Film und Literatur der 1970er Jahre: Eine Studie zu Annäherung und Wandel zweier Künste 9783839430392

How does film make it into books? This study shows the convergence of film and literature, and makes it clear that the a

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German Pages 348 Year 2015

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Inhalt
Vorwort
Filmen – Fahren – ‚Freundschaften‘. Wim Wenders’ Film IM LAUF DER ZEIT (1976)
„Old-Werther“, ,dieser Salinger‘ und Sidney Poitier: Ulrich Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen W. (1973)
Ulrike – Katharina – Antigone. Heinrich Bölls politisch-literarisches Wirken in der Bundesrepublik der 1970er Jahre
Lyrik – Lesen – (nicht) Interpretieren. Hans Magnus Enzensbergers rezeptionsästhetische Kampfansage: Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie (1976)
Königsblau – Gelb – Schwarz. Rolf Dieter Brinkmanns farblyrische Versuche
Hölderlin – Ikarus – Chile. Wolf Biermanns engagierte Liedlyrik
Frauen – Männer – Paare. Eine Bildlektüre von Klaus Theweleits „Erfolgsbuch der 1970er Jahre“
Mann – Fontane – Kleist. Deutschsprachige Erzählungen in europäischen Filmen: Lucchino Viscontis DEATH IN VENICE (1971), Rainer Werner Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST (1974) und Eric Rohmers DIE MARQUISE VON O… (1976)
Frau – (Mann) – Kind. Eine literarische (1976) und eine filmische (1978) Linkshändige Frau. Beide von Peter Handke
Literaturverzeichnis
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Film und Literatur der 1970er Jahre: Eine Studie zu Annäherung und Wandel zweier Künste
 9783839430392

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Elisabeth K. Paefgen Film und Literatur der 1970er Jahre

Lettre

Elisabeth K. Paefgen lehrt Didaktik der deutschen Sprache und Literatur sowie Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Film und Literatur im Dialog, Lyrik nach 2000 sowie neue Formen seriellen Erzählens.

Elisabeth K. Paefgen

Film und Literatur der 1970er Jahre Eine Studie zu Annäherung und Wandel zweier Künste

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Vorwort. Experimente in Film und Literatur der 1970er Jahre | 7 Film – Fahren – ‚Freundschaften‘. Wim Wenders’ Film IM L AUF DER ZEIT (1976) | 23 „Old - Werther“, ‚dieser Salinger‘ und Sidney Poitier: Ulrich Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen W. (1973) | 59 Ulrike – Katharina – Antigone. Heinrich Bölls politisch-literarisches Wirken in der Bundesrepublik der 1970er Jahre | 89 Lyrik – Lesen – (nicht) Interpretieren. Hans Magnus Enzensbergers rezeptionsästhetische Kampfansage: Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie (1976) | 119 Königsblau – Gelb – Schwarz. Rolf Dieter Brinkmanns farblyrische Versuche | 151 Hölderlin – Ikarus – Chile. Wolf Biermanns engagierte Liedlyrik | 209 Frauen – Männer – Paare. Eine Bildlektüre von Klaus Theweleits „Erfolgsbuch der 1970er Jahre“ | 233

Mann – Fontane – Kleist. Deutschsprachige Erzählungen in europäischen Filmen: Lucchino Viscontis DEATH IN VENICE (1971), Rainer Werner Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST (1974) und Eric Rohmers DIE MARQUISE VON O… (1976) | 261 Frau – (Mann) – Kind. Eine literarische (1976) und eine filmische (1978) Linkshändige Frau. Beide von Peter Handke | 295 Literaturverzeichnis | 323

Vorwort

E XPERIMENTE IN F ILM DER 1970 ER J AHRE

UND

L ITERATUR

Die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts sind unter politisch-gesellschaftlichen Vorzeichen bekannter geworden als unter ästhetisch-künstlerischen. Identifiziert wird dieses Jahrzehnt hauptsächlich mit den Auswirkungen der 1968er Bewegung, die unter anderem in der Ausbreitung neuer Bündnisse und Lebensformen wie Bürgerinitiativen, Wohngemeinschaften und Kinderläden bestand; mit den gewaltsamen Aktivitäten der Baader-MeinhofGruppe beziehungsweise den staatlichen Reaktionen auf diese Taten; mit der Wahl des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers nach 1945 und dem schon bald wieder erfolgten Rücktritt von Willy Brandt; mit einer liberalisierten Ostpolitik; mit einem liberalisierten Verhalten gegenüber Sexualität;1 mit starken frauenbewegten Initiativen2 wie auch mit intensiven pädagogischen Impulsen und Debatten,3 die zu einer breiten Politisierung al-

1

Vgl. dazu: Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Frankfurt/M 2014, S. 629721.

2

Vgl. dazu: Reichardt, Authentizität, S. 605-624. Vgl. dazu auch: Ricarda Strobel: Die neue Frauenbewegung. In: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 70er Jahre. München 2004, S. 259-272.

3

Vgl. dazu: Reinhard Uhle: Pädagogik der siebziger Jahre – zwischen wissenschaftsorientierter Bildung und repressionsarmer Erziehung. In: Faulstich, 70er Jahre, S. 49-64.

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ler gesellschaftlichen Bereiche führten;4 mit einer ersten Ölkrise im Herbst 1973, für die vier autofreie Sonntage ein erinnerungsträchtiges Symbol sind,5 sowie mit dem Aufkommen einer im weitesten Sinne ökologisch orientierten Bewegung, die in der Gründung der Partei der Grünen mündete. Wenngleich man bei vergleichbaren Rückblicken schnell dazu neigt, von ‚Umbruchphasen‘, ‚einschneidenden Veränderungen‘ oder ‚nachhaltigem Wandel‘ zu sprechen, so treffen vergleichbare, leicht als Allgemeinplätze abzustempelnde Beschreibungen für die 1970er Jahre doch zu. Sie treffen zu, weil erst in diesem Zeitraum vor allem der bundesrepublikanische Teil des damals noch geteilten Deutschlands langsam begann, die grauenhafte nationalsozialistische Epoche kritischer zu reflektieren und einen Wandel zu starten, der nicht nur auf staatspolitischer, sondern eben auch auf der Ebene alltäglicher Kommunikations- und Lebensformen zu nachhaltigen Veränderungen führte.6 Dieser Wandel betraf zum Beispiel das Zusammenleben von Mann und Frau auch ohne gesetzliche Bindung, 7 neue Formen

4

„Politik war allgegenwärtig und wirkte derart umfassend auf die alltägliche Lebensgestaltung ein wie niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.“ Reichardt, Authentizität, S. 875.

5

„1973 ist das Jahr der internationalen Ölkrise und der Fahrverbote in der Bundesrepublik. An den ‚autofreien Sonntagen‘ sind die Autobahnen wie leergefegt. Kein eindringlicheres Bild als dieses kann den Westdeutschen – denen das Auto der Inbegriff persönlichen Wohlstands und allgemeiner Prosperität geworden sind – die Erkenntnis erschreckender vor Augen führen, daß der von Staat und Wirtschaft propagierte permanente ökonomische Zuwachs und der von den Linken beschworene Fortschritt keine naturgegebenen Entwicklungen sind.“ Nikolaus Jungwirth / Gerhard Kromschröder: FlokatiFieber. Liebe, Lust und Leid der 70er Jahre. Frankfurt/M 1994, S. 16.

6

„Anstatt Angst, Ausbeutung und Entfremdung nur intellektuell und nüchtern zu analysieren, wurde die gesellschaftliche Situation als emotionale Erfahrung gedeutet und auf das eigene Leben bezogen. Statt Persönliches und Politisches voneinander zu trennen, wurde der eigene Lebensalltag politisiert.“ Reichardt, Authentizität, S. 876.

7

„Sie schließen sich zu Wohngemeinschaften zusammen, in denen viele herkömmliche Regeln des Zusammenlebens keine Geltung mehr haben.“ Jungwirth / Kromschröder, Flokati-Fieber, S. 67.

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der Eltern(Erwachsenen)-Kind-Beziehungen,8 Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Partnerschaften – wie überhaupt Emanzipationsdebatten und -anstrengungen um all die Gruppen, die bis dahin diskriminiert und rechtlich benachteiligt wurden, kreisten. Obwohl anhand derartiger Schlagworte eher linksintellektuelle beziehungsweise studentische Tendenzen (und Theorien) als gesellschaftliche Realitäten beschrieben werden, so sind diese doch gleichwohl Signale eines Aufbruchs, wie er bis dahin nach dem nationalsozialistischen Terror und dem Zweiten Weltkrieg nicht stattgefunden hatte und der – langfristig – das gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik beeinflusst hat und es noch immer tut. Es war ein Jahrzehnt, in dem es die Chance gab, Experimente zu riskieren, die sowohl die allgemeine politische Ebene und den privaten Alltag als eben auch die ästhetischkünstlerische Produktion betrafen. Experimente können gelingen oder scheitern, aber dass sie gewagt wurden, gehört zu diesem Jahrzehnt und sollte nicht in Vergessenheit geraten. Begleitend zu diesen aufregend-aufgeregten Zeiten und beeinflusst von diesen veränderte sich auch das literarische und filmische Schaffen. Und – was noch entscheidender ist – die beiden Künste näherten sich auf neue Weise einander an. Ein solcher Prozess der Annäherung hatte in Deutschland bereits während der 1920er Jahre begonnen,9 wurde aber durch den Nationalsozialismus unterbrochen, wie das diktatorische Regime überhaupt die filmischen Künste für seine Propagandazwecke missbrauchte und damit die Entwicklung der deutschen Filmkunst auf Jahrzehnte zurückwarf. 1962 wurde mit dem sogenannten Oberhausener Manifest der Versuch gestartet, den deutschen Film aus einer Kitsch- und Unterhaltungsecke zu befreien und mit dem neuen deutschen Spielfilm erneut den Anschluss an avantgar-

8

„Kaum ein Kinderzimmer bleibt von den Spätfolgen dieses großangelegten Feldversuchs herrschaftsfreien Umgangs unbeeinflusst.“ Jungwirth / Kromschröder, Flokati-Fieber, S. 19.

9

Schon Anfang der 1930er Jahre hatte Bertolt Brecht geschrieben: „Der Filmsehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmsehender.“ Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 18. Schriften zur Literatur und Kunst I. Frankfurt/M 1967. S. 139-209, hier: S. 156. Vgl. dazu auch: Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino. Reinbek 1998. Sowie: Peter Zander: Thomas Mann im Kino. Berlin 2005.

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distische europäische Filmstile zu schaffen:10 Dieses Dokument gilt heute als die Geburtsstunde des Neuen Deutschen Films, einer Initiative einiger Filmemacher, von denen dann filmische Werke bereits in den 1960ern, aber besonders zahlreich in den 1970er Jahren erschienen sind: „Der Neue deutsche Film war zu sehr Teil des vielschichtigen Umbruchprozesses in diesem Jahrzehnt, um ihn direkt zu spiegeln. In seiner Geschichte – vom Oberhausener Manifest 1962 bis zum Nachlassen seiner Innovativkraft und seinem internationalen Renommée Ende der achtziger Jahre – waren die siebziger seine produktivste und kreativste Periode.“11 Einhergehend mit dieser Intellektualisierung des deutschen Filmschaffens begann das Kino auch in Deutschland für die ästhetischen Diskurse der Zeit eine wichtige Rolle zu spielen. Die Gründung zahlreicher Off-Kinos, die abseits des kommerziellen Mainstreamkinos anspruchsvolle und IndependentProduktionen zeigten, ist ein beredtes Zeichen für diese Tendenz. Retrospektiven wichtiger internationaler Regisseure, die zum Teil in mitternächtlichen Nachtprogrammen gezeigt wurden, prägten das großstädtische und studentische Kinoerleben der 1970er Jahre, 12 ‚Tage des besonderen Films‘ das kleinstädtische. „Lesen, sagte Eugen, könne ihm die Erfahrungen, welche zu erzählen sich lohnt, nicht mehr verschaffen: aber das Kino. Es hat nicht nur ihm in den siebziger Jahren einen Raum eröffnet, wo sich jenseits der Allgemeinbegriffe leben, der Erfahrungshunger stillen ließ, die diffusen Suchbewegungen sich beruhigen konnten.“

13

10 Vgl. dazu: Eric Rentschler: Deutschland. Das ‚Dritte Reich‘ und die Folgen. In: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films. Stuttgart 1998, S. 338-347, hier: S. 346. Vgl. dazu auch: Anton Kaes: Der Neue Deutsche Film. In: Nowell-Smith, Internationaler Film, S. 566-581. Sowie: http://www.oberhausener-manifest.com/oberhausener-manifest/ (zuletzt abgefragt am 24.4. 2015). 11 Claudia Lenssen: Film der siebziger Jahre. Die Macht der Gefühle. In: Wolfgang Jacobson / Anton Kaes / Hans Helmut Prinzler (Hg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart 1993, S. 249-284, hier: 253. (Hervorh. E.K.P.). 12 Vgl. dazu: Frida Graefe: Ins Kino! Münchener Filmtips 1970-1986. Berlin 2007. 13 Michael Rutschky: Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre. Frankfurt/M 1982, S. 167.

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Es ist bezeichnend für das intellektuell-studentische Klima der 1970er Jahre, dass das Kino an die Stelle des Lektüreerlebens tritt und dass das alte Konkurrenzverhältnis Literatur-Film auf diese Weise eine neue Qualität erreicht. Die Literatur, beladen mit ganz anderen und viel schwereren Traditionen als der Film, hatte es nicht leicht in diesem Jahrzehnt. Marcel ReichRanicki bezeichnet die schriftstellerische Produktion dieser Jahre als „widerspruchsvoll und disparat“ und stellt fest, dass „wir überall Ausnahmen und nirgends Zusammenhänge“ sehen, „lauter Außenseiter und keine Repräsentanten“.14 Er sieht die entscheidenden Zäsuren zu Ende der 1960er Jahre, als 1967 mit dem Ende der Gruppe 47 auch die deutsche Nachkriegsliteratur abgeschlossen und ein Jahr darauf von Hans Magnus Enzensberger in der Zeitschrift Kursbuch ein „angeblicher Tod der Literatur in bester Laune verkündet wurde“:15 das Ende einer Generation und der Beginn einer Phase, die nach neuen Orientierungen suchte oder suchen musste. ReichRanicki kommt zu einer negativen Einschätzung, was die Folgen dieser „Kunstfeindschaft“ angeht: Er bezeichnet die schriftstellerische Produktion

14 Marcel Reich-Ranicki: Anmerkungen zur deutschen Literatur der Gegenwart. In: Ders.: Entgegnungen. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Erw. Neuausgabe. Stuttgart 1981, S. 17-36, hier: S. 18. [1. Aufl. 1979]. ReichRanickis ebenfalls modular angelegte Darstellung des schriftstellerischen Schaffens jenes Jahrzehnts ist bis heute die einzige Schrift geblieben, die sich ausdrücklich nur mit dem Schreiben dieser Jahre beschäftigt. Walter Delabar und Ehrhard Schütz beziehen in ihrem Sammelband knapp 20 Jahre später schon das nachfolgende Jahrzehnt mit ein und konzentrieren sich nicht mehr nur auf die 1970er Jahre. Vgl. dazu: Walter Delabar / Erhard Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre. Autoren, Tendenzen, Gattungen. Darmstadt 1997. Im Übrigen erläutern die beiden Herausgeber, dass in der Literaturgeschichtsschreibung „Periodisierungsvorschlägen“

Abstand und

dass

genommen deswegen

worden labels

sei wie

von „Neue

Subjektivität“ für die 70er und „Neue Unübersichtlichkeit“ für die 80er „bestenfalls

Indiziencharakter“

haben

könnten,

„indem sie

bestimmte

literarische Phänomene betonen und anderen vorziehen.“ Vgl. dazu: Walter Delabar / Erhard Schütz: Serien und Solitäre. Zur deutschen Literatur der siebziger und achtziger Jahre. In: Delabar / Schütz, Deutschsprachige Literatur, S. 7-12, hier: S. 7. 15 Reich-Ranicki, Anmerkungen, S. 22.

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der 1970er Jahre als „Literatur des Rückzugs“ 16 und stellt eine „Hinwendung zum Individuum“17 ebenso fest wie überwiegende „Elemente der direkten Selbstdarstellung“.18 Matthias Lorenz hingegen sieht eine tendenzielle Zweiteilung des Jahrzehnts, wenn er einerseits ein Nachwirken der 68er Bewegung erkennen kann,19 andererseits aber auch Stichworte wie „‚Neue Innerlichkeit‘, ‚Neue Subjektivität‘, ‚Neuen Irrationalismus‘“ benutzt, um eine zunehmende „Entpolitisierung“ der Literatur zu beschreiben.20 „Durchgängiges Thema sind ‚Beziehungen‘, immer wird die ‚große‘ Geschichte ersetzt durch das eigene Erleben […].“21 Im Folgenden soll die Literatur dieser Jahre aber unter einer anderen Fragestellung verhandelt werden, als es Reich-Ranicki, Lorenz und bisheri-

16 Reich-Ranicki, Anmerkungen, S. 22 und S. 24. 17 Reich-Ranicki, Anmerkungen, S. 25. 18 Reich-Ranicki, Anmerkungen, S. 26. – Dabei geht Reich-Ranicki abschätzig oder gar nicht auf die beiden – von Matthias Lorenz so bezeichneten – „herausragende[n] Einzelveröffentlichungen“ von Uwe Johnson und Peter Weiss ein, die in diesen Jahren ebenfalls erscheinen und in denen die Zeit des Nationalsozialismus erneut zum Thema gemacht wird: in Johnsons Jahrestagen unter mecklenburgisch-regionaler Perspektive, in Weiss’ Ästhetik des Widerstands als linke Geschichte. Von Johnsons Projekt beachtet er nur missmutig den ersten Band, Peter Weiss hingegen wird überhaupt nicht erwähnt. Aber nicht nur Reich-Ranicki hat diese beiden episch angelegten Werke nicht oder schlecht gelaunt gelesen; insgesamt fand eine intensivere Rezeption der Jahrestage und der Ästhetik des Widerstands erst sehr viel später und nicht zum Zeitpunkt ihres Erscheinens statt. Matthias Lorenz geht davon aus, dass diese beiden Romanwerke „zweifellos Bestand haben“ werden, dass sie aber eben nicht den ‚literarischen Trend‘ kennzeichnen, der „typisch für die Kultur der siebziger Jahre“ ist. Vgl. dazu: Matthias Lorenz: Literatur und Betrieb nach dem ‚Tod der Literatur‘. Fiktionales Schreiben in der Bundesrepublik der siebziger Jahre. In: Faulstich, Kultur der siebziger Jahre, S. 147-164, hier: S. 155. 19 Lorenz, Literatur und Betrieb, S. 155-158. 20 Lorenz, Literatur und Betrieb, S. 159-162. 21 Lorenz, Literatur und Betrieb, S. 161.

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ge Literaturgeschichtsschreibungen ziemlich einstimmig vorschlagen. 22 Dabei soll auf die eingeführten plakativen Zuschreibungen weitgehend verzichtet werden, um an exemplarisch ausgewählten Texten und Filmen zu diskutieren, ob nicht auf der Folie der Film-Literatur-Beziehung eine Beschreibung der literarischen Produktion dieser Jahre entwickelt werden kann, die sich sowohl von tendenziösen als auch ideologisch behafteten Etikettierungen fernhält. Wie wird Literatur – neu – gelesen, wenn sie auf der Folie des zeitgenössischen filmischen Erzählens betrachtet wird? Wie erscheinen Filme jener Zeit, wenn sie in engem Kontakt zu schriftlichen Texten gesehen werden? Entstehen neue Einblicke in die Literatur beziehungsweise in den Film, wenn beide Künste so eng verzahnt betrachtet werden, wie sie in den 1970er Jahre nicht selten entstanden sind? Das sind einige der Fragen, die für die nachfolgenden Einzeluntersuchungen relevant sind. Es soll herausgearbeitet werden, wie viel Film im Literarischen und wie viel Literarisches im Film steckt, um auf diese Weise das kaleidoskopartige Bild der 1970er Jahre um eine Perspektivierung zu ergänzen, die versucht, der offen-suchenden Anlage des filmisch-literarischen Schaffens jener Zeit gerecht zu werden. Wenngleich schon über „Neue Varianten ‚filmischen‘ Schreibens“23 nachgedacht wurde, so fand eine Lektüre der Literatur dieser Zeit bisher noch nicht statt auf der Folie einer immer intensiver und immer selbstverständlicher werdenden Verwandtschaft zum Filmischen hin, die sich nicht nur im Stil niedergeschlagen, sondern die ganz neue Formen der Zusammenarbeit angenommen hat. Das Interesse an filmisch-literarischen Bündnissen hat auch die Auswahl der Autoren und Werke geleitet, die weniger von dem Bemühen um ästhetische Wertung geleitet ist, als vielmehr davon, die jeweiligen Themen, die spezifischen Erzählweisen und die ungewöhnlichen poetischen Projekte im Kontext dieses Jahrzehnts auf der Folie der Film-Literatur-Beziehung zu verhandeln und dabei möglicherweise zu neuen Einschätzungen zu gelangen. Wim Wenders’ Film IM LAUF DER ZEIT bildet den eigentlichen Ausgangspunkt dieses Buch-Projekts, da die Rezeption dieses Films Mitte der

22 „,Neue Subjektivität‘ – Tendenzen der 1970er Jahre (1969-1970)“ heißt denn auch das entsprechende Kapitel in: Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart 1993, S. 392-440. 23 Markus R. Weber: Prosa, der schnelle Film. Neue Varianten ‚filmischen‘ Schreibens. In: Delabar / Schütz, Deutschsprachige Literatur, S. 105-129.

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1970er Jahre eine nachhaltige Wirkung hinterlassen hat. Ein SchwarzWeiß-Film, der trotz seiner Ereignisarmut und seiner zu jenem Zeitpunkt ungewöhnlichen Länge von nahezu drei Stunden ein – relativ – großes Publikum gefunden und der als erstes größeres road movie die deutsche Filmgeschichte verändert hat. Wenders mischt sich unauffällig in die Geschlechterdiskurse der Zeit ein; er findet neue Formen, um die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit der der aktuellen Situation des Kinos zu verbinden; und nicht zuletzt ist IM LAUF DER ZEIT ein Beispiel dafür, dass die Grenzen zwischen fiktionalem und dokumentarnahem Erzählen nicht klar gezogen werden können. Der experimentelle Charakter dieses Films zeigt sich also auf vielen Ebenen; er zeigt sich aber auch besonders darin, dass sich in epischer Langsamkeit eine Ereignislosigkeit ausbreiten kann, die dem schriftliterarischen Erzählen sehr viel näher steht als dem filmischen.24 Insofern signalisiert Wenders’ IM LAUF DER ZEIT eine sensibel-unauffällige Annäherung der beiden Künste, die nicht demonstrativ stattfindet, sondern die Stärken der anderen ‚Seite‘ produktiv zu nutzen versteht und das damit verbundene Risiko der Langatmigkeit und Langweiligkeit nicht scheut. Wenn Wim Wenders von der Literatur gelernt hat und seine beiden Protagonisten viel schweigen (und schlafen) lässt, hat Ulrich Plenzdorf vom Film gelernt und lässt seinen Helden unablässig ‚reden‘. Nicht nur die klassisch-kanonische Erzählung Johann Wolfgang von Goethes aus dem Jahr 1774 hat also die Erzählung um Die neuen Leiden des jungen W. aus dem Jahr 1973 beeinflusst, sondern auch Plenzdorfs langjährige Arbeit als Drehbuchautor und Dramaturg in den Babelsberger DEFA-Studios. Erst solche Erfahrungen ermöglichen sein Werther-Experiment der 1970er Jah-

24 Dass Wim Wenders mit der literarischen Welt vertraut ist, zeigt sich daran, dass er 1971/72 Peter Handkes Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter als Vorlage für einen Film wählte, 1972/73 Nathaniel Hawthornes Roman Der scharlachrote Buchstabe und 1974/75 mit FALSCHE BEWEGUNG einen Film drehte, der frei mit Johann Wolfgang von Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre umging. Später arbeitete er mit Patricia Highsmiths Roman Der amerikanische Freund, unterstützte Peter Handke bei seiner filmischen Arbeit an der LINKSHÄNDIGEN FRAU und integrierte Mitte der 1980er Jahre lyrische Passagen von Rainer Maria Rilke in seinen bekannt gewordenen Film DER HIMMEL ÜBER BERLIN. Vgl. dazu: Norbert Grob: Wenders. Berlin 1991, S. 290293.

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re, das nicht mehr mit Briefen arbeitet, sondern mit Tonbändern und das mit dieser ‚Tonspur‘ akustische Effekte in das schriftliterarische Erzählen zu integrieren versucht. Die Vielstimmigkeit des Romans, die unterschiedliche Sprachstile unmittelbar und übergangslos aufeinander prallen lässt, ist ohne filmische Erfahrungen und Kenntnisse undenkbar; der Versuch, das Sprechen und die Stimme zu technisieren, ist ein filmisches Relikt. Und der jugendsprachlich-schnoddrige Redegestus von Plenzdorfs Helden Edgar Wibeau entstammt ebenfalls eher dem filmischen Genre, da dieses hochsprachliche Standards weniger beachten muss, als es für das schriftliche Erzählen bis dahin üblich war. Wibeau wirkt nicht zuletzt deswegen ‚lebendiger‘ als sonstige jugendliche Helden von Adoleszenzromanen, weil er ‚mündlicher spricht‘ und damit eher dem Film als dem goetheschen Vorbild entstammt. Und auch wenn der tote Edgar Wibeau nicht das letzte Wort des Romans hat, so wird doch in seinem Sprachduktus davon berichtet, dass es eine „Stromsache“ war, die sein Sterben verursacht hat: Nüchterner, lakonischer und technischer ist wohl bisher kaum über Tod und Sterben in der deutschsprachigen Literatur geschrieben worden.25 Wenders leistet einen Beitrag zu einem neuen, unsicher gewordenen Männlichkeitsdiskurs, Plenzdorf aktualisiert die Figur des jugendlichen Rebellen. Heinrich Böll hingegen mischt sich unmittelbar und direkt in die politischen Debatten der 1970er Jahre ein, wenn er gegen einseitige mediale Praktiken ‚anzuschreiben‘ versucht, sowohl journalistisch-pragmatisch als auch fiktional-narrativ. Mit seinem journalistischen Beitrag im ‚Spiegel‘ gegen die Berichterstattung der Boulevardpresse, insbesondere der ‚Bild‘Zeitung, hat er 1972 eine Debatte angestoßen, die einmal mehr belegt, dass intellektuelle Impulse in jenem Jahrzehnt polarisierten und dass erregt auf pointiert vorgetragene Positionierungen reagiert wurde. Böll kämpfte schreibend gegen ein Klima der sippenhaften (Vor-)Verurteilungen und ‚Sympathisanten‘-Hysterie, die sich nicht mehr bemühte, zwischen gewaltbereiten Aktionen und kritischem Engagement zu unterscheiden. Hierbei ist er an mehreren Fronten aktiv: nicht nur im ‚Spiegel‘, sondern 1974 auch mit der Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann unter dem Schutzmantel des Lite-

25 Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. Frankfurt/M 1976, S. 148. [1. Aufl. 1973]. Den Hinweis auf die besondere Lakonie dieses Endes verdanke ich Florian Urschel-Sochaczewski.

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rarischen. Während der Obertitel an Friedrich Schillers Novelle Der Verbrecher aus verlorener Ehre aus dem Jahr 1786 erinnert, bereitet schon der Untertitel darauf vor, dass in der Freiheit der Fiktion andere Waffen genutzt werden als nur Stift, Schreibmaschine und Papier. Wie sehr Böll mit dieser Erzählung den gesellschaftlichen Geist jener Zeit angesprochen haben muss, zeigt die Tatsache, dass bereits ein Jahr später ein Film mit dem gleichnamigen Titel in die deutschen Kinos kam. Auch dass das Filmprojekt, bei dem Volker Schlöndorff und Margarete von Trotta Regie führten, von dem namhaften Komponisten Hans Werner Henze und dem ansonsten bei Wim Wenders tätigen Cutter Peter Przygodda unterstützt wurde, zeigt, dass sich in jenen Jahren unterschiedliche Künstler und Intellektuelle solidarisch mit Bölls und Schlöndorffs Arbeiten erklären wollten. Gleichzeitig demonstriert diese im deutschen Raum erstmalige zeitliche Nähe von Text und Film über Katharina BLUM erneut,26 wie eng miteinander verschränkt die beiden Erzählkünste in diesen Jahren arbeiteten und wie übergangslos sie fusionierten. Ausnahmen bestätigen diese Regel. In einem Band über Annäherung und Verschränkung der beiden Künste muss es einen Beitrag geben, der aus der Reihe fällt und der sich nicht in diesen Film-Literatur-Kontext eingliedern lässt. Aber die rezeptionstheoretischen Impulse, die Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß Ende der 1960er Jahre mit ihren beiden Antrittsvorlesungen in die literaturtheoretische Debatte eingebracht haben, 27 beginnen erst

26 Erich Kästners Emil und die Detektive brauchte zwei Jahre, um ins Kino zu gelangen: Der Roman erschien 1929, der Film 1931; ein erneuter Beleg dafür, welches Film-Literatur-Potential die 1920er Jahre bereits entwickelt hatten! 27 Die Aufdeckung der schon länger bekannten nationalsozialistischen Vergangenheit von Hans Robert Jauß ist im Mai 2015 in eine neue Phase getreten. „Hans Robert Jauß meldete sich nach dem Kriegsausbruch 1939 freiwillig zur ‚SS-Verfügungstruppe‘ – der Begriff ‚Waffen-SS‘ wurde erst später eingeführt. 1940 nahm er an den Kämpfen im Westen teil, 1942 kam er an die Ostfront. 1943 ging er mit der SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Brigade Nederland nach Kroatien, wo es im Zuge des Kampfes mit Partisanen zu Kriegsverbrechen kam. Die Beteiligung des I. Bataillons, heißt es in einer Stellungnahme der Konstanzer Universität, ‚zu der Jauß’ Kompanie gehörte, an diesen Exzessen gegen die Zivilbevölkerung, bei denen mindestens ein Mensch ermordet wurde, ist durch verschiedene zeitgenössische Quellen sowie Nachkriegsaussagen

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in den 1970er Jahren zu wirken und können nicht ignoriert werden, wenn es um ästhetische Prozesse geht und darum, welch einschneidende Veränderungen sie in diesem Jahrzehnt erfuhren. In Hans Magnus Enzensbergers polemischem Essay Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie aus dem Jahr 1976 laufen verschiedene Stränge zusammen, die dieses Thema betreffen: der neue Blick auf den Leser als erstzunehmende Größe im ästhetischen Prozess und eine damit einhergehende Krise der Interpretationssicherheit; und nicht zuletzt ist Enzensbergers Essay ein Beleg dafür, dass die in jenen Jahren übliche rebellischaufmüpfige Einstellung auch vor dem ästhetischen Diskurs keineswegs Halt macht. Außerdem kümmert sich Enzensberger um die lyrische Textform und damit um eine Gattung, die eher am Rande steht und die nur einen kleineren Kreis von interessierten Lesern und Wissenschaftlern anspricht. Da lyrische Texte aber in dem vorliegenden Band eine Rolle spielen, ist Enzensbergers engagiert vorgetragenes Plädoyer gleichzeitig eine Hinführung zu dem nachfolgenden Teil, der zunächst Rolf Dieter Brinkmann und anschließend Wolf Biermann gewidmet ist. Das ungewöhnliche Lyrikbuch Westwärts 1&2 von Rolf Dieter Brinkmann leitet ein neues Kapitel in der deutschen Lyrikgeschichte ein: Nicht nur dass Schwarzweißphotographien den Band beginnen und beenden, ist neu; neu sind auch die zahlreichen Langgedichte, die den Leseprozess zumindest scheinbar simultaner gestalten als üblich und die sich damit der filmischen Wahrnehmung anzunähern versuchen, wie Brinkmann überhaupt dem Film und der filmischen Technik aufgeschlossen gegenüberstand. Es sind ungewöhnliche Texte, die in diesem Band versammelt sind, Gedichte mit einem flüchtig wirkenden Charakter, mit kleinen und großen Alltagsbeobachtungen, genauen Orts- und Zeitangaben und vielen arabi-

nachgewiesen. Eine individuelle Tatbeteiligung von Jauß ist nicht nachgewiesen. Als Kompanieführer trug er jedoch Mitverantwortung an den Kriegsverbrechen des Bataillons, dem seine Kompanie angehörte. Ausgeschlossen ist, dass Jauß als Kompanieführer von den Verbrechen keine Kenntnis hatte.‘“ Lorenz Jäger: Transparenz des Selbst. Jauß und die Waffen-SS. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.5. 2015, Nr. 120, S. N 3. – Es ist einer der weiteren nicht auflösbaren Widersprüche der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass es ein ehemaliger Nazi war, der innovative und demokratisierende Impulse in die ästhetische Diskurse der 1970er Jahre eingebracht hat.

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schen Ziffern wie auch ökonomischen &-Zeichen. Ein sachlicher Ton hält Einzug in die deutschsprachige Lyrik, in der plötzlich Gegenstände wie Rolltreppen und Baugerüste ebenso vorkommen wie Fernsehgeräte, Küchenstühle und Konservendosen. Einige Texte oder Passagen sind eher prosanah gestaltet und brechen damit stur-steife Gattungszuordnungen auf. Es gibt aber auch Texte, die ‚lyrischer‘ sind und die zeigen, dass Brinkmann sich in unterschiedlichen Stilen bewegte. Der ganze Band ist ein Experiment, und zwar ein radikales, weil er es wagt, Lyrik aus jedem nur irgendwie hermetisch-esoterisch anmutenden Bereich herauszuholen und sie in das ‚normale, alltägliche Leben‘ zu integrieren. Der Stil vom erst posthum erschienenen Westwärts 1&2 deutet sich allerdings schon in den Dichtungen der 1960er Jahre an, weswegen dieses Kapitel eher vom lyrischen Dichten Rolf Dieter Brinkmanns handelt als ausschließlich von seinem Schreiben in den 1970er Jahren. Ganz anders erscheint das Werk von Wolf Biermann; nicht nur, weil er eher als Sänger bekannt wurde und bis 1976 in der damaligen DDR lebte, sondern auch weil seine Texte in eine ganz andere Richtung gehen. Während sich Brinkmann von jeder didaktisch-lehrhaften Pose weit entfernt hält und Aufklärung nicht anstrebt oder nicht für möglich zu halten scheint, ist Biermanns Dichtung engagiert, politisch und appellativ. Von Brinkmann kann eher ein Bogen zu Gottfried Benn geschlagen werden. 28 Biermann hingegen steht in der Tradition von Heinrich Heine und Bertolt Brecht. Er mischt sich – wie seine beiden Vorbilder – in politisch-gesellschaftliche Prozesse ein und bezieht kritisch Stellung zu aktuellen Ereignissen. Es ist sicherlich nicht zufällig, dass Biermann – genau wie seine beiden lyrischen Vorbilder – mit dem autoritären Herrschaftssystem in Konflikt geriet und ins ‚Exil‘ gezwungen wurde. Biermanns Ausbürgerung war 1976 ein Wendepunkt in der Geschichte der DDR und ein kulturpolitisches Signal, das zu zahlreichen Ausreiseanträgen von Künstlern und Intellektuellen führte. Schon aus diesem Grund muss in einem 70er-Jahre-Band auf diesen Autor eingegangen werden: Die DDR-BRD-Konflikte entzünden sich an seiner Person und seinem Werk, weil Gedichte – vorgetragen mit Gitarre und Gesang – unmittelbar wirken, vor allem dann, wenn mit dieser Lyrik eine Pro-

28 Vgl. dazu: Gottfried Willms: Großstadt- und Bewußtseinspoesie. Über Realismus in der modernen Lyrik, insbesondere im lyrischen Spätwerk Gottfried Benns und in der deutschen Lyrik seit 1965. Tübingen 1981, S. 53-95.

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testposition bezogen wird. Dabei spielt Filmisches insgesamt nur eine Nebenrolle, aber eines der Gedichte hätte ohne die Möglichkeiten der filmischen Technik nicht entstehen können, weswegen die Ballade vom Kameramann in diesem Kapitel nicht fehlen darf. Mein Vater „war auch ein guter Mensch und ein ziemlich guter Faschist. Die Schläge, die er reichlich und brutal verteilte im Rahmen des Üblichen und in der guten Absicht des Affekts, waren die ersten Belehrungen, die mir eines Tages als Belehrungen über den Faschismus bewußt aufgegangen sind. Die Zwiespältigkeiten meiner Mutter, die fand, daß so etwas sein mußte, es aber milderte, die zweiten.“29 Dass eine literaturwissenschaftliche Dissertation in den 1970er Jahren zu einem Kultbuch werden konnte, lässt sich erneut als Hinweis auf dieses Jahrzehnt lesen, in dem die Aufnahmebereitschaft für unkonventionelle Schriften groß war, vor allem wenn sie aktuelle Diskurse wie Faschismusund Geschlechter-Theorien verbanden. Wie schon die zitierten Sätze aus der Vorbemerkung von Klaus Theweleits zweibändigen Männerphantasien deutlich machen, hält sich der Autor nicht an die Regeln der akademischen Qualifikations- und Publikationspraxis, wenn er mit ungeschönten biographischen Informationen beginnt und die Widersprüche seiner Herkunft nicht leugnet. Der unkonventionelle Stil setzt sich über 1 000 Seiten hinweg fort, nicht zuletzt weil zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft triviale und popkulturelle Quellen ernstgenommen und zum Gegenstand einer philologischen Auseinandersetzung werden. Den Männerphantasien gebührt aber vor allem auch deswegen ein Platz in diesem Buch, weil sie mit einer unglaublichen Fülle von vielfältigstem Bildmaterial ausgestattet sind und damit Schrift und Bild gleichberechtigt behandeln. Schon in der Vorbemerkung erwähnt Theweleit das „Kino“, weil es für ihn als eines der „Stalingradkinder“ – die Kinder der „Niederlage“ in der Geschwisterfolge – zusammen mit „Elvis“ und dem ‚übrigen Amerika‘ wohl so etwas wie eine Rettung aus dem halbfaschistischen Familiensumpf wurde.30 Das Kino und seine filmischen Mythen haben auch die Männerphantasien beeinflusst, und vielleicht ist auch diese neue Offenheit gegen-

29 Klaus Theweleit: Männerphantasien. 1. Bd. frauen, fluten, körper, geschichte. Frankfurt/M 1977, S. 8. 30 Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1, S. 8.

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über einer populären Unterhaltungskultur einer der Gründe für den schnellen und durchschlagenden Erfolg des Buches. Ob es sich bei den Filmen von Visconti, Fassbinder und Rohmer um ‚Männerphantasien‘ handelt oder ob ihre weiblich-männlichen Inszenierungen nicht doch bereits auf anderen Genderdiskursen basieren, soll unter anderem im nachfolgenden Kapitel verhandelt werden. Vielleicht liegen die Ausführungen zu diesen Filmen am nächsten, wenn es um das Verhältnis von Film und Literatur geht, weil die drei Regisseure auf literarische Stoffe zurückgreifen und eine unmittelbare Verwandtschaft zwischen den Künsten oft schon in den Titeln der filmischen Werke angekündigt wird. Ungewöhnlich ist auf jeden Fall ein Vergleich der drei Filme, ungewöhnlich ist auch der Bezug zu den 1970er Jahren. Die zum Teil bekannt gewordenen Film werden neu gesehen, wenn der Frage nachgegangen wird, warum die jeweiligen Erzählstoffe der deutschen Literatur in diesem Jahrzehnt eine so große Attraktivität für europäische Regisseure gewinnen konnten und warum diese drei filmischen Experimente zu aussagekräftigen Beispielen der sogenannten ‚Literaturverfilmung‘ werden konnten. Alle drei Filme wagen etwas Neues. Für Viscontis Bearbeitung von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig deutet sich das schon im englischsprachigen Titel an: DEATH IN VENICE; das gleiche gilt für Fassbinders filmischer Auseinandersetzung mit Fontanes wohl bekanntestem Roman, wenn er den Titel wählt: FONTANE EFFI BRIEST.31 Eric Rohmer hingegen bleibt mit seiner MARQUISE VON O… bei Kleists Titel, wie er überhaupt versucht, nah an dem kleistschen Text zu bleiben. Es kann hoffentlich gezeigt werden, dass sich eine erneute Auseinandersetzung mit diesen fast schon zu Klassikern gewordenen Filmen lohnt, wenn es darum geht, die Verschmelzung von Film und Literatur zu verhandeln. Dass sich die Projekte von Peter Handke um seine beiden ‚linkshändigen Frauen‘ am Ende des Bandes befinden, soll die Ausnahmestellung die-

31 Neben Wim Wenders und Rainer Werner Fassbinder wäre noch auf Werner Herzog einzugehen, der als dritter Regisseur das deutsche Kino der 1970er Jahre geprägt hat. Das ist bereits andern Orts geschehen. Vgl. dazu: Elisabeth K. Paefgen: „In einer kleinen Stadt, an einem großen, stillen Teich …“. Werner Herzogs filmische Interpretation des Dramas um Georg Büchners Woyzeck. In: Dies.: Wahlverwandte. Filmische und literarische Erzählungen im Dialog. Berlin 2009, S. 136-147.

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ses besonderen Literatur-Film-Experiments betonen. Dabei passt die Linkshändige Frau so sehr in den Zeitgeist der 1970er Jahre, dass die Erzählung aus heutiger Perspektive schon fast programmatisch für die Erzählversuche dieses Jahrzehnts gelten kann: der auch politisch konnotierte Begriff ‚links‘ im Titel; eine weibliche Protagonistin, die ihr Leben verändert; und das alles in einer Form erzählt, die dem filmischen Erzählen entlehnt und damit neu für die deutsche Literatur ist. Während Wenders’ IM LAUF DER ZEIT eine neue filmische Inszenierung von Männerbeziehungen versucht, wird mit der Linkshändigen Frau eine ungewöhnliche schriftliche Präsentation eines weiblichen Emanzipationsprozesses ausprobiert. Dass der Autor der Erzählung dann nur kurze Zeit später selbst als Regisseur der LINKSHÄNDIGEN FRAU tätig geworden ist, beweist endgültig, wie selbstverständlich in diesen beiden Künsten inzwischen zusammengearbeitet wird und wie eng sie aneinander gerückt sind. Es ist gar keine Trennung mehr auszumachen, wenn Autor und Regisseur identisch sind und sowohl für die schriftliche als auch die filmische Realisierung verantwortlich zeichnen. Gleichzeitig ist es von Interesse zu sehen, wie die beiden Werke ausfallen, wie filmisch der Text und wie schriftlich der Film möglicherweise geworden sind. Peter Handkes schriftliches und filmisches Projekt ist der geeignete Abschluss eines Bandes, in dem Literatur und Film der 1970er Jahre ‚revisited‘ werden mit dem ersten Ergebnis, x

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dass sich die Annäherung der beiden Künste in unterschiedlichsten Varianten zeigt (Wenders, Plenzdorf, Böll, Brinkmann, Theweleit, Visconti-Fassbinder-Rohmer, Handke); dass ‚mehr‘ Politik in den Werken dieser Jahre vorhanden ist, als vielleicht angenommen (Wenders, Plenzdorf, Böll, Biermann, Theweleit); dass es zahlreiche Projekte gibt, die in dieser Form zum ersten Mal stattgefunden haben und die somit Neuland betreten (Wenders, Plenzdorf, Böll, Enzensberger, Brinkmann, Theweleit, Handke); dass die Beziehung zwischen den Geschlechtern nicht als privates, sondern als gesellschaftspolitisches Thema verhandelt wird (Wenders, Böll, Theweleit, Visconti-Fassbinder-Rohmer, Handke); dass wir es mit einem Jahrzehnt der ästhetischen Experimentierfreudigkeit zu tun haben.

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Dass es in den 1980er Jahren zunächst keine Fortsetzung dieser Entwicklung gegeben hat, wäre ebenso Thema einer weiteren Untersuchung wie auch die Frage, ob sich für die Jahrzehnte nach 1989 und bis in unsere Gegenwart hinein neue Experimente in eine Film-Literatur-Richtung abzeichnen. Vielleicht kann dieser Band dazu beitragen, die (deutschsprachige) Literatur stärker in Beziehung zum internationalen Film zu betrachten (und vice versa) und für daraus entstehende Formen der Dichtung beziehungsweise der filmischen Inszenierung offen zu sein.

DANKSAGUNG Danken möchte ich an dieser Stelle den Studierenden, die an der Freien Universität Berlin an den beiden Seminaren im WS 2007/2008 und im WS 2012/2013 teilgenommen haben und die mich durch ihre mündlichen Beiträge wie auch ihre schriftlichen Ausarbeitungen darin bestärkt haben, dem Thema weiter nachzugehen und dieses Buch zu schreiben. Danken möchte ich auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Vorlesung beziehungsweise des didaktischen Seminars zu diesem Thema im SoSe 2015; sie haben die Überarbeitung der Texte wie auch die Entstehung des Vorworts begleitet. Gedankt sei auch Karl Kelschebach, der als kritischer Korrekturleser den Texten noch einmal entscheidend ‚auf die Sprünge‘ geholfen hat. Nicht zuletzt gebührt Tom Drechsel ein ausdrücklicher Dank. Er hat sich sowohl der Manuskripte sorgfältig lektorierend angenommen als auch der Erstellung der Druckvorlage. Ohne seine sprach- und technikkundigen Talente wäre das Buch nicht fertig geworden. Berlin, im Mai 2015

Filmen – Fahren – ‚Freundschaften‘. Wim Wenders’ Film IM LAUF DER ZEIT (1976)

E IN DEUTSCHES

ROAD MOVIE

Wim Wenders’ Film IM LAUF DER ZEIT hat das deutsche Kino der 1970er Jahre (und darüber hinaus) verändert. 1 Der Film brachte neue männliche ‚Helden‘, neue dokumentarähnliche Bilder und nicht zuletzt eine neue (Über-)Länge in die deutsche Kinolandschaft jenes Jahrzehnts. Das melancholische road movie, das in der verlorenen Landschaft der deutschdeutschen Grenze spielt, passt in die Stimmung der 1970er Jahre hinein und spiegelt die nach 1968 entstandenen Lebens- und Umgangsformen. Auch Wim Wenders’ zwei Jahre früher entstandener Film ALICE IN DEN STÄDTEN ist ein road movie. Auch dieser Film diskutiert ungewöhnliche Beziehungskonstellationen. Auch dieser Film spielt mit Wuppertal und mit Städten des

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„Im Lauf der Zeit wurde auf dem Filmfestival in Cannes gezeigt und prompt mit einem Kritikerpreis bedacht. […] In den großstädtischen Zentren der Bundesrepublik war der wenig dramatische und fast drei Stunden lange Film aber zum Kultfilm des Jahres 1976 aufgestiegen. Er wurde zeitweise mit immerhin 15 Kopien vertrieben und erreichte damals 120 000 Zuschauer. Im Münchener Arri-Kino gab es Hausrekord.“ Reinhold Rau: Wim Wenders und seine Filme. München 1990, S. 58. – „Soll ich zugeben, dass ich im März 1976 aus dem Internat abgehauen bin, mich eine Nacht in München herumgetrieben habe … nur um im Arri ‚Im Lauf der Zeit‘ zu sehen? Glaubt doch keiner.“ Willi Winkler zitiert nach: Horst Fleig: Wim Wenders. Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie. Bielefeld 2005, S. 179.

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Ruhrgebiets, was bis dahin nicht unbedingt kinoverdächtige Regionen Deutschlands waren. Aber die ALICE-Geschichte ist in ihrem Radius beschränkter und im Unterschied zu dem späteren IM LAUF DER ZEIT weniger zeitdiagnostisch. IM LAUF DER ZEIT greift hingegen zahlreiche Diskurse der Zeit auf, wenn er zum Beispiel ausgiebig die neuen Beziehungskulturen zwischen Männern beziehungsweise zwischen Männern und Frauen thematisiert, wenn er brüchige Familien- beziehungsweise spezifisch deutsche Geschichten erzählt und wenn er den Untergang einer bestimmten Kinokultur in Filmbilder und -töne fasst. Es ist der erste deutsche Film, dem es gelingt, die deutsche Landschaft in einer Weise zu zeigen, die sie den bekannten Bildern des amerikanischen Western vergleichbar macht, 2 und es ist der erste deutsche Film, der einen Mann unbefangen und wie nebenbei bei seinem Stuhlganggeschäft zeigt. 3 Dass der Film Mitte der 1970er Jahre schnell zum Kultfilm wurde, hängt sicherlich mit einigen der genannten Aspekte zusammen; es steht aber sicherlich auch im Zusammenhang damit, dass die spontane, improvisierte und mit dem Zufall arbeitende Machart des Films den Bildern anzumerken blieb und damit ein auf technische Perfektion ausgerichtetes Medium wie der Film in einer ganz neuen Stillage zu sehen war. Wenngleich die epische Breite des Films, der in ruhigen, langen Einstellungen eigentlich zeigt, wie ‚nichts‘ geschieht,4 für heutige Sehgewohnheiten befremdlich wirkt, so machen all die genannten Faktoren zusammengenommen IM LAUF DER ZEIT doch über seine Zeit hinaus zu einem Werk, das

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„[…] under Wender’s big sky, Germany turns into a big and empty country.“ Gerd Gemünden: On The Way to Language: Wender’s Kings of the Road. In: Film Criticism 15 (1991) H. 2, S. 13-28, hier: S. 17.

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„Die Kamera zeigt allerdings (in einer für den Spielfilm einzigartigen Form an Intimität), daß Bruno in einer Düne weißen Quarzsandes ein ‚großes Geschäft‘ macht.“ Andreas Rost: Kinostunden der wahren Empfindung: Herzog, Wenders, Fassbinder und der Neue deutsche Film. In: Michael Schaudig (Hg.): Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematographie: Strukturen, Diskurse, Kontexte. München 1996, S. 367-408, hier: S. 390.

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Vielleicht ist das gerade der Grund, warum Michael Covino zu folgendem Schluss kommt: „Kings of the Road is one of the rare films […] where we are conscious throughout the actual viewing that almost any still would make a firstrate photograph.“ Michael Covino: Wim Wenders. A Worldwide Homesickness. In: Film Quarterly 31 (1977/78) H. 2, S. 9-19, hier: S. 14.

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über ästhetische Tendenzen des Neuen Deutschen Films ebenso Auskunft zu geben vermag wie auch über ein Jahrzehnt, in dem einerseits auf Jahrmärkten noch Kerzen in Form eines Hitlerkopfes verkauft werden konnten und andererseits die Folgen der sexuellen Liberalisierung das letzte Dorf der Provinz erreichten. IM LAUF DER ZEIT ist ein Dokument seiner Zeit wie es auch gleichzeitig ein Dokument deutscher Film- und Kulturgeschichte ist. Das soll in drei Durchgängen durch den Film gezeigt werden, die jeweils der Chronologie des Films folgen und einmal die Kinogeschichte, dann die verschiedenen technischen Arten der Fortbewegung und zuletzt die Beziehung der beiden Protagonisten zueinander in den Mittelpunkt stellen. Auf diese Weise werden drei Lektüren von IM LAUF DER ZEIT vorschlagen, die alle gleichermaßen möglich sind, die aber jeweils andere ‚Filme‘ ergeben.

„WENN NOCH FILME PRODUZIERT WERDEN …“ „dann wird ein Kino, das heute in einer kleinen deutschen Stadt existiert, auch in zehn Jahren noch existieren“, sagt der ehemalige Filmmusiker und heutige Kinobesitzer in der Eingangsszene zu dem Techniker, der seine Vorführanlage wartet, und wiederholt den Konditionalsatz noch einmal bekräftigend mit der Betonung auf „Filme“. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Zuschauer bereits, dass die Szene im Jahr 1975 spielt, weil kurz zuvor eine Schrifttafel eingeblendet wurde, der zu entnehmen ist, dass der nachfolgende Film „in 11 Wochen zwischen dem 1. Juli und dem 31. Oktober 1975 zwischen Lüneburg und Hof entlang zur Grenze der DDR“ gedreht worden ist. Und wenn er den Film heute sieht, weiß er auch, dass der Kinobesitzer in der fränkischen Provinz im weitesten Sinne Recht behalten sollte, dass zwar in den vergangenen vierzig Jahren viele, viele Kinos geschlossen wurden, dass aber auch viele neue Kinoformen entstanden sind und dass es auch in kleineren Städten immer noch Kinos gibt. Wim Wenders bezeichnet in der von ihm kommentierten Filmfassung diese zufällig entstandene Szene als „Prolog“;5 sie habe ihm immer gut gefallen, aber man habe sie nicht recht in dem Film unterzubringen gewusst, so dass man sich schließlich entschieden habe, sie den credits und dem eigentlichen Film voranzu-

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Wim Wenders: Im Lauf der Zeit. Arthaus 2005.

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stellen: Dort ‚steht‘ sie gut, weil sie die kontinuierliche Veränderung des Kinos sowohl melancholisch als auch optimistisch debattiert und damit gleich zu Beginn einen Metadiskurs startet in einem Film, in dem es eben auch um Film und um die damit in Verbindung stehende Kultur geht. Und in einem weiteren Sinne ist die prologartige Szene kennzeichnend für IM LAUF DER ZEIT, wenn der Kinobesitzer trocken und lakonisch fortfährt, dass er bis Anfang der fünfziger Jahre das Kino nicht betreiben durfte, weil er während des Nationalsozialismus „Parteimitglied“ gewesen ist. Dem Zuschauer stockt kurz der Atem, da er den älteren Mann eigentlich bisher ganz sympathisch gefunden hat, aber dann ergänzt der Kinobesitzer wie selbstverständlich, dass er in der SPD war und „net in der NSPADAD oder wie di geheißen hobn“.6 Die Nazis haben ihm das Kino weggenommen, und um es wieder betreiben zu dürfen, musste er Anfang der 1950er Jahre prozessieren. Auf mehreren Ebenen wird damit deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts kommentiert: Auf der einen Seite diskreditiert der Versprecher die mörderische nationalsozialistische Partei und gesteht ihr nicht einmal mehr ihren richtigen Namen zu; auf der anderen Seite wird aber auch die Nachkriegszeit diskreditiert, wenn der Mann sein Kino nicht einfach wieder eröffnen durfte, sondern vor Gericht über ein Jahr lang darum kämpfen musste. Damit wird ganz nebenbei und ohne didaktische Anstrengung Film- und Kinogeschichte mit der politischen deutschen Geschichte verbunden.7 Während sich dieser Noch-Kinobesitzer vorsichtig optimistisch über die Zukunft des Kinos äußert, hat die Frau, die zum Ende des Films das Wort erhält, bereits aufgegeben und sich dafür entschieden, ihre Kino zu schlie-

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Wie missverständlich diese Szene ist, kann man daran sehen, dass Horst Fleig noch 2005 davon ausgeht, der Kinobesitzer sei „NSDAP-Mitläufer“ gewesen. Fleig, Wenders, S. 181.

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„Die Geschichte wird im Neuen Deutschen Film fast ausschließlich im Kontext des Faschismus und seinem verspäteten Nachspiel gesehen […]. Die Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung, mit der eine Generation in den 50er Jahren aufwuchs, war anscheinend immer noch eine Hypothek, als sie in den 70er Jahren Filme machte, und forderte zu der Frage heraus, was es denn heißen könnte, ein Deutscher zu sein.“ Thomas Elsässer: Der Neue Deutsche Film von den Anfängen bis zu den neunziger Jahren. München 1994, S. 294. [1. amerikan. Aufl. 1989].

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ßen, weil sie die Filme, die ihr angeboten wurden, nicht für wert fand, gezeigt zu werden. Sie äußert sich empört darüber, dass die großen Verleihfirmen, von denen die Landkinos abhängig seien, diesen nur noch Filme anböten, „wo die Menschen wie erstarrt und betäubt von Dummheit herausstolpern, wo ihnen jede Lust am Leben vernichtet wird. Wo ihnen jedes Gefühl von sich und der Welt absterben muss.“8 Sie hat ihr Kino geschlossen, hält es aber in Stand für den Fall, dass sich die Zeiten einmal wieder ändern sollten. Damit wird IM LAUF DER ZEIT gerahmt von zwei dokumentarähnlichen Szenen,9 in denen Kommentare zum Filmgeschäft abgegeben werden aus der Perspektive von Menschen, die finanziell vom großen Filmgeschäft abhängen, die keinen Einfluss nehmen können auf seine Gestaltung und Entwicklung und die selten zu Wort kommen. Und damit wird gleichzeitig das Thema angesprochen, das wohl ein Auslöser für den Film überhaupt gewesen ist: Kino – und damit Kultur – in einer bevölkerungsarmen und wirtschaftlich schwachen Region beziehungsweise die Entwicklung der Filmindustrie in den 1970er Jahren. Bruno Winter (gespielt von Rüdiger Vogler), der die beiden Gespräche führt, ist einer der beiden Protagonisten aus IM LAUF DER ZEIT. Als king of the road fährt er in einem alten Möbelwagen entlang der Grenze zur damaligen DDR und repariert beziehungsweise wartet die Vorführanlagen in den Kinos der kleinen Dörfer und Städte dieser Region. Begleitet wird er dabei von Robert Lander – einer „Art Kinderarzt“ wie er selbst sagt 10 –, der sich

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Uwe Künzel: Wim Wenders. Ein Filmbuch. 3. erw. Aufl. Freiburg 1989, S. 120. [1. Aufl. 1981; 2. Aufl. 1985].

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Wim Wenders erläutert im Audiokommentar, dass er die zweite Szene zwar so mit einer Kinobesitzerin erlebt habe, dass die Frau aber nicht im Film habe vorkommen wollen. Aus dem Grund sei das Gespräch mit einer Schauspielerin nachgestellt worden.

10 Vielleicht ist dieser Beruf auch ein Grund, warum so oft Kinder vorkommen in IM LAUF DER ZEIT, vor allem in Verbindung mit Robert. Die erste Begegnung, die der rasende Robert in seinem ‚Käfer‘ während eines kurzen Halts an einer Tankstelle hat, ist eine mit Kindern, die mit Hüpfbällen und Gummibändern spielen. Es findet eine gestische, aber wortlose Verständigung mit ihnen statt. Auch als er in Lüchow im Führerraum des Lastwagens erwacht und – weil Bruno abwesend ist – durch den Ort schlendert, gesellt er sich zu Kindern, die unter einer Brücke aus Zeitungspapier Schiffchen basteln und schwimmen

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in einer Lebenskrise befindet und während dieser Kino-Reise eine ‚Auszeit‘ von seinen Problemen nimmt. Dieses Handlungsgerüst schafft die Basis für die Kommentierung der deutschen Land-Kinokultur in den 1970er Jahren. Die Kinos haben oft Namen, in denen noch der alte Begriff ‚Lichtspiele‘ vorkommt oder sie heißen ‚Roxy‘ beziehungsweise tragen Kürzel wie ‚WW‘ (‚Weiße Wand‘) und ,CC‘ (Cinema Central?). Letzteres ist ein wunderschönes Kino in der Ästhetik der 1950er Jahre, dessen Foyer mit unterschiedlichen nierenförmigen Möbeln eingerichtet ist. Es erinnert an eine Zeit, in der das Kino Hochkonjunktur hatte. Wim Wenders erläutert in dem Audiokommentar, dass er zweimal die Strecke zwischen Lüneburg und Hof gefahren sei und auf diesen Reisen alle Kinos aufgesucht hätte, die es in den Dörfern und Städten jener Region gegeben habe. Von diesen Kinos habe er dann ein Dutzend ausgesucht, die quasi das ‚Drehbuch‘ des Films gebildet hätten: Bis auf den schriftlichen Entwurf der Eingangsszene des eigentlichen Films sollten vor allem die Reiseroute beziehungsweise die Dorf- und Kleinstadtkinos den Film lenken und leiten. Wenngleich sich im Lauf des Films auch noch andere Geschichten entwickeln, die mit den ‚Biographien‘ der beiden Hauptprotagonisten in Zusammenhang stehen, so gelangt der Film nach kurzen ‚Abwegen‘ doch immer wieder zurück auf diesen sterbenden Kinoparcours, der letztlich die Motivation für die filmische Reise vorgibt und der zu einem sentimentalen Klagegesang über den Untergang einer Kultur führt. Auf unterschiedliche Weise werden dabei die Kinokultur und die damit zusammenhängenden räumlichen wie technischen Gestaltungen genutzt, um zu zeigen, was verloren gehen wird. So sehen wir Bruno und seinen Reisekollegen Robert immer wieder in kurios eingerichteten Vorführräumen, in denen sich neben den zum Teil uralten technischen Geräten über die Jahre hinweg auch ein Sammelsurium von Dingen eingefunden hat, die diesen Kammern eine ganz eigene Ästhetik verleihen. Schon die Gänge zu den Vorführräumen sind manchmal abenteuerlich und erinnern an Auf- und Abstiege zu geheimen Orten, deren Zugänge nur Eingeweihten bekannt und zugänglich sind. Damit wird dem Kino die Aura des Geheimnisvollen und Überraschenden zurückgegeben, die es in seinen Anfangszeiten gehabt ha-

lassen. Und die Initiative, die im Kinosaal wartende Schulklasse mit einer Pantomime zu unterhalten, geht ebenfalls von Robert aus. Vgl. dazu auch: Covino, Homesickness, S. 14. Vgl. dazu auch: Fleig, Wenders, S. 168.

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ben muss. An diese Anfangszeiten des Kinos erinnert auch einer der ersten Höhepunkte der Kinoreise, wenn die beiden Männer hinter der Kinoleinwand mit den dort herumliegenden Utensilien ein Schattenspiel aufführen und dabei Kinohelden wie Charlie Chaplin und Tarzan imitieren, sehr zum Vergnügen der im Kinosaal sitzenden Schulklasse. Hier doppeln sich die Filmbilder, sehen wir die Leinwand mit den pantomimisch agierenden Schauspielern als Spiel im Spiel. Gleichzeitig wird mit einer sowohl Stummfilm- als auch Slapstick-Ästhetik das frühe Kino zitiert, das zumindest mit seiner Stummfilmtradition auch IM LAUF DER ZEIT beeinflusst, einen Film, in dem die (englischsprachige) Musik phasenweise wichtiger ist als die Dialoge und der zeitweise ohne Sprache auszukommen scheint.11 Wie anders die Filme sind, die in jenen Jahren gemeinhin in diesen Kinos gezeigt wurden, wird besonders deutlich, wenn king of the road Filmschnipsel, die er in einer Vorführkabine gefunden hat, zu einem kleinen Film montiert, den er dann der Kartenverkäuferin des Kinos präsentiert. 12 Dieser kleine Film, der in Form einer Endlosschleife immer wieder abgespielt wird, zeigt Bilder von Gewalt, von Katastrophen und Sexualität; begleitet werden die heftigen Bilder auf der Tonspur von schwerem Stöhnen beziehungsweise einer hektischen männlichen Stimme, die immer wieder sagt: „Härte, Action, Sinnlichkeit – 90 Minuten Film, die Ihnen kein Fernsehen …“ Die Fortsetzung des Satzes ist einfach, und die damit verbundene Werbeaussage für das Kino ist eine Werbung für die Form der Unterhaltungsindustrie, wie sie in den 1970er Jahren auf dem Lande nahezu ausschließlich gezeigt wurde. Dieser Schnipselfilm ist der unverhohlenste

11 Musik ist überhaupt ein wichtiges Mittel der Verständigung dieser beiden sich wortkarg gebenden Gestalten. Ihre gemeinsame Fahrt wird von Beginn an von Musik begleitet. Bevor Robert überhaupt einen Satz gesagt hat, wird ein song gespielt; Bob Dylan wird des Öfteren zitiert; und der transportable Schallplattenspieler ist fast ein Mitspieler: „More importantly, however, the scene suggests that American and British pop music will make up for the lack of verbal exchange between the two protagonists by providing a means of communication to which they can both relate.“ Gerd Gemünden: On the Way to Language: Wenders’ Kings of the Road. In: Film Criticism 15 (1991) H. 2, S. 13-28. 12 Wim Wenders erläutert im Audiokommentar, dass es sich in der Tat um Filmschnipsel handelt, die er in den vielen Vorführkabinen gefunden hat, die auf dieser Kinoreise besucht worden waren.

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Kommentar zur Lage der großen Filmindustrie, der in IM LAUF DER ZEIT abgegeben wird, und wenn dieser kleine Film im Hintergrund wieder und wieder läuft und wir immer wieder den in der Luft hängen bleibenden Satz und das bezeichnende Stöhnen hören, so wirkt diese Montage wie ein lauter Protest gegen die damalige ‚Softpornokultur‘. Ein weiterer Protest gegen dieses auf billige Weise sexualisierte Kino findet statt, wenn Bruno sich von Robert überreden lässt, einen dieser Filme nicht bis zum Ende zu zeigen. Obwohl Bruno zugesagt hatte, den krank gewordenen Vorführer in einem dieser Provinzkinos zu vertreten, machen sich beide mitten in der Vorführung heimlich davon und lassen das Publikum zurück. Diese Filme muss man nicht bis zum Ende sehen! Und sehen muss man diese Filme überhaupt nicht: Deswegen bekommen wir sie auch nie gezeigt, höchstens der vielsagende Ton dringt manchmal in die filmische Diegese hinein. Nur ein einziges Mal sehen wir auch Bilder, aber in einer verzerrten und verkleinerten Form, wenn ein Vorführer sich in seiner Kabine ein kleines Privatkino zurecht gebaut hat, mit dem ihm eine Sichtung des im Saal gezeigten Films gelingt. Er benutzt ihn zur Masturbation, wobei er von Bruno erwischt wird, der gekommen ist, um sich über das unscharfe Bild zu beschweren. 13 Auch diese Szene grenzt – wie schon das Kotausscheiden auf freiem Feld – an einen Tabubruch, ist aber gleichfalls ein Versuch, das Kino der damaligen Jahre zu kommentieren: Dass diese Filme (nur) zur Selbstbefriedigung taugen, muss in einem Film, der vor allem mit Bildern und weniger mit Sprache operiert, unbedingt auf diese Weise gezeigt (und kann nicht nur erzählt) werden. Das letzte Kino, das die beiden ‚Helden‘ zusammen aufsuchen und dessen Anlage Bruno instand setzt, ist jenes 1950er Jahre-Kino ‚CC‘, das eine museumsreife Außengestaltung und Inneneinrichtung vorzuweisen hat. Gleichzeitig lernen wir hier einen weiteren Filmvorführer kennen, der die Reihe der Originale, die um das Provinz-Kino herum entstehen, vervollständigt. Seine Hosenträger haben die Farben der amerikanischen Flagge und seine Nase ist in der Folge eines Motorradunfalls eingedellt. Aber der

13 Vgl. dazu: die psychoanalytisch orientierte Interpretation dieser Szene von Timothy Corrigan: Wender’s [sic!] Kings of the Road: The Voyage from Desire to Language. In: New German Critique (1981/1982) H. 24-25, S. 94-107. – Und eigentlich wird der masturbierende Filmvorführer nicht nur von Bruno, sondern auch von uns Zuschauern bei seinem heimlichen Tun ‚erwischt‘.

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junge Mann weiß eine alte Musikbox zu schätzen und lässt sich von Bruno die Funktion des Malteserkreuzes für die Filmvorführung erklären. Wenn er zum Ende der Szene unvermittelt und unbegründet die Flamme eines Feuerzeugs in den Mund steckt, wirkt er wie ein Feuerschlucker aus dem Zirkusambiente. Wim Wenders bezeichnet ihn in der von ihm kommentierten Filmfassung als „Abenteurer“ beziehungsweise als „Robert Mitchum“ und verleiht ihm mit der Nennung dieses Schauspielernamens einen geheimen Ehrentitel.14 „Mein Vater wollte, dass es hier im Ort weiter ein Kino gibt. Ich auch. Aber so wie es jetzt ist, ist es besser, es gibt kein Kino mehr, als dass es ein Kino gibt, so wie es jetzt ist“, sagt die von Wenders als „sehr kühne alte Dame“ bezeichnete ehemalige Kinobesitzerin. Dieses entschieden ausgesprochene Statement sind die letzten Worte des Films. Sie fassen zusammen, was Bruno auf dieser – vielleicht seiner letzten Tour durch die Kinos der Grenzregion – gesehen hat: Er zerreißt am Schluss seinen Einsatzplan, auf dem die Kinoroute verzeichnet ist. Es bleibt jedoch offen, was dieser symbolische Akt bedeutet: Hat Bruno für dieses Mal seine Aufgabe erledigt? Hat er erfahren, dass es für seine Arbeit keine Zukunft mehr gibt? Oder hat er für sich entschieden, die Kinoreise nicht länger weiterführen zu wollen?15 Nach den entschieden ausgesprochenen Worten der „kühne[n] alte[n] Kinodame“ bleibt es dem Zuschauer überlassen, eine Deutung vorzunehmen. Der leere Schaukasten des Kinos ‚Weiße Wand Lichtspiele‘ im bayrischen Hof, der unter den Überschriften ‚Heute‘ und ‚Demnächst‘ keine Angaben mehr enthält, verheißt allerdings nichts Gutes und dokumentiert mit seiner text- und bildlosen Leere, was in Zukunft in diesem Ort fehlen wird. Der Name des Kinos wird auf diese Weise wirkliches Programm, die Kinoleinwand wird in Zukunft tatsächlich weiß bleiben! Wenn dann aus den Leuchtbuchstaben ‚Weiße Wand‘ am Schluss nur noch ein ‚E‘ und ‚ND‘ leuchten, so wird aus dem Eigennamen des Kinos immerhin noch das Ende des Films ‚gerettet‘, aber mit diesem end wird IM LAUF DER ZEIT nicht nur das Ende des Films bezeichnet, sondern auch das einer Epoche.

14 Im Laderaum des Lastwagens hängt ein Filmplakat, auf dem Robert Mitchum abgebildet ist, eine besondere Anerkennung dieses amerikanischen Filmschauspielers. 15 Fleig entscheidet hier eindeutiger: „Dieser Filmwirtschaft ist nicht mehr zu helfen.“ Fleig, Wenders, S. 179.

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Der Film bezieht eindeutig Position, was diese Kinokultur angeht und was das Ende der kleinen Landkinos betrifft. Der kritische Blick auf das Filmangebot der damaligen Zeit und der traurige Blick auf das Sterben der Lichtspieltheater sind dem Film in aller Eindeutigkeit eingeschrieben. Diesen Bildern vom ausweglosen Niedergang könnte man eine kulturpessimistische Haltung vorwerfen. Immerhin gibt es heute im bayrischen Hof (noch? wieder?) zwei Kinos, die zwar nicht mehr so poetische Namen tragen wie ‚Weiße Wand‘, die aber immerhin eine Kinokultur aufrecht erhalten, und das ‚Roxy‘ in Helmstedt, das Bruno zu Beginn seiner Tour aufsucht, existiert sogar nach wie vor unter demselben Namen und beweist einmal mehr, dass der optimistische Kinobesitzer, der zu Anfang des Films seine Prognose abgibt, in der Tat Recht behalten hat. Auch in Lüchow, wo die Reise startet, gibt es ein Kino, ein anderes als das, das Bruno und Robert aufsuchen, aber es gibt eines, und auch die Phase der ‚Softpornos‘ ist schon lange vorüber (und vom Internet abgelöst worden!). Man könnte nun darüber nachsinnen, ob die amerikanische blockbuster-Kultur, die das Programm dieser Kinos heute bestimmt, neuen Anlass zu Pessimismus gibt. IM LAUF DER ZEIT hat seine Stärken dort, wo er in einem neuen, indirekten Stil dokumentarisch arbeitet und mit unaufwendig-zufälligen Bildern festzuhalten sucht, was es in dieser Form bald nicht mehr geben wird. In seinen Aussagen fehlt ihm hingegen die verhaltene Zuversicht des im Prolog auftretenden Kinobesitzers, der den Wandel der Kinokultur von der Stummfilmzeit an über den politischen Niedergang der Nazizeit hinweg bis in das Nachkriegskino erlebt hat und sich dennoch ‚traut zu behaupten‘, dass es auch in zehn Jahren in kleinen Städten noch Kinos geben wird, und der mit seiner Einschränkung, – „wenn noch Filme produziert werden!“ – den Möglichkeiten unablässiger Veränderung (gelassen?) entgegen sieht. 16

16 Wim Wenders scheint inzwischen zu einer vergleichbar gelassenen Haltung gefunden zu haben, wenn er 2011 in einem Radiointerview, das anlässlich der Premiere seines erstmals in 3D hergestellten Films PINA geführt wurde, sagt, dass die 3D-Technik inzwischen genauso zur Kinokultur gehört wie auch die DVD-Rezeption am heimischen Bild- oder Fernsehschirm.

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„WHEN THE TRAIN COMES INTO THE STATION …“ IM LAUF DER ZEIT ist nicht nur ein road movie, sondern auch ein Film, in dem in den unterschiedlichsten Fahrzeugen gefahren wird und in dem die unablässige Bewegung der Filmbilder mit der ebenso unablässigen Bewegung der Protagonisten in skurrilen Fortbewegungsmitteln, die man in dieser Anhäufung in einem deutschen Film bisher noch nicht gesehen hat, korrespondiert. Und wenn der Film hinsichtlich der Kinokultur einen elegischen Klagegesang nicht vermeiden kann, so gelingt ihm der Blick auf Autos, Möbelwagen, Busse, Hüpfbälle, Züge, Motor- und Fahrräder distanzierter und neutraler. Es sind Gebrauchsgegenstände, deren Nutzung absichtsloser gezeigt wird. Gleichwohl bestimmen sie den Rhythmus und den Stil des Films und geben ihm so etwas wie eine meditative Dynamik. Wenn die alten Vorführmaschinen dazu dienen, die Filmrollen zum Laufen zu bringen, so dient der große behäbige Möbelwagen, mit dem Bruno an der DDR-Grenze entlang fährt, eben auch zur Inszenierung der vorbeiziehenden deutschen Landschaften,17 die in diesem Film eine ungewöhnliche Weite erhalten und die – wie Wenders im Audiokommentar trocken sagt – aussehen „wie Amerika“. Es ist dann auch gleich ein solch ‚amerikanischer‘ Blick auf eine norddeutsche Flusslandschaft, der den Film nach den credits einleitet und der uns die Elbe im Gebiet von Lüchow-Dannenberg zeigt. Und es ist nicht der riesige Möbelwagen, den wir als erstes zu sehen bekommen, sondern ein Personenwagen, der in überhöhtem Tempo über eine Landstraße rast und eine weiße Staubwolke hinter sich zurücklässt. Dieses als ‚VW-Käfer‘ bekannt gewordene Verkehrsmittel kann sowohl als ein Hinweis auf die deutsche Nazigeschichte verstanden werden als auch auf einen Autokult,18 der gerade um dieses Modell herum entstanden war.

17 „[…] and in one lovely, stunningly executed shot we see Bruno and Robert in sharp close-up as they drive; the landscape, perfectly horizontal, whizzing by in the background; and on the curve of the rearview mirror the landscape, perfectly vertical, unwinding in a blur like a reel.“ Covino, Homesickness, S. 14. 18 Der Höhepunkt dieses Kults war wohl die amerikanische Filmkomödie aus dem Jahr 1968, in der unter dem Titel THE LOVE BUG ein weißer ‚VW‘-Käfer mit einem menschlichen Eigenleben ausgestattet die ‚Hauptrolle‘ spielt. Der Film, der in Deutschland unter dem Titel HERBIE EIN TOLLER KÄFER 1969 ins Kino kam, bildete den Auftakt einer Reihe von drei weiteren Filmen, in denen dieses

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Dass dieser Wagen dann von Robert zielstrebig und ohne jedes Zögern – mit suizidalen Absichten (?)19 – in die Elbe gefahren wird und dort ‚ersäuft‘, ist vielleicht auch als Kommentar auf eines der ambivalenten Autosymbole deutscher Geschichte und Kultur im 20. Jahrhundert zu verstehen.20 Eigentlich kann man sich für die Kamikaze-Szene am Anfang von IM LAUF DER ZEIT kein anderes Auto vorstellen! Während das Modell, das da ins Wasser gefahren wird, in jenen Jahren sehr bekannt und weit verbreitet war, ist der riesige Möbelwagen, in dem Rüdiger Vogler fast residiert, eher ein Unikat, das sich jeder kulturellen Zuordnung verweigert und das in seinen Ausmaßen und seiner Gestaltung eine besondere Botschaft vermittelt; dies umso mehr, als ihm an beiden Seiten überdimensionierte Flügel aufgemalt sind, wodurch der Ausnahmestatus dieses Gefährtes noch zusätzlich unterstrichen wird. Im Laufe des Films sieht der Zuschauer nach und nach, dass auf den Innenseiten der beiden Ladeklappen in riesengroßen Buchstaben ‚HERMÈS‘ aufgemalt ist. Wenders bezeichnet den Lastwagen im Audiokommentar denn auch als „Götterbote“ und die aufgemalten Flügel als „Hermesflügel“. 21 Mit dieser mythologischen Anspielung bekommt der ausrangierte Möbelwagen eine besondere

Automodell im Mittelpunkt stand. – Dieses Auto wurde im nationalsozialistischen Deutschland 1938 entwickelt und sollte unter dem Namen ‚KdF‘ (Kraft durch Freude) breiten Bevölkerungsschichten die Anschaffung eines ‚Volkswagens‘ ermöglichen. Es wurde bis 2003 hergestellt und war lange Zeit das meistverkaufte Automodell der Welt, bis es vom ‚VW-Golf‘ übertroffen wurde. 19 Horst Fleig ist sich sicher, dass Robert einen „Suizidversuch“ unternimmt und dabei „in einen metaphorischen Geburtsvorgang in der Nähe dieses ‚Hermes‘Transporters“ landet. Fleig, Wenders, S. 167. 20 Erinnert wird an diese Tradition nochmal ein wenig später im Film, als Robert in Wolfsburg eigentlich in einen Zug steigen will, und eine totale Einstellung den Bahnhof zeigt, hinter dem die Türme des ‚VW‘-Werks aufragen, erkenntlich an dem bekannten Logo der Firma, das an einem der Türme oben angebracht ist. 21 Einmal nennt er ihn „Kutsche“, um an die Tradition des Westernfilms zu erinnern, in die sich IM LAUF DER ZEIT auf jeden Fall auch einschreibt.

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Funktion, da Hermes – neben anderen Aufgabengebieten22 – nicht zuletzt als Schutzgott der Reisenden gilt. Ob der Fahrer des Lastwagens damit als Schutzgott selbst fungiert – vielleicht für die untergehende Kinokultur (?) – oder ob mit der doppelten Hermes-Beschwörung Schutz für ihn und seine Mitreisenden angefordert wird, bleibt offen.23 Auf jeden Fall ist die mythologische Kontextualisierung dieses originellen Fahrzeugs von dem Rhythmus und Stil des Films in besonderer Weise geprägt werden, ein Subtext, der die dokumentarisch-realistische Seite der Bilder ergänzt.24 Der fahrende Götterbote, der an seiner Stirnseite auch noch von einem munteren ‚Michelin-Männchen‘ geschmückt wird und damit ein bekanntes Symbol zitiert, das für eine französische Autoreifenfabrik steht,25 wird vielseitig eingesetzt in diesem Film: selbstverständlich als Fortbewegungsmittel, aber auch als nächtliche Herberge, als Frühstückscafé, als Aufenthaltsraum, als therapeutisches Behandlungszimmer, als Musiksalon, als musealer Aufbewahrungsort und natürlich als Lagerstätte für die Ersatzteile und Werkzeuge, die Bruno benötigt, um die Vorführanlagen zu reparieren und zu warten. Das

22 Hermes gilt auch als Schutzgott der Handelsleute und der Diebe; außerdem begleitet er die Schatten in der Unterwelt und ‚arbeitet‘ als Bote des Göttervaters Zeus. 23 Horst Fleig interpretiert eindeutiger und sieht in dem Fahrer des Wagens einen Hermes-Abkömmling, der seinen Mitreisenden Robert wieder ins Leben zurückführt. Fleig, Wenders, S. 166-167. Fleig ordnet IM LAUF DER ZEIT in ein Kapitel ein, das er „Hermes-Trilogie“ überschreibt und zu dem neben diesem Film auch noch DER AMERIKANISCHE FREUND und DAS MILLION DOLLAR HOTEL gezählt werden. Allerdings sieht Fleig in Bruno Winter auch einen „Patron des Kinos“, der als „technisch versierter Musengott“ dem alten Kino auf die Sprünge helfen kann. Fleig, Wenders, S. 186. 24 Aus diesem Grund bleibt es etwas unverständlich, wenn Uwe Künzel davon spricht, dass es „selten […] eine Kino-Story [gab], die so direkt nur sich selbst ausstellt, in der es nichts, aber auch gar nichts ‚zwischen den Bildern‘ gibt, was nicht ganz offen in ihnen auch zu sehen wäre.“ Künzel, Wenders, S. 123. 25 Das aufgeplusterte Michelin-Männchen steht gleichzeitig auch für die französische (Auto-)Kultur, die vielleicht nicht mit derselben technischen Perfektion ausgestattet ist, die aber ebenfalls symbolträchtige Autos hervorgebracht hat. Wim Wenders fährt natürlich auch kein deutsches Auto, sondern einen sogenannten Citroën, wie er im Audiokommentar sagt.

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Automobil, das in jeder Beziehung für Bewegung zuständig ist – auf seiner Stirnseite steht in Großbuchstaben ‚Umzüge‘ und an seiner Seite ‚Möbeltransporte Lagerung‘ –, ist somit mythologischer Urtext, technisches Fahrgerät und schützendes Wohnhaus zugleich. Außerdem bieten seine riesigen Windschutzscheiben die Möglichkeit, Bruno und Robert im Führerhaus so zu zeigen, als handle es sich bei diesen Einstellungen um Film-im-FilmBilder, als doppelten die riesigen Scheiben die Filmbilder noch einmal, die wir auf der Leinwand sehen.26 Diese riesige ‚Kutsche‘ rollt sehr lange Zeit durch die Filmbilder und befördert die beiden Männer entlang der Grenze vom Norden der damaligen Bundesrepublik in den Süden, wobei eine Landschaft inszeniert wird, in der Orte beziehungsweise Berge Namen tragen wie ‚Machtlos‘, ‚Friedlos‘, Haßfurth‘ oder ‚Toter Mann‘. Aber einmal verlassen die Reisegefährten diesen Lastwagen und steigen gemeinsam in ein ganz anderes Gefährt um. Da ist der Film zwei Stunden alt, und in seiner Produktion gab es eine zweiwöchige Drehpause. Wenders erläutert im Audiokommentar, dass er in jener „Denkpause“ entschieden habe, dass die beiden Männer mal „raus müssten“ aus diesem Wagen und dass „man nicht den ganzen Film in dem LKW drehen könne“. Aber er bleibt der Logik der ungewöhnlichen Fahrzeugkultur treu, wenn er Bruno und Robert für den ‚Trip an den Rhein‘ in ein altes BMW-Motorrad, das sogar noch einen Beiwagen hat, umsteigen lässt. Eigentlich wird der Film, werden die beiden Protagonisten in diesen Szenen noch ‚cowboy-ähnlicher‘, weil die Fahrweise straßenabhängiger wirkt. Während sie im Lastwagen weit von der Straßenwelt entfernt zu schweben scheinen, bewegen sie sich mit dem Motorrad unmittelbar auf dem Straßenboden und sind wie reitende cowboys im engen Kontakt zur Erde.27 Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn die beiden dunkle Sonnenbrillen tragen und überhaupt, ihren amerikanischen Vorbildern entsprechend, ‚männlicher‘ auftreten.

26 „The feeling of being behind the screen is also conveyed by the many shots showing the two travellers in the cab, with the windshield being the screen onto which the passing landscape is projected – yet another parallel of travel and film, of voyage and cinema.“ Gemünden, Way to Language, S. 24. 27 „Das hat uns richtig gut getan, mal aus diesem LKW rauszukommen und in einem anderen Verkehrsmittel zu drehen“, ergänzt er ein wenig später.

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Zitiert wird in diesen Szenen nicht nur das Genre des Westernfilms, sondern mit EASY RIDER auch ein jüngeres road movie von Dennis Hopper und Peter Fonda aus dem Jahr 1969, einem Kultfilm der 1960er sowie 1970er Jahre, der auch von Wim Wenders sehr geschätzt wurde.28 In EASY RIDER fahren Wyatt (Peter Fonda) und Billy (Dennis Hopper) auf umgebauten Harley-Davidson-Motorrädern von Los Angeles nach New Orleans, haben dabei Kontakte zur ‚normalen‘ Landbevölkerung, zu Angehörigen der damaligen hippie-Kultur und zu George Hanson, einem sozial engagierten Anwalt (Jack Nicholson), der unter einem Alkoholproblem leidet und die beiden eine Weile auf ihrer Reise begleitet. Sie erleben ein sowohl liberal-aufgeschlossenes Amerika als auch ein rassistisch-diskriminierendes, ständig gewaltbereites Land. Vor allem Billy repräsentiert mit seinen langen Haaren, seinem Bart und seiner Kleidung die damalige Jugendkultur und provoziert konservative Provinzbewohner zu menschenverachtenden Äußerungen und Taten: Zuerst wird George nachts brutal zu Tode geprügelt, und am Ende werden die beiden Motorradfahrer Wyatt und Billy von einem Mann aus einem vorbeifahrenden truck heraus – wie nebenbei und wie selbstverständlich – auf offener Landstraße erschossen. Nicht zuletzt dieser harte und brutale Schluss, der mit dem in einem Feuerball explodierenden Motorrad fast die letzten Bilder des Films liefert, macht den Unterschied zwischen einem amerikanischen und einem deutschen road movie jener Zeit deutlich: Ein solches Ende wäre für IM LAUF DER ZEIT undenkbar. Andererseits könnte aber auch der unbefangene Drogenkonsum von Marihuana und LSD, wie ihn die beiden amerikanischen Reisenden ausprobieren, in einem deutschen Film wohl nicht gezeigt werden. Bei einem Vergleich mit EASY RIDER wird einmal mehr die Beschaulichkeit der deut-

28 „In 1969, a low-budget movie changed forever the way America looks at itself and the way films redefine culture.“ So beginnt die Dokumentation, die im Bonusmaterial der DVD die Produktion und Rezeption von EASY RIDER erläutert. Peter Fonda / Dennis Hopper / Terry Southern: EASY RIDER. Columbia Tristare Home Video 1999. Auch IM LAUF DER ZEIT ist mit circa 750 000 DM Produktionskosten ein low-budget Film, und er hat zwar nicht ganz Deutschland verändert, aber doch eine Generation geprägt und beeinflusst. – Wim Wenders hat 1969 eine Filmkritik über EASY RIDER geschrieben, in der er sich sehr lobend über diesen Film äußert. Vgl. dazu: Gemünden, Way to Language, S. 17.

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schen Provinz deutlich, wird einmal mehr klar, wie ‚deutsch‘ IM LAUF DER ZEIT ist. Dass es bei der amerikanischen Version um Leben und Tod geht, zeigt sich auch schon in der Schnitttechnik: Dennis Hopper arbeitet mit harten (‚tödlichen‘) Schnitten, mit denen abrupt, schnell und ungemütlich fürs Auge in die nächste Einstellung gewechselt wird. Wenders hingegen wählt weiche Überblendungen, die ein sanftes Hinübergleiten in die nächste Szene ermöglichen und die zu einem milden Überlagern mehrerer Bilder führen. Sie unterstreichen den friedlichen Charakter des Films, dessen tödliches Drama eher die deutsche Geschichte ist, die ja auch für die Entstehung dieser eigenartigen Grenze verantwortlich ist. Dass aber der Trip, der von der eigentlichen Route von Bruno und Robert abweicht und ins Landesinnere führt, in einem anderen Fahrzeug unternommen wird, ist ebenso folgerichtig wie der damit verbundene intermediale Verweis auf das in jener Zeit sehr bekannte amerikanische Vorbild, das ebenfalls in großer Abhängigkeit zu den Fahrzeugen steht, mit denen Dennis Hopper und Peter Fonda durchs Land fahren.29 Am Ende des eigentlichen Films von IM LAUF DER ZEIT (vor dem Epilog) fährt Bruno weiterhin seinen Lastwagen, aber Robert sitzt nicht länger auf dem Beifahrersitz, sondern in einem Schienenbus. Jetzt hat er es geschafft, auf die Schiene umzusteigen. Sein erster Versuch, den er in Wolfsburg unternommen hat, war noch gescheitert, weil Bruno, während beide in der Bahnhofsgaststätte warteten, bei der Einfahrt eines Zuges vor sich hin sang: „When the train comes in the station“, woraufhin Robert wie

29 Wie sehr sich Wenders von EASY RIDER hat inspirieren lassen und wie sehr er versucht, einen eigenen, zur deutschen Landschaft und Kultur passenden Stil zu finden, kann man auch dem Einsatz der Musik entnehmen. In EASY RIDER werden die Fahrten der beiden Protagonisten begleitet von unterschiedlichen zeitgenössischen pop songs unterschiedlicher bands und Sänger. Dennis Hopper erläutert im Audiokommentar, dass er ein Jahr lang am Schnitt des Films gearbeitet und während dieser Tätigkeit erst die Tonspur hergestellt hat. Der Rhythmus der Musik passt zum Rhythmus des wiegenden Fahrens dieser sehr speziellen Motorräder. Für IM LAUF DER ZEIT hat die Hamburger band Improved Sound Limited den soundtrack komponiert, der alle Fahrten von Bruno und Robert begleitet. Der immer gleich bleibende sound unterstützt den melancholischen Ton des Films, seinen geduldigen Blick auf die menschenleere Grenzlandschaft.

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selbstverständlich ergänzte: „With a suitcase in my hand“. Diese ‚Rolling Stones‘-Love in Vain-Kommunikation zwischen den Männern funktionierte so reibungslos,30 dass Bruno den Kamikaze-‚VW‘-Fahrer indirekt eingeladen hat, ihn auf seiner tour noch ein wenig länger zu begleiten. Robert ließ sich ‚verführen‘ und erteilte dem Schienenfahrzeug noch eine Absage, wogegen er zum Ende hin schließlich in einem solchen Fahrzeug sitzt, weit entfernt von dem Lastwagen und möglicherweise auf dem Weg in sein ‚neues altes Leben‘. Dass die Trennung der beiden in der Trennung der Fortbewegungsmittel gezeigt wird, nimmt auch den Beginn des Films auf, in dem sich beide ebenfalls in unterschiedlichen Fahrzeugen aufeinander zu bewegt hatten. Während aber die Annäherung zu Anfang des Films in Form einer Parallelmontage erfolgte, führen der Lastwagen und der Schienenbus jetzt fast einen kleinen pas de deux auf, wenn wir mal Robert im Zug sitzend und durch die Scheiben des Abteilfensters den Lastwagen, mal Bruno hinter dem Lenkrad und durch die Scheiben des Autos den Schienenzug sehen.31 Die beiden Männer sind unweigerlich und sehr konsequent getrennt, aber ihre Fortbewegungsmittel kommunizieren noch eine Weile lang miteinander, bis sie sich nach der Überquerung des Bahnübergangs endgültig voneinander entfernen. Danach beginnt mit einer Überblendung auf einen Filmprojektor der Epilog im Hofer Kino Weiße Wand. So wie der behäbige Hermes-Bote kennzeichnend für IM LAUF DER ZEIT geworden ist, ist der ‚Renault 4‘ – kurz ‚R4‘ – in gewisser Weise ein Symbol für Wenders’ früheren Film ALICE IN DEN STÄDTEN. Dieses kleine französische Auto, das von 1961 bis 1992 hergestellt wurde, wurde – wie auch der ‚Käfer‘ – häufig von jungen Leuten gefahren. Dabei war das französische Modell noch kostengünstiger und mit seinen fünf Türen auch das ‚gruppenfreundlichere‘ Fahrzeug, das in studentisch-alternativen Szenen beliebt war. Aus diesem Grund ist Wenders’ Entscheidung, Rüdiger Vogler

30 Es handelt sich bei den Zeilen um Verse aus dem melancholischen blues song Love in Vain aus den 1930er Jahren. 1969 wurde er von den ‚Rolling Stones‘ auf dem Album Let it Bleed in einer neu bearbeiteten Version vorgetragen. 31 Wim Wenders erläutert im Audiokommentar, dass es ein unheimlicher Glücksfall gewesen sei, dass man die beiden Fahrzeuge jeweils durch die Scheiben des anderen habe filmen können. Was so leichthin und fast zufällig aussieht, ist das Resultat von harter filmischer Kalkulation und Logistik in Verbindung mit etwas Glück.

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und Yella Rottländer in Wuppertal einen ‚R4‘ mieten zu lassen, ein Signal für eine bestimmte kulturelle Ausrichtung seiner ALICE-Geschichte. Während der im deutschen Kulturraum entstandene ‚Käfer‘ in IM LAUF DER ZEIT gleich zu Anfang im Wasser verschwindet und nicht wieder auftaucht, kommt der ‚R4‘ erst im letzten Drittel von ALICE IN DEN STÄDTEN zum Einsatz, als der gut dreißigjährige Journalist Philip Winter und die neunjährige Alice in Wuppertal und in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets nach der Großmutter des Mädchens suchen. Aber es ist eine überraschende Wende, wenn die beiden – nachdem sie es lange mit der Wuppertaler Schwebebahn probiert haben – plötzlich in diesem Auto gezeigt werden und damit die Suche zu ‚professionalisieren‘ suchen. Nicht nur, dass Städte wie Wuppertal, Essen, Oberhausen, Gelsenkirchen oder Duisburg in ungewohnter Weise ‚filmreif‘ gemacht werden – auch die technische Fortbewegungskultur bekommt einen anderen drive: Dieses Auto mit der eigenwilligen Handkuppelschaltung wirkt improvisierter als ein deutsches Auto und erinnert an die französische Kultur und Lebensart. 32 Aber ALICE IN DEN STÄDTEN beginnt nicht im ‚Renault 4‘, sondern mit dem Bild eines Flugzeuges, das von Rüdiger Vogler, der den Journalisten Philip Winter spielt, von einem amerikanischen Strand aus beobachtet wird. In dem Film wird das Flugzeug auch als Fortbewegungsmittel genutzt, aber vorher sehen wir den Protagonisten längere Zeit in einem ‚typischen‘ amerikanischen Auto über typische highways von South Carolina bis nach New York hinein fahren. Der Film beginnt also im klassischen road movie-Land, so dass der Kontrast zum französischen Kleinwagen und zur deutschen Stadtkultur umso deutlicher in Szene gesetzt wird. Auf der anderen Seite wird auch schon im ALICE-Film etwas versucht, was dann in IM LAUF DER ZEIT seine Fortsetzung findet: einen Film über Deutschland im Stil amerikanischer Filme zu machen. So sind die Straßen in Queens unter der Hochbahn zwar breiter als die engeren Straßen in Wuppertal unter der Schwebebahn, doch existieren zwischen beiden durchaus gewisse Ähnlichkeiten; und die Arbeitersiedlungen in Essen, die kurz vor dem Abriss stehen, ähneln den Häusern in South Carolina (die wahrscheinlich nicht abgerissen werden!). Auch die Industrielandschaften des Ruhrgebiets mit den Fabrik-

32 Wim Wenders sagt im Audiokommentar nichts zur Wahl des ‚R4s‘; er macht nur die Bemerkung, dass da auf den Straßen in New York und in Wuppertal jede Menge ‚VWs‘ herumstünden und äußert sich ganz begeistert darüber.

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schornsteinen im Hinter- und den Schafherden im Vordergrund sind zwar charakteristisch für dieses Stadt-Land-Gebiet, aber sie werden in diesem Film gezeigt wie zuvor die Landschaften, die sich entlang der amerikanischen highways hinziehen. Flugzeuge, große und kleine Autos, Busse, Schwebebahn, Flussfähren und zuletzt auch noch ein D-Zug der Deutschen Bahn. Gefahren wird in der Tat viel im ALICE-Film. Das macht ihn vergleichbar mit amerikanischen Filmen, unterscheidet ihn aber wegen der Vielzahl der Fortbewegungsmittel doch auch wieder von ihnen: Im europäisch-deutschen Raum wird eben nicht nur mit dem Auto gefahren, sondern werden auch ganz unterschiedliche öffentliche Verkehrsmittel genutzt. Die Wahl der Fahrzeuge für Wenders’ frühe road movies ist eine eigene filmsprachliche Botschaft, die zum einen die Filme in ihrer Zeit verankert – wie es z.B. mit dem ‚Käfer‘ geschieht oder mit dem ‚Renault 4‘ –, zum anderen aber die Filme ihrer Zeit enthebt und sie mit Lastwagen und Motorrad gleichzeitig in der Vergangenheit anwesend sein lässt. Dass der Möbelwagen mythologische Dimensionen zugeschrieben bekommt, macht ihn zu einem Gefährt, das unterschiedlichste Zeit- und Denkräume miteinander verbindet. Und wenn es eigentlich nur ein ‚VW-Käfer‘ sein kann, den Robert so entschieden in die Elbe fährt, so können der Mann und das Mädchen eigentlich nur in einem französischen Kleinwagen durchs Ruhrgebiet fahren, weil sie damit eine kostengünstige Autotechnik nutzen, die zudem als weniger perfekt gilt und die mit vielen originellen Lösungen arbeitet. Und genauso originell und improvisiert müssen Philip und Alice bei ihrer Suche nach den Verwandten des Mädchens vorgehen. Diese finden sie schließlich auf dem Wasser, auf einer Autofähre, wenn sie das Auto verlassen, um in den Rhein schauen zu können, und dabei von einem Polizisten erkannt werden. Am Schluss von ALICE IN DEN STÄDTEN sind diese beiden Reisenden nicht getrennt, sondern sitzen vereint im Abteil eines Schnellzugs, der von Duisburg nach München fährt – ein Zeichen dafür, dass diese Reise‚Beziehung‘ eventuell in irgendeiner Form eine Zukunft hat, während die Trennung der beiden kings of the road endgültig ist.

„SO LONG. R.“ „Ein von der Kritik hochgelobtes Abenteuer-Road-Movie über das Ende des Kleinstadtkinos und den Beginn einer wundervollen Freundschaft. Ein

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Meisterwerk“, steht auf dem cover der DVD, die gut dreißig Jahre nach der Uraufführung von IM LAUF DER ZEIT den Film zum wiederholten und zum analytischen Sehen verfügbar macht. 33 Diese knappe und werbestrategisch arbeitende Beschreibung beziehungsweise Kommentierung des Films ist unpassend, weil sie neben den zeitgenössisch-filmkritischen Reaktionen, der Genre-Zuordnung und dem Kino-Thema auch die Beziehung der beiden männlichen Protagonisten erwähnenswert findet. Dabei wählen die Schreiber mit ‚Freundschaft‘ ein verfängliches Wort, das zudem mit dem Attribut ‚wundervoll‘ auch noch filmgeschichtliche Assoziationen hervorruft.34 Darüber hinaus wählen sie eine eindeutige Bezeichnung, während die filmische Gestaltung der Beziehung zwischen dem eher handwerklich begabten Bruno Winter und dem eher intellektuell interessierten Robert Lander diese Eindeutigkeit gerade zu vermeiden sucht. Das Verhältnis, das sich zwischen den beiden Reisegefährten entwickelt, verlangt nach anderen Beschreibungen als den abgegriffenen und üblichen.35 Wenn man einfach das label ‚Freundschaft‘ darauf klebt, weicht man der ambivalenten und eigenwilligen Dynamik aus, die diese Art ‚Fahrgemeinschaft‘ über die zweieinhalb Filmstunden hinweg gewinnt.36 Außerdem ‚passt‘ dieses männliche Verkehrsformen-Experiment in den Zeitgeist der 1970er Jahre, während derer im Zuge der ‚Neuen Frauenbewegung‘ die Geschlechterrollen insgesamt

33 Wenders, Lauf der Zeit. 34 Zum Ende des berühmten Anti-Nazi-Films CASABLANCA von Michael Curtiz aus dem Jahr 1942 finden sich der französische Polizist und der amerikanische Barbesitzer – gespielt von Humphrey Bogart – vereint im Widerstand gegen die nationalsozialistische Regierung, und Rick kommentiert ihre Beziehung mit dem geradezu legendär gewordenen Satz: „Louis, I think this is the beginning of a beautiful friendship.“ In der deutsch-synchronisierten Fassung wird aus „beautiful friendship“ eine „wundervolle Freundschaft“. 35 Das wird einmal mehr deutlich, wenn man dieses Duo vergleicht mit dem aus EASY RIDER. Wyatt und Billy haben einen ganz anderen Umgang miteinander, reden und schweigen selbstverständlicher und kommunizieren auch beim Fahren auf ihren Motorrädern durch Blicke und Lachen. Für dieses Paar trifft die Bezeichnung ‚Freundschaft‘ zweifelsohne zu. 36 Gerd Gemünden spricht ebenfalls von „friendship“, betont aber, dass diese nur „of short duration“ ist, „as they both recognize the necessity of abandoning their previous ways of living.“ Gemünden, Ways to Language, S. 15.

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Gegenstand intensiver Diskussion und Reflexion waren und als ‚typisch‘ weiblich oder männlich deklarierte Verhaltensformen genauester und kritischer Beobachtung unterzogen wurden.37 IM LAUF DER ZEIT schreibt sich in einen Diskurs ein, in dem der Umgang der Männer untereinander neu verhandelt wird. Wie geht man miteinander um, wenn so etwas wie eine cowboy-Gewissheit fehlt, wenn die Indianer nicht länger die Feinde sind und wenn Gefahren an ganz anderen Punkten lauern als dort, wo man sie vermutet? Viele der Zuschauer, die den Film 1976 im Kino gesehen haben, haben wahrscheinlich gespürt, dass IM LAUF DER ZEIT auch ein Film darüber ist, wie (aufgeklärte) Männer nach beziehungsweise während der Frauenbewegung sich und ihr Leben verstehen. Fast vierzig Jahre später drängt sich dieser Eindruck fast in den Vordergrund, weil andere Themen des Films – wie die Grenze zur DDR und der Untergang einer Kino-Kultur – inzwischen schon lange der Vergangenheit angehören und an Brisanz verloren haben. Mit diesen Bildern ist der Film ein historisches Dokument, wogegen das Duo Bruno und Robert etwas verhandelt, das von zeitloser Dauer ist. Ihre erste Begegnung ist legendär geworden: Während wir über längere Zeit hinweg Robert bei seiner Kamikazefahrt im ‚VW‘ beobachten, in einem Auto also, das für ein solches Tempo eigentlich nicht ‚gemacht‘ ist, vollzieht Bruno bedächtig und in aller Ruhe sein Morgenritual. Der Kontrast zwischen der rasenden Geschwindigkeit des einen und der größtmöglichen Gelassenheit des anderen wird in Form einer Parallelmontage gegeneinander geschnitten. Eingeführt werden die beiden circa dreißigjährigen Männer also über ihre Fahrzeuge und über die unterschiedlichen Tempi, mit denen sie sich im Leben bewegen. Robert zerreißt während seiner halsbrecherischen Fahrt das Foto eines älteren villenähnlichen Hauses, Bruno bereitet einen Espresso und beginnt seine Rasur. Dieses morgendlichmännliche Ritual wird abrupt unterbrochen, als Robert out of the blue mit dem ‚VW‘ in die Elbe ‚brettert‘, eine Aktion, auf die Bruno mit unterschiedlichen Stufen der Überraschung, des Staunens, des Nicht-GlaubenKönnens und Lachens reagiert. Robert verlässt das sinkende Auto durch das offene Wagendach und schwimmt mit einem Koffer in der Hand an den Strand, wo Bruno mit seinem riesigen LKW parkt und ihn in ‚Empfang‘

37 Ricarda Strobel: Die neue Frauenbewegung. In: Werner Faulstich: Die Kultur der siebziger Jahre. München 2004, S. 259-272.

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nimmt: Bruno in einer gestreiften Latzhose mit nacktem Oberkörper, Robert in einer Stoffhose und einem gestreiften, locker über die Hose fallenden Hemd. Nicht nur ihre Tempi und ihre Fahrzeuge unterscheiden sich, auch im Kleidungstil differieren die beiden Männer, wenngleich eine gewisse alternative Richtung für beide erkennbar ist. Lange Zeit fällt kein Wort, es gibt Gesten, mit denen der Film einfach wortlos arbeiten kann: Bruno legt dem zusammengekauerten Gast sein Rasierhandtuch über den Kopf und gibt ihm seinen frisch zubereiteten Espresso, den Robert begierig trinkt. Der erste Satz, der zwischen den beiden fällt, ist Brunos mütterliche Anweisung, die nassen Sachen auszuziehen.38 Robert antwortet nicht, sondern weist auf den sinkenden ‚VW-Käfer‘, von dem gerade noch das Dach und dann gar nichts mehr zu sehen ist. In der nächsten Einstellung sitzt er ebenfalls mit nacktem Oberkörper auf dem Beifahrersitz, offensichtlich bereit, Bruno auf seiner Weiterfahrt zu begleiten. Geredet wird nicht, allerdings legt Bruno eine single-Schallplatte in einen transportablen Schallplattenspieler, ein Akt, der Robert zu beruhigen scheint:39 Er wickelt sich in die Decke und nimmt eine Schlafhaltung ein.40

38 Horst Fleig deutet psychoanalytisch, wenn er Roberts Wasserfahrt als „metaphorischen Geburtsvorgang“ sieht. Den ‚Käfer‘ vergleicht er mit „einem Frauenleib“, und tatsächlich zeige Robert „nach dieser Neugeburt die Hilflosigkeit eines Kleinkindes“ und kauere sich „in embryonaler Hockhaltung vor den ‚Hermes‘ hin“, um von Bruno umsorgt zu werden. „In seiner Lebenskrise wird dieser psycholinguistisch ausgebildete Kinderarzt so über längere Zeit hin selber wie ein Kind therapiert und verhält sich dementsprechend.“ Fleig, Wenders, S. 167. 39 „Auf Brunos Plattenspieler läuft derweil ‚The more I see you, the more I want you‘, ein von Chris Montez mit Frauenstimme vorgetragenes Liebeslied.“ Fleig, Wenders, S. 168. 40 Florian Urschel-Sochaczewski kommentiert IM LAUF DER ZEIT sehr treffend, wenn er sagt, dass er kaum einen anderen Film gesehen hat, in dem „die Leute so viel schlafen“. Und in der Tat werden die beiden Protagonisten und andere Mitspielende häufig bei dieser eigentlich ‚unfilmischen Aktivität‘ gezeigt, weil Schlafen für Filmbilder ja nicht viel hergibt. Korrespondierend dazu, ist auch häufig von Träumen die Rede, eine Aktivität wiederum, die gut zu Film und Kino passt.

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Da bewegen sich zwei unterschiedliche männliche Welten aufeinander zu und treffen an einem Grenzfluss aufeinander, der die Trennung der beiden deutschen Staaten zu manifestieren scheint, während die beiden ‚Helden‘ am Ende der Szene vereint in der Führerkabine des Möbelwagens sitzen.41 Unterschiedlich sind sie in jeder Hinsicht: im Fahrstil, im Temperament, in der Kleidung, in der Lektüre eines englischen beziehungsweise eines französischen Buches (Bruno liest William Faulkners Roman Wild Palms und Robert L’enfance aliénée der Kinderanalytikerin Maud Mannoni), im blond-lockigen und im dunkelhaarigen Aussehen. Ihre wortlose (Nicht-)Kommunikation findet noch eine Weile lang ihre Fortsetzung, wobei sprachliche Verständigung ohnehin nicht die dominierende Kommunikationsform der beiden ist. „Tagsüber schlafen“, ist Roberts äußerst knapper erster sprachlicher Beitrag, während Bruno zunächst vor allem alltagsorganisatorische Anmerkungen macht. Bevor dann jener erste, vergebliche Trennungsversuch in Wolfsburg gestartet wird, verraten sich beide auf Brunos Initiative hin noch gegenseitig ihre Namen. Aber da ist der Film bereits eine knappe halbe Stunde alt, so dass die ‚klassische‘ Vorstellung erst erfolgt, als man beschließt, sich wieder zu trennen. Bezeichnenderweise handelt das erste eigentliche Gespräch zwischen den beiden von dem Thema ‚Alleinsein‘, eine Lebensform, die Bruno seit zwei Jahren in dem Lastwagen ‚immer besser‘ praktiziert und von der Robert meint, sie nicht aushalten zu können. Der Gesprächsgegenstand passt in eine Zeit, in der Beziehungssicherheiten brüchig und neue Lebensformen – wie Männer- oder Frauenwohngemeinschaften und Zusammenleben ohne Trauschein – erprobt werden. „Gestern war ich noch in Genua“, sagt Robert ein wenig später und gänzlich unvermittelt zu seinem Reisegefährten, der diesen Satz unkommentiert lässt. Was soll man auch dazu sagen, dass jemand offensichtlich Hals über Kopf in einem ‚Käfer‘ von Norditalien nach Norddeutschland gefahren ist, auf der Flucht vor etwas, was ein wenig später nur die Bezeichnung „meine Frau“ bekommt? Was soll man dazu sagen, wenn man

41 Ob damit allegorisch auch auf die beiden deutschen Staaten verwiesen werden soll, die sich inzwischen in ihren politischen Systemen weit voneinander entfernt haben, die aber gerade im Rahmen der neuen Ostpolitik unter dem Bundeskanzler Willy Brandt und dem Minister Egon Bahr eine erste Annäherung versuchen, bleibt völlig offen und soll hier auch nur als eine mögliche Deutung vorgetragen werden.

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nicht sehr intime Fragen stellen möchte, etwas, was sich zwischen den beiden Männern (noch) nicht anbietet. „Ich kann jeder Zeit alleine weiter“, sagt Robert, steigt allerdings dann ohne Zögern doch wieder in den Lastwagen und wird von Bruno nicht daran gehindert. Es ist nicht einfach, die Beziehung zwischen den Reisekollegen auf einen Punkt zu bringen. Sie entzieht sich immer wieder einer Festlegung und einer sicheren Zuordnung. Scheint es auf den ersten Blick so, als seien sich die Beiden durch das improvisierte Schattenspiel nähergekommen, weil sie einander danach mit „Du“ ansprechen, so unterzieht Bruno wenig später die Chaplin-Tarzan-Imitation einer kritischen Reflexion und gibt zu, „wütend“ und „erschrocken“ gewesen zu sein und sich „hilflos“ gefühlt zu haben. Als Robert sagt, dass es ihm genauso gegangen sei, bricht Bruno das Gespräch unwirsch ab und ‚flieht‘ in seinen LKW. Kurz darauf erkundigt sich Bruno bei seinem Reisegefährten, ‚was er außer Testfahren sonst noch so mache‘. Robert erzählt aber nicht nur von seinem Beruf, sondern auch von der Tatsache, dass er ‚sich in Genua von seiner Frau getrennt habe‘. „Das habe ich dich nicht gefragt“, weist Bruno ihn zurecht, „du brauchst mir nicht deine Geschichten zu erzählen“. Zu diesem Zeitpunkt ist der Kinoreparateur noch nicht reif für „Geschichten“, das wird er erst später im Verlauf des Films. Diese stockenden, hilflosen, widersprüchlichen Dialoge sind nicht nur Ausdruck davon, dass – wie Wenders im Audiokommentar sagt – er nicht der größte Drehbuchschreiber ist; sie spiegeln auch eine Gesprächskultur, in der zwischen Männern ungewöhnliche Themen zur Sprache kommen (sollen) und ihnen dafür die Handhabe fehlt. Die unbeholfenen Dialoge suchen nach einer Sprache für Gefühle, die den Männern (noch) nicht zur Verfügung zu stehen scheint. Sie schwanken zwischen Annäherung und Ablehnung, zwischen Offenheit und Verschlossenheit, zwischen Distanz und Nähe und lassen die beiden Protagonisten unsicher und tastend wirken.42 Der Widerspruch zwischen der gemeinsam durchgeführten Reise und der geringen Gemeinsamkeit, die zwischen den beiden über lange Strecken hinweg entsteht, lässt eine Spannung aufkommen, die vielleicht auch als Ausdruck davon verstanden werden kann, wie in jenen Jahren nach neuen

42 „Man sieht die Unzulänglichkeit der beiden, auch ihre emotionalen Unsicherheiten, und man sieht, wie sie sich eine Zeitlang beide bestätigen und ihre Fehler zu vertuschen suchen.“ Wim Wenders: Die Logik der Bilder. Essays und Gespräche. Hrsg. von Michael Töteberg. Frankfurt/M 1988, S. 23.

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Beziehungskulturen gesucht wird. Die alten Verständigungsformen unter Männern sind obsolet geworden; welche neuen gibt es? welche funktionieren? Dass in dem Film viel geschwiegen wird und manchmal über Minuten hinweg nur der soundtrack von Improved Sound Limited zu hören ist, ist eine Lösung für dieses Problem, aber IM LAUF DER ZEIT probiert auch noch anderes aus. Nach circa sechzig Filmminuten kommt ein dritter Mann zu diesem Reiseduo hinzu.43 Dieser nächtliche Gast spiegelt die Krise der männlichen Existenz in existentiellerer Weise, als es Kamikaze und king of the road tun. Robert nimmt ihm gegenüber die Rolle des Therapeuten ein, hört nur zu und lässt ihn seine Geschichte erzählen. Der namenlos bleibende Besucher erzählt in kürzester Zeit mehr über sich, seine Ehe und den Autounfalltod seiner Frau, als es die beiden Protagonisten bisher auch nur in Ansätzen getan haben. Wenn er andeutet, dass der Wagen mit suizidalen Absichten gegen den Baum gesteuert worden ist, wird einmal mehr deutlich, wie unsicher die Mann-Frau-Beziehungen geworden sind und in jener Zeit verhandelt werden: „Es geht um Leben und Tod“, hat Bruno kurz zuvor mit unverhohlener Ironie in der Stimme gesagt, als er gesehen hat, dass Robert versuchte, eine neunstellige Telefonnummer anzurufen. Wie schnell das wahr werden kann, zeigt die Geschichte dieses Mannes, der vom tödlichen Ende eines banal klingenden Ehestreits erzählt. „Es gibt doch nur das Leben. Den Tod gibt es doch gar nicht“, sagt er noch, bevor er sich auf Roberts Schlaflager ausstreckt und einschläft. Mit diesem gleichermaßen naiven wie ungeheuren Satz wird der Film philosophisch und versucht, eine Formel für die Tatsache zu finden, dass man selbst immer nur das Leben kennt und lediglich vom Tod anderer Menschen hört. Robert kommentiert diesen Satz ebenso wenig wie die ganze Geschichte, die ihm der Besucher erzählt. Und während er seinem Untermieter in der Nacht professionelle Aufmerksamkeit schenkt, weist er ihn am anderen Morgen – ziemlich grob – zurück und will ihm nicht weiter helfen. Bruno ist da hilfsbereiter, so dass sich ein Rollentausch ergibt zwischen der nächtlichen Betreuung des Gastes und derjenigen, die tagsüber erfolgt.

43 Dasselbe geschieht in EASY RIDER, wenn George Hanson (Jack Nicholson) zu dem Motorrad-Duo stößt und ebenfalls eine neue Dynamik in die Kommunikation der beiden Freunde bringt.

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In gewisser Weise wirkt diese Begegnung karthatisch für die Beziehung der beiden Reisegefährten, insbesondere für Robert: „Ich fahre nach Ostheim zu meinem Vater. Ich kenne deine Route. R.“, steht auf dem Zettel, den Bruno an seiner Windschutzscheibe findet. Die Vater-SohnKonfrontation verrät einiges über Robert, der seinem Vater vor allem unbestimmte Vorwürfe macht wegen der Beziehung, die er zu seiner Mutter beziehungsweise seiner Ehefrau gehabt hat.44 „Das habe ich dir voraus. Ich habe mich von meiner Frau getrennt“, sagt er ihm zum Ende eines Gesprächs, in dem er seinen Vater vor allem am Reden hindert, um selbst – allerdings auch nur in Andeutungen – seine in acht Jahren aufgestaute Frustration deutlich werden zu lassen. „Warum. Hast. Du. Sie. Nicht …“, fragt er seinen Vater, nach jedem Wort eine lange Pause machend und den Satz in der Luft hängen lassend. Vielleicht wird der Satz beendet durch die Schlagzeile, die auf der Titelseite der Zeitung steht, die Robert druckt. Statt lange Reden zu halten, stellt er des Nachts ein ‚Extrablatt‘ nur für seinen Vater her, das in riesigen Lettern die Überschrift trägt: WIE EINE FRAU ACHTEN KOENNEN. Auf diese Frage, die aufgrund des mangelnden Fragezeichens eher eine Aufforderung ist, scheint Roberts Problem mit seinem Vater, vielleicht auch mit sich selbst hinauszulaufen. Dass Robert nicht darüber reden, sondern dieses Thema nur in Zeitungsform ‚publizieren‘ kann, macht einmal mehr die Schwierigkeiten der mündlichen Kommunikation deutlich. Die Gespräche wollen in IM LAUF DER ZEIT einfach nicht funktionieren: Entweder werden sie abrupt beendet, bestehen lediglich aus einseitigen Monologen oder weichen in die schriftliche Variante aus. Eine konfliktbeladene Vater-Sohn-Beziehung und eine Ehefrau, die lange Zeit unglücklich gewesen ist, werden mit kargen Worten angedeutet, ohne dass diese bekannten Geschichten allzu sehr auserzählt würden.

44 Gerd Gemünden weist darauf hin, dass in der parallel gezeigten Bruno-Szene auf einem Jahrmarkt in der Provinz jener Hitler-Kopf in Form einer Kerze eine Rolle spielt: „Feuer vom Führer“, kommentiert Bruno lakonisch die Tatsache, dass solche Dinge 1975 noch auf deutschen Jahrmärkten verkauft werden können. Gemünden interpretiert dieses nationalsozialistische Symbol als möglichen Hinweis auf eine Nazi-Vergangenheit von Roberts Vater. Gemünden, Way to Language, S. 21. – Wim Wenders betont im Audiokommentar, dass solche Kerzen damals wirklich noch verkauft wurden auf den kleinen Jahrmärkten.

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Das gilt auch für Bruno, der alleingelassen einer der wenigen weiblichen Gestalten begegnet, die in diesem Film mitspielen. Das längste Gespräch, das er und die Kartenverkäuferin haben, findet im dunklen Kinosaal statt. Beide sitzen hintereinander in unterschiedlichen Stuhlreihen, können sich also weder in die Augen sehen noch während des Redens beobachten. Vielleicht ist es auch diese unkommunikative Positionierung, die es der jungen Frau ermöglicht, gleich zu Beginn des Dialogs die abweisende Bemerkung zu machen, sie lebe allein mit ihrer Tochter und das solle auch so bleiben(!). Sehr einladend ist das nicht. Darüber hinaus läuft parallel zu dem ‚Gespräch‘ jener bereits erwähnte Schnipselfilm, dessen Ton nicht gerade eine angenehme ‚Hintergrundmusik‘ bietet. Als beide später nebeneinander auf einer Liege sitzen, fragt die Frau sofort nach Schreibmaterial, so dass wieder nicht geredet wird. Was sie aufschreibt, bleibt unklar, und am Ende hat sie den Zettel, nicht Bruno. Als sie beide am anderen Morgen auf dieser Liege nebeneinander liegend aufwachen, sagt Bruno nur, dass er gehen müsse. Weitere Worte fallen nicht zwischen ihnen, und warum sie weint und er ihr die Träne aus dem Gesicht wischt, bleibt eigentlich gänzlich unklar. Sehr nah können sie sich auf dieser unbequemen Liege in einem Seitenraum des Kinos in ihrem komplett bekleideten Zustand nicht gekommen sein.45 Auch bei der Exkursion in Brunos Vergangenheit an den Rhein wird nicht viel geredet, abgesehen davon, dass sprachliche Kommunikation in dem Motorrad mit seinem Beiwagen noch weniger möglich ist als im Lastwagen. Aber auch auf der Insel und in dem Haus, in dem Bruno aufgewachsen ist, wird minutenlang nicht gesprochen. Gesten übernehmen die Funktion von Sprache: Bruno wirft eine Fensterscheibe ein und sitzt weinend am Ufer des Rheins. Auf diese Weise wird vermittelt, dass mit dem Haus eine Reihe von unangenehmen Erinnerungen verbunden sein muss. Am deutlichsten wird dies allerdings, als Bruno auf Roberts Frage, ob man in dem Haus schlafen könne, entschieden und einsilbig mit einem lauten „Nein“ antwortet.46 Wir wissen inzwischen, dass Bruno allein mit seiner

45 Michael Covino spricht von einer „apparent sexless night“. Covino, Wenders, S. 13. 46 „Bruno’s home is certainly not the idyllic place one would associate with an island in the Rhine […]. Instead, the island episode is rather uncanny: the abandoned house, the thick brushwork, and the nighttime arrival are shot in

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Mutter aufgewachsen ist, weil „sein Vater im Krieg verschütt gegangen ist“, aber mehr erfahren wir eigentlich auch vor Ort nicht über Brunos Kindheit. Wenn Bruno am anderen Morgen unter einer Treppenstufe eine Blechschachtel mit kindlichen Gegenständen findet, beschäftigt er sich allein mit diesen Dingen und teilt seinem Reisekollegen nichts darüber mit.47 Brunos Erschütterung über ein Wiedersehen mit diesem Ort wird nicht sprachlich reflektiert, zumindest nicht unmittelbar.48 Später gibt Bruno zu, dass er froh über diese Reise in die Vergangenheit ist. Aber auf der Insel neben dem Haus kann er nur sagen, dass er zu müde ist, um das Motorrad zu fahren, sagt aber nicht, dass er die Nacht über wahrscheinlich gar nicht oder nur wenig geschlafen hat, weil ihn die ganze Angelegenheit offensichtlich mitnimmt.

chiaroschuro effects reminiscent of F.W. Murnau’s horror films […], portraying Bruno’s home as a spooky place in which one cannot even sleep.“ Gemünden, Way to Language, S. 23. Allerdings ist der Ort vor allem für Bruno „spooky“, nur er kann dort nicht schlafen; Robert betont am anderen Morgen ausdrücklich: „Ich habe geschlafen.“ Damit wird deutlich, dass der Insel-Besuch vor allem aus Brunos Perspektive gezeigt wird. 47 Mit dieser Szene wird an einen Film von Nicolas Ray erinnert, der Robert Mitchum (!) in THE LUSTY MAN ein vergleichbares Erlebnis haben lässt. Horst Fleig dokumentiert diesen intermedialen Bezug auch bildlich. Fleig, Wenders, S. 189. – Wie sehr Wim Wenders Nicolas Ray schätzt, wird in seinem Film NICK’S FILM – LIGHTNING OVER WATER aus dem Jahr 1981 deutlich, in dem Nicholas Rays letzte Tage vor seinem Tod gezeigt werden. In diesem Film „sieht man einen längeren Ausschnitt aus Rays THE LUSTY MAN. Danach geht Wenders zu Ray und sagt sehr berührt: „Die Szene, in der Mitchum nach Hause kommt, unter das Haus kriecht, das Heft und die Pistole findet, das wirklich … Das sagt mehr übers Nachhausekommen als alles, was ich sonst gesehen habe.“ Dieses Bekenntnis, eher beiläufig inszeniert, ist ein berührendes Ereignis. Auch, weil aus Wenders Filmen bekannt ist, daß seine Helden nie nach Hause finden.“ Nobert Grob: Wenders. Berlin 1991, S. 220. 48 „Was folgt, ist eine einzigartige filmpoetische Dokumentation dessen, was es bedeutet, zu einer zentralen Lebensstätte der Kindheit zurückzukommen, mit der Beklommenheit bei der Annäherung und auch der erschütternden Erfahrung, wie etwas, das man längst für untergegangen hielt, an einem solchen Ort wieder aufsteigen kann.“ Fleig, Wenders, S. 176-177.

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Es ist bezeichnend für die beiden sehr differenten Charaktere, wie unterschiedlich ihre Kindheitsreisen ausfallen. Wortreich sind beide Besuche nicht, aber Robert druckt immerhin eine eng beschriebene Zeitungsseite, um seinem Vater mitzuteilen, was er ihm wohl schon seit längerem sagen wollte. Er wählt damit den Kommunikationsweg, den dieser vielleicht am besten versteht (und vielleicht als einzigen richtig ernst nimmt?), weil dem Vater offensichtlich die Herausgabe der Lokalzeitung sein Leben über sehr wichtig gewesen ist.49 Es scheint, als habe Robert mit dieser nächtlichen Druckaktion etwas publiziert, das in Verbindung mit den Krisen, die er gerade durchlebt, unbedingt in dieser Form an die väterliche Öffentlichkeit musste. Danach ist er ein anderer. Immerhin ist er es, der den Vorschlag macht, dorthin zu fahren, wo Bruno aufgewachsen ist. Er zeigt sich also in ungewohnter Weise aufgeschlossen seinem Gastgeber gegenüber. Bruno hingegen veröffentlicht nichts, macht seine Gefühle mit sich alleine ab, wird aggressiv gegenüber Gegenständen und kapselt sich ein in eine stille Verzweiflung, deren Ursachen nur zu ahnen sind. Seine Geschichte bleibt geheimnisvoller als die Roberts, weil er nur auf ein verlassenes Haus, aber auf kein menschliches Gegenüber trifft, mit dem er reden müsste. Während Robert durch die hergestellte Zeitung etwas beruhigter zu sein scheint, findet Bruno wohl ein wenig Trost in der Lektüre der Comic-Hefte, die er unter der Treppenstufe gefunden hat. Dass diese versteckten Schätze seiner Kindheit die Zeit überdauert haben, überrascht und erfreut ihn gleichermaßen. Nach diesen beiden Exkursionen, die vom Hauptparcours abweichen, funktioniert die wortlose Verständigung zwischen Robert und Bruno besser, gibt es Szenen, in denen so etwas wie ein Einverständnis aufscheint. Wenn Robert die single mit dem suggestiven Lied Just like Eddie in den

49 „Weißt du, dass ich in der ganzen Zeit, die ich jetzt weg bin, die zehn Jahre, immer wieder, wenn ich über etwas nachdenke oder über etwas rede, die Vorstellung habe, es sofort gedruckt zu sehen, dass du es gleich in Druck setzt“, ist der erste längere Satz, den Robert zu seinem Vater sagt und es liegt ein unverhohlener Vorwurf in dieser Aussage, wenn er die Worte um ‚drucken‘ herum stark akzentuiert. Als sein Vater ein lockeres „Ich kenne das“ erwidert, schreit ihn Robert an und fordert ihn auf, endlich still zu sein. „Hör mir endlich zu“, bittet er ihn eindringlich und droht an, sofort zu gehen, wenn der Vater beginnen sollte zu sprechen.

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Plattenspieler einwirft, singen beide mit, Bruno das ganze Lied, Robert immer wieder den Refrain.50 Dabei sind sich die beiden Protagonisten sogar körperlich sehr nah, weil Robert ausgestreckt auf der Liege liegt, die im hinteren Teil der Fahrerkabine Brunos nächtliche Lagerstatt ist. Robert liegt halb aufgestützt in Richtung Fahrersitz und schaut nach vorn auf die Landstraße wie Bruno, der hinter dem Lenkrad sitzt und den Wagen fährt. Beide werden in halbnahen Einstellungen im rechten Profil gezeigt, getrennt eigentlich nur durch die Espressomaschine, die an der Wand der Kabine hängt. So nah kommen sich die beiden in diesem riesigen Fahrzeug ansonsten nicht, weil Fahrer- und Beifahrersitz weit auseinander sind. Der eingängige, mitreißende Rhythmus des Lieds und das lockere, selbstverständliche Mitsingen und -summen der beiden Männer führen dazu, dass diese Szene eine seltene Übereinstimmung ausstrahlt. Es hat eine Weile gedauert, bis die zwei sehr unterschiedlichen Männer, die sich in gänzlich anderen Welten bewegen, zu einer derartigen Verständigung gelangt sind, und es ist nicht zufällig, dass sie auch zu diesem Zeitpunkt des Films dafür immer noch Musik benötigen. Danach arbeiten sie auch einvernehmlicher zusammen, beteiligt sich Robert selbstverständlicher an Brunos Reparaturen. Bruno kann sogar zugeben, dass er froh ist, die Rheinreise gemacht zu haben: „Ich seh’ mich eigentlich zum ersten Mal als jemand, der eine Zeit hinter sich gebracht hat, und dass diese Zeit meine Geschichte ist.“ So offen und so reflektiert hat Bruno bisher nicht über sein Leben gesprochen; so klar und unumwunden hat er nie zugegeben, durch das Zusammensein mit Robert ‚etwas gelernt‘ zu haben.51 Es ist das einzige Mal in diesem Film,

50 „An gelöster, entspannter Atmosphäre zwischen beiden Männern, die hier einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund der Popmusik wiederbeleben, hat der Film mit dieser Szene seinen Zenit erreicht.“ Rost, Kinostunden, S. 394. – Auch Gemünden sieht in der Just like Eddi-Szene „[T]he highpoint of their friendship“ Gemünden, Way to Language, S. 19. 51 „Wenn Bruno Winter also in der Nachfolge von Hermes der Große Helfer ist, der jemanden ins Leben zurückholt und ihn ermuntert, eine heillose Phase der eigenen Entwicklung wieder abzustreifen, so hat dieser Helfer zugleich für sich selbst dazulernen können.“ Fleig, Wenders, S. 179. – Vielleicht ist es grade dieser Satz von Bruno, der einige Interpreten dazu motiviert hat, IM LAUF DER ZEIT in den Kontext des deutschen Bildungsromans einzuordnen. Vgl. dazu: Gemünden, Way to Language, S. 16.

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dass Bruno so etwas wie eine Erkenntnis äußert und dass sich eine Veränderung gegenüber früher eingenommenen Positionen andeutet. Diese Szenen finden kurz vor dem showdown statt,52 der in einem ehemals von Amerikanern genutzten Kontrollhäuschen direkt an der Grenze stattfindet. In diesem Haus, das aus nur einem Raum besteht, führen king of the road und Kamikaze das längste und wohl auch ehrlichste Gespräch miteinander – allerdings unter dem Einfluss starker alkoholischer Getränke. Ergebnis ist, dass sie in ein tätliches Duell geraten und dass Robert am anderen Morgen beschließt, endgültig wegzugehen und vom Lastwagen auf den Zug umzusteigen. Sobald geredet wird, streitet man beziehungsweise trennt sich.53 Zuvor aber erzählt Robert, was sein Beruf ist. Er erläutert ausführlich, dass er Forschungsergebnisse über das Schreiben- und Lesenlernen von Schulanfängern und deren Verhältnis zu Schrift und Ziffern auswertet. Er hat mit Kindern zu tun, aber er hat vor allem mit Schrift und Schreiben zu tun, während Bruno seine handwerklichen Reparaturkünste einsetzt, damit Bilder auf die Leinwand gebracht werden können. Sind ihre Arbeitsgebiete weit voneinander entfernt, ist es auch die Art und Weise, wie sie über Frauen denken und reden. Dabei wechseln sie die Rollen: Während zunächst Bruno Robert ‚therapiert‘, versucht anschließend Robert dasselbe mit seinem Reisekollegen. Obwohl Robert gerade eine Trennung hinter sich hat und während des Films unter den Folgen dieser Erfahrung leidet, erweist er sich in diesem ‚Abschlussgespräch‘ über Frauen und die Möglichkeiten, mit ihnen zusammenzuleben, als der Optimistischere. Er erklärt sich bereit für Veränderung und Wandel. Hingegen bleibt king of the road skeptisch und misstrauisch, was die Beziehungen zum anderen Geschlecht angeht, er wirkt resigniert und einsam, was ja auch zu seiner Lastwagen-Existenz passt.54 Bruno reagiert auf Kamikazes aufmunternde Be-

52 Gemünden spricht von einem „classic Hollywood showdown“. Gemünden, Way to Language, S. 18. 53 „Sie gehen auseinander, weil sie sich auf dieser Reise durch Deutschland plötzlich nahe gekommen sind. Das ist die Geschichte, die sonst in Männerfilmen nicht erzählt wird. Die Geschichte von der Abwesenheit der Frauen, die gleichzeitig die Geschichte ist von der Sehnsucht, daß sie doch anwesend wären!“ Wenders, Logik der Bilder, S. 23. 54 Gemünden bezeichnet ihn als „a typical example of the Neue Innerlichkeit“. Gemünden, Way to Language, S. 18.

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merkungen sehr zurückhaltend. Interessanterweise ist das allerletzte Wort, das zwischen ihnen fällt, eines, das eben jene Filmkultur beschreibt, um die es in IM LAUF DER ZEIT geht, das aber bisher nie gefallen ist. Nachdem Bruno das Wort „Pornofilm“ ausgesprochen hat, bläst Robert die Kerze aus und gibt damit das Schlaf-Zeichen. Am anderen Morgen hinterlässt er ihm einen Zettel an der Tür, auf dem steht: „Es muss alles anders werden. So long. R.“55 Er hält damit schriftlich fest, was er während des nächtlichen Gesprächs auch schon als Lebenseinstellung vertreten hatte, aber Bruno lässt den Zettel im Wind wegfliegen, nachdem er ihn gelesen hat. Veränderungen wird es möglicherweise in Roberts Leben geben, aber was aus Bruno wird, lässt der Film offen. Es gehört vielleicht zu den besonderen Stärken des Films, aus diesem Männer-Duo eben kein Männer-Freundschaftsbündnis zu machen, sondern die beiden in einem ambivalenten, brüchigen und dissonanten Zusammensein zu zeigen, das überhaupt keine freundschaftliche Zukunft gewinnt und haben kann.56 Im Unterschied zu anderen road movies, in denen sich durch das enge Beieinandersitzen in Fahrzeugen unweigerlich eine Form von Gemeinsamkeit ergibt, bleiben die beiden ‚Helden‘ aus IM LAUF DER ZEIT trotz der räumlichen Nähe im Lastwagen getrennt und entwickeln nur kurzfristig bescheidene Formen von Übereinstimmung, die aber immer schnell wieder zurückgenommen werden. Weil sie sich vorsichtig in ihrem Männerdasein bewegen, können sie auch keine üblichen ‚Männergespräche‘ führen. Wenn sie über Frauen reden, versuchen sie es im vorsichtigen Stil der 1970er Jahre, in denen es ein wachsendes Bewusstsein dafür gab, wie groß die Gefahr für diskriminierende Äußerungen gerade auf diesem Feld ist. Sie gehen kritisch mit sich selbst um, vermeiden jedes männliche Gehabe und repräsentieren beide jeweils auf eigene Art eine Alternative zu ei-

55 Geschrieben ist dieser zukunftsfrohe Satz auf einer Seite des Buches, das Robert gelesen hat; erkennbar ist der Name der Autorin: Maud Mannoni, eine französische Kinderanalytikerin, die alternative Therapiemöglichkeiten für gestörte Kinder und Jugendliche vorschlug und erprobte. 56 Vielleicht sogar gar keine Zukunft, wie Michael Covino meint, wenn er schreibt, dass einen bei Wenders’ Filmen das Gefühl beschleicht, „that the characters have no real future – disturbing precisely because it corresponds in some unspeakable way to our own feelings that the world seems to be winding down.“ Covino, Homesickness, S. 13.

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nem aggressiven, dominanten und herrschsüchtigen Auftreten. Gerade weil sie sich nicht zusammentun und jeder für sich bleibt, wird eine männerbündische Stärke vermieden, ergeben sich neue Perspektiven auf männliche Existenzen.57 Während das Männergespann aus IM LAUF DER ZEIT ein filmgeschichtlich bekanntes und eingeführtes Paar inszeniert, kann man das für das Reiseteam aus ALICE IN DEN STÄDTEN nicht sagen, zumal der circa dreißigjährige Journalist Philip Winter und die neunjährige Alice nicht miteinander verwandt sind. Der Filmtitel erinnert überdeutlich an Lewis Carrolls Roman Alice im Wunderland aus dem Jahr 1863, der so bekannt geworden ist, dass man diesen weiblichen Vornamen nicht mehr unschuldig verwenden kann. Wenn die erste Begegnung zwischen Philip und Alice in New York stattfindet, scheint sich das wonderland-Versprechen einzulösen, zumal die beiden dann auch noch von der obersten Plattform eines Wolkenkratzers durch ein Fernrohr die Stadt betrachten. Aber sie bleiben nicht lange in dieser Stadt, sondern reisen gemeinsam über Amsterdam nach Wuppertal und weiter ins Ruhrgebiet hinein. Alice’ Mutter kann wegen einer Beziehungsgeschichte New York noch nicht verlassen, bittet aber Philip, ihre Tochter schon einmal mit nach Europa zu nehmen, damit sie einen Grund hat, die Stadt (und den Mann) zu verlassen. Da sich ihr Nachkommen verzögert, bleiben Philip und Alice länger als vorgesehen zusammen und bilden eine nicht spannungsfreie Notgemeinschaft. Wie Bruno und Robert kennen beide sich überhaupt nicht, als sie die Reise starten beziehungsweise sind sich einen Tag zuvor erst zufällig im Reisebüro begegnet. Aber anders als Bruno und Robert wachsen der Mann und das Mädchen während ihrer Touren durch niederländische und westdeutsche Städte zu einem Team zusammen, dem es gelingt, die unterschiedlichen Interessen eines Kindes und eines

57 „Dieser Film ist die Geschichte von zwei Männern, und das auf eine andere Art als die Männerfilme aus Hollywood. Die amerikanischen Männerfilme vor allem der letzten Zeit sind ja reine Verdrängungsfilme: Filme, in denen die wirklichen Beziehungen, zu den Frauen, aber auch zwischen den Männern, verdrängt sind von der Story, der Action und dem Unterhaltungszwang. Sie lassen aus, worum es eigentlich geht: warum die Männer lieber unter sich sind, warum sie sich mögen, warum sie Frauen entweder nicht mögen, oder, wenn sie sie mögen, dann nur als Zweitvertreib. (Eigentlich eine schöne Fehlleistung. Lassen wir sie so stehen.)“ Wenders, Logik der Bilder, S. 23.

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Erwachsenen zu berücksichtigen. Auch mit diesem Paar wird ein ‚Beziehungsexperiment‘ durchgeführt, auch mit Philip und Alice werden neue Formen des Miteinanders ausprobiert jenseits familiärer Bindungen und eigentlich auch jenseits von Vorbildern. Dass eine solche Mann-MädchenKombination in jenen Jahren allerdings in der Luft gelegen haben muss, zeigt Peter Bogdanovichs Film PAPER MOON,58 der nur ein Jahr vor dem ALICE-Film Premiere hatte.59 In diesem Film reisen ein Mann und ein Mädchen, die in einem ähnlichen Alter sind wie Philip und Alice, durch das ländliche Amerika, wenngleich in diesem Fall eine verwandtschaftliche Beziehung zumindest nicht ganz ausgeschlossen ist. 60 Aber das amerikanische Mann-Mädchen-Paar unterscheidet sich von dem deutschen Nachfolger: Es ist frecher, (klein-)krimineller, und es fährt auch am Ende des Films weiterhin gemeinsam in dem kleinen stotternden Auto ziellos in die weite amerikanische Landschaft hinein. Aber auch wenn das deutsche Paar diese Eigenschaften nicht hat, so wird mit Philip und Alice gleichwohl ausprobiert, was ein Erwachsener und ein Kind miteinander anfangen können – unter der Voraussetzung, dass das Kind ernst genommen und als Partner akzeptiert wird.61 Gleichzeitig wird die männliche Rolle neu überdacht,

58 Peter Bogdanovich: Paper Moon. Paramount Home Entertainment 2003. 59 Auf dem Cover der DVD ALICE IN DEN STÄDTEN erläutert Wim Wenders, dass er vier Wochen vor Drehbeginn bei einem Screening in New York zufällig PAPER MOON gesehen hat und eigentlich seinen Film schon nicht mehr machen wollte, weil er meinte, sein eigenes Drehbuch ähnelte Bogdanovics Film zu sehr. Aber dann habe ihn sein amerikanischer Regisseurkollege Sam Fuller davon überzeugt, dass eine solche Entscheidung falsch sei und er habe den ALICE-FILM trotzdem gemacht. Wim Wenders: Alice in den Städten. Arthaus 2007. 60 Auf

jeden

Fall

waren

das

traumhaft

sicher

miteinander

agierende

Schauspielerpaar Ryan O’Neil und Tatum O’Neil im ‚wirklichen Leben‘ Vater und Tochter, so dass der Mann-Kind-Kombination in P APER MOON ein wenig von ihrer geschlechterspannenden Brisanz genommen wird, die es in ALICE IN DEN STÄDTEN

durchaus hat.

61 Es ist nicht ausgeschlossen, dass ALICE IN DEN STÄDTEN auch inspiriert ist durch einen veränderten pädagogischen Diskurs, wie er nach 1968 im breiten Maße die bundesrepublikanische Diskussion um Erziehungsfragen und den Umgang mit Kindern beeinflusst hatte. Schlagworte wie ‚antiautoritäre

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weil Philip sowohl väterliche Seiten als auch mütterliche Talente entwickeln muss, um mit der unfreiwillig entstandenen Beziehung etwas anfangen zu können. Hin- und hergerissen zwischen Verantwortungsgefühl und Überforderung lässt er sich erst dann auf das Kind ein, als es nach einem Trennungsversuch freiwillig zu ihm zurückkommt und damit signalisiert, dass es ihm vertraut. Wenn IM LAUF DER ZEIT die Frage stellt, wie Männer miteinander umgehen, wenn sie nicht mehr stark und dominant sein müssen, so reflektiert ALICE IN DEN STÄDTEN, wie Männer mit Kindern beziehungsweise mit Mädchen umgehen (können), wenn sie keine verwandtschaftlichen und beruflichen Pflichten binden und sie gleichwohl bereit sind, eine ‚Beziehung‘ zu riskieren, die mit den ‚erotischen‘ Komponenten spielerisch und ironisch umgeht.62 Die Paar-Konstellation des ALICE-Films bricht mit eingefahrenen Mustern und schlägt andere Kombinationen vor, die geschlechts- und altersübergreifende Mischungen ergeben beziehungsweise ausprobieren. Und diese Beziehung gelingt besser als die männliche in IM LAUF DER ZEIT: Am Ende hat das Kind noch amerikanische Dollar, die sie dem neu gewonnenen Freund schenkt, damit dieser sich eine Fahr-

Erziehung‘, ‚Kinderläden‘, ‚Antipädagogik‘, ‚Kinderkultur‘ und ‚emanzipatorische Pädagogik‘ prägten die Debatten um einen repressionsärmeren Umgang mit Kindern, bei dem die traditionellen Hierarchien in Frage gestellt und nach alternativen Formen des Zusammenlebens und der Erziehung von Kindern gesucht wurde. Die Tatsache, dass sich in einem Band zur Kultur der 70er Jahre gleich zwei Aufsätze mit pädagogischen beziehungsweise kinderkulturellen Fragen befassen, zeigt, dass das Thema für dieses Jahrzehnt als ein relevantes eingeschätzt wird. Vgl. dazu: Reinhard Uhle: Pädagogik der siebziger Jahre – zwischen wissenschaftsorientierter Bildung und repressionsarmer Erziehung. Hans Dieter Kübler: Die eigene Welt der Kinder. Zur Entstehung von Kinderkultur und Kindermedien in den siebziger Jahren. Beide in: Faulstich, Kultur der 70er Jahre, S. 49-80. 62 „But the relationship of Alice and Phillip [sic!] actually bears a stronger resemblance, in a junior category sort of way, to the screen relationship of Humphrey Bogart and Lauren Bacall, who, with their extremely self-conscious way of clowning, of talking in innuendos, established a bond of such innate understanding between themselves that their roles seemed to merge into something entirely new. And something of this same alchemy develops between Alice and Phillip in the course of their travels.“ Covino, Homesickness, S. 12.

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karte kaufen kann. Besser kann man die zwischen ihnen entstandene Gleichberechtigung nicht inszenieren, als es mit dieser ökonomischen Überlegenheit des Mädchens geschieht. Und wie schon gesagt: Dass die beiden am Schluss gemeinsam in einem Schnellzugabteil der Deutschen Bundesbahn nach München reisen, ist am Ende dieses Films ein hoffnungsfrohes Zeichen. Zwar legt Wenders Wert darauf, dass auch IM LAUF DER ZEIT ein ‚optimistischer Film‘ sei,63 aber die Themen des Films – das Ende einer Kinoepoche und die holprige Mann-Mann-Beziehung – geben vielleicht doch insgesamt weniger Anlass, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen als die im ALICE-Film entstandene Mann-Mädchen-Beziehung, die eine generationen- und geschlechterübergreifende Verständigung erlangt und damit vielleicht doch einen utopischen Moment realisiert.64

63 Vgl. dazu: Gemünden, Way to Language, S. 18. 64 Daniela Berghahn: ‚Leben … ein Blick genügt doch‘: Der utopische Augenblick in Wim Wenders’ ‚road movies‘. In: Monatshefte 91 (1999) H. 1, S. 64-83, hier: S. 71. Berghahn geht nur kurz auf ALICE IN DEN STÄDTEN ein und sieht den utopischen Gehalt des Films eher darin, dass es dem Mädchen gelingt, „Philip das Sehen zu lehren und ihn aus seinem Zustand der Entfremdung und erstarrten Kommunikation zu lösen.“

„Old-Werther“, ,dieser Salinger‘ und Sidney Poitier: Ulrich Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen W. (1973)

K ULT

UM

W ERTHER -W IBEAU

Plenzdorfs kleiner Roman war schon unmittelbar nach seinem Erscheinen ein ‚Kultbuch‘ – sowohl in der damaligen DDR als auch im bundesrepublikanischen Teil Deutschlands.1 Er wurde unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit großem Interesse gelesen, er war Gegenstand von Kneipengesprächen und man musste ihn kennen (oder zumindest von ihm gehört haben), wollte man in intellektuell aufgeschlossenen Kreisen dazugehören.2 So unscharf der Begriff des ‚Kultbuches‘ auch sein mag3 – er ist hilfreich, um deutlich zu machen, dass „der Erfolg […] aus den Eigenschaften des Werkes und nicht aus einer Verkaufsstrategie“ resultiert.4 Mit anderen Worten: Ein Kultbuch (oder -film oder -song etc.) ist nicht planbar, sondern es wird von den (zumeist jugendlichen)

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Holger Helbig: Alles andere begriff ich. Zur Kultbuchlektüre in und von Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. In: Rudolf Freiburg / Markus May / Roland Spiller (Hg.): Kultbücher. Würzburg 2004, S. 77-99.

2

„Kultbücher sind das Gegenstück zur Sekundärliteratur. Man muß niemanden überreden, sie zu lesen. […] Was ein Kultbuch ist, darf jeder selbst definieren.“ Helbig, Kultbuchlektüre, S. 77.

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Vgl. dazu: Helbig, Kultbuchlektüre, S. 77-78.

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Helbig, Kultbuchlektüre, S. 77.

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Rezipienten zu einem solchen gemacht,5 nicht selten zur Überraschung des (erwachsenen) Autors, des Verlags oder der Produzenten. 6 Insofern unterläuft ein solches Werk beziehungsweise dessen Rezeption die Gesetze der kapitalistischen Waren- und Werbeindustrie und macht sich – zunächst – unabhängig von diesen, um ihnen letztlich allerdings auch wieder zu folgen.7 Warum wurden Die neuen Leiden von Edgar Wibeau – so der Name des plenzdorfschen Protagonisten – in den frühen 1970er Jahre zum Kult? Holger Helbig beantwortet die Frage vor allem im Kontext der DDR-Kultur beziehungsweise mit einem Blick auf die intertextuellen Bezüge und Spiele (über die noch zu sprechen sein wird) und wundert sich immer wieder darüber, warum westdeutsche Jugendliche und Lehrer Ulrich Plenzdorfs

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Vgl. dazu: die Ausführungen zu Wim Wenders’ Film IM LAUF DER ZEIT in diesem Band. – Augenblicklich sind es eher amerikanische Fernsehserien wie THE SOPRANOS, THE WIRE, MAD MEN, BREAKING BAD oder THE WALKING DEAD, die Kultstatus haben; sie haben in den 2010er Jahren Bücher und Filme abgelöst und dominieren Party- und Tischgespräche. In den 2000er Jahren hingegen war die siebenbändige Harry Potter-Reihe der englischen Schriftstellerin J.K. Rowling weltweit und Kulturen übergreifend Kult und gewann auch solche Kinder und Jugendliche als Leser, die sonst eher einer Buchlektüre abgeneigt gegenüberstehen. Vgl. dazu: Michael Maar: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte. Berlin 2002.

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Das zeigt sich zum Beispiel am Fall von Harry Potter: J.K. Rowling hatte einige Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden, weil zahlreiche Verlage das Manuskript ablehnten und das Potential der Geschichte nicht erkannten.

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Weil Kultbücher häufig Bestseller werden, wird häufig vergessen, dass der Kultstatus zuerst kommt und der Verkaufserfolg an zweiter Stelle steht – nicht umgekehrt. „Zu den Kennzeichen eines Kultbuchs gehört die Existenz einer Interpretationsgemeinschaft, die eine relativ enge Verständnisnorm etabliert und überwacht. Dieser Umstand bildet ebenfalls einen Leseanreiz, er fördert den Übergang vom Kultbuch zum Bestseller. Das sind heuristisch und für den konkreten Leser zwei klar voneinander trennbare Kategorien, die in der statistischen Gesamtschau nicht auseinandergehalten werden können und unter werbetechnischen Gesichtspunkten auch gar nicht sollen: Die Zirkulation von Werten ist in Konsumgesellschaften eng mit der von Waren verfochten.“ Helbig, Kultbuchlektüre, S. 78.

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Roman ebenfalls begeistert aufgenommen haben, wenn doch so viele Details nur auf der Folie der DDR-Kultur verstanden werden konnten.8 Aber die breite Rezeption des liebes- und weltleidenden Wibeau-Werthers der 1970er Jahre hängt nicht vom Verstehen aller Anspielungen ab, sondern die (identifikatorische) Lektüre des Romans diesseits und jenseits der Mauer steht vielleicht eher im Zusammenhang mit dem neuen schnoddriglässigen Erzählstil, der zum ersten Mal in der deutschsprachigen Literatur sich dem Jugendsprachgestus anzunähern versuchte und der flapsig und ironisch über ‚schwere‘ Themen wie Liebe, Leben und Tod zu erzählen weiß.9 Wenngleich spätere Leserinnen und Leser sich gerade an dieser Nachahmung gesprochener Sprache stören mögen – weil solche Sprechstile so schnell veralten –, so bleibt für den Entstehungskontext des Romans festzuhalten, dass es einen vergleichbaren schriftsprachlichen Entwurf im deutschen Kontext bis dahin nicht gegeben hat und dass dieses Neuland von Plenzdorf zu einem Zeitpunkt betreten wurde, als es ein gesteigertes Interesse an kindlich-jugendlicher Weltwahrnehmung (und -sprache!) gab.10 Darum spielt es keine Rolle, wenn man im Westen nicht wusste, dass

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Vgl. dazu besonders: Helbigs Ausführungen zu den ‚echten Jeans‘: Helbig, Kultbuchlektüre, S. 95-96. – Allerdings müsste man sich dann auch wundern, warum der Roman sehr schnell in zahlreiche andere Sprachen übersetzt wurde: In Finnland, Japan, Dänemark, Italien, Frankreich, England, Norwegen und anderen Ländern dürften die DDR-bezogenen Anspielungen auf genauso wenig oder sogar auf noch weniger Verständnis getroffen sein. Vgl. dazu: Peter J. Brenner (Hg.): Plenzdorfs ‚Neue Leiden des jungen W.‘ Frankfurt/M 1982, S. 348.

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„Neu ist aber auch das Thema und seine Sprachgebung: Ein Siebzehnjähriger läßt seine Probleme im Verhältnis zu den Mitmenschen und zur sozialistischen Gesellschaft sehen und spricht über sie in seinem Jugendlichenslang.“ Gerd Labroisse: Überlegungen zur Interpretationsproblematik von DDR-Literatur an Hand von Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. In: Ders. (Hg.): Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik (1975) Bd. 4, S. 157-181, hier: S. 157.

10 Vergleichbare Stile und Töne finden sich dann bezeichnenderweise auch in der in den 1970er Jahren geschriebenen Kinder- und Jugendliteratur, insbesondere in den Romanen der österreichischen Autorin Christine Nöstlinger wie Wir

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„Jumo“ die Abkürzung für das Kombinat ‚Jugendmode‘ ist;11 aber Plenzdorfs unpädagogisches und jenseits didaktischer Aufklärung angesiedeltes Wertherprojekt konnte auf eine zustimmende Lektürehaltung treffen, weil die Erfahrungen Edgar Wibeaus nicht von oben herab erzählt werden, sondern weil dem jugendlichen Protagonisten ungeschminkt das Wort gegeben und so getan wird, als erzähle er seine Geschichte in seiner Sprache – und das auch noch aus einer jenseitigen Perspektive. Es ist nicht zuletzt die Mischung von aufmüpfiger Jugendlichkeit des lebenden mit der eigenwilligen Klugheit des toten Edgar, die den Neuen Leiden des jungen W. einen unverwechselbaren Gestus verleihen. Den ironischen Blick auf menschliches Leiden, der sich einstellt, wenn ein Leben als beendet betrachtet wird,12 kostet Plenzdorf weidlich aus und witzelt deswegen nicht nur über den Liebeskummer des DDR-Werthers, sondern indirekt auch über den des goetheschen Helden. Auch Goethes Werther ist von Beginn an tot, aber die Briefdokumente sind schriftliche Zeugnisse des unmittelbar gelebten Lebens und keine Stimme aus dem Jenseits; ihnen fehlt die Distanz und der Überblick, der sich einstellt, wenn der Erzähler tot ist und weiß, dass es keine (Liebes-)Zukunft mehr geben wird. Während die Briefe den Eindruck des gegenwärtigen Erlebens zu vermitteln suchen, verschafft die Stimme eines Toten die Möglichkeit, zugleich ernsthaft wie komisch über eine gescheiterte Initiation zu erzählen.13 Und es ist nicht zuletzt diese

pfeifen auf den Gurkenkönig (1972) und Hugo oder Das Kind aus der Konservenbüchse (1975). 11 Vgl. dazu: Helbig, Kultbuchlektüre, S. 96. 12 Vgl. dazu auch: Gerd Labroisse, der in der „Ironisierung zulassenden Distanz der Jenseitsposition“ auch eine „Kritik an der Umwelt, an den anderen und deren Verhalten“ erkennen will. Labroisse, Überlegungen zur Interpretationsproblematik, S. 165. 13 Komik stellt sich nicht zwangsläufig ein, wenn aus der jenseitigen Perspektive erzählt wird. Das zeigt Billy Wilders Film SUNSET BOULEVARD aus dem Jahr 1950, der ebenfalls aus der Sicht eines Toten erzählt wird. Komik liegt aber nahe, wenn das Unmögliche möglich gemacht wird, wie der Anfang des Films zeigt: Der Erzähler liegt tot im Swimmingpool und kommentiert seine ‚Lage‘ aus dem off trocken-lakonisch mit dem Satz: „Poor guy! He always wanted a pool.“ Bekannt ist auch, dass Wilder zunächst einen anderen Anfang entworfen hatte, der aber beim Probepublikum zu große Lacherfolge erzielte (und nicht nur

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Heiterkeit, die Plenzdorfs Roman zu einem besonderen Dokument der deutschsprachigen Literatur der 1970er Jahre macht, weil die Literatur jener Jahre – wie die deutsche Literatur überhaupt – nicht gerade reich ist an Werken, bei denen man in Versuchung käme, Forschungen zur Komik zu berücksichtigen. Dass man aber bei Plenzdorfs Neuen Leiden durchaus Anlass für einiges Amüsement finden kann, ist vielleicht auch ein Grund für seinen schnellen Kultstatus: Viel zu lachen bietet die Literatur jenes Jahrzehnts ansonsten nicht. Aber Edgar Wibeau ist nicht der einzige Erzähler, der über die Ereignisse zwischen September und Dezember eines nicht genannten Jahres erzählt. Die neuen Leiden des jungen W. sind ein vielstimmiger Roman, in dem zahlreiche Figuren auftreten und ihre Sicht vortragen: die Eltern, der Freund Willi, Arbeitskollegen und nicht zuletzt die neue ‚Charlotte‘, die hier zu einer ‚Charlie‘ wird. Diese Passagen der erzählten Rede erinnern noch am stärksten an den Dramencharakter des Romans, weil ihre nicht eingeleitete dialogische Gestaltung unmittelbar bühnen- (und filmtauglich) ist.14 Ausgelöst werden die nachträglichen Befragungen derjenigen, mit

ein leichtes Schmunzeln). Weil Wilder seine Geschichte von dem älteren Filmstar Norma Desmond aber nicht in einen komischen Kontext gerückt sehen wollte, wurde der Beginn des Films neu gestaltet. 14 „1969 geschrieben, erschienen Die neuen Leiden des jungen W. zuerst als etwa 50 Seiten langer Prosatext 1972 in der Zeitschrift Sinn und Form. Im Mai desselben Jahres hatte das gleichnamige Bühnenstück in Halle seine Uraufführung. Es erschien 1974 in der DDR zusammen mit einem anderen Stück von Plenzdorf […]. Plenzdorf hat zusammen mit Heiner Carow auch ein Drehbuch erarbeitet […] der Film wurde allerdings nicht gedreht.“ Helbig, Kultbuchlektüre, S. 80. – Wenn man die Prosafassung mit der Urfassung vergleicht, wird einmal mehr deutlich, wie sehr der Roman durch die Jenseitsperspektive gewinnt. Die erste Fassung der Geschichte ist als Drehbuch für einen DEFA-Film gedacht und erzählt die Geschichte, der Chronologie entsprechend, mit der Krise in Edgars Lehrlingswerkstatt zu Beginn, auf welche die Begegnung mit Charlie und Dieter in Berlin und schließlich die erfolgreiche Integration Edgars in die Mittenberger Gesellschaft folgt; d.h. Edgar überlebt seine – zudem erfolgreiche – Spritzenbastelei. Die Ambivalenzen, die Heiterkeit, der Humor und die ironische Perspektivierung von Liebes- und Lebensleiden fehlen in dieser bieder-brav wirkenden Fassung noch gänzlich. Vgl. dazu:

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denen Edgar in seinen drei letzten Lebensmonaten zu tun hatte, durch die Tonbänder, die er besprochen hat und auf denen er seine eigene Fassung des goetheschen Werther-Romans elektronisch festgehalten hat. Diese Tonbänder bilden nicht nur eine weitere Stimme in diesem Chor der EdgarFans, sondern sie zitieren auch ein anderes Medium und sind mit ihrem Ausflug in die akustische Technik besonders markant, weil diese Stimme unendlich wiederholt und auch noch nach dem Tod des Protagonisten gehört werden kann. Kommentiert werden all diese Beiträge durch den toten Edgar, der sich aus dem Jenseits in den Versuch einschaltet, die Umstände seines Todes zu rekonstruieren.15 Diese Vielstimmigkeit macht die Neuen Leiden zu einem modernen Roman, der in seiner offenen, fragmentarischen Anlage keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt, sondern der (‚werthersche‘) Wahrheiten befragt und zur Diskussion stellt. Das zeigt bereits der Anfang des Romans, der im Folgenden ausführlicher analysiert werden und anschließend mit den Anfängen der drei intertextuellen Referenzwerke der Neuen Leiden verglichen werden soll. Auf diese Weise soll Plenzdorfs Roman in seinem intertextuellen Bezugsfeld kontextualisiert und sein Verhältnis zur Tradition sowie sein Beitrag zu einem innovativen Erzählen verdeutlicht werden.

Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. (Urfassung). In: Brenner, Neue Leiden, S. 71-138. 15 Vgl. dazu auch: Roland Barthes: Textanalyse einer Erzählung von Edgar Allan Poe. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/M 1988, S. 266-298. Barthes diskutiert in Verbindung mit Poes Erzählung Die Tatsachen im Fall Valdemar, dass der Satz ‚Ich bin tot‘ eine „unmögliche Äußerung“ sei. Diesen Satz, den Barthes auch als ein „explodiertes Tabu“ (S. 291) bezeichnet, spricht Edgar Wibeau aber nie aus. Vielmehr lässt sich die Jenseits-Perspektive nur indirekt aus den Todesanzeigen zu Beginn und den Gesprächen der Figuren erschließen. Seinen Todesstatus bezeichnet Edgar immer mit der umgangssprachlichen Wendung, dass er „über den Jordan“ gegangen sei, so dass die dramatische Endgültigkeit vermieden wird. Vgl. dazu: Neue Leiden, S. 16.

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E IN T OTER

ERZÄHLT



Die neuen Leiden beginnen mit vier ‚Zeitungszitaten‘, die an einem 26.,16 30. und 31. Dezember in Berliner und Frankfurter Zeitungen erschienen sind. Während in der ersten Meldung noch von einer schweren Verletzung des „Jugendliche[n] Edgar Wibeau“ die Rede ist, machen die drei nachfolgenden Todesanzeigen klar, dass Edgar die Folgen seiner ‚unsachgemäßen‘ „Basteleien […] mit elektrischem Strom“ nicht überlebt hat.17 Edgar wird mit diesen vier kurzen Zeitungsmeldungen nur in Andeutungen vorgestellt: Zunächst erscheint er als unangemeldet in einer Laubenkolonie lebender Vagabund, der unfähig ist, mit Elektrizität umzugehen; dann loben ihn seine Arbeitskollegen als jemanden, der „noch viel vor“ hatte;18 und die beiden Anzeigen, die in Frankfurt an der Oder erschienen sind, sprechen von einem ‚tragischen Unfall‘ beziehungsweise dem „unvergessenen Jugendfreund“ und dem ‚lieben Sohn‘.19 Wir wissen nach diesem vierstimmigen Prolog nicht viel über den lebenden Edgar Wibeau, aber wir wissen sicher, dass er tot ist. Aus dem unvermittelt einsetzenden Gespräch, das auf die Anzeigenserie folgt und das Edgars Eltern miteinander führen, wird in ersten Ansätzen deutlich, dass der lebende Edgar eine widersprüchliche Gestalt war, die sich von einem Tag auf den anderem vom ‚besten Lehrling‘ zum „Rowdy“ entwickelt hat.20 Dieses Gespräch ist in einem lockeren Stil gehalten, das Mündlichkeit einzufangen versucht und das durch den Gebrauch von Verben wie ‚schmeißen‘, ‚rennen‘ und ‚gammeln‘ bereits Annäherungen an alltagsprachliche Sprechweisen aufweist. Edgars Mutter, die lange Zeit mit ihrem Sohn zusammengelebt hat, redet in dieser Form, während der Vater, der seinen lebenden Sohn kaum gekannt hat, eher Fragen stellt, als dass er selbst erzählt. Auf jeden Fall gibt es stilistisch und inhaltlich einen

16 „Bei aller Begeisterung für Jahresendflügelfiguren, dieser Tag war auch in der demokratischen Republik ein zeitungsfreier Feiertag“, schreibt Holger Helbig und weist damit darauf hin, dass die Zeitungsmeldung vom 26. Dezember ein Fiktionalitätssignal ist. Helbig, Kultbuchlektüre, S. 82. 17 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 7. 18 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 7. 19 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 8. 20 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 9.

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markanten Unterschied zwischen den Todesanzeigen und der Unterhaltung der beiden Erwachsenen, wobei Edgar durch die Ausführungen seiner Mutter mehr und mehr als eine originelle Gestalt vorgestellt wird, von der einige Überraschungen zu erwarten sind. Entwerfen diese kommentarlos aufeinanderstoßenden Stimmen bereits ein disparates Bild von Edgar, so kommt als weitere Stimme plötzlich und unerwartet die des ‚Toten‘ selbst zu diesem Orchester hinzu, die in das elterliche Gespräche einbricht, als es um seine Beziehung zu Frauen geht. Um seine männliche Ehre zu retten, wird der Tote wieder ‚lebendig‘: „Stop mal, stop. – Das ist natürlich Humbug. Ich hatte ganz schön was mit Mädchen.“21 Das laute und gegenwärtige ‚Ich‘ des toten Edgars, welches das Reden seiner Eltern unvermittelt unterbricht, ist bei der Erstlektüre eine Überraschung, weil die Freiheit der Fiktion in radikaler Weise genutzt wird, um ein Tabu zu brechen. Dass sich der tote Edgar in den Chor einschalten darf, ist der Höhepunkt dieses Romananfangs und wird im Nachfolgenden nur noch durch die Tonbandprotokolle übertroffen, auf denen dann der ‚alter Werther‘ sprechen darf. Die fremden Blicke auf den Verstorbenen werden ergänzt durch die Ich-Perspektive und erfahren dadurch Korrekturen und Erweiterungen, wie sie anders nicht zu erlangen wären. Zudem bringt Edgar einen leger-unbefangenen Ton in die Erzählung, wenn er zahlreiche jugendsprachliche Wendungen wie „Humbug“, ‚rumkriegen‘, „Idiot“, ‚rackern‘, „beölen“, ‚Pfötchen machen‘ und „Sauerei“ gebraucht.22 Der Anfang des Romans wandert also stilistisch vom hohen elegischen Stil der Todesanzeigen über das umgangssprachliche Reden der Eltern hin zum lässigen Jargon eines Siebzehnjährigen, und er wandert zudem vom Reden über den Toten zum Sprechen dieses Toten selbst. Damit ist die Stimmenvielfalt des Romans nicht erschöpft, aber bereits die ersten vier Seiten machen deutlich, dass das Problem der Neuen Leiden von unterschiedlichen Seiten angegangen wird und dass mit einsinnigen Lösungen daher nicht zu rechnen ist. Im Unterschied zu diesem vielstimmigen Romaneingang beginnen Goethes Leiden des jungen Werther zweistimmig: Zunächst ‚spricht‘ ein fiktiver Herausgeber, aus dessen Reden indirekt deutlich wird, dass wir es im Nachfolgenden mit einem toten Helden zu tun haben und dass uns nur

21 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 10. 22 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 10-11.

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noch die schriftlichen Zeugnisse seiner Existenz vorliegen. 23 Während der Herausgeber zunächst seine editorische Arbeit erläutert, spricht er in einem zweiten Absatz den Leser unmittelbar an und hofft, dass dieser „Trost“ aus dem „Leiden“ des Briefschreibenden schöpfen könne, wenn er in eine ähnliche Situation gelange.24 Dieser unmittelbaren Leseranrede haftet eine didaktische Haltung an, die dem nachfolgend erzählten (Liebes-)Leiden einen über den Tod andauernden Sinn geben soll. Mit einigem Pathos hebt der Brief Werthers vom 4. Mai 1771 an, der das ‚Erste Buch‘ einleitet und einerseits von der Freude berichtet, an einem anderen Ort zu weilen, und andererseits (ebenso wie bei Edgar) ‚Probleme mit Frauen‘ als Grund für seinen Ortswechsel andeutet: „Die arme Leonore!“ 25 Aber der goethesche Werther gibt nicht an mit seinen Erfolgen beim weiblichen Geschlecht, sondern er denkt in Verbindung damit über sich und über eine gegenwartsbezogene Lebenseinstellung nach. Im Stil unterscheidet sich dieser Brief nicht von der Bemerkung des Herausgebers; beide sprechen die gleiche Sprache und verleihen ihren Empfindungen unmittelbaren Ausdruck: „O was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf.“ 26 Wenngleich wir hier auch die Stimme eines Toten hören, so ist das Briefdokument doch eines, das aus der Vergangenheit spricht und das über die Gegenwart nichts zu sagen vermag. Der Roman beginnt nur vermittelt mit dem Tod des Helden, in den Briefdokumenten aber lebt der Protagonist und erzählt uns unmittelbar von seinen Freuden und Leiden. Die Briefe sind zudem klar in der kommunikativen Ausrichtung: Sie sind an den Freund gerichtet und damit an ein intimes ‚Publikum‘. Die Ereignisse um den ‚älteren Werther‘ werden eindeutiger eingeleitet; deutlicher werden die Emotionen präsentiert: die Trauer um den Tod sowie die Freude über die Abreise und das ‚Hintersichlassen‘ von emotionalen Verwirrungen. Die Gegenüberstellung der Anfänge der beiden WertherGeschichten macht einmal mehr deutlich, wovon sich Plenzdorf

23 Im Zweiten Buch meldet sich dieser ‚Herausgeber‘ dann häufiger zu Wort, wendet sich auch manchmal direkt an den Leser. 24 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Mit einem Essay von Georg Lukács sowie zeitgenössischen Illustrationen von Daniel Nikolaus Chodowiecki und anderen. Frankfurt/M 1981, S. 8. 25 Goethe, Leiden des jungen Werther, S. 9. 26 Goethe, Leiden des jungen Werther, S. 9.

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verabschiedet und was er mit seinem kaleidoskopartigen Beginn anstrebt: einen ironischen Blick auf ‚große‘ Gefühle, wie sie mit Liebe und Tod einhergehen, die Offenheit in der strukturellen Anlage und einen breiten öffentlichen Diskurs über Edgars Schicksal beziehungsweise die allgemein damit verbundenen gesellschaftlichen Fragen. Dass die Neuen Leiden auf Goethes Roman verweisen, wird bereits im Titel klar. Aber bevor Edgar Wibeau – unbekannterweise – auf die Leiden des jungen Werther stößt, hat er andere Lektüreleidenschaften: „Meine Meinung zu Büchern war: Alle Bücher kann kein Mensch lesen, nicht mal alle sehr guten. Folglich konzentriere ich mich auf zwei. Sowieso sind meiner Meinung nach in jedem Buch fast alle Bücher. […] Meine zwei Lieblingsbücher waren: Robinson Crusoe. […] Das andere war von diesem Salinger.“27 Edgar bekennt sich damit zu zwei sehr unterschiedlichen Romanen, die der englischen beziehungsweise amerikanischen Kultur entstammen. Vor allem Defoes Roman ruft mit seinem Erscheinungsdatum von 1719 eine ganz andere Erzähltradition auf, aber auch Salingers Catcher in the Rye [Der Fänger im Roggen], der 1951 erstmals erschien, ist bereits über zwanzig Jahre alt, als die Neuen Leiden publiziert werden.28 Sowohl

27 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 32-33. – Es ist interessant, dass Roland Barthes ganz ähnlich argumentiert, um seine eingehende Analyse der Erzählung Sarrasine von Honoré de Balzac zu rechtfertigen: „Eine wiederholte Lektüre […] wird hier gleich zu Beginn vorgeschlagen, denn sie allein bewahrt den Text vor der Wiederholung (wer es vernachlässigt, wiederholt zu lesen, ergibt sich dem Zwang überall die gleiche Geschichte zu lesen) […].“ Roland Barthes: S/Z. Frankfurt/M 1987, S. 20. [1. franz. Aufl. 1970; 1. dt. Aufl. 1976] – Franz Peter Waiblinger hingegen spricht davon, dass sich „Edgars […] Interesse an Büchern […] auf Robinson Crusoe und Salingers Fänger im Roggen konzentriert (oder beschränkt)“ und sieht damit die wiederholte Lektüre zweier Romane eher negativ. Franz Peter Waiblinger: Zitierte Kritik. Zu den Werther-Zitaten in Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. In: Poetica 8 (1976) S. 7188, hier S. 80. 28 „Apropos kein Mensch kannte das: Jerome David Salingers Fänger im Roggen erschien in der DDR 1965 bei Volk und Welt, in der bearbeiteten Übersetzung von Heinrich Böll, in Leinen und kostete 7,80 Mark. Edgar hätte auch die zweite Auflage lesen können, die vier Jahre später erschien.“ Helbig, Kultbuchlektüre, S. 83.

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bei Robinson Crusoe als auch beim Fänger im Roggen handelt es sich um Initiationsgeschichten, die von den – erfolgreichen – Übergängen der Helden von einer Lebensphase in eine nächste erzählen. Auch Daniel Defoe hat – wie Goethe bei seinem Werther – eine Vorbemerkung der eigentlichen Romanerzählung vorausgeschaltet, in der er sich als „Editor“ bezeichnet, der die „Wonders of this Man’s Life“ eher zu berichten beabsichtigt, denn zu erzählen. Wichtig ist ihm neben dem exemplarischen Charakter der Erlebnisse seines Helden, dass er „just History of Fact“ aufzeichnet, „neither is there any Appearance of Fiction in it“. 29 Es ist dieser Anspruch, Faktisches zu dokumentieren, der Robinson Crusoe zu einem innovativen Romanprojekt werden lässt, in einer ganz neuen Erzählsprache, die sich einem rationalen, wissenschaftsnahen Stil annähert.30 Der nachfolgende Romanbeginn hebt dann auch ganz sachlich an mit dem Jahr und dem Ort der Geburt des Hauptprotagonisten und dem sozialen sowie ökonomischen Status seiner Familie. Sogar die Herkunft seines Vor- und Nachnamens, die bekanntermaßen den Titel des Buches bilden, werden erläutert. Die klare Ich-Perspektive vermittelt den Eindruck sicheren Wissens und zweifelsfreier Informationswiedergabe – da weiß jemand Bescheid über seine Herkunft und über das, was er mit seinem Leben will: unbedingt und um jeden Preis und gegen alle guten Ratschläge der Eltern und Freunde, „going to Sea“.31 Mit diesem Fakten aufzählenden Erzähleingang spielt J.D. Salinger zu Anfang der 1950er Jahre, wenn sein Ich-Erzähler genau diese Informationen verweigert und eben nicht „all that David-Copperfield kind of crap“ und „my whole goddam autobiography or anything“ erzählen will.32 Der Roman beginnt unvermittelt, nur aus Andeutungen lässt sich schlussfolgern, dass der Protagonist eine heftige Krise hinter sich hat und dass er nunmehr an einem Ort ist, an dem er es ruhiger angehen lassen muss. Der Erzähler sagt jedoch zu Beginn mehr über seinen Bruder als über

29 Daniel Defoe: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe. Ed. by J. Donald Crowley. London, New York, Toronto 1972, S. 1. 30 Vgl. dazu: J. Donald Crowley: Introduction. In: Robinson Crusoe, S. VII-XXX, hier S. XIV. 31 Defoe, Robinson Crusoe, S. 3. 32 J.D. Salinger: The Catcher in the Rye. 24. Aufl. Boston 1965. [1. Aufl. 1951], S. 3.

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sich selbst, und er sagt mehr über die Pencey Prep-Schule, an der er zuletzt gewesen ist und an der die Krise ausbrach: „It was a terrible school, no matter how you look at it.“33 Der jugendsprachliche Jargon der 1950er Jahre vermittelt eine ironische Distanz zu dem Erzählten und bricht mit der Ernsthaftigkeit von Daniel Defoes Romanbeginn. Auch wenn es im Folgenden offensichtlich um dramatische Ereignisse gehen wird, so steht der mündliche Sprachgestus im Gegensatz zu den heftigen Krisen, die als „stuff“ bezeichnet werden,34 was ihnen einiges an Schwere nimmt. Alle drei Romane, auf die in den Neuen Leiden hingewiesen wird, haben weltliterarischen Status erlangt, sind weit über ihren nationalliterarischen Radius hinaus bekannt geworden und erreichen auch in der Gegenwart nach wie vor ein breites Lesepublikum. Alle drei Romane gehören zu einem weltliterarischen Kanon, weil alle drei auf je eigene Art ein in ihrer Zeit innovatives Erzählprojekt starten: Defoe strebt einen Tatsachenbericht an, der nicht Erfundenes, sondern Erlebtes wiedergeben will; Goethe findet im Werther eine neue, unmittelbare Sprache für emotionale Bewegungen, Zustände, Gefühle, und Salinger versucht im schriftlichen Erzählen eine Annäherung an gesprochene Jugendsprache. Alle drei Romane waren in ihrer Zeit ‚Kultbücher‘, haben ein weit über akademische Kreise hinausreichendes breites Publikum erreicht und sind mit ihren Erzählungen sprichwörtlich geworden.35 Sowohl Goethe als auch Defoe und Salinger erzählen die Geschichte eines Ausbruchs aus der Gesellschaft: Defoe – zumindest in seinem ersten Teil – in der Gestalt eines Abenteuer-, Goethe und Salinger in der Gestalt eines Adoleszenzromans. 36

33 Salinger, Catcher in the Rye, S. 5. 34 Salinger, Catcher in the Rye, S. 3. 35 Für Robinson Crusoe gibt J. Donald Crowley an, dass der Roman das erfolgreichste Buch ist, nach der Bibel. Crowley, Introduction, S. VII. 36 Während der Adoleszenzroman sich auf die Jugendphase bezieht, können Initiationserzählungen auch noch von Übergängen erzählen, die in höherem und höchstem Alter stattfinden. Mit anderen Worten: Alle Adoleszensromane sind auch Initiationserzählungen, aber nicht alle Initiationsgeschichten sind Adoleszensromane. Vgl. dazu: Dieter Lenzen: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Versteckte Bilder und vergessene Geschichten. Reinbek 1985. Lenzen befasst sich mit der Tradition und der Notwendigkeit von Inititationsritualen.

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Während Defoe die Geschichte eines erfolgreich verlaufenden Bildungsprozesses erzählt, ist das Ende von Fänger im Roggen offen gestaltet. Aber im Unterschied zu Goethes Werther überleben diese beiden Protagonisten ihre (Lebens-)Abenteuer. Plenzdorf schreibt gegen Daniel Defoe und eher mit J.D. Salinger, wenngleich er dessen einsinnige Perspektive nicht mehr übernehmen mag und ein buntes Bild seines Helden entwirft. Stilistisch inspiriert vom ersten jugendsprachlichen Roman des 20. Jahrhunderts, geht Plenzdorf einen entscheidenden Schritt weiter, indem er von Beginn an mit der sicher erscheinenden alleinigen Ich-Erzählposition bricht und den Erzählvorgang auf viele Figuren und Stimmen verteilt. Das Erzähler-Ich Edgar Wibeaus ist nur eine Stimme unter vielen. Dass sie allerdings eine tote Stimme ist, verleiht ihr eine größere Autorität. Diese gewinnt sie nicht zuletzt jedoch auch dadurch, dass sie den toten Werther an ihrer Seite weiß und es im Verlauf des Romans versteht, immer souveräner mit dieser Stimme zu operieren.

V OM „K ERL “ ÜBER „O LD -W ERTHER “ ZUR „W ERTHER -P ISTOLE “ 37: E DGAR W IBEAU LIEST G OETHES D IE L EIDEN DES JUNGEN W ERTHER Die Werther-Stimme nimmt in dieser Stimmenvielfalt eine besondere Position ein: Zum einen, weil sie gedruckt vorliegt, und zum anderen, weil sie in einem hörtechnischen Medium festgehalten wird, was sie über den Tod hinaus haltbar macht. Auch sie ist eine Stimme aus dem Jenseits, aber sie spricht nicht mit der Autorität des Dichters Johann Wolfgang von Goethe. Egar Wibeau weiß nicht, dass er einen Roman von Goethe liest, weil das „olle Titelblatt flöten [ging] auf dem ollen Klo von Willis Laube.“38 ‚Oll‘ wird auf die Toilette ebenso bezogen wie auf den Bucheinband: Diese Gleichsetzung kann die beiden Gegenstände meinen;

37 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 36, S. 82, S. 100. 38 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 19. – Edgar Wibeau äußert sich später durchaus anerkennend zum Namen Goethes, wenn er seinen ehemaligen Chef Addi korrigiert: „Ich und ein wertvoller Mensch. Schiller und Goethe und die, das waren vielleicht wertvolle Menschen.“ Plenzdorf, Neue Leiden, S. 87.

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sie kann sich aber auch auf den Autor des Buches beziehen, der indirekt ebenfalls als ‚oll‘ bezeichnet wird.39 Es ist ein besonderer rezeptionsästhetischer Kunstgriff,40 den Werther-Roman aus seinem paratextlichen Kontext zu lösen, oder besser gesagt: zu befreien,41 weil seine erfrischend unbefangene Nutzung nicht hätte stattfinden können mit den erschlagenden literaturgeschichtlichen Informationen, die den klassischen Status des Tex-

39 Dass dabei der Name des deutschen Dichters schlechthin rücksichtslos in einer Toilettenschüssel vernichtet wird, lässt sich auch als Kritik an einer idealisierten Klassikerverehrung verstehen, wie sie mit der ‚Erbe‘-Diskussion in der DDR einige Tradition hatte. So respektlos ist Goethe selten von dem Thron der deutschen Dichter und Denker verstoßen worden! Vgl. dazu: Peter J. Brenner: Die alten und die neuen Leiden. Kulturpolitische und literaturhistorische Voraussetzungen eines Textes in der DDR. In: Ders.: Plenzdorfs ‚Neue Leiden‘, S. 11-70, hier: S. 23. 40 Vgl. dazu: die Ausführungen zu Hans Magnus Enzensbergers Essay in diesem Band. – Vgl. zur Diskussion in der DDR: Manfred Naumann u.a.: Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. 2. Aufl. Berlin, Weimar 1975. [1. Aufl. 1973] – Und nicht zuletzt denkt man bei dieser Toilettenszene auch an Roland Barthes’ vielzitierten Aufsatz aus dem Jahr 1968, der den Titel Der Tod des Autors trägt und der mit dem Satz endet: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“ Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2003, S. 185-193. [1. franz. Aufl. 1968]. 41 „Für die Lektüre des Werther nimmt der Autor seinen Helden vor dem Autorenkult in Schutz. Der Name Goethe macht eine unvoreingenommene Lektüre unmöglich. Seine Bücher gehören zu jenen, die man seit zweihundert Jahren unverdrossen jungen Leuten empfiehlt.“ Helbig, Kultbuchlektüre, S. 84. Holger Helbig diskutiert in diesem Zusammenhang sehr anregend, ob es sich beim aufwendig diskutierten „Kanon“ nicht um die „Kultbuchsammlung der Akademie“ handelt. Helbig, Kultbuchlektüre, S. 84 (Fußnote). – „Erst befreit vom Stigma des Vergangenen und Veralteten (dokumentiert im Verfassernamen auf dem Titelblatt) und seiner Wirkungsgeschichte, in der es bis zum sterilen Bildungsgut herabgesunken ist (dokumentiert im Nachwort), wird es für Edgar zugänglich.“ Waiblinger, Zitierte Kritik, S. 80.

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tes sofort dokumentiert hätten.42 Hierdurch fügt sich der Roman – wie auch aufgrund zahlreicher anderer Stellen – in die 1970er Jahre ein, in denen rezeptionsästhetische Prozesse intensiv untersucht worden. 43 Edgar Wibeaus Lektüre des goetheschen Werther-Romans ist ebenfalls lesbar als ein Rezeptionsexperiment, in dem getestet wird, wie ein kluger, gewitzter und phantasievoller junger Mann, der nicht in einem intellektuellen Umfeld aufwächst und lebt, mit einem klassischen deutschen Roman des 18. Jahrhunderts umgeht, in dem es „nur so [wimmelt] von Herz und Seele und Glück und Tränen.“44 Wie verläuft dieses Experiment? Noch vor der Toilettenszene ‚hören‘ wir zunächst die Zitatencollage, die Edgar auf Tonbändern an seinen Freund Willi in Mittenberg geschickt hat und die sich Edgars Vater nach dem Tod seines Sohnes zusammen mit dessen Freund anhört. Edgar schreibt keine Briefe mehr wie Werther, sondern nutzt ein neues technisches Medium, das aus dem schriftsprachlichen Bereich überwechselt in den auditiven Sinnesbereich. Es kann nicht genug hervorgehoben werden, dass mit dieser Technisierung der Goethe-Stimme eine Verfremdung des Klassikers stattfindet, die ihn wieder ‚hörbar‘ macht und die seinen Worten nicht nur als toten gelesenen, sondern als lebendig gesprochenen einen ganz anderen Wert verleiht. 45 Um die gesprochene

42 Zur Bedeutung der deutschen Klassik in der Kultur der DDR: die Ausführungen bei Brenner, Alte und neue Leiden, S. 21-26. 43 Vgl. dazu: Heinz Hillmann: Rezeption – empirisch. In: Hartmut Heuermann / Peter Hühn / Brigitte Röttger (Hg.): Literarische Rezeption. Beiträge zur Theorie des Text-Leser-Verhältnisses und seiner empirischen Erforschung. Paderborn u.a. 1975, S. 113-130. Hillman hat die kurze Erzählung Das Wiedersehen von Bertolt Brecht ganz unterschiedlichen Lesern vorgelegt, ohne dass sie den Namen des Autors kannten und die schriftlichen Rezeptionsdokumente dieser circa 300 Leser ausgewertet. 44 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 37. 45 „Während Werther Briefe schreibt, spricht Edgar auf Band, ausschließlich Goethe-Stellen. Dieses kleine Lehrspiel über den Nutzen und die Grenzen des Zitierens weist ausreichend auf die Moderne hin. Die Distanz der Zeiten wird in den fremden Worten transportiert, sie gestatten einen distanzierten Blick auf sich selbst, eine direktere Selbstaussprache über einen stilistischen Umweg.“ Helbig, Kultbuchlektüre, S. 89.

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Sprache von dem übrigen Text abzugrenzen, ist die Zitatensammlung in radikaler Kleinschreibung abgefasst, ohne Satzzeichen, nur mit Parenthesen beziehungsweise Schrägstrichen versehen und in sieben Abschnitte unterteilt.46 Bis auf einen Abschnitt enden die einzelnen Blöcke jeweils mit dem Wort „ende“, so dass die einzelnen Teile, die zusätzlich durch einen größeren Zwischenraum voneinander abgegrenzt sind, deutlich für sich stehen und einzelne Bände markieren sollen. Bezeichnenderweise fehlt das klärende „ende“, als Werther von seiner ersten Trennung von Charlotte berichtet und sich entschließt zu fliehen, um sie nie wiederzusehen. Dieser Teil endet mitten im Satz: „und mit sonnenaufgang sind die pferde“. 47 Die Collage erzählt in den ersten fünf Passagen den liebesgeschichtlichen Teil der Leiden des jungen Werther nach und folgt dabei der Chronologie des Romans, nachdem Werther seine Charlotte das erste Mal gesehen hat: die erste Begegnung, Interesse an seiner Person auch bei ihr, Ankunft des Bräutigams, eine Frau und zwei Verehrer, Trennung. 48 Die beiden letzten

46 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 17-19. – Es ist interessant, dass in der DDR-Fassung der Neuen Leiden, die im Rostocker Hinstorff-Verlag erschienen ist, die Tonbandbotschaften in einem anderen Schrifttyp gesetzt sind, so dass sie sich noch markanter vom übrigen Text unterscheiden. Vgl. dazu: York-Gothard Mix: Mit Goethe und Diderot gegen die Pächter des klassischen Erbes. U. Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W., V. Brauns Texte zu Hinze und Kunze und die Kontrolle der literarischen Kommunikation in der DDR. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 42 (1998) S. 401-420, hier S. 407. – Bevor Edgar seinen Werther-Roman in die Hände bekommt, schickt er seinem Freund Willi schon eine erste Nachricht per Tonband. Dieser erste ‚Brief‘ ist typographisch nicht unterschieden von dem übrigen Text und spricht auch Edgars Sprache, wie wir sie von ihm gewohnt sind: „Damen und Herren! Kumpels und Kumpelinen! Gerechte und Ungerechte! Entspannt euch! Scheucht eure kleinen Geschwister ins Kino. Sperrt eure Eltern in die Speisekammer! Hier ist wieder euer Eddie, der Unverwüstliche …“ Plenzdorf, Neue Leiden, S. 29. Diesen Text hört sich Edgars Vater nicht an, man benötigt auch keinen „Code“, um ihn zu verstehen. Plenzdorf, Neue Leiden, S. 19. 47 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 18. 48 Einmal mehr macht diese noch kürzere Darstellung deutlich, dass im alten und neuen Werther in der Tat eine der (Dreiecks-)Geschichten erzählt wird, die in

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Zitatblöcke erzählen knapp, aber wirkungsvoll die gesellschaftskritische Seite der Geschichte. Der sechste Zitatblock geht zurück an den Anfang des Romans und behandelt Werthers Verhältnis zu den angepassten Philistern, während der letzte Block schließlich die Konsequenzen aus diesem kritischen Blick zieht und von der freiwilligen Entlassung aus dem Dienst beim Grafen berichtet. In den einzelnen Zitatabschnitten wird zwischen Zeilen und Seiten hin- und hergesprungen, so dass eine ‚wilde‘ WertherNacherzählung entsteht, die nicht einer wissenschaftlichen Zitierweise entspricht, sondern die Edgar Wibeaus Lektüreprozess ebenso einfängt wie seine eigene Liebes- und Lebenserfahrung. Die kurzen Zitatfetzen können darüber hinaus auch als kritische Stellungnahme gelesen werden zu den ausführlichen und pathetischen Briefen, die der originale Werther an seinen Freund schreibt: Das alles hätte man auch viel kürzer und knapper schreiben und sagen können. Edgar erzählt unter dem Werther-Deckmantel seine eigene Geschichte. Er macht aus Goethes Werther seinen Werther, und er benutzt ihn unmittelbar lebenspraktisch: „Seine Lektüre ist auf ebenso brutale wie charmante Weise identifikatorisch.“49 Indem er ihn in ein mündliches Medium transformiert, entledigt er ihn seiner emotionalen Schwere. Gleichzeitig nimmt er ihn ernst und weist auf seine Aktualisierbarkeit hin, sowohl was die Liebesabenteuer als auch was die gesellschaftlichen Erfahrungen angeht. In der Literatur wird immer wieder betont, wie sehr die Lektüre des Romans aus dem 18. Jahrhundert Edgars eigene Lebensund Liebeserfahrung prägt und wie sehr die Fiktion des alten Werthers in die fiktive ‚Realität‘ des Wibeau-Werthers übergeht.50 Anfangs nimmt er das Reclam-Heft nur in die Hand, weil er keinen anderen „Stoff“ zur Hand hat, nicht „Hasch“ oder „Opium“, sondern „Lesestoff“.51 Nach einigen Startschwierigkeiten liest er das Bändchen innerhalb von drei Stunden

unendlichen Variationen das weltliterarische und -filmische Erzählen geprägt haben und noch immer prägen. 49 Helbig, Kultbuchlektüre, S. 83. 50 Vgl. dazu: Waiblinger, Zitierte Kritik, S. 81-85. Labroisse, Überlegungen zur Interpretationsproblematik, S. 164. Theo Buck: Goethe als Korsett. Zur ‚Werther‘-Rezeption in Plenzdorfs ‚Neue Leiden des jungen W.‘ In: Lehren und Lernen 81 (1982) H. 4, S. 19-48, hier: S. 28. 51 Plenzdof, Neue Leiden, S. 31-32 (Hervorh. E.K.P.).

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durch und beschwert sich anschließend empört und aufgeregt über diesen „Kissenpuper“, der noch nicht einmal versucht, an „die Frau“ ‚ranzukommen‘, und der sich, statt mit dem Pferd in die Wälder zu reiten, ‚durchlöchert‘.52 Er empfiehlt dem Autor des Romans, „meinen Salinger“ durchzulesen. „Das ist echt, Leute!“53 Diese spontane und unbefangene Wiedergabe eines ersten Leseeindrucks im jugendsprachlichen Gestus entspricht den rezeptionsdidaktischen Modellen, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt wurden. In diesen neuen Modellierungen von Literaturunterricht werden die jugendlichen Leserinnen und Leser ermutigt, ihre ersten (naiven) Wahrnehmungen des Gelesenen schriftlich oder mündlich wiederzugeben. Diese unmittelbaren Kommentare, die jenseits literaturgeschichtlicher oder -analytischer Kenntnisse abgegeben werden, gelten als wichtige Informationen für die Unterrichtenden, weil sie die ersten Lese- und Verständniseindrücke jugendlicher Leser aus den unterschiedlichsten Zeiten widerspiegeln, wenn diese klassische oder kanonische Literatur rezipieren. Auf der Basis dieser naiven Rezeptionen startet der Unterricht mit dem Ziel, eine ästhetisch aufgeklärte Lektüre des Werkes anzustreben und den ersten Eindruck zu korrigieren beziehungsweise um andere Erkenntnisse zu erweitern.54 Diesen ‚Unterricht‘ übernimmt im Falle Edgar Wibeaus das Leben selbst beziehungsweise seine Bekanntschaft mit Charlie und Dieter. Sein

52 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 37. 53 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 37. 54 Vgl. dazu: Hartmut Eggert / Hans Christoph Berg / Michael Rutschky: Schüler im Literaturunterricht. Ein Erfahrungsbericht. Köln 1975.

Vgl. dazu: die

Beiträge im Heft Der Deutschunterricht 33 (1981) H. 2, das dem Thema Leseprozesse im Unterricht gewidmet ist. Vgl. dazu auch: Harald Frommer: Lesen im Unterricht. Von der Konkretisation zur Interpretation (Sekundarstufe I und II). Hannover 1988. Frommer bezeichnet den naiven Ersteindruck, der sich nach einer unbefangenen Lektüre nicht selten einstellt, als „Konkretisation“, in der der Leser in den Text ‚verstrickt‘ sei, diesen „als Partner“ ansehe, sich in ‚subjektiver‘ „Unverbindlichkeit“ äußere und ‚beliebig‘ einzelne Punkte aus dem Text für seine Argumentation herausgreife. Es sei Aufgabe des Unterrichts, die Schülerinnen und Schülern zu einer reflektierten, distanzierten und intersubjektiven Interpretation des Textes zu führen. Vgl. dazu: Frommer, Lesen im Unterricht, S. 12.

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Verhältnis zu Werther verändert sich durch diese Lebenserfahrung. Edgar versteht Werther immer besser, „weil der analoge Erfahrungen gemacht hat. Die Möglichkeit dazu aber hat ihm erst die literarische Erfahrung geschaffen“.55 Deutlich wird dieser Wandel vor allem am Einsatz der wörtlichen Zitate aus dem Roman, die er nicht nur für Willi auf Tonbänder spricht, sondern die er auch immer dann anwendet, wenn es ihm im Umgang mit Charlie, Dieter oder seinen Arbeitskollegen passend erscheint, und die er sehr zur Überraschung und Irritation seiner Umwelt unvermittelt und ohne jede weitere Erklärung einsetzt. 56 Deutlich wird dieser Annäherungsprozess an den ihm zunächst sehr fremden Werther aber auch an der Art und Weise, wie er über ihn spricht und welche Bezeichnungen er für ihn findet. Edgar bleibt nicht bei seiner ersten spontanrezeptiven „Kissenpuper-Konkretisation“, sondern gelangt nach und nach vielleicht nicht zu reflektierten, aber doch differenzierteren Urteilen über Werther. Edgar liest Die Leiden des jungen Werther ein zweites Mal, nachdem er Charlies Bekanntschaft gemacht hat, beginnt dann seine Tonbandbriefe und trägt während des folgenden Kennenlernprozesses das „blöde Werther-Heft […] immer im Hemd“,57 so als sei es eine Inspirationsquelle oder als könne es die Annäherung zwischen den beiden befördern. Allerdings lässt er den Band in der Laube, nachdem Charlie ihn entdeckt hat und nachdem plötzlich der Verlobte Dieter auftaucht. Vielleicht braucht er das Buch nun nicht mehr, weil er die wesentlichen Aussagen internalisiert hat. Auf jeden Fall erkennt er während der ersten Begegnung mit Dieter nunmehr Werther als jemanden, der „sich wirklich nützliche Dinge aus den Fingern gesaugt“

55 Waiblinger, Zitierte Kritik, S. 84. – Waiblinger übersieht allerdings Edgars Begabungen, die bereits vor der Lektüre des Werther-Romans existierten, wenn er an derselben Stelle von „eindimensionale[n], von engen Sprach- und Denkmustern“ spricht, die Wibeaus Welt bis dahin bestimmt haben sollen. Eine solche Sicht wird den Fähigkeiten des neuen Werther nicht gerecht, der sich mit der wiederholten Lektüre von Robinson Crusoe und Catcher in the Rye zwei weltliterarische Klassiker ausgesucht hat, die mit Goethes Roman ohne weiteres mithalten können. 56 Vgl. dazu: die Untersuchungen von Peter Wapnewski: Zweihundert Jahre Werthers Leiden. Oder: dem war nicht zu helfen. In: Merkur 29 (1975) S. 530544. 57 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 70.

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hat.58 Im zweiten ‚Duell‘ mit Dieter wird Werther, den Edgar nun schon ganz vertraut mit „Old-Werther“ anspricht, zu seiner ‚schärfsten Waffe‘.59 Diesen Ehrentitel, den ansonsten nur der Jugendfreund Willi bekommt, 60 behält er von nun an bei: Werther wird zum Freund. Was ein schulischer Lernprozess vielleicht mühsam hätte erringen müssen, schaffen Charlie und nicht zuletzt der vielleicht etwas spießig-philisterhafte Konkurrent Dieter im Handumdrehen. Zur „Pistole“ wird Werther aber erst, als es zum Konflikt mit den Arbeitskollegen und seinem Chef kommt: 61 Für den Liebeskonflikt reicht ‚Old-Werther‘, aber um sich im gesellschaftlichen Kollektiv zu behaupten, müssen die Zitate gewaltsamer, tödlicher werden. Es ist das letzte Mal, dass Edgar ‚seinen Werther‘ so unvermittelt zum Einsatz gebracht hat; zuhause spricht er noch die letzte Werther-Nachricht für Willi auf ein Band, um danach zurückhaltender mit dem Text umzugehen. Als ihn seine Kollegen zurückholen und Edgar seine Arbeit wieder aufnimmt, ‚zückt‘ er seine „Werther-Pistole“ „kein einziges Mal“,62 ein Zeichen dafür, dass er so tut, als sei er in die Gruppe integriert (während er doch in Wirklichkeit nur daran interessiert ist, an seiner Spritzenerfindung weiterzuarbeiten). Überhaupt werden von nun an die Zitate dosierter gebraucht, einmal noch als Brief an Charlie und dann als innerer Monolog, um das Verhalten Dieters zu kommentieren. 63 Als es dann zum Kuss zwischen Charlie und Edgar kommt, wird Werther nicht mehr gebraucht, hat Goethes Roman ausgedient: Das kann Wibeau jetzt alleine, dazu braucht er die klassische Vorlage nicht mehr, dazu braucht er – wie weiter unten ausgeführt wird – den Film. Über einige Seiten hinweg ist von Werther nicht mehr die Rede. 64 Im Grunde hat sich Edgar von der Romanvorlage emanzipiert, um sich ihr am Ende dann aber doch wieder ein wenig anzunähern: Sein Tod ist kein Freitod, aber die leichtsinnige Spielerei mit elektrischen Dingen fordert den Tod heraus beziehungsweise riskiert ihn – auch wenn dies unbewusst

58 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 76. 59 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 82. 60 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 83. 61 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 100. 62 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 114. 63 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 116, S. 124, S. 127. 64 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 130-146.

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geschieht. Auf jeden Fall wird in diesem Zusammenhang nach einer längeren Zeit des Schweigens noch einmal Bezug auf „Old Werther“ genommen, und zwar in einer rätselhaft dialektischen Argumentationsweise, die unterschiedliche Ausdeutungen erlaubt: „Ich war jedenfalls fast so weit, daß ich Old Werther verstand, wenn er nicht mehr weiterkonnte. Ich meine, ich hätte nie im Leben freiwillig den Löffel abgegeben. Mich an den nächsten Haken gehängt oder was. Das nie. Aber ich wär doch nie wirklich nach Mittenberg zurückgegangen.“65 Auf der einen Seite wird Verständnis für Werthers Suizid-Lösung artikuliert; auf der anderen Seite wird (zu sehr) betont, dass Edgar gerade diese Lösung für sich nicht in Betracht zieht, um dann aber wieder nur bestimmte Tötungsvarianten zu nennen, die für ihn nicht in Frage kommen; nicht aber eben diejenige, die ihn dann letztlich das Leben kostet. Seine ‚unsachgemäßen Basteleien mit Strom‘ lassen alles wie einen Unfall aussehen und lassen im Unklaren, wie viel (unbewusste) Absicht dahintersteckt. Edgar stirbt nicht den dramatischen wertherschen Suizid, aber er stirbt genau wie der goethesche Held in einer Situation, in der nicht mehr weiter weiß: Charlie, die er liebt, ist mit Dieter verheiratet; seine Mutter ist auf dem Weg zu ihm, aber er kann nicht mehr „wirklich“ zu ihr nach Mittenberg zurück; in der Laube kann er nicht mehr bleiben, da alles abgerissen wird und seine Arbeit im BauKollektiv ist sicherlich keine Tätigkeit, die ihn an das Leben bindet. Es mag jeder Leser, jede Leserin selbst entscheiden, wie viel Werther am Ende des Romans in Edgar Wibeau steckt. Man könnte zu dem Ergebnis kommen: sehr viel.

„D EN HÄTTE ICH MIR JEDEN T AG ANSEHEN 66 KÖNNEN .“ E DGAR W IBEAU GEHT INS K INO Edgar Wibeau liest nicht nur literarische Werke des 18. Jahrhunderts und zeitgenössische amerikanische Literatur; Edgar Wibeau geht auch ins Kino und zieht – entgegen seiner Beteuerung, er sei „zeitlebens überhaupt kein großer Kinofan“ gewesen – vor allem dann Vergleiche mit dem Film, 67

65 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 147. 66 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38. 67 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38.

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wenn er besondere Wendungen in seiner Bekanntschaft zu Charlie erlebt. Später nimmt er die Behauptung der Kinogegnerschaft dann auch wieder zurück und konstatiert das exakte Gegenteil: „Übrigens ging ich wohl doch ziemlich oft ins Kino. Das war immer noch besser, als zu Hause mit Mutter Wibeau vor der Röhre zu hocken.“ 68 Während sich Edgar leidenschaftlich zu Salingers berühmt gewordenen Roman bekennt, dessen Titel er übrigens nicht ein einziges Mal nennt,69 mäandert er um Film und Kino herum und diskutiert diese mediale Kunst aus unterschiedlichen Perspektiven. Das Verhältnis zum Film ist nicht nur ambivalenter als das zu seinen beiden älteren Lieblingsromanen beziehungsweise zum neu erworbenen WertherRoman, sondern bezieht sich auch auf ganz andere Werke als bei seiner Lektürewahl. Zum ersten Mal ist vom Film die Rede, als Edgar Werbung für ‚seinen Salinger‘ macht, den Leser direkt anspricht und ihn auffordert, sich „das Ding unter den Nagel zu reißen“,70 wenn er das Buch irgendwo sieht. Wenn auch die Lektüre des Buches an erster Stelle steht, so bietet Edgar sofort die Alternative an, sich den Film anzusehen, sogleich einräumend, dass er gar nicht wisse, „ob es einen Film danach gibt.“ 71 Er denkt in diesem Zusammenhang über seine spezifische Lektüre literarischer Werke nach, die in einer solchen Intensität erfolgt, dass er glaubt, jedes Bild so genau vor sich zu sehen, „als wenn man es im Film gesehen hat, und dann stellt sich heraus, es gibt überhaupt keinen Film.“ 72 Lesen wird mit Bildersehen gleichgesetzt, ein Bilderverbot oder eine Abneigung gegen Bilder spricht nicht aus diesen Worten. Edgar rät dann „jedem Regisseur“, einen solchen „Salinger-Film“ zu drehen, falls es ihn noch nicht gibt, weil ihm der Erfolg garantiert sei.73 Allerdings ist er sich nicht sicher, ob er sich einen solchen Film anschaute, weil er „Schiß“ hat, „sich seinen eigenen Film kaputt machen zu lassen.“74 In der ihm eigenen umgangssprachlichen Direktheit

68 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 58. 69 Er nennt ihn vielleicht nicht, weil der Titel „nicht besonders“ „popt“. Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38. 70 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 37. 71 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38. 72 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38. 73 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38. 74 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38.

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spricht Edgar damit aus, was nach Rezeptionen von filmischen Adaptionen schriftliterarischer Werke nicht selten als Kommentar zu hören ist. Erneut wird damit ein rezeptionsästhetischer Kontext diskutiert, der in rezeptionstheoretischen Schriften jener Jahre in elaborierter Weise reflektiert und erklärt wird.75 Edgars erste Auseinandersetzung mit dem Film bezieht sich auf das Genre der sogenannten ‚Literaturverfilmung‘, das in den 1970er Jahren sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands große Konjunktur feierte und zu dem sich Edgar durchaus kritisch positioniert. 76 Dass er von einem Film spricht, der nie gedreht wurde, ist nicht gerade eine Werbung für Film und Kino, sondern verstärkt nur das leidenschaftliche Bekenntnis zum geschriebenen Catcher in the Rye. Nachdem Edgar sein angebliches Desinteresse am Kino bekundet hat, bekennt er im unmittelbar darauf folgenden Satz seine Leidenschaft für „Chaplin“ und „diese überdrehten Melonenfilme, wo die Bullen in ihren idiotischen Tropenhelmen immer so herrlich verarscht werden“. 77 Charlie Chaplin ist der einzige Regisseur, der in den Neuen Leiden namentlich erwähnt wird, und er ist gleichzeitig der Regisseur und Schauspieler, der vom Beginn seines Wirkens an auch die Literaturschaffenden beeinflusst

75 Wolfgang Iser erklärt die kaum zu vermeidende Dissonanz zwischen den Bildern beim Lesen und den Filmbildern mit dem Unterschied zwischen „Vorstellung“ und „Wahrnehmung“. Während „die konstitutive Bedingung für die Vorstellung gerade darin besteht, daß sie sich auf ein Nicht-Gegebenes oder Abwesendes bezieht“, muss „für die Wahrnehmung immer ein Objekt vorgegeben sein“. Filmbilder enttäuschen schnell, weil die bei optischer Wahrnehmung vorgegebenen Objekte „einen höheren Bestimmtheitsgrad“ haben als die nicht vorhandenen Objekte bei der Vorstellung. Wolfgang Iser: Der Lesevorgang. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. München 1975, S. 253-276, hier: S. 261-262. 76 Auch Goethes Werther-Roman wurde 1976 von Egon Günther in der DDR verfilmt. Vgl. dazu auch: Claudia Lenssen: Film der siebziger Jahre. Die Macht der Gefühle. In: Wolfgang Jacobson / Anton Kaes / Hans Helmut Prinzler (Hg.): Geschichte des deutschen Films. Stuttgart 1993, S. 249-284, hier S. 262. – Vgl. dazu auch: das Kapitel über die Filme jenes Jahrzehnts von Lucchino Visconti, Rainer Werner Fassbinder und Éric Rohmer. 77 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38.

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und somit das schriftliche Erzählen im 20. Jahrhundert verändert hat. 78 Darüber hinaus fällt auf diese Weise ein Name, der metonymisch für ein berühmt gewordenes filmisches Programm steht, dessen Slapstick-Komik von Zuschauern aller Altersgruppen und aller Zeiten (gern und mit großem Vergnügen) geschaut wird. Chaplin gehört zu den erfolgreichsten Regisseuren aller Zeiten und hat immer wieder Filme gemacht, in denen Unterprivilegierte, Ausgestoßene oder am Rande der Gesellschaft Lebende im Mittelpunkt der Handlung stehen. Wibeau begibt sich durch die Nennung dieses Namens in die beste Filmtradition, wodurch mit wenigen Worten eine Stummfilmästhetik heraufbeschworen wird und sofort Bilder aus Filmen von Buster Keaton, Harold Lloyd oder eben auch Charlie Chaplin vor dem Auge des Lesers erscheinen. Entscheidend ist dann aber die folgende Aussage, durch die sich Edgar mit knappen, aber gewichtigen Worten zu dem einen Film bekennt, der in seinem Leben vielleicht eine vergleichbare Rolle gespielt hätte wie Salingers Roman, wenn in den 1970er Jahren eine erst viel später entwickelte DVD-Technik ein kinounabhängiges, wiederholtes Sehen ermöglicht hätte: „Oder ‚Junge Dornen‘ mit Sidney Poitier, vielleicht kennt den einer. Den hätte ich mir jeden Tag ansehen können.“79 Mit dem englischen Film TO SIR, WITH LOVE – so der Originaltitel – von James Clavell aus dem Jahr 1966 entscheidet sich Edgar für einen sozialdramatischen Film, der sowohl Probleme unterschiedlicher Ethnien anspricht als auch pädagogische Fragen im schulischen Umgang mit Jugendlichen, die im unterprivilegierten Stadtteil des Londoner East End aufwachsen. Sidney Poitier spielt einen Lehrer, der eigentlich als Ingenieur ausgebildet ist, aber keine Stelle in diesem Beruf findet (möglicherweise wegen seiner Hautfarbe) und der aus diesem Grund an einer schwierigen Schule eine schwierige Klasse übernimmt. Die Jungen und Mädchen sind ungefähr 16-17 Jahre alt; viele von ihnen sind von anderen Schulen relegiert und an der North Quay Secondary aufgenommen worden, die einem liberalen pädagogischen Programm folgt: So gibt es keinerlei

78 Vgl. dazu: Jan Volker Röhnert, der Chaplins Einfluss auf die Lyrik der frühen 1920er Jahre beschreibt. Jan Volker Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Cendrars, Asbery, Brinkmann. Göttingen 2007, S. 84-86, S. 97-99. 79 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 38.

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Bestrafungen und in der Mittagspause können die Schüler in der Aula zu Rockmusik tanzen. Der Film gehört in das Genre der Schulbeziehungsweise high school-Filme, das häufig dem Muster folgt, dass der neue, zunächst nicht geliebte Lehrer am Ende des Films von seinen Schülern geschätzt und anerkannt wird. TO SIR, WITH LOVE weicht von diesem Muster nicht ab – wie der englische Titel ja eigentlich auch schon verrät –, aber mit der Begegnung zwischen den englischen Schülern und dem in British Guiana geborenen Mark Thackeray wird die Möglichkeit der filmischen Bilder genutzt, wortlos, aber stets sichtbar die Frage der unterschiedlichen Hautfarben präsent zu halten: Mark ist nicht nur der neue, zuerst nicht respektierte Lehrer; er ist auch der einzige Mensch an der ganzen Schule, im ganzen Stadtviertel und im ganzen Film, der mit seiner schwarzen Hautfarbe unablässig einen ‚Unterschied‘ gegenwärtig hält.80 So begegnet ihm der erste Kollege dann auch gleich mit der Bemerkung des „black sheep“, was von Mark zurückgewiesen mit dem Hinweis wird, er sei „just a teacher“. Aber auch wenn nicht darüber gesprochen wird, ist der Unterschied stets sichtbar, so dass die Annäherung zwischen dem Lehrer und der Klasse nicht nur das übliche pädagogische Erfolgsprogramm zeigt, sondern darüber hinaus eine Annäherung zwischen Kulturen, von denen die eine die andere über lange Jahrhunderte hinweg unterdrückt, ausgebeutet, diskriminiert, gequält und ermordet hat. Der Film verheimlicht seine Botschaft nicht, und der sympathisch wirkende und spielende Sidney Poitier ist eine ideale Besetzung für ein sentimental-utopisches Sozialdrama,81 das einmal mehr an die (proklamierte, aber nicht realisierte)

80 In Douglas Sirks Film IMITATION OF LIFE aus dem Jahr 1959 wirft (die nur sehr leicht dunkelhäutige) Sarah Jane (gespielt von Susan Kohner) der (sehr weißen) Lora Meredith (gespielt von Lana Turner) in einer entscheidenden Auseinandersetzung vor, sie habe keine Ahnung, was es bedeute, „different“ zu sein. Bevor sie das Wort ‚different‘ ausspricht, zögert sie eine Weile, so dass die Pause dem Adjektiv eine besondere Bedeutung verleiht. Es geht in dem Film nur vordergründig um die Folgen einer Karriere als Schauspielerin; wesentlicher sind die Konflikte, die sich um die dunkelhäutige Annie und ihre ehrgeizige Tochter Sarah Jane abspielen, die unbedingt das Leben einer ‚Weißen‘ führen will. 81 Sidney Poitier gilt als „Integrationsfigur der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung“. Vgl. dazu: http://www.kinofenster.de/film-des-monats/archiv-film-

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Gleichheit aller Menschen erinnert. Auch wenn man dem Film plakative Eindeutigkeit vorwerfen könnte, so ist er Mitte der 1960er Jahre doch auch als engagierter Kommentar zur Bürgerrechtsbewegung zu verstehen, die in jenem Jahrzehnt in Amerika lautstark das Ende der Diskriminierung afroamerikanischer Bürger forderte TO SIR, WITH LOVE passt in Edgars ‚Programm‘, weil er ebenfalls Initiationsgeschichten erzählt: einerseits die der Klasse, die Umgangsformen und Sozialverhalten lernt; und andererseits die Mark Thackerays, der erst durch die Begegnung mit den Jugendlichen wirklich zum Lehrer wird und sich am Ende dafür entscheidet, weiterhin an der Schule zu arbeiten. Der Film wirkt darüber hinaus fast so, als schlüge er für die Probleme, die Holden Caulfield in Salingers Catcher in the Rye plagen, eine Lösung vor, wenn er ein alternatives pädagogisches Konzept vorstellt, bei dem Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden und bei dem vielleicht die charakterliche Stärke des Lehrenden eine wichtigere Rolle spielt als seine fachlichen Qualifikationen. Während Holden Caulfields Geschichte zeigt, dass auch Jugendliche, die in einem wohlhabenden Umfeld aufwachsen, Probleme haben, so ergänzt TO SIR, WITH LOVE diese Perspektive um diejenigen, die in prekären Verhältnissen groß werden. Es ist eine originelle Filmwahl, die einmal mehr Edgars originellen Charakter demonstriert. Der Film passt zu Edgar, der uns als unabhängiger Geist vorgestellt wird und auch als jemand, der sich bedenkenlos mit einem Mark Thackeray angefreundet hätte und dem eine soziale Ausgrenzung, die er vielleicht aufgrund einer solchen Beziehung erfahren hätte, gleichgültig gewesen wäre.82 Immerhin erwähnt er den Namen des Schauspielers ausdrücklich (und nicht den des Regisseurs). Vielleicht liegt gerade in der Besetzung der Hauptrolle und in den damit signalisierten gesellschaftlich-

des-monats/kf1112/ein-weiter-weg-afroamerikanische-emanzipation-und-integra tion-im-hollywoodkino/ (zuletzt abgefragt am 11.3. 2013). 82 Studierende, die an einem Hauptseminar im Sommersemester 2013 teilnahmen, wiesen darüber hinaus darauf hin, dass London eventuell auch als Sehnsuchtsort eine Rolle gespielt haben könnte für die Wahl dieses Films, da dies eine Stadt war, die in jenen Jahren als Hauptstadt der Popkultur galt und zudem von Edgar niemals erreicht werden konnte. Der Film beginnt mit zahlreichen bekannten und unbekannten Bildern von London, die diese Deutung unterstreichen.

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kulturellen Konflikten der Grund dafür, dass er sich diesen Film hätte jeden Tag anschauen können. Während er über den Inhalt und den Stil seines Lieblingsfilms kein weiteres Wort verliert, geht er dann ausführlich auf einen Film ein, in den er „[f]reiwillig […] nie reingegangen“ wäre, in den er aber mit seiner Berufsschulklasse ‚gescheucht‘ wurde.83 Es ist ein Agitationsfilm, in dem ein junger Mann, der einige kleinere Delikte begangen hat, durch die Begegnung mit einem „Agitator“ auf die politisch und gesellschaftlich richtige Linie gebracht wird: „Als ich das sah, wußte ich sofort, was kam. Der Mann würde so lange auf ihn einreden, bis er alles einsah, und dann würden sie ihn hervorragend einreihen. Und so kam es dann auch. Er kam in eine prachtvolle Brigade mit einem prachtvollen Brigadier, lernte eine prachtvolle Studentin kennen, deren Eltern waren zuerst dagegen, wurden dann aber noch ganz prachtvoll, als sie sahen, was für ein prachtvoller Junge er doch geworden war […]. Ich weiß nicht, wer diesen prachtvollen Film gesehen hat, Leute.“

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Mit der fünfmaligen Wiederholung von „prachtvoll“ wird genau das Gegenteil über den Film ausgesagt, wird in Edgars Stil eine ironischkritische Kommentierung der DDR-Propagandafilme vorgenommen, deren pädagogische Absicht in der Erziehung zu einem systemkonformen Verhalten besteht. Es handelt sich im Übrigen um den Film KENNEN SIE URBAN? aus dem Jahr 1971, an dessen Drehbuch ironischer Weise Ulrich Plenzdorf mitgearbeitet hat.85 Auch wenn der Film achronologisch erzählt ist und durch unvermittelt eingefügte Analepsen die Rezeption ein wenig erschwert wird, ist er gleichwohl durchsichtig in seinen ideologischen Botschaften: Es ist nicht schlimm, wenn man sich in jugendlichem Übermut daneben benommen hat; wichtig ist, dass man sein Fehlverhalten einsieht und sich um Besserung bemüht; dann bekommt man die ‚richtige‘ Frau und die ‚richtigen‘ Arbeitskollegen. Vergleichbare Botschaften deutet TO SIR, WITH LOVE nur als zukünftige Möglichkeit an, buchstabiert sie aber nicht sichtbar aus; darin besteht der Unterschied zwischen den beiden

83 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 40. 84 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 40-41. 85 Den Hinweis auf diesen Film verdanke ich Florian Urschel-Sochaczewski.

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pädagogisch durchaus absichtsvoll gestalteten filmischen Werken, wobei der englische Film vor allem durch Sidney Lumet über diese Themen hinausgeht und sich auch der populären Musik gegenüber aufgeschlossen zeigt. Es ist aber gerade der öffentliche Musikgenuss, der in KENNEN SIE URBAN? Auslöser für den Gewaltakt des Protagonisten ist, der ihn für achtzehn Monate ins Gefängnis bringt. Es ist bezeichnend für Edgar, dass er sich dann auch weniger für den eigentlichen Helden des Films interessiert, der eindeutig am Ende als ‚gebessert‘ erscheint und widerspruchslos seinen Militärdienst zu leisten bereit ist, als vielmehr für dessen unbelehrbaren Bruder, der mit dem Berufswunsch „Clown im Zirkus“ keinerlei Bereitschaft signalisiert, sich in das ‚prachtvolle BrigadeProgramm‘ der DDR einreihen zu lassen.86 Im Film fungiert er als Gegenfigur, die es ermöglicht, mit weiteren Argumenten das eigentliche Ziel des Films zu schärfen und kritisch auf diejenigen hinzuweisen, die „sich bloß rumtreiben, statt einen ordentlichen Beruf zu lernen.“87 Aber Edgar entwickelt Sympathie für diesen Charakter und ‚versteht ihn völlig‘. Auch hier macht er sich also seinen eigenen Film und sieht, was er sehen will, und nicht, was der Regisseur aller Wahrscheinlichkeit nach beabsichtigt hat. Er sieht sich durch die als negativ gedachte Kontrastfigur in seinem eigenen Verhalten bestätigt, erst einmal ‚ausgestiegen‘ zu sein aus dem, was man von ihm erwartete. „Ich sagte ihm, daß ein Film, in dem die Leute in einer Tour lernen und gebessert werden, nur öde sein kann“, 88 sagt Edgar etwas später zu dem Regisseur, mit dem er ein kurzes Gespräch führen kann, und rät ihm, ‚die Finger von solchen Filmen zu lassen‘ „und lieber diese Geschichtsfilme zu machen, bei denen jeder von vornherein weiß, daß sie nicht zum Amüsieren sind.“89 „Geschichtsfilme“ sind eine weitere Kategorie in Edgars eigenwilligem Filmprogramm. Sie werden akzeptiert, weil man in ihnen „in einer Stunde mit[kriegt], wozu man sonst ewig und drei Tage im Geschichtsbuch

86 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 41. – Allerdings will der unbelehrbare Bruder eigentlich Tierarzt werden; da er kein Abitur hat, ist ihm aber ein Studium verwehrt. Er bewirbt sich dann beim Zirkus, weil die Tätigkeit dort auch mit „Viechern“ zu tun hat. 87 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 41. 88 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 42. 89 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 43.

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rumlesen mußte.“90 Dieser pragmatische Gestus komplementiert Edgars Filmwahl, mit der unterschiedliche Bedürfnisse befriedigt werden können: Edgar ist durchaus bereit zu lernen, will dies aber auf ‚filmisch schnelle‘ Weise erledigen; er möchte sich beim Filmschauen ‚amüsieren‘, wie es bei Chaplins Filmen möglich ist; und nicht zuletzt goutiert er sozial engagierte Filme, in denen Lösungen für brisante Probleme der Gegenwart vorgeschlagen werden. Abgelehnt werden auf jeden Fall überdeutliche Aufklärungsfilme, die politisch und gesellschaftlich korrektes Verhalten lehren wollen. Auf jeden Fall zeigt diese dezidierte Filmkommentierung, dass uns mit Edgar Wibeau nicht nur eine buchlesende Figur vorgestellt wird, sondern auch eine, die mit den laufenden Bildern lebt und diese auf unterschiedliche Weise zu gebrauchen, zu genießen und zu kritisieren versteht. Dass er Filme und deren Wirkung kennt, zeigt sich auch dann, wenn seine Liebesgeschichte mit Charlie ihren Höhe- und Endpunkt erreicht. Das erste Mal wird der Vergleich zwischen Film und Leben angebracht, als die beiden ihre Motorbootfahrt starten: „Drei Sekunden später waren wir auf dem Wasser. Ich meine: Es dauerte sicher eine Stunde oder so. Es ging mir bloß zum zweitenmal mit Charlie so, daß ich einfach nicht wußte, wie ich wohin gekommen war. Wie im Film ging das. Zack – und man war da.“ 91 Die Möglichkeit, mit Filmbildern und -schnitten einen Schauplatzwechsel von einer Sekunde zur anderen zeigen zu können, wird dann zitiert, wenn seine Liebesbegegnung eine aufregende Wendung nimmt und er kaum zu glauben vermag, was ihm da geschieht. Er sieht sein Leben von außen, und es kommt ihm vor wie ein Film, der einen größeren Realismuseffekt hat als die schriftlich gedruckten Erzählungen. Natürlich ist die Szene damit auch herausgehoben aus dem Alltag und wird zu einem besonderen Moment. Das gilt auch für die zweite Filmerinnerung, die das Ende der Geschichte mit Charlie signalisiert: „Wenn ich in Filmen oder wo diese Stellen sah, wo eine weg will und er will sie halten, und sie rennt zur Tür raus, und er stellt sich bloß in die Tür und ruft ihr nach, stieg ich immer aus. Und trotzdem saß ich da und ließ Charlie laufen. Zwei Tage später war ich über den Jordan, und ich Idiot saß da und ließ sie laufen […].“92 Es gibt kein happy

90 Plenzdorf, Neue Leiden, S. 39. 91 Neue Leiden, S. 130 (Hervorh. E.K.P.). 92 Neue Leiden, S. 135 (Hervorh. E.K.P.).

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end im Film Edgar-Charlie, sondern ein abruptes (Film-)Ende, das vor allem aus der Sicht des Toten noch abrupter und endgültiger wirkt. Aber dass Edgar sich nicht an Werther erinnert, wenn er mit Charlie im regennassen Dezember Motorboot fährt und es endlich zum Kuss zwischen den beiden kommt, sondern an seine Filmrezeptionen, zeigt die Begrenztheit des alten Werthers und die Bedeutung der filmischen Bilder. Letztere taugen dann doch mehr.

Ulrike – Katharina – Antigone. Heinrich Bölls politisch-literarisches Wirken in der Bundesrepublik der 1970er Jahre

U LRIKE M EINHOF Der Kölner Schriftsteller, Publizist und Übersetzer Heinrich Böll ist mit Zeitungsartikeln, Erzählungen und juristischen Auseinandersetzungen wie kaum ein Zweiter in die politischen Spannungen dieses Jahrzehnts involviert. An Heinrich Böll lassen sich besonders gut die literarischen, filmischen und publizistischen Folgen aufzeigen, die die Aktivitäten der Baader-Meinhof-Gruppe für die Bundesrepublik gehabt haben. Fast von Beginn an hat sich der Schriftsteller in dieser Angelegenheit zu Wort gemeldet und dabei eine unbequeme Position nicht gescheut. Die Reaktionen auf Bölls publizistische Aktivitäten spiegeln in besonderer Weise die Stimmung jener Jahre, die schnell in aggressive Panik umzuschlagen drohte gegenüber allen, die sich um eine unabhängige, kritische und vorurteilsfreie Meinung bemühten. An drei Texten und zwei Filmen – zwischen 1972 und 1977 erschienen – sollen die spezifischen Formen des politischen Engagements diskutiert werden, die Bölls schreibende Aktivitäten in den 1970er Jahren darstellen. Alle Texte und Filme sowie ihre zeitgenössischen Rezeptionen sind weniger ästhetische Beiträge zu diesem Jahrzehnt als vielmehr Dokumente mit einer über den Zeitrahmen hinausreichenden Aussagekraft, weil sie unmittelbar,

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ungefiltert und ungeschützt eine Stimmung widerspiegeln, die in dieser Form in sachorientierten Darstellungen nicht eingefangen werden kann. Der Artikel, den Heinrich Böll Anfang des Jahres 1972 im ‚Spiegel‘ unter dem Titel Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit? veröffentlichte, richtete sich vor allem gegen die Publikationspraxis der ‚Bild‘-Zeitung, die aus bloßen Verdachtsmomenten Tatsachenbehauptungen machte und diese in den Schlagzeiten auf der ersten Seite der Zeitung veröffentlichte. Stil und Ton des Textes spiegeln Empörung, Widerwillen und Entsetzen – gefühlsmäßige Reaktionen, die der Verfasser des Textes Ende Dezember des Jahres 1971 empfunden haben muss, als er am 23. Dezember 1971 die Ausgabe der ‚Bild‘-Zeitung gelesen hat.1 Diese Emotionen treiben ihn unmittelbar an den Schreibtisch, so dass sein Artikel bereits drei Wochen später erscheint. Die zeitliche Nähe zwischen der wilden Schlagzeilengestaltung der ‚Bild‘-Zeitung und Bölls Artikel beeinflusst den Text und gestaltet ihn mit: Er ist aufgeregt, betroffen und schwankt zwischen mündlichem und schriftlichem Duktus. Der Text ist parteiisch, indem er sich eher auf die Seite der Baader-Meinhof-Gruppe stellt als auf die der ‚Bild‘-Journalisten beziehungsweise der Politiker. „Ich kann nicht begreifen, daß irgendein Politiker einem solchen Blatt noch ein Interview gibt. Das ist nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid, das ist nackter Faschismus, Verhetzung, Lüge, Dreck.“ 2 Hingegen wird die Geschichte der Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof erläutert, die „alle, praktische Sozialarbeit getan haben und Einblick in Verhältnisse genommen, die möglicherweise zu dieser

1

Nach einem bewaffneten Banküberfall in Kaiserslautern, bei dem ein Polizeibeamter ums Leben kam, titelte die ‚Bild‘-Zeitung am anderen Tag: „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter. Bankraub: Polizist erschossen. Eine Witwe und zwei kleine Kinder bleiben zurück.“ Zu diesem Zeitpunkt war aber nach Auskunft der Polizei noch nicht sicher erwiesen, dass es die Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof war, die den Überfall begangen hatte. Vgl. dazu: Heinrich Böll: Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen. Zusammengestellt von Frank Grützbach. Mit Beiträgen von Helmut Gollwitzer, Hans G. Helms, Otto Köhler. Köln 1972, S. 26.

2

Heinrich Böll: Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit? In: Ders.: Freies Geleit für Ulrike Meinhof. Ein Artikel und seine Folgen. Zusammengestellt von Frank Grützbach. Köln 1972, S. 27-33, hier: S. 29.

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Kriegserklärung geführt haben“.3 In seinem Artikel bedient sich Böll einer sehr grundsätzlichen Rhetorik: Von „Krieg“, von „Kriegserklärung“, „Volkskrieg“ und „Kriegszustand“ ist des Öfteren die Rede, um die gewaltbereiten Verhältnisse zu beschreiben, die sich durch die theoretischen Manifeste und die Aktionen der Baader-Meinhof-Gruppe ergeben haben. Allerdings wird auch von einem ‚sinnlosen Krieg‘ gesprochen beziehungsweise davon, dass die Gruppe „sich in die Enge begeben“ habe beziehungsweise „in die Enge getrieben worden“ sei und dass „deren Theorien weitaus gewalttätiger klingen, als ihre Praxis ist.“ 4 Diese Passage kann man auch als indirekte Botschaft an die Mitglieder der Gruppe verstehen, ihre ‚sinnlosen‘ Aktivitäten einzustellen und nicht aus dieser „Enge“ heraus, weitere verhängnisvolle Straftaten zu begehen. Böll versucht aber auch, Zahlen- und Machtverhältnisse zurechtzurücken und darauf hinzuweisen, dass die Gruppe der verdächtigen Terroristen vielleicht mal 30 Mitglieder gehabt hat, dass es aber jetzt vielleicht nur noch sechs sind, so dass sich der ‚Krieg‘ in einem Verhältnis von „1:10 000 000“ abspielt: „Das ist tatsächlich eine äußerst bedrohliche Situation für die Bundesrepublik Deutschland. Es ist Zeit, den nationalen Notstand auszurufen.“5 Bölls ironisch-sarkastischer Stil, der vor allem mit Übertreibungen arbeitet, spiegelt auch 40 Jahre später noch die hilflose Wut wider, mit der auf die unseriöse Publikationspraxis der Boulevardpresse reagiert wurde. Er richtet sich aber nicht nur gegen die Presse, sondern auch gegen eine „deutsche Schwatzgenüßlichkeit“,6 mit der man sich auf sein ‚Deutschsein‘ zurückziehe. Kritisiert wird auch eine Haltung, die sich über linkspolitisch initiierte Aktionen empört, nicht aber über die Vertuschung der nationalsozialistischen Verbrechen, die unter Konrad Adenauer noch an der Tagesordnung warf7 Böll erinnert immer wieder an die Zeit zwischen 1933

3

Böll, Ulrike Meinhof, S. 31.

4

Böll, Ulrike Meinhof, S. 30 und S. 28.

5

Böll, Ulrike Meinhof, S. 30.

6

Böll, Ulrike Meinhof, S. 31.

7

„Wieviele

junge

Polizeibeamte

und

Juristen

wissen

noch,

welche

Kriegsverbrecher, rechtmäßig verurteilt, auf Anraten Konrad Adenauers heimlich aus den Gefängnissen entlassen worden und nie wieder zurückbeordert worden sind? Auch das gehört zu unserer Rechtsgeschichte und läßt Ausdrücke

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und 1945, an die Verfolgungen, Ermordungen und staatlich organisierten Terrorakte, die in jener Dekade an der Tagesordnung waren, und daran, dass man glaubte, mit „ein bißchen Hitlerjugendwehwehchen […] mühelos und schmerzlos vom Faschismus in die freiheitlich demokratische Grundordnung“ überwechseln zu können.8 „Haben alle, die einmal verfolgt waren, von denen einige im Parlament sitzen, der eine oder andere in der Regierung, haben sie alle vergessen, was es bedeutet, verfolgt und gehetzt zu sein? Wer von ihnen weiß schon, was es bedeutet, in einem Rechtsstaat gehetzt zu werden von ‚Bild‘, das eine weitaus höhere Auflage hat, als der ‚Stürmer‘ sie gehabt hat?“

9

Damit richten sich seine Attacken nicht nur gegen den Boulevardjournalismus, sondern auch gegen Politiker, die den (linken) Terrorismus der Gegenwart nicht mehr in Verbindung bringen mit dem (rechten) Terrorismus der Vergangenheit. Dieser Vergleich akzentuiert die Erfahrung der ‚Verfolgung‘ und sieht in der Publikationspraxis der ‚Bild‘-Zeitung einen Anstoß zur ‚Hetze‘. Er richtet sich auch gegen eine Haltung, die „einen so abscheulichen Satrapen“ wie Baldur von Schirach gnädiger behandelte,10 als es Ulrike Meinhof möglicherweise zu erwarten hat. Bölls leidenschaftlich-engagierter Artikel ist ein Zeitdokument, dem einmal mehr zu entnehmen ist, dass sich die damalige Bundesrepublik Deutschland nach den 1968er Protesten im nachfolgenden Jahrzehnt in einer aufgebrachten Übergangszeit befand, in der alles zur Debatte stand und in der politisch-gesellschaftliche Regeln neu verhandelt wurden. Der überspitzte und unsachliche Gestus macht deutlich, dass sein Autor der Überzeugung ist, mit bedächtig und vernünftig vorgetragenen Argumenten nichts mehr ausrichten zu können. Er macht auch deutlich, dass der Verfasser sowohl einen Aufruf zur „Lynchjustiz“ befürchtet als auch einen Rückfall in diktatorische Systeme nicht ganz ausschließt: 11 „Wollen sie,

wie Klassenjustiz so gerechtfertigt erscheinen wie eine Theorie des Strafvollzugs der politischen Opportunität.“ Böll, Ulrike Meinhof, S. 31. 8

Böll, Ulrike Meinhof, S. 32.

9

Böll, Ulrike Meinhof, S. 32.

10 Böll, Ulrike Meinhof, S. 31. 11 Böll, Ulrike Meinhof, S. 29.

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daß ihre freiheitlich demokratische Grundordnung gnadenloser ist als irgendein historischer Feudalismus, in dem es wenigstens Freistätten gab, auch für Mörder, und erst recht für Räuber?“12 Dass Böll mit seiner überzogenen Darstellung einen Nerv getroffen hat, zeigt die erregte Debatte, die insbesondere in den Publikationsorganen des Springer-Verlags, aber auch in anderen Tagezeitungen geführt wurde. Karl Heinz Bohrer spricht gar von einem „Medienkrieg“, 13 der sich nach der Veröffentlichung des ‚Freie-Geleit‘-Artikels im ‚Spiegel‘ abspielte. Dabei konzentrieren sich die Organe der Boulevard-Presse besonders auf Bölls angebliche Verharmlosung der kriminellen Aktivitäten der BaaderMeinhof-Gruppe, gehen aber nicht auf den Vorwurf der unsachlichen Berichterstattung und der Vorverurteilung ein, der ja das ausschlaggebende Motiv für Bölls Schreiben gewesen ist. Dass Böll „nicht für BaaderMeinhof, sondern gegen BILD“ argumentiert,14 wird in den meisten Stellungnahmen der konservativ eingestellten Autoren übersehen. Dass Böll an einen anderen Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechern und an deren vorzeitige Entlassung aus den Gefängnissen erinnert, wird ebenfalls ignoriert; und wenn darauf eingegangen wird, wird nicht gesehen, dass mit diesem Hinweis eine ungleiche Behandlung von rechts- und linkspolitischem Terror beklagt wird.15 Empört ist man auch über eine

12 Böll, Ulrike Meinhof, S. 33. 13 Grützbach, Artikel und seine Folgen, S. 115. 14 Grützbach, Artikel und seine Folgen, S. 59 (Hervorh. E.K.P.). – Die Ansicht des Juristen und nordrhein-westfälische Ministers Dieter Posser ist da allerdings differenzierter. Posser bezeichnet die Publikationspraxis der ‚Bild‘-Zeitung als „skandalös“, kritisiert aber Bölls verharmlosende Darstellung der Aktivitäten der Baader-Meinhof-Gruppe und listet ziemlich detailliert deren bisherige Straftaten auf. Vgl. dazu: Grützbach, Artikel und seine Folgen, S. 81-84. Dieser Artikel, der ebenfalls im ‚Spiegel‘ erschienen ist, wird des Öfteren von denjenigen zitiert, die sich um Ausgleich in der erregten Debatte bemühen. 15 Wie aktuell Bölls Argumentation in diesem Zusammenhang ist, zeigen die erst 2011 aufgedeckten Morde an türkischen Mitbürgern und an einer Polizistin, die von einer rechtsradikalen Gruppe begangen wurden. Über zehn Jahre hinweg wurden aber von den Strafverfolgungsbehörden die Täter in einem ganz anderen Umfeld gesucht, und zwar in dem der organisierten Kriminalität und nicht in einem rechtsradikalen Lager.

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angebliche Gleichsetzung des Widerstands gegen das NS-System mit den kriminellen Aktionen der RAF-Mitglieder, ohne zu sehen, dass es Böll auch an dieser Stelle vor allem um die ‚Bild‘-Zeitung geht beziehungsweise darum, dass deren Schlagzeilen-Gestaltung einem Aufruf zur Verfolgung gleichkommt.16 Dem aggressiven Gestus von Bölls Artikel begegnet man mit einem nicht minder aggressiven Ton, wenn sie den FaschismusVorwurf an Böll zurückgeben und ihm vor allem vorwerfen, als Präsident des internationalen PEN-Clubs nicht hinreichend gegen die Verfolgung oppositioneller Schriftsteller in der damaligen UdSSR protestiert zu haben.17 Dass Bölls emotionale Empörung über die wild-demagogische Berichterstattung der Boulevardpresse von den betreffenden Organen nicht wahrgenommen werden will, zeigt besonders eine Überschrift wie diese: „Die Bölls sind gefährlicher als Baader-Meinhof.“18 Karlheinz Bohrer hingegen erhält in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ Gelegenheit zur Erklärung und Verteidigung Bölls. Er zeigt auf, dass es dem „Schriftsteller und Moralisten Böll“ darum gegangen sei, „eine Vorstellung von deren [der Meinhof-Anarchisten; E.K.P.] psychischer Verfassung und ihren einstigen Motivationen“ darzulegen; eine solche sensible Erkundung von Beweggründen sei einem Schriftsteller auch auf jeden Fall zuzugestehen und sei auch nicht gleichzusetzen mit „Verständnis für kriminelle Handlungen“. Gleichzeitig weist Bohrer darauf hin, dass die von Böll inkriminierte Presse und deren Vertreter wohl nicht in der Lage seien, „von links kommenden Gesetzesbrecher[n] das Prädikat ‚politisch‘“ zuzubilligen.19

16 Vgl. Grützbach, Artikel und seine Folgen, S. 37, S. 52, S. 65, S. 83. 17 „Der Trick, Bölls Interesse an Ulrike Meinhof und sein angebliches Desinteresse an Wladimir Bukowski gegeneinander auszuspielen, ist der Höhepunkt einer abstoßenden Auseinandersetzung.“ Karl Heinz Bohrer in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ vom 28. Januar 1972. Grützbach, Artikel und seine Folgen, S. 116. 18 Grützbach, Artikel und seine Folgen, S. 147. 19 Grützbach, Artikel und seine Folgen, S. 116.

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K ATHARINA B LUM

IM

T EXT

Die dokumentierten Zeitungsberichte zeigen, dass Böll sich weit vorgewagt hat mit diesem Artikel. Dass er im selben Jahr für seinen Roman Gruppenbild mit Dame den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, kann auch als Auszeichnung einer zivilcouragierten Haltung verstanden werden, die einen Ausgleich zu der Zeitungsschlacht schaffen sollte, die Bölls Artikel ausgelöst hatte.20 Denn ganz gleich, wie viele missverständliche, überzogene oder verkürzte Argumente in dem ‚Freie-Geleit‘-Artikel enthalten sein mögen – der Schriftsteller hat mit diesem Text auf die verheerende Pressepraxis des Springer-Verlags aufmerksam gemacht, die vor allem nach den 1968er-Protesten eingesetzt hatte und die willkürlich angriff, was sich in einem linkspolitischen Umfeld befand. 1974 hat Böll mit der Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann literarisch auf diesen Pressekrieg gegen ihn reagiert und mit diesem Text den Boulevardjournalismus noch schärfer kritisiert und noch deutlicher Partei für die Opfer einer solchen Publikationspraxis ergriffen, als er es in seinem ,FreiesGeleit‘-Artikel getan hat. Ausgelöst wurde diese Erzählung aber nicht nur durch die Erfahrungen, die der Autor selbst gemacht hat, sondern auch durch den Skandal um Peter Brückner, der ebenfalls 1972 stattfand. Der Psychologieprofessor war in Verdacht geraten, Mitglieder der BaaderMeinhof-Gruppe beherbergt zu haben; daraufhin wurde er vom niedersächsischen Kultusminister seines Amtes enthoben und in der Boulevardpresse zum Ziel diffamierender Angriffe, die dazu führten, dass Brückner „nach jedem Artikel eine Flut anonymer Drohungen“ erhielt. 21 Bölls

20 „Konservative waren besonders verärgert über die schwedische Entscheidung, mit Böll die liberale Trendwende in Deutschland zu ehren, wagten angesichts des Prestiges des Nobelpreises aber nicht, Bölls politische Anschauung offen anzugreifen.“ Reinhard K. Zachau: Heinrich Böll und der liberale Diskurs. Zur Rezeption des Romans Die verlorene Ehre der Katharina Blum in Deutschland und den USA. In: Literatur für Leser (1996) H. 1, S. 270-282, hier S. 271-272. 21 Sonja Krebs: Rechtsstaat und Pressefreiheit in Heinrich Bölls ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘. Ein Beitrag zur Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit im Spiegel der Literatur. Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Rechte des Fachbereichs Rechts- und Wirtschaftswissen-

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Erzählung spiegelt in ihrer Anlage, ihrem Inhalt und in den zeitgenössischen Rezeptionen das aufgewühlte Umfeld der 1970er Jahre, das bei ‚linken und linksverdächtigen‘ Themen zu vorschnellen und einseitigen Urteilen findet. Und wie Böll schon im ‚Spiegel‘-Artikel ein weibliches Mitglied der RAF-Gruppe als unmittelbaren Adressaten gewählt hat (und nicht beispielsweise Andreas Baader), so konzentriert er seine Erzählung ebenfalls auf eine weibliche Figur. Allerdings hat Katharina Blum – im Unterschied zu Ulrike Meinhof – mit irgendwelchen terroristischen Aktivitäten überhaupt nichts zu tun, sondern gerät nur zufällig in ein Umfeld, das vom Boulevardjournalismus zu einem terrorverdächtigen aufgebauscht wird, obwohl es davon weit entfernt ist. Man kann Katharina Blum nicht lesen, ohne den ‚Freies-Geleit‘-Artikel zu berücksichtigen – und umgekehrt. Insofern liegen mit diesen beiden, in jeweils ganz anderen Kontexten erschienenen Schriften einzigartige Dokumente vor, bei denen die Freiheit des Fiktiven genutzt wird, um die Grenzen des Pragmatischen zu überwinden. Wie sehr Katharina Blum als literarischer Kommentar zu den medialen Aufregungen, die Bölls Artikel im ‚Spiegel‘ ausgelöst hat, verstanden werden kann, lässt sich schon der paratatextuellen Vorbemerkung entnehmen, die den Hinweis enthält, dass sich „bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken“ in der nachfolgenden Erzählung „Ähnlichkeiten mit den Praktiken der ‚Bild‘-Zeitung“ ergeben haben, was jedoch „unvermeidlich“ gewesen sei.22 Der Autor bemüht sich in der strukturellen Anlage seiner Erzählung um Sachlichkeit, nennt den Text einen „Bericht“,23 legt die ‚Quellen‘ für die Geschichte offen und reflektiert die Kompositionstechnik, die der extradiegetische Erzähler – oder vielleicht besser: Berichterstatter – anwendet, um das disparate Quellenmaterial zu

schaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 1990, S. 37. Der Tenor der unsachlichen Berichterstattung wird an einer Schlagzeile wie dieser deutlich: „Im Bett macht Ulrike Männer munter.“ Krebs, Rechtsstaat, S. 37. – Nach einem Jahr konnte Brückner sein Amt an der Technischen Hochschule Hannover wieder ausüben. 22 Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Erzählung. München 1976, S. 5. [1. Aufl. 1974]. 23 Katharina Blum, S. 7.

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ordnen. Die Anordnung in mit Ziffern überschriebene 58 kurze, manchmal sogar sehr kurze Kapitel unterstreicht den um Transparenz bemühten Charakter der Darstellung, die schon in der optischen Anlage zeigen oder auflisten will, was sie erzählt beziehungsweise berichtet. Wenn im dritten Kapitel gleich zu Anfang von „Tatsachen“ die Rede ist,24 signalisiert der Erzähler, dass er sich an Fakten halten will, die einer kritischen Überprüfung standhalten. Die achronologische Anlage der Erzählung, die damit beginnt, dass „eine junge Frau von siebenundzwanzig Jahren […] mittags gegen 12.15 in ihrer Wohnung den Journalisten Werner Tötges erschossen“ hat,25 nimmt auf der einen Seite die Spannung und steigert sie gleichzeitig, weil man wissen will, wie und warum es zu diesem gewaltsamen tödlichen Ende kommen konnte. Wir sind nicht unmittelbarer Zeuge des Mordes; vielmehr wird uns nur mitgeteilt, dass die ‚junge Frau‘ dem „Kriminaloberkommissar Walter Moeding“ gesteht, diesen Mord begangen zu haben, und um ihre Verhaftung bittet. Begonnen haben die Ereignisse um ‚die junge Frau und den Journalisten‘ vier Tage vorher am „20.2. 1974 […] abends gegen 18.45 Uhr“; die Sucht, genaue Daten und Zeitangaben zu machen, durchzieht die gesamte Erzählung und ist ein weiterer Beleg für den Versuch, exakt und detailbewusst zu berichten.26 Die Daten machen auch klar, dass die Praktiken des Sensationsjournalismus zusammen mit einer einseitig operierenden Polizeipraxis es schaffen, innerhalb kürzester Zeit aus der harmlosen jungen Frau eine Mörderin zu machen. Der Erzähler bemüht sich auch ansonsten immer wieder um einen sachdienlichen, neutralen Stil, wird aber schon zu Ende des dritten Kapitels bei der ‚Beschreibung‘ der Leiche ironisch und kann in den nachfolgenden Teilen eine emotionale Färbung immer weniger unterdrücken. Das lässt

24 Katharina Blum, S. 8. 25 Katharina Blum, S. 8-9. 26 Katharina Blum, S. 8-9. – Dass sich die erzählten Ereignisse innerhalb von nur vier Tagen abspielen, lässt sich aufgrund der genauen Angaben von Daten problemlos entschlüsseln. Diese Zeitobsession führt allerdings auch dazu, dass der Autor sich in dem aufgelisteten Material verwirrt, weshalb dieses einer eingehenderen Überprüfung durch den Leser nicht standhält. Vgl. dazu: die Darstellung in: Bernd Balzer: Heinrich Böll. Die verlorene Ehre der Katharina Blum. 3. Aufl. Frankfurt/M 1997, S. 37-38.

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sich schon an der Namensgebung ablesen: Während die Täterin zunächst anonym bleibt und ausschließlich von einer ‚jungen Frau‘ die Rede ist, wird ihr Name in den nachfolgenden Kapiteln häufiger genannt, aber in unterschiedlichen Variationen: Mal wird von ‚der Blum‘ gesprochen, dann von „Katharina“ und nicht selten werden Vor- und Nachname genannt, manchmal auch noch mit einem Demonstrativpronomen versehen. Auch ein Satz wie: „Die Blum war bei ihrer Bluttat mit einer kalten Klugheit zu Werke gegangen“,27 der schon im vierten Kapitel zu finden ist, schlägt einen unsachlichen Ton an und scheint bereits den Stil der – später genannten – „ZEITUNG“ vorwegnehmen zu wollen. 28 Der Berichterstatter gibt also schon sehr früh seine distanzierte Außensicht auf und bezieht Position gegen eine bestimmte Form des Journalismus und für die reuelose Mörderin Katharina Blum. In dieser Mischung zwischen einer proklamierten Sachlichkeit und einer brodelnden emotionalen Beteiligung entwickelt Katharina Blum eine brüchige, manchmal kitschige, dann wieder nüchterne Stilart, die eher einem politischen Pamphlet als einer Erzählung gleichkommt. Während die mit dem Artikel versehene Nennung des Nachnamens eine abwertende Konnotation enthält, sind die Passagen, in denen nur der Vorname der Protagonistin genannt wird, zu liebevoll und zu nah für einen neutralen Gestus. Katharina Blum ist nicht nur unschuldiges Opfer einer rücksichtslosen journalistischen Praxis, der es nicht um korrekte Berichterstattung, sondern darum geht, um jeden Preis ein terrorverdächtiges Umfeld zu konstruieren, und dabei zu vielen unlauteren Mitteln und Lügen greift. Katharina ist in jeder Beziehung eine integere, zuverlässige und verantwortungsbewusste Persönlichkeit,29 die (fast) alle Männer- und Frauenherzen im Sturm erobert und die in diesem idealisierten Entwurf ein (zu) reines Gegenbild zu Tötges abgibt. 30 Die ‚heilige‘ Katharina Blum macht alles richtig, der ‚teuflische‘ Werner Tötges macht

27 Katharina Blum, S. 11. 28 In dieser Darstellung soll das fiktive Boulevardorgan als ‚Zeitung‘ bezeichnet werden. 29 Vgl. dazu auch: die Darstellung in: Rainer Nägele: Heinrich Böll. Einführung in das Werk und in die Forschung. Frankfurt/M 1976, S. 163. 30 Katharina wird abgeleitet vom griechischen Wort ‚kathros‘ (rein) und heißt ‚die Reine‘.

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alles falsch. Vor allem ‚liebt‘ Katharina ‚richtig‘, wenn sie den von der Polizei observierten Ludwig Götten während einer Fastnachtsparty auf den ersten Blick ‚erkennt‘, ihn mit zu sich nach Hause nimmt und ihm, der von der Bundeswehr desertiert ist und dort Geld und Waffen gestohlen hat, am anderen Morgen dazu verhilft, heimlich das Gebäude zu verlassen. Diese unbedingte, bedingungslose und naive ‚Liebe‘ zu einem Unbekannten ist der Auslöser für die Verdächtigungen, denen sie von Seiten der Polizei und der Presse ausgesetzt wird. Denn nicht nur der lügende Journalismus ist Ziel des erzählerischen Angriffs; auch die Teile der Polizei, die diesen Reportern Informationen zukommen lassen und mit ihnen zusammenarbeiten, werden bloßgestellt. Dabei ist insbesondere die Gestalt des Kommissars Beizmenne ein weiterer männlicher Gegenspieler zu der reinen Katharina. Während der Journalist terrorverdächtige und linkspolitische Denunziationen über Katharina und ihre Verwandten in die Schlagzeilen seiner ‚Zeitung‘ bringt, versucht der Kommissar, die Angeschuldigte in tendenziösen Verhören zu Aussagen zu bringen, die seinen Terrorismusverdacht bestätigen. Dass die in sich ruhende und selbstgewisse Katharina ihn dabei immer wieder ins Leere laufen lässt, gehört zum idealisierten Entwurf dieser weiblichen Figur dazu. Dieser Widerspruch zwischen dem Versuch, der reißerischen Publikationspraxis der ‚Bild‘Zeitung eine sachliche literarische Praxis entgegenzustellen, und der letztlich doch sehr deutlichen Parteinahme für beziehungsweise gegen einige Figuren und ihre Handlungsweisen kennzeichnet Ton und Stil von Katharina Blum und führen zu einem inkonsistenten Text: Das emotionale Engagement soll gebändigt werden und macht sich doch immer wieder bemerkbar. Wenngleich eine Tendenz zur Idealisierung sowohl der männlichen als auch der weiblichen Charaktere aus anderen Romanen und Erzählungen Heinrich Bölls bekannt ist, stellt sich die schwarzweiße Figurenkonstruktion in Katharina Blum besonders demonstrativ, fast schon plakativ dar. Das zeigt sich bereits in den sprechenden Namen, die Programm für die jeweiligen Figuren sind und die aus Ludwig Götten den gottähnlichen Geliebten, aus Werner Tötges einen rufmordenden Sensationsjournalisten und aus Katharina Blum einen zu Recht mordenden Unschuldsengel machen. Der symbolträchtige Mord, der in Katharina Blum, gleich zu Anfang erzählt und der damit besonders herausgestellt wird, ist als Kommentar zu den Presseereignissen um Böll und Brückner herum zu

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verstehen. Mit dieser radikalen Tat wird ein Akt begangen, der sich in keinem anderen literarischen Werk Heinrich Bölls findet. Mit Waffen getötet wird in seinen Romanen und Erzählungen nur im Krieg, nicht aber im zivilen Leben. Damit gewinnt Katharina Blum eine Sonderstellung im literarischen Schaffen des Kölner Schriftstellers. Wenn die Geschichte um Katharina Blum und Werner Tötges in einem tödlichen Gewaltakt endet, wird einmal mehr deutlich, dass dieser Mord nicht nur symbolisch ist, sondern dass es sich dabei um einen Entwurf handelt, der in der Freiheit der Fiktion dem Opfer Handlungsoptionen zubilligt, die das zivile Leben nicht zur Verfügung stellt. Während sich die ‚Zeitungsopfer‘ nicht oder nur schlecht gegen willkürlich in die Welt gesetzte Behauptungen zur Wehr setzen können, wehrt sich Katharina in einer so radikalen Weise, dass dieser Schuss fast wirkt, als solle er mit seinem lauten Knall die lebenden, noch tätigen Journalisten aufwecken und ihnen einmal mehr die Folgen ihrer Tätigkeit vor Augen führen. So kann denn auch dieser Mord als das eigentliche Zentrum der Erzählung gesehen werden – und weniger der Versuch, gegen den polizeilichen und journalistischen Sprachmissbrauch einen Gegenentwurf zu präsentieren, in dem sorgfältig und bedacht mit Worten umgegangen wird.31 Katharinas Versuche, die Protokolle ihrer Verhöre zu korrigieren, wirken heute eher unbeholfen, durchsichtig und ein wenig naiv.32 Aber dass außerhalb des kriminalliterarischen Genres eine Frau nicht nur zur Waffe greift, sondern auch noch damit tötet, ist bis dahin in der deutschsprachigen Literatur nicht oft, wenn nicht sogar überhaupt noch nicht geschehen.33

31 Vgl. dazu: die Darstellung bei Nägele, Heinrich Böll, S. 165. Vgl. dazu auch: Angelika Ibrügger: Protest im Namen der Menschenwürde. Heinrich Böll zwischen Literatur und Politik. In: Der Deutschunterricht 60 (2008) H. 1, S. 2132, hier S. 23-24. 32 Katharina Blum, S. 26-27. 33 In einer juristischen Dissertation wird dieser fiktive Mord weder als eine „Art Nothilferecht“ noch als „Widerstandsrecht“ noch als „Notwehrhandlung gegen die untätig bleibenden Staatsorgane“ legitimiert. Krebs, Rechtsstaat, S. 81, 82 und 83. Aus der Sicht von Juristen sei bedenklich, dass die Erzählung nur mit dem Mord und der Untersuchungshaft Katharina ende, weil „Katharinas Selbstjustiz […] dem Leser nicht als verurteilenswert vorgeführt“ wird. Besonders beklagt wird, dass die Tat „gar nicht juristisch beurteilt“ werde.

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Dass im damaligen Klima der Bundesrepublik Die verlorene Ehre der Katharina Blum auf große Resonanz in den Feuilletons gestoßen ist, überrascht nach der Vorgeschichte nicht;34 die kurze Erzählung provozierte „mehr Kritiken und Kommentare als alle anderen Werke Bölls.“ 35 Es gab sogar zeitgleich zur Veröffentlichung des Buches einen dreiteiligen Abdruck des Textes im ‚Spiegel‘ – ein Novum in der deutschen Presse- und Literaturgeschichte.36 Und obwohl es „in dieser Erzählung nicht einen einzigen Terroristen“ gibt, wurde der Text immer wieder als „TerroristenRoman“ rezensiert.37 Damit wird einmal mehr deutlich, dass der ‚Pressekrieg‘ um den ‚Freie-Geleit‘-Artikel die Rezeption von Katharina Blum unmittelbar beeinflusst hat. Die Rezensionen in der deutschen Tagespresse und in den Sendeanstalten lassen sich tendenziell in drei Gruppen einteilen: in eine positiv-zustimmende, eine neutrale und eine kritisch wertende Gruppe.38 Auch wenn die negativen Kommentare die kleinste Gruppe bilden, so erreichen diese – zumeist konservativen39 – Zeitungsorgane doch die höchste Auflagenzahl; die neutral bleibenden

Krebs, Rechtsstaat, S. 86-87. – Im feministischen Diskurs wird diese Tat anders gesehen, wenn betont wird, dass „ihre Rache eine persönliche Lösung für ihre soziale Erniedrigung darstelle, indem sie beweise, daß ‚eine Frau eine Schußwaffe so wirksam benutzen kann wie ein Mann, wenn es gilt, die eigene Ehre zu verteidigen.‘“ Charlotte W. Ghurye; zitiert nach: Zachau, Liberaler Diskurs, S. 281. 34 „Nicht nur schnellten die Verkaufsziffern sehr rasch nach oben (nach 6 Wochen 150 000 Exemplare, nach 4 Monaten 200 000, ein Raubdruck kam noch dazu), sondern der Erfolg hielt an, fiel späteren Neuausgaben ebenfalls zu und blieb auch nicht auf den deutschen Buchmarkt beschränkt.“ Balzer, Katharina Blum, S. 5. – Wohl aus diesem Grund stellte die ‚Welt am Sonntag‘ am 22. September 1974 „die Veröffentlichung ihrer ‚Bestseller-Liste‘ ein“! Balzer, Katharina Blum, S. 7. 35 Zachau, Liberaler Diskurs, S. 273. 36 Vgl. dazu: Balzer, Katharina Blum, S. 5. 37 Heinrich Böll; zitiert nach: Balzer, Katharina Blum, S. 6. 38 Anette Petersen: Die Rezeption von Bölls ‚Katharina Blum‘ in den Massenmedien der Bundesrepublik Deutschland. Kopenhagen, München 1980, S. 46-62. 39 Allerdings ist auch im ‚Spiegel‘ eine vernichtende Rezension erschienen. Vgl. dazu: Balzer, Katharina Blum, S. 64.

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Kommentare sind zumeist in regionalen Zeitungen erschienen und haben aus diesem Grund keine große Bedeutung. Stattdessen werden in überregionalen Tages- und Wochenzeitungen sowie in Rundfunksendern zahlreiche positive Besprechungen publiziert, in denen die Charakterisierung Katharinas ebenso gelobt wird wie auch die Darstellung des Boulevardjournalismus in Gestalt des Werner Tötges. 40 Auch Stil und Technik der Erzählung erfahren Anerkennung.41 Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang die Besprechung Wolfgang Schüttes, die in der ‚Frankfurter Rundschau‘ erschienen ist. Im „Revolverjournalismus“ der ‚Zeitung‘ sieht Schütte die Ursache für den Mord, so dass Katharinas Tat ein „Akt der Notwehr“ beziehungsweise des „moralischen Widerstands“ sei, der sich „gegen die Macht der Presse“ richte.42 Interessant ist, dass die tendenziell negativen Urteile auf eine „gesellschaftliche Interpretation“ – das heißt auf den verhängnisvollen Einfluss der Sensationspresse – völlig verzichten und sich hingegen auf die Person Heinrich Bölls konzentrieren, als dessen „persönliches Anliegen“ die Erzählung dargestellt wird. Bemerkenswert ist weiterhin, dass in diesen negativen Rezensionen der Paratext, der ja unmittelbar auf das Wirken der ‚Bild‘-Zeitung hinweist, nicht ein einziges Mal zitiert wird,43 während die Vorbemerkung in den zustimmenden Kommentaren ausdrücklich erwähnt wird, um den Inhalt der Erzählung zu legitimieren. Dass in den 1970er Jahren eine Trennung zwischen dem politischen Engagement Heinrich Bölls und seinem literarischen Schaffen unmöglich war, zeigen insbesondere die zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die im Zusammenhang mit Katharina Blum erschienen sind. Reinhard K. Zachau weist in seiner zusammenfassenden Übersicht darauf hin, dass immer wieder Bölls moralische Einstellung, seine „Glorifizierung des Kleinbürgers zum unschuldigen Opfer“ und sein spezifischer „Konservatismus“ erwähnt (und zum Teil auch kritisiert) werden. 44 Betont

40 Zachau sieht in den ausführlichen feuilletonistischen Auseinandersetzungen mit Katharina Blum einen Beleg für „das hohe Niveau der deutschen politischen Kultur der siebziger Jahre.“ Zachau, Liberaler Diskurs, S. 273. 41 Petersen, Rezeption, S. 46-51. 42 Petersen, Rezeption, S. 41 und S. 20-40. 43 Petersen, Rezeption, S. 56. 44 Zachau, Liberaler Diskurs, S. 278 und S. 276.

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wird andererseits aber auch, dass Böll „der beste Chronist von Westdeutschlands Leben und Gesellschaft“ sei und dass er es schaffe, „ein genaues Bild der deutschen Gesellschaft“ der ‚kleinen Leute‘ zu geben.45 Fritz J. Raddatz bezeichnet ihn gar als „Balzac der zweiten deutschen Republik“!46 Jochen Vogt verteidigt Bölls traditionellen Schreibstil, weil er mit seinem „dialektischen Moralkonzept“ in unmittelbarem Zusammenhang mit „Traditionsverbundenheit und Fortschreibung“ stehe. Er lobt den „intuitiven Realismus von Katharina Blum im Aufzeigen der Praktiken der Springerpresse“ und sieht in Böll weniger einen „Jahrhundertschriftsteller“ als vielmehr einen Autor, dessen Bedeutung „im Entwickeln einer politischen Kultur für das Nachkriegsdeutschland liege, die auf jeden einzelnen Deutschen Auswirkungen habe […].“47 Letztlich geht es auch bei den literaturwissenschaftlichen Analysen immer wieder darum, ob man Heinrich Böll seine ästhetischen Schwächen vergeben kann, weil er die ‚richtige politische Einstellung‘ habe oder ob man bei einem konzentrierten Blick auf das Werk selbst zu dem Ergebnis kommt, dass Bölls Schreiben in einen populärliterarischen Kontext einzuordnen sei.48

K ATHARINA B LUM

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Dass aus der literarischen Katharina Blum schon ein Jahr später – also 1975 – eine filmische KATHARINA BLUM wurde,49 zeigt einmal mehr, wie brisant der Gegenstand war, den Böll mit der Erzählung um die ‚Kollegin‘ des schillerschen Sonnenwirts und des kleistschen Kohlhaas aufgegriffen hat. 50 Der Film von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta entwirft eine Katharina, die mit der schriftlichen einiges gemeinsam hat, die aber auch

45 Zachau, Liberaler Diskurs, S. 277 und S. 279. 46 Zachau, Liberaler Diskurs, S. 277. 47 Zachau, Liberaler Diskurs, S. 275. 48 Zachau, Liberaler Diskurs, S. 278. 49 Volker Schlöndorff / Margarete von Trotta: Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Arthaus 2009. 50 Vgl. dazu: die intertextuellen Verweise zu den Erzählungen Der Verbrecher aus verlorener Ehre von Friedrich Schiller und Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist: Balzer, Katharina Blum, S. 18-19; Krebs, Rechtsstaat, S. 80-81.

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eigene Charakterzüge entwickelt. Vor allem weicht der Film von der achronologischen Erzählweise des Textes ab und bringt die Ereignisse der vier Karnevalstage in die richtige zeitliche Reihenfolge. Wie wichtig den beiden Regisseuren die chronologische Ordnung ist, lässt sich daran ablesen, dass der Film sogar mit Göttens Flucht beginnt, 51 also mit der Tat, die der Auslöser für die nachfolgenden Ereignisse ist und die im Text nur am Rande erwähnt wird. Zwar versuchen Schlöndorff und von Trotta, den Berichtcharakter ein wenig beizubehalten, indem sie auf Schrifttafeln die jeweiligen Tagesdaten einfügen, aber insgesamt erzählt der Film doch eher eine spannende Geschichte, als dass er zu berichten versucht, wie es zu dem Mord an dem Journalisten gekommen ist. Der Film entwickelt auch eine eigene pointierte Wirkung, wenn die Ermordung Tötges‘ erst am Ende gezeigt wird und wir der schweigenden Katharina dabei zusehen können, wie sie schießt, und dem gänzlich überraschten Tötges, wie er getroffen wird.52 Die Unterschiede zwischen der schriftlichen und der filmischen Gestaltung des Schusses kann man auch daran ablesen, dass in deutschen Kinos zum Teil applaudiert wurde, als Katharina die Pistole tatsächlich benutzt – ganz gegen die Intention der beiden Filmemacher, die zeigen wollten, dass Katharina nicht planvoll mordet, sondern „durch das individuelle Verhalten des Journalisten Tötges alle sich immer wieder aufbauenden Hemmschwellen gegen Gewaltanwendung weggeschoben“

51 Dabei sehen wir Götten aus unterschiedlichen Perspektiven, mal in der Totale, mal in Groß- und Nahaufnahme, mal in farbigen und dann in schwarzweißen Kamerabildern, weil wir auch gleichzeitig sehen, dass er von einem Polizisten in Zivil gefilmt wird. Auf diese Weise bekommt der Zuschauer ausreichend Gelegenheit, diese Figur, die in der Erzählung nur eine Nebenfigur ist, zu betrachten. 52 Elsässer weist darauf hin, dass es auffällig für viele Beiträge des Neuen deutschen Films ist, dass „das hauptsächliche Kraftfeld in diesen Filmen die Ambivalenz zwischen Aggression gegen andere und Aggression gegen sich selbst bildet. Krasser formuliert, liegt die Wahl offenbar zwischen Mord und Selbstmord, wobei beides oft auf dasselbe hinausläuft.“ Thomas Elsässer: Der Neue Deutsche Film von seinen Anfängen bis zu den neunziger Jahren. Deutsche Erstausgabe. München 1994, S. 295. [1. amerikan. Aufl. 1989].

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wurden und sie schließlich schießt.53 Dass man aber den Schuss auf Tötges am Ende des Films befreiender findet als seine Ermordung zu Anfang der Erzählung, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass man diesem Journalisten während des Films immer wieder bei seiner dreckigen Arbeit zusehen konnte. Es geht bei der kathartischen Wirkung des Pistolenschusses also weniger darum, wie die Mordszene inszeniert ist,54 sondern wie die politische Botschaft des gesamten Films transportiert wird. Der Film vereinfacht (oder strafft?) den mit Pro- und Analepsen arbeitenden Text und betont die politische Botschaft der Geschichte um Katharina Blum. Politischer wirkt der Film nicht zuletzt deswegen, weil er ohne Ironie arbeitet und die Geschichte um Götten, Blum und Tötges in unmittelbarer Ernsthaftigkeit entfaltet. „Der Film […] ist eine parteiliche Demonstration des scheinbar erfolglosen Kampfes Katharinas als Individuum gegen die Gewalt eines übermächtigen gesellschaftlichen Systems, dessen Eckpfeiler eine korrupte Polizei, ein skrupelloser Pressekonzern und eine willfährige Justiz sind. Liebe und Menschlichkeit haben in dieser Welt kaum eine Chance, sich wehren heißt schuldig werden.“55 Zu der gesteigerten politischen Wirkung trägt aber auch bei, dass Kommissar Beizmenne in Gestalt von Mario Adorf noch autoritärer und gemeiner agiert als in der Erzählung; dass Tötges ohne jede Einschränkung als widerlicher, rücksichtslos-eitler Schnösel inszeniert ist; vor allem gehört dazu auch, dass die Hausdurchsuchung in Katharina Blums Wohnung und Ludwig Göttens Festnahme im Ferienhaus des ‚Herrenbesuchs‘ mit großem Aufwand inszeniert werden. Beide Ereignisse sind im schriftlichen Text Nebenschauplätze und werden eher erwähnt als ausgestaltet. Im Film hingegen wird das Missverhältnis zwischen den kriminellen Taten der beiden Verdächtigen und deren polizeilicher Verfolgung besonders betont: Mit großem personellen Aufwand bricht die schwer bewaffnete Polizei am Morgen brachial in Katharinas Wohnung ein, ohne ihr die Chance einzuräumen, selbst die Tür zu öffnen. Bedrohlich und

53 Wolfgang Gast: ‚Die verlorene Ehre der Katharina Blum‘. Wie Volker Schlöndorff die Erzählung Heinrich Bölls verändert und was das bedeutet. In: Text und Kontext 18 (1993), H. 1-2, S. 130-150, hier: S. 137-138. 54 Vgl. dazu: die eingehende, mit zahlreichen Abbildungen versehene Analyse dieser Szene in: Gast, Verlorene Ehre, S. 138-142. 55 Gast, Verlorene Ehre, S. 136-137.

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unheimlich ist die Aktion auch deswegen, weil die Beamten Masken vor ihren Gesichtern tragen und im Unterschied dazu Katharina im kurzen weißen Bademantel schwach und fragil wirkt. Dass dann auch noch unbeabsichtigter Weise ein Schuss losgeht, macht den morgendlichen Überfall trotz der übertrieben zur Schau gestellten Professionalität geradezu dilettantisch. Der Kontrast zwischen dem dunklen Grün der Polizeikleidung und der hellen lichten Wohnung verteilt sofort Schuld und Unschuld. Das gleiche gilt für die Festnahme Göttens, auch wenn wir diese nicht unmittelbar gezeigt bekommen: Aber wir sehen in der offenen winterlichen Landschaft eine große Anzahl schwerer Polizeifahrzeuge, Panzer, Feuerwehrautors und Hubschrauber sowie eine nicht zu überblickende Menge von bewaffneten Polizisten und können uns denken, dass man hart vorgegangen ist bei der Verhaftung des jungen Mannes, dem die allerersten Bilder des Films gewidmet sind und der uns aus diesem Grund bekannter ist als der schriftliche Götten. Gleichwohl bleibt Ludwig Götten auch im Film eine eher neutrale Figur,56 während die filmische Katharina Blum in Gestalt von Angela Winkler noch idealisierter wirkt als die schriftliche. Das hängt mit der Macht der Filmbilder zusammen, die die Figur immer von außen zeigen und damit deren Schönheit, Naivität und Unschuld in jeder Einstellung inszenieren können. Wolfgang Gast weist darauf hin, dass Katharina „in 47% aller Einstellungen des Films“ zu sehen [ist], davon in 23% allein, meist in nahen Bildausschnitten.“ Aus diesen Gründen komme der Zuschauer gar nicht umhin, sich zunehmend auf die Figur Katharinas zu konzentrieren,57 so dass er dieser empathisch gezeigten Gestalt immer weniger ausweichen kann. Wenn wir Angela Winkler bei den polizeilichen Vernehmungsaktionen, bei der Lektüre der ‚Zeitung‘, den Gesprächen mit der Patentante sowie mit den Arbeitgebern und nicht zuletzt bei ihrer Schießaktion am Ende zusehen können, so bekommen wir immer eine bieder-harmlose junge Frau gezeigt, die angesichts der männlichen Angriffe auf ihre Integrität nur noch sympathischer und schutzbedürftiger

56 Wolfgang Gast geht davon aus, dass Ludwig Götten „durch die schauspielerische Ausgestaltung im Film sympathisch aufgewertet“ wird. Gast, Verlorene Ehre, S. 136. 57 Gast, Verlorene Ehre, S. 135.

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wirkt.58 Während in der schriftlichen Erzählung die Reinheit dieser Katharina immer wieder gesagt werden muss, ist die filmische Katharina in jeder Szene ein beredter Hinweis auf ihren wehrlosen Opferstatus. Dazu gehört auch, dass die Liebesgeschichte zwischen ihr und Götten betont wird, wenn es Katharina ist, die ihn im Ferienhaus anruft und damit der Polizei seinen Aufenthaltsort verrät; wenn sie es ist, die ihn dort gar besuchen will, aber nur auf die Nachwirkungen der erfolgten Verhaftung stößt; und nicht zuletzt wenn die beiden sich am Schluss im Gefängnis noch einmal begegnen und sich sogar in die Arme fallen können. Es sind wahrscheinlich solche Filmszenen, die den amerikanischen Literaturwissenschaftler Jack Zipes dazu veranlassen, Schlöndorffs und von Trottas Filmarbeit vorzuwerfen, dass sie „nur die melodramatischen Effekte“ der Erzählung beibehalten, aber Bölls Versuch, mit einem „politischen Gebrauch von Sprache soziale und politische Machtstrukturen“ aufzudecken, in ihrer Regiearbeit eliminieren.59 Der Film macht aus der Geschichte noch stärker eine ‚Frauengeschichte‘, als es bei Bölls Erzählung der Fall ist, und er übersetzt die politischen Strategien, die im schriftlichen Text vor allem sprachkritisch gestaltet sind, in die bekannte, wirkmächtige Bildsprache jener Jahre. Mit diesen Akzentuierungen weicht KATHARINA BLUM von der Erzählung ab, ist aber durchaus ein eigener Beitrag zum politisch-kulturellen Diskurs dieses Jahrzehnts. Begleitet wurde die Veröffentlichung des Films von einer erbittert geführten juristischen Auseinandersetzung, die sich von 1974 bis 1981 hinzog und in der einmal mehr Heinrich Böll als öffentliche politische Person dieses Jahrzehnts auftrat. Der Journalist Matthias Walden hatte am

58 „Die Figur der Katharina Blum ist die erste in einer Reihe von Frauenfiguren in sog. RAF-Filmen, die trotz ihrer Stärke in einer Opferrolle gezeigt wird. Zwar handelt es sich hier – absichtlich – nicht um eine Terroristin […], aber um eine junge Frau, die aufgrund äußerer Zwänge, gesellschaftlichen Drucks und persönlicher Verzweiflung zur Mörderin wird.“ Cordia Baumann: Mythos RAF. Literarische und filmische Mythentradierung von Bölls ‚Katharina Blum‘ bis zum ‚Baader Meinhof Komplex‘. Paderborn u.a. 2012, S. 126. 59 Zachau, Liberaler Diskurs, S. 280. – Jack Zipes setzt sich ansonsten sehr kritisch mit Katharina Blum auseinander und geht auch davon aus, dass es Böll nicht gelungen sei, „die politische Repression in Westdeutschland adäquat zu erfassen“. Zachau, Liberaler Diskurs, S. 280.

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21. November 1974 im ARD-Fernsehen Heinrich Böll der „moralischen Mitverantwortung“ am Mord des Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann bezichtigt, der von Mitgliedern der RAF begangen worden war: „Heinrich Böll bezeichnete den Rechtsstatt [sic!], gegen den die Gewalt sich richtete, als ‚Misthaufen‘ und sagte, er sähe nur ‚Reste verfaulender Macht, die mit rattenhafter Wut verteidigt‘ würden. Er beschuldigte diesen Staat, die Terroristen ‚in gnadenloser Jagd‘ zu verfolgen.“60 Böll prozessierte gegen diese aus dem Zusammenhang gerissene Zitierweise und die damit verbundenen Unterstellungen, unterlag aber in den ersten vier Instanzen; erst sieben Jahre später, am 1. Dezember 1981, bekam Böll Recht zugesprochen, das heißt, zu einem Zeitpunkt, als die Konflikte um die RAF-Aktivitäten das Tagesgeschehen und das politische Klima in der Bundesrepublik nicht mehr bestimmten. In diesem letzten Urteil wurde Matthias Walden vom Bundesgerichtshof „aufgrund der Verletzung des Persönlichkeitsrechts zu einer Zahlung von 40 000 DM Schmerzensgeld verurteilt.“61 Interessant ist in diesem Zusammenhang aber der erste Rechtsspruch des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1978 (!): In diesem wurde Matthias Walden das „Recht zur freien Meinungsäußerung“ zugesprochen, wobei argumentiert wurde, dass Bölls Formulierungen „mehrdeutig“ seien. Nicht zuletzt wurde auch auf „die öffentliche Rolle Bölls als Kritiker in der Terrorismusdebatte“ hingewiesen. „Als solcher habe er sich in provozierender Weise zum Thema geäußert und dadurch besonders zu Widerspruch herausgefordert.“62 Dieses Urteil hat erregte Debatten in den politischen Parteien ausgelöst: Während die SPD den Karlsruher Spruch als ein „unzulässiges Vordringen der Rechtsprechung in den Raum der Politik“ betrachtete, „sah die Opposition es als rein juristische und von der Politik deshalb zu respektierende Entscheidung an.“63 Das Urteil wie auch der gesamte juristische Streit zeigen einmal mehr, wie die Debatte um die terroristischen Aktivitäten der RAF zu einer Polarisierung geführt haben, in der die Mordtaten einer Gruppe zu einer

60 Ibrügger, Protest, S. 24-25. – Angelika Ibrügger konnte in nicht veröffentlichte Dokumente Einblick nehmen, die im Heinrich-Böll-Archiv aufbewahrt sind. 61 Ibrügger, Protest, S. 24. 62 Ibrügger, Protest, S. 27. 63 Ibrügger, Protest, S. 29.

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allgemeinen medialen Hetze gegen Künstler und Intellektuelle führte, in der ein ausgewogenes Urteilen nicht möglich war.

ANTIGONE Noch ein letztes Mal hat sich Heinrich Böll in dieser Sache literarisch zu Wort gemeldet – und zwar zu einem Zeitpunkt, als im Herbst 1977 die Konflikte um die Aktionen der RAF ihren tödlichen Höhepunkt erreichten: Am 18. Oktober dieses Jahres ermordeten Mitglieder der Roten-ArmeeFraktion den Manager und Wirtschaftsfunktionär Hanns Martin Schleyer, den sie kurz zuvor entführt hatten, um im Austausch gegen ihn elf Mitglieder der Gruppe aus den Gefängnissen frei zu bekommen; eine Verkehrsmaschine der Lufthansa, die am 13. Oktober nach Mogadischu entführt worden war, um ebenfalls im Austausch mit den Passagieren Inhaftierte zu befreien, wird zu Beginn desselben Tages von Mitgliedern einer Antiterroreinheit der deutschen Bundespolizei gestürmt und befreit; und nicht zuletzt erschießen sich in derselben Nacht Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, drei der Gründungsmitglieder der Baader-Meinhof-Gruppe, im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses in Stuttgart-Stammheim (Ulrike Meinhof hatte sich bereits ein Jahr zuvor das Leben genommen). Am 25. Oktober wird Schleyer in Stuttgart ein Staatsbegräbnis zuteil.64 Zwei Tage später, am 27. Oktober, werden in derselben Stadt auf einem anderen Friedhof Raspe, Baader und Ensslin beigesetzt. Die dramatische Zuspitzung der Ereignisse veranlasste Volker Schlöndorff zu einer filmischen Initiative, in der er zusammen mit anderen Regisseuren in Bildern festhalten wollte, was um die beiden so unterschiedlichen Beerdigungen herum geschah. Ausgangspunkt der Initiative war die Überlegung, dass man mit eigenen dokumentarischen Aufnahmen eine „Gegenöffentlichkeit“ schaffen wollte gegen die Berichterstattung in den sonstigen Medien, die Schlöndorff als „Bildersalat“

64 Hanns Martin Schleyer war während des Nationalsozialismus nicht nur Mitglied der NSDAP gewesen, sondern hatte auch der SS angehört – einer paramilitärischen Organisation der NSDAP, die an der Ermordung der Juden beteiligt war und die nach 1945 als verbrecherische Organisation verurteilt wurde.

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bezeichnet.65 Die Dokumentaraufnahmen sind aber nur ein Bestandteil des 1978 publizierten Films DEUTSCHLAND IM HERBST, der diese Beerdigungsbilder mit fiktiven Szenen mischt, die von weiteren Regisseuren des Neuen deutschen Films beigetragen werden. 66 Die insgesamt neun Filmemacher kommentieren mit ihren Beiträgen aus ganz unterschiedlichen Sichten die ‚Lage des Landes‘, so dass ein kaleidoskopartiges Stimmungsbild des damaligen Westdeutschlands entsteht.67 Dabei ist Rainer Werner Fassbinders Beitrag besonders eindringlich und erzielt nachhaltige Wirkung, weil der Regisseur selbst mitspielt und in radikalehrlicher Offenheit ungeschützt das Klima des Misstrauens und der Angst zeigt, von dem sich in jenen Tagen kaum jemand frei machen konnte. Zusammengehalten aber wird der Film durch die abschließende Montagearbeit Alexander Kluges, dessen „Kollisionsmontage“ dem Film deutlich seine Handschrift verleiht und die aus den einzelnen Teilen ein widersprüchliches Ganzes macht.68

65 So Volker Schlöndorff im Bonusmaterial der DVD: Deutschland im Herbst. Arthaus 2004. 66 Der Neue deutsche Film war eine Bewegung von Regisseuren, die Anfang der 1960er Jahre entstanden war und die sich vor allem wandte gegen kitschigsentimentale Heimatfilme der 1950er Jahre beziehungsweise gegen eine Kultur, die den Film als bloßes Medium der Unterhaltung und Entspannung ansah. Diese Filmemacher suchten erfolgreich Anschluss an avantgardistische Filmstile, wie sie mit dem Neorealismus in Italien und mit der nouvelle vague in Frankreich entstanden war. 67 Kritisch kommentiert wird das Filmprojekt in: Baumann, Mythos RAF, S. 207212. – In dieser jüngsten Arbeit zur Baader-Meinhof-Phase der Bundesrepublik wird überhaupt ein äußerst skeptischer Blick auf Filme und Erzählungen geworfen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. 68 „In der Kollision der Bilder erhält das für das Medium Film ‚konstitutive Dazwischen‘ bei Kluge ähnlich wie bei Godard eine sichtbare Form. […] Der visuelle Kontrast zwischen dem einen und dem anderen Bild schafft ein Dazwischen, das ein Infragestellen beider Bilder ermöglicht. Der Schnitt vermittelt nicht mehr zwischen den beiden angrenzenden Bildern, ‚der Zwischenraum verselbstständigt sich.‘ An der Bruchstelle entsteht etwas Neues, ein virtuelles drittes Bild, das Kluge als ‚Epiphanie‘ […] bezeichnet hat. […] Auf ganz ähnliche Weise bedingen sich auch die durch den Schnitt semantisch

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Heinrich Bölls Beitrag leitet das letzte Drittel des Films ein, in dem es dokumentarisch um die Beerdigung von Raspe, Ensslin und Baader geht. Vorgeschaltet sind diesen Bildern vom Dornhaldenfriedhof in Stuttgart im Herbst 1977 jedoch Bilder einer fiktiven Szene, in der ein Aufsichtsratsgremium darüber diskutiert, ob eine neue Inszenierung der sophokleischen Tragödie Antigone im aktuellen Fernsehprogramm gezeigt werden kann. Böll hat der kleinen dramatischen Szene den Titel Die verschobene Antigone gegeben und signalisiert damit von Beginn an einen Konflikt um dieses Stück, das in dieser Zeit nicht unvoreingenommen wahrgenommen werden kann.69 „Gewaltiges kündend, künden wir doch nicht Gewalt.“ Das sind die ersten Worte der beiden Schauspielerinnen, die in der bereits fertiggestellten Fernsehinszenierung Antigone und Ismene spielen. Diese ‚Distanzierungsformel‘ ist vom Regisseur erfunden und dem eigentlichen Dramentext vorangestellt. Erst danach sagt Antigone die berühmten Worte „O Schwester, du mein eigen Blut, Ismene“,70 erst danach folgen weitere Auszüge aus dem Prolog, in dem die Schwestern über das Beerdigungsrecht streiten. Enden lässt Böll diese Szene mit Antigones energisch vorgetragenem Ausspruch: „Eh’ meine Kraft versagt, geb ich nicht auf.“71 Am vorgeschalteten „Distanzierungstext“ entzündet sich dann auch vor allem die Debatte der Kommissionsmitglieder; 72 man findet ihn „mißverständlich“, „zu edel“, zu „undeutlich“,73 ist auch ‚verwirrt‘ über die stilistische Nähe zur Sprache Sophokles’. Der Regisseur hat noch zwei

angereicherten Bilder in Kluges Kontrastmontagen gegenseitig, allerdings ohne hierbei ihre jeweilige Autonomie einzubüßen. Der Prozess der Sinn-Generierung findet nicht in, sondern zwischen den Bildern statt und vollendet sich letztlich erst im Kopf des Zuschauers.“ Andreas Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge. Bielefeld 2005, S. 211-212. 69 Heinrich Böll: Die verschobene Antigone. Drehbuchentwurf für Volker Schlöndorffs Beitrag zu dem Film ‚Deutschland im Herbst‘. In: Ders.: Werke. Kölner Ausgabe. Bd. 20. 1977-1979. Herausgegeben von Ralf Schnell und Jochen Schubert in Zusammenarbeit mit Klaus-Peter Bernhard. Köln 2009, S. 154-159. 70 Böll, Verschobene Antigone, S. 154. 71 Böll, Verschobene Antigone, S. 156. 72 Böll, Verschobene Antigone, S. 157. 73 Böll, Verschobene Antigone, S. 156-157.

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weitere Distanzierungsformeln gedreht, von denen die letzte am deutlichsten ist: „Es ist unvermeidlich, auch unübersehbar, daß in manchen Stücken, auch in klassischen Gewalt dargestellt wird – wir distanzieren uns aufs schärfste von jeglicher Form der Gewalt, und sagen dies Auch im Namen der Regie, der Verwaltung des gesamten Ensembles der Bühnenarbeiter der Kassierer im Namen aller, die direkt oder indirekt an der Inszenierung mitwirken.“

Dass diese unverhohlene Deutlichkeit gleichzeitig eine ironische Wirkung hat, erkennen die Kommissionsmitglieder auch sofort; da sie es aber zu gefährlich finden, Antigone ohne Distanzierungsformel zu senden, beschließen sie, die Produktion fertigzustellen, sie aber „auf Eis zu legen, bis ruhigere Zeiten kommen“.74 Böll lässt die sieben Kommissionsmitglieder, von denen (nur) eines ‚weiblich sein muss‘,75 zwar vor allem über die Distanzierungsversionen debattieren, aber zwischendurch ‚rutschen‘ den Gutachtern auch immer wieder Kommentare über Sophokles’ Dramentext heraus, die deutlich werden lassen, wie skandalös einige Programmverantwortliche im deutschen Herbst 1977 den zweitausend Jahre alten Dramentext empfinden: „Es ist kein Trost, auf diese Weise zu erfahren, daß es schon im 5. Jahrhundert nun – sagen wir – terroristische Weiber gegeben hat,“ sagt ein Mitglied der Kommission, der Antigone als ‚terroristisches Weib‘ bezeichnet hat und der den Hinweis auf die Herkunft des Dramas damit beiseite wischt.76 Aber nicht nur Antigone wird gewaltsam in den aktuellen Terrorismuszusammenhang hineingepresst; auch „dieser düstere Seher,

74 Böll, Verschobene Antigone, S. 159. 75 Böll, Verschobene Antigone, S. 154. 76 Böll, Verschobene Antigone, S. 157.

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dieser Teiresias“ wird von einem anderen Programmverantwortlichen als „eine Art vorweggenommener Intellektueller“ bezeichnet, der von den jugendlichen Zuschauern „als eine Aufforderung zur Subversion“ verstanden werde.77 In wenigen Worten und in skizzenhaften Andeutungen fängt Böll das Klima der späten 1970er Jahre ein, in dem nicht mehr unterschieden werden kann zwischen den kriminellen Aktionen einer völlig entgleisten politischen Gruppierung auf der einen Seite und kulturellen, ästhetischen und intellektuellen Werken und Debatten auf der anderen Seite, die mit den Problemen der Gegenwart nur insofern korrespondieren, als tödliche Konflikte in menschlichen Gemeinschaften ein unausweichliches Faktum des Erzählens, Dramatisierens und Reflektierens sind.78 Immerhin entscheidet sich die Programmkommission dafür, statt der ‚terroristischen‘ Antigone mit Bellum Gallicum ein „Kriegsstück“ zu zeigen, das zwar auch Gewalt zeigt, aber eben keine terroristische: Somit sei es ungefährlich für die Jugend!79 In der filmischen Inszenierung wird Bölls Botschaft weiter zugespitzt und noch politischer gestaltet. Seinem Drehbuch wird zwar weitgehend gefolgt, aber es werden – entscheidende – Ergänzungen vorgenommen, weshalb sich nicht vermeiden lässt, dass die bildliche Inszenierung eine

77 Böll, Verschobene Antigone, S. 158. 78 Die Literatur- und Theaterwissenschaftlerin Theresia Birkenhauer erwähnt in ihren Ausführungen über die griechische Tragödie, dass es in diesen Dichtungen nicht um sittliche Prinzipien gehe, nicht um Helden oder um Sieg oder Niederlage. „[E]her könnte man die griechische Tragödie eine Anstalt zur Vertiefung von Konflikten nennen, ein Verfahren, um das Wissen um unlösbare Konflikte zu schärfen. Wenn die Tragödie die alten mythischen Geschichten aufgreift, dann benutzt sie sie, um Probleme zu formulieren, die keine Lösungen finden.“ Sie zeige beharrlich die Konflikte auf, die unweigerlich entstehen, wenn Menschen zusammenleben. Andererseits aber ist eben dieses Zusammenleben in der Gemeinschaft für ein Überleben unabdingbar. Die Tragödie mute den Zuschauern zu, Widersprüche auszuhalten – „den Zusammenhang von Zivilisation und Gewalt, von Terror und Humanität.“ Theresia Birkenhauer: Tragödie: Arbeit an der Demokratie. Auslotung eines Abstands. In: Theater der Zeit (2004) H. 11, S. 27-28, hier: S. 27-28. 79 Böll, Verschobene Antigone, S. 159.

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eigene Botschaft verkündet. Allein die Tatsache, dass wir einige Schauspieler wiedererkennen, weil sie auch in DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM mitgespielt haben, verleiht der filmischen Umsetzung des kleinen Dramas in DEUTSCHLAND IM HERBST eine ganz spezifische Kontinuität und Aussagekraft. So wird das Kommissionsmitglied, das einer nicht genauer bezeichneten Partei angehört und das Antigone als ,rebellisches Weib‘ bezeichnet, von Dieter Laser gespielt, der auch schon den widerlichen Werner Tötges in KATHARINA BLUM dargestellt hat. Der Intendant, der sich immerhin um ein sachliches Urteil bemüht, wird von Heinz Bennent gegeben, demselben Schauspieler, der im Film Katharinas (sympathischer) Arbeitgeber Dr. Blorna war. Und nicht zuletzt übernimmt Angela Winkler die Rolle der Antigone, die Schauspielerin also, die zu dem Zeitpunkt fast mit Katharina Blum identifiziert wurde. Insbesondere letztgenannte Besetzung ist ein Zeichen, das diese beiden Frauenfiguren sofort nah zusammenrückt und Antigone als Fortsetzung von Katharina erscheinen lässt. Die neue Inszenierung der antiken Tragödie wird in DEUTSCHLAND IM HERBST in schwarzweißen Bildern eingespielt, die manchmal die ganze Leinwand einnehmen, manchmal aber auch nur auf Fernsehbildschirmen zu sehen sind. Dabei werden klare Akzente gesetzt: die unschuldige Antigone, die in weiße, weich fließende Gewänder gekleidet ist, und der autoritär herrschende Kreon, der machtvoll und streng sein Verdikt verkündet. Die Sympathien sind von Anfang an klar verteilt: Antigone steht auf der guten und richtigen Seite; Kreon ist es, der die Macht repräsentiert, gegen die es sich aufzulehnen gilt. Und die Beerdigung des Polyneikes, die in Sophokles’ Drama nur Anlass für ein DarüberSprechen ist und die auch in Bölls Drehbuchentwurf nicht vorkommt, wird in dieser Fernsehinszenierung als Akt unmittelbar gezeigt. Die Inszenierung stellt sich auf Antigones Seite, wenn sie die kleinen, intimen Gesten zeigt, mit denen die Schwester den Toten zu versorgen sucht. Wenn wir den nackten Leichnam in der kargen Wüstenlandschaft liegen sehen, können wir uns das, was Kreon für diesen Toten als Schicksal beschlossen hat, noch besser vorstellen: „Doch seinen Bruder Polyneikes, sag ich, der / Als Landesflüchtiger zurückgekehrt, die Erde, / die väterliche, und die Götter des Geschlechts / Gewollt mit Feuer niederbrennen bis zum Grund, / […]. / Ihn – so ist ausgerufen dieser Stadt – / Soll man nicht ehren mit dem Grabe

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noch beklagen, / Nein, unbestattet lassen, einen Leib / Für Vögel und für Hunde zu verspeisen / Und als geschändet anzusehen.“80 Genüsslichgrausam spricht Kreon diese Worte aus, während Antigone nicht weniger entschieden als ihr Onkel beschließt, ihre Tat in aller Öffentlichkeit zu begehen und zu ihr zu stehen. Während diese beiden Szenen die gesamte Leinwand ausfüllen, wird der Disput zwischen Kreon und Antigone auf zwei Fernsehschirmen eingespielt und damit in eine ziemliche Ferne gerückt. Sophokles’ Antigone wird in diesem Film zwar zitiert, aber sie wird auch gleichzeitig in einige Distanz gebracht: zum einen durch die schwarzweißen Bilder, die historisch anmuten und eine länger zurückliegende Zeit andeuten; zum anderen aber auch durch die beiden Fernsehapparate, die eine mediale Brechung in der Präsentation verursachen und eine unmittelbare Wahrnehmung verhindern. Ist die Besetzung bereits ein politisches Signal, so sind es weitere Ergänzungen der Filmemacher erst recht: Konzentriert sich Böll in seinem Drehbuch auf die Titelheldin, so ergänzen die Regisseure die filmische Inszenierung um Kreons Auftritt und seine gewaltige Drohrede, in der er das Beerdigungsverbot erlässt. Auch der Anfang des Disputs zwischen Kreon und Antigone wird gezeigt, so dass offensichtlich Wert darauf gelegt wird, den politischen Herrscher ebenfalls gegenwärtig zu halten. Dass es auch um ihn geht, wird am Schluss besonders deutlich. Der Intendant begründet die Entscheidung, den neuen Antigone-Film 1977 nicht zu senden, nämlich noch mit der Bemerkung: „Es ist einfach zu aktuell, auch das Ende.“ Damit wird der Blick weg von der (angeblich terroristischen) Protagonistin hin zu dem politischen Machthaber Kreon gelenkt, der am Schluss des Dramas einsam dasteht, von drei toten Familienangehörigen umgeben, die sich alle seinetwegen das Leben genommen haben. Wenngleich auch Antigone bei Sophokles am Ende nicht recht behält und nicht vor dem Tod gerettet wird, so bekommt Kreon vielleicht noch weniger recht, weil er mit dem Wissen um diese Toten, die sich aufgrund seiner politischen (Fehl-)Entscheidung getötet haben, weiterleben muss. Und wenn der Intendant schließlich den Regisseur beim Herausgehen sogar noch – ungläubig – fragt: „Sagen Sie, das Ende – ist das so bei Sopho-

80 Sophokles: Antigone. Herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Schadewaldt. Mit einem Aufsatz, Wirkungsgeschichte und Illustrationen. Frankfurt/M 1974, S. 18.

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kles?“ – dann wird erst recht die Frage nach den politisch Verantwortlichen gestellt und den Konsequenzen für deren Handeln. Auch diese Frage steht nicht in Bölls Drehbuchentwurf, sondern wurde von Volker Schlöndorff und Alexander Kluge hinzugefügt, um in der filmischen Umsetzung der böllschen Arbeit deutlich zu machen, dass es mehrere ‚Skandale‘ in Sophokles’ Drama gibt – nicht nur das der ‚rebellischen‘ Antigone, sondern auch das des politisch verantwortlichen Kreon.81 Die filmische Weiterarbeit mit Bölls Drehbuchentwurf zeigt sowohl das Potential des Kölner Schriftstellers als auch seine Grenzen. Böll schafft mit der Fernsehprogrammdiskussion ein Setting, das es erlaubt, die hysterische Stimmung der deutschen Medienlandschaft zu ironisieren. Aber indem er sich in seiner Aktualisierung des antiken Stoffes auf die Situation des ‚Opfers‘ konzentriert und sich weniger um die politisch Mächtigen kümmert, gewichtet er nur eine Seite des Konflikts und übersieht den dramatischen Kommentar, den Sophokles am Schluss des Dramas über die desolate Lage der politischen Herrschaft abgibt. Die von Böll verschobene Antigone ist die konsequente Fortsetzung des ‚Freie-Geleit‘-Artikels und der Erzählung über Katharina Blum, weil das weibliche Handeln in den Mittelpunkt gerückt und die männlichen Entscheidungen über diese Taten kritisiert werden. Die filmisch verschobene Antigone verschärft den Protestcharakter, der mit dem weiblichen Tun verbunden ist, indem wir Antigone bei ihrem Beerdigungsakt zusehen können; sie verschärft aber auch die Konfliktlage der politisch Herrschenden, wenn wir Kreon am Anfang bei seiner mächtigen ‚Regierungserklärung‘ sehen und am Ende im Botenbericht erzählt bekommen, dass sein Sohn Haimon – nach dem vergeblichen Versuch, den Vater zu töten(!) – sich selbst auf elendige Weise das Leben nimmt. Der Drehbuchentwurf endet mit dem Satz: „Man sieht vielleicht noch einige Verse in der klassischen Inszenierung.“82 Im Film beenden folgende Verse aus dem Botenbericht die Antigone-Szene: „Ein Toter liegt er bei den Toten nun und feiert Hochzeit in des Hades’ Haus.“ Damit wird das tödliche Ende der Tragödie betont, das gleichzeitig das totale Scheitern einer politischen Entscheidung bedeutet. Böll schreibt

81 Vgl. dazu auch: Elisabeth K. Paefgen: „Sagen Sie das Ende – ist das so bei Sophokles?“. Bestattungsrituale in dem Episodenfilm DEUTSCHLAND IM HERBST. In: Weimarer Beiträge 59 (2013) H. 1, S. 5-20. 82 Böll, Verschobene Antigone, S. 159.

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selbst zu sehr aus der Opfer-Perspektive, als dass er die HerrscherPerspektive hätte einnehmen können. Aber er hat mit seinem Drehbuchentwurf den Boden dafür bereitet, dass die Filmmacher diese Position stark machen konnten.

Lyrik – Lesen – (nicht) Interpretieren. Hans Magnus Enzensbergers rezeptionsästhetische Kampfansage: Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie (1976)

V ERTEIDIGUNG DER L YRIK Der Essay mit dem rhetorisch mehrfach aufgeladenen Titel ist genau das Gegenteil von dem, was er in seiner Überschrift verspricht: Er ist ein kräftiger Fanfarenstoß zur Verteidigung der Schüler beziehungsweise der Lyrik vor deutschunterrichtlichen An- und Übergriffen. Wegen seiner polemischen Hyperbeln und seines understatements kann der Essay leicht unterschätzt und als hoffnungslos übertrieben abgetan werden. Vielleicht ist das der Grund, warum dieser Text von Enzensberger wenig Beachtung gefunden hat und seltener zitiert wird. Der bescheidene Vorschlag wäre vielleicht sogar in Vergessenheit geraten, wenn er nicht von seinem Verfasser in den späten 1980er Jahren in eine Sammlung von Essays aufgenommen worden wäre, so dass der Aufsatz über Zeitungs- und Zeitschriftenpublikationen aus den 1970er Jahren hinaus Buchbestand erfahren hat.1 Aber Enzensbergers emotional-engagiertes Plädoyer für

1

Hans Magnus Enzensberger: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt/M 1988, S. 23-41. – Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich den

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einen behutsameren Umgang mit poetischen „Erzeugnissen“ im Deutschunterricht passt in den Zeitgeist der 1970er Jahre, der im geisteswissenschaftlichen Klima unter anderem von der ‚rezeptionsästhetischen Wende‘ geprägt war, die von den Antrittsvorlesungen des Romanisten Hans Robert Jauß (1967) und des Anglisten Wolfgang Iser (1969) an der neu gegründeten Universität in Konstanz eingeleitet worden war.2 Die beiden Vorträge sowie andere Studien dieser Autoren wurden breit wie auch intensiv rezipiert und hatten für die Literaturwissenschaft, 3 besonders nachhaltig aber für die Literaturdidaktik, bedeutende Folgen, was sich vor allem darin zeigte, dass auch dem unkundigen, kindlichjugendlichen Leser eine erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Lesen und Leser – gleich welchen Bildungsstands – wurden aufgewertet.4 Enzensberger greift die Idee auf, dass auf jede Leserin, auf jeden Leser geachtet werden sollte,5 und mischt sich mit einer entschiedenen Haltung in

Text in den 1970er Jahren in einer Zeitschrift gelesen habe; er wurde damals des Öfteren nachgedruckt. 2

Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M 1970, S. 168-206. Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. 3. Aufl. München 1988, S. 228-252. [1. Aufl. 1975].

3

Vgl. dazu: die beiden Mitte der 1970er Jahre erschienenen Sammelbände: Warning, Rezeptionsästhetik. Gunter Grimm (Hg.): Literatur und Leser. Theorie und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Stuttgart 1975.

4

In einem Nachruf von Günther Stocker in der Neuen Zürcher Zeitung heißt es nach dem Tod von Wolfgang Iser: „Am 24. Januar ist einer der Vordenker der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts verstorben. Wolfgang Iser und die sogenannte ‚Konstanzer Rezeptionsästhetik‘ haben in den siebziger Jahren die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt, indem sie nicht mehr die Autorintension in den Mittelpunkt ihrer Forschung rückten, sondern den ‚Akt des Lesens‘, ohne den es gar keine Literatur gäbe.“ Neue Zürcher Zeitung vom 27./28.1. 2007, S. 25.

5

„Man kann das alles Literatursoziologie, Rezeptionsästhetik und Kommunikationsforschung nennen, das macht sich besser und bringt Forschungsaufträge ein.“ Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 26. Enzensberger kannte also

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den rezeptionsästhetischen Diskurs ein, wenngleich der Titel des Essays zunächst anderes andeutet. Sowohl „bescheidener“ als auch „Vorschlag“ weisen eher auf ein vorsichtiges und leises Überlegen hin und signalisieren eine Zurückhaltung, die der Text dann an keiner Stelle einhält. Die gestelzte Formulierung „Schutze“, die mit dem angehängten „e“ nicht dem alltäglichen Sprachgebrauch dieses Substantivs entspricht, klingt gleichermaßen dramatisch wie auch ironisch, zumal sie sich dann auch noch auf die heranwachsende Generation bezieht. Entfernt wird an die Sprache der Justiz erinnert, die mit ‚Jugendschutzgesetzen‘ Verordnungen erlässt, um Jugendliche vor wirklichen Gefahren zu bewahren; dass es sich um solche nicht handelt, wird mit der abschließenden Pointe deutlich, die Begriffe aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammenführt und damit eine komische Wirkung hervorruft: Von „Erzeugnissen“ spricht man in wirtschaftlichen oder technischen Zusammenhängen, nicht aber wenn es um poetische Produktionen geht. Der Höhepunkt des Titels bricht mit den Erwartungen, die besonders mit der zweiten Wortgruppe aufgebaut werden und die in eine gänzlich andere Richtung gehen: Gemeinhin soll die „Jugend“ vor Gewalt beziehungsweise vor Werken, die Gewaltdarstellungen enthalten, beschützt werden; dass es dem Verfasser aber notwendig erscheint, sie vor einem so harmlosen und friedlichen ‚Gegenstand‘ wie dem der poetischen Kunst schützen zu müssen, ist die eigentliche Überraschung dieses Titels. Der nachfolgende Essay liefert eine ausführliche und argumentativ geschickt aufgebaute Begründung für diese Forderung. Enzensberger hat seinen Aufsatz in fünf unterschiedlich lange Teile gegliedert, von denen der erste zu den längeren gehört und sich mit der ‚anachronistischen‘ Tätigkeit des Schreibens und Lesens von Gedichten beziehungsweise mit der noch anachronistischeren Überzeugung vom angeblich „jugendgefährdenden Charakter der Poesie“ befasst.6 Gewährsmann für diese These ist vor allem Platon, der zwar namentlich nicht genannt, aber unverkennbar metonymisch umschrieben wird. 7 Mit der

zumindest den Begriff, und auch wenn er sich hier eher abfällig über diese Theorie äußert, so geht seine spätere Argumentation gleichwohl in eben diese Richtung. 6

Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 24.

7

„Ich erinnere nur an jenen berühmten Philosophen von der Balkan-Halbinsel, 427 bis 347 vor Christus, der, nachdem er selber einige offenbar ziemlich

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Bezugnahme auf eine anerkannte philosophische Autorität bekommt diese Aussage einiges Gewicht und muss ernstgenommen werden. Enzensberger geht es darum, diese Auffassung als Ideologie zu entlarven und deutlich zu machen, dass es keinerlei Beweise dafür gibt, dass diese Annahme zutrifft; es handle sich dabei um ein „Vorurteil“,8 das mit einer kritischen wissenschaftlichen Betrachtungsweise nichts zu tun habe. Dabei wendet er eine argumentative Strategie an, die mit zahlreichen Hyperbeln arbeitet – nicht zuletzt verantwortlich für die komische Wirkung: „Wenig deutet darauf hin, daß unsere Schüler und Lehrlinge, von einer Art Massenhypnose ergriffen, ihre Kassettenrecorder und Motorräder liegen und stehen ließen, ihre Sport-, Konsum- und Kopulationspflichten gröblich vernachlässigen, um sich hemmungslos dem Genuß von Lyrik hinzugeben.“9 Enzensberger betont die Harmlosigkeit poetischer Produkte und insistiert darauf, dass nach der Lektüre von Poesie weder systemsprengende noch systemstabilisierende Folgen zu befürchten seien, wie von konservativer beziehungsweise fortschrittlicher Seite aus befürchtet wird, sondern nimmt vielmehr an, dass die Wirkungen „im gesellschaftlichen Maßstab mikroskopisch“ und deswegen nur mit erheblichem Aufwand zu erforschen seien.10

dilettantische Verse verfaßt hatte, zu dem Schluß kam, es handle sich um eine staatsgefährdende Tätigkeit.“ Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 23. 8 9

Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 26. Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 24. (Hervorh. E.K.P.) – Komisch ist diese Aussage auch, weil mit „Sport-, Konsum- und Kopulationspflichten“ neologistische Komposita gebildet werden, die Sachverhalte zusammenfügen, die nicht zusammengehören.

10 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 26. – Eigentlich hat die inzwischen erfolgte empirische Lesesozialisationsforschung Enzensbergers Ausführungen bestätigt; zwar gibt es immer wieder Lektürebiographien, in denen von nachhaltigen Leseerlebnissen berichtet wird, aber diese Erfahrungen haben selten mit lyrischen Texten zu tun und führen in jedem literarischen Fall nicht zu gesellschaftsverändernden Haltungen, sondern zu individuell-biographisch Epiphanien. Vgl. dazu: Bettina Hurrelmann / Michael Hammer / Ferdinand Niess: Lesesozialisation. Bd. 1. Leseklima in der Familie. Unter Mitarbeit von Susanne Epping und Irene Oferinger. Gütersloh 1993. Heinz Bonfadelli / Angela Fritz / Renate Köcher: Lesesozialisation. Bd. 2. Leseerfahrungen und Lesekarrieren. Mit einer Synopse von Ulrich Saxer. Gütersloh 1993. – Andrea Bertschi-

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Nach „dieser arglosen Einleitung“ kommt der Verfasser zur eigentlichen „Hauptfrage“,11 die auf den Titel des Essays zurückgreift und erläutern will, wieso er es für notwendig befindet, die Jugend vor einem so unglaublich harmlosen Gegenstand wie dem Gedicht zu schützen: „Aber der harmloseste Gegenstand nämlich kann, das ist klar, gemeingefährlich werden, wenn er, um nur ein Beispiel zu nennen, in verbrecherische Hände fällt: […] und, so möchte ich fortfahren, das harmlose Gedicht in der Aktentasche des Deutschlehrers.“12 Geschickt schafft Enzensberger zum Ende des ersten Teils die Überleitung zum zentralen Thema seines Aufsatzes und damit zu dessen zweitem Teil, in dem es neben dem deutschunterrichtlichen ‚Gebrauch‘ von Gedichten auch darum geht, wie Schüler zur schriftlichen Interpretation von Gedichten ‚gezwungen‘ werden. Der Ton wird heftiger, weil der Autor sich persönlich angegriffen fühlt, da es die von ihm geschriebenen Gedichte sind, die er zur „Kindesmißhandlung“ missbraucht sieht.13 Rhetorisch wirkungsvoll beginnt er seine Ausführungen mit einem Erlebnis aus dem alltäglichen Leben, die mit fictio personae arbeitet und aus diesem Grund den beklagten Sachverhalt besonders anschaulich macht.14 Auch die nachfolgenden angeblichen Zitate aus Zuschriften von Schülern und Referendaren sowie aus korrigierten Klassenarbeiten dienen der Konkretisierung und Bekräftigung des fast aggressiv vorgetragenen Angriffs auf einen „Lehrkörper“, der den „Eindruck einer kriminellen Vereinigung“ erweckt, „die sich mit unsittlichen Handlungen an Abhängigen und Minderjährigen

Kaufmann: Lesen und Schreiben in einer Medienumgebung. Die literalen Aktivitäten von Primarschulkindern. Aarau 2000. 11 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 27. 12 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 27. 13 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 31. 14 „Ich habe, ohne etwas davon zu ahnen, in das Leben der Metzgerstochter eingegriffen, die kurz vor dem Abitur steht. Man hat ihr im Deutschunterricht irgendeinen alten Text von mir vorgesetzt und sie aufgefordert, etwas darüber zu Papier zu bringen. Das Resultat: eine blanke Vier, Tränen, Krach in meines Metzgers Bungalow, vorwurfsvolle Blicke, die mich förmlich durchbohren, ein zähes Rumpsteak in meiner Pfanne.“ Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 28.

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vergeht.“15 Aus dem harmlosen Gegenstand Gedicht wird eine „Tatwaffe“, ein „gemeingefährliches Angriffswerkzeug“, eine „Keule“, wenn der Lehrer mit autoritärem Gestus die Aufgabe „Interpretation“ verordnet und damit den poetischen Text seiner Unschuld beraubt.16 In eben jenem Zwang zur Interpretation von Gedichten sowie vor allem in der Bewertung der schriftlichen Ergebnisse sieht Enzensberger ‚kindesmisshandelnde‘ Absichten sowie sadistische Neigungen am Werk und ‚kriminalisiert‘ damit einen – bis dato – selbstverständlichen deutschunterrichtlichen Vorgang beziehungsweise stellt ihn in den Kontext gewaltbereiter, politischgemeingefährlicher Aktionen,17 eine Übertreibung, die einmal mehr der Empörung Ausdruck verleiht und die den Autor zum Schreiben dieses Essays antreibt. Der Einsatz von Hyperbeln steigert sich an dieser Stelle zum Extremen, da es dem Verfasser darum geht, seine eigenen Gedichte mit aller Macht vor vereinfachten und einseitigen Be- und Verurteilungen durch die jeweiligen Deutschlehrer zu beschützen. In der Tat hatten Enzensbergers frühe Gedichte aus den späten 1950ern und den frühen 1960er Jahren im kritischen Zeitgeist der 1970er Jahre Konjunktur, fanden sich in zahlreichen Lesebüchern abgedruckt und waren im Unterricht sehr beliebt.18 Es sind besonders Gedichte aus den ersten drei Gedichtbänden, die in dieser Zeit eine deutschunterrichtliche Karriere feierten. Texte wie ‚geburtsanzeige‘, ‚an einen mann in der trambahn‘, ‚bildzeitung‘, ‚ins lesebuch für die

15 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 31. 16 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 31. 17 ‚Kriminelle Vereinigung‘ ist ein Begriff, der in den 1970er Jahren für die Baader-Meinhof-Gruppe gebraucht wurde und der den Terror von links meinte. Mit dieser Bezeichnung wird eine Organisation beschrieben, die sich schwerster Vergehen schuldig gemacht hat und die mit allen strafrechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt wird. 18 „Jedenfalls: Enzensberger wurde rasch vereinnahmt; gleichgültig, wo man stand, man mochte diesen (teilweise in ihrem Anliegen so sympathischen) Gedichten zustimmen; man denke nur an die Fülle der Interpretationen in didaktisch orientierten Zeitschriften und Büchern […].“ Alexander Hildebrand: Selbstbegegnung in kurzen Stunden. Marginalien zum Verhältnis Hans Magnus Enzensberger – Gottfried Benn. In: Text+Kritik (1976) H. 49, S. 17-32, hier: S. 18.

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oberstufe‘ und ‚verteidigung der wölfe gegen die lämmer‘19 wurden ebenso gern für den Deutschunterricht gewählt wie ‚an alle fernsprechteilnehmer‘, ‚ende der eulen‘, ‚lebenslauf‘20 beziehunghsweise ‚küchenzettel‘ oder ‚abendnachrichten‘.21 Die Gedichte dieser Phase schwanken zwischen dem elegischen beziehungsweise ironischen Ton Gottfried Benns und der engagierten Haltung Bertolt Brechts.22 Es sind Texte, denen ein kritischer Blick auf Entwicklungen der Gegenwart ebenso inhärent ist wie ein subtil und mehr oder weniger implizit vorgetragener Appell, sich in gesellschaftliche Prozesse einzumischen. Viele Gedichte verzichten auf einen aufdringlichen Gestus, der die Botschaft allzu laut und deutlich vor sich hertrüge, so dass sie sich für interpretatorische Auseinandersetzungen besonders gut eignen; gleichwohl mischen sie sich ein, sind zum Teil ein wenig pathetisch und zum Teil auch leicht romantisch. Auffällig ist aus heutiger Perspektive vor allem die Tatsache, dass in einigen von Enzensbergers naturlyrischen Diskursen bereits ökologische Dilemmata angesprochen werden, die Ende der 1950er und Anfang der 1960er noch keine breite Aufmerksamkeit gefunden haben und die das öffentliche Bewusstsein nicht in dem Maße beherrschten, wie das für die heutige Zeit der Fall ist.23 Anders sah es mit der atomaren Bedrohung aus, die durch die Abwürfe der Atombomben in Japan, durch die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik und die feindselig-angespannten Zeiten des Kalten Krieges zwischen Ost und West die politisch-gesellschaftliche Atmosphäre dominierte. Aber auch für die damit verbundenen bestimmt-unbestimmten Ängste hat Enzensberger vor allem mit ‚an alle fernsprechteilnehmer‘ eine zeitdiagnostische Sprache gefunden, die dieses Gedicht zu einem häufig zitierten Text jener Jahrzehnte hat werden lassen.24 Diese Mischung aus

19 Hans Magnus Enzensberger: Verteidigung der Wölfe. Gedichte. Frankfurt/M 1957. 20 Hans Magnus Enzensberger: Landessprache. Gedichte. Frankfurt/M 1963. 21 Hans Magnus Enzensberger: Blindenschrift. Gedichte. Frankfurt/M 1964. 22 Vgl. dazu: Theo Buck: Enzensberger und Brecht. In: Text+Kritik (1976) H. 49, S. 5-16. Hildebrand: Selbstbegegnung. 23 Zum Beispiel ‚ich, der präsident und der biber‘, ‚das ende der eulen‘, ‚ehre sei der sellerie‘; alle in: Enzensberger, landessprache. 24 Enzensberger hat in einem poetologischen Text die Entstehung dieses Gedichts rekonstruiert und damit vielleicht – in Anlehnung an Edgar Allen Poes

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Engagement und neuen naturlyrischen Themen sowie die Tatsache, dass Enzensbergers lyrischer Stil im Allgemeinen nicht sperrig oder abweisend ist, haben dazu beigetragen, dass seine Texte gerne als Basis für den mündlichen Unterricht wie auch für schriftliche Klausuraufgaben gewählt werden. Über diese Tatsache beziehungsweise darüber, welche Anforderungen die Deutschlehrerinnen und -lehrer an die Interpretationen der Schüler stellen, beschwert sich Enzensberger in seinem Essay sehr laut und sehr heftig.

‚M EHR D EMOKRATIE

WAGEN ‘:

L ITERATUR UND L ESER

Es ist ein Jahrzehnt, in dem die Sicherheit der ‚richtigen Interpretation‘ ins Wanken gerät, in dem die Zweifel wachsen, dass es ‚die eine Aussage‘ über einen literarischen Text gibt. Eine Ursache für diese Unsicherheiten sind die rezeptionstheoretischen Überlegungen von Jauß und Iser, 25 die auch deswegen in diesen Zeitraum passen, weil sie indirekt eine Demokratisierung des literarischen Prozesses vorschlagen. 26 Wenn der Leser aus einer – angeblich bloß – passiven Aufnahmeposition befreit und in eine aktive, den literarischen Text überhaupt erst vervollständigende Rolle überführt wird, entstehen während einer Lektüre neue, unberechenbarere

berühmten Essay The Philosophy of Composition von 1846, in dem dieser die Entstehung des Gedichts ‚The Raven‘ reflektiert – versucht, ‚an alle fernsprechteilnehmer‘ in den Status eines Klassikers zu erheben. Vgl. dazu: Hans Magnus Enzensberger: Die Entstehung eines Gedichts. In: Ders.: Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts. Nachwort von Werner Weber. Frankfurt/M 1968, S. 53-79. [1. Aufl. 1962]. 25 Vgl. dazu: die Ausführungen zu Ulrich Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen W. in diesem Band. 26 Ist es Zufall, dass die rezeptionstheoretischen Impulse zeitgleich geschehen mit den Bewegungen der1968er Jahre sowie mit der Regierungserklärung des – nach 1945 – ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt, der 1969 das Motto „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ ausgegeben hat? Diesen Slogan könnte man auch auf die rezeptionsästhetischen Theoreme übertragen. Vgl. dazu: http://www.wdr5.de/thementage/demokratie.html (zuletzt abgefragt am 28.8. 2013).

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und gleichberechtigtere Kommunikationsformen. „Das literarische Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, das jedem Betrachter zu jeder Zeit den gleichen Anblick bietet. Es ist kein Monument, das monologisch sein zeitloses Wesen offenbart. Es ist vielmehr wie eine Partitur auf die immer erneuerte Resonanz der Lektüre angelegt, die den Text aus der Materie der Worte erlöst und ihn zu aktuellem Dasein bringt […].“27 Durch die Berücksichtigung des Lesers wird das bis dahin als abgeschlossen angesehene Werk in die Zukunft hinein geöffnet, weil bedacht wird, dass jede neue Lektüre ein jeweils anderes ‚Ereignis‘ ist und mit nicht kalkulierbaren Einsichten gerechnet werden muss. Sowohl die Darstellungs- als auch die Produktionsästhetik befassen sich mit dem fertigen Werk beziehungsweise mit dem zurückliegenden Entstehungs-prozess, der als beendet betrachtet wird. Erst die Einbeziehung des Lesers bringt das Moment der Zukünftigkeit in die ästhetische Diskussion, weil die Lektüre ein und desselben Textes nicht nur immer wieder, sondern auch immer wieder anders stattfinden kann. Diese neue zeitliche Dimension birgt Risiken: Die Vergangenheit kann man interpretieren, wogegen die Zukunft zwar aus gegenwärtigen und vergangenen Erfahrungen abgeleitet, letztlich aber doch nur hypothetisch durchdacht werden kann. Obwohl Jauß textbezogene Einschränkungen der so gewonnenen Leserfreiheit vornimmt,28 hat er mit seinen Überlegungen den Anstoß für ein neues

27 Jauß, Literaturgeschichte, S. 171-172. (Hervorh. E.K.P.). 28 Einschränkend muss gesagt werden, dass diese Unberechenbarkeit im Rezeptionsprozess nicht grenzen- und schrankenlos ist. Jauß verankert die Textrezeption – zumindest auf einer allgemeinen Ebene – in einen vom jeweiligen Lesersubjekt abhängigen (sozialen, historischen) Kontext, den dieses unweigerlich in die Aufnahme des textlichen (Welt- und Zeit-)Bezuges einbringt. Er unterscheidet zwischen der vom Text ausgehenden Wirkung und der leserbezogenen Rezeption, die beide zu einer Form der Übereinkunft gelangen müssen. Der fixe und somit kalkulierbare innerliterarische Horizont ist ein Parameter, mit dem sich methodologisch sicherer und zuverlässiger operieren lässt, weswegen Jauß ihm eindeutig den Vorrang einräumt. Er erwartet vom Leser, dass dieser – rezeptiv – den Horizont des Textes ermittelt. Der aktive Part fällt ihm zu, wenn er sein eigenes – wie immer erlangtes – Vorverständnis dazu in Beziehung setzt. Vgl. dazu: Hans Robert Jauß: Negativität und Identifikation. Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung.

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Nachdenken über die emotionalen, kognitiven, sozialen etc. Prozesse gegeben, die beim Lesen von literarischen Texten stattfinden. Bekannter und didaktisch folgenreicher ist Wolfgang Isers Leerstellentheorie geworden: Iser begründet die Anwesenheit des Lesers im Text mit den nicht geschriebenen Passagen, sprich mit denen, die weiterdenkend komplementiert werden müssen. Diese „Leerstellen“ bilden in Isers Konzept wichtige Beteiligungsangebote für den Leser. Überspitzt formuliert: Ohne den Leser ist das literarische Werk nicht sehr viel wert; nur sein künstlerischer, der vom Autor geschaffene Pol existiert unabhängig vom Leser; der ästhetische Pol, die vom Leser geleistete Rezeption, stellt das Werk überhaupt erst her, schafft aus dem bloßen ‚Text‘ ein ‚Werk‘. Leerstellen entstehen im literarischen Text, wenn beispielsweise durch Montage-, Schnitt- oder Segmentiertechnik Störungen und Irritationen in der Textentwicklung entstehen, wenn Erzählkommentare die Perspektive verändern und den Leser zu Urteilen herausfordern, wenn mit dem Mittel der Verfremdung das, was eigentlich erzählt werden soll, ‚verstellt‘ wird. Diese Leerstellen stören den Leser, so dass er ständig bemüht ist, sie auszufüllen und zu beseitigen. Die Unbestimmtheitsbeträge stellen für Iser das „wichtigste Umschaltelement zwischen Text und Leser“ dar und beweisen,29 dass der Leser bei der Textherstellung bereits mitgedacht war. Es handelt sich hierbei nicht um Lücken im Text; vielmehr wird die produktive Tätigkeit des Lesers durch die jeweiligen Leerstellen herausgefordert. Der „implizite Leser“ „als ein Idealkonstrukt“ „verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet.“30 Bedeutungen sind nicht im Text ‚versteckt‘, sondern werden „im Lesevorgang generiert“,31 und zwar aufgrund der Leerstellen von unterschiedlichen Lesern zu unterschiedlichen Zeiten auf je eigene, neue Weise. Mit diesen Leerstellen erklärt Iser die für Literatur charakteristische Unbestimmtheit: Da diese Passagen nicht geschrieben stehen, können sie nie in ‚bestimmte‘

In: Harald Weinrich (Hg.): Positionen der Negativität. München 1975, S. 263340. 29 Iser, Appellstruktur, S. 248. 30 Iser, Akt des Lesens, S. 60. 31 Iser, Appellstruktur, S. 229.

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Inhalte umgewandelt werden, sind sie verantwortlich dafür, dass literarische Texte „geschichtsresistent“ und stets neu adaptierfähig sind.32 Beide Literaturwissenschaftler haben dafür gesorgt, dass Begriffe wie „Erwartungshorizont“ und „impliziter Leser“ aus literarischen Diskursen nicht mehr wegzudenken sind. Auch wenn die Hochzeit der Rezeptionstheorie lange vorüber ist, hat der Terminus ‚Rezeptionsästhetik‘ doch Eingang gefunden in die einschlägigen Lexika und literaturtheoretischen Übersichten und kann auch dann nicht ignoriert werden, wenn man dieser Theorie skeptisch gegenübersteht; 33 dies umso mehr, als diese literaturtheoretische Richtung dafür gesorgt hat, dass interpretatorische Gewissheiten einer eher skeptischen Betrachtung gewichen sind, wenn Leserinnen- und Leserdispositionen berücksichtigt werden. „Denn das Entscheidende an dem schon früh konstatierten (wohl eher postulierten) ‚Paradigmenwechsel‘ der Literaturwissenschaft war ja doch wohl die Entdeckung des wirklichen Lesers. War es auch kaum zu rechtfertigen, wenn die Produktionsästhetik durch eine Rezeptionsästhetik ‚abgelöst‘ wurde, so hat doch das verstärkte Augenmerk auf letztere in erheblichem Maße produktive Kräfte und Tendenzen innerhalb der westdeutschen Literaturwissenschaft freigesetzt.“

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32 Iser, Appellstruktur, S. 249. 33 Vgl. dazu: die exemplarische Darstellung bei: Gunter Grimm: Einführung in die Rezeptionsforschung. In: Grimm, Literatur und Leser, S. 11-85. Vgl. dazu auch: Jürgen E. Müller: Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien. In: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Göttingen 2005, S. 181-207. 34 Jürgen Schutte: Einführung in die Literaturinterpretation. 3. Aufl. Stuttgart 1994, S. 2. [1. Aufl. 1985]. Nach einem ersten Kapitel mit dem Titel „Literaturaneignung als kommunikativer Prozeß“ folgt ein zweites, in dem eine „produktionsästhetische Analyse“ vorgenommen wird; ein drittes widmet sich den „Verfahren der Strukturanalyse“, was eine geeignete Vorbereitung auf das in einem letzten Schritt verhandelte Thema „Rezeptionsästhetische Analyse“ darstellt. Auf diese Weise wird die Leserposition zwar nicht privilegiert, aber in den literaturinterpretatorischen Prozess integriert, indem „aus der Perspektive des realen Lesers nach der Wirksamkeit der Texte“ gefragt wird und indem „Rezeptionserzeugnisse interpretiert“ werden, „die ihrerseits Medium einer öffentlichen Verständigung über Texte und die [sic!] mit ihnen gemachten

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Wenn Jürgen Schutte Mitte der 1980er Jahre in seiner einschlägig gewordenen Einführung in die Literaturinterpretation derartige Anmerkungen für notwendig hält, 35 so zeigt sich an Sätzen wie diesen, dass die rezeptionsästhetischen Überlegungen für die literarische Kommunikation nachhaltig gewirkt haben. Interpretatorische Auseinandersetzungen mit literarischen Texten können nicht länger der Frage folgen, was der Autor mit dem Text eigentlich habe sagen wollen; vielmehr werden jetzt Fragen danach gestellt, wie Bedeutung überhaupt entsteht, beziehungsweise danach, was Verstehen eigentlich ist und wie sich die ästhetische Erfahrung vollzieht – „objektiv und subjektiv“.36 Zwar räumt Schutte der Entstehung des Werkes den Vorrang ein, zumal dieser Vorgang ja auch zeitlich gesehen an erster Stelle kommt, aber er bezieht die Rezeptionsseite als „gleichrangig“ mit ein und geht nicht länger davon aus,37 dass „dogmatisch“ vorgeschrieben werden könne, „wie interpretiert werden und was das Ergebnis der Interpretation sein solle.“ Es komme nicht länger auf die „‚Richtigkeit‘ der Textauslegung“ an, „sondern ihre Überprüfbarkeit und Kommunizierbarkeit sind das Ziel literaturwissenschaftlicher Reflexion.“38 Jürgen Schutte versucht, eine methodische Lösung zu finden für die nunmehr existierende Kluft zwischen dem wissenschaftlichen Interesse an einer validen Auslegung von Texten und dem gleichzeitigen Wissen darum, dass Leser- und Leserinnenaktivitäten ihre eigenen (unberechenbaren)

ästhetischen Erfahrungen sind.“ Schutte, Literaturinterpretation , S. 166 (Hervorh. E.K.P.). – Und noch 2002 gibt es in dem Band, der zehn Modellanalysen zu Franz Kafkas Erzählung Das Urteil enthält, neben diskursanalytischen, genderorientierten, systemtheoretischen, dekonstruktivistischen und anderen auch eine rezeptionstheoretische. Stefan Neuhaus: Im Namen des Lesers. Kafkas Das Urteil aus rezeptionsästhetischer Sicht. In: Oliver Jahraus / Stefan Neuhaus (Hg.): Franz Kafka ‚Das Urteil‘. Zehn Modellanalysen. Stuttgart 2002, S. 78-100. 35 Immerhin hat dieser Band 2005 seine fünfte Auflage erreicht. 36 Schutte, Literaturinterpretation, S. 3 (Hervorh. E.K.P.). Dass der Begriff ‚subjektiv‘ überhaupt vorkommt, ist ein Novum, weil diese Perspektive bisher nicht galt. 37 Schutte, Literaturinterpretation, S. 3. 38 Schutte, Literaturinterpretation, S. 4 (Hervorh. E.K.P.).

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Wege gehen können.39 Hans Magnus Enzensberger – fern literaturwissenschaftlicher Ansprüche argumentierend – sucht in den siebziger Jahren (noch) nicht nach methodischen Kompromissen, sondern hält einen ungeschützten Angriff auf überholte (Interpretations-)Strukturen für nötig. Wenngleich er indirekt inspiriert gewesen sein muss von den deutschen rezeptionsästhetischen Aufbrüchen, so holt er sich für diese Attacke aktive und direkte Schützenhilfe bei der amerikanische Essayistin Susan Sontag, die schon 1964 Against Interpretation gewettert hat und aus dem Grund im Bescheidenen Vorschlag als eine wesentliche Referenzquelle genannt wird. Zwar argumentiert Sontag nicht aus der Position der Leserin beziehungsweise des Lesers heraus, aber gleichwohl bietet ihr Angriff auf die moderne Form der Interpretation die geeignete Basis für Enzensberger, um seine eigene Sicht auf dieses Thema zu schärfen, und das nicht zuletzt deswegen, weil er die – vielleicht unbewusst und nebenbei erworbenen – rezeptionsästhetischen Erkenntnisse produktiv in seine Argumentation einfließen lässt.

39 Auch der italienische Semiotiker und Literaturtheoretiker Umberto Eco schaltet sich in den 1970er Jahren in diesen Diskurs ein und versucht einen diplomatischen Kompromiss, indem er unterscheidet zwischen dem „freien Gebrauch eines Textes, der als imaginärer Stimulus aufzufassen ist“ und der „Interpretation eines offenen Textes“, die „immer auch eine Dialektik zwischen der Strategie des Autors und der Antwort des Modell-Lesers einbezieht“. Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München 1990, S.76-77. [1. italien. Aufl. 1979; 1. dt. Aufl. 1987]. Dass aber überhaupt der ‚freie Gebrauch eines Textes als Stimulus für was auch immer‘ als eine mögliche Reaktion auf den Lektürevorgang genannt wird, ist ein Ergebnis der rezeptionsästhetischen Intervention. Und dass Eco in dieser Schrift ausführlich zu begründen sucht, dass und wie eine (wissenschaftliche Anerkennung suchende) Interpretation durch „Textstrategien“ gebunden bleibt, ist ebenfalls eine rezeptionsästhetische Folge. Eco, Lector, S. 74-76.

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V ON DER ‚ AGGRESSIVEN Z ERSTÖRUNG ‘ ÜBER DEN ‚ ANARCHISCHEN A KT ‘ ZUR ‚K ONKRETISATION ‘: DIE I NTERPRETATION IM K ONTEXT UNTERSCHIEDLICHER D ISKURSE Vorangestellt hat Susan Sontag ihrem – auch heute noch lesbaren – Essay zwei Zitate, die programmatisch für ihre Überlegungen sind; sowohl inhaltlich als auch in der Auswahl der beiden Sprecher: ein Künstler des abstrakten bildenden Expressionismus: Willem de Kooning; und ein Künstler des Wortes, der nicht zuletzt durch seine besondere Form der bissig-scharfen Ironie bekannt geworden ist: Oscar Wilde. De Kooning richtet sich gegen eine Überbewertung des Inhalts, Wilde verteidigt das Sichtbare der Welt gegen eine Überbewertung des Unsichtbaren.40 Damit sind wichtige Aussagen getroffen, die das vierte und fünfte Kernstück des in zehn Abschnitte eingeteilten Essays von Sontag treffen. Ziel des Angriffs an dieser Stelle ist vor allem die Form einer ‚aggressiven Ausgrabungstechnik‘, wie sie die Verfasserin in Interpretationen „unserer Zeit“ zu entdecken glaubt.41 Sontag macht einerseits eine ältere, antike Form der Interpretation aus, die Texte der (länger zurückliegenden) Vergangenheit „den Ansprüchen des (späteren) Lesers“ verständlich machen möchten, weil ein bedeutsamer Text – wie zum Beispiel Homers Epen oder die Bibel – „aus irgendeinem Grund unannehmbar geworden“ ist, aber „dennoch […] nicht fallengelassen werden“ kann.42 Solche Interpretationen nennt sie „hartnäckig, aber respektvoll“ und kennzeichnet sie als befreiend,43 weil sie versuchen, dem jeweiligen Text einen Sinn abzulesen, der bereits vorgegeben ist. Die zeitgenössische Interpretation, auch wenn sie sich mit Texten älterer Provenienz befasst, hingegen „gräbt sich ‚hinter‘ den Text, gleichsam um den Untertext freizulegen, der für sie der eigentliche Text

40 Susan Sontag: Gegen Interpretation. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Deutsch von Mark W. Rien. Frankfurt/M 1982, S. 11-22, hier: S. 11. [1. dt. Aufl. 1980; 1. engl. Aufl. des Essays 1964]. 41 Sontag, Gegen Interpretation, S. 14. 42 Sontag, Gegen Interpretation, S. 14. 43 Sontag, Gegen Interpretation, S. 15.

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ist.“44 Verachtet wird das offenkundige Erscheinungsbild, gesucht wird nach einer „Schattenwelt der ‚Bedeutungen‘“.45 Solche Interpretationspraxen werden von der Autorin als „reaktionär, trivial, erbärmlich, stickig“ verurteilt,46 zumal sie in der häufig vorgenommenen Reduktion auf den Inhalt zu einer ‚Zähmung und Manipulierbarkeit der Kunst‘ führten. Franz Kafkas Werk sei auf diese Weise zum „Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten geworden.“47 Überhaupt stürzten sich diese ausgrabenden Interpreten mit Vorliebe auf epische und dramatische Texte, weil in diesen die inhaltliche Ausrichtung „merkwürdig sichtbar, greifbar und exponiert ist.“48 Zurückhaltung übten sie gegenüber dem Film, 49 Zurückhaltungen übten sie aber auch gegenüber

44 Sontag, Gegen Interpretation, S. 15. 45 Sontag, Gegen Interpretation, S. 15. 46 Sontag, Gegen Interpretation, S. 15. 47 Sontag, Gegen Interpretation, S. 16. – Vgl. dazu auch: Harald Fricke: Wie soll man über Literatur reden? Kafkas ‚Hungerkünstler‘ und der Umgang mit Dichtung. In: Ders.: Literatur und Literaturwissenschaft. Beiträge zu einer verunsicherten Disziplin. Paderborn 1991, S. 11-26. Auch Fricke beklagt, dass die philologischen Interpreten den Hungerkünstler nicht einfach einen Hungerkünstler bleiben lassen können, sondern in ihm unbedingt jemand anderes sehen wollen: „Der Hungerkünstler selbst ist ‚Gott‘ oder ‚eine Form der Nachfolge Christi‘ oder aber ‚eine Chiffre für Franz Kafka‘; einmal steht er für den Schriftsteller oder den Künstler allgemein und schließlich nur für jene Vertreter der modernen Kunst, die sich einer Verneinung traditioneller Werte schuldig machen. […] In gut 30 Interpretationstexten finden sich auf diese Weise 22, bei strenger Differenzierung sogar 35 (!) verschiedene Deutungen der Person des Hungerkünstlers; und so entbehrt es nicht einer gewissen (wiewohl unbeabsichtigten) Konsequenz, wenn schließlich sogar einmal behauptet wird, der Hungerkünstler stehe ‚paradigmatisch für alle.‘“ Fricke, Reden über Literatur, S. 14-15. Bezeichnenderweise ist dieser Aufsatz erstmals 1979 erschienen! 48 Sontag, Gegen Interpretation, S. 19. 49 Auf den Film geht Sontag intensiv ein und nennt auch Beispiele der französischen Nouvelle Vague sowie des schwedischen, italienischen und des Hollywood-Kinos, um auf „den befreienden, antisymbolischen Zug“ hinzuweisen, der diesen Filmen eigen sei. Sontag, Gegen Interpretation, S. 20. Es ist

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der Lyrik (!), weil sich diese Gattung durch eine „Abwendung vom Inhalt im hergebrachten Sinne“ erfolgreich „dem rauhen [sic!] Zugriff der Interpreten entzogen“ habe.50 Sontag bleibt aber nicht bei einer düsteren Bestandsaufnahme stehen, sondern macht Vorschläge, wie ihrer Auffassung nach „Kunstkritik und Kunstkommentare“ aussehen könnten: Sie plädiert zum einen für ein stärkeres Interesse an der Form der Kunstwerke und schlägt zum anderen ein „beschreibendes und kein vorschreibendes Vokabular“ vor, das idealerweise in einer Darstellungsform münden sollte, „in der inhaltliche Erwägungen mit formalen verschmelzen.“51 Während sorgfältige und solide Interpretationen einem solchen Standard eigentlich ohnehin folgen (sollten), ist der Appell, sich an das sinnliche Erleben von Kunst zu erinnern und der „Abstumpfung der sensorischen Fähigkeiten“ entgegen zu wirken, sicherlich schwieriger zu beherzigen. „Heute geht es darum, daß wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Höchstmaß an Inhalt in einem Kunstwerk zu entdecken. Noch weniger ist es unsere Aufgabe, mehr Inhalt aus dem Werk

allerdings die Frage, ob eine solche Charakterisierung gerade die filmischen Werke eines Ingmar Bergmann, François Truffaut, Michelangelo Antonioni und Jean-Luc Godard trifft, da gerade diese elliptischen und sperrigen Filmstile deutungsherausfordernd sind. Wahrscheinlich spielt für Sontags Argumentation die Zeitgenossenschaft eine Rolle, weil sie Filme nennt, die in den 1950er Jahren entstanden, also unmittelbar vor Publikation des Essays. Aus dieser zeitnahen Perspektive forderten solche neuen, ungewohnten Filme vielleicht eher zu einer Zurückhaltung auf. – Auf jeden Fall liegt Sontag wohl sehr richtig, wenn sie die Interpretations-Schutzzone für den Film von der Tatsache herleitet, dass in der ‚siebten Kunst‘ lange Zeit nur „Kintopp“ gesehen wurde und sie daher als „Teil der Massenkultur im Gegensatz zur hohen Kultur verstanden wurde und von der Mehrzahl der Menschen mit Verstand unbeachtet blieb.“ Sontag, Gegen Interpretation, S. 20. 50 Sontag, Gegen Interpretation, S. 19. 51 Sontag, Gegen Interpretation, S. 20-21.

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herauszupressen, als darin enthalten ist. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den Inhalt zurückzuschneiden, damit die Sache selbst zum Vorschein kommt.“

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Dass diese Forderungen darin gipfeln, eher ein ‚erotisches‘ Verhältnis zur Kunst zu entwickeln als ein hermeneutisches, dürfte für die 1960er Jahre noch ein aufregender Gedanke gewesen sein, weil die Verbindung einer zugleich sinnlichen und geistigen Beziehung zum Text ungewohnte Perspektiven verhieß. Enzensberger zitiert diese Textstelle in seiner bissigen Interpretationskritik indes nicht, sondern hat andere Passagen aus Sontags Essay übersetzt, die ihm aussagekräftiger für seine eigene Stoßrichtung erscheinen. Auch Enzensberger konzentriert sich auf die Kapitel, in denen die amerikanische Literaturkritikerin zu ihrem heftigen Angriff gelangt und zitiert sowohl die inkriminierte ‚Ausgrabungspolitik‘ der modernen Interpretation als auch die Missachtung der Textoberfläche, um seine Zitatcollage aus Against Interpretation dann in Vergleichen gipfeln zu lassen, die für die 1960er Jahre noch ungewöhnlich waren: „So wie die Autoabgase unsere Städte verpesten, so vergiftet der massenhafte Ausstoß von Interpretationen unsere Sensibilität … Interpretieren heißt unsere Umwelt ausbeuten und sie noch ärmer machen, als sie ohnehin schon ist.“53 Damit spricht Sontag ein Thema an, das Enzensberger ebenfalls bewegt: Wenn die katastrophalen ökologischen Folgen des zunehmenden Autoverkehrs parallelisiert werden mit der zunehmenden Flut von literaturwissenschaftlichen Interpretationen, dann werden die schriftlichen Arbeiten der Wissenschaftler in einen gefährlichen Kontext gestellt, der nicht nur in Archiven eingelagert wird, sondern der verheerende Auswirkungen auf wissenschaftliche Diskurspraxen haben kann. Hierdurch werden gesellschaftliche Gefahren heraufbeschworen, die mit einer gewissen Deutungswut korrespondieren, was den in universitären

52 Sontag, Gegen Interpretation, S. 21-22. 53 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 32. – Wie sehr Enzensberger in seiner Übersetzung zuspitzt, politisiert und dramatisiert, lässt sich der hier zitierten deutschen Übersetzung aus den 1980er Jahren entnehmen, die doch insgesamt moderater klingt: „Wie die Abgase der Autos und der Schwerindustrie, die die Luft der Städte verunreinigen, vergiftet heute der Strom der Kunstinterpretationen unser Empfindungsvermögen. […] Interpretieren heißt die Welt arm und leer machen […].“ Sontag, Gegen Interpretation. S. 15.

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Zirkeln stattfindenden Diskussionen ihre angebliche Harmlosigkeit nimmt. „Die Literatur ist überforscht“, schreibt dann kurz, knapp und überaus präzise der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer gut zwanzig Jahre später und bringt damit erneut auf den Punkt, was Sontag und Enzensberger in ihren Klagen schon in den 1960er beziehungsweise 1970er Jahren kritisieren.54 Das ausführliche, sich über eine Seite erstreckende Zitat aus Sontags Essay bietet Enzensberger eine neue Startrampe, um seinem eigenen Zorn gesteigert und gebündelt Ausdruck verleihen zu können: Er wettert gegen die wechselnden Moden auf dem „Interpretationsmarkt“,55 die aus schulischer Sicht umso verhängnisvoller seien, als der „neueste akademische Hit“ immer erst mit einiger Verspätung im Deutschunterricht angelangt und dann eigentlich schon wieder überholt sei; 56 er beklagt die „idée fixe von der ‚richtigen Interpretation‘“, einer „Wahnvorstellung“, an der man – obwohl sie logisch inkonsistent und empirisch unhaltbar sei – „mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit“ festhalte.57 Der Gipfel dieser angriffslustigen Steigerung seiner wütenden Attacken liest sich dann wie folgt: „Wenn zehn verschiedene Leute einen literarischen Text lesen, kommt es zu zehn verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder. […] Der Leser hat in diesem Sinn immer recht, und es kann ihm niemand die Freiheit nehmen, von einem Text den Gebrauch zu machen, der ihm paßt. […] Die Lektüre ist ein anarchischer Akt. Die Interpretation, besonders die einzig richtige, ist dazu da, diesen Akt zu vereiteln. Ihr Gestus ist demzufolge stets autoritär, und sie ruft entweder Unterwerfung oder Widerstand hervor.“

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54 Heinz Schlaffer: Unwissenschaftliche Bedingungen der Literaturwissenschaft. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998) S. 486-490, hier: S. 488. 55 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 32-33. 56 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 33. 57 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 33. 58 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 33-34. – Vgl. dazu: Auszüge aus den Thesen, die Harald Fricke 1979 seinen kritischen Ausführungen zum philologischen Umgang mit Kafkas Hungerkünstler vorangestellt hat: „Der private Leser kann und soll den Text auffassen, wie immer er will. […]

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Argumentativ äußerst geschickt, behauptet Enzensberger am Schluss dieser Passage zunächst kurz und knapp eine gewagte These, um dann seinen eigentlichen Gegenstand seines Hasses – die einzig richtige Interpretation – als das polare Gegenteil einer anarchischen LektüreFreiheit einzuführen. In Form einer abschließenden Konklusion, die in ihrer Wirkung so etwas wie Endgültigkeit beansprucht, wird eine – vernichtende – Bewertung dessen vorgenommen, was eigentliches Angriffsziel des Bescheidenen Vorschlags ist. Das ist sicherlich die Klimax des Essays, weil die Interpretationsfrage in einen linkspolitischen Kontext gerückt wird, der von einiger Dynamik geprägt ist: Wenn von Freiheit, Anarchie, Autorität und Widerstand die Rede ist, dann schlagen in den politisch aufgewühlten 1970er Jahren die Alarmglocken und es wird unverhohlen von einem Gewaltverhältnis gesprochen, das entlarvt werden muss und das nicht länger hingenommen werden kann. Andererseits denkt Enzensberger die rezeptionsästhetisch gewonnenen Einsichten mit einer radikalen Konsequenz weiter, die Jauß und Iser mit ihren Thesen zwar nicht intendiert haben, die sich aber aus den beiden Antrittsvorlesungen ableiten lassen: Während die beiden Philologen eher den wissenschaftlich gebildeten Leser im Blick haben, dessen ‚Lektüre-Freiheiten‘ durch seine akademische Bildung geschult sind und im Zaum gehalten werden, macht Enzensberger darauf aufmerksam, dass auch der unbefangene und naive Leser bedacht werden muss und dass dieser nach dem neuen Paradigma ‚wilder‘ reagiert, als es die wissenschaftliche Theorie vorhersehen kann. Auf jeden Fall zeigt Enzensberger mit dieser Tirade auf, dass scheinbar weltfremde literaturtheoretische Impulse durchaus mit tatsächlichen zeitgenössischen politischen Bewegungen in Verbindung stehen und dass Aufstände gegen politische, gesellschaftliche, institutionelle et cetera Autoritäten mit einem Aufstand gegen Text- und Autor-Autoritäten einhergehen können. Dass die Rezeptionstheorie diese Form der Politisierung ermöglicht oder vielleicht sogar indirekt provoziert, macht besonders deutlich, welch befreiender Schritt es war, als der literarische

Für den Literaturlehrer ist die gründliche literaturwissenschaftliche Ausbildung unverzichtbar; denn er darf zwar durchaus seine subjektive Textauslegung haben und vorbringen, keinesfalls aber darf er sie seinen Schülern kraft seiner institutionellen Autorität als die ‚richtige‘ aufdrängen.“ Fricke, Reden über Literatur, S. 12.

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Kommunikationsprozess für den am wenigsten kalkulierbaren, schwächsten und bis dahin gänzlich unbekanntesten Teilnehmer geöffnet wurde. Enzensberger erhebt seine Stimme vielleicht auch deswegen so leidenschaftlich, engagiert und übertrieben laut, weil dieses unbekannte Wesen – die einfache Leserin, der kleine Leser – bis dato so selten beziehungsweise gar nicht zu Wort gekommen ist. So wie die politischen Bewegungen jener Jahre – zumindest verbal – an die Schwachen, Ausgebeuteten und Unterdrückten im eigenen Land und in der ganzen Welt erinnern, so erinnert Enzensberger an diejenigen, die in der ästhetischen Kommunikation bisher zu wenig beachtet worden sind und versucht, ihnen eine Stimme zu geben. Dass er dabei zu rabiaten Mitteln greift und mit der anarchischen ausgerechnet die politische Bewegung als Vergleichsgröße zitiert, welche die radikalste Aufhebung hierarchischer (Macht-)Strukturen anstrebt, ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass solche Überlegungen im deutschsprachigen Raum in jenen Jahren erstmals angestellt wurden und noch keine lange Tradition hatten ausbilden können.59

59 Das ist zum Beispiel im französischen Raum ganz anders. Schon 1925 hat der Schriftsteller Marcel Proust in dem Essay Tage des Lesens nicht nur erste rezeptionsästhetische Positionen formuliert, sondern sich sogar kindlicher Lesesucht gegenüber aufgeschlossen gezeigt, einem Thema, das im deutschen Raum erst in den 1980er beziehungsweise 1990er Jahren aus aggressivfeindseligen pädagogischen Diskursen befreit wurde. Diese Linie lässt sich fortsetzen mit dem engagierten Blick auf Literatur, den der Philosoph Jean-Paul Sartre 1947 in Was ist Literatur? entworfen hat: Schreiben wird hier als Appell an den Leser verstanden, so dass dieser schon während des Schreibprozesses als ‚anwesend‘ betrachtet wird. Sie lässt sich weiter fortsetzen mit den strukturalistisch-semiotischen Arbeiten, die Roland Barthes in den 1970er Jahren [sic!] zum Beispiel mit S/Z vorlegt; Barthes schlägt eine enge Verbindung von Lesen und Schreiben vor. Die Reihe endet – vorläufig – zu Beginn der 1990er Jahre mit dem Kriminalschriftsteller und Lehrer Daniel Pennac, der mit Wie ein Roman eine engagierte Streitschrift vorlegt, in der er für die unbedingte Freiheit des Lesers eintritt. Bereits diese Auswahl zeigt, dass von ganz unterschiedlichen ‚Disziplinen‘ her das Verhältnis von Text und Leser offener reflektiert worden ist als in der deutschen Tradition. Marcel Proust: Tage des Lesens. In: Ders.: Tage des Lesens. Drei Essays. Frankfurt/M 1985, S. 7-66. [1. franz. Aufl. 1925; 1. dt. Aufl. 1963]. Jean-Paul

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Der Blick auf die literarische Kommunikation ändert sich aber gerade in den 1970er Jahren und in diesen Wandlungsprozess schaltet sich Enzensberger mit seinem polemischen Beitrag unsachlich, aber pointiert ein. Aber wie kommen die rezeptionsästhetischen Impulse bei den Lehrenden an, die unmittelbarer als der Schriftsteller mit der täglichen deutschunterrichtlichen Vermittlung von Literatur zu tun haben? An zwei Beispielen soll aufgezeigt werden, dass es ein Aufweichen in der Sicherheit des interpretatorischen Diskurses gibt und dass sich die Literaturvermittelnden mit neuen Fragen auseinandersetzen. Bezeichnend ist, dass eine der ersten deutschen Rezeptionsstudien im selben Jahr erschienen ist wie Enzensbergers Essay. Wenn eine Gruppe von Berliner Literaturwissenschaftlern bereit ist, den universitären Raum zu verlassen, und es wichtig findet, den Deutschunterricht in der zehnten Klasse eines Gymnasiums über ein halbes Jahr hinweg zu beobachten, dann demonstriert ein solches Forschungsprojekt, dass es ein lebhaftes, neugieriges und echtes Interesse daran gibt, zu erkunden, was tatsächlich während der schulischen Vermittlung von literarischen Texten geschieht und wie Schülerinnen und Schüler auf die unterschiedlichen Lektüreangebot tatsächlich reagieren.60 Die Studie wirkt, als versuche sie, auf Enzensbergers Vorwürfe zu reagieren (was zeitlich jedoch unmöglich ist), da die Forscher nicht bestimmte Interpretationen erwarten, sondern vielmehr mit der ‚echten‘ Frage in den Unterricht gehen, ob die Schülerinnen und Schüler die von der Forschergruppe gewählten Texte zu ihrer eigenen Sache machen oder nicht. Deutlich wird auf diese Weise, dass die Wissenschaftler in der Tat wenig wissen über Rezeptionsverhalten und -vorlieben ihrer ‚Probanden‘, dass sie mit ihren Textauswahlen immer neu experimentieren und nicht selten von den Reaktionen der Klasse überrascht werden.61 Die Studie liest sich auch heute noch wie ein ethnologischer Bericht von ‚Entdeckern‘, die auf eine

Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay. Reinbek 1958. [1. franz. Aufl. 1947]. Roland Barthes: S/Z. Frankfurt/M 1987. [1. franz. Aufl. 1970; 1. dt. Aufl. 1976]. Daniel Pennac: Wie ein Roman. Köln 1994. [1. franz. Aufl. 1992]. 60 Hartmut Eggert / Hans Christoph Berg / Michael Rutschky: Schüler im Literaturunterricht. Ein Erfahrungsbericht. Köln 1975. 61 In ihrer Schlussbemerkung heben die Autoren das Moment der „Überraschung“ ganz besonders hervor, das ihnen die Schüler immer wieder bereitet haben. Eggert, Schüler im Literaturunterricht, S. 140.

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bis dahin unbekannte Volksgruppe gestoßen sind, welche sich seltsam verhält und eigentümlichen Bräuchen folgt. Schüler im Literaturunterricht verhehlt ein Staunen nicht, ein Staunen darüber, dass sich Franz Kafkas Text Ein Bericht für eine Akademie als „nörgelfest“ erweist und die Jugendlichen bereit sind,62 sich an diesem Text abzuarbeiten, dass sie aber andererseits den sexuellen ‚Skandalen‘ in Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß geschickt auszuweichen verstehen, weil sie sich einem Gespräch über das Thema der (gleichgeschlechtlichen) Sexualität verweigern. Allerdings muss man einräumen, dass es sich nahezu ausschließlich um mündliche Unterrichtspassagen handelt, die in diesem Erfahrungsbericht ausgewertet werden, und dass schriftliche Prüfungsergebnisse, die Enzensbergers Zorn besonders erregt haben, weitgehend ausgespart bleiben. Gleichwohl beweist Eggerts, Berg und Rutschkys Rezeptionsstudie einmal mehr, dass in diesem Jahrzehnt ein Bewusstsein darüber entsteht, dass Lektüreprozesse – zumal wenn sie im jugendlichen Alter stattfinden – individuellen Imponderabilien unterliegen und dass es sich lohnt, auf die Stimmen der Lernenden zu hören. Während die Berliner Forschergruppe nur aufzeigen will, was geschieht, wenn jugendliche Leserinnen und Leser und klassische Literatur ohne feste interpretatorische Ansprüche aufeinanderprallen, arbeitet der Literaturdidaktiker und -lehrer Harald Frommer an einer Lösung der nunmehr entstandenen Konfliktlage, die aufgrund des Wissens um Unberechenbarkeiten des Lektüreprozesses auf der einen Seite und des schulischen Anspruchs auf benot- und überprüfbare Ergebnisse im Literaturunterricht auf der anderen Seite entstanden ist. Seine Arbeiten der 1980er Jahre könnten in der Tat auf Enzensbergers Attacke reagieren, wenngleich er diesen Bezug nicht herstellt, sondern sich vor allem auf die Studien Wolfgang Isers beruft. Frommer hat auf unterschiedliche Weise versucht, den rezeptionstheoretischen Überlegungen gerecht zu werden, indem er immer wieder neue Lernarrangements ausprobiert hat, in denen die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt wurden, sich an literarischen Texten abzuarbeiten.63 Aber Frommer hat sich auch der Frage der

62 Eggert, Schüler im Literaturunterricht, S. 55. – Überhaupt: Was ist „nörgelfest“ für ein neues literaturwissenschaftliches Kriterium! 63 Harald Frommer: Statt einer Einführung: Zehn Thesen zum Literaturunterricht. In: Der Deutschunterricht 33 (1981) H. 2, S. 5-9. Harald Frommer: Verzögertes

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Interpretation gestellt und einen Kompromissvorschlag erarbeitet, der unterscheidet zwischen einer in den Text verstrickten, subjektiven, privaten und unverbindlichen „Konkretisation“ einerseits und einer distanzierten, ‚intersubjektiven‘, reflektierten und kontextualisierten Interpretation des literarischen Textes andererseits;64 die Differenzierung bietet vielleicht einen Ausweg, der auf die neuen rezeptionsästhetischen Erkenntnisse didaktisch reagiert. Die Konkretisation bietet Raum für die anarchischen Anteile der Lektüre, die Interpretation ist dann ein ausgehandeltes Ergebnis zwischen den Mitgliedern der Klasse und dem Lehrenden: von einer „Interaktion mit dem Text“ zu einem „Diskurs über den Text“, vom beliebigen „Herausgreifen eines einzelnen Anhaltspunktes“ zur „Verantwortung gegenüber dem Text als Ganzes“, von einer „Erweiterung des Textes“ durch eigene Phantasien zu einer „Reduktion durch Abstraktion“.65 Zwar sind mit solchen plakativen Begriffen Vermittlungsprobleme nicht gelöst; gleichwohl wird ein Weg aufgezeigt, der von der privaten anarchischen Lektüre zu einem öffentlichen Diskurs führen kann, wobei die eigenen Leseergebnisse zur allgemeinen Disposition gestellt werden. Frommer zeigt am Beispiel des Gedichts ‚Noch einmal davongekommen‘ von Günter Kunert auf, wie ein derartiger öffentlicher Diskurs in einer Klasse verlaufen kann. Wenn das kleine Kapitel überschrieben ist mit ‚Bericht über einen Lernprozeß‘,66 so bezieht sich dieses Lernen nicht nur auf die Schülerinnen und Schüler, sondern auch auf den unterrichtenden Lehrer, der aus Unterrichtserfahrungen lernt und beim nächsten Versuch zu einer veränderten Planung gelangt:

Lesen. Über die Möglichkeit, in die Erstrezeption von Schullektüren einzugreifen. In: Der Deutschunterricht 33 (1981) H. 2, S. 10-27. Harald Frommer: Lernziel: Leserolle. Ein Annäherungsversuch an Schillers Königen Elisabeth in Klasse 10. In: Der Deutschunterricht 33 (1981) H. 2, S. 60-80. Harald: Frommer: Langsam lesen lernen! Ein Plädoyer für gelegentliche LangzeitLektüre. In: Der Deutschunterricht 40 (1988) H. 4, S. 21-44. 64 Harald Frommer: Lesen im Unterricht. Von der Konkretisation zur Interpretation. (Sekundarstufe I und II). Hannover 1988, S. 12. 65 Frommer, Lesen, S. 12. 66 Frommer, Lesen, S. 118-124.

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„[…] mir liegt daran zu zeigen, wie wenig bei einer verantwortlichen Unterrichtsplanung von Willkür und Selbstherrlichkeit des Lehrers die Rede sein kann. Der Planende fühlt sich zum einen dem Text verpflichtet – gewiß so, wie er ihn versteht, aber er versteht ihn als einer, der etwas davon versteht und vor allem auch weiß, daß solche Aussagen über den Sinn eines literarischen Textes immer nur vorläufig sind. Zum anderen orientiert sich der Planende an vermuteten Einstellungen und Bedürfnissen der Schüler. Unterrichtsplanung vollzieht sich, wenn sie nicht von vornherein falsch liegt, im steten Dialog mit den Schülern; sie bedarf der Bereitschaft des Lehrers, Rückmeldungen entgegenzunehmen und daraus zu 67

lernen.“

㻌㻌 Frommers Zeilen, die gut zehn Jahre nach dem Bescheidenen Vorschlag geschrieben wurden, zeugen von einer hohen Reflexivität über das, was bei der Auslegung literarischer Texte im Unterricht stattfindet. Insbesondere die geforderte Dialogbereitschaft des Lehrenden ist eine demokratische Tugend, die den ästhetischen Kommunikationsprozess offen hält für diversifizierende Einsichten und Erkenntnisse – auf beiden Seiten! Zumindest bieten die von Frommer erprobten Modelle die Voraussetzung dafür, sich in schulischen Vermittlungsprozessen offener und flexibler für überraschende Denkwege jugendlicher Lerner zu zeigen! Inwieweit die deutschunterrichtliche Praxis von solchen Überlegungen geprägt und geleitet ist, muss hier nicht entschieden werden. Wichtiger ist, dass nach dem Bescheidenen Vorschlag in deutschdidaktischen Konzeptionen Alternativen entwickelt wurden zu einer einseitigen Textauslegung, die ausschließlich die Sicht des Lehrenden berücksichtigt. Beide Arbeiten – sowohl die Studie der Berliner Forschergruppe als auch die rezeptionsdidaktischen Modellierungen Harald Frommers – zeigen exemplarisch, dass ein arrogant-autoritärer Umgang mit literarischen „Erzeugnissen“, wie er Enzensbergers wütende Kritik herausgefordert hat, zumindest in deutschdidaktischen Kreisen der damaligen Zeit in die Kritik geraten ist.

67 Frommer, Lesen, S. 123. (Hervorh. E.K.P.).

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G EGEN DAS „G ETRAMPEL VON H ORNOCHSEN “: ‚ ERSTE H ILFE FÜR GESTRESSTE (L YRIK -)L ESER ‘ Enzensbergers Essay hat zwar mit diesem Frontalangriff auf die Interpretation seinen Höhepunkt erreicht, aber sein Text ist noch nicht zu Ende! Er ist so klug, seinen Angriff nicht mit einer Attacke gegen die Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer, die ja auch nur ausführende Organe sind, sondern mit der Suche nach den „wahren Schuldigen“ enden zu lassen. Diese findet er „im Unterholz von Institutionen […], die von einer gewöhnlichen Schule so weit entfernt sind wie Kafkas Schloss. Es handelt sich um eine Horde von Bürokraten und Curriculum-Forschern […].“68 Enzensberger hat in einer der zentralen regulierenden Schriften nachgelesen, die im Zuge einer Verwissenschaftlichung von Unterricht erschienen sind und die 1975 „[e]inheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung […] Deutsch“ vorschreiben.69 Schriften wie diese stehen vor allem im Zusammenhang mit der Lernzielorientierung, die amerikanischen Ursprungs ist und in den späten 1960er und vor allem in den 1970er Jahren im bundesrepublikanischen Raum didaktische Hochkonjunktur feierte, weil mit ihr die Hoffnung verbunden wurde, die Planung, Durchführung und Reflexion von Unterrichtstunden und -einheiten zu einem wissenschaftlich überprüfbaren ‚Objekt‘ werden zu lassen. Ziel ist unter anderem die Vergleichbarkeit des Unterrichts wie auch der Abschlussprüfungen über Schul- und Ländergrenzen hinweg. Und wenn Enzensberger seinen Ärger unverblümt äußert angesichts des Gedichtinterpretationszwangs beziehungsweise der Korrekturpraxen von Deutschlehrern, so steigert sich seine rhetorische Wut, wenn er eine solche Publikation der Kultusministerkonferenz zitiert, deren fachsprachliche Mischung aus lernpsychologischer und bildungsbürokratischer Terminologie seiner Ansicht nach in ein „Kauderwelsch“ mündet, das bei ihm nur noch „Brechreiz“ erzeugen kann.70 Wenn von „Lernziel-Taxonomien“, von „Lernzielbereichen“, „Lernzielebenen“ und „Lernzielkontrollebenen“ die Rede ist, so evoziert das bei Enzensberger ebensolche Aversionen wie er sie angesichts des ausdrücklich formulierten Zieles der Kultusministerkonferenz empfindet,

68 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 35. 69 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 37-38. 70 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 38.

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welches darin besteht, „durch die Beschreibung der vom Schüler erwarteten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in einem Fach, durch Aussagen über Lernzielstufen, Lernzielkontrolle und Bewertungskriterien künftig eine größtmögliche Einheitlichkeit“ zu erreichen.71 Enzensberger fertigt eine Collage aus Zitatfetzen an, um die Sprache der Bürokratie für sich selbst sprechen zu lassen und damit den Tenor dieser Anordnungen zu desavouieren. Implizit erstellt er einen Zusammenhang zwischen dem Ziel, „die Textsorten durch die Mühle der richtigen Interpretation“ zu drehen, „bis sie sich in ein homogenes Pulver verwandelt haben“, der Bevorzugung von Gedichten als „Rohstoff“ für diesen Vorgang, weil sie „erstens billig und zweitens stets in ausreichenden Mengen lieferbar“ sind und nicht zuletzt dem „technokratischen Knüppel“, der aus den Abiturvorschriften spricht und der „möglichst gezielt […] auf junge Köpfe“ einschlagen will.72 Dass er letztlich in diesen Versuchen, bürokratischen Einfluss auf das Fach Deutsch zu nehmen, nur noch das „Getrampel von Hornochsen“ wahrnehmen kann,73 ist eine der vielen hyperbolische Steigerungen, die in diesem Essay zu finden sind, die aber mit dem tierischen Vergleich doch noch einmal eine neue Heftigkeit erfahren.74 Die durchaus ernsthafte Frage, die Enzensberger in seinem Essay verhandelt, versteckt sich hinter dem leichten, heiteren und dialogischen Gestus, den er für seinen Text als Maskerade gewählt hat. Aber es geht um was in dem ‚Unbescheidenen Vorschlag‘! Denn wenngleich der gesamte

71 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 38-39. 72 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 37. 73 Enzensberger, Bescheidener Vorschlag, S. 39. 74 Die bürokratische Schrift, die Enzensberger 1975 zitiert, war erst der Anfang solcher Vorschriften. Sie nahmen in den nächsten Jahrzehnten zu und haben nicht zuletzt nach dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler bei der internationalen PISA-Vergleichsstudie und der Einführung von Tests zum Mittleren Schulabschluss (MSA) beziehungsweise des Zentralabiturs eher zuals abgenommen. Wenn Enzensberger die aktuellen Einheitliche(n) Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Deutsch (EPA) in die Hände fallen würden, fielen seine erbitterten Anmerkungen sicherlich genauso heftig, wenn nicht noch heftiger aus. Vgl. dazu: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1989/1989_12 _01-EPA-Deutsch.pdf .

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Essay – insbesondere in den letzten Passagen – nicht einer gewissen Komik entbehrt, so legt Enzensberger mit seiner Abrechnung doch den Finger in eine nach wie vor offene und blutende Wunde, die sich nach der rezeptionsästhetischen Wende nicht mehr recht schließen will, die immer nur mit unterschiedlichen – vormals ‚Lernziel‘, jetzt ‚Kompetenz‘ genannten – Verbänden zugedeckt zu werden versucht: Einerseits wird der Gegenstand Literatur als ein tradierungswürdiger eingeschätzt, der an nachfolgende Generationen weitergegeben werden soll; andererseits gibt es hinreichende Kenntnisse, dass die Lektüren von Texten zahlreichen unberechenbaren individuellen, biographischen, entwicklungspsychologischen et cetera Faktoren unterliegen und damit einer planbaren geordneten schulischen Vermittlung im Wege stehen. Gleichzeitig soll der ‚wilde‘ Gegenstand Literatur in ein überprüf- und vergleichbares Schema gepresst werden, in das er sich nicht recht einfügen will, weil er damit auf ein ordentliches Maß zurecht gestutzt werden muss, das nicht zu ihm passen will und gegen das Enzensberger sich in seinem Essay zur Wehr setzt.75 Dass Enzensberger dabei besonders die lyrische Gattung vor didaktischen und bürokratischen Übergriffen beziehungsweise die jugendlichen Lernenden vor gerade dieser Gattung in Schutz zu nehmen versucht, mag insofern besonders plausibel erscheinen, als ja schon Susan Sontag für lyrische Texte eine Zurückhaltung in den interpretatorischen Übergriffen festgestellt hatte. Wenn schon die Fachwissenschaftler vorsichtig und unsicher bei einem lyrikinterpretatorischen Zugriff sind,76 warum sollten

75 Nur am Rande sei angemerkt, dass diese Lücke und dieser Widerspruch auch in der aktuellen standardorientierten Diskussion weder geschlossen noch beseitigt werden kann. Die Versuche, den literarischen Teil des Deutschunterrichts so zu standardisieren, dass er ‚testsicher‘ überprüfbar ist, weisen erhebliche Probleme auf, weil literarische Texte einem solchem Prüfverfahren fast zu widersprechen scheinen. Vgl. dazu: Clemens Kammler: Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Anmerkungen zu einem Diskussionsstand. In: Ders. (Hg.): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Modelle für die Primar- und Sekundarstufe. Seelze u.a. 2006, S. 7-23. 76 Noch 2009 spricht Rüdiger Zymner von einem „Lyrik-Problem“ und stellt fest, dass „die literaturwissenschaftliche Durchdringung der Lyrik noch bei weitem nicht so fortgeschritten sei wie diejenige von Epik und Drama. […] Noch

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dann Heranwachsende können, was Fachleute sich nicht unbedingt zutrauen? Enzensberger ist bei seiner bösen Kritik deutschunterrichtlicher Gedicht-Prüfungspraxen nicht stehengeblieben. Zehn Jahre nach dem Bescheidenen Vorschlag hat er – unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr – mit der Anthologie Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen einen ersten Versuch vorgelegt, einen spielerischer Umgang mit lyrischen Texten unterschiedlicher Epochen, Künstler und Sprachen zu entwickeln.77 Indirekt wird eine Alternative zur Interpretationspraxis entworfen, wenn mit Gedichten Umformungen verschiedenster Art vorgenommen werden, die zeigen, dass lyrische Texte ein Sprungbrett für eigenes (Weiter-)Dichten sein können. Schon das räsonierende Inhaltsverzeichnis signalisiert, dass Wasserzeichen ungewöhnliche Anthologie-Wege gehen will; es gibt weder die Titel der Gedichte noch deren Autoren wieder,78 sondern listet in den neun mit „Hauptstücke“ überschriebenen Kapiteln eine jeweils unterschiedliche Zahl von poetologischen, alltagsweltlichen, fachsprachlichen, linguistischen, rhetorischen, editorischen oder literaturwissenschaftlichen und vielen anderen Termini auf, die dann in einem kurzen Text erläutert werden. Um an die Gedichte und an ihre zahlreichen Spielarten selbst heranzukommen, muss der Leser in dem Band blättern beziehungsweise lesen und erfährt erst dann, was sich alles aus Gedichten von Stefan George, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, William Shakespeare, Andreas Gryphius, Charles Baudelaire, Bertolt Brecht, Francis Ponge, Pablo Neruda, Francesco Petrarca, Johann Wolfgang von Goethe und vielen anderen, darunter auch unbekannteren Autoren, ‚machen‘ lässt. Dass unter den ‚Veränderern und Neugestaltern‘ der Gedichte nicht nur ‚Andreas Thalmayr‘, sondern häufig auch ein ‚Serenus M. Brezengang‘ auftaucht, lässt darauf schließen, dass der

immer, so ist zu lesen, agierten Lyrikinterpreten gleichsam im theorieleeren Raum.“ Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn 2009, S. 7. 77 Andreas Thalmayr [Hans Magnus Enzensberger]: Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In 164 Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Nördlingen 1985. 78 Ein alphabetisches „Verzeichnis der Autoren, Künstler und Übersetzer“ schließt den Band ab; ein Verzeichnis der Gedichttitel gibt es nicht. Wasserzeichen, S. 481-487.

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Herausgeber der Anthologie kräftig an diesen Variationen mitgeschrieben hat. Aber dieser aktive, sprachspielerische Umgang mit Gedichten, der ganz unterschiedlichen Regeln folgt, zeigt den Leserinnen und Lesern lyriknahe und -spezifische Alternativen zu interpretatorischen Auseinandersetzungen auf,79 die komisch-witzige, intelligent-sprachsensible sowie literatur- und bildtraditionelle Bandbreiten im lyrischen Dichten offenlegen. „Gedichte als Kunst-Stücke, Spielsachen, Rätsel-Objekte, Scherzartikel, Lyrik als Klang- und Bildspiel, als typographische Fallenstellerei, als parodistisches Abenteuer. […] Das Buch ist ein Puzzle, so ernst wie unernst, schlau, preziös, snobistisch, köstlich […].“80 In der damaligen euphorischen Kritik wurde kein Zusammenhang zwischen der bösen Interpretationskritik und dem munteren Umgang mit Gedichten im Wasserzeichen hergestellt, aber es ist nicht auszuschließen, dass die beiden Publikationen ein und denselben Ursprungsgedanken haben: mit lyrischen Arbeiten lyrikgerecht umgehen, sie in ihrem sprachlichen Eigenwert stehen lassen und sie nicht mit Interpretationswut zudecken. Nichts anderes unternimmt Enzensberger dann fast zwanzig Jahre später in Lyrik nervt!, einer kleinen Schrift, die als ein weiterer Ausweg aus der Interpretationsfalle verstanden werden kann. „Erste Hilfe für gestresste Leser“ lautet der Untertitel der kleinen Schrift, die erneut unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr veröffentlich wurde und auf spielerische Art in die Machart lyrischer Verse einführen will; eine solche Leichtgängigkeit

79 Im vierten Hauptstück findet sich auch unter dem 63. Stichwort ‚Interpretation‘ ein Beispiel des Literaturwissenschaftlers Hans Peter Neumann zu Ingeborg Bachmanns Gedicht ‚Böhmen liegt am Meer‘. Da es im Wasserzeichen insgesamt 162 (oder sogar 163) Stichworte gibt, wird der Interpretation nicht nur ein mikroskopisch winziger Platz eingeräumt, sondern auch von der Positionierung her ein unauffällig unbedeutender. Aus der kurzen Erläuterung des Begriffs spricht auch zehn Jahre nach dem Bescheidenen Vorschlag noch große Skepsis, was den Wert dieser Form der ‚Arbeit mit dem lyrischen Text‘ angeht: „Diese ehrwürdige Manie ist in unseren Tagen zum Lieblingsprodukt der Wissenschaft geworden. Wechselbalg oder Wunderkind? Wer ihr zu viel Futter gibt, riskiert, daß die Deutung den Text an die Wand drückt. In der Schule wird die Interpretation leicht zur Qual.“ Wasserzeichen, S. XVII. 80 http://www.planetlyrik.de/andreas-thalmayr-das-wasserzeichen-der-poesie/ 2010/09/ (zuletzt abgefragt am 2.9. 2013).

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wird schon mit Überschriften wie „Tanzstunde“, „Mama/Pyjama, Papa/Grappa“ oder „Kannitverstan“ signalisiert.81 Während Enzensberger im Wasserzeichen ausschließlich die Gedichte und deren Spielarten für sich selbst sprechen lässt und auf jeden erklärenden Text verzichtet, erläutert er in Lyrik nervt! anhand zahlreicher lyrischer und nicht-lyrischer Beispiele, wie man ein Gedicht erkennt, welche Funktion metrische Bindungen beziehungsweise Metaphern haben können und besonders ausführlich, wozu „das ganze Reimen gut ist“.82 Aber es findet auch eine erste Hinführung zu unterschiedlichen Strophen- und Gedichtformen statt wie auch zum freien Vers und nicht zuletzt zum „Selber-Machen“ von Gedichten.83 Der Autor ist an jeder Stelle bemüht, seinen Leserinnen und Lesern im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren die Angst und den Respekt vor lyrischen Versen zu nehmen, indem er ihnen die sprachlichen Handwerkszeuge zeigt, mit deren Hilfe solche Texte entstehen.84 㻌 „Überhaupt tun die allermeisten so, als wären Gedichte etwas ganz Besonderes, etwas für Eingeweihte, etwas, von dem die allermeisten gar nichts kapieren können. Und viele von uns fallen darauf herein und sagen sich: Das ist nichts für mich, damit kann ich nichts anfangen, vielen Dank, ich kauf mir lieber einen Krimi oder einen Diät-Ratgeber oder einen Marokko-Reiseführer, aber auf keinen Fall einen Gedichtband. Ich komme ganz gut ohne Lyrik aus. Aber das stimmt nicht. Solche Leute machen sich etwas vor. Denn es gibt überhaupt kein Gehirn in der Welt, in dem es nicht von Gedichten wimmelt. Das kann ich beweisen! Den Fünfjährigen möchte ich sehen, der noch nie gehört hätte: Alle meine Entchen schwimmen auf dem See …“

85

Enzensberger interpretiert nicht, sondern versucht, transparent werden zu lassen, wie aus Buchstaben und Worten Textgebilde entstehen, die in einen

81 Andreas Thalmayr [Hans Magnus Enzensberger]: Lyrik nervt! Erste Hilfe für gestresste Leser. München 2004, S. 5. 82 Thalmayr, Lyrik nervt, S. 22. 83 Thalmayr, Lyrik nervt, S. 87-104. 84 Die Altersangaben sind dem Klappentext des Buches zu entnehmen. 85 Thalmayr, Lyrik nervt, S. 9.

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poetischen Kontext eingeordnet werden können. Zwar argumentiert er dabei häufig mit komischen Versen von Heinrich Heine, Christian Morgenstern, Hans Arp, Ernst Jandl oder Robert Gernhardt, aber ebenso wenig scheut er die Betrachtung barocker Formen von Andreas Gryphius und Johann Klaj oder der Verse von Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Stefan George, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn. Hier schreibt jemand, der sich in der lyrischen Tradition deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache auskennt, aber hier schreibt auch jemand, der sich intensiv mit der Entstehung von Versen und Strophen beschäftigt hat und der dieses Wissen werbend weitergeben möchte – und zwar so, dass der spezielle lyrische Umgang mit Sprache erkannt wird. Der Band wirkt wie eine ausformulierte Fortsetzung des Wasserzeichens, und dass er erst knapp zwanzig Jahre später erschienen ist, macht einmal mehr deutlich, dass solche ‚leichten‘ Bücher über eine ‚schwierige‘ Gattung nicht einfach zu schreiben sind. Die beiden Bände – obgleich sie mit anderen Mitteln arbeiten – lesen sich auf jeden Fall wie eine Ergänzung zu der wütenden Schimpftirade aus den 1970er Jahren und zeigen, dass es Alternativen zur eingeführten und überstrapazierten Deutungspraxis gibt. Sie lesen sich auch wie eine erweiterte Antwort auf die Frage, die Harald Fricke in seiner Kritik der literaturwissenschaftlichen Interpretationstradition in der Überschrift stellt und am Ende beantwortet: „Wie soll man nun über Literatur reden? Zurückhaltend.“ 86 Mit Enzensberger könnte man fortfahren: ‚Und wie soll man über Lyrik reden? Noch zurückhaltender!‘

86 Fricke, Reden über Literatur, S. 12.

Königsblau – Gelb – Schwarz. Rolf Dieter Brinkmanns farblyrische Versuche

D IE T AUBEN „, FICKEN ‘

AUF DEM

// D ACH .“ 1

„Böse Gedanken (die für einen Dichter oft die besseren wären) werden unterdrückt. Nur in manchen Gedichten Rolf Dieter Brinkmanns und in manchen dialektischen Sätzen Heiner Müllers ist etwas von der notwendigen Freiheit des poetischen Zynismus zu spüren, auf den deutsche Autoren seit einem halben Jahrhundert entschlossen verzichten.“

2

Heinz Schlaffer geht in seiner kleinen Literaturgeschichte streng ins Gericht mit der deutschen Literatur,3 nicht zuletzt mit dem Teil der Literatur, der nach 1950 entstanden und der sich sprachlich, inhaltlich und moralisch nicht befreien konnte von den Folgen des nationalsozialistischen Terrors. „Für die Sünden der Deutschen mußten die Schriftsteller Buße tun […]“,4 und sie taten es, indem sie ‚predigten‘ oder indem sie sich

1

Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962-1970. Reinbek 1980, S. 317.

2

Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 2002, S. 151. (Hervorh. E.K.P.).

3

Bestand hat nach seiner kritischen Sicht – bis auf wenige Ausnahmen – nur die Literatur zwischen 1770 und 1830 sowie die zwischen 1900 und 1950.

4

Schlaffer, Kurze Geschichte, S. 149.

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„hinter einer eigenwilligen Darstellungsweise“ versteckten,5 um auf diese Weise einem „offenen wie […] verdeckten Moralismus“ das Wort zu reden.6 Ein schlechtes Gewissen ist eine ungeeignete Basis für gute Literatur – könnte man Schlaffers Sicht auf diese Epoche der deutschen Literatur pointiert zusammenfassen. Wenn Schlaffer – neben dem in der damaligen DDR lebenden und schreibenden Heiner Müller – als einzigen westdeutschen Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann aus seinem pessimistischen Blick auf die Nachkriegsliteratur ausnimmt, 7 so kann diese eigenwillige Wertschätzung als Beleg für eine Ausnahmestellung verstanden werden, die Brinkmanns literarisches Schaffen in den 1960er und -70er Jahren einnimmt. Brinkmanns Texte wollen sich nicht recht einfügen in eine von Protest und Aufruhr geprägte Phase, in der die Überzeugung, dass sich die politisch-ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse auch durch schreibende Aktivität verändern oder doch zumindest beeinflussen lassen, die Publikationstätigkeit zum Beispiel von Heinrich Böll, Ulrich Plenzdorf und Hans Magnus Enzensberger mehr oder weniger bestimmte. Sie wollen sich auch nicht einfügen in ein melancholisches Nachdenken über männlich-weibliche Existenzweisen, wie es zum Beispiel in Wim Wenders’ IM LAUF DER ZEIT, in den

5

Schlaffer, Kurze Geschichte, S. 149.

6

Schlaffer, Kurze Geschichte, S. 150.

7

Genannt werden diese beiden Autoren im Kontext der ‚bösen Gedanken‘, die Schlaffer so notwendig findet für gelungene Literatur. Wenn es um die ‚sinnlichen Freuden‘ geht, welche die süd- und nordamerikanische Literatur stiftet, finden auch Günter Grass und Arno Schmidt Erwähnung; wenn es um komische Dichtungen geht, werden Ernst Jandl und Robert Gernhardt genannt. Vgl. dazu: Schlaffer, Kurze Geschichte, S. 150. – Interessant ist in unserem Zusammenhang auch, dass Schlaffer davon ausgeht, dass es „Maler und Regisseure […] leichter [haben], ihren wilden Einfällen nachzugehen, weil Bilder vieldeutig sind und sich deshalb dem Zugriff einer ideologiekritischen Begutachtung entziehen können.“ Schlaffer, Kurze Geschichte, S. 150-151. Es ist allerdings eine berechtigte Frage, ob diese ‚Bildbetrachtung‘, die deutlich aus der Feder eines schriftorientierten Philologen stammt, den Kern trifft, weil gerade der Film von den Nationalsozialisten als Propagandamedium missbraucht wurde und es der deutsche Film der Nachkriegszeit ebenfalls schwer hatte, sich von diesem Niedergang zu befreien.

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französisch-italienisch-deutschen Filmen, die auf deutschsprachigen Erzählungen des 19. beziehungsweise des frühen 20. Jahrhunderts beruhen oder in Peter Handkes Die linkshändige Frau geschieht. Schon gar nicht passen sie zur politisch engagierten und deutlich positionierten Lyrik und Songtätigkeit von Wolf Biermann, der davon ausgeht, mit seinen Liedern und seiner Gitarre in politische Prozesse eingreifen zu können. Während diese Arbeiten mehr oder weniger von einer – vorsichtigen – Haltung getragen werden, dass ein ‚anderes Leben‘ möglich ist oder doch zumindest sein müsste, ist Brinkmanns Schreiben geprägt von einem Aufruhr, der nicht zielgerichtet ist, stets in Bewegung bleibt und sich mit keiner (utopischen) Lösung zufrieden geben kann. Seine Texte sind weit entfernt davon, didaktisch-lehrhafte Impulse zu geben; möglicherweise ist ihnen auch aus diesem Grund eine freche Freiheit eigen, die noch Jahrzehnte später ihre Wirkung nicht verfehlt.8 Eventuell lässt sich von Brinkmann eher eine Linie zu Klaus Theweleits literaturwissenschaftlichessayistischem Schaffen ziehen, da dieser Autor in dem film-literarischen Geflecht des heiklen deutschen Jahrzehnts ebenfalls eine überraschende und ungewöhnliche Position besetzt. Brinkmanns ästhetische Produktion kann nicht so leicht eingeordnet werden in dieses nicht nur im politischen Kontext spezifische deutsche Jahrzehnt beziehungsweise in die Zeit nach 1945: Undenkbar ist Brinkmanns Teilnahme an der Gruppe 47; undenkbar seine Mitarbeit an Enzensbergers periodisch erscheinendem Kursbuch;9 undenkbar seine Bereitschaft, sich im Zuge der 1968er-Bewegung politisch zu engagieren und sich eindeutig zu positionieren.10

8

In Seminaren, die während der Jahre 2007 bis 2014 an der Freien Universität Berlin stattfanden, konnte immer wieder festgestellt werden, dass die Texte Rolf Dieter Brinkmanns im Vergleich zu denen anderer Autoren bei den Studierenden auf großes Interesse stießen, nicht zuletzt bei denen, die Brinkmann erst in den Seminaren kennengelernt hatten. Andere Autoren – wie zum Beispiel Enzensberger – konnten bei weitem nicht mehr so große Aufmerksamkeit erringen.

9

Es handelt sich beim Kursbuch, das Enzensberger zusammen mit Karl Markus Michel seit 1965 herausgegeben hat, um eine linkskritische Kulturzeitschrift, die im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung zunehmend an Bedeutung gewann.

10 Vielleicht kann dem Gedicht ‚Kulturgüter‘ entnommen werden, wie skeptisch Brinkmann mit Kunst und Kultur seiner Zeit umgeht: „Eine Sonate von

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Schon die Tatsache, dass Brinkmann nicht nur Gedichte geschrieben, sondern in Text-Bild-Montage-Bänden einen Ausweg für seine Sprachzweifel gesucht hat, dass er Hör- und Filmexperimente durchgeführt und sich auch im episch-essayistischen Schreiben versucht hat, weist darauf hin, dass dieser Autor eine ungewöhnliche Position im literarischen Umfeld jener Zeit einnimmt; wie Brinkmann überhaupt aus einer bildfeindlichen Tradition ausschert und bereit ist, in dem photographisch-filmischen Medium neue Potentiale für sich zu entdecken, die seine sprachlichen Arbeiten nicht ‚hergeben‘ wollen. Ungewöhnlich ist darüber hinaus seine offen-anerkennende Einstellung gegenüber der amerikanischen Literatur und Kultur, eine Haltung, die nicht zuletzt durch den Vietnamkrieg seit Mitte der 1960er Jahre in Misskredit geraten war, die Brinkmann aber mit dem Blick auf sein eigenes lyrisches Schaffen in jener Zeit vehement vertrat.11 Seine Gedichte öffnen sich – gerade auch im Kontext der amerikanischen Tradition – einem unverhohlen-direkten Sprachgebrauch, der vor allem im sexuellen Bereich Tabus durchbricht und umgangssprachliche Begriffe nicht scheut, um körperliche Vorgänge in seinen Gedichten darzustellen: Da ‚turteln‘ die Tauben eben nicht mehr ‚romantisch herum‘, sondern sie „ficken“ ganz handfest, zumindest in der Phantasie desjenigen, der ihnen zuschaut.12

Stockhausen / drei Preise für Böll / das Dementi von Andersch / zwei Schmierzettel von Faßbender / Marylin Monroe ist tot / ihre roten Morgenröcke / das Vermächtnis von Borchert / von Bense die Theorie / ein Jahr die Frankfurter / Ohrenschmalz von Enzensberger / die Lyrik Heissenbüttels / ein Fötus in Spiritus“. Brinkmann, Standphotos, S. 13. 11 „Die neue amerikanische Literatur wie die gesamte neue kulturelle Szene in den USA fängt in der Gegenwart an, mit zeitgenössischem Material, und hat keine alteingenisteten, verinnerlichten Muster, keine heimeligen, liebgewordenen Vorurteile zu verlieren, wenn sie sich auf die Gegenwart einläßt …“ Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. In: Ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974. Reinbek 1982, S. 223-247, hier: S. 224. Dieser 1969 geschriebene poetologische Essay ist generell repräsentativ für Brinkmanns Amerika-Begeisterung jener Jahre. 12 Bezeichnenderweise ist das Gedicht ‚Gras‘, dem die zitierten Verse entstammen, 1970 erstmals publiziert worden!

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Brinkmann ist anders! Dieser These soll im Folgenden nachgegangen werden, vor allem mit Blick auf das lyrische Werk dieses Autors, wie es in den beiden wichtigsten Bänden Standphotos (1980) und Westwärts 1&2 (1975) dokumentiert ist.13 Und wenngleich die in Standphotos versammelten Texte aus den 1960er Jahren stammen und damit eigentlich nicht in das hier verhandelte Jahrzehnt fallen, sollen sie in einem Rückblick erwähnt werden, da sich der Westwärts-Band nur auf dieser vorausgehenden lyrischen Folie verhandeln lässt. Hierbei soll ein chronologisch vorgehender Vergleich angestellt werden, der wenige ausgewählte Gedichte daraufhin untersucht, wie einige ‚lyrikspezifische‘ Phänomene in Brinkmanns Texten verarbeitet werden, die zwischen 1963 und 1975 entstanden sind. Dass sich der erste Teil auf metapoetische Gedichte konzentriert, ist nicht zuletzt dem Sachverhalt geschuldet, dass Brinkmann in seinen Gedichten immer wieder über das Verhältnis von Sprache und Dichten nachgedacht hat und sich damit in eine lange und – wie Ulf Stolterfoth feststellt – avantgardistische Tradition metapoetischer Lyrik einfügt:14 „ein der Gattung Lyrik zugehöriger ästhetisch-selbstreferentieller Metadiskurs, der sich nicht auf die außersprachliche bzw. außerliterarische Wirklichkeit bezieht, sondern Literatur bzw. die lyrische Gattung in all ihren Facetten zum Gegenstand hat.“15 Da sich lyrische Texte im Allgemeinen ohnehin durch ein hohes Formbewusstsein auszeichnen, müssen in metapoetischen Gedichten besondere formale – und wie man ergänzen kann: inhaltliche – Auszeichnungen eingeführt werden, damit sie „als metaliterarisch erkannt […] werden und einen besonderen wirkungsästhetischen Effekt […] erzielen“.16 Ohne die Diskussion aufgreifen oder vertiefen zu wollen, ob metapoetische und selbstreferentielle Reflexionen gerade der

13 Nicht berücksichtigt werden: Rolf Dieter Brinkmann: Eiswasser an der Guadelupe Str. Reinbek 1985. Rolf Dieter Brinkmann: Vorstellung meiner Hände. Frühe Gedichte. Herausgegeben von Maleen Brinkmann. Reinbek 2010. 14 Ulf Stolterfoth: Noch einmal: Über Avantgarde und experimentelle Lyrik. In: Bella triste 7 (2007), S. 189-198, hier: S. 196. 15 Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtung. Heidelberg 2000, S. 170. 16 Müller-Zettelmann, Metalyrik, S. 184.

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Lyrik in besonderer Weise eigen sind,17 soll hier an einigen ausgewählten Beispielen dem metalyrischen Diskurs in Brinkmanns Werk nachgegangen werden. Die Konzentration auf diese Fragestellung bietet sich auch deswegen an, weil es in den beiden großen Bänden auffällig viele Gedichte gibt, die sich mit Sprache, Schreiben und/oder Gedichten beschäftigen.18 Insofern ist diese Fokussierung von Brinkmanns lyrischem Schreiben selbst und nicht von literaturwissenschaftlichen Diskussionen abgeleitet. In einem zweiten Schritt soll es um ein Thema gehen, an dem sich Brinkmann wiederholt ‚abgearbeitet‘ hat und das eines seiner zentralen lyrischen, wenn nicht gar ‚philosophischen‘, Projekte darstellt: die Erfahrung von Gegenwart. „Und wofür sind die Gedichte? Wie ich es heute sehe, für mehr Gegenwart, viel vollere Gegenwart, mit den bei Seite geschobenen Wörtern, Ausdrücken, für Gegenwart und Sinnlichkeit und Lust, und dann: Krach! haut was rein, von außen usw.“ 19 Eckhard Schu-

17 Rüdiger Zymner schaltet sich kritisch-skeptisch in die Diskussion um Selbstreferentialität in der Lyrik ein. Allerdings geht es ihm vor allem darum, die These zurückzuweisen, dass es in der lyrischen Dichtung eine „,Tendenz‘ […] zu ‚erhöhter Selbstreferentialität‘“ gäbe. Sich gegen diese ‚erhöhte‘ Tendenz positionierend,

behauptet

er,

dass

ästhetische

Attraktivität

wesentlich

charakteristischer für diese literarische Gattung ist. Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn 2009, S. 122-126, hier: S. 122 (Hervorh. E.K.P.) und S. 126. 18 In Standphotos und Westwärts 1&2 finden sich allein 26 Gedichte, die den Begriff ‚Gedicht‘ im Titel tragen. Man könnte weitere Zählungen durchführen, wenn es um ‚Lied‘ (neun, wenn man song und chant mitzählt) geht oder um ‚Hymne‘ (einmal) oder ‚Ballade‘ (einmal). 19 Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut. 1974-1975. Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut Schnell. Reinbek 1999, S. 74. „Sie bemessen die Gegenwart so knapp, dass man sich dauernd immerzu verletzt“, heißt es in Harald Bergmanns Film BRINKMANNS ZORN an einer Stelle. Dieser Film zitiert die Tonbandprotokolle, die Brinkmann im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks zwischen 1973 und 1975 angefertigt hat. Harald Bergmann: Brinkmanns Zorn. Originalmaterial aus dem medialen Nachlaß von Rolf Dieter Brinkmann. Neue Visionen 2007. – „He, he, wo ist die Gegenwart? Wer hat hier Gegenwart abgeramscht?“ Rolf Dieter Brinkmann: Unkontrolliertes Nachwort

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macher deutet diese Verbindung von Gedicht und Gegenwart dahingehend, dass es Brinkmann weniger um Zeitverhältnisse gehe als vielmehr um „Vorstellungen von Unmittelbarkeit und Präsenz, die wiederum auf das performative Potential von Gedichten verweisen, auf den Moment der Unterbrechung, den ein Gedicht ermöglicht und dem es zugleich, unweigerlich, immer auch ausgesetzt ist.“20 Gedicht und Performanz spielen sicherlich eine Rolle bei Brinkmanns Überlegungen, aber bei einem Blick auf einige Gedichte gilt es auch zu überprüfen, ob nicht gerade das Gedicht der geeignete (schrift-)sprachliche Ort ist, eine zeitlich so sehr begrenzte Erfahrung zu einer stetig gegenwärtigen und damit dauerhaften zu machen. Schumacher, der sein Kapitel über Brinkmanns Poetologie bezeichnenderweise mit „ … jetzt, jetzt, jetzt, ad infinitum!“21 überschrieben hat, betont, dass Brinkmann wenige Themen „so beharrlich verfolgt hat wie die ‚Frage, was […] überhaupt Gegenwart‘ sei.“22 Brinkmann hat in seinen poetologischen Essays und in Briefe an Hartmut über dieses Phänomen nachgesonnen, was vor allem ersichtlich wird, wenn er beispielsweise wiederholt genaue Datums- und Tageszeitangaben mit Informationen über die jeweiligen Licht- und Wetterverhältnisse einfügt.23 Aber er hat auch in seiner lyrischen Produktion nicht wenige ‚Momentaufnahmen‘ oder Augenblicksgedichte geschaffen, die eine besonders geeignete Basis dafür bieten, die Gegenwartsthematik zu diskutieren: „[D]ie Gedichte, alle, die ich bisher schrieb, enthalten auch immer etwas mit von dem Kampf um mehr Gegenwartsbewußtsein und mehr Raum […].“24 Dabei ist Präsenz nach neueren lyriktheoretischen Definitionen kein Phänomen, das in besonderer Weise der Lyrik eigen ist beziehungsweise im Zusammenhang mit diesen Texten reflektiert werden müsste. Wenn aber Lyrik nach einer

zu meinen Gedichten (1974/1975). In: Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 256-330, hier: S. 272. 20 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt/M 2003, S. 59. 21 Schumacher, Gerade, S. 57. 22 Schumacher, Gerade, S. 60. 23 Brinkmann, Film in Worten, S. 231, S. 233, S. 234, S. 247. – Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 7, S. 29, S. 44, S. 47, S. 104, S. 125, S. 135, S. 222, S. 225, S. 237. 24 Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 135.

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neueren Definition als „Repräsentation von Sprache als generisches Display sprachlicher Medialität und damit als generischer Katalysator ästhetischer Evidenz“25 verstanden wird, dann werden mit einem technischen Gerät („Display“) und einem Hinweis auf chemische Prozesse („Katalysator“) Vergleichsgrößen genannt, die zumindest indirekt auf unmittelbare Wahrnehmung und zeitlich befristete (heftige) Reaktion zielen. Zumindest schließt Rüdiger Zymners avancierte Lyrikdefinition nicht aus, dass es sich lohnt, bei einer Interpretation lyrischer Texte dem präsentischen Aspekt einige Aufmerksamkeit zu schenken. Der dritte Abschnitt widmet sich einem Thema, das mit der lyrischen Dichtung oft verbunden wird, das aber in neuesten lyriktheoretischen Arbeiten wie denen von Rüdiger Zymner keine Rolle spielt: dem Thema ‚Natur‘ in der Lyrik. Dass es gleichwohl ein Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschungen auch noch um die Jahrtausendwende herum ist, beweist die Arbeit von Christian Kohlroß, der in seiner Theorie des modernen Naturgedichts Brinkmann sogar ein ganzes Kapitel widmet.26 Darüber hinaus gilt auch in diesem Fall, dass einige Gedichte in Brinkmanns Werk zumindest die Frage aufwerfen, ob sie nicht in einem naturlyrischen Zusammenhang verhandelt werden könnten. Dabei zeigen allein die Titel, dass Brinkmann sich auch an diesem lange tradierten lyrischen Thema in (post-)moderner Weise abzuarbeiten versucht: ‚Meinetwegen Rosen‘,27 ‚Schnee‘,28 ‚Gedicht über eine beliebige Blumenart‘,29 ‚Ein einziges Blatt‘,30 ‚Limonade im Grünen‘,31 ‚Wolken‘,32 ‚Noch einmal auf dem Land‘,33 ‚Kleiner Nordwind‘,34 ‚Landschaft‘,35 ‚Notizen zu einer

25 Zymner, Lyrik, S. 140. 26 Christian Kohlroß: Theorie des modernen Naturgedichts: Oskar Loerke – Günter Eich – Rolf Dieter Brinkmann. Würzburg 2000. 27 Brinkmann, Standphotos, S. 26. 28 Brinkmann, Standphotos, S. 40. 29 Brinkmann, Standphotos, S. 56. 30 Brinkmann, Standphotos, S. 99. 31 Brinkmann, Standphotos, S. 337. 32 Brinkmann, Standphotos, S. 361. 33 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 54. 34 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 134. 35 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 138.

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Landschaft bei Vechta i.O. für H.P.‘,36 ‚Mondlicht in einem Baugerüst‘.37 Allein die Titel bestätigen Kohlroß’ Befund, dass sich Brinkmanns innovativer Umgang mit der lyrischen Tradition daran zeigt, dass auch ‚Natur‘ in seine „Oberflächenästhetik“ eingeordnet und als etwas betrachtet wird, das – wie „alles, was existiert“ und zur „Welt der Erscheinung“ gehört – einfach nur beobachtet werden kann, ohne dass nach „transzendental-ästhetischen Prinzipien“ gesucht werden muss.38 ‚Natur‘ ist da, ‚bedeutet‘ aber nichts (mehr). Diese These gilt es an ausgewählten Gedichten nachzuweisen beziehungsweise zu diskutieren, um deutlich werden zu lassen, wie Brinkmann auch das naturlyrische Genre einer (radikalen) Überprüfung unterzieht. Es ist nicht zufällig, dass in allen Gedichten, die in diesen drei Abschnitten verhandelt werden, Farbattribute vorkommen und mal eine größere, mal eine untergeordnete Rolle spielen. Zufällig ist dieser Sachverhalt nicht, weil Farben auffällig häufig in Brinkmanns Lyrik vorkommen und in – scheinbar(?) – unbefangener Weise eine nähere Bestimmung von Objekten und Wahrnehmungen versuchen. Farben sind gefährliche Adjektive, da eine kitschige Konnotation ebenso naheliegen kann wie eine (aufgeladene) symbolische Bedeutung, die politisch, religiös oder durch andere kulturelle Traditionen kontextualisiert ist.39 Das vielzitierte Diktum Gottfried Benns, dass in moderner Lyrik Farbadjektive nichts zu suchen hätten,40 spielt für Brinkmann, der Benns Lyrik wertschätzte, 41 offen-

36 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 149. 37 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 207. 38 Kohlroß, Naturgedicht, S. 213. 39 Vgl. dazu: Margarete Bruns: Das Rätsel Farbe. Mythos und Materie. Mit 16 Farbtafeln. Stuttgart 1997. 40 Benn lehnt den Gebrauch von Farbworten ab, weil es sich dabei um reine „Wortklischees“ handle, „die besser beim Optiker und beim Augenarzt ihr Unterkommen finden.“ Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung herausgegeben von Bruno Hillebrand. Frankfurt/M 1989, S. 505-536, hier: S. 504. 41 Dass Brinkmann Gottfried Benn geschätzt hat, ist belegt. Vgl. dazu: Brinkmann, Film in Worten, S. 238, S. 243. Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 78, S. 121, S. 144.

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sichtlich keine Rolle und findet daher keinerlei Beachtung.42 Wieder einmal kümmert sich Brinkmann nicht um die Vorgeschichte, sondern gestaltet seine lyrische Farbenwelt nach eigenen Vorstellungen: „Das zweite, nein, dritte Mal, daß die Farbe grün gebraucht wird (neben weiß die häufigste Farbe bei mir) (heute kommt noch blau hinzu, und gelb).“ 43 Mehr verrät der Autor auch in den Briefen an den in Amerika weilenden Freund nicht zu diesem Thema. Insofern ist der Leser hier ebenfalls auf seine Deutungen angewiesen, darauf, Farben wie zum Beispiel Königsblau, Schwarz und Rot aus dem Kontext des lyrischen Werks heraus zu befragen. Sie wirken für die Gedichte wie Bindeglieder, die die einzelnen Teile zu einem Ganzen werden lassen. Aber zu was für einem Ganzen die Gedichte durch die Farbadjektive werden, soll die zentrale Fragestellung dieses Kapitels sein.44 Angestrebt wird eine Theorie der farbadjektiven Setzungen in Brinkmanns Lyrik.

42 Dieser Ausspruch Benns, den er 1952 in einem Vortrag geäußert hat, hat überhaupt mehr Widerhall in der Literaturwissenschaft als in der lyrischen Praxis gefunden, die sich insgesamt unbeeindruckt zeigt von solchen – doch ziemlich willkürlich gesetzten – Vorgaben eines Autors. Zu welch (post-)modernen Ergebnissen ein reflektierter Umgang mit Farbworten führen kann, demonstriert der erst 2008 erschienene Lyrikband von Sabine Scho, der nicht nur zahlreiche Gedichte enthält, die – zum Teil bekannte, zum Teil auch exzentrische – Farbworte im Titel tragen, sondern dem auch farbige Flächen beigegeben sind, die – in den Band eingeklebt – zusammen mit den schwarzweißen Texten ein sehr buntes Lyrik-Bild ergeben. Sabine Scho: Farben. Gedichte. Berlin 2008. 43 Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 54. 44 Soweit ich sehe, ist dieser Aspekt bisher für Brinkmanns Lyrik noch nicht untersucht worden, wie Farben überhaupt lange Zeit auf Ablehnung stießen. Vgl. dazu: David Batchelor: Chromophobie. Angst vor der Farbe. Wien 2002. [1. engl. Aufl. 2000] Für die Literaturwissenschaft hat sich der Blick auf Farben mit Jacques Le Riders chronologisch angelegter Studie geändert, die aber nicht bis in die jüngere und jüngste Gegenwart hineinreicht. Vgl. dazu: Jacques Le Rider: Farben und Wörter. Geschichte der Farbe von Lessing bis Wittgenstein. Wien 2000. [1. frz. Aufl. 1997] Vgl. dazu auch: Jakob Steinbrenner / Stefan Glasauer (Hg.): Farben. Betrachtungen aus Philosophie und Naturwissenschaft. Frankfurt/M 2007.

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„Brinkmanns Lyrik dürfte die erste ihrer Art im deutschsprachigen Raum gewesen sein, die systematisch die Möglichkeiten eines Fortbestands der Lyrik im Medienzeitalter auszuloten sich vorgenommen hatte.“

45

Jan Röhnert ist der erste, der sich eingehend mit dem Zusammenhang von Lyrik und Film beschäftigt hat und der die filmische Darstellungstechnik nicht länger nur im episch-dramatischen Verwandtschaftsvergleich ansiedelt. Er befasst sich in seiner Studie vor allem mit Blaise Cendrars und John Ashbery als Vertreter der französischen und englischen und mit Rolf Dieter Brinkmann als Repräsentant der deutschsprachigen Lyrik. Brinkmanns singuläre Stellung in der deutschen Lyriklandschaft jener Jahre begründet Jan Röhnert zum einen damit, dass Brinkmann sich vorbehaltlos auf „das filmische Paradigma“ eingelassen habe, weshalb der Eindruck entstehen könne, er „habe die Lyrik als ‚Filmemachen mit sprachlichen Mitteln‘ verstanden“; zum anderen gelange der Autor durch den offenen Blick auf das filmische Medium „zu einer neuen Bestimmung von Lyrik“, „die mit direkt oder indirekt durch Film vermittelten Wahrnehmungsweisen der Gegenwart korrespondiert.“46 Charakteristische Besonderheiten und stilistisch-sprachliche Eigenarten der brinkmannschen Texte werden nicht nur aus photographischer snap-shot-Perspektive erklärt,47 sondern mit Bezug auf das ‚Dispositiv Kino‘ in einen bild-bewegten und populären und Zusammenhang gestellt,48 der zu neuen Formen der auditiven wie auch

45 Jan Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007, S. 391. 46 Röhnert, Springende Gedanken, S. 391-392. (Hervorh. E.K.P.). 47 Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld 2007. 48 „Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kinos hat der Begriff des Dispositivs eine zweite oder dritte Karriere erlebt. Er stellt einen Kompromiss zwischen einer künstlerisch-kulturellen Kategorie wie Genre und einer medientechnischen dar, indem er mehrere miteinander verschränkte Komponenten des Kinos umfasst: Seine medientechnischen und -materiellen Vorbedingungen und Konstruktionen sowie seine Architektur und Phänomenologie samt deren psychologischen und sozialen Dimensionen ergeben den ästhetischen,

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visuellen Wahrnehmung führt.49 Röhnerts These soll zum Anlass genommen werden, die ausgewählten Gedichte auch daraufhin zu ‚überprüfen‘, ob sie sich durch filmische Darstellungstechniken und deren Rezeptionen beeinflusst zeigen. Inwiefern sich die thematischen Schwerpunkte, der Gebrauch von Farbworten und die lyrische Nähe zu Kino und Film zu einer zusammenfassenden Deutung verbinden lassen, wird in einem abschließenden Fazit zu erläutern sein.

V ON DER ‚ KÖNIGSBLAUEN T INTE ‘ ZUM ‚ SCHNELLEN AUFSCHREIBEN ‘: M ETAPOETIK UND F ARBEN Im ersten Gedichtband, den Rolf Dieter Brinkmann 1962 unter dem Titel Ihr nennt es Sprache in einem kleinen Verlag in Wuppertal veröffentlichte, findet sich ein metapoetisches Gedicht, das als programmatisch für Brinkmanns lyrisches Arbeiten mit Sprache verstanden werden kann. ‚Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes‘ zeigt schon im Titel,50 dass nach einem ‚pragmatischen‘ Verständnis von Lyrik gesucht wird: Die „königsblau[e]“ Tinte, die das Gedicht in den Anfangs- und Schlussversen rahmt, ist denn auch so ein nüchterner ‚Gegenstand‘, der zwar eine Farbe mit

affektiven,

disziplinierenden

Spielraum

der

Kinoproduktion.“

Diedrich

Diederichsen: In bewegten Bildern blättern: Die Videothek von Babylon. Playing Through Moving Pictures: The Videotheque of Babylon. In: Christoph Dreher: Autorenserien. Die Neuerfindung des Fernsehens. Auteur Series. The Re-invention of Television. Stuttgart 2010, S. 167-197, hier: S. 171. 49 Vgl. dazu: Elisabeth K. Paefgen: Brief an Humphrey Bogart, schon weit entfernt. In: Jan Röhnert / Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Band 1. Berlin 2012, S. 142-151, sowie dies.: Der nackte Fuß von Ava Gardner. In: Röhnert / Geduldig, Brinkmann, Bd. 1, S. 164-172, sowie dies.: Tarzan. In: Röhnert / Geduldig, Brinkmann, Bd. 1, S. 229-236, sowie dies.: Eine übergroße Photographie von Liz Taylor. In: Röhnert / Geduldig, Brinkmann, Bd. 1, S. 237-246. 50 Brinkmann, Standphotos, S. 17.

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herrschaftlicher Tradition im Attribut führt,51 diese aber in Verbindung mit der Schreibflüssigkeit aus dem adligen in einen schreibproduktiven Kontext überführt. Die Alltagstauglichkeit dieses Gegenstands erweist sich auch durch den Sachverhalt, dass es Tintenpatronen zu kaufen gibt, deren sehr beliebte blaue Farbe mit eben jenem zusammengesetzten Attribut gekennzeichnet wird.52 Es ist ein ‚Allerweltsgegenstand‘, nicht so kostbar, wie die Farbbezeichnung vermuten lässt, sondern gerade im Gegensatz dazu banal, jederzeit und überall käuflich erwerbbar. Die Tinte mit der bedeutungsträchtigen Farbe ist im Übrigen nur eines der gegenständlichen Hilfsmittel, um mit „der Feder aus Stahl“ „die Worte / auf das weiße Papier“ schreiben zu können.53 Hartes Material, das nur mit einiger Mühe bearbeitet werden kann, wird benötigt, um gedachte Sprache auf ‚Papier‘ zu konservieren – ebenso die lyrische Sprache, die dadurch aus einem besonderen oder genialen Kontext befreit und in einen normalen, für jeden, der schreiben kann, erreichbaren Zusammenhang überführt wird. Mit Hilfe dieser drei alltäglichen Handwerkszeuge Tinte, Feder und Papier wird in der ersten wie in der letzten Strophe der dichterische Prozess umrissen. Wichtig ist aber, dass in der ersten Strophe die Feder aus Stahl das Subjekt des Schreibprozesses ist, während in der dritten ein lyrischer Sprecher (oder besser: Schreiber!) die nunmehr zum Objekt degradierte Feder führt und – sicher und gekonnt – die Worte auf das weiße Papier schreibt: „mit der Feder / aus Stahl schreibe ich / die Worte auf das weiße / Papier die Farbe / der Tinte ist / königsblau“.54

51 Die Farbe wurde im 17. Jahrhundert unter Ludwig XIV. eingeführt. Vgl. dazu: http://www.duden.de/rechtschreibung/koenigsblau (zuletzt abgefragt am 6.12. 2013). 52 „Königsblaue Tinten haben, sicher nicht nur in Deutschland, den höchsten Marktanteil. Das liegt daran, daß sie zu einem überragenden Anteil in der Schule, aber wahrscheinlich auch bei anderen Vielschreibern eingesetzt wird.“ http://www.pens-and-freaks.com/tinte/k%C3%B6nigsblaue/ (zuletzt abgefragt am 13.12. 2013). 53 Brinkmann, Standphotos, S. 17 (Hervorh. E.K.P.). 54 Brinkmann, Standphotos, S. 17 (Hervorh. E.K.P.). Das Gedicht wird nicht mit einem Satzzeichen abgeschlossen, wie Brinkmann in seinen frühen Texten überhaupt häufig auf jedes Satzzeichen verzichtet.

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Bevor dieser lyrische Schreiber auftreten kann, kommen in der mittleren Strophe noch andere ‚Hilfsmittel‘ hinzu, die den dichterischen Prozess unterstützen: die „angewandte Grammatik“, die „Landschaft“, das „Blattgrün“ und nicht zuletzt „die Bäume“, die helfen der „vorhandenen Sprache“ „die innere Wildnis“ zu verbergen. Dabei wird der Nutzen der Grammatik eingeschränkt, weil sie nicht für naturlyrische Traditionen taugt, die ironisch mit „Wetteraussichten“ und pathetisch mit „Vogelflug“ aufgerufen werden. Die Absage an naturmagische Dichtung wird betont, wenn dem Flug der Vögel keine „geheime Formel“ beigemessen werden kann, die es schafft, „leichter“ zu sein „als die Schwermut“. Es gibt kein lyrisches Rezept gegen melancholische Stimmungen oder Haltungen; dafür ist ein Gedicht nicht zuständig.55 Nicht ausgeschlossen werden kann, dass mit diesen Versen ein intertextueller Verweis auf Günter Eichs Gedicht ‚Ende eines Sommers‘ vorgenommen wird, in dem es heißt: „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume! // […] Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an. / Er mißt seinen Teil von Ewigkeit gelassen ab. / Seine Strecken / werden sichtbar im Blattwerk als dunkler Zwang“. 56 Von ‚Vertrauen‘ (und von Trost) ist in Brinkmanns Text nicht mehr der Rede, aber von einer regellos angeordneten Landschaft, einem fehlerlosen Blattgrün und von jenen Bäumen, die den Sprachzweifel überdecken

55 „Die Sprache der Metaphern ist außerstande, den in dem Bild der ‚inneren Wildnis‘ nicht zufällig noch undeutlichen Zustand des Innen, des Ich zu erfassen und mitzuteilen.“ Gerhard Lampe: Ohne Subjektivität. Interpretationen zur Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns vor dem Hintergrund der Studentenbewegung. Tübingen 1983, S. 81-82. Lampe spricht auch davon, dass „Brinkmanns Lyrik […] keine Geheimdisziplin wie die der antiken Auguren“ sei, sondern sich der „Wirklichkeit“ verpflichtet fühle. Lampe, Ohne Subjektivität, S. 81. 56 Günter Eich: Ende eines Sommers. In: Ders.: Botschaften des Regens. Frankfurt/M 1963, S. 7. [1. Aufl. 1955] Es handelt sich um das Eingangsgedicht dieses Bandes. Auch die Absage an „Wetteraussichten“ könnte sich auf den Titel des Bandes – Botschaften des Regens – beziehen. – Vielleicht spielt die ‚Gegenständlichkeit des Gedichts‘ aber auch auf das früher entstandene und sehr viel bekannter gewordene Gedicht Eichs ‚Inventur‘ und dessen stilisierte metapoetische Tendenzen an: „Die Bleistiftmine / lieb ich am meisten. / Tags schreibt sie mir Verse, / Die nachts ich erdacht.“ Günter Eich: Gedichte. Ausgewählt von Ilse Aichinger. Frankfurt/M 1988, S. 10-11. [1. Aufl. 1973].

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helfen. Diese sicht- und greifbaren Naturgegenstände scheinen weiterhin für dichterische Prozesse zu ‚funktionieren‘, während allem, was mit einem esoterischen Denken und mit Stimmungen zu tun hat, eine Absage erteilt wird. Und während Eichs Gedicht vom Sterben und dem endgültige Ende handelt, geht es in Brinkmanns Gedicht zwar nicht ausgesprochen um das Weiterleben, aber es geht auf jeden Fall um das Weiterschreiben – und das ganz sicher und ohne jeden Zweifel. Der Text spricht – zumindest an seinem Ende – von einem selbstbewussten Ich, das weiß, was es schreibend tut und was es schreibend kann. Diese sichere Haltung ist nicht von Beginn an vorhanden, sie muss erarbeitet werden: mithilfe der handfesten Gegenstände und einer (kritischen) Kenntnisnahme der lyrischen Tradition. Während die Gegenstände bleiben, wird von der bisherigen Lyrikgeschichte nur genommen, was noch ‚brauchbar‘ scheint. Am Ende übernimmt das schreibende Ich die Regie, zusammen mit der stolz-königsblauen Tinte, die nach wie vor Subjekt bleibt und deren Farbe nicht nur das letzte Wort des Gedichts bildet, sondern sogar einen ganzen Vers einnimmt: das einzige Mal in diesem Gedicht, das ein Vers aus nur einem Wort gebildet wird: ein strahlender Sieg der geschriebenen (lyrischen) Sprache!57 Die Piloten, Brinkmanns zweiter, im Kölner Kiepenheuer & WitschVerlag publizierter Gedichtband aus dem Jahr 1968, ist deutlich umfangreicher als die frühen Bände und vertritt eine prononciertere lyrische Position als die ersten Arbeiten. Das zeigt sich schon an vielen äußeren Details: Es gibt zum ersten Mal ein Vorwort (und einen Nachtrag) des Autors; es wird – in der Originalausgabe – als Einband eine farbige Bildcollage verwendet, die Brinkmann selbst gestaltet hat; 58 und nicht zuletzt ist der Band in drei deutlich markierte Kapitel unterteilt, die jeweils eingeleitet werden durch die einzelnen Teile eines Comic-Strips, der zusammen gelesen eine Geschichte ergibt.59 Nicht zuletzt die dreiaktige Gliederung hebt den Band auf ein anderes Niveau als die ersten

57 Lampe macht darauf aufmerksam, dass sich – im Vergleich zur ersten Strophe – bereits an dem zusätzlichen Vers in der letzten Strophe schon rein formal zeige, dass „das Ich aus den Ordnungssystemen herausgetreten ist und mehr Raum beansprucht: seinen Platz zu behaupten hat.“ Lampe, Ohne Subjektivität, S. 82. 58 Steinaecker, Foto-Texte, S. 114. 59 Den früheren Bänden fehlt eine solche Gliederung.

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Gedichtbände und signalisiert, dass es zusammengehörende Teile gibt, die ein – wie auch immer zu verstehendes – ‚Gemeinsames‘ ergeben. Das fällt besonders im zweiten Teil auf, in dem sich auffällig viele Gedichte auf das ‚Dispositiv Kino‘ beziehen und damit ein kunst- und kulturgeschichtliches Thema lyrikfähig machen,60 das in der deutschen Lyrikgeschichte bis dahin eher ein Schattendasein geführt hat.61 Für den dritten Teil kann ein vergleichbar deutlicher Fokus weniger ausgemacht werden, aber es gibt in ihm immerhin drei Gedichte, die den Begriff ‚Gedicht‘ im Titel tragen: ‚Politisches Gedicht nach einer schlaflosen Nacht‘,62 ‚Populäres Gedicht Nr. 17‘63 sowie das letztes Gedichts des Bandes überhaupt, das keinen Titel trägt, sondern – sozusagen ohne Vorspann – gleich lautstark mit dem ersten Vers behauptet: ‚Alle Gedichte sind Pilotengedichte‘.64 Die Konzentration auf dieses Gedicht bietet sich nicht nur wegen der besonderen Endposition an, sondern auch wegen des deutlichen Bezuges auf den Titel des Bandes, der das professionelle Steuern eines Flugzeugs mit lyrischen Texten verbindet. Im Vorwort widmet Brinkmann den Gedichtband seinem amerikanischen Vorbild Frank O’Hara und „all denen, die sich immer wieder von neuem gern auf den billigen Plätzen vor einer Leinwand zurücksinken lassen. Sie alle sind die Piloten, die der Titel meint.“ 65 Hier sind mit ‚Piloten‘ also (nicht übermäßig finanzstarke) Rezipienten gemeint, die eine populäre (Kino-)Kultur zu genießen verstehen. Aber was geschieht mit den Piloten in dem metapoetischen Text, der als Abschluss zudem ein letztes poetisches (und poetologisches?) Signal setzt?

60 Diederichsen, In bewegten Bildern S. 171. 61 Vgl. dazu: die Anthologie von Andreas Kramer und Jan Röhnert, die unter dem Titel Die endlose Ausdehnung des Zelluloid deutschsprachige Gedichte zusammengefasst hat, die sich auf den Untertitel des Bandes beziehen, der da lautet: 100 Jahre Film und Kino im Gedicht. Dresden 2009. Rolf Dieter Brinkmann ist mit neun Gedichten der Autor, von dem die meisten Gedichte in diesen Band aufgenommen worden sind! Ausdehnung des Zelluloid, S. 84-95. 62 Brinkmann, Standphotos, S. 253. 63 Brinkmann, Standphotos, S. 255. 64 Brinkmann, Standphotos, S. 276-277. 65 Rolf Dieter Brinkmann: Vorwort. In: Ders.: Standphotos, S. 185-187, hier: S. 187.

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Das Gedicht fällt optisch sofort auf; es ist aufgerissener gesetzt als die anderen Gedichte des Bandes und – im Gegensatz zu allen anderen Texten – wird mit Sternen als Markierungen für die Stropheneinteilungen gearbeitet. Weiterhin verkündet es mit seinem letzten Wort in fettgedruckten Lettern ein riesiges und nicht zu übersehendes ENDE. 66 Das Wort signalisiert das Ende des Buches, aber es referiert eigentlich auf die Kinokultur, in der das Ende des Leinwandgeschehens häufig so angekündigt wird.67 Es ist im Unterschied zu den normal gedruckten Buchstaben des restlichen Gedichts so groß und so fett gedruckt, dass der Leser Mühe hat, sich auf den Text des eigentlichen Gedichts zu konzentrieren, weil sich immer wieder dieses letzte Wort ins Blickfeld drängt. Wenn „Ende“ das auffälligste Wort ist, so ist „Gedicht“ mit seiner achtmaligen Nennung das Wort, das am häufigsten in dem Text vorkommt und das aus diesem Grund in besonderer Weise betont wird. Seine ständige Wiederholung resultiert nicht zuletzt daraus, dass Gedichte aus jedem esoterischen Zusammenhang in einen rein sprachlichen überführt werden und dass ausprobiert wird, was man mit der Behauptung ‚dies ist ein Gedicht‘ alles machen kann. Die fast tautologisch anmutende Feststellung endet letztlich in der Gesamtaussage, dass alles ein Gedicht sein oder werden kann, wenn man es nur so bezeichnet. Auffällig ist aber auch, dass die ‚Gedichte‘ an jemanden gerichtet sind, an drei – aus Brinkmanns biographischen Kontext bekannte – Gestalten: „ein / Gedicht / für Rygulla“; „ein Gedicht / für Maleen“;

66 Vergleichbare Großbuchstaben finden sich auch in ‚Gedicht auf einen Lieferwagen u.a.‘, in denen Worte wie COKE, USA und WETTER groß und fett gedruckt sind; aber diese Buchstaben sind etwas kleiner gesetzt als das ENDE des letzten Gedichts, das insofern in der Tat aus diesem Band herausragt. Vgl. dazu: Brinkmann, Standphotos, S. 241-242. 67 So endet auch die Kino und Lyrik-Anthologie von Andreas Kramer und Jan Röhnert, die in der typographischen Gestaltung versucht, die Kinokultur in Buchform mit einem groß gedruckten „The End“ einzufangen, bevor dann – wie im Nachspann des Films – auf der letzten Seite die bibliographischen Angaben erfolgen – wie überhaupt der englischsprachige Begriff noch geläufiger ist als der deutsche. Kramer / Röhnert, Zelluloid, S. 231. – Gerhard Lampe spricht in Verbindung mit dem Gedicht vom „unvermeidliche[n] ‚The (happy) End‘ der Massenware Spielfilm“. Lampe, Ohne Subjektivität, S. 123.

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„wieder so ein / Gedicht / diesmal für Helmut Pieper“; 68 eines der sogenannten ‚Gedichte‘ ist für keinen, eines auch „für mich selber.“69 Vielleicht werden die Texte nur dadurch zu Gedichten, weil sie an jemanden gerichtet sind und sich damit aus dem bloßen sprachlichen Feststellungsprogramm lösen? Wie die unterschiedlichen Namen fällt auch der „gelbe Schrank“ der dritten und vierten Strophe aus dem Wiederholungsrahmen. Ein alltäglicher Gegenstand, aber ein leuchtendes Farbattribut – das einzige dieses Gedichts übrigens. Und so wie man diesen gelben Schrank nicht nur mit Farbe, sondern auch mit Worten ‚anstreicht‘ und ihn dann „einen / gelben Schrank / nennt“, wird auch das Gedicht erst dann zu einem solchen, wenn man das entsprechende sprachliche Label ‚aufklebt‘. Soweit betrachtet, gibt das Gedicht ‚Alle Gedichte sind Pilotengedichte‘ eigentlich die Antwort, dass alles ein Gedicht sein kann, was man eben so nennt; dass es sich – zumeist – an ein Gegenüber richtet; dass Gedichte keinen Sonderstatus einnehmen innerhalb der kulturellen Produkte. Allerdings ergänzen Anfang und Schluss den Text noch um einen weiteren Aspekt, auf den bisher nicht eingegangen wurde: und zwar um die Piloten! Die erste Strophe verdient in diesem Zusammenhang eine genauere Betrachtung: „Alle Gedichte sind Pilotengedichte alle Gedichte öffentlich *“

70

68 Brinkmann, Standphotos, S. 276-277. – Mit R.R. Rygulla hat Brinkmann 1969 die Anthologie ‚Acid‘ herausgegeben. Mit Maleen Brinkmann war er seit 1962 verheiratet; nach Brinkmanns Tod ist sie es, die sein Werk verwaltet und herausgibt. Und mit Helmut Pieper war Brinkmann befreundet. Vgl. dazu: Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 131. 69 Brinkmann, Standphotos, S. 277. – Eines der ‚Gedichte‘ ist aber auch probeweise an „keinen“ gerichtet! 70 Brinkmann, Standphotos, S. 276.

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Während der erste Vers einen vollständigen Satz (und eine These?) enthält, wird „alle / Gedichte“ noch einmal wiederholt, dieses Mal aufgeteilt auf zwei Verse und damit in besonderer Weise betont, weil es stockender gelesen wird. Überraschend endet der anakoluthische Satz in einer neuen Bestimmung, die mit „öffentlich“ ein wichtiges Signal gegen jeden Anspruch auf Privatheit, Rückzug und Geheimnis setzt. Steht der ‚Pilot‘ vielleicht für ein Bild von unbegrenzter Freiheit, der schnellen Überwindung von Distanzen, der gekonnten Beherrschung von komplizierter Technik,71 so wird mit dem Ausspielen des öffentlichen gegen den privaten Raum ein gesellschaftliches Zeichen gesetzt: Das Gedicht gehört allen. Dieser Anspruch wird in den letzten Strophen noch einmal wiederholt, wenn auch der Pilot „öffentlich und für alle“ da ist. Erfolgt damit eine Gleichsetzung von ‚Gedicht‘ und ‚Pilot‘? Oder wird die Macht des lyrischen Wortes ausprobiert, weil all das ja – wie wieder und wieder betont wird – ‚nur‘ „ein Gedicht“ ist? Während diese Aussagen unbestimmter bleiben, wird in der letzten Strophe des Gedichts der Leser unmittelbar angesprochen, der in ein nicht näher Bestimmtes eintreten soll und nach dem Schließen der Tür ‚am Ende‘ selbst zu einem ‚Piloten‘ wird. Soll er in das Gedicht eintreten beziehungsweise in den vorliegenden Band? Auf jeden Fall erfährt der Begriff des Piloten unterschiedliche Konnotationen: Zunächst wird er genutzt, um Gedichte zu beschreiben, dann dafür, den Anspruch auf Öffentlichkeit zu unterstreichen, und zuletzt dient er dazu, den Leser zu jemanden zu machen, der grenzenlos in öffentlichen Räumen sich bewegen kann, keine Schranken kennt und der das paradoxer oder ironischer Weise gerade dann tun kann, wenn er ‚die Tür hinter sich geschlossen hat‘ – und zwar nicht von außen. Das typographisch herausragende ‚Ende‘ am Ende kann dann vielleicht auch als Erreichen eines Ziels, als Abschluss eines Prozesses, als angestrebtes Endstadium verstanden werden. Gedichte sind alles und nichts. Sie sind wie ein alltäglicher Schrank, der mit seiner gelben Farbe aber doch heraussticht aus dem Alltagsbild; sie sind wie ein hochqualifizierter Pilot, der keine Grenzen kennt. Sie können an andere gerichtet sein, aber auch an ‚keinen‘ oder an den Schreibenden

71 Thomas von Steinaecker sieht im Bild des Piloten auch ein Symbol für den von Brinkmann „angestrebten Zustand der gesteigerten Wahrnehmung“. Steinaecker, Foto-Texte, S. 100.

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selbst. Wenn sie ‚wie Piloten‘ sind, haben sie einige Potentiale, aber keine übersinnlichen, teleologischen oder utopischen. Das Gedicht spricht von den Grenzen und Möglichkeiten des Gedichts, aber auch von denen des Gedichtschreibens und -lesens. ‚Alle Gedichte sind Pilotengedichte‘ will betonen, dass Gedichte nichts Geheimnisvolles haben, aber der Text dreht sich gerade wegen dieser Betonung auch ein wenig im Kreise. Er vermag keine Überzeugungskraft zu gewinnen, weil er nur mit Setzungen arbeitet, ohne diese zu ‚beweisen‘. Die bloße Wiederholung des Wortes ‚Gedicht‘ macht (doch) noch keines, sondern produziert eine Leere, die in einer Sackgasse endet. Eigentlich kann man dem Text nur etwas abgewinnen, wenn man ihn ironisch oder spielerisch versteht: ironisch als Kommentar zu jeder überhöhten Einschätzung gerade der lyrischen Gattung; spielerisch als Experiment mit den Möglichkeiten der sprachlichen Bezeichnung. Und was ist mit dem Pilotenvergleich? Dass er ernst gemeint ist, zeigt der Titel des Gedichtbandes, zeigt das Vorwort des Autors und zeigt nicht zuletzt der Kommentar, den Brinkmann zu diesem Gedicht abgegeben hat: „Pilot ist eine Bezeichnung für Steuern, und Fliegen, derjenige, der den Flug steuert und die Utopie war in Die Piloten, wie das letzte Gedicht meint, daß jeder seinen Flug steuern kann und ein Pilot ist.“72 Das ist ein hohes Ziel, und wenn ‚Alle Gedichte sind Pilotengedichte‘ dieses Ziel als ernstzunehmendes wohl eher nicht erreicht, dann vielleicht auch deswegen nicht, weil dieser didaktische Anspruch etwas zu verkrampft mit einem Programm, das eine ‚Poesie für alle‘ verkündet, in Verbindung gebracht wird.73 Diese Piloten wollen nicht recht abheben; ihre bloße Nennung bringt sie noch nicht zum Fliegen.

72 Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 136. 73 In dem Gedicht ‚Wie ein Pilot‘, das sich ebenfalls in Die Piloten findet, gelingt hingegen der utopische Gedanke, weil es sich auf das Bild des Piloten konzentriert und metapoetische oder poetologische Fragen beiseitelässt. Am Schluss dieses Textes heißt es: „Später / sagt man sich, daß / man es selbst gewesen // ist, der dort als / winzig kleiner Punkt / verschwunden ist / wie ein Pilot.“ Brinkmann, Standphotos, S. 226. – Auch Gerhard Lampe bringt diese beiden Gedichte in einen Zusammenhang, sieht aber hier wie dort semantisch eine kritische Botschaft realisiert: „,Wie ein Pilot‘ ist ein einfacher Vergleich, der zu einem (vielleicht zu einfachen) Bild für das Verschwinden des Einzelnen

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Besonders das letzte Gedicht des Piloten-Bandes zeigt, dass es nicht so ganz einfach ist, lyrische Texte in einer normalen Alltäglichkeit zu verankern, sie von einem auratischen Nimbus zu befreien und dabei gleichwohl eine poetische, die jeweilige Zeit überdauernde Konstruktion und Aussage zu erreichen. Vielleicht hat Brinkmann dieses Ziel im Stadtgedicht ‚Einer jener klassischen‘ aus Westwärts 1&2 in besonderer Weise erreicht,74 weil hier seine Sucht nach Gegenwart in unmittelbare Übereinstimmung mit einer alltäglichen Erfahrung, aber epiphanisch gedeuteten Wahrnehmung gebracht wird.75 Zudem fehlt ein von außen herangetragener reflexiver Gestus wie auch eine lehrhaft-didaktische Intention. Es ist auch kein Rückblick in die lyrische Tradition mehr nötig. Es muss nicht mehr ‚Gedichtartiges‘ an einem gelb angestrichenen Schrank festgestellt werden. Vielmehr spricht der ‚schwarze Tango‘,76 der an einem Abend zum Ende des Monats August beim Vorübergehen aus der Wirtschaft eines Griechen in Köln gehört‘ wird, eine lyrische Sprache, die ganz ohne zusätzliche Hilfsmittel auskommt und die trotzdem – oder gerade deswegen(?) – nach vierzig Jahren noch zu ‚klingen‘ vermag. Es scheint fast, als liefen all die lyrischen Studien, die Brinkmann seit den frühen 1960er Jahren angefertigt hat, darauf hinaus, in ‚Einer jener

wird. […] Der Leser soll sehen, daß auch er ‚ein Pilot‘, nämlich ‚am Ende‘ ist, daß er als Subjekt ausgespielt hat.“ Lampe, Ohne Subjektivität, S. 125. 74 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 35. 75 „[…] nicht morgen, jetzt, jetzt, heute.“ Brinkmann, Film in Worten, S. 226. Eckhard Schumacher spricht von einer „Gegenwartsfixierung“ beziehungsweise einer „offensive[n] Beschränkung auf die Gegenwart, deren Relevanz nicht durch perspektivierende Positionierungen zwischen Vergangenheit und Zukunft bestimmt wird, sondern durch die Fixierung auf eine Form von Aktualität, die sich im Akt des Schreibens und im Akt des Lesens immer wieder neu realisieren muß […]“. Schumacher, Gerade, S. 74-75. 76 „Was heißt schwarzer Tango? Natürlich meint Brinkmann, der sich im Bereich Musik sehr gut auskannte, den südamerikanischen Tanz, dessen Rhythmus ursprünglich aus Afrika kommt.“ Anna Chiarloni: Einer jener klassischen. In: Jan Röhnert / Gunter Geduldig (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Seine Gedichte in Einzelinterpretationen. Band 2. Berlin 2012, S. 551-557, hier: S. 551.

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klassischen‘ zu einer Vollendung zu gelangen, die prägnant für sein Werk ist und vielleicht auch für die Lyrik der 1970er Jahre. „Was heißt schwarzer Tango? Natürlich meint Brinkmann, der sich im Bereich Musik sehr gut auskannte, den südamerikanischen Tanz, dessen Rhythmik ursprünglich aus Afrika kommt. Das Adjektiv ‚schwarz‘ evoziert aber auch ein anderes Element, das oft mit dem Tango verbunden wird: eine gewisse zigeunerhafte Stimmung von Tod, Lust und Trauer, von extremer, wilder Leidenschaft, die das Messer blitzen lässt, wie in jener Welt von compadritos e cuchilleros, die in einigen Texten von Jorge Luis Borges zu finden 77

ist.“

Es ist das Aufeinandertreffen von Exotik und unendlich trister Großstadtrealität, das diese stumme Musik immer noch zum Klingen bringt: der Kontrast zwischen einer ‚verstaubten, dunstigen, abgestorbenen und ungeliebten Straße‘ auf der einen und den Klängen eines erotisch aufgeladenen Tanzes auf der anderen Seite. Und wenngleich der schwarze Tango die eigentliche Sensation und der Anlass für das Schreiben des Gedichts ist, so verwendet der Text mehr Vokabular darauf, das städtische Umfeld abzubilden anstelle der Musik, die – bis auf die einmalige synästhetische Hervorhebung in den Eingangsworten – keine eingehendere Bestimmung erhält und überhaupt nicht weiter erwähnt wird. Der ‚Tango‘ spricht für sich, aber „Köln“ wird zweimal explizit genannt, in der ersten und der letzten Strophe, so dass das Hörereignis einen klaren geographischen, kulturellen und soziologischen Bezugsrahmen bekommt. 78 Dabei sind die Stadtbilder allesamt unfreundlich: Neben der „verfluchten // dunstigen Abgestorbenheit Kölns“ ist auch die ‚dunkle Wirtschaft‘ wenig einladend, und der als Enjambement gesetzte „Laden / Schluß“ wirkt noch verschlossener und endgültiger als im Gesetzestext.79 Bis auf die ‚offene

77 Chiarlioni, Einer jener klassischen, S. 551. 78 „Die Adjektiv-Kette, die das Stadtbild bezeichnet […][,] wirkt wie eine Zange um das Ich.“ Chiarloni, Einer jener klassischen, S. 554. 79 Die kargen Andeutungen des Textes können offensichtlich zu ‚romantischen‘ Spekulationen verleiten: „Trockenheit und Staub eines Spätsommertages, die belebte Straße, ‚ein Grieche‘ (das Eßlokal), die Dunkelheit hinter der offenen Tür, Atmosphäre und Licht des beginnenden Abends (‚Laden Schluß‘), heimwärts strebende Passanten, die Wärme, auch noch am Abend (die ‚offene

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Tür‘ der Gaststätte, „die einem / Griechen gehört“, kann nichts, 80 aber auch gar nichts von den städtischen Attributen mit den Klängen eines Tangos mithalten: Aber immerhin steht da eine Tür offen und immerhin wird mit der griechischen Kultur eine weitere genannt, 81 die nicht ursprünglich Bestandteil einer rheinisch-kölnischen Tradition ist; denn das sollte in Verbindung mit ‚Einer jener klassischen‘ schon auch festgehalten werden: Es sind Elemente zweier nichtdeutscher Kulturen, die ‚Stimmung‘ bringen in die ansonsten trübe Lage, und es sind darüber hinaus zwei Kulturen, die nicht oft gemeinsam in einem Atemzug genannt, an dieser Stelle jedoch in einer südamerikanisch-südeuropäischen Einheit zusammengebracht werden, um eine langweilige Kölner Straße ‚aufzumischen‘.82 Dass es dieses spektakuläre Hörereignis nicht leicht hat, unter diesen Stadt-Umständen überhaupt wahrgenommen zu werden, zeigt die Konstruktion des Gedichts, das aus zwei sehr unterschiedlich gebauten Sätzen besteht, die sich über acht zweiversige Strophen verteilen und die das Erlebnis aus zwei sehr differenten Perspektiven behandeln. Dabei ist besonders der erste Satz, der bis in die sechste Strophe hineinreicht, mit seinen syntaktischen „Undurchschaubarkeiten“ derjenige, der die „Komplexität der Wahrnehmung“ des ‚akustischen Reizes‘ nachzu-

Tür‘).“ Hans H. Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900-2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil II (1945-2000). Würzburg 2006, S. 508. Weder ist von einer ‚belebten‘ Straße die Rede noch von „Passanten“, und in Verbindung mit „Laden / Schluß“ schon gar nicht von „Atmosphäre und Licht des beginnenden Abends“. Vielmehr wird mit den gesetzlichen Regelungen, wann Geschäfte zu schließen haben, in bürokratisch-nüchterner Weise auf die Tageszeit hingewiesen – und das gerade ohne jeden romantischen Anklang. 80 Insbesondere mit der griechischen Gaststätte wird das Gedicht ein 1970er-JahreText: Es war das Jahrzehnt, in dem die griechische Esskultur in deutsche Städte einzog und – nicht zuletzt auf die linksintellektuelle Szene – einigen Reiz ausübte. Vgl. dazu: Hans H. Hiebel: Einer jener klassischen. In: Röhnert / Geduldig, Brinkmann, Bd. 2., S.547-551, hier: S. 550. 81 Anna Chiarlioni weist auf die „lexikalische Opposition ‚Schluß‘ – ‚offenen‘“ hin. Chiarloni, Einer jener klassischen, S. 552. 82 Auch Gerhard Lampe spricht von „Fremdheiten“, die den „Wahrnehmungsrahmen“ konfrontieren. Lampe, Ohne Subjektivität, S. 144.

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vollziehen sucht:83 Die Inversion führt dazu, dass der Tango als Akkusativobjekt den Auftakt bildet, während das Subjekt des Satzes erst zu Beginn der vierten Strophe genannt wird, nachdem die genauere Bestimmung der Zeit und des Ortes mit einigen Details erläutert wurden. 84 Die komplizierte hypotaktische Satzkonstruktion führt in der dritten Strophe zu einem Aneinanderstoßen von drei Verben: „gehört, hören, ist“. 85 Zwei Verben klingen zudem fast identisch, meinen aber sehr unterschiedliches, so dass sich die Spannung kurz vor der Nennung des ‚wunderbaren‘ Subjekts noch einmal staut: Die akustische Wahrnehmung der Tangomusik muss gegen einige – syntaktische wie semantische – Hindernisse durchgesetzt werden, um dann endlich als ein „Wunder“ bezeichnet werden zu können. Und auch wenn dieses „Wunder“ nur „beinahe“ eines ist, so findet man Vergleichbares, dem Religiösen oder Esoterischen entstammendes Vokabular selten in Brinkmanns Lyrik, die sich gemeinhin alltagsweltlicher, pragmatischer und sachlicher Sprache bedient. Ein solch sachlich-nüchterner Sprachgestus dominiert auch in ‚Einen jener klassischen‘, so dass das „Wunder“ aus diesem Gedicht ebenfalls herausragt, um die Musikwahrnehmung im Umfeld von verstaubtem Sommerende, Ladenschlusszeiten und einer dunklen Wirtschaft zu einem ganz besonderen ‚singulären‘ Ereignis zu machen.86 Wenn „Wunder“ der Höhepunkt des Gedichts ist, so sind die nachfolgenden Versuche, dieses Erlebnis einzuordnen, schon schwächer und entsprechen eher dem alltäglichen Sprachgebrauch: Dreimal wird die zeitliche Bestimmung „Moment“ wiederholt, um sie dann jeweils mit „Überraschung“, „Aufatmen“ und „Pause“ näher zu bestimmen. Das „Wunder“ dauert also nur einen kurzen, ‚flüchtigen‘ „Moment“;87 es wird danach immer weiter

83 Lampe, Ohne Subjektivität, S. 143. 84 Lampe, Ohne Subjektivität, S. 144. 85 Es stimmt zwar, dass Verben in diesem ersten Satz nicht dominieren und dass „die bloße (verb-lose) Setzung von Substantiven“ auffällt; aber gerade diese Aneinanderreihung von Nomina führt nicht nur zu einer „,photographischen‘ Momentaufnahme“, sondern eben zu der Kumulation von Verben an einer Stelle, ein Sachverhalt, der leicht hätte vermieden werden können, der aber offensichtlich gewollt wurde. Vgl. dazu: Hiebel, Spektrum, S. 509. 86 Hiebel, Spektrum, S. 508. 87 Hiebel, Spektrum, S. 509.

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‚normalisiert‘, um dann schließlich nur noch zu einer „Pause“, also zu einer regelmäßigen Unterbrechung im Schul- oder Arbeitsprozess zu werden.88 Und wenn auch das „Wunder“ auf diese Weise immer weniger ‚wunderbar‘ wird, so bleibt es gleichwohl als ewig präsentisches Ereignis bestehen, denn im Unterschied zum zweiten Satz des Gedichts ist dieser lange erste Satz, der sich dem Hören des Tangos unter widrigen Umständen widmet, im Präsens gehalten und damit in einer nicht enden wollenden Gegenwart. Hingegen ist der zweite Satz nicht nur im Präteritum verfasst, sondern er ist auch syntaktisch wesentlich einfacher gebaut und beginnt – fast klassisch – mit einem Subjekt in der ersten Person Singular. Wenn die überraschende Wahrnehmung fremder Klänge als komplexer Vorgang erst einmal erfasst ist, stellt das ‚schnelle Aufschreiben‘ kein Problem mehr dar, sondern wird zu einem ein fast natürlichen, selbstverständlichen Vorgang, der in der Subjekt – Prädikat – Objekt-Konstellation flüssig und leicht daherkommt: „Ich // schrieb das schnell auf […]“. Das Aufschreiben ist die Befreiung; damit wird das Ereignis zu einem dauerhaften, bleibt dieser schwarze Tango auch dann noch hörbar, wenn er „in der verfluchten // dunstigen Abgestorbenheit Kölns / wieder erlosch[en ist].“ Der metapoetische Kommentar ist nicht mehr so gedrechselt wie im königsblauen Gedicht der frühen Jahre und bedarf keiner Angaben mehr zu den benutzten Schreibutensilien. Kompliziert ist es, die Wahrnehmung zu sortieren; aber wenn das geschafft ist, geschieht der Schreibakt wie von selbst. Ineinanderfließen in diesem Gedicht die Gegenwartsorientierung, die Konzentration auf eine sinnliche Wahrnehmung und der autoreferentielle poetische Kommentar, der zwar syntaktisch und strophisch von dem Hörerlebnis getrennt ist, der ihm aber doch so nah ist, dass er in ein- und

88 Darüber hinaus war zu diesem Zeitpunkt der Slogan ‚Mach mal Pause‘ durch die Coca Cola-Werbung schon lange eingeführt und bekannt. Vgl. dazu: http://www.wirtschaftswundermuseum.de/coca-cola-reklame-1.html (zuletzt abgefragt am 24.12. 2013). – Ob man wirklich von einer ‚glücklichen Pause‘ sprechen kann, ist angesichts der Minimierung des Wunders zur Pause schon eine berechtigte Frage. Mit Worten wie ‚Glück‘ sollte man in Verbindung mit Brinkmanns Texten wohl ohnehin eher vorsichtig umgehen. Vgl. dazu: Hiebel, Spektrum, S. 509. Hingegen erscheint Hiebels Vorschlag, dass dieser Tango „ein ‚Loch‘ in den Alltag“ schlägt, sehr viel nachvollziehbarer und auch dem brinkmannschen Sprachgebrauch näher. Vgl. dazu: Hiebel, Spektrum, S. 509.

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demselben Gedicht Platz hat. Außerdem bildet das ‚Ich‘ die Klammer zwischen dem akustischen Ereignis und dem Aufschreiben: Es ist das letzte Wort der sechsten Strophe, in der der Tango-Satz endet und der SchreibSatz beginnt, der dann als Strophenenjambement mit „schrieb“ seine nüchterne Fortsetzung in der siebten Strophe erfährt. Das, was in ‚Alle Gedichte sind Pilotengedichte‘ abstrakt und deduktiv behauptet werden muss, versteht sich in ‚Einer jener klassischen‘ von selbst: auf der semantischen Ebene, weil der schwarze Tango in der tristen Kölner Straße in einem düsteren Sommerszenario als Sensation glaubhaft ist und bleibt; und auf der formalen Ebene, weil sich die Wahrnehmungsproblematik in dem gedrechselten Bau des ersten Teil des Gedichts und der erfolgreiche lyrische Produktionsprozess im simpel gebauten letzten Teil spiegelt. Zwar kann vielleicht ‚alles zu einem Gedicht werden‘, aber ‚Einer jener klassischen‘ demonstriert doch, dass sowohl die Auswahl der Gegenstände als auch die kritische Aufmerksamkeit, die dem Wahrnehmungsprozess gewidmet wird, nicht unerheblich sind für die poetische und metapoetische Botschaft. Wie konkret und gleichzeitig allgemein die Aussage im Tango-Gedicht ist, wird deutlich, wenn man es mit ‚Gedicht‘ vergleicht, das sich ebenfalls in Westwärts 1&2 findet.89 Sowohl die hier aufgerufene triste Realität als auch die Stimmung des lyrischen Sprechers sowie der abschließende utopische Gestus sind unbestimmter, existentieller und metaphorischer. Dem ‚Gedicht‘ fehlen die geographisch-kulturellen Verstaubtheiten eines Kölner Sommerabends, gegen den sich das Hören der Tangomusik durchsetzen muss. In ‚Gedicht‘ hingegen erklingt die Musik nicht, sondern geht die „zerstückelte Pavane“ unter in „Staub“, „Neon, Zeitungen und Schienen“, um dann in existentiellen Fragen und metaphorischen Antworten zu münden: „was krieg ich jetzt, / einen Tag älter, tiefer und tot? // Wer hat gesagt, daß sowas Leben / ist? Ich gehe in / ein anderes Blau.“ Im Unterschied zu ‚Einer jener klassischen‘ bleibt bei ‚Gedicht‘ offen, ob der Gang in „ein anderes Blau“ als metapoetischer Kommentar oder als utopisch-geträumter Ausweg aus einer ‚zerstörten Landschaft mit Konservendosen und leeren Hauseingängen‘ verstanden werden kann. „Ich // schrieb das schnell auf“ wird so gesehen zu einem ebenso klaren wie auch machbaren poetologischen Programm, das ohne jeden romantischen

89 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 61.

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Schnörkel auskommt. Aber wenn man das „andere Blau“ in Verbindung bringt mit „königsblau“, das den Schlussakkord bildet von ‚Von der Gegenständlichkeit des Gedichts‘, gewinnt dieses Farbattribut vielleicht doch noch metapoetische Relevanz, die zwar versteckt, aber doch auch wirkungsmächtig daherkommt; und das nicht zuletzt wegen der Nennung einer bedeutungsträchtigen Farbe.90 In den metapoetischen Gedichten spielen die Farben eine beträchtliche Rolle. Ohne die Farbakzente blieben alle genannten Gedichte aussageärmer, insbesondere aber ‚Von der Gegenständlichkeit eines Gedichts‘ und ‚Einer jener klassischen‘, während ‚Alle Gedichte sind Pilotengedichte‘ auch unter diesem Gesichtspunkt nur eine Randstellung einnimmt. Dabei wird die ‚königsblaue Tinte‘ durch die Versstruktur eher in die Nähe des ‚Königlichen‘ gebracht und aus dem Alltäglichen gelöst; wird der ‚schwarze Tango‘ durch seine synästhetische Rhetorik zu einem grenz- und zeitenüberschreitenden Wahrnehmungsphänomen, der des ‚schnellen Aufschreibens‘ wert ist. Überhaupt hat unter den besprochenen metapoetischen Texten vielleicht gerade das ‚Tango-Gedicht‘ die größte Nähe zu einer filmisch geprägten dynamischen Wahrnehmungsform, „mit der das Ich fähig ist“, das Gehörte „blitzschnell in Worten einzufangen bzw. durch die ihn umgebenden Bilder einzukreisen“.91 Die Simultanität von Ton und Bild, die charakteristisch ist für die filmische Präsentation, wird in diesem Gedicht herausgestellt und dabei in der syntaktisch aufwendigen Konstruktion des ersten Satzes durchaus als Herausforderung in der sortierendordnenden Wahrnehmung begriffen. Ohne eine solche Nähe behaupten oder festschreiben zu wollen, ließe sich ‚Einer jener klassischen‘ gleichwohl als Gedicht lesen, das ohne Filme und deren Wahrnehmung in dieser Form nicht hätte geschrieben werden können. Dass eine mögliche filmische Kontextualisierung sich nicht unmittelbar aufdrängt, sondern nur indirekt anklingt, ist vielleicht eine weitere Stärke dieses Textes.

90 Vgl. dazu: Elisabeth K. Paefgen: Photographie. In: Röhnert / Geduldig, Brinkmann, Bd. 1, S. 53-62, hier: S. 57-60, sowie Benn: Probleme der Lyrik, S. 519-520. 91 Röhnert, Springende Gedanken, S. 378.

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V ON ‚ ROTEN T OMATEN ‘ ZUR ‚ SCHWARZEN T RAUER ‘: G EGENWART UND F ARBEN Wenn es im Kontext der metapoetischen Gedichte vielleicht ein wenig verwundert, dass Farbworte so kontinuierlich auftauchen, so überrascht ein farborientierter Schwerpunkt weniger, wenn die Gedichte betrachtet werden, die eine visuelle Augenblickswahrnehmung in Sprache umsetzen und damit haltbar machen wollen. Sichtbares kann mit Farbe zu tun haben, kann schnell und treffend sprachlich erfasst werden, wenn ein Farbwort eine sowohl deutliche als auch starke optische Wirkung erzielt, die vielleicht sogar als Lösung probiert wird, um aus der ‚knapp bemessenen Gegenwart‘ eine Dauer zu erreichen, die über den Augenblick hinausgeht. Diese These gilt es im Einzelnen zu überprüfen. Besonders hervorstechend ist der Umstand, dass es bei den zwischen 1967 und 1970 entstandenen Gedichten zahlreiche gibt, die Farbattribute bereits im Titel tragen, so dass schon die Überschrift eine farbige Botschaft sendet.92 Keines dieser Gedichte aber ist so prägnant auf die bloße Nennung von Adjektiv und Substantiv konzentriert wie ‚Rote Tomaten‘. Die anderen Titel erzählen ,Geschichten‘93 oder behandeln das Farbattribut nachgestellt beziehungsweise zusammen mit einem Artikel.94 Einzig ‚Gelb‘ lässt die – strahlende, helle, leuchtende – Farbe ganz allein für sich sprechen und vertraut damit darauf, dass dieses Attribut ohne zusätzliche Angaben auskommen und eine (symbolische?) Bedeutung erlangen kann, die über einen unmittelbaren Kontext hinausgeht.95 Im Unterschied dazu ist im ‚Tomaten‘-Gedicht das Farbattribut konkret auf einen alltäglichen und bekannten Gegenstand bezogen, der zudem als Nahrungsmittel durch den Verzehr oder eine eventuell vorher

92 Brinkmann, Standphotos, S. 248. Das Gedicht erschien erstmals 1968 in dem Band Die Piloten. 93 ‚Weißer Riese in der Luft, in: Brinkmann, Standphotos, S. 202. ‚Rosa Eiskrem nach dem Frühstück‘, in: Standphotos, S. 203. ‚Das weiße Bettlaken vor dem Fenster‘, in: Brinkmann, Standphotos, S. 305. ‚Die gelbe Fußmatte liegt vor der Badewanne‘, in: Brinkmann, Standphotos, S. 321. ‚Limonade im Grünen‘, in: Brinkmann, Standphotos, S. 337. 94 ‚Gummi, grün‘ in: Brinkmann, Standphotos, S. 150. ‚Die rote Farbe‘, in: Brinkmann, Standphotos, S. 197. 95 Brinkmann, Standphotos, S. 220.

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eintretende Fäulnis vergänglich wird. ‚Rot‘ dient der Beschreibung eines Nachtschattengewächses, das weder kostbar, außergewöhnlich oder von längerer Haltbarkeit ist. Aber das Besondere an diesem Gemüse ist seine rote Farbe, die „plötzlich“ ‚einen überraschenden‘ „Effekt“ und „ein Bild“ ergibt, „das dich auf der Stelle / umwirft, mitten am Tag“. Damit wird auch ‚Rote Tomaten‘ ein Gedicht, das eine Gegenwartswahrnehmung thematisiert – und zwar eine optische und nicht wie in ‚Einer jener klassischen‘ eine akustische. Und wie auch die Klänge des ‚schwarzen Tangos‘ nicht weiter beschrieben werden, so wird auch in ‚Rote Tomaten‘ gar nicht erst versucht, was sowieso nicht gelingen kann: nämlich mit Worten einen farbigen visuellen Sinneseindruck einzufangen. Vielmehr geht es auch in diesem Text um die Wirkung, die ein alltäglicher Gegenstand erzielt, wenn er mit seiner roten Farbe unvermittelt neu und anders gesehen wird. Im Bild der ‚geballten‘ „Faust, die sanft / auf beide Augen gedrückt“ wird, findet die Rhetorik des Gedichts einen Ausweg für das Problem, sichtbar Rotes in schwarzweiße Buchstaben zu überführen und damit zumindest die schmerzhafte Kraft seiner farblichen Wirkung bildlich zu erfassen. Das Gedicht bleibt nicht bei dem gegenwärtigen Eindruck stehen, sondern denkt über seine Vergänglichkeit wie auch darüber nach, dass „sich der / Abdruck noch länger auf / beiden Augen“ hält, „ohne daß man // viel damit anfangen kann“. Ob damit auf das optische Phänomen angespielt wird, dass ein längeres Schauen auf einen Gegenstand eine andere farbliche Nachwirkung auf der Iris ergibt, ist offen. Auf jeden Fall ‚bleibt‘ ein „Abdruck“, auch wenn das Original nicht mehr da sein sollte. Das angesprochene Du zieht eine andere Konsequenz aus diesem neuen Blick auf einen alltäglichen Gegenstand als der lyrische Sprecher in ‚Einer jener klassischen‘: Es schreibt nichts auf, sondern nimmt sich einen zukunftsbezogenen Neuanfang vor, dessen Auslöser die „Erinnerung an soviel rote / Tomaten“ ist, „wie man vorher / noch nie auf einen Haufen / liegengesehen hat.“ Kein großartiges „Du musst dein Leben ändern“-Ende,96 aber gleichwohl eines, das sich mit der Gegenwart nicht begnügt und das versucht, aus dem einmaligen ‚roten Ereignis‘ etwas Dauerhaftes zu machen. Während die akustische Sensation in materielle, geschriebene Dauerhaftigkeit überführt

96 So lautet der letzte Vers im berühmten Sonett Rainer Maria Rilkes ‚Archäischer Torso Apolls‘.

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werden muss, geht es bei der optischen Farbsensation eher um die ideelle Macht einer gesteigerten Wahrnehmung. Farben sind auch dann wichtig, wenn sie nicht schon im Titel des Gedichts vorkommen, wie überhaupt im späteren Werk darauf verzichtet wird, diese ‚gefährlichen‘, weil ‚kitschnahen‘ Attribute bereits im Inhaltsverzeichnis zu exponieren.97 Aber wie schon bei den metapoetischen Gedichten deutlich wurde, wird in den Texten selbst weiterhin mit Farben operiert, und zwar auf eine aussagekräftige und bedeutungsträchtige Weise. Ohne ‚Königsblau‘ wäre das Schreiben nicht so siegreich; ohne ‚Schwarz‘ wäre der Tango nicht so wild; und selbst das ‚Gelb‘ bringt im wahrsten Sinne des Wortes Farbe in das sich im Kreis drehende Piloten-Gedicht. Fast scheint es so, als käme durch die sorgfältig gesetzten farblichen Akzente eine poetische Grundierung in die nüchtern-sachlichen Texte hinein, die die übrigen Worte oft nicht anstreben und oft auch nicht erreichen. Aus Brinkmanns Lyrik spricht ein erstaunliches Vertrauen in Farbattribute. Das konnte in Verbindung mit dem frühen ‚Gegenständlichkeits‘-Gedicht nachgewiesen werden, in dem die Farbe der Tinte eine wichtige Funktion hat. Man kann dies eventuell dem ebenfalls sehr früh erschienen Gedicht ‚Photographie‘ noch eindeutiger entnehmen: ‚Photographie‘ besteht nur aus elf Worten und wirkte sicherlich weniger markant, trüge die mit Worten photographierte Frau nicht einen „blauen / Mantel.“98 Gerade weil der Text so reduziert und knapp daherkommt, ragt das Farbattribut aus dem Textfeld heraus, zumal es das einzige Attribut überhaupt in diesem Gedicht ist. Aber das ist sicher gesetzt und bringt seine ihm entsprechende optische Wirkung hervor. Wie im ‚Tomatengedicht‘ geht es auch in ‚Photographie‘ um die

97 In Westwärts 1&2 gibt es kein einziges Gedicht, das bereits im Titel ein Farbadjektiv trägt. Es wäre ja ein Leichtes gewesen, ‚Einen jener klassischen‘ schon im Titel um ‚schwarz‘ zu ergänzen und ‚Tango‘ das erste Wort des Gedichts sein zu lassen, aber darauf wird verzichtet! Warum auch immer, aber auf jeden Fall ist die Wirkung der ‚schwarzen Musik‘ eindringlicher und sozusagen ‚lauter‘, wenn Attribut und Substantiv nicht durch ein Enjambement getrennt sind. 98 „Mitten / auf der Straße / die Frau / in dem / blauen / Mantel.“ Brinkmann, Standphotos, S. 52 (Hervorh. E.K.P.). Das Gedicht erschien erstmals 1963/’64 im zweiten Gedichtband Brinkmanns, der den Titel Le chant du monde trägt. Vgl. dazu: Paefgen, Photographie.

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Verbindung von Bild und Sprache, von Sichtbarem und Farbe, von unmittelbarer Präsenz und Sprache. An weiteren Beispielen soll diskutiert werden, wie Brinkmann mit Farbattributen arbeitet, wenn er bildähnliche Gedichte schreibt, die sich an dem abarbeiten, was eigentlich die Schwäche der Sprache ist: Sichtbarkeit. 99 Vielleicht gehört das Einfangen von Augenblickserfahrungen auch nicht zu den Stärken der Sprache, sondern ist ebenfalls eine Domäne des Bildes; aber auch hier stellt Brinkmann lyrische Versuche an, in eine produktive Konkurrenz zur bildlichen Darstellung zu treten und auszuprobieren, wie viel Gegenwart in ein Gedicht hineinpasst. In der ‚blauen Photographie‘ hat er gezeigt, dass mit wenigen Worten und knappen Versen eine Präsenz erreicht wird, die so etwas wie die ewige Dauer eines Augenblicks schafft, während sich in ‚Rote Tomaten‘ schon wieder einige Zukunft vor die Gegenwart drängt – trotz des überwältigenden Rots. Schauen wir uns weitere Versuche in diese Richtung an! In einen Augenblicks-Zusammenhang kann man auch ‚Samstagmittag‘ einordnen, ein Gedicht, das 1970 erstmals erschienen ist und das damit sozusagen in die Endphase der frühen Lyrik gehört. 100 Auch ‚Samstagmittag‘ ist eine Momentaufnahme, ein still, ein Bild in Worten, das aber – im Unterschied zu ‚Rote Tomaten‘ – gerade nicht die Wirkung der Wahrnehmung thematisiert, sondern das vielmehr versucht, in Worte zu überführen, was gesehen wird. Und während man aus den ‚Roten Tomaten‘ nicht wirklich ein Bild herstellen könnte – oder doch zumindest nur ein sehr beliebig-allgemeines –, ist ‚Samstagmittag‘ so konkret, dass nach diesen sprachlichen Anweisungen eine Photographie, ein Gemälde oder eine Filmszene hergestellt werden könnten. Wichtig und aussagekräftig ist aber auch der nicht abbildbare Titel des Gedichts, der mit seiner genauen Zeitangabe ein kulturelles Signal für die Jahrzehnte setzt, in denen in (West-)Deutschland die Ladenschlussregelungen vorsahen, dass am Samstagmittag die Geschäfte schließen mussten und sich urplötzlich eine gähnende Stille über die bis dahin betriebsamen Innenstadtbezirke

99

„Das Sichtbare gehört nicht zu den Stärken der Dichtung.“ Le Rider, Farben und Wörter, S. 32.

100, Brinkmann, Standphotos, S. 308. – Röhnert und Geduldig bezeichnen die Phase zwischen 1970 und 1972 als ‚Lyrischen Umbruch‘. Jan Röhnert / Gunter Geduldig: Einleitung. In: Röhnert / Geduldig, Brinkmann, Bd. 1, S. 291-293, hier: S. 291.

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ausbreitete.101 Übergangslos wurde dieser Wochentag geteilt in ein hektisch-betriebsames und ein lähmend-leeres öffentliches Leben. Im Unkontrollierten Nachwort finden sich einige Anmerkungen Brinkmanns, die diese ganz spezielle Stimmung einzufangen versuchen: „[…] Fragen an einem Samstagnachmittag mit ausgestorbenen Straßen, erloschenen Häusern, Treppenhäusern, Stille ist nicht Schweigen, die meisten schweigen.“ „Der Samstag dauert an.“

102

103

„Was ist das für’n finsterer Samstagnachmittag, wa?“

104

„Und da soll ich an Gesellschaft denken? Da soll meine Poesie gesellschaftlich nutzbar sein, als Reaktion darauf? Der Samstagnachmittag verlängert sich […].“

105

Es ist eine besondere Art der Tristesse, die gerade mit diesem künstlich halbierten Wochentag verbunden war, der eigentlich die freie Zeit des Wochenendes einleitete, im provinziellen geteilten Deutschland aber fast symbolisch für eine trostlose Stimmung steht, die sich an diesem Tag besonders in den Städten, aber eigentlich über das ganze Land ausbreitete. Der Titel des Gedichts ist in gewisser Weise zeitbezogen und -abhängig, wenngleich er auch über diesen chronologischen Zusammenhang hinaus verständlich bleibt – wie auch das gesamte Gedicht. Die vier durch Sterne deutlich voneinander getrennten Strophen ‚zeichnen‘ drei Fensteransichten und machen in der abschließenden einversigen Strophe eine Aussage über das (Regen-)Wetter. Auch wenn das beobachtende Ich nicht in den Versen vorkommt, so lässt sich die Position eines ‚Städtebewohners‘ vorstellen, der aus seiner Wohnung heraus die gegenüberliegende Hauswand betrachtet und die dabei gemachten visuellen Eindrücke festhält. Metonymisch aufgerufen werden dabei ein „Männerarm

101, Vgl. dazu: http://www.schule-bw.de/unterricht/faecher/wirtschaft/material/un terrichtwi/bwl/berufsbez/ladenschluss/ab_info_ladenschluss.pdf (zuletzt abgefragt am 31.12. 2013). 102 Brinkmann, Unkontrolliertes Nachwort, S. 261. 103 Brinkmann, Unkontrolliertes Nachwort, S. 265. 104 Brinkmann, Unkontrolliertes Nachwort, S. 271. 105 Brinkmann, Unkontrolliertes Nachwort, S. 276. – Vgl. dazu auch: Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 237. – Die Samstagabende und die Sonntage kommen eigentlich nicht besser weg in diesem Text.

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(nackt)“, „ein Stück Pappe“, das vor „ein anderes Fenster“ „geheftet“ ist und ein „großer grüner Kaktus“, der „nach draußen gestellt worden“ ist. Zwei Fenster sind es bestimmt, die da beschrieben werden; ob der Kaktus auf dem Fensterbrett eines dritten Fensters steht, bleibt fraglich; möglicherweise deutet die durch das sprachlose Zeichen vollzogene Trennung daraufhin, dass es sich um ein weiteres Fenster handelt. Hoffnungslosigkeit spricht aus den beiden ersten ‚Bildern‘: Sowohl das „Stückchen Unterhemd“, das man an dem nackten Männerarm noch erkennen kann, als auch die „Pappe“, die vielleicht eine zerstörte Scheibe ersetzen soll, deuten auf ärmliche Verhältnisse und auf Zustände hin, die unveränderbar erscheinen. Es ist ein Bild, das da geschrieben entsteht; es ist aber auch eine Sozialstudie, die von unendlich vielen Hausfassaden in weniger privilegierten Wohnbezirken von Groß- und Kleinstädten gemacht werden könnte. In der ersten Strophe taucht kein ‚ganzer Mensch‘ auf; in den beiden anderen Strophen wird durch die passivischen Satzkonstruktionen ein (menschliches) Subjekt vermieden. Es sind zudem abweisende Gesten, die mit dem Zuziehen der Gardine in der ersten und mit dem Anheften der undurchsichtigen Pappe in der zweiten Strophe verbunden sind. Da wird kein Kontakt nach außen hergestellt, vielmehr geschieht genau das Gegenteil, wird das Innen gegen das Außen abgeschottet. Es ist die Frage, ob in dem Herausstellen des grünen Kaktus’ in der dritten Strophe eine vorsichtig kommunikative Geste gesehen werden kann, eine Aktion, die gegen die Trübsal gerichtet ist und die eine Verbindung zwischen Innen und Außen herstellt. Dabei ist der Kaktus keine freundliche Pflanze, sondern wirkt mit seinem stacheligen Äußeren eher feindlich und fast schon aggressiv. Außerdem gilt er als robust und widerstandsfähig, da er längere Trockenzeiten aushalten kann. Aber der in der dritten Strophe nach draußen gestellte ‚große grüne‘ „Kaktus“ bekommt als einziges Substantiv des Textes zwei Attribute zugeordnet; und das in der geläufigen syntaktischen Stellung, während das ‚nackt‘ des Männerarms in der ersten Strophe nicht nur nachgestellt ist, sondern nachdrücklich in Klammern gesetzt noch einmal in besonderer Weise vom Subjekt des Satzes abgetrennt wird: „Ein Männerarm (nackt) mit einem Stückchen Unterhemd zieht die Gardine wieder zu. […]

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Ein großer grüner Kaktus ist nach draußen gestellt worden. Er soll noch größer werden.“

Der Aktivität des nackten Männerarms steht die Passivität des grünen Kaktus gegenüber, der aber wiederum mit dem einzigen Farbattribut des Gedichts eine Auszeichnung erhält, die möglicherweise gegen die Trostlosigkeit der übrigen Fensterbilder angeht. Der vorsichtige Optimismus, der mit der großen grünen Pflanze verbunden werden könnte, wird durch den letzten Vers der Strophe bestätigt, in dem die Hoffnung auf Wachstum ausgesprochen wird. Damit wird auch aus dem augenblicksbezogenen still ausgebrochen und eine mögliche Zukunft aufgerufen. Möglicherweise lässt sich in dieser Zeitüberschreitung auch ein Beleg dafür sehen, dass ‚Samstagmittag‘ beeinflusst ist von filmischen Wahrnehmungen beziehungsweise von filmischen Darstellungsweisen, die sowohl (lange und ausdauernd) die Oberfläche von Dingen zeigen als auch die Motivation für Handlungen erklären können. Eine solche Sicht erhält Bestätigung in der letzten einversigen Strophe, in der mit einem kausalen Gliedsatz der biologische Grund für den Wachstumsprozess der Pflanze genannt wird: „Weil es regnet; hier … und da.“ Die beiden mehrdeutigen Adverbien lassen den banalen Regen zu einer weniger realistischen als vielmehr einer symbolischen Angelegenheit werden. Vor allem die drei Punkte, die die beiden Adverbien trennen, machen aus Regen ein Phänomen, das vorsichtig, behutsam und verhalten auf einen Wandel und damit auf Veränderung hoffen lässt. Es ist das Farbattribut und es sind die sprachlosen Zeichen im letzten Vers, die vorsichtig Signale setzen gegen die samstagmittägliche Lähmung und Langeweile. Dabei werden die Verse nicht pathetisch oder übertrieben gestaltet, sondern von wenigen Farb- und Wetterakzenten durchsetzt, um dem Ganzen doch noch ein wenig Hoffnung zu verleihen. Aber wäre der Kaktus nur ‚groß‘ und nicht auch noch ‚grün‘, gäbe es wohl deutlich weniger Hoffnung – wenngleich diese ‚stachelig‘ ist und damit auch nicht unbedingt gemütlich. Sind die Farbattribute in dem Tomatengedicht und in ‚Samstagmittag‘ eher freundliche Zeichen gegen eine ansonsten farblose Umwelt, so ist das in ‚Trauer auf dem Wäschedraht im Januar‘ aus Westwärts 1&2 anders.106

106 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 37.

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Der Titel ist ungewöhnlich im Werk Brinkmanns, der sich mit unmittelbaren Gefühlsäußerungen ansonsten sehr zurückhält. Insofern überrascht das Wort „Trauer“, das in aller Deutlichkeit eine emotionale Regung wiedergibt – und das auch noch als erstes Wort des Titels überhaupt. Allerdings wird diese heftige Gefühlsregung durch den „Wäschedraht“ konterkariert, da dieser als ein fast ironischer Kommentar zurücknimmt, was mit der extremen Emotionalität gewagt wurde: Es kann getrauert werden, aber nur in Verbindung mit einem banalen alltäglichen Gegenstand, der eine praktische Funktion erfüllt und der wohl – besonders im Unterschied zur ‚Trauer‘ – nicht häufig Gegenstand lyrischer Dichtung ist. Wenn ‚Trauer‘ und ‚Wäschedraht‘ eine ungewöhnliche Fügung sind, so passt der erste Monat des Jahres mit seiner winterlich karg-kalten Atmosphäre zu der aufgerufenen Gefühlsstimmung.107 Wir haben also mit dem Titel des Gedichts ein Spektrum abgesteckt, das von ‚großen Gefühlen‘ über banalen Alltag bis hin zu einer sowohl nüchternen als auch bedeutungsträchtigen Zeitangabe reicht. Elegische Erwartungen werden somit gleichzeitig geweckt als auch unterlaufen. Ein Zwiespalt anderer Art durchzieht das ganze Gedicht, das mit dem ‚krumm ausgespannten Stück Draht‘ „zwischen zwei / kahlen Bäumen“ und den verwickelten langen Beinen der ‚schwarzen Strumpfhose‘ (seltsame) Bilder der Trauer aufruft und das mit den bald wieder treibenden Blättern, dem frühen Morgen und nicht zuletzt dem „hellen, / frühen Licht“ eine fast schon optimistisch wirkende Stimmung verbreitet. Dabei wechselt die Atmosphäre von Strophe zu Strophe: Die erste und die dritte Strophe sind mit Draht und Strumpfhose eher düster, während die zweite und die vierte Strophe mit Blättern und hellem Licht freundlichere Töne anschlagen. Fast wirkt es, als könnte das Gedicht sich nicht richtig entscheiden, wie traurig es sein will, wie viel Trauer es zulassen soll; denn auch das aus den Beinen der aufgehängten Strumpfhose tropfende Wasser erinnert zwar aufgrund des Titels an Tränen, aber da es „in dem hellen, / frühen Licht auf die Steine“ fällt, fehlt diesen ‚Tränen‘ sozusagen die

107 „Die gewiss nicht zufällige phonetische Analogie der Diphtonge in ‚Trauer‘ und in ‚Januar‘ umklammert den Titel und deutet auf noch kommendes Klangmaterial im Gedicht hin.“ Gregory Divers: Trauer auf dem Wäschedraht im Januar. In: Röhnert / Geduldig, Brinkmann, Bd. 2, S. 777-784, hier: S. 780.

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richtige traurige Kulisse.108 Es ist somit eine Frage, ob die „,Trauer‘ […] wie drohend“ über dem Text ragt und ob sie wirklich das Gedicht „durchtränkt“.109 Ohne die „Trauer“ im Titel läse man das Gedicht wahrscheinlich unbefangener und ließe sich vor allem von dem hellen Licht am Ende zu einer Einschätzung verführen, die elegische Momente weniger berücksichtigt. Vielleicht assoziierte man eine ‚weinende Strumpfhose‘, aber ob man dem Bild Trauer attestieren würde, scheint doch mehr als fraglich; eher spräche man von melancholischen Zügen, die zudem nicht ganz hoffnungslos scheinen. Vielleicht übersähe man ohne den Titel die dramatische ‚Schwere‘ der ‚frisch gewaschenen‘ „schwarze[n] Strumpfhose“ mit ihren „verwickelten // langen Beinen“. Dieser Gegenstand ist das Zentrum des Gedichts, was schon daran zu erkennen ist, dass er die ausführlichste Beschreibung erhält, ihm eine ganze Strophe gewidmet ist und er das einzige Farbattri but des Gedichts bekommt. Das Kleidungsstück wird widersprüchlich gezeichnet: Es ist ‚frisch gewaschen‘, aber seine ‚langen Beine‘ sind ineinander verschlungen, und es hat mit ‚Schwarz‘ eine bedeutungsträchtige Farbe, die in Verbindung mit Kleidungsstücken sowohl Tod und Trauer signalisiert als auch existentialistischen und anarchistischen Protest gegen gesellschaftliche Konventionen, aber ebenso korrespondiert mit modischer Eleganz, die mit dem ‚kleinen Schwarzen‘ zum Ausdruck gebracht wird. 110 Der Titel des Gedichts legt die trauernde Bedeutung fest, da ohne ihn auch vollkommen andere Konnotationen möglich wären. An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich an mit ‚Einer jener klassischen‘, nicht nur, weil in beiden Gedichten dasselbe Farbattribut auftaucht, sondern auch weil beide Texte

108L Auf Lichtverhältnisse kommt Brinkmann in seinen beiden poetologischen Essays immer wieder zu sprechen. Vgl. dazu: Brinkmann, Film in Worten, sowie Brinkmann, Unkontrolliertes Nachwort. 109 Vgl. dazu: Divers, Trauer auf dem Wäschedraht, S. 782-783. 110L Mit dieser Kurzformel wird ein mehr oder weniger festliches Abendkleid bezeichnet, das zu vielen unterschiedlichen Anlässen als das passende weibliche Kleidungsstück galt. Vgl. dazu auch: Heide Nixdorff / Heidi Müller: Weiße Westen – Rote Roben. Von den Farbordnungen des Mittelalters zum indivi-duellen Farbgeschmack. Mit einem Beitrag von Bernhard Zepernick und Else-Marie Karlsson-Strese. Berlin 1983, S. 167-169.

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Augenblickswahrnehmungen thematisieren: 111 Während im Tango-Gedicht der Titel ein nicht abtrennbarer Teil des Gedichttextes und damit in diesen unmittelbar integriert ist, steht der Titel des Strumpfhosen-Gedichts fast losgelöst von dem Gedicht selbst und bildet so etwas wie eine thetische Deutung dessen, worum es im nachfolgenden Text geht. Darüber hinaus wird die Deutung der akustischen Tango-Wahrnehmung erarbeitet, während die wassertropfenden Strumpfhosenbeine als visueller Eindruck festgehalten werden. Beide Wahrnehmungsobjekte sind schwarz: mal rhetorisch, mal ‚realistisch‘; beide erzeugen ein Innehalten im Alltag, das mit starken Emotionen verbunden ist: „Wunder“ und „Trauer“. Und mehr – aber auch nicht weniger! – ist es eigentlich nicht. Das „Wunder“ wird zur „Pause“ heruntergestuft, und die „Trauer“ kann nicht sicher in ihren Ursachen ergründet werden.112 Jan Röhnert vergleicht die „Abfolge der sich um den ‚Wäschedraht‘ gruppierenden Eindrücke […] mit der Suchbewegung einer Kamera […], die sich ihrem mit dem Signum eines weiblichen Alltagsfetischs versehenden Objekt […] zoomend nähert, optisch an ihm entlangfährt, es ‚abtastet‘ […].“113 Vielleicht ist der Vergleich mit einer Kamera auch die Erklärung dafür, dass – im Unterschied zu den metapoetischen Texten – in den hier verhandelten Augenblicksgedichten kein sprechendes Ich vorkommt. Ein observierendes Gerät übernimmt die Kontrolle und Regie, weil es ‚objektiver‘ beobachten und registrieren kann. Dabei steigern sich die Gedichte in ihrem Versuch der neutral-distanzierten Wahrnehmungsposition: In ‚Rote Tomaten‘ ist noch von einem unbestimmt-

111 Und weil sie durch nur zwei Seiten in derselben Gedichtsammlung voneinander getrennt sind. Vgl. dazu: Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 35 und S. 37. 112 So konzentriert sich Gregory Divers bei seiner Deutung insbesondere auf eine erotische Konnotation, die mit der ‚schwarzen Strumpfhose‘ verbunden ist, und sieht den Grund für ihr ‚Weinen‘ im Auswaschen und Beseitigen des durch sexuelle Aktivitäten entstandenen „Dreck der Passion“. Vgl. dazu: Divers, Trauer auf dem Wäschedraht, S. 783-784. M.E. wird an dieser Stelle überinterpretiert, während Röhnerts Vorschlag, in der Abwesenheit der Strumpfhosenträgerin den Grund für die Trauer zu sehen, durchaus eine Überlegung wert ist. Vgl. dazu: Röhnert, Springende Gedanken, S. 379. 113 Röhnert, Springende Gedanken, S. 379.

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distanzierten ‚Man‘ und einem ‚Du‘ die Rede, während in den beiden anderen Gedichten jegliches Subjekt fehlt: Niemand studiert die Häuserwand, niemand beobachtet die ‚trauernde Strumpfhose‘ im frühen Morgenlicht. Auf diese Weise wirkt das sprachlich ‚Gezeigte‘ in ‚Samstagmittag‘ und ‚Trauer auf dem Wäschedraht im Januar‘ noch stärker als wahrgenommenes Objekt, als etwas, das unabhängig vom Betrachter existiert und damit auch zeitlich weniger gebunden ist. Zwar ist eine emphathische Haltung auch in diesen beiden Gedichten durchaus auszumachen, aber da sie nicht an ein Subjekt gebunden ist, bleibt sie lebloser und unbestimmter. Vielleicht bringen die Farben ein gewisses Leben in die Bilder beziehungsweise kommentieren das Beobachtete indirekt. Sie sind indirekter Ausdruck von Emotionen wie auch von einer starken Augenblickswahrnehmung. In ‚Rote Tomaten‘ wird das noch ausgesprochen und reflektiert, in den beiden anderen Gedichten bleibt es ungesagt, ist aber vielleicht gerade deswegen noch wirkungsvoller.

B RINKMANNSCHE L AND - SCHAFT - EN „Es handelt sich beim Naturgedicht […] offenbar um eine komplexe, lyrische Einheit und Vielheit, die ihrerseits aus der Beziehung von Natur, poetischer Sprache, Inhalt und Darstellung besteht. Wer nun fragt: ‚Was ist das Naturgedicht?‘, dem kann an dieser Stelle geantwortet werden: ‚Es ist genau dieses komplexe Beziehungsgefüge. ‘“

114

„Die deutsche Lyrik war mir äußerst widerwärtig und langweilig, immer Gräser, Natur, Gefühle, künstliche Metaphern, unkonkret, viehlosophisch, elend gebosselt intellektuell auf die deutsche Bosselart – was hatte das mit mir zu tun, was ich sah, fühlte, was mich einfach jeden Tag umgab?“

115

Kann man Brinkmanns Texte überhaupt in einem wie immer umschriebenen naturlyrischen Kontext diskutieren? Was macht ein Poet, der die Tauben auf dem Dach „ficken“ lässt, aus einem vergleichsweise behäbigen Thema wie ‚Natur‘, das eher an die stimmungsbetonte

114 Kohlroß, Naturgedicht, S. 75. 115 Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 39-40. (Hervorh. E.K.P.).

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goethesche und eichendorffsche Dichtung des 18. beziehungsweise 19. Jahrhunderts erinnert?116 Passt eine so lange tradierte motivische Orientierung zu einem Werk, das sich eher von der populären (amerikanischen) Kultur der 1960er und 70er Jahre beeinflusst zeigt und das sich heftig-kritisch von der deutschen „Gräser“-Tradition abwendet? Dieses Kapitel ist – in Anlehnung an Brinkmann selbst – mit dem Begriff ‚Landschaft-en‘ überschrieben und vermeidet den Terminus ‚Natur‘. Während mit Natur eher der ‚gottgeschaffene‘ Teil der Welt gemeint ist und ideologische Gefahren beim Gebrauch des Begriffs drohen, so impliziert ‚Landschaft‘ schon gestaltende Eingriffe und zivilisatorische Prozesse, die mit diesem ‚natürlichen‘ Part geschehen sind. Ein Aufrufen von dem, was immer unter Natur verstanden werden kann, ist mit einer solch thematischen Eingrenzung ebenso verbunden wie gleichzeitig eine weite Entfernung davon: Natur kommt ohne den Menschen aus, Landschaft nicht. Wenngleich also im hier entworfenen Kontext ein naturlyrischer Zusammenhang eher skeptisch gesehen wird, so soll das von Christian Kohlroß mutig vorgetragene Diskussionsangebot, Brinkmanns Lyrik auch als Beitrag zum modernen Naturgedicht zu verhandeln, gleichwohl angenommen und ein weiteres Mal überprüft werden. Schließlich ist auch von Interesse, wie ein so verbalradikaler Autor wie Brinkmann mit der – neben der Liebesthematik – vielleicht gefälligsten lyrischen Tradition umgeht, sich von ihr abgrenzt beziehungsweise sie neu zu gestalten versucht. Im Unterschied zur metapoetischen Dichtung, die eher die Philologen interessiert, handelt es sich beim Naturgenre schließlich um eines, das anthologische Auswahlen leitet und das sowohl für schulische Vermittlungsschriften als auch für hausgebräuchliche Zusammenstellungen von lyrischen Texten in der gliedernden Anordnung genutzt wurde

116, „Die Sache – das ist die Tatsache, daß Naturmotive in der Lyrik seit je einen breiten, in der Lyrik der letzten zweihundert Jahre, der bürgerlichen, aber vermutlich sogar den größten Raum eingenommen haben und womöglich noch einnehmen.“ Norbert Mecklenburg: Naturlyrik und Gesellschaft. Stichworte zur Theorie, Geschichte und Kritik eines poetischen Genres. In: Ders. (Hg.): Naturlyrik und Gesellschaft. Stuttgart 1977, S. 7-32, hier: S. 9.

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(wird?).117 Von Interesse ist auch, den Gebrauch der Farbworte in einem wie auch immer verstandenen naturlyrischen Zusammenhang besonders zu beachten, weil sich über den brinkmannschen Gebrauch des Farbsignals möglicherweise weitere Bearbeitungsmodi dieses Genres aufzeigen lassen. Eine auffällige (Natur-)Farbe gibt es jedenfalls in dem 1970 in Gras erstmals erschienenen Gedicht ‚Limonade im Grünen‘.118 Es handelt sich bei diesem Text, der zwischen Früh- und Spätwerk entstanden ist, um ein Gedicht, an dem exemplarisch Brinkmanns eigenwillige Behandlung dessen aufgezeigt werden kann, was im engeren oder weiteren Sinne in ein naturlyrisches Genre eingeordnet werden kann. Das deutet bereits der Titel an, der eine Spannung aufbaut zwischen „Limonade“ als einem industriellen Zivilisationsprodukt und der Nennung der Farbe, die metonymisch steht für Natur und vieles anderes, was an (idyllischen) Vorstellungen mit ihr verbunden ist. Ohne Künstlichkeit ist Natur nicht (mehr) zu haben, und ‚ins Grüne‘ fahren oder gehen, ist bereits als sprachliche Wendung abhängig vom Kontext einer städtischen Kultur, die ein solches Bedürfnis nach ‚grüner Natur‘ erst geschaffen hat. Die im Titel aufgebaute Spannung bleibt im Gedicht erhalten, wenn in vier dreiversigen Strophen zunächst die Differenz zwischen „Platz“ und „Stuhl“ verhandelt wird, dann die zwischen „grün“, „Blätter“ und „im Grünen“. Hierbei beginnt das Gedicht mit einer Arbeit an sprachlicher (Un-)Genauigkeit: „Was wir einen Platz nennen, / ist oftmals nur ein Stuhl.“119 Während mit „Platz“ offensichtlich weiträumige Konnotationen verbunden werden, wird der „Stuhl“ vergleichsweise gering bewertet und zum bloßen Sitzmöbel degradiert. Möglich ist auch, dass hier auf sprachliche Wendungen angespielt wird, die nach einem ‚besetzten Platz‘ fragen, aber damit „nur“ auf einen Stuhl hinweisen. Erst nachdem dieser Sachverhalt geklärt ist, folgt ein unbestimmtes ‚man‘, das sich auf diesen Stuhl setzt und auf „etwas“ „blickt, das grün ist. / Es sind Blätter. Das ist alles, / was man weiß“: von „Platz“ über „Stuhl“ zu ‚grünen Blättern‘. In drei Stufen wird dieses grüne Objekt thematisiert: als etwas, das man sehen kann; als etwas, das man bezeichnen kann und als etwas, das

117, Vgl. dazu: Elisabeth K. Paefgen: Der ‚Echtermeyer‘ (1836-1981) – eine Gedichtanthologie für den Gebrauch in höheren Schulen. Frankfurt/M 1990, S. 151-192. 118 Brinkmann, Standphotos, S. 337. 119 Brinkmann, Standphotos, S. 337. (Hervorh. E.K.P.).

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in einem Wissenszusammenhang steht. Unromantisch, nüchtern und analytisch wird das Naturobjekt behandelt, das eher ein sprachliches und kognitives Phänomen ist als ein visuelles; auf jeden Fall ruft es keinerlei Emotionen oder Empfindungen hervor. Ist das Gedicht ironisch? Handelt es sich um eine Brinkmann spezifische Ironie, mit der hier auf solche naturlyrischen Produkte geschaut wird, die aus ‚grünen Blättern‘ mehr und anderes machen als aus einem sichtbaren Gegenstand zu machen sind? Das ist durchaus möglich, wenngleich ein solch ironischer Distanzierungsgestus bis zum Ende der zweiten Strophe nicht unbedingt mitgelesen werden muss. Auffällig ist, dass in der dritten Strophe nicht nur ein Ich die Szenerie betritt, sondern dass das Gedicht ins Präteritum wechselt und damit aus dem subjektiven Erleben ein ‚erzählwürdiges‘ Ereignis wird – und zwar eines, das an ‚einem Nachmittag‘ „im Sommer“ stattfindet. Mit der einmaligen Erwähnung der Tages- und Jahreszeit wird ein assoziationsreicher Akzent gesetzt, der zwar zu den grünen Blättern passt, der aber ansonsten überhaupt nicht weiter genutzt wird, um die karge Ausstattung auszuschmücken. Auch das Ich erlebt nur einen besetzten Platz beziehungsweise einen Stuhl „im Grünen“, auf den es sich setzt; aber wenn es nur noch auf zitierte „Blätter“ schaut, ist der ironische Unterton in der letzten nur noch zweiversigen Strophe vielleicht doch lauter geworden und macht aus dem Einzigen, was grün ist in diesem Gedicht, ein bloßes sprachliches Phänomen. Viel bleibt am Schluss also nicht von dem, was mit dem Titel versprochen wurde: Weder wird die Limonade noch einmal erwähnt, noch bekommen die „Blätter“ je die Farbe Grün direkt attributiv zugeordnet: Sie sind sogar durch Satzgrenzen deutlich voneinander getrennt. ‚Natur‘ ist in ‚Limonade im Grünen‘ also eher ein sprachliches Phänomen: Grüne Natur ist, was wir so nennen, und wir schaffen es noch nicht einmal, „Platz“ und „Stuhl“ richtig zu bezeichnen. Es bedeutet weder Rettung noch Idylle noch Utopie. Es ist einfach da und bedeutet nichts weiter. Weder werden die Blätter nach biologischen Kriterien näher bestimmt, noch werden die vielfältigen sprachlichen Möglichkeiten genutzt, die Farbe Grün genauer zu beschreiben, und auch der „Sommer“ bringt keine ‚Stimmung‘ in die sachlich aufgerufene Atmosphäre. Darauf kommt es nicht an. Es kommt vielmehr darauf an, mit minimalen Hinweisen festzuhalten, was gesehen werden kann, und auf diese Weise ein naturlyrisches Umfeld aufzurufen, um es gleichzeitig zu destruieren.

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Schließlich besteht die ‚Naturwahrnehmung‘ nur im ‚Blicken‘ und ‚Sehen‘, andere Formen der Reaktion auf das ‚Grüne‘ werden nicht genannt. Brinkmanns „Auffassung, daß die Literatur einen Zuwachs an Empirie erwarten kann, wenn sie sich nur – wie im Film – auf die Oberfläche der Bilder und Vorstellungen, die sie evoziert, besinnt,“120 spiegelt sich in einer „Oberflächenästhetik“, die dazu führt, dass weder philosophische Überlegungen noch abstrakte Begriffe noch sentimentalische Traditionen aufgerufen werden, sondern dass von „nur eine[r] einzige[n] Welt der Erscheinung“ ausgegangen wird.121 Diese „Oberflächenästhetik“ wird in ‚Landschaft‘, einem Gedicht, das erst in Westwärts 1&2 erschienen ist,122 radikalisiert, wenn in dem späteren Text elf Mal mit der arabischen Ziffer 1 statt mit dem entsprechenden unbestimmten Artikel gearbeitet wird. Dieser mathematisch-statistischbürokratische Gebrauch von Zahlen in Verbindung mit dem Titel des Gedichts macht aus der Beobachtung von Natur so etwas wie eine tabellarische Auflistung, die zusammenzählt, was nicht zusammengehört:123 zum Beispiel ‚1 Baum‘, ‚1 Autowrack‘, ‚1 Essay‘, ‚1 paar Steine‘, ‚1 Warnschild‘, ‚1 Sofa‘, ‚1 Fahrradgestell‘. Schärfer, härter, hässlicher als in ‚Limonade im Grünen‘ erscheinen Elemente der Natur in ‚Landschaft‘ nur als Produkte, die ohne Zivilisationserscheinungen gar nicht zu haben sind: kein ‚verrußter Baum‘ ohne „1 künstliche Wand, schallschluckend“; kein ‚blätterloses‘ „Gestrüpp“ ohne „verschiedene kaputte Schuhe“; keine ‚flüchtenden‘ „Tiere“ ohne den „Rest einer Strumpfhose an / einem Ast“. Alle Adjektive sind deprimierend und deuten Verfall an: Das Sofa ist ‚hingekarrt‘ und ‚verfault‘; das Fahrradgestell ist ‚rostig‘ und der ‚verrußte Baum‘, der den Anfang des Gedichts bildet, ist so zerstört, dass er „nicht mehr zu bestimmen“ ist. Was von der Natur noch übrig ist, wird von

120 Kohlroß, Naturgedicht, S. 212. (Hervorh. E.K.P.). 121 Kohlroß, Naturgedicht, S. 213. 122 Brinkmann, Westwärts 1&2, S. 138. 123, „Zeilen, die mit der Ziffer 1 beginnen, dominieren und bilden eine Linie, die dem Zeilengewirr eine gewisse Gleichförmigkeit verleiht. Diese Zeilen erinnern an Zahlenkolonnen. Und vielleicht das Gedicht deshalb von der Arithmetik durchzogen: In seiner Faktenregistrierung bedient es sich derselben Reduktion aufs Summieren und Bilanzieren, die auch dem Naturraum Landschaft widerfährt.“ Lampe, Subjektivität, S. 135.

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Restbeständen der Zivilisation umgeben, die keinerlei ästhetischen Reiz besitzen: Sie sind künstlich, kaputt oder bestehen nur noch aus einem kleinen Stück. Aber auch die ‚Naturteile‘ sind nicht attraktiv: verrußt, blätterlos, flüchtend. ‚Landschaft‘ wirkt wie ein Endzeitszenario in einer bedrohlich-gefährlichen Atmosphäre, vorstellbar nach einem (atomaren) Katastrophenfall.124 Aber von solchen ‚Störfällen‘ ist in dem Gedicht nicht die Rede; die Ursachen für die Zerstörungen werden nicht ergründet: Aufgelistet wird (weitgehend) nur, was gesehen werden kann. Brinkmann bleibt sehr zurückhaltend, was eine unmittelbare emotionale Beteiligung oder Beurteilung angeht und konzentriert sich vor allem auf die Fakten beziehungsweise die sichtbaren Folgen. Wie es dazu gekommen ist, dass Bäume verrußen, Sträucher nur noch als blätterloses Gestrüpp existieren und Tiere flüchten, ist nicht von Interesse; von Interesse ist – weitgehend – nur das, was einer empirischen Überprüfung standhält125 und was vielleicht ohne den Titel eher an eine „Müllkippe“126 oder eine „Mülldeponie“ erinnerte.127 Wenn da nicht die Ausnahmen wären! Das Gedicht besteht eben nicht nur aus einer Auflistung von Sicht- und Spürbarem. Es sind aber gerade die Ausnahmen, die das klare Bild stören und die Irritation in das Gefüge bringen. Gleich die dritte Strophe besteht aus direkter Rede und richtet sich als einziger Vers des Gedichts an jemanden in der höflich-distanzierten zweiten Person Plural: „was suchen Sie da?“ Angesprochen kann sowohl der sonst nicht weiter genannte lyrische Sprecher des Gedichts, der die Bestände dokumentiert, sein; angesprochen kann jedoch auch der Leser sein, der gefragt wird, was er in diesem Gedicht zu suchen hat. Oder ist in der nächsten Strophe die Antwort auf die Anfrage zu finden, wenn plötzlich

124, „Was Brinkmann in ‚Landschaft‘ vor Augen führt, ist zunächst eine vom Zustand der Entropie durchdrungene, subjektlose Rest(e)- oder Rudimentärlandschaft in einem postindustriellen Niemandsland – eher eine Art Randzone mit Resten natürlicher Elemente denn eine spezifische Gestalt kulturell ‚natürlich gewachsener‘ Landschaft.“ Jan Röhnert: Landschaft. In: Röhnert / Geduldig, Brinkmann, Bd. 2, S. 591-597, hier: S. 593. 125, „Brinkmanns Landschaft kommt einer Bestandsaufnahme gleich.“ Kohlroß, Naturgedicht, S. 246. 126 Röhnert, Landschaft, S. 595. 127 Kohlroß, Naturgedicht, S. 245.

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die Rede ist von „1 Essay“ und ‚einem‘ „Ausflug in die Biologie / das Suchen nach Köcherfliegenlarven“? 128 Liegt im geschriebenen Essay die Lösung, in dem Hinweis auf die biologische Wissenschaft oder in der Suche nach schönen Insekten? Wenn ja, so ist auch dies eine Überraschung, weil nichts Vergleichbares in den ersten beiden Strophen vorbereitet wurde und diese Gegenstände ganz neue Themen anschlagen.129 Da das Gedicht aus asyndetischen Aufzählungen besteht, ist eine Klärung dieser Fragen nicht möglich, und es bleibt auf jeden Fall festzuhalten, dass an dieser Stelle ein Bruch stattfindet, ein Bruch in der trostlosen Endzeitstimmung, der im Folgenden noch eine Steigerung erfährt: „das gelbe // Licht 6 Uhr nachmittags“. Das einzige Farbwort des Gedichts bezieht sich auf die Lichtverhältnisse, auf ein Wahrnehmungsmoment, das in Brinkmanns Arbeiten häufig vorkommt. 130 In jeder Hinsicht ragt diese Passage aus dem Gedicht heraus: sowohl mit der ziffernartigen Angabe der Tageszeit – das einzige Mal, dass keine 1 genutzt wird, sondern eine andere Ziffer – als auch mit der Farbe Gelb. Dabei sind Farbattribut und Substantiv nicht nur durch ein Strophenenjambement voneinander getrennt, sondern auch noch durch ein besonders weites Einrücken nach rechts, so dass die einversige Licht-Strophe schon rein optisch eine Sonderstellung einnimmt: ‚Gelb‘ als letztes Wort der vierten, und „Licht“ als erstes Wort der fünften Strophe erfahren auf diese Weise eine Auszeichnung, sind aber räumlich deutlich voneinander abgesetzt. Gelb – „ohne Zweifel […] die Farbe des Lichts“131 – strahlt in gewisser Weise nicht nur in den ‚Luftraum und den

128 Diese Lösung wird vorgeschlagen in: Röhnert, Landschaft, S. 594. 129, Hans H. Hiebel spricht von „Überraschungen und Abweichungen vom Erwartbaren“

und

nennt

in

diesem

Zusammenhang

schon

die

‚schallschluckende Wand‘ als ‚verblüffendes‘ Element in einer „im Freien“ ‚sinnlosen Qualität‘. Vgl. dazu: Hiebel, Spektrum, S. 330. 130 Vgl. dazu: Brinkmanns essayistische Texte: Brinkmann, Film in Worten, S. 231, S. 233, S. 234, S. 247. – Brinkmann, Briefe an Hartmut, S. 7, S. 29, S. 44, S. 47, S. 104, S. 125, S. 135, S. 222, S. 225, S. 237. – Brinkmann, Unkontrolliertes Nachwort, S. 267, S. 274, S. 276, S. 291, S. 293, S. 296. 131, Bruns, Farbe, S. 82. – „Kapriziös und geheimnisvoll, oft mißverstanden, glücklich voller Übermut, drohend, heilig und irrsinnig – das ist die Prinzessin Gelb! […] Die Ungereimtheiten, die jede Farbe begleiten, steigern sich im Gelb zu einem Feuerwerk der Widersprüche, einem reizvollen, zugleich

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Himmel‘ hinein,132 sondern auch in das Gedicht selbst, das an dieser Stelle vielleicht seinen einzigen Lichtblick erfährt.133 Dass in der ansonsten gänzlich hoffnungslosen ‚Landschaft‘ überhaupt eine Farbe ihren Platz findet und dann auch noch in Verbindung mit Licht, ist zunächst einmal festzuhalten. Der Vers ist wohl auch nicht ironisch zu verstehen, weil nicht unbedingt Farben, 134 aber Lichtverhältnisse in

äußerst verwirrenden Spiel – oder Kampf. Überdies ist Gelb mimosenhaft empfindlich, die geringste Trübung kann den festlichen Glanz ins Gallige verkehren. Kurzum: eine Prinzessin auf der Erbse! […] Gelb in seiner höchsten Er-scheinungsweise ist Licht; […] Tages- und vor allem Sonnenlicht, ein Licht, das Pflanzen, Tiere und Menschen gedeihen läßt.“ Bruns, Farbe, S. 80-81. 132 „Die am weitesten in die Mitte des Satzspiegels hinein reichende Einrückung findet sich in [sic!] Mitte des Textes, auf Zeile 10, und verleiht dem Gedicht dadurch eine gewisse Art von Symmetrie. Es ist bezeichnend, dass die hier notierte Wahrnehmung von ‚Licht 6 Uhr nachmittags‘ über die Landschaft hinaus auf den Luftraum, den Himmel verweist.“ Röhnert, Landschaft, S. 594595. 133 Dass die farbliche Attribuierung auch anders gesehen werden kann, zeigen verschiedene Deutungen dieser Passagen: Lampe reduziert das Gelb zu einem ‚schwefelfarbenen‘ Licht, das „nicht heiter, sondern bedrückend“ stimme und das fern sei von Helligkeit und Klarheit. Lampe, Subjektivität, S. 136. – Hiebel sieht in dem ‚gelben Licht‘ ein ‚sommerliches-angekränkeltes‘ Licht, das in Verbindung mit der genauen Zeitangabe den „Detailrealismus“ wie auch „die ‚Realien-Collage‘ vervollständigt und die Aufzählung der einzelnen, diskreten Sinnes-Eindrücke abrundet.“ Hiebel, Spektrum, S. 331. – Von solch sicheren Deutungen wird hier Abstand genommen, weil im Gedicht weder von Schwefel noch vom Himmel noch von Sommer noch von ‚angekränkelt‘ die Rede ist; sinnvoller erscheint vielmehr, die Sonderstellung des einzigen Farbattributs herauszuarbeiten und sie in Verbindung mit Farb- und Lichtangabe im Kontext des brinkmannschen Werks zu betrachten. 134 Vgl. dazu: der sehr ironische Gebrauch der Farbe Gelb im Gedicht ‚Gelb‘: „[…] bis man sieht / wie plötzlich / auf grüner See / Gelb auftaucht / und man sich sagt / daß wieder // die Lupolen-Männer / unterwegs sind. Wir brauchen keine Angst / mehr zu haben.“ Brinkmann, Standphotos, S. 220.

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Brinkmanns Werk doch immer wieder so etwas wie ernst gemeinte Hoffnungsträger sind.135 Eine ironische Distanzierung vom untergangsähnlichen Zivilisationsmüllszenario lässt sich aber vielleicht mit den Schlussversen verbinden:136 „1 Erinnerung an / 1 Zenwitz“. Von allen Überraschungen des Textes ist der „Zenwitz“ wohl die größte, weil er sich am wenigsten in den kulturellen Kontext einfügt, der mit dem Gedicht ansonsten aufgerufen wird: Fernöstliche, meditativ-buddhistische Denk- und Lebenshaltung wird gefügt zu einem neologistischen Kompositum mit einer (sprach-)komischen Variante, welche auf jeden Fall eine Distanzierung von einem Geschehen oder einer Wahrnehmung enthält und sich über eine Situation erhebt. Dabei ist der „Zenwitz“ nur in der „Erinnerung“ vorhanden und als einziges Element dieser lyrischen Addition weder sicht- noch hörbar, sondern nur in der inneren Wahrnehmung eines nicht weiter identifizierten Subjekts existent.137 Wird mit dieser Schlussstrophe das gesamte Gedicht ironisch kommentiert? Ist alles, was wir bis dahin gelesen haben, ein ‚Witz‘, den es eigentlich nicht gibt? Oder ist gerade der befremdliche Neologismus ein rhetorischer Hinweis auf die sprachlichen Möglichkeiten der „,>Landschaft