nicht, dass für viele private Initiativen in den USA Institutionen in Europa Pate standen, z.B. beim Aufbau der Universitäten und der Museen. 49 Laut Prewitt zeichneten sich die neuen grantmaking foundations durch drei Prinzipien aus: Die Suche nach den Wurzeln der Probleme, festangestellte Mitarbeitende zur Umsetzung strategischer Programmziele und eine flexible, auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete Zweckorientierung. 50
Philanthropie heute: zwischen Mission und Management Die Forschung zu Philanthropie und Gemeinnützigkeit hat sich in den letzten zwanzig Jahren deutlich intensiviert. 51 Insbesondere außerhalb der USA, vor allem in
47
Prewitt, Foundations (wie Anm.5), 362.
48
Petra Krimphove, Philanthropen im Aufbruch. Wien 2010, 99.
49
Allgäuer, Motive (wie Anm.2) 121. So standen das Robert-Koch-Institut und das Institute Pasteur Pate
für das Rockefeller Institute for Medical Research. 50
Prewitt, Foundations (wie Anm.5), 363.
51
Stanley N. Katz, Where Did the Serious Study of Philanthropy Come From, Anyway? in: Nonprofit and
Voluntary Sector Quarterly 28, 1999, 78f.
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HZB-66.book Seite 247 Freitag, 20. März 2015 12:46 12
Europa, sind in den vergangenen Jahren mehrere spezifisch ausgerichtete Institute gegründet worden, die sich der Philanthropie-Forschung verschrieben haben. Diese wissenschaftliche Aufwertung der Philanthropie ist die Folge eines enormen Wachstums. 52 So sind beispielsweise in den USA und in der Schweiz über 50% der bestehenden Stiftungen seit 1990 gegründet worden, in Deutschland sind im gleichen Zeitraum sogar 74% der rechtsfähigen gemeinnützigen Stiftungen entstanden. 53 Wie die Philanthropie des 19.Jahrhunderts ist dieser Aufschwung der Philanthropie auch eng mit einigen Unternehmerpersönlichkeiten verbunden. Dazu gehören weltweite Vorbilder wie Bill Gates, George Soros, Warren Buffett und Jeff Skoll. In Deutschland fallen im Kontext der Stiftungen Namen wie Reinhard Mohn, Kurt Körber, Michael Kühne oder Claus Jacobs und die Liste ließe sich noch beliebig verlängern. Wie eingangs erwähnt, sind Stiftungen Folge von frei verfügbaren Vermögen und es stellt sich die Frage, ob das aktuelle Philanthropiewachstum schlicht eine Kopie der Entwicklung des 19.Jahrhunderts darstellt. Ein wesentlicher Unterschied, aus dem weitere Differenzen folgen, wurde bereits angesprochen: Andrew Carnegie war schon zu Lebzeiten philanthropisch aktiv, jedoch war er bei der Gründung seiner größten Stiftung 1911 bereits 76 Jahre alt. Bill Gates hat seine Stiftung 1999 im Alter von 44 Jahren gegründet. Dieser Trend zum lebenden Stifter hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt und ist einer der Gründe, warum Stiftungen heute unternehmerischer geführt werden. "Spending money intelligently is as difficult as earning it.“ 54 Dieses Zitat von Bill Gates verdeutlicht, dass die heutigen Stifter ihr philanthropisches Engagement mit den gleichen Werten und Prinzipien angehen wie ihre unternehmerischen Aktivitäten. Waren Stiftungen im 19.Jahrhundert Vermächtnisse ihrer Stifter, so sind sie heute eher als deren Werkzeuge zu bezeichnen. Dadurch hat im Stiftungswesen – wie im gesamten non-profit-Sektor auch – eine Professionalisierung stattgefunden, durch die sich die Arbeitsweise von Stiftungen von einer Verwaltungstätigkeit in eine Managementperspektive gewandelt hat. 55
52 Bernhard Lorentz, Geben ohne Gegengabe? in: GWU 1/2 63, 2012, 82. 53 Eigene Berechnungen auf Grundlage der Statistiken des Foundation Center (USA), des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen (Deutschland) sowie des Centre for Philanthropy Studies (Schweiz). 54 Janet Lowe, Bill Gates Speaks: Insight from the World's Greatest Entrepreneur. New York 1998, 178. 55 Strachwitz, Stiften (wie Anm.11), 50.
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HZB-66.book Seite 248 Freitag, 20. März 2015 12:46 12
Peter Drucker definiert Management wie folgt: „Management exists for the sake of the institution‘s results. It has to start with the intended results and has to organize the resources of the institution to attain these results.” 56 Diese Zielorientierung hat in Stiftungen eine besondere Bedeutung, da eine Stiftung in ihrer Zieldefinition an den Stifterwillen gebunden ist. Insofern ist mit der Stiftungsgründung der Zielfindungsprozess zu einem Großteil bereits abgeschlossen und für die zukünftige Arbeit hat die Wertorientierung des Stifters, wie sie im Stiftungszweck implizit oder explizit zum Ausdruck gebracht wird, eine normative Gültigkeit. Es ist die primäre Herausforderung der verantwortlichen Personen, aus dem Stiftungszweck eine Strategie abzuleiten, die anschließend operativ umgesetzt werden kann. Wenn im Folgenden also von Stiftungsmanagement die Rede ist, dann sind alle Instrumente, Methoden und Aufgaben immer im Kontext des Stiftungszwecks zu verstehen. Das erfordert in vielen Bereichen der Managementlehre einen Paradigmenwechsel: Die generelle Zielsetzung des klassischen Managements – „monetäre Umsatzgenerierung mit positivem Ertrag“ – wird im Stiftungsmanagement abgelöst von einem Sachziel „Verwirklichung des Stiftungszwecks“. 57 Im Gegensatz zu anderen non-profit-Organisationen wie Vereinen und Genossenschaften kommt diese Wertorientierung noch stärker zum Tragen, da der Stiftungszweck nicht per Mitgliederbeschluss geändert werden kann. Aufgrund der Vorrangstellung des Stiftungszwecks hat die Wertorientierung einer Stiftung konsequenterweise auch eine starke Auswirkung auf das Stiftungsmanagement. 58 Der zweite grundlegende Aspekt des Stiftungsmanagements liegt in der Natur der Stiftungsarbeit. Die Produktivität von Stiftungen umfasst Auswahl- und Evaluationsprozesse von Gesuchen und Projekten, die Koordination von Projekten und Projektpartnern, die Konzeptionierung und Umsetzung von Förderprogrammen, die Finanzierung von Ausstellungen, Wettbewerben u.ä. sowie die Durchführung eigener Projekte. Die Liste ließe sich noch beliebig verlängern und konkretisieren. Es soll damit vor allem deutlich gemacht werden, dass Stiftungen in aller Regel keine Sachgüter herstellen. Solche fallen allenfalls als Nebenprodukte der eigentlichen 56
Peter F. Drucker/Joseph A. Marciariello, Management, Revised Edition of Management: Tasks, Responsi-
bilities, Practices. New York 2008, 82. 57
Niklas Lang/Peppi Schnieper, Professionelles Management von Stiftungen, Foundation Governance Bd.
4. Basel 2007, 12ff. 58
Georg von Schnurbein, Dienstleistungsorientiertes Stiftungsmanagement, in: Stiftung und Sponsoring,
Rote Seiten 5, 2010, 6f.
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Stiftungstätigkeit an. Zum Beispiel bietet die Stiftung Job Factory in Basel die Produktion von Drucksachen an, was jedoch vorwiegend dazu dient, Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu verschaffen. Eng verbunden mit dieser Dienstleistungsperspektive ist die Bewertung der Leistungserstellung durch einen Wertschöpfungsansatz, da sich die Ergebnisse oftmals nicht eindeutig definieren lassen. 59 Anforderungen an das Stiftungsmanagement Neben der Wertorientierung der Stiftung als wichtigem Grundsatz für das Stiftungsmanagement kann daher das Leistungsergebnis mit der anvisierten Wertschöpfung gleichgesetzt werden. 60 Die erfolgreiche Umsetzung der Wertorientierung führt unweigerlich zu einer Wertschöpfung, die jedoch nicht primär monetärer Art sein muss. Anders ausgedrückt transformieren Stiftungen finanzielles Kapital in andere Kapitalformen, vor allem in soziales Kapital, das zur Entwicklung und Stabilität der Gesellschaft beiträgt. 61 Dieses veränderte Verständnis der Umsetzung und Arbeitsweise von Stiftungen wird insbesondere bei drei wesentlichen Aspekten deutlich: Governance, Ressourceneinsatz und Kundenorientierung. Foundation Governance In vielen Stiftungen ist der Vorstand das einzige existierende Gremium. Selbst in Stiftungen mit einer hauptamtlichen Geschäftsführung ist der Vorstand in operative Prozesse der Gesuchsbegutachtung und -auswahl involviert und trägt daher eine große Verantwortung für die gesamte Organisation. Hinzu kommt, dass aufgrund der fehlenden Mitglieder der Vorstand selbst kein weiteres Kontrollorgan im Sinn einer Generalversammlung hat, dem er Rechenschaft schuldig ist. „Es fehlen äquivalente Feedbackmechanismen, welche klare Signale für Erfolge und Nicht-Erfolge bzw. auch das Scheitern von Stiftungen setzen können.“ 62 Der Vorstand vereinigt in sich die Dreieinigkeit aus Kontrolle, Entscheidung und Umsetzung; eine grundsätzliche Gewaltentrennung fehlt. Diese Machtkonzentration führt zu Problemen wie
59 Georg von Schnurbein/Karsten Timmer, Die Förderstiftung: Strategie – Führung – Management, Foundation Governance Bd. 7. Basel 2010, 26. 60 Ebd. 61 Robert D. Putnam, Bowling Alone: America's Declining Social Capital, in: Journal of Democracy 6, 1995, 65–78. 62 Lorentz, Geben (wie Anm.52), 82.
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Interessenkonflikten, Nepotismus, Behäbigkeit und Selbstreferenzialität. 63 Mehr als andere Organisationstypen muss die Stiftung aus sich selbst heraus Mechanismen entwickeln, die eine effiziente und effektive Steuerung fördern. Schließlich gibt es keinen Marktdruck durch Konkurrenten oder Konsumenten, die eine Veränderung der Stiftung herbeiführen könnten. Druck von außen wird auf eine Stiftung erst dann ausgeübt, wenn es bereits zu spät ist. Hier setzt die foundation governance an, verstanden als die Gestaltung und Aufsicht der Führungsstrukturen einer Stiftung. 64 Mit dem Swiss Foundation Code wurde von einer Arbeitsgruppe von Swiss Foundations, dem Verband der Schweizer Förderstiftungen, ein Instrument geschaffen, das die wichtigsten Aspekte der foundation governance zusammenfasst: 65 Wirksame Umsetzung des Stiftungszwecks: Der Vorstand ist dazu eingesetzt, den Stiftungszweck umzusetzen. Dies bedeutet, den Stifterwillen immer wieder neu zeitgemäß und entsprechend den Anforderungen zu interpretieren. Dazu muss der Vorstand nicht nur seine eigene Leistung berücksichtigen, sondern die gesamte Stiftungstätigkeit überprüfen. Die Forderung nach einer wirksamen Umsetzung ergibt sich aus dem Wirtschaftlichkeitsprinzip, demzufolge mit den vorhandenen Ressourcen eine größtmögliche Leistung erzielt werden soll. 66 Darunter fallen gleichermaßen der Umgang mit dem Stiftungsvermögen, die Fördertätigkeit als auch die Gestaltung der Stiftung als Organisation. Checks and balances (Machtausgleich): In aller Regel steht dem Vorstand kein entsprechendes organisatorisches Gegengewicht gegenüber. Damit fehlen der Stiftung wichtige Voraussetzungen, um eine Gewaltentrennung zu etablieren, wie sie in Vereinen oder Aktiengesellschaften üblich ist. Deshalb steht der Vorstand in der Pflicht, geeignete Vorkehrungen von Kontrolle und Gegenkontrolle zu errichten. 67 Transparenz:
63
Philipp Egger, Die Krise als Chance, in: Georg von Schnurbein/Philipp Egger (Hrsg.), Innovation statt
Stagnation. Basel 2013, S.98ff. 64
Georg von Schnurbein/Tizian Fritz, Foundation Governance im Kontext von Reputation und Legitima-
tion, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen 35, 2012, 62f. 65
Thomas Sprecher/Philipp Egger/Martin Janssen, Swiss Foundation Code 2009, Foundation Governance
Bd. 5. Basel 2009, 18f.
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Einerseits bezieht sich die Transparenz auf die interne Organisation der Stiftung. Entscheidungsprozesse sollten nachvollziehbar und standardisiert ablaufen. Andererseits betrifft die Transparenz auch das Verhältnis der Stiftung zu ihrer Umwelt. 68 Denn trotz fehlender Ansprüche bewegt sich die Stiftung nicht völlig abgekoppelt von anderen Akteuren. Als Organisationen der Zivilgesellschaft sollten sich Stiftungen als aktive Partner anderer Organisationen und Institutionen verstehen, die offen kommunizieren und der Öffentlichkeit geeignete Informationen zur Verfügung stellen. 69 Foundation governance sollte jedoch nicht reduziert als internes Aufsichtssystem verstanden werden. Vielmehr dient die Ausgestaltung und Anwendung der governance-Prinzipien auch der Stärkung von Legitimation und Reputation, die von aussen an die Stiftung herangetragen werden. Da Stiftungen ihre Legitimation nicht pragmatisch z.B. durch Mitgliederzahlen belegen könnten, sind andere Instrumente wie foundation governance erforderlich, um positive Signale an ihr Umfeld zu senden. 70 Optimaler Ressourceneinsatz Aus der Forderung nach Wirksamkeit ergibt sich als zweite zentrale Forderung an das Stiftungsmanagement ein sorgfältiger Einsatz der verfügbaren Ressourcen. Keine Stiftung der Welt – selbst nicht die Bill & Melinda Gates Foundation – verfügt über genug Ressourcen, um ihren Stiftungszweck vollständig zu erfüllen. Die sozialen, ökologischen und humanitären Probleme der Welt übersteigen die Stiftungspotenziale um ein Vielfaches. Wie bereits erwähnt schütten die Schweizer Stiftungen 1–1,5 Mrd. CHF aus, das sind gerade einmal 2–3% des Bundeshaushaltes. Dieser Vergleich macht deutlich, dass Stiftungen zu langfristigen, umfassenden Förderaktivitäten gar nicht fähig sind, sondern immer nur punktuell und selektiv agieren können. Umso mehr müssen sie ihre Mittel möglichst effektiv einsetzen, „Problemfelder analysieren und den Markt kennenlernen“ 71. Vor allem Stiftungen mit einem breit gefassten Stiftungszweck müssen sich daher auf einzelne spezifische Förderschwerpunkte fokussieren, um sich nicht in der Fülle der Anträge und sozialen Bau-
68 Ludwig Theuvsen, Transparenz von Nonprofit-Organisationen: Eine Analyse am Beispiel des Swiss NPO-Code, in: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 61, 2008, 22–40.
69 Sprecher/Egger/Janssen, Swiss Foundation Code (wie Anm.65), 73f. 70 von Schnurbein/Fritz, Foundation Governance (wie Anm.64), 70ff. 71 Lorentz, Geben (wie Anm.52), 88.
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stellen zu verlieren. Das ‚Gießkannenprinzip‘ ist nach wie vor eine weit verbreitete Stiftungsstrategie, denn schließlich soll möglichst vielen Menschen geholfen werden. Ein wichtiger Grundsatz in der Förderarbeit lautet aber: entscheiden heißt verzichten. 72 Der Vorstand muss den Einsatz seiner Mittel gut planen und sich dann an der Einhaltung dieser Planung messen lassen. Neben der Fokussierung auf strategische Schwerpunkte ist die Hebelwirkung die zweite Herangehensweise an eine optimale Ressourcennutzung. Eine Stiftung kann durch Einzelförderung von Kindern mit Migrationshintergrund sehr viel Wirkung erzeugen. Die Förderung kann aber nie die gesamte Zielgruppe erfassen. Wie viel Wirkung ließe sich aber erzeugen, wenn es gelänge, das staatliche Bildungssystem so zu verändern, dass Kindern mit Migrationshintergrund generell bessere Chancen geboten werden könnten? Plakativ ausgedrückt: Eine Stiftung kann 1 Franken einmal im Sinn des Stiftungszwecks einsetzen oder sie kann den 1 Franken so einsetzen, dass durch die Beteiligung anderer Akteure 3 oder 4 Franken in die Zielgruppe investiert werden. Dazu ein Beispiel aus Kalifornien: 73 Die Rosenberg Foundation setzt sich für soziale Gerechtigkeit, insbesondere für die Rechte der Immigranten und Niedriglohn-Arbeiter ein. Dabei unterstützt die Stiftung nicht nur unmittelbar Organisationen, die sich um diese Bevölkerungsgruppen kümmern, sondern betreibt aktive Interessenvertretung im politischen System. Jährlich wendet die Stiftung ca. $ 2 Mio. für Projekte und Aktivitäten auf. Damit förderte die Stiftung in den 1980er Jahren die Annahme des „US Immigration Reform and Control Act“ (1986) und in den 1990er Jahren die Ablehnung der „California Proposition 187“, wodurch ca. 50000 Menschen befähigt wurden, wohlfahrtsstaatliche Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Optimaler Ressourceneinsatz bedeutet nun nicht, dass Stiftungen ihre Leistungsempfänger nicht mehr direkt fördern sollen. Es bedeutet vielmehr, dass sich Stiftungen über die Variabilität ihrer Tätigkeiten mehr Gedanken machen. Neben Lobbying bei staatlichen Institutionen als einem möglichen Weg 74 bestehen vor allem bei der Kooperation mit anderen Organisationen, zuvorderst anderen Stiftungen, sehr grosse Hebelpotenziale. Social franchising ist so eine Möglichkeit der Kooperati-
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72
von Schnurbein/Timmer, Förderstiftung (wie Anm.59), 177.
73
Helmut K. Anheier/Diana Leat, Creative Philanthropy. London 2006.
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Weitere Ausführungen zum politischen Engagement finden sich bei Then/Kehl in diesem Band.
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on. 75 Ein sehr erfolgreiches Beispiel von social franchising einer Stiftung ist das Projekt „START“ der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung (GHST) 76 in Frankfurt. Mit START hat die GHST in Hessen ein Projekt ins Leben gerufen, um begabten Kindern aus Zuwanderer-Familien eine zusätzliche Förderung neben der Schulbildung zu ermöglichen. Das Projekt erwies sich als so großer Erfolg, dass Anfragen aus anderen Regionen an die GHST gestellt wurden, das Projekt übernehmen zu dürfen. Die GHST konnte und wollte den flächendeckenden Projekttransfer allerdings nicht allein leisten. Stattdessen entstand ein großes Netz von privaten und staatlichen Kooperationspartnern, wobei immer eine Stiftung oder Organisation vor Ort die lokale Verantwortung übernahm, während die GHST die Führungsrolle behielt und die Koordination des Gesamtprojektes weiterführte. Inzwischen hat die GHST die Koordination in eine eigene „Start-Stiftung“ ausgegliedert. Stiftungen können also nicht nur den Staat animieren, neue Wege zu gehen, sondern auch andere Stiftungen oder Unternehmen. Kundenorientierung Die letzte Forderung an das Stiftungsmanagement ist eine verbesserte Kundenorientierung, wobei dieser Begriff aus dem Marketing bewusst gewählt ist. Philanthropie ist kein Selbstzweck, sondern hat einen dienenden Charakter. Stiftungen wollen sich für die Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände einsetzen. Wie bereits erwähnt, sind Stiftungsaktivitäten als Dienstleistungen zu bezeichnen. Und Dienstleistungen haben die Eigenschaft, dass sie nicht ohne die Integration des Leistungsempfängers produziert werden können. 77 Produktion und Konsum finden gleichzeitig statt, was den Planungs- und Qualitätssicherungsprozess erheblich erschwert. Es ist daher verwunderlich, dass Stiftungen ihre Destinatäre häufig noch wie Bittsteller behandeln und nicht als gleichwertige Partner sehen. Die Studie „Learning from Partners“, an der mehrere große deutsche Stiftungen 78 beteiligt waren und in deren Rahmen Projektpartner zur Zufriedenheit über die Zusammenarbeit mit Stif-
75 Bundesverband deutscher Stiftungen (Hrsg.), Social Franchising. Berlin 2008. 76 http//:www.ghst.de (28.06.2012). 77 Manfred Bruhn, Gegenstand und Besonderheiten des Dienstleistungsmarketing, in: Wirtschaftspolitische Blätter 6, 2006, 246ff. 78 Fritz Thyssen Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband der Deutschen Wissenschaft, Stiftung Mercator, Volkswagenstiftung und Zeit-Stiftung Ebeling und Gerd Bucerius. Die Studie wurde durchgeführt vom Centrum für Soziale Investitionen und Innovationen der Universität Heidelberg.
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tungen befragt wurden, geht daher in die richtige Richtung. Anstelle eines vertikalen paternalistischen Verhaltens, in dem die Stiftung großherzig ‚ihre Schatulle öffnet‘ und eine Vergabung tätigt, ist eine horizontale partnerschaftliche Beziehung zielführender. Schließlich ist die Stiftung zur Umsetzung des Stiftungszwecks auf das fachliche Know-how, die Erfahrung und die Infrastruktur des Destinatärs angewiesen. Die bevorzugte Position der Stiftung, dass sie sich als Geldgeberin den Partner aussuchen kann und angesichts zunehmender Gesuchseingänge sich nicht um die Nachfrage sorgen muss, sollte nicht als Vorrecht der Willkür, sondern als Verpflichtung zur Selektion verstanden werden. 79 Die Kundenorientierung einer Stiftung äußert sich darin, dass sie ihren Destinatären bei der Antragstellung, während des Projektverlaufs und bei der abschließenden Evaluation behilflich ist. Während der Förderung eines Projektes oder einer Organisation kann die Stiftung als Inputgeber, Netzwerker oder Vermittler dazu beitragen, die Wirksamkeit eines Projektes zu erhöhen. Die Gebert Rüf Stiftung 80 beispielsweise verpflichtet ihre Projektpartner, an einem Seminar zur Vermittlung von Wissenschaftsergebnissen in den Medien teilzunehmen, welches die Stiftung finanziert. Damit will sie den Projektpartnern helfen, ihre Ergebnisse besser zu veröffentlichen. Nützlich ist es auch, wenn die Stiftung zwischen einzelnen ihrer Geförderten Verbindungen aufbaut, um dadurch den Austausch unter ihren Förderpartnern zu stärken. Schließlich arbeiten diese häufig in den gleichen Themengebieten und sehen sich den gleichen Herausforderungen ausgesetzt. Die Kundenorientierung kann schließlich auch bei der abschließenden Projektevaluation verdeutlicht werden. Anstatt als Kontrolleur und Aufseher einen Projektbericht mit den erbrachten Leistungen und der erzielten Wirkung anzufordern, kann sich die Stiftung auch selbst in den Evaluationsprozess einbeziehen und gemeinsam mit dem Projektpartner herausfinden, welcher Lernfortschritt durch das Projekt erzielt wurde und was in Zukunft besser gemacht werden kann.
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von Schnurbein/Timmer, Förderstiftung (wie Anm.59), 177.
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http//:www.grstiftung.ch (28.06.2012).
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Heutige Formen der Philanthropie Bis heute ist Philanthropie ein vielschichtiges Konzept des gesellschaftlichen Engagements. Einfache und unmittelbar wirkende Formen der Philanthropie wie Spenden oder freiwilliges Engagement sind in unserer Gesellschaft genauso zu finden wie die Ansätze von Carnegie oder Rockefeller, die ihren Reichtum einsetzten, um die Wurzeln sozialer Probleme anzugehen. Wie jede Blütezeit der Philanthropie sind aber auch in den vergangenen Jahren neue, innovative Formen entstanden, die das Spektrum nochmals erweitern. Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass sich die modernen Formen der Philanthropie von ihrem Vorbild des 19.Jahrhunderts vor allem dadurch unterscheiden, dass die Trennung zwischen Philanthropie und Unternehmertum aufgelöst wurde. Philanthropie wird unternehmerisch gedacht, d.h. soziale und ökonomische Ziele werden miteinander verbunden. In der Praxis haben sich dabei verschiedene Formen entwickelt, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. Die unternehmerische Stiftung Während in den USA Stiftungen grundsätzlich durch die Ausschüttung von finanziellen Mitteln fördernd tätig sind, bestehen in Europa – und gerade in Deutschland – verschiedene Stiftungstypen. Eine zentrale Unterscheidung wird dabei zwischen operativen und fördernden Stiftungen vorgenommen. 81 Während operative Stiftungen primär über Kapital verfügen, das mit der Erfüllung des Stiftungszwecks verbunden ist (z.B. ein Gebäude oder eine Kunstsammlung), besteht das Stiftungskapital von Förderstiftungen aus zweckunabhängigen Wertvermögen (z.B. Aktien oder Immobilien). Eine operative Stiftung ist daher meist auf zusätzliche Mittel, z.B. Subventionen oder Spenden, angewiesen, um ihren Zweck zu erfüllen. Förderstiftungen dagegen arbeiten mit den Erträgen der Vermögensanlage. Die Grenze zwischen diesen beiden Idealtypen ist fließend und es soll nun eine besondere Mischform hervorgehoben werden. Die unternehmerische Stiftung verfügt wie eine Förderstiftung über große Vermögenserträge, aber sie schüttet sie nicht an andere aus, sondern entwickelt eigene Projekte und Programme. Eines der ältesten Beispiel für diese unternehmerische Stiftung ist die Bertels-
81 Adloff, Operative, 135ff.
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mann Stiftung, die 1977 von Reinhard Mohn gegründet wurde. Die Gründe waren einerseits die Sicherung des Unternehmens und andererseits die gesellschaftliche Verantwortung des Stifters. 82 Die Nähe zum Unternehmen hat sich von Beginn an auch in Stiftungsorganisation und -management verdeutlicht. Ein zentrales Wesensmerkmal einer unternehmerischen Stiftung ist die aktive Gestaltung der Förderpolitik, die auf einer langfristigen Zielsetzung beruht. Aus dem Stiftungszweck werden Strategien abgeleitet, die dann in einzelne Programme und Förderbereiche heruntergebrochen werden. Dadurch wird die Stiftung zu einem eigenen Unternehmen. Während die mittelsprechende Stiftung nur Mitarbeitende für die Bearbeitung von Anträgen und die Begleitung von Projekten hat, verfügt die unternehmerische Stiftung über eigene sach- und themenbezogene Mitarbeitende und in diesem Sinn über einen eigenen „Produktionsbetrieb“. Der Shared Value-Ansatz Der Shared Value-Ansatz bezieht sich vornehmlich auf das gemeinnützige Engagement von Unternehmen, das in den vergangenen zehn Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Porter und Kramer (1999) argumentieren, dass Unternehmen dann am effizientesten helfen, wenn sie ihre philanthropischen Aktivitäten mit dem Kerngeschäft verknüpfen. Im Resultat ergibt sich ein verbundener Mehrwert (shared value) aus wirtschaftlichem und sozialem Nutzen. Die positive Wirkung für Gesellschaft und Unternehmen ist dann am größten, wenn Wertschöpfungskette und Wettbewerbsumfeld ineinander greifen. Das bedeutet, dass soziale Themen ausgewählt werden, die (1) eng mit dem Kerngeschäft des Unternehmens zusammenhängen und (2) das Unternehmen an seinen Standorten beziehungsweise in seinem Wirkungsbereich direkt tangieren. 83 Venture Philanthropy Der Begriff venture philanthropy hat in den letzten Jahren weite Verbreitung gefunden und wird häufig gleichbedeutend mit high engagement philanthropy, strategic philanthropy, oder philanthropic investment verwendet. Die amerikanische Herkunft des
82
Klaus von Dohnanyi, Reinhard Mohn (geb. 29.6.1921), in: Fest, Stifter (wie Anm.6), 474ff.
83
Michael E. Porter/Mark Kramer, The Competitive Advantage of Corporate Philanthropy, in: Harvard
Business Review 80, 2002, 60ff.
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Begriffes und des Ansatzes ist augenfällig und es ist daher nicht verwunderlich, dass dort venture philanthropy wesentlich verbreiteter ist als in Europa. 84 Hier hat sich 2004 die European Venture Philanthropy Association (EVPA) gegründet, die inzwischen knapp 100 Mitglieder umfasst. Die EVPA definiert venture philanthropy anhand der folgenden sechs Kriterien: 85 (1) Hohes Engagement: Venture philanthropy fördert soziale Unternehmer und innovative, multiplizierbare Initiativen durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Förderer und Destinatär. Der Förderer ist mehr als nur Geldgeber und nimmt aktiv Einfluss in die Projektplanung und -umsetzung. Dazu sind venture philanthropists bereit, ein hohes Risiko einzugehen im Bewusstsein, dass die Mehrheit der geförderten Projekte nicht den erwarteten Output bringt. Grundlage für ein effizientes Risikomanagement kann eine Portfolio-Methode sein, mit der die Stiftung die Entwicklung ihrer Förderprojekte überprüft. 86 (2) Maßgeschneiderte Finanzierungsmodelle: Vergleichbar den venture capitalists in der Wirtschaft nutzen venture philanthropists eine Bandbreite an Finanzierungsinstrumenten, die von klassischen Förderbeiträgen über Darlehen bis zur Kapitalbeteiligung reichen. Grundsätzlich verstehen venture philanthropists ihr Engagement als Investition. (3) Nicht-finanzielle Unterstützung: Neben den finanziellen Mitteln stellen venture philanthropists aber auch weitere hilfreiche Angebote zur Verfügung. Dabei kann es sich um Kontakte, Strategieentwicklung, Marketing und Kommunikation, Beratung oder Personal handeln. (4) Mehrjährige Unterstützung: Zielsetzung einer venture philanthropy-Förderung ist, das geförderte Projekt selbstfinanzierend und damit nachhaltig zu machen. Dazu stellt ein venture philanthropist drei- bis fünfjährige Förderetats zur Verfügung. venture philanthropists legen daher
84
Strachwitz, Stiften (wie Anm.11), 49.
85 Ron John, Venture Philanthropy: The Evolution of High Engagement Philanthropy in Europe, Working Paper. Oxford 2006, 10. 86 Georg von Schnurbein, Risiko- und innovationsorientierte Förderleistungen von Stiftungen, in: Bernd Helmig/Robert Purtschert/Reinbert Schauer/Dieter Witt (Hrsg.), Nonprofit-Organisationen und Märkte. Wiesbaden, 2007, 326ff.
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immer Wert darauf, dass für jedes Projekt eine Exit-Strategie entwickelt wird, die darlegt, wie der Übergang in die Selbstfinanzierung bewältigt werden soll. 87 (5) Förderung der organisationalen Fähigkeiten (capacity building): Um das Ziel der Selbstfinanzierung zu erreichen, sind venture philanthropy-Projekte immer darauf ausgelegt, nicht nur Projektaktivitäten zu fördern, sondern insbesondere dem Destinatär zu helfen, die notwendigen Fähigkeiten zu erlernen, um im Anschluss an die Förderung erfolgreich weiter zu arbeiten. (6) Erfolgsmessung: Venture philanthropy-Investitionen sind immer erfolgsorientiert. Daher nimmt die Erfolgs- und Wirkungsmessung eine wichtige Rolle in diesem Konzept ein. Der Schwerpunkt wird dabei auf messbare Zielgrößen, die Management-Leistung und die Erreichung von Teilzielen gelegt. Die Entstehung von venture philanthropy in Amerika ist auch mit Kritik an den klassischen Förderstiftungen in Verbindung zu setzen, deren Innovationskraft deutlich geringer war als möglich. 88 Deshalb sind neben den Stiftungen auch venture philanthropy-Fonds entstanden, die Investitionsmittel für soziales Engagement bündeln. Der Übergang von der klassischen Stiftungsförderung zu venture philanthropy ist jedoch fließend. Die Mehrheit der Venture-Philanthropy-Aktivitäten in Amerika beispielsweise sind Fördermittel à fonds perdu und nicht renditeorientiert. Daher wird venture philanthropy heutzutage auch nicht mehr zwingend als eigenständige Förderform verstanden, sondern als ein Instrument der Förderung, das im Wesentlichen die folgenden Vorteile bietet: 89 - Capacity Building für NPO - Steigerung von Transparenz und Effizienz der Philanthropie - Wirkungsoptimierung - Erschließung einer neuen Gruppe von Investoren (z.B. business angels).
87
Diana Letts/William Ryan /Allan Grossman, Virtuous Capital: What Foundations Can Learn From Ven-
ture Capitalists, in: Harvard Business Review 75, 1997, 37ff. 88
Philipp Hoelscher, Venture Philanthropy in Deutschland und Europa – Eine Einführung, in: Philipp
Hoelscher/Thomas Ebermann/Andreas Schlüter (Hrsg.), Venture Philanthropy in Theorie und Praxis. Stuttgart 2010, 5ff. 89
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Ebd.7.
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Social business Eine weitere wirtschaftsnahe Form der Philanthropie hat sich in den vergangenen Jahren entwickelt. Ähnlich wie bei venture philanthropy beschreiben dabei viele verschiedene Begriffe relativ ähnliche Konzepte. Social business, social entrepreneurship, bottom of the pyramid stellen alle eine neue Form des sozialen Unternehmertums dar. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Konzepten ist social business ein Ansatz der operativen Philanthropie. Zielsetzung ist es, mitghilfe wirtschaftlicher Instrumente soziale Organisationen so aufzubauen, dass sie wirtschaftlich nachhaltig agieren können und nicht dauerhaft auf Spenden und freiwillige Zuwendungen basieren.
Innovationsfähigkeit der Philanthropie im Wandel Zusammengefasst weisen alle Konzepte der letzten Jahre eine deutliche Wirtschaftsorientierung aus, die in der Frage nach der effektiven Wirkung gemeinnützigen Handelns mündet. Während die Philanthropie des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine klare Verankerung in der privaten Weltanschauung und im Wertekontext der Stifterpersönlichkeit hatte, ist das philanthropische Handeln heute viel stärker in den gesellschaftlichen Konsens eingebunden. 90 Die Forderung nach Transparenz und die Frage nach der gesellschaftlichen Wirkung fordern Stiftungen und Philanthropen heraus und stellen sie unter Rechtfertigungsdruck. 91 Gleichzeitig ruhen große Hoffnungen auf den Stiftungen als Motor der Zivilgesellschaft. 92 Aufgrund ihrer Zweckgebundenheit und der fehlenden Eigeninteressen können sie als „ehrliche Makler“ zwischen den verschiedenen Gesellschaftsakteuren vermitteln. 93 Wie die aufgeführten Konzepte gezeigt haben, bezieht sich die Innovationsfähigkeit der Philanthropie heute vor allem auf die operationelle Ebene der Umsetzung und Gestaltung im Rahmen der gesellschaftlichen und staatlichen Gegebenheiten. Diese werden von Stiftungen und anderen philanthropischen Akteuren
90 Adloff, Philanthropisches Handeln (wie Anm.5), 401f. 91 Strachwitz, Stiftung (wie Anm.10), 183ff. S.ebenso Lorentz, Geben (wie Anm.52), 89f. 92 Adloff, Philanthropisches Handeln, 403. 93 Georg von Schnurbein, Foundations as Honest Brokers between Market, State and Nonprofits through Building Social Capital, in: European Management Journal 28, 2010, 419.
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nicht grundsätzlich in Frage gestellt. 94 Die Philanthropie im 19.Jahrhundert dagegen gestaltete aufgrund ihrer Größe und Bedeutung aktiv die Rahmenbedingungen in der Gesellschaft mit, was durchaus den Widerstand von Staat oder Kirche hervorrief. 95 Die Innovationskraft bestand daher in der Handlung an sich, die auf wissenschaftlichem und technischem Wissen aufbaute und sich damit von der reinen Mildtätigkeit löste. Es bleibt abzuwarten, welche Akzente des derzeitigen Philanthropieschubs langfristig Bestand haben und wesentlich zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen können.
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Strachwitz, Stiftung (wie Anm.10), 216.
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Adloff, Philanthropisches Handeln (wie Anm.5), 250ff.
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Stiften als soziale Investition an den Grenzen der Sektoren von Volker Then und Konstantin Kehl
Einleitung In diesem Beitrag unternehmen die Autoren den Versuch, den Begriff der sozialen Investitionen für die Analyse des Stiftens fruchtbar zu machen. Dabei nutzen sie den Begriff der sozialen Investition in dem umfassenden Sinne, wie er am Centrum für soziale Investitionen (CSI) Verwendung findet und unlängst in seinen konzeptionellen Grundzügen veröffentlicht wurde. 1 In der einfachsten Grunddefinition verstehen wir unter sozialen Investitionen alle Formen privater Beiträge zum Gemeinwohl, die freiwillig erbracht und von der (entsprechenden) gesellschaftlichen Öffentlichkeit als legitim anerkannt werden. Dieses Verständnis reicht weit über einen sehr viel enger verstandenen Begriff sozialer Investitionen im Sinne der reinen Bereitstellung von Finanzkapital für Sozialunternehmen hinaus, wie er vor allem im angelsächsischen Sprachgebrauch verwendet wird. 2 In Abschnitt II. führen wir das Verständnis des weiteren Begriffs detaillierter aus. Bei seiner Verwendung kommt es uns darauf an, dass soziale Investitionen jedwede Art von Kapital umfassen können – d.h. Sozialkapital, Finanzkapital, aber auch kulturelles und symbolisches Kapital 3 – und unabhängig von der Rechtsform der einzelnen Organi-
1 Volker Then/Konstantin Kehl, Soziale Investitionen. Ein konzeptioneller Entwurf, in: Helmut K. Anheier/Andreas Schröer/Volker Then (Hrsg.), Soziale Investitionen: Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden 2012, 39–86. 2 Then/Kehl, Soziale Investitionen (wie Anm.1), 41ff., sowie für das enge Begriffsverständnis Alex Nicholls, The Landscape of Social Investment: A Holistic Typology of Opportunities and Challenges, Skoll Centre for Social Entrepreneurship Working Paper. Oxford 2008; Alex Nicholls, Institutionalization of Social Investment: The Interplay of Investment Logics and Investor Rationalities, in: Journal of Social Entrepreneurship 1, 2010, 70–100. 3 Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt Sonderband 2; Göttingen 1983. 183–198, aber auch andere Autoren zum Sozialkapital auf unterschiedlichen Analyseebenen: Robert D. Putnam, Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy. Princeton 1993; div. Beiträge in Robert D. Putnam, Democracies in
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10.1515/9783110400007.261
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sation und auch unabhängig vom Status als gemeinnützige Organisation im steuerrechtlichen Sinne analysiert werden können. Damit tragen wir der Beobachtung Rechnung, dass die Grenzen zwischen den klassischen gesellschaftlichen Sektoren Markt, Staat und Dritter Sektor (bzw. in einer anderen Lesart zwischen Markt, Staat und Familie oder Gemeinschaft) verschwimmen und aus organisationstheoretischer Sicht verstärkt von „Hybriden“ die Rede ist – von Organisationen also, die Züge unterschiedlicher sektoraler Logiken, daraus abgeleiteter Handlungsstrategien und entsprechender Erfolgsmaßstäbe in sich tragen. 4 Mit dieser Beschreibung eines Verschwimmens von Sektor-Grenzen (blurring of boundaries) reagiert die Non-Profit-Forschung auf Beobachtungen von Organisationsverhalten, das sich mit den idealtypisch (d.h. aufgrund der formalen oder zugeschriebenen Sektor-Zugehörigkeit einer Organisation) zu erwartenden Verhaltensmustern nicht erfassen lässt. Auch das Stiften hat sich gegenüber seiner historischen Ausgangsform im Sinne der dauerhaften Widmung eines Vermögens(-gegenstandes) für einen Zweck in privat- oder gemeinnütziger Absicht ausdifferenziert. Ohne für den Zweck des hier beabsichtigten Beitrages zu sehr in die Stiftungsgeschichte einzutauchen, lässt sich feststellen, dass die genannte Entwicklung der „Hybridisierung“ auch vor dem Stiftungssektor nicht Halt macht. So werden Stiftungen immer häufiger mit einer Kapitalausstattung gegründet, die auf Zuwachs durch Zustiftungen und Spenden ebenso wie auf die Erwirtschaftung eigener Mittel durch gemeinnützige Zweckbetriebsaktivitäten angewiesen ist. Zudem werden neue Formen der Kombination von Vermögensverwaltung und Zweckverwirklichung unter den Begriffen mission-related-investment oder programme-related-investment diskutiert, die Stiftungen in einer der Logik des Venture-Capital-Marktes nachempfundenen Rolle sehen. Ein Stiftungsbegriff, der ursprünglich eng mit dem Konzept der Gabe verbunden war 5, wird Flux. The Evolution of Social Capital in Contemporary Society. New York 2002; James S.Coleman, Social Capital in the Creation of Human Capital, in: The American Journal of Sociology 94, 1988 (Supplement Organizations and Institutions: Sociological and Economic Approaches to the Analysis of Social Structure), 95–120; Claus Offe, Sozialkapital. Begriffliche Probleme und Wirkungsweise; in: Ernst Kistler/ Heinz-Herbert Noll/ Eckhard Priller (Hrsg.), Perspektiven gesellschaftlichen Zusammenhalts. Berlin 1999, 113–120. 4 Helmut K. Anheier/Volker Then, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Eigennutz und Gemeinwohl. Neue Formen und Wege der Gemeinnützigkeit. Gütersloh 2005, 15ff.; Taco Brandsen/ Wim van de Donk/ Kim Putters, Griffins or chameleons? Hybridity as a permanent and inevitable characteristic of the third sector, in: International Journal of Public Administration 28, 2005, 749–765. 5 Dazu überblicksartig Fritz Rüdiger Volz/Thomas Kreuzer, Die verkannte Gabe, in: Claudia Andrews/ Paul Dalby/Thomas Kreuzer (Hrsg.), Geben, Schenken, Stiften – theologische und philosophische Perspek-
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in dieser sogenannten venture philanthropy immer stärker mit Funktionen des Marktes – eines „gemeinnützigen“ Kapitalmarktes – verknüpft. Eine vielgestaltige, reziproke Kommunikationsbeziehung droht damit, auf die eine Dimension des finanzierenden Austausches reduziert zu werden. Anstatt einer solchen Vermarktlichung des Stiftungsbegriffes unreflektiert die Tür zu öffnen, plädieren wir mit dem Konzept der sozialen Investition für eine begriffliche Einbettung des Stiftens, nicht für einen Ersatz. Diese Einbettung ermöglicht uns zugleich eine Differenzierung unterschiedlicher Formen des Stiftens, die sich nicht nur in ihrem Vorgehen unterscheiden, sondern auch in den leitenden Motiven und den erwarteten gesellschaftlichen Erträgen. Eine solche analytische Herangehensweise bietet für die Grundlegung historischer Forschung den Vorteil, dass sie begrifflich nicht an die Voraussetzungen der Moderne gebunden ist und nicht die Rechts- und Organisationsformen der Moderne in vergangene Epochen projiziert. In seiner theoretischen Herkunft kann das Konzept zwar nicht leugnen, selbst ein Kind der Moderne mit ihren ausdifferenzierten gesellschaftlichen Rollen zivilgesellschaftlicher Organisationen zu sein. Es vermag jedoch den Blick für genau diesen Wandel zu schärfen und ein konzeptionelles Angebot dafür zu schaffen, historische Stiftungsforschung zu strukturieren. Insofern formulieren wir das Begriffsverständnis des Stiftens als einer sozialen Investition vor allem vor dem Hintergrund des modernen, seit der Säkularisierung zu Beginn des 19.Jahrhunderts entstandenen Stiftungswesens, ohne allerdings frühere Formen des Stiftens damit begrifflich auszugrenzen. Dabei hilft der Begriff der sozialen Investition, Stiften einerseits im Wandel der damit verbundenen gesellschaftlichen Funktionen und Rollen in Bezug auf die anderen Sektoren der Gesellschaft zu verstehen 6, andererseits dabei, Konstanten in Epochen und Organisationsformen übergreifenden Strukturen erkennen zu können. Wir machen dieses Begriffsangebot der sozialen Investition für das Verständnis des Stiftens in Epochen übergreifender Betrachtung also bewusst in der Erwartung, dass dies einen Beitrag zum Herausarbeiten des jeweils für Epochen spezifischen, aber auch des übergreifenden und damit möglicherweise anthropologisch in be-
tiven. Fundraising-Studien 1. Münster 2005. Die Autoren verweisen dort auf den für die Soziologie der Gabe grundlegenden „Essai sur le don“ von Marcel Mauss. 6 Zum Wandel von Stiftungsrollen vgl. Helmut K. Anheier/David C. Hammack, American Foundations, Roles and Contributions. Washington 2010, dort konzeptionell v.a. 3–27.
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stimmten Facetten konstanten Charakters des Stiftens leisten kann – also helfen kann, eine vergleichende Analyse des Stiftens verschiedener Epochen zu strukturieren.
Stiften im Licht des Konzepts der sozialen Investitionen Unser weites Verständnis sozialer Investitionen denkt in mehrdimensionalen Bezügen. Es definiert soziale Investitionen nicht absolut, sondern durch relativen Abstand einer Reihe von Parametern. Jedweder Beitrag zum Gemeinwohl wird von den Investoren erbracht und erfüllt gleichzeitig mehrere gesellschaftliche Funktionen, die aus der Forschung zu NonProfit-Organisationen und zivilgesellschaftlichem Handeln abgeleitet sind. 7 Dabei
7 Lester M. Salamon/Wojciech Sokolowski, Institutional Roots of Volunteering. Toward a Macro-Structural Theory of Individual Voluntary Action, in: Paul Dekker/Loek Halman (Hrsg.), The values of volunteering: Cross-cultural perspectives. New York 2003, 71–90, hier 75; und Lester M. Salamon/ S.Wojciech Sokolowski, Global Civil Society: Dimensions of the Nonprofit Sector Vol.2. Bloomfield 2004, 23. Von manchen – insbesondere europäischen – Autoren werden die soziale und die kulturelle Funktion als sozial-kulturelle Funktion zusammengefasst (z.B. von Annette Zimmer/Eckhard Priller, Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel. Ergebnisse der Dritte-Sektor-Forschung, 2.Auflage. Wiesbaden 2007, 20ff.), während die Betonung der kulturellen als eigenständige Funktion insbesondere durch die US-amerikanische Forschung – wie in der hier gewählten Unterscheidung – mit Verweis auf die dort höhere Bedeutung religiöser Vereinigungen und belief systems nachvollziehbar wird (hierzu div. Beiträge in Peter L. Berger, Die Grenzen der Gemeinschaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaften. Ein Bericht der Bertelsmann Stiftung an den Club of Rome. Gütersloh 1997). Für eine heuristische Folie halten wir die Vierteilung für sinnvoller, weil zwar in der Bundesrepublik die Erfahrungen mit neuen sozialen Bewegungen in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten in der Tat das Denken in Kategorien sozio-kultureller Milieus befördert hat, aber der Aufbau von Sozialkapital und Netzwerken nicht notwendigerweise mit Werteentwicklung einhergehen muss (Beispiel: Sportvereine). Dies wird auch von der neueren Sozialkapitalforschung unterstützt, die vorschlägt, rein netzwerkbasierte Ressourcen von Werten und Normen zu unterscheiden ; s. z.B. Axel Franzen/Sonja Pointner, Sozialkaptial: Konzeptualisierungen und Messungen, in: Axel Franzen/Markus Freitag (Hrsg.), Sozialkapital. Grundlagen und Anwendungen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 47/2007, 66–90. Wiederum andere Autoren ergänzen die hier genannten um andere Funktionen (z.B. Jeremy Kendall, The Voluntary Sector. London/New York 2003). Es soll weiterhin darauf aufmerksam gemacht werden, dass viele als „soziale“ Probleme wahrgenommene Fragen erst dadurch tatsächlich eine soziale Qualität annehmen, dass sie im Sinne der hier vorgeschlagenen Unterscheidung zum Diskussionsgegenstand werden und deshalb nicht unbedingt einer eigenen sozialfunktionalen Dimension bedürfen (z.B. die Umwelt- und Nachhaltigkeitsproblematik als politisches Thema und als Problem ökonomischer Folgekosten, die erst dadurch überhaupt sozial „relevant“ geworden ist,
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mag die Gewichtung der einzelnen Funktionen sehr variieren, doch kann es in der Regel ausgeschlossen werden, dass ein Gemeinwohlbeitrag auf nur eine Funktion einwirkt. So erfüllt eine soziale Investition – unabhängig davon, ob Geld, Zeit oder andere Ressourcen bereitgestellt werden – eine ökonomische Funktion, indem die Bereitstellung von Leistungen für Destinatäre ermöglicht wird. Dies ist besonders von Bedeutung für die Vielzahl schon aus der Vormoderne stammender operativer Stiftungen, die aus Hospitälern und anderen ursprünglich kirchlich gebundenen Einrichtungen entstanden sind 8, von denen viele aber auch erst im 19.Jahrhundert von sozialunternehmerisch handelnden Bürgern gegründet wurden, um die sozialen Folgen der Industrialisierung zu bewältigen bzw. die unzureichenden kommunalen Fürsorgeeinrichtungen zu ergänzen. 9 Schon die kursorisch erwähnten Bespiele zeigen, dass die Investition zugleich aber auch einer sozialen und kulturellen Funktion Genüge leistete: Das Stiftungsengagement war Ausdruck bestimmter Wertvorstellungen, kultureller Normen und bis zur Säkularisierung des 19. Jahrhunderts immer auch kirchlich bzw. an den Glaubensvollzug gebunden. 10 Dies ist nicht anders, wenn moderne Stiftungen Projekte zur Bildungsreform, zur Integration von Migranten oder zu neuen Lösungen für die Herausforderungen und Probleme des demografischen Wandels durchführen. Zugleich findet dieser Ausdruck eigener Wertvorstellungen jedoch nicht losgelöst ausschließlich durch einzelne Individuen statt, sondern geht mit gemeinsamem Handeln, mit der Bildung von Sozialkapital und sozialem Vertrauen einher. Insofern wird klar eine soziale Funktion, eine Funktion der Integration der Gesellschaft mit sozialen Investitionen verbunden. Besonders deutlich kommt dies dann zum Ausdruck, wenn soziale Investitionen entsprechende Folgewirkungen zeitigen, z.B. indem sie das Freiwilligenengagement selbst fördern oder stark einbeziehen. Das durch soziale Investitionen ermöglichte bzw. zum Ausdruck gebrachte Han-
weil vor einem bestimmten Wertehintergrund die Ausbeutung der physischen Ressourcen der Erde nicht mehr hinnehmbar erschien und sodann durch soziale Mobilisierung zum Thema gemacht wurde). 8 Vgl. hierzu der Beitrag von Horden in diesem Band. 9 Beispielsweise die Gründungen Johann Hinrich Wicherns in Hamburg, Friedrich von Bodelschwinghs in Bielefeld oder Adolf Aichs in Liebenau, um nur wenige Beispiele operativer Stiftungen zu nennen, die heute Teil der wohlfahrtsverbandlichen Strukturen von Diakonie und Caritas sind. 10 Axel Freiherr von Campenhausen, Geschichte des Stiftungswesens, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Handbuch Stiftungen, Ziele – Projekte – Management – Rechtliche Gestaltung. 2.Auflage Wiesbaden 2003, 19–42.
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deln bezieht zugleich immer dazu Stellung, wie die Stifter in ihrer Gesellschaft zusammenleben wollen und erfüllt insofern eine allgemeinere „politische“ Funktion. Wir formulieren an dieser Stelle zunächst in Anführung, weil es eine Errungenschaft der Moderne darstellt, in Privatautonomie stiften und damit Freiheitsrechte als Bürger in einer Demokratie wahrnehmen zu können. Während in der Vormoderne und in Bezügen kirchlichen Stiftungshandelns diese Vorstellungen vom guten und rechten Leben nicht ohne Glaubens- und kirchlichen Bezug formuliert werden konnten, ermöglichte die Säkularisierung des Stiftens im frühen 19.Jahrhundert – beginnend mit dem vielzitierten Beispiel des Städel in Frankfurt am Main 11 – diesen Ausdruck von Vorstellungen einer guten Gesellschaft auch außerhalb kirchlicher Bezüge und mit der Schaffung eines Stiftungszivilrechts im Rahmen bürgerlicher Freiheitsrechte. Diese Wahrnehmung sozialer Investitionen als privater Gemeinwohlbeiträge blieb allerdings noch sehr lange – bis zur Reform des Stiftungszivilrechts im Jahr 2000 – unter den Genehmigungsvorbehalt staatlicher Aufsichtsbehörden gestellt. An dieser Stelle lohnt ein rechtvergleichender bzw. Stiftungskulturen vergleichender Blick in die USA, deren Stiftungsrecht weitgehend Stiftungssteuerrecht ist; dessen Kontrollmechanismen folgen im Interesse des Gemeinwohls einer anderen Logik: Nicht staatliche Aufsicht, sondern Publizitätspflicht und damit gesellschaftliche Öffentlichkeit tragen dafür Sorge, dass der Gemeinwohlauftrag nicht aus dem Blick der Institutionen und ihrer verantwortlichen Gremien gerät. 12 Dabei zielt amerikanische Aufsicht weit mehr auf den Ertrag für das Gemeinwohl, jedoch weit weniger als die deutsche auf die Erhaltung des Stifterwillens und des Stiftungskapitals. Dieser vergleichende Blick auf die Mechanismen der Stiftungsaufsicht und deren
11
Andreas Richter, Rechtsfähige Stiftung und Charitable Corporation. (Vergleichende Untersuchungen
zur kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Rechtsgeschichte, Bd.23) Berlin 2001, 49ff.; Rupert Graf Strachwitz, Traditionen des deutschen Stiftungswesens – ein Überblick, in: ders./Florian Mercker (Hrsg.), Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis, Handbuch für ein modernes Stiftungswesen. Berlin 2005, 33–45, hier 40f. 12
Volker Then, Stiftungen in Europa und den USA – Vorbilder und Nachahmer?, in: Andreas Richter/
Thomas Wachter (Hrsg.), Handbuch des internationalen Stiftungsrechts. Heidelberg 2007, 301–312; Volker Then, Stiftungskulturen im internationalen Vergleich – die USA und Deutschland, in: Barbara Weitz/ Deutsche Stiftungsagentur GmbH/C.F.L. Pues GmbH (Hrsg.), Rechtshandbuch für Stiftungen. Hamburg 2006, 2/7.1, 1–14; vgl. auch Andreas Richter, Rechtsfähige Stiftung und Charitable Corporation. (Vergleichende Untersuchungen zur kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Rechtsgeschichte, Bd.23) Berlin 2001, v.a. 99ff.;149ff.; 237ff.; 314ff.
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Ziele führt zu einem weiteren definitorischen Grundelement unseres Konzepts sozialer Investitionen. Die Gemeinwohlorientierung einer sozialen Investition bedarf der Qualifizierung bzw. der Prüfung sowohl hinsichtlich ihrer Motiv- und Ertragslagen, als auch ihres Verbindlichkeitsgrades. Wenn die soziale Qualität einer Investition nicht durch den Status der rechtlich normierten Gemeinnützigkeit definiert ist, sondern durch deren öffentliche „Anerkennung“, wie wir es vorschlagen, müssen Motivlagen des Investors ebenso wie tatsächlich aufgrund der Investition eintretende Wirkungen (auch nicht intendierte!) und Erträge auf den Prüfstand gestellt werden. Wir schlagen dazu in unserem Konzept ein mehrstufiges Prüfverfahren vor, das zunächst die unmittelbaren Destinatäre der Investition, dann die Anspruchsgruppen des weiteren Problem- bzw. gesellschaftlichen Umfelds sowie schließlich die demokratische Öffentlichkeit als Prüfinstanzen vorsieht. Ausgangspunkt dieses Denkens müssen dabei die Funktionen sein, die eine soziale Investition für den Investor selbst hat, ohne die also eine solche Investition nicht stattfände. Was dem vormodernen Stifter hier der Transzendenzbezug seines Handelns war, kann für den modernen Stifter der weltliche Nachruhm oder auch nur die diskrete persönliche Befriedigung über die gelungene Problemlösung sein. 13 Dabei dürfen neben Motiven und Erträgen auch Fragen der Prozesslegitimität nicht außer Acht gelassen werden, also der Frage, welche Maßstäbe an das Handeln der Organisation in Verfolgung ihrer Ziele angelegt werden. In der allgemeinsten Form lässt sich dies durch die Anwendung der normativen Maßstäbe, die eine Stiftung satzungsgemäß verficht, auf die eigenen Vorgehensweisen konkretisieren. Widersprüchlichkeiten zwischen Zielverfolgung und eigenem Handeln der Stiftung werden in der Öffentlichkeit besonders kritisch wahrgenommen, etwa wenn eine Stiftung sich Bürgerbeteiligung auf die Fahnen geschrieben hat, aber in ihrer Programmgestaltung wenig partizipativ vorgeht (was sie als Stiftung, die nicht demokratisch legitimiert ist, ja auch nicht muss, aber wo abhängig von selbst gesetzten Zielen härtere Maßstäbe gelten). In der Literatur wird dieser Aspekt häufig unter dem Stichwort der Zivilität 14 angesprochen, es können aber auch konkret das eine 13 Karsten Timmer, Stiften in Deutschland: Die Ergebnisse der StifterStudie. Gütersloh 2005. 14 Zivilität wird dabei als kontextabhängiger, prinzipiell wandlungsfähiger Begriff interpretiert, in dem Gesellschaften ihre Grundsätze zivilen Zusammenlebens als fortwährende Auseinandersetzung und Definition symbolischer Grenzen zu der Sphäre des „Unzivilen“ selbstbeschreibend bündeln, dabei aber stark von kulturellen (insbesondere auch religiösen) Werten, Traditionen und Symbolen geprägt sind. Siehe hierzu Jeffrey C. Alexander, The Civil Sphere. Oxford/New York 2006; auch Dieter Gosewinkel, Zivilgesell-
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oder andere Rechtsgebiet und die zugehörige Beachtung von Rechtsnormen relevant werden. Dies gilt etwa für den Arbeitsschutz bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung, allgemeiner für das Arbeitsrecht und z.B. auch hinsichtlich der Einhaltung allgemeiner Menschenrechte oder von Normen des internationalen Rechts, wenn soziale Investitionen in der Entwicklungszusammenarbeit oder in den internationalen Beziehungen geleistet werden. Mit dem Mechanismus der dreifachen Legitimitätsprüfung formulieren wir einen Vorschlag, der im Sinne des oben genannten Vergleichs eher in der Tradition des amerikanischen Stiftungsrechts wiederzufinden ist als in der deutschen obrigkeitsstaatlichen, der aber zugleich den Vorteil bietet, auch Investitionsbeiträge von Akteuren, die keine gemeinnützigen Organisationen sind, hinsichtlich ihres sozialen Charakters beurteilen zu können. Zudem lässt sich mittels dieses Maßstabes auch das Handeln gemeinnützig anerkannter Organisationen bezüglich seiner gesellschaftlichen Akzeptanz und damit seines Wirkungspotentials einschätzen, wenn wir davon ausgehen, dass die Wirkung sozialer Investitionen immer von der Kooperation der einen oder anderen gesellschaftlichen Gruppe oder Instanz abhängt, ohne deren Mitwirkung der Erfolg zumindest gefährdet wäre, weil soziale private Investoren in ihrer Autonomie und Freiwilligkeit ja gerade nicht über exekutive Durchsetzungsgewalten verfügen. 15 Das folgende Schaubild verdeutlicht die relationalen Bezüge unseres umfassenden Begriffs sozialer Investitionen im knappen Überblick. Abb.1: Soziale Investitionen: Sektor-übergreifende Beiträge zum Gemeinwohl (aus: Then & Kehl, Soziale Investition (wie Anm.1), 60). Zusammenfassend verstehen wir soziale Investitionen also in mehrdimensionalen Bezügen, deren wichtigste die Beiträge zu den gesellschaftlich grundlegenden Funktionen sowie die Legitimationsgrundlagen des Sozialen (Gemeinwohlbezug) der Investition darstellen. Zwei weitere Dimensionen sind von Bedeutung: Zum
schaft – eine Erschließung des Themas von seinen Grenzen her. WZB Discussion Paper 2003–505. Berlin 2003 (online: http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf/2003/iv03–505.pdf). 15 In der deutschsprachigen Diskussion wird die Frage der Legitimität vielmehr in der offeneren, nicht auf Stiftungen fokussierten Zivilgesellschaftsdebatte adressiert, in der von einer diskursiv angelegten Demokratieform ausgegangen wird, deren Legitimität neben Rechtsprinzipien auf der permanenten Verhandlung in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit und auf der „Übersetzung“ kommunikativer in administrative Macht beruht. Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Frankfurt am Main 1992, 186ff.; Frank Adloff, Zivilgesellschaft: Theorie und politische Praxis. Frankfurt am Main 2005, 79ff.
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einen werden soziale Investitionen nicht immer in organisierten Formen erbracht, sondern besonders, wenn es sich um zeitliches Engagement handelt, oft in sehr informellen, nachbarschaftlichen, Gemeinschaft von Familie und unmittelbarer Lebensumgebung nahestehenden Beiträgen. Oft führen solche sozialen Investitionen zum Aufbau sozialer Netzwerke und Selbsthilfestrukturen oder werden Teil nachbarschaftlicher Quartiers- und Hilfeleistungen. Zum anderen stehen diesen informellen Beiträgen die hoch organisierten gegenüber, die in Organisationen einfließen, die in Abgrenzung zu den anderen beiden Sektoren der Gesellschaft arbeiten, nämlich zu Akteuren am Markt und im Staat. Geht es mehr um eine soziale Investition, mit der eine Leistung ermöglicht werden soll, die unter Umständen wie im Bereich der Sozialmärkte sogar im direkten Wettbewerb zu Beiträgen von Wirtschaftsunternehmen bzw. öffentlichen Händen erbracht wird, oder um eine Investition, mit der Position in einer politischen Auseinandersetzung bezogen wird? Den erstgenannten Typ meinen wir typischerweise, wenn von Non-Profit-Organisationen die Rede ist, den zweitgenannten bezeichnen wir im idealtypischen Fall eher als NGO (non-governmental organization).
Soziale Investitionen und historische Stiftungsforschung Die Relationen der Bezüge, in denen wir Stiften als soziale Investition denken können, verschieben sich historisch. Es wird deutlich, dass es im Verhältnis der gesellschaftlichen Funktionen und Aufgabenerfüllung zueinander und in den Beiträgen, die Stiftungen dazu leisten (können), historisch sich verändernde Bedingungen und Rollenmuster für den Stiftungssektor gibt. Dazu können ganz grundlegend die zur Verfügung stehenden privaten Ressourcen einer Gesellschaft und ihre Vererbung gehören, die in den letzten zehn Jahren in den USA ebenso wie in Deutschland (und weniger ausgeprägt auch in anderen Ländern) durch die lange Friedenszeit seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. 16 Dazu können politisch-kulturelle Traditionen und Hemmnisse wie etwa die Pfadabhängigkeiten bei der Gestaltung von So-
16 John J.Havens/Paul G. Czervish, Millionaires and the Millennium: New Estimates of the Forthcoming Wealth Transfer and the Prospects for a Golden Age of Philanthropy, Report Released October 19th, 1999, Boston College, Social Welfare Research Institute; Stiftungserrichtungen seit 1950, in: Statistiken, Kompetenzzentrum Stiftungsforschung, News & Wissen (www.stiftungen.org).
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zial- und Stiftungs-relevanter Gesetzgebung gehören, die auf die Weiterentwicklung historischer, machtressourcenbasierter Wohlfahrtsregime und der Verantwortungsteilung zwischen privaten und öffentlichen Akteuren wirken. 17 Dazu kann aber auch die Art des Investierens und Wirtschaftens an den Märkten gehören: Wirtschaftskulturen wie das reine Shareholder-Value-Denken börsennotierter Aktiengesellschaften im einen Extrem und das lokal verwurzelte, in vielfachen Sozialbezügen stehende mittelständische Familienunternehmen im anderen, bilden ein Spektrum, innerhalb dessen sich Stiften und Stifterengagement bewegen. Während die Aktionäre einer Kapitalgesellschaft nur mit ihrem Privatvermögen oder durch Formulierung einer entsprechenden Unternehmensstrategie stiftend tätig werden können 18, mögen Familienunternehmer dies als selbstverständlichen Teil einer Einheit ihres Unternehmerdaseins, ihrer Nachfolgeregelungen und zugleich ihrer Existenz als Bürger betrachten. Während es also eine Art Angebotsbedingungen des Stiftens auf der Geber- und Kapitalseite gibt 19, wirkt auch eine Nachfrageseite darauf ein, wie öffentliche Aufgaben im Zusammenspiel der Sektoren und unter Berücksichtigung von Markt- 20 und Staatsversagen 21 – traditionellen theoretischen Argumenten für die Entstehung von Non-Profit-Organisationen – erledigt werden. Entsprechend können Stiftungen unter Wettbewerbsdruck geraten und zwar sowohl im wörtlichen Sinne bei der Erfüllung von Leistungen, z.B. als Sozialdienstleister, als auch im übertragenen Sinne hinsichtlich der gesellschaftlichen Erwartungshaltungen, denen sie sich gegenüber sehen und die ihre Legitimitätschancen beeinflussen. In der Bundesrepublik der letzten beiden Jahrzehnte hat dies sowohl zu einer Gründungswelle neuer Stiftungen, als deren Folge fast die Hälfte der bestehenden Stiftungen jünger als zehn Jahre sind, als auch zu einer insgesamt positiven Wahrnehmung des Stiftungssektors mit entsprechend hohen – gelegentlich unerfüllbar hohen – Erwartungshaltungen geführt.
17
Paul Pierson, Increasing Returns, Path Dependence, and the Study of Politics, in: American Political
Science Review 94, 2000, 251–267; Lester M. Salamon/Helmut K. Anheier, Social Origins of Civil Society: Explaining the Nonprofit Sector Cross-Nationally, in: Voluntas 9, 1998, 213–247. 18
Michael Porter/Mark Kramer, The Competitive Advantage of Corporate Philanthropy, in: Harvard Bu-
siness Review Dezember 2002, Reprint RO 212D. 19
In der Bundesrepublik werden für 2010 52 Milliardäre (in US $) und mehr als 850000 Millionäre ge-
nannt. Vgl. Forbes Report 2011, Daten für 2010; World Wealth Report 2010, Daten für 2009.
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20
Henry Hansmann, The Role of Nonprofit Enterprise; in: Yale Law Journal 89, 1980, 835–898.
21
Burton A. Weisbrod, The Voluntary Nonprofit Sector: An Economic Analysis. Lexington 1977.
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Wo Stiftungen vor allem in ihrer Innovationskraft und als „Motoren des Wandels“ 22 gefeiert werden, gibt es auch eine Schattenseite: die Prozesse staatlicher Aufgabenauslagerung bzw. Aufgabendelegation, in der angelsächsischen Debatte als Devolution bezeichnet. Hier werden Stiftungen als Erfüllungsgehilfen staatlicher Aufgaben mit öffentlicher Förderung wahrgenommen, gleichzeitig jedoch in ihrer Autonomie gefährdet, weil sie in Rechtsansprüche und Haushaltszuweisungen eingebunden von Entscheidungen der Politik und Verwaltung anstatt ihrer eigenen Gremien abhängig sind. Auch im Wettbewerb vor allem operativer Stiftungen an (Sozial-)Märkten kommt eine wechselseitige Beeinflussung der Sektoren zum Ausdruck, wie umgekehrt Stiften oder die Zusammenarbeit mit Stiftungen aus der Sicht von Wirtschaftsunternehmen Legitimität und öffentliche Akzeptanz generieren kann. Die Wechselbeziehungen zwischen den Sektoren am Beispiel des Stiftens als sozialer Investition werden also durch die Kategorien der Legitimität, der Effizienz, der Innovation und der Autonomie geprägt. Gerade die weitreichende Autonomie der Stiftung von jeder Einflussnahme einzelner Anspruchsgruppen oder Interessenlagen wird regelmäßig als Definitionsmerkmal hervorgehoben. 23 In der näheren Bestimmung möglicher Rollen, die soziale Investitionen und damit Stiftungen gegenüber dem Staat einnehmen können, kommt es nicht nur auf ihre Eigenart als unabhängige, verselbständigte Vermögensmasse an, sondern auch auf ihr Selbstverständnis und damit auf die Frage, welchen strategischen Nutzen die Investition aus ihrer prinzipiellen Unabhängigkeit zieht. Diese Unabhängigkeit ist allerdings in dem Maße eingeschränkt, in dem eine Stiftung selbst Mittel einwerben muss, also von ihrem Stifter auf Fundraising-Grundlage errichtet und nicht vollständig ausgestattet wurde. Entsprechendes gilt, wenn Stiftungen von der Förderung der öffentlichen Hand abhängig sind. In allen diesen Fällen findet die Legitimationsprüfung der sozialen Investition nicht nur in reiner Privatautonomie, sondern ggf. auch in der Auseinandersetzung mit gewählten Gremien und Instanzen statt. Anheier unterscheidet eine Reihe grundsätzlich unterschiedlicher Rollen von
22 Bundespräsident Roman Herzog, Zur Bedeutung von Stiftungen in unserer Zeit, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Operative Stiftungsarbeit, Strategien, Instrumente, Perspektiven. Gütersloh 1997, 39. 23 Helmut K. Anheier/Siobhan Daly, Philanthropic Foundations in Modern Society, in: dies. (Hrsg.), The Politics of Foundations, A Comparative Analysis. London 2007, 3–26, hier 8f.
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Stiftungen, die sie natürlich auch gleichzeitig spielen können. 24 Ausgehend von der grundsätzlichen Nachfrageheterogenität, die in der Theorie der Non-Profit-Organisationen eine zentrale Rolle neben Informationsasymmetrien spielt 25, können Stiftungen eine komplementäre Rolle zum Staat einnehmen. Sie dienen dann Bedürfnissen, die sonst unbefriedigt blieben, also solchen, die als nicht relevant genug eingestuft werden, um gesetzliche Maßnahmen oder (wohlfahrts-)staatliche Programme zu rechtfertigen. Stiftungen können grundsätzlich auch substituierend für den Staat tätig werden, allerdings dürfte diese Rolle nur in Ausnahmefällen und lokal begrenzt möglich sein, weil sie sonst schnell an die Grenzen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit stoßen (philanthropic insufficiency 26). Grundsätzlich haben Stiftungen die Möglichkeit, sozialer Ungerechtigkeit entgegenzuwirken und damit eine Umverteilung von Ressourcen in der Gesellschaft herbeizuführen. Allerdings stößt auch diese Rolle schnell an zwei Grenzen: Einerseits sind die Stiftungsmittel selbst des gesamten Sektors in aggregierter Betrachtung dafür zu begrenzt, andererseits arbeiten zahlreiche Stiftungen zugunsten von Satzungszwecken, die eher Eliten begünstigen und insofern nicht zur Umverteilung beitragen (siehe Wissenschaftsförderung, Stipendien, Förderung der Hochkultur, etc. – philanthropic particularism 27). Die vermutlich wichtigste Rolle dürfte in der schon angesprochenen Innovationsfunktion liegen, neuen Wahrnehmungsmustern, Vorgehensweisen, Wertvorstellungen oder sozialen Bezügen zum Durchbruch zu verhelfen. Diese Rolle ist jener zugunsten sozialen Wandels und struktureller Veränderungen in der Gesellschaft verwandt. Das Gegenstück zur Förderung des Wandels ist die (häufig im kulturellen Sinne) bewahrende Rolle. Schließlich dürfte eine mit der Privatautonomie des Stiftens eng verknüpfte Rolle zentral sein: die der Förderung und Stärkung des Pluralismus, also des Eintretens für Bürgerfreiheiten, des Gegengewichts zum Staat in der Artikulation von Anliegen und in der Funktion, “den Finger in die Wunde zu legen“. In dieser politischen Rolle bilden Stiftungen eine Herausforderung für politische Strategien oder regen selbst neue an. Entsprechend der vorherrschenden Stiftungsrollen sowie der Größe und Relevanz 24
Helmut K. Anheier/Siobhan Daly, Comparing Foundation Roles, in: dies, Politics, 27–44, v.a. 28ff.
25
Helmut K. Anheier, Nonprofit Organizations. Theory, Management, Policy. London/New York 2005,
114ff. 26
Lester M. Salamon, Partners in Public Service: Government-Nonprofit Relations in the Modern Welfare
State. Baltimore 1995, 45. 27
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Salamon, Partners (wie Anm.26), 45ff.
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des Sektors lassen sich Modelle des (teilweise fehlenden) Zusammenspiels von Stiftungen und Staat formulieren. Es seien hier nur die wichtigsten genannt: das korporatistische Modell (Subsidiaritätsbeziehungen zum Staat), das sozialdemokratische Modell (staatliche Koordination enger Beziehungen, in denen Stiftungen komplementär oder substituierend auftreten), das liberale Modell (Alternative zum Staat, vor allem substituierend oder Pluralismus stärkend bzw. zugunsten sozialer Gerechtigkeit tätige Stiftungen) sowie das staatszentrierte Modell (Stiftungen unter enger Aufsicht als Hilfsinstrumente des Staates). In einigen europäischen Ländern (Griechenland, Portugal) spielen Stiftungen aber insgesamt nur eine periphere Rolle. 28 Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich bei aller Knappheit der hier notwendigen Darstellung, dass das Konzept der sozialen Investitionen für die historische Stiftungsforschung einige grundlegende Dimensionen erkennbar werden lässt. Ausgehend vom normativen Rahmen, den Stifter setzen, steht Stiften für einen sich wandelnden Wertehorizont der Stifter, der von der Durchsetzung der Privatautonomie im 19.Jahrhundert bis zu deren Behauptung gegenüber Ansinnen des Staates reicht, die Stiftungen zu instrumentalisieren versuchen; zum anderen wird Stiften vom privaten Impuls, der Folgen der Marktentwicklung im Zuge der Industrialisierung zu kompensieren oder Fortschrittschancen zu erschließen sucht, zu einem organisatorisch komplementären oder auch pluralistisch-kritischen Partner öffentlicher Wohlfahrtsproduktion. Und schließlich geschieht Stiftungshandeln in Bezug auf, Abgrenzung zu oder auch Ergänzung von (wohlfahrts-)staatlichem Handeln. Zugleich demokratisiert und pluralisiert sich das Stiften. Im Verlauf der Moderne seit dem 19.Jahrhundert reicht die Entwicklung von der Emanzipation der Juden durch die Beteiligung am Stiften 29 bis zur „Demokratisierung des Stiftens“ durch Stiftungsformen wie Bürgerstiftungen, die Bürgern mit begrenzten finanziellen Ressourcen ausdrücklich die Beteiligung an dieser Form gesellschaftlichen Engagements ermöglichen sollen. Wenn man Stiften vor allem als soziale Investition begreift und damit die Legiti-
28 Siehe diverse Länderstudien in Anheier/Daly, Politics (wie Anm.23), z.B. zu Griechenland Charalambos Economou/Sophia Tsakraklides, Greece, 186–199. 29 Jürgen Kocka/Manuel Frey(Hrsg.): Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19.Jahrhundert. Berlin 1998; Elisabeth Kraus, Jüdisches Mäzenatentum im Kaiserreich: Befunde – Motive – Hypothesen, in: Kocka/Frey (wie oben), 38–53; Elisabeth Kraus, Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert. München 1999; vor allem aber Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19.Jahrhundert. Göttingen 2004.
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mität von Gemeinwohlbeiträgen in den Mittelpunkt des Begriffs stellt, stellen sich notwendigerweise weitreichende Fragen nach der Wirkung der Investition bzw. der Bestimmung der Erträge als Grundlage der legitimierenden Prüfung. Diese Fragen sollen den abschließenden Teil dieses Beitrages bilden.
Investitionen und Ertrag: Die Frage nach der Wirkung Aus den am Ende des vorangehenden Abschnitts sehr kursorisch zusammen gefassten Perspektiven, die das Konzept sozialer Investitionen für die historische Stiftungsforschung eröffnet, lässt sich in zeithistorischer Betrachtung erkennen, dass Stiften heute unter eine neue Art von Legitimationsdruck geraten ist. Wo im 19.Jahrhundert die Privatautonomie des Stiftens gegenüber dem Staat durchgesetzt werden musste, gilt es heute, den Erwartungen der demokratischen Öffentlichkeit standzuhalten. Dies führt zu einem mehrfachen Legitimationsdruck: Zunächst gewann der Wettbewerb zu staatlichem Handeln an Bedeutung, löste also einen Effizienzdruck bzw. einen Innovationsdruck auf Stiftungen aus, sich als besserer gesellschaftlicher Problemlöser zu positionieren. In einem zweiten Schritt gewinnen in der aktuellen Debatte Fragen der Effektivität des Stiftungshandelns an Bedeutung, also Fragen nach der tatsächlichen Problemlösungsfähigkeit in konkreten Themengebieten. 30 Beide Entwicklungen setzen Stiftungen unter Druck, höheren Maßstäben an Transparenz und Wirkungsnachweis zu genügen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Mit einem Einblick in die aus dem Konzept der sozialen Investitionen ableitbaren Perspektiven der Wirkungsmessung soll deshalb dieser Beitrag schließen. Ausgangspunkt jeder realistischen Einschätzung stiftender sozialer Investitionen ist die Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Ressourcen im Verhältnis zu den anstehenden gesellschaftlichen Problemlagen bzw. Aufgaben der Stiftung gemäß ihrer Satzungszwecke. Selbst in den USA, die als das Land mit dem bestentwickelten 30
In der Forschung spiegelt sich dies in einer wachsenden Zahl von Arbeiten nieder, die Rollen und
Wirksamkeit der Stiftungen in Bezug zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld setzen, z.B. Anheier/Daly, Politics; Anheier/Hammack, American Foundations (wie Anm.6); Frank Adloff, Philanthropisches Handeln. Eine historische Soziologie des Stiftens in Deutschland und den USA. Frankfurt/New York: Campus, 2010; Ekkehard Thümler/Nicole Bögelein/ Annelie Beller/Helmuth Anheier (Hrsg.), Philanthropy and Education: Strategies for Impact. Basingstoke 2013.
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Stiftungssektor gelten, macht der Finanzbeitrag des Stiftens und Spendens zum gesamten Dritten Sektor nur 12,9% aus, in Deutschland lag dieser Wert – allerdings den Daten des fünfzehn Jahre alten Johns-.Hopkins-Projekts zufolge, eine aktuellere Untersuchung ist noch in Arbeit – seinerzeit bei 3,4%. 31 Setzt man zusätzlich für die wichtigen Investitionsfelder von Stiftungen diesen Beitrag in Relation zu den Beiträgen aus öffentlichen Haushalten, so wird eklatant sichtbar, dass die gesellschaftlichen Beiträge von Stiftungen vor allem vor der strategischen Herausforderung stehen, nach Wegen zu suchen, wie die „Schwanzspitze mit dem Hund wedelt“. Diese pointierte Metapher beschreibt die besondere Notwendigkeit sozialer Investitionen im Stiftungsbereich, sich auf Hebelwirkung und Effektivität der Arbeit zu konzentrieren. Für diese Hebelwirkung stehen grundsätzlich die vier für soziale Investitionen genannten Funktionen zur Verfügung: Stiftungen können Hebelwirkung mittels ihrer Ressourcen erzielen, indem sie sich der wirtschaftlichen Funktion und der Marktkräfte, der politischen Funktion und Einwirkung auf den Staat, der sozialen Funktion und damit der zivilgesellschaftlichen Mobilisierung von Bürgerinnen und Bürgern, oder der kulturellen Funktion und damit der Kraft von Einstellungsveränderungen und Wertewandel, bedienen. Diese vier Hebel zu unterscheiden ist selbstverständlich ein heuristischer Kunstgriff; in realen Stiftungsstrategien dürften sie in Mischungsverhältnissen vorkommen und nicht in Reinform angewandt werden. Sich der vier Funktionen sozialer Investitionen als Hebel zu bedienen, bedeutet, Grenzziehungen der Nutzung bzw. Anwendung dieser Funktionen zu verschieben, also etwa Grenzen des Marktversagens, des Staatsversagens (oder auch des Non-Profit-Versagens) durch die eigenen Beiträge zu neu zu definieren. Dies kann durch direkte Investition in den jeweiligen Funktionszusammenhang geschehen, aber auch durch indirekte Einwirkung über Konsumentenmacht, politische Themenanwaltschaft, den Aufbau oder die Erweiterung sozialer Netzwerke und des Sozialkapitals sowie durch Verknüpfung anderer Funktionen mit bestimmten Wertvorstellungen (etwa bei der Förderung sozialunternehmerischer Modelle, die in „moralischen Märkten“ agieren bzw. deren Geschäftsmodelle auf die Werteveränderungen bestimmter Konsumentengruppen zurückgehen). 32 Solche Sozialunternehmermo-
31 Lester M. Salamon, Der Dritte Sektor. Aktuelle Internationale Trends, The Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project, Phase II. Gütersloh 1999, Anhang Tabelle 3. 32 Johanna Mair/Ignasi Marti, Social Entrepreneurship Research: A Source of Explanation, Prediction, and Delight, Journal of World Business 41, 2006, 36–44.
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delle finden wir etwa in den neuen, auf sozialen Bewegungen beruhenden Märkten der ökologischen Produktion von Lebensmitteln oder Textilien, der regenerativen Energieproduktion, dem gerechteren Handel mit Entwicklungsländern oder der nachhaltigen Produktion dortiger Exporte (Fair Trade). Eine Sonderform der Einstellungsveränderung, also der Nutzung kultureller Hebel, stellt wiederum die Förderung von Individuen bei Prozessen des Kompetenzerwerbs oder der Persönlichkeitsentwicklung dar (Stipendien, Fellowships sowohl im Ausbildungs- und Wissenschaftskontext als auch zunehmend in Praxiszusammenhängen, z.B. der Förderung von Sozialunternehmern durch Ashoka und die Schwab Foundation). Allen Strategien zur Erzielung von Hebelwirkung ist es gemeinsam, dass soziale Investitionen eingesetzt werden, um sowohl weitere soziale als auch öffentliche Investitionen zu lenken und für deren Verwendung gezielte Anreize zu schaffen. Je nach beabsichtigter Problemlösung oder satzungsgemäßer Zielsetzung versprechen offensichtlich soziale Investitionen dann die größte Hebelwirkung, wenn sie einen geeigneten Mix gesellschaftlicher Funktionsbezüge und Sektorlogiken wählen, an denen sie ihre Programmarbeit ausrichten. Diese Hypothese wird in der Wirkungsforschung zur Stiftungsarbeit in den nächsten Jahren weiter zu überprüfen sein. Die Wirkung sozialer Investitionen wird in einem doppelten Sinne nachvollzogen: Einerseits überprüfen Ansätze der Evaluation, ob die konkrete theory of change, das der Investition zugrunde gelegte Wirkungsmodell gesellschaftlicher Veränderung, funktioniert hat. Zum anderen interessiert sich die Wirkungsanalyse nicht nur für den prinzipiellen Beweis, dass eine soziale Investition die gewünschten Wirkungen erzielt, sondern vor allem auch dafür, mit welcher gesellschaftlichen Verbreitung dies geschieht. Entsprechend analysieren Ansätze der Wirkungsmessung, die über den reinen Wirkungsnachweis eines Modells hinausgehen, drei Dimensionen von Erträgen: Neben den auch für soziale Investitionen relevanten wirtschaftlichen Erträgen (Können Verpflichtungen eingehalten, Rechnungen beglichen, kurz: kann eine „schwarze Null“ bei der Investition erzielt werden?) spielen sozio-ökonomische Erträge eine große Rolle, also in Geld bewertete Effekte, die außerhalb der Rechnungslegung der eigenen Organisation, aber mit Auswirkungen auf Gesamtgesellschaft bzw. Volkswirtschaft eingetreten, aber an anderer Stelle zu verbuchen sind (im positiven wie im negativen Sinne, also im Sinne von Folgekosten oder – wie die ökonomische Fachsprache dies nennt – „Externalitäten“). Schließlich generieren soziale Investitionen soziale Erträge, die in anderen Dimensionen als Geld erfassbar sein mögen und dann in entsprechenden Kategorien quantitativ oder auch nur qua-
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litativ geschrieben werden können. Diese Betrachtungsweise wird zusammenfassend seit gut fünfzehn Jahren unter dem Begriff des social return on investment (SROI) diskutiert. 33 Ehe wir vertiefend diesen Ansatz der Wirkungsmessung mit unserem Konzept der sozialen Investitionen verknüpfen, möchten wir uns kurz überblicksartig der insgesamt in die Diskussion eingebrachten Überlegungen zur Wirkungsanalyse versichern. In einer Analyse über Herangehensweisen in diesem Feld konnten schnell mehr als siebzig unterschiedliche Ansätze identifiziert werden. Bei näherer Betrachtung und zur vergleichenden Würdigung der jeweiligen Ansätze ließen sich Cluster vorrangiger Kategorien und Dimensionen bilden, auf die sie sich jeweils stützen. 34 Grundsätzlich lassen sich Ansätze unterscheiden, die Organisationseigenschaften, soziale Wirkung im engeren Sinne und Kriterien der Legitimität prüfen. Auffällig ist dabei, dass Letztere, also Fragen der Unabhängigkeit, Freiwilligkeit und Gemeinwohlorientierung, eher selten in Wirkungsanalysen einbezogen werden. Der nach unserem Verständnis sozialer Investitionen selbstverständliche Legitimitätstest findet also in der bisherigen Praxis der Wirkungsanalyse kaum statt. Meist werden dagegen Kriterien der Effizienz, Governance, Nachhaltigkeit oder des Leaderships, also der Führungsqualität und Führungskultur überprüft. Ebenfalls nur eine kleine Minderheit der Ansätze interessiert sich für die Effektivität der Investition, insbesondere auf Dauer und im Sinne sozialer Reichweite betrachtet, sowie für soziale „Externalitäten“ (in beiderlei Sinne: nicht intendierte Wirkungen mit positivem Vorzeichen wie auch unbeabsichtigte Folgeschäden). In der Gesamtbetrachtung konzentrieren sich die meisten Ansätze der Wirkungsanalyse auf die organisationalen bzw. aus der Bewertung der betroffenen Anspruchsgruppen hervorgehenden Dimensionen, die zugleich am einfachsten zu messen sind. Legitimitätsfragen werden grundsätzlich kaum thematisiert, aber auch Kategorien der Wirkung im engeren Sinne werden eher selten und nur von Ansätzen herangezogen, die im weiteren Sinne SROI- oder Balanced-Scorecard-Ansätze sind. 35
33 S. www.redf.org. Der Roberts Enterprise Development Fund entwickelte unter seinem damaligen Direktor Jed Emerson Mitte der 1990er Jahre dieses Instrument und dokumentiert es bis heute auf seiner Website. Inzwischen hat das entsprechende Denken Verbreitung und weitere Vertiefung erfahren, was im Text unten skizziert werden wird. 34 Georg Mildenberger/Robert Münscher/Björn Schmitz, Dimensionen der Bewertung gemeinnütziger Organisationen und Aktivitäten, in: Anheier/Schröer/Then, Soziale Investitionen (wie Anm.1), 279–312. 35 Siehe im Überblick, ebd., 307, Tabelle 5.
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Als SROI wird bei näherer Betrachtung der Saldo positiver Wertschöpfungsbeiträge zur Gesellschaft sowie positiver Veränderungen im Leben der Menschen und reduzierter oder entgangener gesellschaftlicher Kosten bezeichnet. Diese Kombination wirtschaftlicher und sozialer Wertkategorien wird empirisch erhoben und wirft dabei eine Reihe nicht trivialer Folgeprobleme auf, die hier nicht näher behandelt werden können. 36 Um die Wirkungsdimensionen und entsprechend die Kategorien, die als Wirkungsindikatoren dienen können, zu bestimmen, muss als erster Schritt die theory of change, also das Wirkungsmodell der Zielerreichung, konkretisiert werden. Dies setzt zugleich die Bestimmung der relevanten – d.h. der durch eine Intervention (auch indirekt) maßgeblich betroffenen – Anspruchsgruppen und damit der Reichweite der Analyse voraus. Mit diesem Modell werden die kausalen Zusammenhänge zwischen Investition und direkten sowie indirekten sozialen Wirkungen beschrieben bzw. der Analyse zugänglich gemacht. Auf dieser Grundlage kann die eigentliche empirische Erhebung stattfinden, die es ermöglicht, den Koeffizienten des SROI (den sog. index of return) zu berechnen oder Aussagen mit entsprechender alternativer Darstellungskraft zu formulieren (z.B. ergänzende qualitative Aussagen sowie anstelle des Koeffizienten evtl. aussagekräftigere Kostendifferenzen für den Umgang mit einer gesellschaftlichen Problemlage oder Aufgabe). Wichtig für diese Aufbereitung der Ergebnisse ist das Interesse an ihrer Verwendung in mehrerlei Hinsicht: Zum einen als Grundlage strategischer Entscheidungen in der eigenen Organisation, zum anderen aber auch, um aus den Ergebnissen auf das Funktionieren einer Innovation schließen und damit neben grundsätzlicher Legitimität des eigenen Organisationshandelns eine Grundlage für themenanwaltschaftliche Reformanstöße gewinnen zu können. Schließlich können die Ergebnisse Anlass zu operativen Steuerungsentscheidungen mit dem Ziel der Verbesserung der eigenen Arbeit sein. Insbesondere für die Untermauerung politischer Reformanstöße bedarf es eines methodisch besonders stringenten Vorgehens, weil hier der Legitimationsdruck und die Kritik der Öffentlichkeit unmittelbar eine Rolle spielen. Die für unser Verständnis sozialer Investitionen zentrale Legitimitätsprüfung wird hier besonders
36
Siehe hierzu ausführlich die Kritik am Konzept in Konstantin Kehl/Volker Then/Robert Münscher, Social
Return on Investment: Auf dem Weg zu einem integrativen Ansatz der Wirkungsforschung, in: Anheier/ Schröer/Then, Soziale Investitionen (wie Anm.1), 313–332.
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deutlich und ist unmittelbar erfolgsrelevant. Aber auch die strategische Bedeutung als Instrument zur Unterstützung der Allokationsentscheidungen für künftige Investitionen sowohl durch die eigene Organisation als auch ggf. durch Dritte (Zustifter, Spender) setzt die Wirkungsanalyse einem hohen Legitimationsdruck aus, weil die Erwartungen der Investoren auf präzise und ihre Ertragserwartungen bedienende Informationen befriedigt werden muss. Was sowohl für den konkreten Einzelinvestor als auch für die öffentliche Untermauerung erfolgreicher Investitionen gilt, gilt umso mehr für die Legitimitätssicherung des gemeinwohlorientierten Sektors insgesamt: Wirkungsanalyse ist ein Instrument der Sicherung von Stifterfreiheit und Stiftungsakzeptanz in der Gesellschaft, weil Erwartungen der Gesellschaft und der Öffentlichkeit realistisch beantwortet werden können. Dies gilt auch für die Begrenzung ggf. überzogener Erwartungshaltungen gegenüber einem wachsenden Stiftungssektor in Zeiten von Budgetengpässen und historischen Auseinandersetzungen um die Rolle von Zivilgesellschaft und Staat. Um diesem wachsenden Interesse an legitimierender Wirkungsmessung zu genügen, kann Wirkung im Anschluss an die vier Funktionen sozialer Investitionen ebenfalls in diesen vier Dimensionen verstanden werden. Damit gewährleistet wird, dass die Wirkungsanalyse an die Motivation und Ertragserwartungen des Investors anschließt, sollten sowohl auf der organisationalen Ebene als auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene jeweils entsprechende Kategorien die vier Funktionen abbilden: Abb.2 Dimensionen des social return of investment (SROI) Es wird also in der weiteren Methodenentwicklung der Wirkungsforschung darauf ankommen, für die vier Funktionen jeweils eine kleine Zahl von Variablen zu definieren, die stellvertretend ausreichend Auskunft über Wirkungen auf die jeweilige Funktion geben. Für die wirtschaftliche Funktion ist dies durch die bisherige Unterscheidung ökonomischer und sozio-ökonomischer Erträge gewährleistet, für die politische Funktion wird es darum gehen, sowohl Effekte der Teilhabe für Bürgerinnen und Bürger als auch solche der themenanwaltschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit von Organisationen im Sinne des Schmiedens und Beeinflussens von Advokaten- bzw. Diskurskoalitionen 37 und von sogenanntem policy entrepreneurship 38 abzu-
37 Paul A. Sabatier/Hank Jenkins-Smith, The Advocacy Coalition Framework: An Assessment; in: Paul A. Sabatier (Hrsg.), Theories of the Policy Process. Boulder 1999, 117–166. 38 John W. Kingdon, Agendas, Alternatives and Public Policies, 2.Auflage; New York 1995.
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bilden. Für die soziale Funktion können aus der Sozialkapitalforschung Maße der Sozialkapitaldichte herangezogen werden. 39 Schließlich wird es darauf ankommen, für die kulturelle Funktion angemessene Indikatoren der Werteentwicklung bzw. der durch eine Investition verursachten Auswirkungen auf Wertesysteme zu bilden. Hier wird zugleich ein besonderes Problem in der Langfristigkeit der Prozesse und der Langsamkeit der Veränderung liegen, was Zurechenbarkeit besonders erschweren wird. Zugleich gibt es für die kulturelle Funktion Möglichkeiten, aus der Forschung zu intermediären Institutionen Erkenntnisse zu Wertestabilität und Wertekonflikten zu nutzen. In dieser differenzierten Perspektive wird deutlich, dass eine umfassende Wirkungsmessung in den verschiedenen Medien stattfinden muss, die für die Steuerung der Funktionen maßgeblich sind: in Geld, Teilhabe und Macht, Vertrauen und Werten. Stiftungen erweisen sich in dieser Perspektive als Organisationen, die – gerade weil sie finanziell nur über sehr begrenzte Ressourcen verfügen – mit den anderen Ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen arbeiten müssen und dabei ihre organisatorischen Besonderheiten nutzen. Stiftungen sind durch ihre Rechtsnatur und ihre Satzung als Organisationen auf lange Dauer, ja auf „Ewigkeit“ angelegt und weder Eigentümern noch Mitgliedern oder Wählern verpflichtet. Entsprechend verfügen sie über große Freiheit, ihre Investitionen in die Gesellschaft in völlig freier Kombination auf die genannten Funktionen und Wirkungsdimensionen auszurichten. In der historischen Betrachtung ist zu erwarten, dass sich Phasen der Stiftungsgeschichte unterscheiden lassen, in denen Stiftungen sich eines jeweils charakteristischen Funktionsmixes bedienten. Während sie sich in der beginnenden Industrialisierung vor allem der bürgerlichen Emanzipation, aber auch der sozialen Frage gewidmet haben dürften – ablesbar an der Gründung der bereits angesprochenen operativen Stiftungen zur Linderung der unterschiedlichen sozialen Notlagen (Krankheit, Alter, Behinderung) – und dabei die Investition in Sozialkapital und der Ausdruck solidarischer Werte zentral gewesen sein dürfte, könnten sie sich in späteren Epochen als Förderer der Modernisierung erweisen (Wissenschaftsförderung, Bildungsförderung). In der Folge der sozialen Bewegungen ausgangs des 20.Jahrhunderts könnte wiederum ein emanzipatorisches Programm mit einerseits dominant wertegeleiteten (sozialinte-
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Siehe ausführlich Franzen/Pointner, Sozialkapital (wie Anm.7).
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grativen) und andererseits politikorientierten (systemintegrativen) Strategien an Gewicht gewonnen haben (Umweltschutz und erneuerbare Energien, Erneuerung der Demokratie, Gender-Fragen und dergleichen mehr). 40 Diese beispielhaft-hypothetischen Überlegungen zeigen, dass sich ein Konzept sozialer Investitionen epochenübergreifend dafür eignet, als Strukturierungshilfe der historischen Stiftungsforschung zu dienen. Entsprechend ließe sich auf dieser konzeptionellen Grundlage eine Geschichte sich historisch wandelnder Rollen von Stiftungen zeichnen, die sie in Reflexion der jeweils dringenden Gemeinwohlbeiträge leisteten. Dabei dürfte die Abgrenzung zu den jeweils staatlich erbrachten Gemeinwohlaufgaben, also die Frage nach dem jeweiligen politischen bzw. Wohlfahrtssystem, 41 ein wichtiger Einflussfaktor gewesen sein. Zugleich könnte der Rollenwandel als Wandel gesellschaftlicher Funktionsbeiträge interpretiert werden. Stiftungen könnten sich dabei gerade ihres ahistorisch-dauerhaften Charakters wegen als besonders wandlungsfähige Organisationen erweisen.
Fazit Wir haben in diesem Beitrag den Versuch unternommen, das Konzept der sozialen Investitionen für die Analyse des Stiftens und die historische Stiftungsforschung fruchtbar zu machen. Der Vorteil des Konzepts liegt darin, dass es weitgehend unabhängig von kulturellen Gegebenheiten und der demokratischen Rechtsprechung (z.B. in Form des Gemeinnützigkeitsrechts) vergleichend auf unterschiedliche Epochen angewendet werden kann und somit Konjunkturen des Stiftens hinsichtlich
40 Das vor allem in der Korporatismus- und Verbändeforschung als organisationssoziologischer Konflikt thematisierte Begriffspaar Sozial- vs. Systemintegration verweist im Kontext sozialer Investitionen darauf, dass die Erfüllung der politischen oder wirtschaftlichen Funktionen in der Regel auch die Erfüllung der eher informellen sozialintegrativen und Werte-entwickelnden Funktionen voraussetzt. Dies kann vor allem an den großen Themen der neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre abgelesen werden, deren Potenzial als Diskussionsgegenstände kritischer „Gegenöffentlichkeiten“ (Offe) ganz wesentlich an ihre sozio-moralische Fundierung gebunden war. Vgl. Wolfgang Streeck, Vielfalt und Interdependenz: Überlegungen zur Rolle intermediärer Organisationen in sich ändernden Umwelten; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39, 1987, 471495; sowie Claus Offe, New Social Movements: Challenging the Boundaries of Institutional Politics; in: Social Research 52,1985, 817–868. 41 Gösta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990, 9ff.
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der je prägenden Beiträge zum Gemeinwohl und historischer Aufgabenteilungen mit Staat und Markt sichtbar werden. In seiner interdisziplinären Ausrichtung hilft das Konzept der sozialen Investitionen, das Stiften in einen systematischen Kontext zu stellen (und nicht den Stiftungsbegriff zu ersetzen). Dabei überwindet es eng gezogene Grenzen der bisherigen Forschung zu Non-Profit-Organisationen (die auf Argumenten aus der Volks- und Betriebswirtschaftlehre beruht), zur Forschung betreffend Nichtregierungsorganisationen (vornehmlich politikwissenschaftliche Argumente) und zur Zivilgesellschaft (kultur-, sozial- und politikwissenschaftliche Herkunft). Da Stiftungen in ihrer konkreten Arbeit die Möglichkeit haben, Elemente der Handlungslogiken aller dieser Organisationsformen zu kombinieren, hilft der Begriff der sozialen Investition bei der systematischen Einordnung. Die Verbindung der für das Konzept zentralen Begriffe Investition, Wirkung (Ertrag) und Legitimität schärft zudem den Blick dafür, dass Stiften – selbst bei vergleichsweise hoher Autonomie von Stiftern, die nicht an Mitgliederinteressen gebunden sind – stets in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit stattfindet und dass es insbesondere für die historische Stiftungsforschung spannend sein könnte zu untersuchen, wie die unterschiedlichen und sich wandelnden privaten Gemeinwohlbeiträge im Austausch mit dieser Öffentlichkeit als legitim anerkannt wurden oder etwa zu normativen Konflikten führten.
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Stiftungen und moderner Staat. Zur Genese und Argumentation einer Legitimitätsdebatte von Rupert Graf Strachwitz
Einführung Seit 100 Jahren hat es in Deutschland kaum größere öffentliche oder wissenschaftliche Debatten um die Stiftungen gegeben. Eine Folge davon, die nicht auf den ersten Blick erkennbar wird, ist, dass weder historisch noch juristisch Klarheit darüber besteht, was tatsächlich heute eine Stiftung ist. Gewiss ist nur, dass die Definition des Bürgerlichen Gesetzbuchs als Rechtsperson ohne externe Eigentümer oder Mitglieder zu eng ist, da sie nur einen Teil – wohl nicht einmal den größeren Teil – der Stiftungen umfasst. Zwar mag es in Anbetracht dieses Dilemmas am einfachsten erscheinen, die schon in der Antike geprägte Definition der universitas bonorum, als Zusammenschluss auf der Basis von Vermögen, anders ausgedrückt, als mit Vermögen ausgestattete Organisation zu übernehmen und sie damit von der universitas personarum, dem Zusammenschluss von Personen abzugrenzen. Doch erwächst daraus die weitere definitorische Schwierigkeit, wie Vermögen zu definieren ist. Diesen Begriff auf materielles Vermögen zu beschränken, wäre wiederum viel zu eng. Dieser Beitrag wird sich daher zum einen mit der Frage auseinandersetzen, wie eine Stiftung als soziales Phänomen zu definieren ist, zum anderen, ob und inwiefern ihre Existenz mit den Grundsätzen eines modernen Gemeinwesens vereinbar erscheint. Das Dilemma ist zum Teil der Tatsache geschuldet, dass bis in die 1990er Jahre eine wissenschaftliche Debatte zum Stiftungswesen – wenn überhaupt –, nur in der Rechtswissenschaft geführt worden ist. Selbst der Blick auf das historische Stiftungswesen war von Rechtshistorikern, etwa Pleimes 1 und Liermann 2, dominiert. Als Thema der Soziologie, Geschichts- und Politikwissenschaft hingegen werden die
1 Dieter Pleimes, Weltliches Stiftungsrecht, Geschichte der Rechtsformen. Forschungen zum deutschen Recht, Bd. III. Weimar 1938. 2 Hans Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, Bd. 1: Geschichte des Stiftungsrechts [1963]. Tübingen 2002.
DOI
10.1515/9783110400007.283
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Stiftungen erst in jüngster Zeit wieder erkannt 3. Ihr Beitrag zu sowie Einfluss und Bezug auf allgemeine historische oder gar ideengeschichtliche Entwicklungen und sozialgeschichtliche Phänomene wird im Grunde erst seit zwei Jahrzehnten aufgearbeitet, zunächst aus dem Ansatz der Bürgertumsforschung 4, im Rahmen von ortsgeschichtlichen Untersuchungen 5 oder im Rahmen spezifischer Studien etwa zum Judentum. 6 Außerdem finden sich aus den 1990er Jahren Studien zu einzelnen Stiftern 7, daneben Chronik-Literatur der Stiftungen selbst, die nur in Ausnahmefällen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. 8 Dabei fällt auf, dass ganz überwiegend das Stiften und der Stifter – wo zutreffend auch die Stifterin – im Vordergrund des Interesses standen. Institutionengeschichtliche Monographien zu einzelnen Stiftungen sind nach wie vor rar. Selbst herausragende und für die Geschichte des Stiftungswesens wegweisende Gründungen wie die Johann Friedrich Städels (1728–1816) oder Ernst Abbes (1840–1905) haben eine wissenschaftliche Aufarbeitung bisher nur ansatzweise erfahren. Dass die Stiftung „ein für die vergleichende Kulturgeschichte allgemein interessanter Gegenstand“ 9 sei, wurde lange nicht gesehen. Noch ist auch der empirische Befund sehr lückenhaft, noch kursieren eklatante Fehleinschätzungen. So werden beispielsweise die nicht rechtsfähigen oder Treuhand-Stiftungen weiterhin nicht selten vollständig ausgeblendet (so schon bei Kant 10, aber auch in der juristischen Fachliteratur) oder als unechte Stiftungen abqualifiziert. Oder es
3 S.als Ausnahme: Mohammed Rassem, Stiftung und Leistung – Essays zur Kultursoziologie. Mittenwald 1979 (mit älteren Beiträgen d. Verf.). 4 S.Günter Braun/Waltraud Braun (Hrsg.), Mäzenatentum in Berlin, Bürgersinn und kulturelle Kompetenz unter sich verändernden Bedingungen. Berlin 1993. Thomas Gaehtgens/Martin Schieder (Hrsg.), Mäzenatisches Handeln, Studien zur Kultur des Bürgersinns in der Gesellschaft. Berlin 1998. Jürgen Kocka/ Manuel Frey (Hrsg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19.Jahrhundert. Berlin 1998. 5 S.Franz-Josef Jakobi/Hannes Lambacher/Jens Metzdorf/Ulrich Winzer (Hrsg.), Stiftungen und Armenfürsorge in Münster vor 1800. Münster 1996. Bernhard Kirchgässner/Hans-Peter Becht (Hrsg.), Stadt und Mäzenatentum. Sigmaringen 1997. Elisabeth Kraus, Philanthropieforschung in stadtgeschichtlicher Retrospektive. Maecenata Actuell Nr.18. Berlin 1999. 6 S.Cella Margaretha Girardet, Jüdische Mäzene für die Preußischen Museen zu Berlin. Eine Studie zum Mäzenatentum im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Egelsbach/Frankfurt am Main 2000. 7 S.Joachim Fest (Hrsg.), Die großen Stifter. Berlin 1997. 8 S.als Ausnahme Rainer Nicolaysen, Der lange Weg zur Volkswagen Stiftung. Göttingen 2002. 9 Mohammed Rassem, Die Stiftung als Modell [1956]; in: ders., Stiftung und Leistung (wie Anm.3), 182. 10
S.Rupert Graf Strachwitz, Die Stiftung – ein Paradox–Zur Legitimität von Stiftungen in einer politi-
schen Ordnung. Stuttgart 2010, 68.
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wird ohne erkennbare empirische Basis ein Bestand von 5000 Stiftungen im Jahr 1945 einem Bestand von 100000 im Jahr 1914 gegenübergestellt. 11 Und doch verliert Michael Borgoltes 2002 zu Recht geführte Klage, eine Geschichte des Stiftungswesens ließe sich nicht schreiben, es könne vielmehr zunächst nur darum gehen, Stiftungsgeschichten im Einzelnen darzustellen, allmählich ihre Berechtigung – nicht zuletzt dank seinen eigenen erfolgreichen Bemühungen und denen seiner Schüler. 12 Thomas Adam und andere haben wesentliche Forschungslücken geschlossen und dabei einige als gesichert geltende Urteile als Fehlurteile entlarvt. 13 Seit kurzem widmen sich wissenschaftliche Tagungen, Sammelbände oder Schwerpunkte in Fachzeitschriften verstärkt dem Stiftungswesen. 14 Borgolte hat auch erstmals das Stiftungswesen als historisches Phänomen wieder verstärkt in den Blick genommen. 15 Dennoch kann ein Überblick über die staatstheoretischen Debatten zum Stiftungswesen in den letzten zwei Jahrhunderten, wie er im Folgenden versucht werden soll, schlechterdings nicht darauf verzichten, auf den nach wie vor unbefriedigenden Forschungsstand zu verweisen. Für die Erörterung der Frage, in welchem Verhältnis das Stiftungswesen insgesamt oder Stiftungen im einzelnen zu dem sie umgebenden Staatswesen standen, können zwar markante Aussagen von Staatstheoretikern herangezogen, aber nur sehr eingeschränkt Aussagen dazu, wie die Entwicklung der Theorie des modernen Verfassungsstaates bei den Stiftungen rezipiert wurde. Die juristisch geprägte Sichtweise hat auch dazu geführt, dass sich die Debatte, so sie denn überhaupt geführt wird, auf die Frage der Legalität konzentriert und die der
11 Eine Verbesserung der Empirie wird dadurch wesentlich erschwert, dass eine vollständige Erfassung erst ab 1950 in der DDR, ab 1989 in Westdeutschland versucht wurde. S.Ignaz Jastrow, Gut und Blut fürs Vaterland, Vermögensopfer – Steuerfragen – Erhöhung der Volkswirtschaft. Berlin 1917, 40. 12 Michael Borgolte, Von der Geschichte des Stiftungsrechts zur Geschichte der Stiftungen, in: ZRG KA 74 (1988), 3–22. 13 S.Thomas Adam, Transatlantic Trading. The Transfer of Philanthropic Models between European and North American Cities during the Nineteenth and Early Twentieth Centuries; in: Journal of Urban History, 28, 2002, 328–351. 14 S.das Themenhaft GG 33.1, 2007. Thomas Adam/Manuel Frey/Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.), Stiftungen seit 1800. Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Stuttgart 2009; Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich. Stuttgart 2009; und das Themenheft GWU 63.1/2, 2012. 15 Michael Borgolte (Hrsg.), Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten, Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Berlin 2000.
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Legitimität weitgehend außer Acht gelassen hat. Es ging also weitgehend um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Stiftungen oder auch der Vorgang des Stiftens mit der Rechtsordnung im Allgemeinen oder mit einzelnen rechtlichen Normen im Besonderen zu vereinbaren sind. Die weitergehende Frage, ob und in welchem Maße Stiftungen mit einer modernen demokratischen Gesellschaft kompatibel bzw. in einer solchen tolerabel sind, wird kaum gestellt, obwohl eine sich dem demokratischen Willensbildungsprozess ausdrücklich nicht unterwerfende, zugleich aber jedenfalls in ihrer überwältigenden Mehrheit subjektiv dem Allgemeinwohl verpflichtete Organisation 16 doch eigentlich von vornherein als demokratie-unverträglich erscheinen müsste, es sei denn, es ließen sich andere stichhaltige Begründungen für das Gegenteil finden. Diese Unterlassung erscheint nicht nur wissenschaftstheoretisch unbefriedigend; sie liefert auch die Stiftungen einer formalen Legalitätsdebatte aus, die, wie Beispiele zeigen, relativ rasch zu ihren Ungunsten ausgehen kann, wenn sozialer Druck, tagespolitische Erwägungen oder wirtschaftliche Begehrlichkeiten dies nahelegen. 17 Hinzu tritt eine gravierende Uneinigkeit darüber, was eigentlich unter einer Stiftung zu verstehen ist, sodass manche, zumal öffentliche Diskurse von erheblichen Missverständnissen geprägt sind. Liegt, so lässt sich überspitzt fragen, der vom Bürger gestifteten Parkbank, der Jahrhunderte alten, ein Krankenhaus betreibenden ‚Heilig-Geist-Stiftung‘ 18, der Ford Foundation 19, einer von einer Universität verwalteten Stipendienstiftung 20 und der Aussage, Friedrich der Große habe Preußen neu gestiftet, überhaupt ein gemeinsamer begrifflicher Kern zugrunde oder sind dies ganz unterschiedliche Phänomene, die verwirrenderweise und mehr oder weniger zufällig mit dem gleichen Wort bezeichnet werden? Selbst die wenigen ‚Klassiker‘
16
Nur 2,7% der deutschen Stiftungen haben familiäre Ziele und sind damit nicht steuerbegünstigt.
S.Rainer Sprengel, Empirische Studien zur Zivilgesellschaft, Stiftungen, Bibliotheken, Internet. Berlin, Maecenata (Opusculum Nr.50) 2011, 13. 17
Vgl. Jastrow, Blut und Gut (wie Anm.11), 34–46.
18
S.Sylvie Tritz, „...uns Schätze im Himmel zu sammeln.“, Die Stiftungen des Nikolaus von Kues. Quel-
len und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 125, Mainz 2008. 19
S.Giuiana Gemelli, The Ford Foundation in Europe, 1950s – 1970s. Brüssel 1998. S.Strachwitz, Die Stif-
tung – ein Paradox (wie Anm.10), 165f. 20
S.Thomas Adam, Stipendienstiftungen und der Zugang zu höherer Bildung in Deutschland von 1800
– 1960. Stuttgart 2008.
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der Stiftungsdebatte der letzten Jahrhunderte, nicht zuletzt Kant 21, haben mit zu engen Stiftungsbegriffen gearbeitet. Daher erscheint es notwendig, im Sinne der Stringenz der Debatte und nicht zuletzt im Hinblick auf die Problematik der Deslegitimierung, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, einige Ausführungen zur Begrifflichkeit zu machen, um sodann die Entwicklung von Theorie und Praxis seit Beginn der Neuzeit nachzuzeichnen.
Zur Definition der Stiftung Den Begriff der Stiftung präzise zu definieren, stößt auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Als Wort des allgemeinen Sprachgebrauchs bezeichnet er auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Prozesse ebenso wie Strukturen; auch eine genauere Befassung mit der Thematik offenbart zunächst sehr verschiedene Phänomene, die unter diesem Begriff subsummiert werden. Kirchliche Stiftungen, in Deutschland mit großem Abstand am häufigsten vorkommend, werden beispielsweise meist theologisch überhöht als Eigentum Gottes gesehen, d.h. als Widmung des Stifters an Gott. Dies ist der antiken Stiftungstradition geschuldet, unterscheidet sich jedoch grundlegend von der säkularen, im 19.Jahrhundert entwickelten Definition einer Stiftung als Institution. Die in der zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts prägende amerikanische Definition stellt hingegen wesentlich auf persönliche Philanthropie und materielles Vermögen ab und ist ebenfalls nicht mehr als eine Entwicklung des späten 19.Jahrhunderts. Die ältere Stiftungstradition des Kulturraums, der das heutige Europa ebenso wie den weiteren Mittelmeerraum umfasst, kennt hingegen multiple Funktionstypen und Ausformungen. Dies führt zu der Schwierigkeit, dass Gebilde in der einen Kultur als Stiftungen bezeichnet werden, die diesen Namen in einer anderen nicht erhalten. Ein typisches Beispiel bilden die nichtstaatlichen Hochschulen in den USA, die dort rechtlich aus dem Stiftungsbegriff herausgelöst sind, während sie nach europäischen Maßstäben wegen ihrer Genese, ihrer governance und ihres materiellen wie ideellen Vermögens durchaus als Stiftungen (oder Stiftungskonglomerate) gelten würden. Andererseits sind die historischen Universitäten Europas fast alle als Stiftungen, meist von Herrschern, gegründet wor21 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. [1798 (2)]. Zit. nach: Immanual Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. IV. Wiesbaden 1956, 303–634.
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den und erst im Zusammenhang mit der Herausbildung des modernen Verfassungsstaates zu öffentlichen Körperschaften geworden. Eine kritiklose Übernahme juristischer Festlegungen oder Begrenzungen würde daher Fehleinschätzungen nach sich ziehen und den Blick auf die soziale Realität der Stiftung in ihrem historischen und politischen Kontext verstellen. Die Definition der Stiftung als eigentümerloses Vermögen mit eigener Rechtspersönlichkeit nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, wie sie von Juristen fast ausschließlich verwendet wird, greift aber auch schon deshalb zu kurz, weil die Mehrheit der heute in Deutschland bestehenden, im Steuerrecht ganz selbstverständlich zu den Stiftungen gerechneten, nicht rechtsfähigen Stiftungen dieser Definition nicht entspricht. Diese weisen nämlich sehr wohl einen – außenstehenden – Eigentümer, eben den Treuhänder, auf. In der angelsächsischen Stiftungstradition sind die meisten Stiftungen als Treuhandvermögen (trusts) dieser Art ausgebildet. Kirchliche Stiftungen werden juristisch meist als kirchliches Sondervermögen aus der im 19.Jahrhundert entwickelten säkularen Definition des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgegrenzt. Islamische Stiftungen (auqāf), die schon wegen ihrer überragenden Bedeutung für die islamische Kultur, aber auch wegen ihrer Genese aus den gleichen spätantiken Wurzeln wie das europäische Stiftungswesen besondere Beachtung verdienen, weisen bis heute einen engen religiösen Bezug auf und sind überwiegend operativ, als Trägerinnen und Betreiberinnen langlebiger Institutionen, tätig. Europäische Stiftungen, Gründungen von Bürgern ebenso wie von Herrschern und Institutionen, kommen, soweit säkular, gleichermaßen als operative wie fördernde Institutionen vor. Turgot im 18. 22 und Hegel im 19.Jahrhundert 23 haben darüber hinaus darauf hingewiesen, dass das Stiften von Staaten und somit auch die Charakterisierung eines Staates als gestiftetes Gebilde von dieser Definition noch gar nicht erfasst wird. Um angesichts dieser Unterschiede einen unvoreingenommenen Blick auf den Kern des Stiftungswesens zu ermöglichen, sei daher zunächst auf die Unterscheidung zu Organisationen assoziativen Charakters, etwa Vereinen, hingewiesen. Während hier die Mitglieder in einem permanenten korporativen Willensbildungsprozess über Wohl und Wehe der Organisation bestimmen, sind alle Stiftungen dadurch definiert, dass sie an den bei der Gründung niedergelegten Willen des Gründers oder
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Vgl. Strachwitz, Die Stiftung – ein Paradox (wie Anm.10), 56
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der Gründer für die Dauer ihres Bestehens gebunden bleiben. Dass zur langfristigen Durchsetzung dieses Willens in der Regel die Bereitstellung der notwendigen materiellen Ressourcen, d.h. insbesondere der zur Verwirklichung des Stifterwillens erforderlichen Vermögenswerte notwendig ist, räumt diesen Vermögenswerten hohe Priorität ein, wobei rentierliche Vermögenswerte, aus deren Ertrag der Stifterwille verwirklicht wird, neben solchen stehen, die unmittelbar dem Stiftungszweck dienen. Dieser hohe Stellenwert des Vermögens dient als Begründung für die schon in der Antike gebräuchliche Beschreibung der Stiftungen als universitates bonorum. Dieses Erfordernis wird freilich in seltenen, dann aber in der Regel spektakulären Ausnahmefällen vom Charisma eines Stifters überlagert. Beispiele sind die ausdrücklich auch theologisch so bezeichneten Religionsstifter Jesus Christus und Mohammed 24, aber auch Ordensstifterinnen wie Mutter Teresa, die den ideellen Gehalt ihres Ordens zweifellos selbst gestiftet, das wie auch immer geartete Stiftungsvermögen hingegen keinesfalls selbst zur Verfügung gestellt hat. Im Lichte dieser Argumentation erscheint es daher notwendig, die boni, d.h. das Vermögen, auch auf immaterielle Vermögenswerte zu beziehen. Von dem so definierten Vermögen leitet sich das Handeln der Stiftung ab. „Die Stiftung unterscheidet sich von anderen Organisations- und Vertragsformen durch Unabänderlichkeit, ferner durch Vorhandensein eines Vermögens, was nicht immer Geld und Gut, sondern auch Fakultät, Potenz, einfach Widmung einer Existenz bedeuten kann.“ 25 Dem ist zuzustimmen; dabei ist die an den Stifterwillen gebundene Entscheidungsfindung in der Stiftung als das primäre Merkmal der Stiftung herauszustellen, das die Stiftung von anderen Sozialkörpern unterscheidet und hinter dem andere Merkmale, etwa materielles Vermögen oder Rechtsformen, zurücktreten. Dieses Merkmal kann kulturübergreifend als primäres definitorisches Merkmal bezeichnet werden. Es trifft auf die Stiftungen der frühen Hochkulturen ebenso zu wie auf die heutigen. Das definitorische Merkmal der Bindung an die Gründung legt einen weiten Stiftungsbegriff fest, den es anzuwenden gilt, soll das Phänomen Stiftung in seiner Fülle beschrieben werden. Daraus folgt, dass Stiftungen auf sehr unterschiedliche Weise den Stifterwillen verwirklichen können. Die Gleichsetzung von Stiftungen mit persönlicher Philanthropie einerseits und materieller Unterstützung von Aktivitäten Dritter andererseits reicht nicht hin. Vielmehr lassen sich systematisch vier unter24 Rassem, Die Stiftung als Modell (wie Anm.9), 188f. 25 Ebd., 184.
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scheidbare, wenn auch im Einzelfall oft additiv vorkommende Funktionen zeigen, die hier kurz benannt, aber nicht im Einzelnen erläutert werden sollen: (1) die Eigentümerfunktion, stark ausgeprägt in den Kirchenstiftungen, aber auch in gestifteten Kunstsammlungen; (2) die operative Funktion, verwirklicht in Trägerstiftungen von Krankenhäusern, Museen oder auch Projekten; (3) die Förderfunktion für benannte oder frei wählbare Einrichtungen und schließlich (4) die mildtätige Funktion, d.h. die Unterstützung von Personen, die der Hilfe zum Lebensunterhalt bedürfen. Daraus wird beispielsweise deutlich, dass zwischen der Gewährung von Stipendien an Studenten und der Förderung der Forschungstätigkeit eines Instituts ein wesentlicher Funktionsunterschied besteht, beides, aber auch weiteres, zur Tätigkeit von Stiftungen gehören kann. Die operative Funktion im Besonderen ist darüber hinaus Beweis dafür, dass Stiftungen keineswegs nur ‚tote‘ Vermögensansammlungen, sondern unbeschadet ihrer Bindung an den Gründungswillen durchaus lebendige, aus Menschen zusammengesetzte Organismen sein können. Schließlich rundet sich durch eine solche Definition auch das Bild im Hinblick auf das Zustandekommen von Staaten. Auch diese können in dem Sinne gestiftet sein, dass ein machtvoller Gründer, regelmäßig kaum ein Vermögensinhaber, sondern ein charismatischer Ideen- und Ordnungsgeber, beansprucht, über seinen Tod hinaus das Konstrukt in seinen wesentlichen Teilen zu bestimmen; sie können andererseits das Ergebnis eines korporativ zustandegekommenen und von vornherein als jederzeit änderbar konzipierten Willens darstellen. Es würde den Rahmen sprengen, dies weiter und differenzierter auszuführen; doch soll dieser Aspekt im Zusammenhang mit der Debatte um die Legitimität überkommener Ordnungen im Allgemeinen wenigstens erwähnt werden. Wie schon Mohammed Rassem herausgearbeitet hat, ist stiftendes Handeln für menschliches Handelns phänotypisch. „Eine unverrückbare Beziehung zu einem Leitbild ist eine ‚Stiftung’. Sie erst ergibt ‚Sitte und Brauch’ statt dieses und jenes Verhaltens, und damit erst die Möglichkeit einer Wissenschaft von dem ‚Gebilde’ dieses Brauchtums. Ohne das Vorhandensein bzw. Erkennen gestifteter Beziehungen kann man nicht von Geschichte sprechen.“ 26 Dies gilt für den Stifter eines staatlichen Gemeinwesens wie den einer anderen Institution gleichermaßen.
26
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Ebd., 193.
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Konzepte der Stiftungsgenese Um die so definierte Stiftung in ihrer Entwicklung nachzuzeichnen, ist ein Blick auf die Genese der einzelnen Stiftung schon deshalb von Interesse, weil die Gründungsbindung notwendigerweise eine besondere Historizität dieser Organisationsform bedingt. Die Entstehung ist, zumindest bei privaten Stiftungsakten, mit mehreren Impulsen verbunden, von denen einige besonders charakteristisch erscheinen: der Impuls zu schenken, der Impuls, in Erinnerung zu bleiben, und der Impuls, der Mitwelt nachhaltig seinen Willen aufzudrücken. Diese Impulse können als anthropologische Grundkonstanten bezeichnet werden, die in jeder Gesellschaft aufscheinen können und, wie neuere Forschung nachgewiesen hat, auch tatsächlich aufscheinen. 27 Da dies selbst in der wissenschaftlichen Debatte gelegentlich vorgetragen wird, ist darauf hinzuweisen, dass die Stiftung keine Erfindung der Moderne darstellt, auch nicht, wie Liermann vermutete, des Christentums. 28 Schon gar nicht lässt sich das Stiftungswesen, wie es gelegentlich geschieht, in einer wohl missverständlichen Rezeption Max Webers ursächlich mit einem nachreformatorischen Ethos in Verbindung bringen. Es ist vielmehr in allen antiken Hochkulturen ebenso nachweisbar wie in allen modernen Kulturen. Schon Gaius Julius Zoilos, ein zu Wohlstand gekommener Freigelassener, hat, um ein gut dokumentiertes Beispiel herauszugreifen, im 1.Jahrhundert v.Chr. in Aphrodisias in Kleinasien „Anstalten“ gestiftet 29 und sich damit in eine lange Tradition des Stiftens gestellt. Plato stiftete seiner Akademie von Todes wegen sein Vermögen, Hannobal Rufus stiftete seiner Vaterstadt Leptis Magna ein Theater. 30 Der 529 n.Chr. entstandene Codex Justinianus bestätigte die rechtliche Grundlage, die sowohl für das westliche Abendland 31 als auch für den östlichen Mittelmeerraum und ab dem 8.Jahrhundert auch für den islamischen Kulturkreis prägend wurde. 32 Kirchenstiftungen sind aus karolingi-
27 S.Helmut K. Anheier/Siobhan Daly (Hrsg.), The Politics of Foundations – A Comparative Analysis. London/New York 2007. 28 Liermann, Handbuch (wie Anm.2), 24. 29 R.R.R. Smith, The Monument of C. Iulius Zoilos. Mainz 1993, 4ff. 30 Rupert Graf Strachwitz, Das Theater in Leptis Magna; in: Maecenata Actuell Nr.52, Juni 2005, 14–16. 31 Thomas Sternberg, Orientalium More Secutus, Räume und Institutionen der Caritas des 5.–7. Jahrhunderts in Gallien. Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 16, Münster 1991, 155ff. 32 Astrid Meier/Johannes Pahlitzsch/Lucian Reinfandt, Einleitung; in dies. (Hrsg.), Islamische Stiftungen zwischen juristischer Norm und sozialer Praxis. Stiftungsgeschichten Bd. 5, Berlin 2009.
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scher Zeit nachweisbar. Die meisten europäischen Universitäten – Bologna und Paris sind die Ausnahmen – entstanden als Stiftungen; seit dem 13.Jahrhundert wurden die Städte zu bedeutenden Stiftungsverwaltungen 33, ein Hinweis auf die besondere Beliebtheit des Stiftens in Oligarchien, Patriziaten oder auch Demokratien, d.h. paradoxerweise gerade dort, wo das Gemeinwesen selbst eher assoziativ verfasst war. In der neueren Sozialforschung setzt sich allmählich die Auffassung durch, dass das Bild des stets nur auf den eigenen Vorteil bedachten homo oeconomicus irrig ist. 34 Vielmehr scheint sich ein komplexes Menschenbild durchzusetzen, in welchem der seine Überzeugungen auslebende, mit seiner Mitwelt kommunizierende, aber eben auch seinen Mitmenschen etwas schenkende homo philanthropicus ebenso seinen Platz hat. 35 Zwar steht gewiss nicht bei allen weltweit erfolgenden Stiftungsgründungen tatsächlich ein Schenkungsakt im Mittelpunkt. Ebensowenig spielt der Memorialgedanke beim Entstehen jeder einzelnen Stiftung die wesentliche Rolle. Schon gar nicht führen diese beiden Ansätze, auch nicht in Kombination, notwendigerweise zum Entstehen einer Stiftung im juristischen Sinn. Dass solches Schenken nicht notwendigerweise altruistisch, d.h. gänzlich ohne Eigeninteressen ist, ist nicht zu bestreiten. 36 Es wird vielmehr häufig mit dem Einwand des Eigeninteresses konfrontiert, das am deutlichsten im Modell des Warm Glow zum Ausdruck kommt. „Warm Glow beschreibt das Gefühl einer persönlichen inneren Befriedigung, das ein Individuum während oder nach dem Akt des Gebens verspürt. Die Gabe ist dementsprechend nicht altruistischer Natur, sie wird vielmehr durch den durchaus egoistischen Wunsch nach dem Konsum eines privaten Gutes, nämlich des Warm Glow, motiviert.“ 37
33
S.Frank Rexroth, Stiftungen und die Frühgeschichte von Policey in spätmittelalterlichen Städten; in:
Michael Borgolte (Hrsg.), Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten. Berlin 2000, 112ff. 34
Frank Adloff, Die Institutionalisierung und Sakralisierung des Gebens: Ein kultursoziologischer Blick
auf das Stiften und Spenden; in: ders./Eckhard Priller/Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.), Prosoziales Verhalten – Spenden in interdisziplinärer Perspektive. Stuttgart 2010, 225ff. 35
S.Stefan Klein, Der Sinn des Gebens – Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egois-
mus nicht weiterkommen. Frankfurt am Main 2010. 36
Vgl. Frank Adloff/Steffen Mau (Hrsg.), Vom Geben und Nehmen – Zur Soziologie der Reziprozität.
Frankfurt am Main 2005. 37
Alexander v. Kotzebue/Berthold U. Wigger, Private Finanzierung kollektiver Aufgaben, theoretische
Grundlagen und empirische Befunde; in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Stiftungen gestern und heute – Entlastung für öffentliche Kassen–(Erlanger Forschungen Reihe A (Geisteswissenschaften) Bd. 110) Erlangen
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„Eine gewisse Ichbezogenheit des Stiftergedankens wird sich immer einschleichen, eine Mischung aus Gemeinschaftssinn und Geltungsgefühl, […] der Wunsch, die eigene Persönlichkeit im Stiftungszweck zu verewigen, sich ein Denkmal in der Nachwelt, ja, wenn möglich, auch in der Gegenwart zu setzen. Das ist legitim, und man könnte zur moralischen Entlastung hinzufügen, dass Stiftungen als Memoria, zur Erinnerung und zum Gedenken, schon immer der kultischen oder der kulturell-öffentlichen Vergegenwärtigung des Stifters dienten und wohl auch heute noch dienen. Positiv ausgedrückt, als Ansporn zu spiritueller oder geistig-intellektueller Regheit, zur Nachahmung und als Vorbild.“ 38
Das dritte, der Stiftung zugrundeliegende konstante Prinzip neben Schenken und Memoria, die erstrebte Nachhaltigkeit des Handelns, tritt zumal dort in den Vordergrund, wo wir institutionelle Stifter sehen. Im Kern besteht der Nachhaltigkeitscharakter einer Stiftung nicht so sehr in der langen Dauer ihrer Existenz, vielmehr geht es vor allem um die Kontinuität des Handelns und, für viele Stifter noch attraktiver, um die Möglichkeit, Ergebnisse und Entscheidungen langfristig zu prägen. Dies wird beispielsweise an den physisch ausgestalteten Stiftungen der Antike sichtbar, die zum Teil heute noch bestehen, indem die von den Stiftern errichteten Gebäude, etwa Theater, bis heute dem damals intendierten Zweck dienen können. 39
Die Kompatibilität von Stiftungen Ebensowenig wie die Motivation selbst kann im Mittelpunkt dieser Untersuchung die Frage stehen, inwieweit diese lobenswert, vertretbar oder verwerflich erscheint. Für das Verhältnis zwischen Stiftungen und Staat sind vielmehr Fragen wie die Zulässigkeit einer Herrschaft der Toten über die Lebenden und des Nutzens eines von individuellen Willensbekundungen geprägten Handelns von zentraler Bedeutung, ebenso die ordnungstheoretische Verträglichkeit individuell definierter Probleme und Lösungen mit einer wie auch immer an anderer Stelle definierten allge-
2006, 23. Vgl. auch James Andreoni, Impure Altruism and Donations to Public Goods, A Theory of Warm Glow Giving. The Economic Journal 100, 1990, 464–477. 38 Susanne Dieterich, Von Wohltäterinnen und Mäzeninnen. Zur Geschichte des Stiftungswesens. Leinfelden-Echterdingen 2007, 210. 39 Sitta von Reden, Glanz der Stadt und Glanz der Bürger – Stiftungen in der Antike; in: GWU 63, 2012, 23.
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meinen Ordnung. Dieser Zugang unterscheidet sich von der Einbettung der Stiftungs- in die Bürgertums- oder Stadtforschung ebenso wie von eher soziologischen Fragestellungen. Vielmehr interessiert hier die Kompatibilität des „totalen sozialen Phänomens“ Stiftung. 40 Unter diesem Aspekt soll die Entwicklung des Stiftungswesens in der Neuzeit skizziert werden. Bis in die Frühe Neuzeit waren das Stiften und die Institution Stiftung in keiner Weise umstritten; im Gegenteil, sie waren anerkannt als selbstverständlicher Teil des Sozialgefüges, als „eine Grundform menschlichen Zusammenlebens.“ 41 Die Ablehnung der Stiftung als Institution durch den Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos im 4.Jahrhundert bildete eine sehr seltene Ausnahme. Zugriffe der weltlichen Herrschaft auf Stiftungen waren ebenfalls selten. Erfolgten sie doch, waren sie von wirtschaftlichen Begehrlichkeiten getragen, nicht von Zweifeln an der Legitimität des Instruments an sich. Im 16.Jahrhundert waren die Stiftungen Jakob Fuggers, die landläufig oft, aber zu Unrecht, als Deutschlands älteste noch bestehende Stiftungen angesehen werden 42, ausdrücklich als katholisches Zeichen in der der Reformation zugewandten Stadt Augsburg begründet worden. 43 Aber wie sich beispielsweise am Beispiel des Stifters Gregorius Mättig (1585–1650) in Bautzen zeigen lässt, war weniger die komplizierte konfessionelle und politische Realität, sondern eher eine traditionelle Wohlfahrtsorientierung eines im weitesten Sinne städtischen Patriziats die Triebfeder des Stiftens. 44 Von keiner Seite wurde auch nach-reformatorisch das Institut der Stiftung zunächst ernsthaft in Frage gestellt. Sowohl der englische Puritanismus als auch der deutsche Pietismus haben dem Stiftungswesen in hohem Maße 40
Michael Borgolte, „Totale Geschichte“ des Mittelalters–Das Beispiel der Stiftungen. (Humboldt Univer-
sität zu Berlin, Öffentliche Vorlesungen Bd. 4) Berlin 1993. 41
Mohammed Rassem, Entwurf einer Stiftungslehre [1952]; in: ders., Stiftung und Leistung (wie Anm.3),
171. 42
In Deutschland noch bestehende säkulare Stiftungen lassen sich jedenfalls bis in das 12.Jahrhundert
zurückverfolgen; kirchliche Stiftungen stammen zum Teil vermutlich aus dem 1. Jahrtausend n.Chr. Die oft als älteste noch bestehende Bürgerspitalstiftung in Wemding (nahe Nördlingen) lässt sich zwar urkundlich erst im 12.Jahrhundert nachweisen; die Behauptung, sie stamme aus dem 10.Jahrhundert ist jedoch nicht unplausibel. S.Jörn Brinkhus, Die älteste bestehende Stiftung Deutschlands. Vorläufige Erkenntnisse zur institutionellen Kontinuität; in: Deutsche Stiftungen, Mitteilungen des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, Nr.1/2003, 121f. 43
Benjamin Scheller, Memoria an der Zeitenwende, Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und
während der Reformation (ca. 1505–1555). Berlin 2004, 283. 44
Stadtmuseum Bautzen/Ophelia Rehor/Dr.-Gregorius-Mättig-Stiftung (Hrsg.), 13. Jahresschrift 2007: Gre-
gorius Mättig. Bautzen 2009.
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Auftrieb gegeben. Die um 1700 in Halle an der Saale gegründeten Franckeschen Stiftungen sind hierfür ein Beispiel. Die in den protestantisch gewordenen Ländern im Zuge der Säkularisierung erfolgte Enteignung kirchlicher Stiftungen war nicht einer Gegnerschaft gegenüber der Stiftung an sich geschuldet. Die Durchsetzung umfassender Souveränität beinhaltete vielmehr auch die Legalisierung der Begehrlichkeit von deren Inhabern auf fremdes Eigentum. Allerdings wurde durch die Verstaatlichung von Kirchengut der Keim gelegt, aus dem später die Gegnerschaft gegen die Stiftungen erwachsen sollte. Es war der sich seit dem 15.Jahrhundert ankündigende moderne Territorialstaat, der zunehmend das Gewalt- und Machtmonopol in seinem Territorium beanspruchte und dadurch das Schicksal der nicht von Inhabern der Macht gegründeten Stiftungen gefährdete. Diese machten die Stiftungen zum Inhalt von Fragen bezüglich ihrer Legitimität. Theologisch jedenfalls lässt sich der beginnende Widerstand gegen die Stiftungen nicht begründen, schon gar nicht unter dem Gesichtspunkt einer reformatorischen Theologie. Mit der Ablösung von personaler durch territoriale Herrschaft als Kern politischer Ordnung und der Herausbildung von Nationalstaaten gewinnt hingegen die Frage des Herrschaftswettbewerbs an Brisanz, wird auch über die Definitionsmacht über das allgemeine Wohl ausgetragen und im 18., spätestens im 19.Jahrhundert zugunsten der Allzuständigkeit der Territorialmacht entschieden. Indem polyarchische Elemente als potentielle Verhinderer unumschränkter Staatsmacht erscheinen mussten, war die Frage nach ihrer Kompatibilität mit der durchzusetzenden politischen Ordnung gestellt. Hierzu bedurfte es freilich eines staatstheoretischen Schritts, der zuerst gegen Ende des 16.Jahrhunderts aus der Erfahrung der konfessionell bedingten Bürgerkriege getan wurde. Das von Jean Bodin erstmals eingeforderte unbedingte Primat der nationalen Staatssouveränität 45 bot die Grundlage dafür, die in der Tat ebenso autonomen wie mächtigen, vielfach kirchlich gebundenen Stiftungen „in die Defensive“ zu drängen. 46
45 Jean Bodin, Les six livres de la république [Paris 1583]; dt. Sechs Bücher über den Staat, hrsg. v. Peter C. Mayer-Tasch, 2 Bde. München 1981–1986. 46 Hans Maier, Notwendigkeit und Luxus – Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Staat und Stifter, in: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.), Stifter und Staat. Essen 2005, 83.
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Die Deslegitimierung der Stiftungen Die Deslegitimierung der Stiftung hat dennoch insofern ihren Ursprung in der Reformation, als die Soteriologie Luthers die Notwendigkeit guter Werke zu Lebzeiten zumindest in Frage stellen konnte. 47 Damit war einer Debatte die Tür geöffnet, die freilich hier noch nicht geführt wurde. 48 Explosiv wurde sie erst zum Ende des 16.Jahrhunderts, als – nicht zuletzt angesichts der Erfahrungen der konfessionellen Bürgerkriege – dem Staat ein bis dahin nicht bekannter Status zugemessen wurde. „Den beiden im europäischen Maßstab wichtigsten Theoretikern auf diesem Gebiet, Bodin und Hobbes, ist gemeinsam, dass sie das Ideal einer uneingeschränkten Souveränität mit der Konstruktion einer direkten, nicht mehr durch Zwischenstufen vermittelten Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten verbanden. [...] Damit begibt sich Bodin in offenen Widerspruch zu den damaligen politischen Gegebenheiten.“ 49 Oder, wie Eric Voegelin es ausdrückt: „Die souveräne Macht als eine Qualität des mystischen Leibes der Nation [ist] immer eine und unteilbar (die spätere Formel der französischen république une et indivisible).“ 50 Bodins Staatsrechtslehre, im Folgenden unterstützt durch Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf, hatte grundlegenden Einfluss auf die Entwicklung des modernen Staates, der innerstaatliche Autoritäts-Wettbewerber nicht duldet. Max Weber charakterisierte diesen Prozeß als „Enteignung der neben [dem Fürsten] stehenden selbständigen ‚privaten’ Träger von Verwaltungsmacht: jener Eigenbesitzer von Verwaltungs- und Kriegsbetriebsmitteln, Finanzbetriebsmitteln und politisch verwendbaren Gütern aller Art“ 51. Es war klar, dass sich diese Enteignung auch auf die Stiftungen zu erstrecken hatte, die in mehrfacher Hinsicht den Ansprüchen des sich entwickelnden modernen Staates nicht entsprachen. Zum einen stellten sie eine Herrschaft der ‚toten Hand‘ (main morte) dar. Die definitorische Bindung an den Willen des Gründers entzog sie weitgehend jedem späteren politischen Deliberations-
47
Diarmaid MacCulloch, Die Reformation. Dt. München 2008, 162–172.
48
Vgl. Jastrow, Blut und Gut (wie Anm.11), 42.
49
Albrecht Koschorke, Großer Staatskörper und kleine Korporationen; in: ders./Susanne Lüdemann/
Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza, Der fiktive Staat – Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt am Main 2007, 106.
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50
Eric Voegelin, Jean Bodin [1941]. München 2003, 23.
51
Max Weber, Politik als Beruf. München/Leipzig 1919, 9.
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prozess. Zum zweiten stellten sie häufig, wenn auch keineswegs immer, bedeutende Vermögensmassen dar, sei es, dass sie auf wertvollem innerstädtischen Grund große, für die Stadt bedeutende Einrichtungen betrieben, sei es, dass sie ihre Einkünfte auf ausgedehnten land- und fortswirtschaftlichen Betrieben bezogen. Zum dritten waren sie fast immer mehr oder weniger eng mit der Kirche verknüpft, der größten Konkurrenz zur staatlichen Autorität überhaupt. Aus der Tatsache, dass beispielsweise in den österreichischen Erblanden im 18.Jahrhundert rund 3/8 des Bodens in kirchlicher, darunter auch Stiftungshand waren 52, lässt sich ersehen, dass, sobald diese Konkurrenz als staatspolitisches Problem verankert war, dies als untragbar erscheinen musste. Erstmals wurde im 18.Jahrhundert durch den Beitrag des Physiokraten Turgot 53 in der „Encyclopédie“ die Frage der Legitimität in und Kompatibilität mit der politischen Ordnung offensiv gestellt und negativ beantwortet. Seitdem gibt es hierüber eine Debatte, die in wechselnden Konstellationen zu unterschiedlichen und oft differenzierten Antworten geführt hat. Turgot, dessen Beitrag in den Worten „Il faut les détruire!“ gipfelte, bestritt die Legitimität der Stiftungen mit sechs Argumenten: 54 (1) Fehlerhaftigkeit der Beurteilung der eventuell zu behebenden Missstände durch den Stifter; (2) unausweichliche Korrumpierung der Stiftungsidee durch Inkompetenz der Stiftungsverwaltung; (3) notwendige Falsifizierung der Stiftungsidee durch spätere Entwicklungen; (4) Unverhältnismäßigkeit des Aufwands im Verhältnis zur Zweckerfüllung; (5) Störung der zwischen dem Staat und seinen Mitgliedern (membres) ablaufenden Kommunikation und Wechselwirkung durch Intermediäre dieser Art; (6) Recht der Regierung, in allen Angelegenheiten des öffentlichen Wohls tätig zu werden, das seine Grenzen an den Rechten der Bürger findet, zu denen private Körperschaften ausdrücklich nicht gehören. Diese sechs Argumente beherrschen bis heute die Diskussion um die Legitimität von Stiftungen im engeren Sinn. Wann immer versucht wurde, die Stiftungen zu
52 Liermann, Handbuch (wie Anm.2), 172 53 Anne Robert Jacques Turgot, Fondation; in: Denis Diderot/Jean Baptiste Le Rond d’Alembert (Hrsg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts, et des métiers, 28 Bde., 1751–1772; zitiert nach: Oeuvres de Turgot, nouvelle édition, hrsg. v. Eugène Daire und Hippolyte Dussard. Paris 1844, 299–309. 54 Strachwitz, Die Stiftung – ein Paradox (wie Anm.10), 54ff.
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deslegitimieren, wurden diese Argumente, angereichert durch den Widerstand gegen die Herrschaft der ‚toten Hand’ verwendet. 55 Während die ersten drei vielfach als Argumente für assoziative und sich dadurch beständig erneuernde Ordnungen im Allgemeinen, das sechste als Generallegitimierung des modernen Wohlfahrtsstaates dienten, musste das fünfte als spezifisches Argument für die Beseitigung des Rechtsstatus jedweder Korporation in der französischen Verfassung von 1791 herhalten. Stiftungen waren damit ausdrücklich nicht ein Sonderthema, das sich nur aus der privaten Philanthropie heraus erklären ließe, sondern Teil größerer ordnungspolitischer Zusammenhänge und damit auch der Debatten hierüber. Diese profitierten naturgemäß von der überaus breiten Rezeption der „Enyclopédie“ 56 und der Prominenz des Autors. 57 Allerdings haftet ihnen eine eher mangelhafte Stringenz an. Beispielsweise behauptet Turgot im ersten Argument, manche Missstände würden überhaupt erst dadurch erzeugt, dass jemand sie beseitigen wolle. Der Kommentator der Werksausgabe von 1844, Eugène Daire, führt als Beleg dafür die Findelkinder an, die es gar nicht gegeben habe, bevor sich Stiftungen darum kümmerten. Dem steht die auf jahrelangen Studien von Thomas Coram beruhende Gründung des Foundling Hospital in London entgegen, die eindeutig die Existenz dieses sozialen Problems in den Städten des 18.Jahrhunderts und die Stiftungsgründung als Reaktion darauf belegen. 58 Im Grunde ging es Turgot offenkundig um etwas anderes. In der Tradition der im 18.Jahrhundert verfestigten Staatsrechtslehre war es ihm zum Teil um den möglichen Wettbewerb zur staatlichen Autorität zu tun. Sein Kontakt mit dem Führer der physiokratischen Schule, Francois Quesnay, hatte aber auch ihn zum Physiokraten
55
Vgl. Jastrow, Blut und Gut (wie Anm.11).
56
Die Encyclopédie findet sich beispielsweise ebenso in den Bibliotheken König Friedrichs II. von Preu-
ßen wie in der Klosterbibliothek von Polling in Bayern, wo das Titelblatt zum Sujet des Deckenfreskos des Bibliothekssaales gemacht wurde. Zur Verbreitung einschließlich der Nachdrucke s. Robert Darnton, Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn– [1979]. Dt. Frankfurt am Main 1998, 15, 202. 57
Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781) schlug ursprünglich die kirchliche Laufbahn ein, brach die-
se aber 1750 zugunsten der Ökonomie ab und wurde hoher Staatsbeamter. Er stand mit den sogenannten philosophes, den französischen Aufkläreren in engem Kontakt, die seine Berufung zum Minister bejubelten. Von 1774–1776 war er Generalkontrolleur der Finanzen (Finanzminister) und versuchte durchgreifende Reformen zur Sanierung der Staatsfinanzen durchzusetzen. Sein Sturz vereitelte diese Bemühungen. 58
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Vgl. Gillian Wagner, Thomas Coram, Gent. Woodbridge 2004.
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gemacht und ließ ihn an den Boden als die wichtigste Grundlage einer staatlichen Ordnung glauben. „Die Physiokraten, Exponenten eines nun auch politisch räsonierenden Publikums, behaupten bekanntlich als erste die Eigengesetzlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber Maßnahmen des Staates; im Hinblick auf das absolutistische Regiment jedoch verhalten sie sich apologetisch. Ihre Lehre gleicht, nach einem Wort von Karl Marx, der bürgerlichen Reproduktion des Feudalsystems.“ 59 Nach physiokratischer Lehre war die Besteuerung möglichst ausschließlich auf eine Landsteuer abzustellen; dies aber konnte nur aufgehen, wenn nicht große Teile des Landes von Steuern befreit waren. Im Kern waren also nicht-staatliche Einrichtungen durchaus legitim. „Ich bin fest überzeugt“, schrieb beispielsweise der deutsche Physiokrat Jakob (v.) Mauvillon, „dass wenn man das Erziehungsgeschäft der eigenen Industrie überließe; wenn man weder Professoren noch Rektoren noch Konrektoren, weder öffentliche Schulen noch Universitäten hätte; wenn der Staat das Geld, das er dafür ausgibt, in die Hände der Privatpersonen ließe, um die Lehrer der Kinder nach Verdienst und nach der Konkurrenz zu belohnen, so würde dieses Geschäft einen ganz anderen und viel vortrefflicheren Schwung bekommen.“ 60 Aus dieser Grundhaltung ließ sich Besteuerung des Grundbesitzes von Stiftungen schlüssiger erklären als die tatsächlich erhobene und später durchgesetzte Forderung nach deren Beseitigung. Um was ging es also letztlich in der französischen Debatte um Legitimität, die dazu führte, dass in Frankreich 1791 den Stiftungen der rechtliche Boden entzogen und erst 1983 (!) in vollem Umfang wiederhergestellt wurde? Geht es um das theoretische Konstrukt des Gemeinwesens, um die in der 1. Französischen Republik prominent vorgetragene Frage, ob außer der durch die Regierung vertretenen Nation weitere Zentren der Macht legitim sein können, ob sich zwischen den Bürgern und den Staat Intermediäre schieben können, ob die Bürger anderen Zusammenschlüssen als dem Staat Loyalität schulden können? Oder geht es letztlich um die Verschleierung wirtschaftlicher Begehrlichkeit durch Argumente, die darauf angelegt
59 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit [1962]. Frankfurt am Main 1997, 168. 60 Jakob Mauvillon, Physiokratische Briefe an den Herrn Professor Dohm. Oder Verteidigung und Erläuterungen der wahren staatswirtschaftlichen Gesetze, die unter dem Namen des physiokratischen Systems bekannt sind [1780]. Königstein/Taunus 1979, 17. Brief, 265.
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sind, die Opfer dieser Begehrlichkeit in die Defensive zu drängen, sie zu verunsichern und als vorgeblich illegitim an den Pranger zu stellen? Turgots Argumente, die an den gesunden Menschenverstand, an „das gesunde Volksempfinden“ appellieren, scheinen Letzteres nahezulegen. Sie stehen in der Tradition des schottischen Aufklärers Thomas Reid, der mit seiner Philosophie des gesunden Menschenverstandes (philosophy of common sense) eine intellektuelle Demokratisierung ausgelöst hatte. 61 Der Mann auf der Straße, so argumentierte Reid, könne so sicher urteilen wie der Philosoph. Allerdings konnte er schnell zum Opfer der Propaganda werden. Und Propaganda war es, mit der Turgot die Stiftungen zu delegitimieren trachtete. Für keines seiner Argumente trat er einen Beweis an. Er benutzte vielmehr gängige Vorurteile und leicht nachvollziehbare Ansichten, um seinem Ziel die notwendige Durchschlagskraft zu verleihen. Dieses allerdings war nicht von der Hand zu weisen. In ihrer Gesamtheit bildeten die Stiftungen ein Gegengewicht zur staatlichen Autorität, das Macht- und Gestaltungsmonopol des Staates konnte durch die Existenz reicher Stiftungen beeinträchtigt sein. Einer unbeschränkten Machtausübung waren die Stiftungen im Wege. Insbesondere die Definitionshoheit über die Akzeptabilität der Stiftungen wird seitdem problematisiert. „Bei Veränderungen des Zielsystems der Gesellschaft können die ideellen Ziele einer Stiftung möglicherweise irgendwann einmal nicht mehr mit den Gemeinwohlzielen […] der Gesellschaft übereinstimmen.“ 62 Deshalb hat das französische republikanische Staatsmodell des ausgehenden 18.Jahrhunderts ausdrücklich Organisationen dieser Art für nicht kompatibel erachtet.
Die Lösung des Dilemmas Der moderne deutsche Verfassungsstaat des frühen 19.Jahrhunderts wollte so weit nicht gehen, hat aber auf die Unterwerfung der Stiftungen unter die Regelungskompetenz des Staates Wert gelegt, so wie es Kant, der die „Encyclopédie“ kannte, formuliert hatte: „der Staat muss die Freiheit haben, sie [die Stiftungen] nach dem Be-
61
Arthur Herman, The Scottish Enlightenment, The Scots’ Invention of the Modern World. London 2001,
251. 62
Clemens Dölken, Sub specie aeternitatis… Der Ewigkeitscharakter der Stiftungen; in: Ingo Sänger u.a.
(Hrsg.), Gründen und Stiften. Fschr. Olaf Werner. Baden-Baden 2009, 367.
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dürfnisse der Zeit einzurichten.“ 63 In der 1797 erschienenen Erstauflage der „Metaphysik der Sitten“ findet sich nur ein einziger Verweis auf Stiftungen: „Dem Oberbefehlshaber steht indirekt, d.i. als Übernehmer der Pflicht des Volks, das Recht zu, dieses mit Abgaben zu seiner (des Volks) eigenen Erhaltung zu belasten, als da sind: das Armenwesen, die Findelhäuser und das Kirchenwesen, sonst milde, oder fromme Stiftungen genannt.“ 64 Ein zeitgenössischer, anonym gebliebener Rezensent 65 hat daran Anstoß genommen, denn Kant fühlte sich bemüßigt, der zweiten, „mit einem Anhange erläuternder Bemerkungen und Zusätze vermehrte(n) Auflage“ 1798 weitere Ausführungen hinzuzufügen. 66 Die recht unsystematische und kursorische Abhandlung kann als Anhaltspunkt dafür dienen, dass Kant dem Gegenstand der Stiftungen eher marginale Bedeutung zugemessen hat. Eine genauere Prüfung der Frage, um was es sich dabei eigentlich handle, hat er nicht vorgenommen, sondern vielmehr relativ willkürlich einen von mehreren Stiftungstypen herausgegriffen, um ihn für ein ganz anders gelagertes Argument zu gebrauchen. Kant hat hier seine Vorstellung von einem Herrschaftssystem ausführlich entwickelt, ein System, das weniger vom Ursprung und Wesen gerechter Herrschaft, sondern von dem Leitgedanken einer einheitlichen Herrschaft geprägt ist. „Da der Boden die oberste Bedingung ist, unter der allein es möglich ist, äußere Sachen als das Seine zu haben, […] so wird von dem Souverän als Landesherren […] alles solche Recht abgeleitet werden müssen.“ 67 „Er besitzt alles; weil er das Befehlshaberrecht über das Volk hat (jedem das Seine zu Teil kommen zu lassen), dem alle äußere Sachen […] zugehören. Hieraus folgt: dass es auch keine Korporation im Staat, keinen Stand und Orden, geben könne, der als Eigentümer den Boden zur alleinigen Benutzung den folgenden Generationen (ins Unendliche) nach gewissen Statuten überliefern könne. Der Staat kann sie zu aller Zeit aufheben.“ 68
63 Kant, Werke (wie Anm.21), 492. 64 Kant, Werke (wie Anm.21), 446 65 „Die Veranlassung zu denselben (erläuternden Bemerkungen) nehme ich größtenteils von der Rezension dieses Buchs in den Götting. Anz. 28stes Stück, den 18ten Februar 1797“ (Kant, Werke (wie Anm.21), 480. Hier findet sich freilich kein Verweis auf diesen Abschnitt; Kant muß die spezifische Kritik hierzu woanders erfahren haben. 66 In der Originalausgabe der 2.Auflage (1798) S.178–187, zitiert nach Kant, Werke (wie Anm.21), 492– 499. 67 Kant, Werke (wie Anm.21), 443. 68 Ebd.444.
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Jetzt wird deutlich, was Kant mit seiner geradezu schnoddrigen Bemerkung über die Stiftungen im Urtext meint. 69 Er bezieht sich auf die tatsächlich in größerer Zahl vorhandenen selbständigen, überwiegend kirchlich geprägten Anstaltsstiftungen, die oft über bedeutenden Grundbesitz verfügen und die in der Tat anderen Einrichtungen vergleichbar sind. Sie alle widersprechen seiner Idee von unbeschränkter Herrschaft, die sich in allererster Linie in der Verfügungsgewalt über den Grund und Boden manifestiert. Dass er damit nur einen Teil der Stiftungen erfasst, ist ihm an dieser Stelle nicht wichtig. Ihm geht es um Beispiele dafür, wo ältere – polykratische – Traditionen der Verwirklichung seines im Wortsinn strikt monokratischen Herrschaftssystems im Wege stehen könnten. Dabei ist die Frage, ob dieses System von einem Monarchen im traditionellen Sinn geführt wird, von untergeordneter Bedeutung. Der zeitgenössische Rezensent hat Kant veranlasst, ausführlicher darauf einzugehen, nicht aber, seinen Standpunkt zu verändern oder sich mit dem Stiftungswesen intensiver zu beschäftigen, dabei etwa die Tradition der von Städten, Kirchen oder Universitäten verwalteten sog. Hauptgeld-, das heißt Förderstiftungen in den Blick zu nehmen, neue Entwicklungen wie die selbständige Senckenbergische Stiftung in Frankfurt am Main zu untersuchen oder auch die Behandlung der Stiftungen im einige Jahre zuvor in Kraft getretenen „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten“ zu prüfen. Selbst die republikanische französische Verfassung findet keine Beachtung. 70 Sein Bild der Stiftung als autonome, mit Grundbesitz ausgestattete, vermögende Anstalt bestimmt auch in den ausführlichen „Erläuternden Bemerkungen“ seine Position. Sie bleibt ihm fremd: „[…] der, welcher gutmütiger- aber doch zugleich etwas ehrbegieriger Weise eine Stiftung macht, will, dass sie nicht ein anderer nach seinen Begriffen umändere, sondern Er [sic] darin unsterblich sei. Das ändert aber nicht die Beschaffenheit der Sache selbst und das Recht des Staats, ja die Pflicht desselben zum Umändern einer jeden Stiftung, wenn sie der Erhaltung und dem
69
Ebd.446.
70
Ausweislich seiner Ausführungen zu Stellung und Natur des ‚Oberbefehlshabers’ hat sich Kant im un-
mittelbaren Zusammenhang des hier behandelten Abschnitts sehr wohl mit den Entwicklungen in Frankreich auseinandergesetzt. Jedoch ist ihm nicht die Verhinderung von Intermediären, sondern deren Kontrolle das zentrale Anliegen; Kant, Werke (wie Anm.21), 440ff., insbesondere die Anmerkung (von Kants Hand).
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Fortschreiben desselben zum Besseren entgegen ist, kann daher niemals als auf ewig begründet betrachtet werden.“ 71
Das einschlägige Kapitel der Bemerkungen eröffnet Kant mit einem Definitionsversuch: „Stiftung (sanctio testamentaria beneficii perpetua) ist die freiwillige, durch den Staat bestätigte, für gewisse aufeinander folgende Glieder desselben bis zu ihrem gänzlichen Aussterben errichtete wohltätige Anstalt.“ 72 In zweifacher Weise kommt hier Kants Vorverständnis zum Ausdruck: Zum einen bindet er die Existenz einer Stiftung an eine staatliche Bestätigung, ein Grundsatz, der sich erst Generationen später, und auch dann nur in allerdings wesentlichen Teilen durchsetzen wird, zum anderen bindet er sie, was ihre Zeitlichkeit betrifft, nicht etwa an die konkrete Not oder das Anliegen, sondern an die Zeit bis zum Aussterben der Glieder dieses Staates, das heißt an das Bestehen des „ursprünglichen Kontrakt(s)“ 73. Solche Stiftungen sind für Kant „die Hospitäler,[…] die Kirchen,[…] die Orden,[…] die Majorate“ 74, die in der Tat nach allgemeinem Verständnis alle auf Stiftungsakte zurückzuführen sind. Aber nach wie vor dienen ihm die so – und wie die Einlassungen des Rezensenten 75 zeigen, nicht unwidersprochen – definierten Stiftungen in erster Linie dazu, beispielhaft die Herrschaft der Obrigkeit über alles, was sich im Staate bewegt, darzustellen. „Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist) unter einem souveränen (alle durch Ein [sic] Gesetz vereinigenden) Willen, ist Tat, die nur durch Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann, und so zuerst ein öffentliches Recht begründet. – Gegen diese Machtvollkommenheit noch einen Widerstand zu erlauben (der jene oberste Gewalt einschränkete [sic]), heißt sich selbst widersprechen […]“. 76
Zwar geht Kant in seiner Schlussfolgerung nicht so weit wie Turgot – dessen kategorischem Vernichtungsappell steht hier lediglich das Recht staatlicher Einflussnahme gegenüber –, doch tritt hier viel deutlicher die staatstheoretische Argumentation in den Vordergrund. Auch wenn Kant sich ebenso wie Turgot letztlich mit
71 Ebd.495. 72 Ebd.492. 73 Ebd.434. 74 Ebd.492. 75 Vgl. die ausgesprochen giftigen Bemerkungen gegen den Rezensenten im mit ‚Beschluss’ überschriebenen letzten Abschnitt der Bemerkungen, 496f. 76 Ebd.498.
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dem Thema des Bodens als entscheidender Voraussetzung für die Ausübung der Macht auseinandersetzt, beherrscht bei ihm doch die normative Komponente die Argumentation, während Turgots Argument letztlich eben doch das Recht auf Enteignung in staatstheoretische Propaganda einhüllt. Diese Art des Verhältnisses zwischen Staat und Stiftung hat sich im Verlauf des 19.Jahrhunderts als maßgeblich durchgesetzt und ist es im 20.Jahrhundert geblieben. Sie spiegelt den von Kant überaus deutlich postulierten Interventionsstaat wider. Die Stiftung in der Behandlung, die ihr hier widerfährt, wird als Paradigma für eine spezifisch deutsche Form des korporatistischen Etatismus in seinen Wurzeln erkennbar. Daran knüpfte auch Carl Friedrich von Savigny an, der die Grundlagen des heute gültigen Rechts der Stiftungen legte. Allerdings ging es ihm nicht darum, das Institut der Stiftung mit Legitimität auszustatten oder ihm diese zu nehmen. Vielmehr lotete er Möglichkeiten aus, die sich aus dem Stiftungskonstrukt inhärent ergebenden Nachteile für das Gewaltmonopol des entstehenden modernen Verfassungsstaates durch rechtliche Maßnahmen einzudämmen. Erste, bereits vorhandene Ansätze staatlicher Regulierung von Stiftungsakten, wie sie bereits im 18.Jahrhundert auftauchen, übernahm er und bildete daraus das Modell der eigentümerlosen, staatlicher Rechtsaufsicht unterworfenen Stiftung, die im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 ihre bis heute gültige Ausformung erfuhr. Gerade die ausdrückliche Trennung der Stiftung von Stiftern oder anderen Institutionen oder Personen, die wie immer geartete Rechte an der Stiftung geltend machen könnten, überließ sie der staatlichen Regulierung und einer weit über eine reine Rechtsaufsicht hinausgehenden Einwirkung staatlicher Behörden. Die Erlebnisse eines Ernst Abbe, der mit der Gründung der Carl-Zeiss-Stiftung nichts anderes wollte, als seine Universität Jena zu fördern, sind ein beredtes Beispiel dafür. 77 Dennoch erlebten die Stiftungen im 19. und ganz frühen 20.Jahrhundert besonders in Deutschland einen ungeheuren Aufschwung. Beispielsweise nahm das Stiftungsvermögen in Bayern zwischen 1888 und 1907 von 422 Millionen Mark auf 611,5 Millionen Mark, das heißt um 44,9% zu. 78 Es wäre aber verfehlt zu glauben,
77
Rupert Graf Strachwitz, Ernst Abbe; in: Joachim Fest (Hrsg.), Die großen Stifter. Berlin 1997, 135–159,
insbesondere 149f. 78
Jastrow, Blut und Gut (wie Anm.11), 41. Bayern gehörte zu den wenigen Ländern, die vor 1914 versuch-
ten, die Stiftungen statistisch zu erfassen.
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dass dies einer grundlegenden Relegitimierung geschuldet wäre. Hegel 79, aber auch Savigny 80 propagierten eine theoretische Skepsis; der erste große Stiftungsakt des 19.Jahrhunderts, die Städelsche Gründung von Todes wegen, bedurfte mehr als eines Jahrzehnts, zahlreicher Gutachten und eines Gerichtsentscheids, um wirksam werden zu können. 81 Letztlich etablierten sich die Stiftungen in einem Spannungsfeld, in dem restaurative Grundhaltung („das monarchische Prinzip“), anti-französische Ressentiments, sich ständig verstärkende Staatsaufsicht und der Aufstieg des Bürgertums, auch des jüdischen, in vielfach assimilatorischer und in jedem Fall staatstreuer Grundhaltung die Eckpunkte abgaben. Es war eine Form von historischem Kompromiss, die den Stiftungen, aber auch etwa den kirchlichen Wohlfahrtseinrichtungen eine Existenzmöglichkeit sicherte. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie als Stütze des Althergebrachten im Herbst 1918, dem nun deutlich hervortretenden Wohlfahrtsstaat, freilich auch dem drastischen Rückgang der Vermögen in privater Hand waren wichtige Teile aus diesem komplexen Rahmen herausgebrochen. Die Ausgrenzung der jüdischen Bürgerschaft nach 1933 kam hinzu. Erst nach 1945 schuf der Blick über den Atlantik allmählich ein Bewusstsein dafür, dass Stiftungen auch in einer modernen Demokratie eine Existenzberechtigung haben könnten. Die Zunahme des Vermögens in privater Hand und die für die Bundesrepublik prägende Ambivalenz zwichen Restauration und Reform taten ein übriges, um dem Handlungsinstrument Stiftung nach und nach größere Bedeutung zukommen zu lassen. Von den 1940er bis in die 2000er Jahre wurden in jedem Jahrzehnt in jedem Jahr soviele Stiftungen neu gegründet wie im gesamten Jahrzehnt zuvor. 82 Seit dem Ende des 20.Jahrhunderts ist der Blick auf Schwachstellen des Staates und des Marktes schärfer geworden. Bürgerschaftliches Engagement als originäre gesellschaftliche Kraft und Legitimationsbasis gewinnt zunehmend an Bedeutung und Aufmerksamkeit. Die einst von Hegel definierte Hierarchie der gesellschaftlichen Sphären – Staat und bürgerliche Gesellschaft – ist durch ein Konzept von drei
79 Strachwitz, Die Stiftung – Ein Paradox (wie Anm.10), 87–100. 80 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 8 Bde. [Berlin 1840–1848]. Aalen 1981. 81 Hans-Joachim Ziemke, Das Städelsche Kunstinstitut – Die Geschichte einer Stiftung. Frankfurt am Main 1980. 82 Rainer Sprengel, Stiftungen in der Gesellschaft aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Statistik; in: Rupert Graf Strachwitz/Florian Mercker (Hrsg.), Stiftungen in Theorie, Recht und Praxis – Handbuch für ein modernes Stiftungswesen. Berlin 2005, 108.
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Arenen gesellschaftlicher Aktion ersetzt worden, die sich vom Menschen aus entfalten und durch Attribute und Handlungslogiken ebenso wie durch Funktionen bestimmt sind. 83 So verbindet sich der moderne Staat mit territorialen Begrenzungen, Hierarchie, Zwang und Gewaltmonopol, die Wirtschaft mit Märkten und Tausch ohne territoriale Begrenzungen, die Zivilgesellschaft mit Themen, Kommunikation und Geschenk, ebenfalls ohne territoriale Begrenzungen, wenngleich mehrheitlich lokal verhaftet, vor allem aber mit einer Pluralität der Organisationen und Netzwerke. 84 Empirische Untersuchungen, die berühmteste von Robert Putnam, haben gezeigt, dass eine Gesellschaft und damit auch öffentliche Verwaltung und Wirtschaft wesentlich funktionstüchtiger sind, wenn sie von einem Geflecht informeller Netzwerke – einer starken Zivilgesellschaft – getragen werden. 85 Elinor Ostrom hebt noch einen anderen Aspekt hervor: „Alles, was die Vielfalt fördert, schafft Sozialkapital und dient so der Gesellschaft. Zentrale Regelsysteme und Einheitslösungen sind nie hilfreich. […] Die Vielfalt der gesellschaftlichen Optionen ist von überragender Bedeutung. Nur da gibt es ein Bench Marking, nur da gibt es Konkurrenz.“ 86
Argumente der Legitimierung Anders als oft behauptet, fußt die moderne Gesellschaft zwar primär, aber eben nicht ausschließlich auf dem Demokratieprinzip. Hinzu treten die Prinzipien der Herrschaft des Rechts, der Menschen- und Bürgerrechte sowie der kulturellen Traditionen. Die historische Kontinuität, verbunden mit dem mit assoziativen Organisationen geteilten Schenkungsprinzip ist insofern möglicherweise ein Indiz für die Legitimität des Stiftens. Das allein genügt jedoch schon deshalb nicht, weil das Schenken von Zeit, von dem Stiftungen nur wenig profitieren, insgesamt eine weit größere 83
S.Rupert Graf Strachwitz, Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung; in: Elke Becker/ Enrico Gualini/
Carolin Runkel/ders. (Hrsg.), Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement. Stuttgart 2010, 279ff. 84
Vgl. Francois Perroux, Zwang, Tausch, Geschenk. Zur Kritik der Händlergesellschaft. Dt. Stuttgart 1961.
85
Vgl. etwa Robert Putnam, Soziales Kapital in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA; in: En-
quete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements (Hrsg.), Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft. Opladen 2002, 257ff.; auch Robert Putnam, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton 1994; Robert Putnam (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gütersloh 2001. 86
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Elinor Ostrom im Gespräch mit Karen Horn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.Mai 2007, 17.
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Bedeutung besitzt, von anderen Ausdrucksformen, dem Schenken von Empathie, Kreativität oder Reputation, ganz zu schweigen. Das Geschenk macht die Stiftungen jedoch zu einem Teil der Zivilgesellschaft, da ja dieses Merkmal das Paradigma der drei Arenen mitbegründet. Insofern finden sie hier ihre Legitimität oder gar nicht. Eine Zuordnung der Stiftung kann auch deswegen nur zur Arena der Zivilgesellschaft erfolgen, weil ihr – von den öffentlich-rechtlichen, der Hoheitsverwaltung des Staates zugehörigen Stiftungen einerseits und den in einer Hybridzone zum Markt operierenden Anstaltsträgerstiftungen andererseits einmal abgesehen – die Attribute von Markt und Staat prinzipiell fehlen. Orientieren sich aber Entscheidungen in assoziativen Organisationen an dem Willen der zur Zeit der Entscheidungsnotwendigkeit vorhandenen Mitglieder, die diesbezüglich prinzipiell frei sind, hat die Entscheidungsfindung in der Stiftung wesentlich auf den bei Gründung formulierten bzw. auf den vermuteten Willen der Stifter zu rekurrieren. Daraus ergibt sich die Frage nach der Kompatibilität mit einer allgemeinen politischen Ordnung. Ist diese wesentlich assoziativ und demokratisch verfasst, entsteht ein Konflikt zwischen zwei konträren Ordnungsprinzipien. Das französische republikanische Staatsmodell des ausgehenden 18.Jahrhunderts erachtete ausdrücklich intermediäre Institutionen gleich welcher Art, die das Urverhältnis zwischen Bürger und Staat beeinträchtigen könnten, für nicht kompatibel. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist dagegen die Vereinigungsfreiheit als Grundrecht definiert (Art.9); ein Grundrecht zu stiften, kennt das Grundgesetz jedoch aus guten Gründen nicht. Eine Stiftung ist in sich nicht demokratisch verfasst; das Bindungsprinzip steht dem entgegen. Allerdings kennt die Verfassungsrechtslehre den Unterschied zwischen forma externa und forma interna. 87 Verfassungskompatibilität gründet sich demnach auf Gesetzestreue, nicht auf die prinzipielle Kompatibilität der inneren Ordnung. Übertragen auf die Zivilgesellschaft ist also die Anerkennung allgemeiner, die übrigen Akteure tangierender Grundsätze, etwa der Gewaltlosigkeit und der Anerkennung der Pluralität, zwingend zu verlangen; auf einheitliche Grundsätze hinsichtlich der inneren Ordnung der einzelnen Akteure, etwa eine demokratisch verfasste Struktur, ist jedoch zu verzichten. Die Akzeptanz dieser Unterscheidung ist für die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit Stiftungen legitimer Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements sind, wie ihre Verteidiger stets behaupten, oder 87 Juliane Kokott, Kommentar zu Art.4 GG; in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. München 1996, 249–275.
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doch eher einen der Verfügbarkeit der Gemeinschaft entzogenen privaten Zeitvertreib wohlhabender Bürgerinnen und Bürger darstellen, wie ihre Kritiker argumentieren, entscheidend. Als weiteres Indiz mag die Nachhaltigkeit dienen. Stiftungshandeln unterliegt einer inhärenten Nachhaltigkeitsoption, die mit oft kurzatmigem Handeln von Staat, Wirtschaft und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren kontrastiert. Allerdings gerät diese nicht selten mit dem selbst auferlegten Innovationsziel in Konflikt. Nachhaltigkeit ist auch kein Wert an sich; vielmehr „hängt die Beurteilung der Nachhaltigkeit davon ab, ob das Zielsystem der Gesellschaft im Hinblick auf die Ziele der Stiftung konstant bzw. einschließlich des ökonomischen und politischen Umfeldes hinreichend stabil bleibt“. 88 Die lange Zeit beargwöhnte Herrschaft der ‚toten Hand‘ ist dennoch als politisches Ordnungsproblem aus dem Bewusstsein verschwunden und hat dem der Kurzfristigkeit politischen Handelns zulasten künftiger Generationen Platz gemacht. Eine ‚tote Hand‘, die positiv auf die Nachgeborenenen wirkt, wird insofern geradezu herbeigesehnt. Soweit dies in anderen Kontexten verträglich ist, können daher Organisationen, die in der Lage sind, langfristig zu denken und zu agieren, Wertvolles beitragen. Es überrascht nicht, dass in politischen Umbruchszeiten Stiftungen in besonders großer Zahl entstehen, auch wenn die volatilen Rahmenbedingungen das Überleben nicht unbedingt garantieren können. Das Geschenk erhält in der Stiftung einen investiven und nachhaltigen Charakter, der die Furcht der Träger hoheitlicher Gewalt vor einem Machtverlust allmählich zu überlagern scheint. Daher ist die Legitimität von Stiftungen in der Gesellschaft des 21.Jahrhunderts nicht grundsätzlich zu bestreiten, andererseits jedoch noch nicht abschließend zu begründen. Ein breiterer Fächer von Begründungsansätzen versucht dies zu tun: (1) Privates Engagement, so wird argumentiert, übernimmt Verantwortung für ursprünglich staatliche Zuständigkeiten. Hintergrund ist das wachsende Missverhältnis zwischen öffentlichen Aufgaben und Steueraufkommen. Eigenverantwortung der Bürger soll daher die Leistungskürzungen u.a. durch Stiftungen auffangen. Dieses Argument hat den politischen Akteuren bei der Setzung von privilegierenden Rahmenbedingungen die Feder geführt, wird aber einerseits wegen der zu geringen Effekte, andererseits aber auch mit dem Argument bestritten, es sei gerade nicht
88
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Clemens Dölken, Sub specie aeternitatis…, 367.
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Aufgabe der Zivilgesellschaft, den Staat von der Erbringung der ihm zugewiesenen Aufgaben zu entlasten. (2) Stiftungsarbeit gewinnt, so etwa Parag Khanna, eine Berechtigung aus gesellschaftlichen Heterogenitäten, die infolge der Globalisierung und Individualisierung zunehmen. Staatliches und Stiftungshandeln ergänzen und stimulieren einander. 89 Je höher die gesellschaftliche Heterogenität, gemessen beispielsweise an der Einkommensverteilung oder der ethnischen, sprachlichen oder religiösen Zugehörigkeit, desto weniger kann der Staat den unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden. Dass Stiftungen diesem Defizit entgegenwirken, ist nicht zu bestreiten. Durch die Vielfalt der Stiftungen wird eine Vielfalt an Kulturen, Ideen und Idealen gefördert. Diese wird als Grundlage einer liberalen Gesellschaft gesehen, in der es keine alleinigen Antworten oder universellen Wahrheiten gibt und eine Definitions- und/oder Gestaltungshoheit des Staates zunehmend problematisiert wird. Der Ausdruck dieser Vielfalt ist eine grundlegende Bedingung individualisierter und funktionell unterteilter Gesellschaften. Bedarf es dazu, so lässt sich freilich fragen, der Stiftungen? Garantieren die Vereine nicht viel eher die Pluralität eines Gemeinwesens? (3) Stiftungen sind Garanten einer bruchlosen Entwicklung gesellschaftlicher Werte. Damit können sie freilich auch zum Erhalt überkommener sozialer Machtstrukturen, der Reproduktion von Eliten und damit von sozialen Ungleichheiten beitragen. Angesichts der im Vergleich zu staatlichen Ausgaben geringen finanziellen Mittel wird der gesellschaftliche Beitrag nicht im quantitativen (finanziellen), sondern im qualitativen Bereich gesehen. Gesellschaftliche Ressourcen werden von Reichen zu Armen umverteilt, und zwar anders als in staatlichen Mechanismen. Stiftungen dienen damit dem sozialen Frieden. Angesichts der Förderziele (Universitäten, Museen, Opernhäuser, Umweltbelange etc.) wird dies jedoch bezweifelt. Von Stiftungsausgaben profitieren alle gesellschaftlichen Schichten zumindest gleichermaßen, die gebende Schicht sogar überproportional. Zu den herausragenden Aufgaben von Stiftungen zählt auch ihre Möglichkeit, sich Themen nachhaltig zuzuwenden, für die es in demokratischen Strukturen keine Mehrheit gibt. Dies ist unter dem Gesichtspunkt von Pluralität und Minderheitenschutz zu begrüßen, findet allerdings im weitgesteckten Rahmen der Verfassungs- und Gesetzestreue seine 89 Parag Khanna, Wie man die Welt regiert. Eine neue Diplomatie in Zeiten der Verunsicherung. Berlin 2011, 37 et passim.
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Grenzen. Über dies zeigt die Praxis, dass die Mehrheit der Stiftungen solche Ziele gerade nicht verfolgt, sondern eher den Anschluss an Modethemen sucht. (4) Stiftungen betätigen sich als Impulsgeber und regen politischen und sozialen Wandel an. Stiftungsarbeit bezieht sich nicht nur auf Symptome gesellschaftlicher Problemlagen, sondern auch auf deren Ursachen. Ihre besondere Eignung hierfür ist in der Unabhängigkeit der Stiftungen von Mehrheitsmeinungen und externer Finanzierung, also der Orientierung auf die Linderung unmittelbarer Nöte verankert. Allerdings ist eine gesellschaftliche Vision als Voraussetzung für strategisch ausgerichtete Innovation bei Stiftungen wenig ausgeprägt. Der Anspruch, Stiftungen seien innovativ tätig, wird durch Mängel in der Konkretisierung und Überprüfbarkeit stark beeinträchtigt. Insbesondere wird Innovation in der Praxis häufig mit Kurzfristigkeit der Programme verwechselt. (5) Stiftungen setzen ihre Mittel im Vergleich zum Staat effizienter ein und generieren eher als staatliche Mittel weitere Ressourcen (z.B. Engagement in Kreativität oder Zeit). Zudem kann Stiftungsarbeit bessere Resultate erzielen. Dieses Argument spielt bei der Umwandlung von öffentlichen Einrichtungen in Stiftungen eine zentrale Rolle. Da sich gerade Stiftungen oft durch mangelhafte Publizität einer externen Effizienzkontrolle entziehen, ist fraglich, inwieweit dieses Argument stichhaltig ist. Die Stiftungen selbst evaluieren ihre Arbeit nur in seltenen Fällen; Evaluationskriterien und -methoden sind bisher kaum entwickelt. Stiftungen können darauf angelegt sein, soziale, geographische, politische, religiöse, kulturelle und andere Begrenzungen zu überwinden. Dies gilt sowohl für die organisatorische Gestaltung der Stiftungen, in der Vertreter der verschiedenen gesellschaftlichen Segmente gleichermaßen präsent sein können, als auch für die Stiftungsarbeit selbst. Sie könnten einen beispielsweise mediatisierenden Charakter haben und dabei helfen, gesellschaftliche Konfliktlinien zu glätten. Empirisch ist eher das Gegenteil, eine ausgeprägte Homogenität der Akteure, nachweisbar. Letztlich erscheint freilich diese eher positivistische Reihung von Begründungen unbefriedigend, weil sie theoretisch zu kurz greift. Zur Erarbeitung von Elementen einer Stiftungstheorie muss auf andere Ansätze zurückgegriffen werden. Karl Popper hat im 6. Kapitel des ersten Bandes seines Hauptwerks „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, in dem er sich mit Platons politischem Programm auseinandersetzt, das Problem des Individualismus und Kollektivismus behandelt. 90 Dabei 90
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Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [1945]. Tübingen 1992, 120ff.
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weist er zunächst auf die Begriffspaare ‚Individualismus‘ als Gegensatz von ‚Kollektivismus‘ und ‚Egoismus‘ als Gegensatz von ‚Altruismus‘ hin und macht darauf aufmerksam, dass Individualismus und Egoismus voneinander getrennt werden müssen. 91 „[E]in Gegner des Kollektivismus, also ein Individualist, [kann] zur gleichen Zeit ein Altruist sein.“ 92 Hier setzt Poppers Kritik an Platon an, er habe „bis auf unsere Tage die größte Verwirrung in vielen ethischen Fragen und in ihrer theoretischen Bearbeitung hervorgerufen.“ 93 Platon, so wirft Popper ihm vor, identifiziere den Individualismus mit dem Egoismus, verknüpfe daher unzulässig Selbstlosigkeit mit kollektivem Handeln und brandmarke Individualisten als selbstsüchtige Menschen. 94 Diese Grundhaltung habe Platon dazu geführt anzumerken, der Staat bringe nicht Menschen hervor, „um jeden nach Belieben handeln und wandeln zu lassen“. 95 Er stelle sich damit gegen die „Emanzipation des Individuums […], die große geistige Revolution, die“, so Popper, „[…] zum Aufstieg der Demokratie geführt hatte.“ 96 Individuelles Handeln stellt demnach nicht eine Gefährdung des Gemeinwesens dar, sondern ist für ein demokratisches Staatswesen geradezu Voraussetzung, mehr noch, dieser „mit dem Altruismus vereinigte Individualismus ist die Grundlage unserer abendländischen Zivilisation geworden. […] [E]r ist der Kern aller ethischen Lehren, die aus unserer Zivilisation erwuchsen und sie anregten.“ 97 Platon, so folgert Popper, „hasste das Individuum und seine Freiheit […]. Auf dem Gebiet der Politik ist das Individuum für Platon der Böse selbst.“ 98 Die von Platon vollzogene Gleichsetzung von Individualismus und Egoismus wirkte als ein „erfolgreicher antihumanitärer Propagandatrick“. 99 Wir müssen uns, so Popper, darüber klar werden, dass „alle Denker, die durch diese Identifikation und durch die hochtrabenden Worte Platons getäuscht, seinen Ruf als Sittenlehrer in den Himmel heben, […] den totalitären Ideen und insbesondere einer totalitären antichristlichen In-
91 Ebd., 120. 92 Ebd., 121. 93 Ebd., 121f. 94 Ebd., 122. 95 Ebd., 122. 96 Vgl. Karen Armstrong, The Great Transformation. The World in the Time of Buddha, Socrates, Confucius and Jeremiah. London 2006. 97 Popper, Die offene Gesellschaft (wie Anm.90), 123. 98 Ebd.124f. 99 Ebd., 125.
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terpretation des Christentums den Weg bereiten.“ 100 Wenn Karl Marx der Individualität eine klare Absage erteilt, dann beweist dies die Popper‘sche These 101, wobei Marx mit seinem berühmten Diktum „Bisher haben die Philosophen die Welt nur interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ geradezu klassisch die Position des individuell handelnden, aktiven Stifters einnimmt. Für die Beantwortung der Frage, ob das Stiften in einer modernen Gesellschaft legitim ist, ist diese Auseinandersetzung von Bedeutung. Denn während das traditionelle Demokratieverständnis das individuelle Handeln als Stifter eher mit monarchischen Prinzipien verbunden und im Sinne der französischen Verfassung von 1791 die kollektive Willensbildung der Bürger im Staat zur Grundlage eines demokratischen Staatswesens reiner Lehre erhoben hat, verweist Popper, ohne damit als Anwalt der Stiftungen auftreten zu wollen, auf die totalitären Aspekte des modernen Staates, die diese kollektive Willensbildung bedingen. „Platon ersetzt die Lehre des Thrasymachos (Recht ist die Macht des Individuums) durch die gleiche barbarische Lehre, dass Recht ist, was die Stabilität und die Macht des Staates fördert.“ 102 In die theoretische Begründung der modernen Demokratie hat sich, so muss man Poppers Ausführungen zusammenfassen, seit Platon, der dies vorsätzlich betrieben hatte 103, ein Argument eingeschlichen, das in Wirklichkeit nicht hierfür eine Begründung liefert, sondern für den das Monopol der hoheitlichen Gewalt beanspruchenden Staat. Wie aktuell diese Debatte ist, zeigt Putnam, wenn er die Analysen des Sozialkapitals in mehreren Ländern 104 wie folgt bewertet: „[…] die meisten Autorinnen und Autoren […befürchten], dass die neuen individualistischen Formen des bürgergesellschaftlichen Engagements weniger zur Verfolgung gemeinsamer Ziele beizutragen vermögen. […] Die neuen Formen des sozialen Engagements sind […] enger, weniger brückenbildend und weniger auf kollektive
100 Ebd., 125. Popper macht an dieser Stelle auf Unterschiede zwischen dem Platon des Georgias und dem des Staates aufmerksam. 101 Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe [1966]. München 2000, 252. Weischedel bezieht sich offenkundig auf Karl Marx, Thesen über Feuerbach. S.Vitali Stoljarow, Die gesetzmäßige Ordnung der Welt; in: Marxistische Philosophie. Lehrbuch. Berlin (Ost) 1967, 230. 102 Popper, Die offene Gesellschaft (wie Anm.90), 127. 103 Ebd., 122. 104 Robert Putnam, Schlußfolgerungen; in ders. (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gütersloh 2001, 751ff.
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oder der Allgemeinheit dienende Zwecke fokussiert. Aus unserer ersten Untersuchung ergibt sich die wichtige Hypothese, dass die neueren Formen zwar befreiender wirken mögen, jedoch weniger solidarisch sind. Sie kennzeichnen eine Art Privatisierung des Sozialkapitals.“ 105 Auch Putnam bezieht sich ausdrücklich nicht auf Stiftungen im engeren Sinn, sondern allgemein auf die „informellen, fließenden und persönlichen Formen sozialer Beziehungen“, die „Rothstein ‚solidarischen Individualismus‘ nennt.“ 106 Die Stiftung ordnet sich aber in diese Überlegungen im Grundsatz ein. Das Individualitätsprinzip relativiert den Einwand der „Herrschaft der toten Hand“, indem der demokratiebildende Wert individuellen Handelns in den Vordergrund gestellt und in Verknüpfung mit anderen positiv konnotierten gesellschaftlichen Zielen wie Investition und Nachhaltigkeit eine Akzeptanz der Legitimität von Stiftungshandeln nahelegt. Die Stiftung bildet eine Gegenbewegung zur Flüchtigkeit der Ideen in der modernen Gesellschaft. Insoweit stellt sie eine individuelle Investition dar, deren wie auch immer geartete Früchte auf Dauer gesellschaftlich wirken können. Partizipation sowie Integration in die Gesellschaft sind weitere wesentliche Attribute. Untersuchungen zu Motiven deutscher und amerikanischer Stifter im 19.Jahrhundert zeigen dies beispielsweise deutlich. Niklas Luhmann verwirft in diesem Zusammenhang unter Berufung auf Talcott Parsons das Argument, Stiftungen würden der Gleichheit der Menschen entgegenarbeiten: „Sympathie und Altruismus bedeuten nicht, sich selbst an die Stelle des anderen zu setzen, sondern sich in den anderen als anderen einzufühlen. Damit sind alle Freundschaftstheorien (und abhängig davon alle Gesellschaftstheorien) unterlaufen, die irgendeine Art von natürlicher Gleichheit der Menschen voraussetzen. Stattdessen wird die Andersheit des anderen zu dem Befund, der Sozialität nicht nur notwendig oder förderlich, sondern überhaupt erst möglich macht.“ 107
Jeder Stiftungsakt, Ausdruck der Bindung des Menschen, in diesem Fall des Stifters, in der Zeitachse, steht schließlich in explizitem Gegensatz zur horizontalen Bindung an die gleichzeitig existierende Mitwelt. Diese Bindung in der Zeitachse soll im Folgenden als vertikale Bindung bezeichnet werden, während die Bindungen 105 Ebd., 781. 106 Ebd., 780 107 Niklas Luhmann, Arbeitsteilung und Moral [1992]; in: ders., Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2008, 9.
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an die gleichzeitig existierende Mitwelt als horizontale Bindungen bezeichnet werden sollen. Das Beziehungsgeflecht zwischen vertikalen und horizontalen Bindungen bestimmt unser Leben in vielfacher Hinsicht. Insofern ist die Stiftung nicht der Sonderfall, als der sie oft dargestellt wird. So ist die Sicherheit im Rechtsstaat der vertikale Komplementär zur legitimen (horizontalen) ständigen Willensbildung in der Demokratie. Unser Leben wäre ohne vertikale Bindungen ebenso unerträglich unsicher, wie es dies ohne horizontale Bindungen wäre. Zu viele vertikale Bindungen wären ebenso beengend wie zu viele horizontale Bindungen. Jedes Gebäude ist beispielsweise Ausdruck vertikaler Bindung. Eine Gesellschaftsordnung, in der jedes legal errichtete Gebäude jederzeit nach demokratischer Beschlussfassung wieder abgetragen werden müsste, würde einen weder praktikablen noch erstrebenswerten Lebensraum bieten. Insofern ist es durchaus zutreffend, wenn eine Stiftung als virtuelles Gebäude bezeichnet wird. Wie dieses ist sie im Wortsinn gegründet. Bodo Gatz unterstreicht die grundlegende Legitimität beider Positionen. „Der Paradiesgedanke ist […] eine Grundäußerung des menschlichen Wunschdenkens, als solche in irgendeiner Form allen Völkern gemeinsam.“ 108 Er weist auch darauf hin, dass solche Mythen säkularisierungsfähig waren. 109 Wenn es, so kann man mit Blick auf die Stiftungen folgern, diese Sehnsucht gibt, dann haben die alten Mythen auch in der modernen Gesellschaft ihre Bedeutung nicht gänzlich verloren. Stiftungen sind dann Ausdruck einer Sehnsucht nach in der Vergangenheit verankerten, an diese anknüpfende Institutionen. In der Zivilgesellschaft haben auch solche, von individuellen Bedürfnissen getriebene Initiativen ihren legitimen Platz, sofern sie ihrerseits die Existenzberechtigung anderer anerkennen und diese nicht bei der Verwirklichung ihrer Ziele behindern. Stiftungen gehören in der Tat zu den ältesten kulturellen Zeugnissen der Menschheit. Sie haben soziale Umwälzungen erstaunlich robust überstanden und sich vielfach als überaus langlebig erwiesen. Das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Bindungen bestimmt letztlich den Charakter einer Gesellschaft. So wie eine zu ausgeprägte Vertikalbindung zu Stagnation und letztlich über Unzufriedenheit zur Revolution führen kann, werden ganz und gar horizontal gebundene Gesellschaftsordnungen dem Wunsch ihrer Mitglieder nach Aufbau und Kontinuität nicht gerecht. Insofern haben die Prinzipien des Rechtsstaates und der kulturellen Traditionen eine hohe Akzeptanz. 108 Bodo Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen. Hildesheim 1967, 201. 109 Ebd., 205.
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In der modernen Zivilgesellschaft haben die auf dem kontinuierlichen und kollektiven Willensbildungsprozess von Mitgliedern oder Aktivisten aufbauenden Organisationen zu Recht das größte Gewicht. In ihnen manifestieren sich Selbstermächtigung, Selbstorganisation und Solidarität in vorzüglicher Weise, in ihnen wird Sozialkapital vor allem generiert, hier finden vorrangig Integration und Partizipation statt. Ein Defizit weisen diese Organisationen aber inhärent auf: Sie sind wesentlich horizontal bestimmt, während die Vertikalbindung unterentwickelt bleibt. Assoziative Organisationen bilden damit die Wirklichkeit der Gesellschaft nicht in vollem Umfang ab. Die vertikal gebundene Stiftung ist in der Zivilgesellschaft der geborene Komplementär zum horizontal gebundenen Verein.
Ausblick Indem gezeigt wurde, dass Stiftungen legitime Teile einer modernen Gesellschaft bilden können, wurde zugleich deutlich, dass ihre Legitimation mit dem Konzept der Zivilgesellschaft als Arena gesellschaftlicher Interaktion verknüpft ist. Somit ist die Argumentation noch nicht vollständig. Es ergeben sich Notwendigkeiten einer Neubestimmung des Selbstverständnisses, zumal Stiftungen im 20.Jahrhundert eine Marginalie darstellten, ihre jüngste Entwicklung ihnen aber erhöhte Aufmerksamkeit gesichert hat. Insofern fällt den Stiftungen heute die Aufgabe zu, sich ihrer Sache auch in dem Sinne anzunehmen, dass sie ein gesellschaftlich akzeptables Leitbild entwerfen und die Konsequenzen daraus ziehen. Auf zeitgebundene Popularität ist kein Verlass. Legalität und Bestandsschutz zählen nicht, wenn die Gesellschaft andere Prioritäten setzt. Und finanzielle Macht weckt eher Begehrlichkeiten, als dass sie dauerhaften Schutz verleiht. All dies genügt also nicht, um Legitimität glaubhaft zu machen. Der spezifische Stellenwert der Stiftungen erschöpft sich nicht in ihrer Funktion als Quelle finanzieller Ressourcen, selbst wenn ihnen zu Recht der Charakter des Investors der Zivilgesellschaft zugemessen wird. Ein Blick auf die Stiftungswirklichkeit zeigt, dass diese Funktion tatsächlich nur einen Teil der Stiftungen beschreibt, so dass der empirische Befund dem normativ bestimmten Gedankengang in der Tat entspricht. Im Mittelpunkt steht vielmehr ihre Komplementärfunktion als vertikal bestimmte Organisation. Daraus folgt die Aufgabe, sich in jeder Generation mit anderen Akteuren neu horizontal zu vernetzen, um an der tatsächlichen Gesellschaft
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zu partizipieren. Es liegt an den Stiftungen selbst, ihren Stellenwert in jeder Generation neu zu gestalten. Tun sie dies nicht, werden sie für die Gesellschaft als ‚tote Hand‘ zur Gefahr. Wächst die Gefahr, wird die Gesellschaft sie deslegitimieren, nach ihrer Beseitigung trachten. Einer solchen Deslegitimierung vorzubeugen, liegt im eigenen Interesse der Stiftungen. Es kann gelingen, wenn diese sich ihre Sache und die der Zivilgesellschaft zu eigen machen, sich zugleich aber in diese einfügen. Das Misstrauen gegen ihre angebliche oder tatsächliche Sonderstellung ist groß. Der Verdacht der Narretei besteht ebenso wie der der Fassade zur Verfolgung anderer Interessen. Thomas Schulers kürzlich erschienene Analyse der Bertelsmann Stiftung greift diesen Aspekt auf. 110 Angesichts der wachsenden Demokratisierung gesellschaftlicher Prozesse muss den Stiftungen daran gelegen sein, den Begriff der Stiftung intakt zu halten. Ein Erscheinungsbild, das durch das Pochen auf Legalität, Selbstüberschätzung oder Unbescheidenheit gekennzeichnet ist, liegt nicht im Interesse der Stiftungen. Viele Stiftungsverwaltungen leben in der Vorstellung, sie seien Gnadenspender, Träger einer besonderen Definitionshoheit über Standpunkte oder Prozesse oder könnten sich aufgrund ihrer Ressourcen hierarchisch über anderen Akteuren einordnen. Insoweit verkennen sie das Wesen zivilgesellschaftlichen Handelns, das durch Selbstermächtigung, Selbstorganisation und hierarchiefreie Netzwerke, aber auch durch Respekt und die Anerkenntnis von Pluralität gekennzeichnet ist. Wenn heute in der politischen Arena die Stiftungen geradezu exemplarisch beliebt erscheinen, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese keine Grundkonstante ist und in der wissenschaftlichen Debatte durchaus in Frage gestellt wird. Seit dem 18. Jahrhundert schwebt das Damokles-Schwert der Illegitimität über den Stiftungen; gesetzliche Legalität vermag ebensowenig, es zu bannen wie der Verweis auf die anthropologische Konsistenz eines Stiftungsimpulses. Im Zeichen der erstarkenden Zivilgesellschaft geht es zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr so sehr um die Akzeptabilität für die staatliche Herrschaft, sondern eher um die Abweichung von demokratischer Normativität. Der Staat braucht die Macht der Stiftungen in wirtschaftlicher Hinsicht nicht ernsthaft zu fürchten. In dem Umfang allerdings, in dem die Produktion von Ideen und Konzepten einen Machtfaktor darstellt und sich Stiftungen an dieser Produktion beteiligen, können 110 Thomas Schuler, Bertelsmann Republik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik. Frankfurt am Main 2010.
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sie einerseits überkommene, gar überholte Ordnungskonzepte ins Wanken bringen, werden aber andererseits wegen der Ressourcen, mit deren Hilfe diese Konzepte in die öffentliche Debatte eingeführt werden, auch von anderen Produzenten beargwöhnt. Stiftungshandeln bedarf daher notwendigerweise nicht nur der Legalität, Seriosität und Anschlussfähigkeit, sondern auch der Akzeptanz, um in der modernen Gesellschaft als legitim angesehen werden zu können.
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Die Autorinnen und Autoren
Dr. Thomas Adam ist Professor of History der University of Texas at Arlington/USA. Dr. Kaja Harter-Uibopuu ist Senior Scientist am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Wien. Dr. Peregrine Horden ist Professor in Medieval History an der University of London, Royal Holloway. Dr. Yokiyo Kasai ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Turfanforschung der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Dr. Konstantin Kehl ist Leiter der Abteilung Transfer und Beratung des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen der Universität Heidelberg. Dr. Franz Kogelmann ist Islamwissenschaftler und Principal Investigator an der Bayreuth International Graduate School, Universität Bayreuth. Dr. Elisabeth Kraus ist außerplanmäßige Professorin für Geschichte an der LudwigMaximilians-Universität München. Dr. Gury Schneider-Ludorff ist Professorin für evangelische Theologie und Rektorin der Augustana Hochschule Neuendettelsau. Dr. Georg von Schnurbein ist Assistenzprofessor für Stiftungsmanagement am Centre for Philanthropy Studies der Universität Basel. Dr. Rupert Graf Strachwitz ist Politologe und Leiter des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt Universität Berlin. Dr. Volker Then ist geschäftsführender Direktor des Centrums für Soziale Investitionen und Innovationen der Universität Heidelberg. Dr. Sitta von Reden ist Professorin für Alte Geschichte an der Universität Freiburg.
DOI
10.1515/9783110400007.319
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