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German Pages 436 Year 2020
Isabell Mandt Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Lettre
Für Tobi und meine Familie
Isabell Mandt, geb. 1985, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaften an der Universität Bonn. Sie hat Vergleichende Literaturwissenschaft, Anglistik und Politische Wissenschaft studiert und an der Universität Bonn im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft promoviert.
Isabell Mandt
Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Studie zu einem urbanen europäischen Schreibort und dessen Atmosphäre
Gedruckt mit der Genehmigung der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
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Inhalt
Prolog im Café International.................................................................... 7 I.
Einleitung................................................................................ 13
II. II.1. II.2. II.3.
Forschungsüberblick und Textkorpus .................................................... 17 Zum Pariser Café ........................................................................ 25 Zum Wiener Kaffeehaus ................................................................. 32 Auswahlkriterien des Textkorpus und vergleichende Vorgehensweise ..................... 36
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung ......................... 43 III.1. Kulturbegriff ............................................................................ 48 III.1.1 Kultursemiotik.................................................................... 50 III.1.2 Kultur als Wertbegriff ............................................................. 53 III.2. Verdichtung und Selbstbeobachtung ...................................................... 55 III.3. Verknüpfung von Kultur und Literatur: Textualität von Kultur ............................... 61 IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre .............................................. 71 IV.1. Gattungsbegriffe und Idealtypen ........................................................... 71 IV.1.1. ›Gattung‹ als ordnender Sammelbegriff: Kriterienpluralismus und Idealtypus........ 71 IV.1.2. Gattungen als Kommunikationsphänomen im kulturellen Kontext .................. 76 IV.2. Bisherige Forschung und Desiderate zum Genre ›Kaffeehausliteratur‹ .................... 78 IV.3. Versuch einer Genrekonzeption ›Kaffeehausliteratur‹ ...................................... 91 IV.3.1. Partizipationsmodell, bewegliche Gattungsräume und hybride Genres ............... 91 IV.3.2. ›Kleine Form‹ und Feuilleton ...................................................... 94 IV.3.3. Ambivalenz zwischen Wirklichkeit und Fiktion .....................................105 IV.4. ›Aura‹, ›Atmosphäre‹, ›Stimmung‹ – Ansatz zur begrifflichen Fundierung .................109 IV.5. Zwischenfazit: Das Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ ...................................... 122 V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte ...............................................125 V.1. Autobiographische Rückblicke: Leben, Schreiben und Erinnern im Café ...................126 V.1.1. Vorbemerkungen zu autobiographischen Textsorten ............................... 131
V.1.2. Leben und Schreiben am Kurfürstendamm ....................................... 135 V.1.3. Erinnerungen an Paris ........................................................... 149 V.1.4. Schicksalsmomente im Wiener Kaffeehaus ........................................160 V.1.5. Café als Schreibort: Performanz, Schreibwerkzeug und Handwerk..................166 V.1.6. Erinnerungen an vergangene Kaffeehäuser ...................................... 204 V.2. Raumfigurationen ...................................................................... 233 V.2.1. Das Café als räumlicher Akteur .................................................. 234 V.2.2. Das Café als transparentes Gegengehäuse und Ort des Geschlechterkonflikts ..... 242 V.2.3. Das Café als Ort des Dazwischen: Veränderlichkeit, Dynamik und ›Third Place‹ ..................................... 250 V.2.4. Das Café als Abweichungsheterotopie ........................................... 265 V.3. Das Café in der Großstadt............................................................... 270 V.3.1. Großstadt – Ort der Gegensätze .................................................. 275 V.3.2. Das Kaffeehaus – urbaner Rückzugsort und Ort des »individuellsten persönlichen Dasein[s]« ...................................................................... 283 V.3.3. Zerrissenheit zwischen dynamisch-rationaler Zukunft und glorreich-gemütlicher Vergangenheit: Das Wiener Kaffeehaus im Berliner Feuilleton der 1920er Jahre .... 308 V.4. Atmosphäre, Aura und Stimmung: Wahrnehmung im Café .................................318 V.4.1. Atmosphäre der Betriebsamkeit und Nostalgie: Café St. Oberholz, Berlin ........... 325 V.4.2. Atmosphäre der Behaglichkeit: Sinnesreize im Café Hawelka, Wien ................ 335 V.4.3. Atmosphäre einer zauberhaften Zwischenwelt: Magie im Café Certa, Paris......... 345 V.4.4. Metaphorik und Atmosphäre I: Das Café als Arche Noah .......................... 349 V.4.5. Metaphorik, Ironie und Atmosphäre II: Klima, Sinnesreize, Flora und Fauna ........ 372 V.4.6. Kulinarische ›Kaffeehausliteratur‹ ............................................... 384 VI.
Fazit und Ausblick ..................................................................... 395
Epilog ........................................................................................401 Alphabethisches Verzeichnis der analysierten Quellen und Siglen ........................... 403 Literaturverzeichnis......................................................................... 407 Primärquellen ................................................................................ 407 Weitere Quellen ............................................................................... 414 Sekundärquellen .............................................................................. 416 Quellen aus Zeitschriften/Zeitungen ........................................................... 431 Internetquellen und Audiobeiträge ............................................................ 433
Prolog im Café International
An diesem späten Nachmittag war es sehr voll im Café International. Obwohl es ein warmer, sommerlicher Tag gewesen war und die Sonne jetzt, gegen halb sechs, immer noch gleißend hell durch die Öffnung der schweren Vorhänge zum Fenster hineinschien, war es im Inneren des Cafés durch seine hohen Räume angenehm kühl. Die Geräuschkulisse war trotz der vielen Menschen gedämpft, der Verkehrslärm der europäischen Großstadt drang kaum herein und das hektische Gedränge der Passanten floss allenfalls als fernes Hintergrundgeschehen von außen an den Fenstern vorbei. Eine Gruppe Schriftstellerinnen und Schriftsteller verschiedenster Nationalitäten hatte sich lose in einer Ecke zusammengefunden und führte eine kontroverse Diskussion über ein Thema, das ihnen viel bedeutete: Sie redeten über ihr soziales Leben, ihre Texte und ihr berufliches Wirken, die an diesem Ort zusammengeführt wurden und mit ihm in Verbindung standen. Einige diskutierten sehr lebhaft mit, andere wiederum verfolgten das Gespräch aus einiger Entfernung vom Nachbartisch aus oder lauschten nur mit halbem Ohr, während sie lasen oder schrieben.1 »Was ist es nur, warum wir hier so konzentriert schreiben können und uns sehr wohlfühlen, obwohl gleichzeitig der ganze Raum voller fremder, unruhiger Leute ist – das widerspricht sich doch, oder?«, fragte sich Ernest Hemingway, während er dem Kellner nachschaute, bei dem er gerade einen Rum St. James bestellt hatte. »Es ist, als ob dem Café ein besonderer Geist innewohnen würde, der uns zu den wirklich wichtigen Dingen führt und uns etwas Wahrhaftiges verfassen lässt.« Alfred Polgar rührte gedankenverloren in seiner Melange. »Ich weiß zwar nicht, was Sie mit ›Geist‹ des Kaffeehauses meinen, aber ich spüre, was Sie sagen wollen – auch ich fühle mich nur hier imstande, etwas Bedeutsames zu leisten, obwohl man dies ja nicht gerade als ›Arbeitsplatz‹ bezeichnen kann. Aber warum kann man sich hier so gut konzentrieren und ist zur gleichen Zeit inspiriert?« Philipp Hübl, der während einer Reise einen Zwischenstopp in der Stadt eingelegt hatte und an diesem Tag ganz zufällig das Café Internatio1
Dieser Prolog ist frei erfunden. Jedoch wurden die Aussagen den Sprechern und Sprecherinnen nicht willkürlich in den Mund gelegt, sondern sind teilweise an ihre eigenen Werke angelehnt (dann kursiv markiert), um illustrativ an die Fragestellungen dieser Arbeit heranzuführen. Auf die meisten Zitate des Prologs wird im weiteren Verlauf der Arbeit nochmals eingegangen.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
nal zum ersten Mal besuchte, schaltete sich ins Gespräch ein: »Also ich erkläre mir die besondere Konzentration und Inspiration im Café mit einer Verdichtung an kultureller Energie, dem freien Spiel zwischen Philosophie und Kunst, zwischen Verstand und Einbildungskraft.« Nach einer kurzen Denkpause fuhr der Philosoph fort: »Für mich ist die Arbeitsatmosphäre im Café vergleichbar mit einem Abteil im Zug, das genau wie das Café ein Ort der kreativen Meditation ist, in dem die Gedanken auf Wanderschaft gehen können und man eintauchen kann in das kreative Zwielicht zwischen Konzentration und Tagträumerei.«2 »Vielleicht«, überlegte Walter Benjamin, »ist es also die spezifische Atmosphäre oder die ›Aura‹ des Kaffeehauses, die dabei hilft, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren und uns dabei trotzdem wie Zuhause zu fühlen.« Im Nachdenken versunken, nickten die anderen; ganz klar war es ihnen jedoch nicht, was Benjamin mit der ›Atmosphäre‹ oder ›Aura‹ meinte. »Woher kommt nun diese Atmosphäre, die es jedem ermöglicht, zu sich selbst zu finden und die banale Gesprächsebene zu verlassen?«, fragte sich daher nicht nur Arnold Keyserling.3 »Ja«, meinte Simone de Beauvoir, während sie sich eine neue Zigarette anzündete, »nur im Café werde ich ermutigt, weiterzuschreiben, weil man hier unter Leuten ist und nicht die große Einsamkeit spürt, die sich in einem breit macht, wenn man allein in der Wohnung vor einem weißen Blatt Papier sitzt.« 4 Nachdem Claudio Magris endlich seinen Espresso bekommen hatte, brachte auch er sich in die Diskussion ein: »Ich denke, das Caffè bewahrt uns vor unserem schriftstellerischen Allmachtswahn, der uns manchmal glauben lässt, wir könnten mit unseren Schriften die Welt verändern. Tatsächlich bleiben wir hier durch das außergewöhnliche Flair des Caffès der Wirklichkeit verhaftet.« 5 Von seiner Zeitung aufblickend, konnte Hermann Kesten dem nur zustimmen: »Ich kann am besten schreiben, wenn ich mich inmitten untätiger Menschen befinde. Im Kaffeehaus betrüge ich den Müßiggang der anderen mit meiner Arbeit.« 6 Ohne die Diskutierenden zu verlassen, setzte er seine kurzzeitig unterbrochene Zeitungslektüre fort, als sich auch schon Edmund Wengraf kopfschüttelnd erhob. »Verzeihen Sie, aber ich bin ganz anderer Meinung. Diese rauchgeschwängerte, durch Gasflammen verpestete Luft im Kaffeehaus, dieses Durcheinanderschwirren von Kommenden und Gehenden macht jedes ruhige Nachdenken, jede gesammelte Betrachtung unmöglich.« 7 Die anderen schauten ihn erstaunt und ein wenig sprachlos an – so hatten sie noch nie über ihren Lieblingsort gedacht. Joseph Roth, der dieser Debatte schon lange schweigend zugehört hatte, stand feierlich auf und hob dazu an, eine kühne These zu äußern: »Vielleicht besteht die besondere atmosphärische Anziehungskraft dieses Ortes in seiner Ambivalenz, ja,
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Alle Zitate (kursiv) in: Philipp Hübl: »Ich denke, also fahr ich«, in: DIE ZEIT, 30.12.2015, S. 67, URL: www.zeit.de/2016/01/ice-intellektuelle-pendler-akademiker-bahncomfort (19.05.2019). Arnold Keyserling: »Café Hawelka«, in: Franz Hubmann (Hg.): Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien 1982, S. 92. Zitat leicht abgewandelt in: Simone de Beauvoir: In den besten Jahren, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 239. Zitat leicht abgewandelt in: Claudio Magris: Die Welt en gros und en détail, München/Wien 1999, S. 15. Zitat leicht abgewandelt in: Hermann Kesten: Dichter im Café, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1983, S. 10; 13. Zitat leicht abgewandelt in: Edmund Wengraf: »Kaffeehaus und Literatur«, in: Wiener Literatur Zeitung 2:7 (1891), S. 1-2, S. 2.
Prolog im Café International
hier herrscht – wenn Sie mir diese Formulierung erlauben – der freie ›Geist des Kontrastes‹ vor, der uns einerseits ein beschauliches Gefühl von Geborgenheit und Zuhause vermittelt, weil für das leibliche und geistige Wohl gesorgt ist und wir uns hier so lange aufhalten können, wie wir wollen. Andererseits werden wir zum Arbeiten inspiriert und ermutigt, weil wir uns inmitten der ganzen Leute vor dem Hintergrund des gleichmäßigen Geräuschpegels des Cafés nicht auf uns selbst, sondern nur auf unser Schreiben konzentrieren!« Er setzte sich erschöpft wieder hin und freute sich über seine scharfe Schlussfolgerung, über die die anderen nun redeten. Karl Kraus, der die Diskussion von einem benachbarten Tisch aus eine Zeit lang verfolgt hatte, sprang plötzlich auf und kam empört herüber. Nicht nur, dass er sich über die Talentlosigkeit und mangelnden Fleiß einiger seiner Schriftstellerkollegen ärgerte – in den vielen Kaffeehaussitzungen, die zum Zwecke einer endgültigen Formulierung des Begriffs ›Künstlermensch‹ abgehalten wurden, waren jene nämlich überhaupt nicht zur Produktion gekommen.8 Aber daneben sorgte er sich vor allem um den korrekten Umgang mit der deutschen Sprache und konnte solch ein nachlässiges Gerede nicht ertragen: »Meine Herren, was reden Sie denn da für ein wirres Zeug? Ich höre nur ›Geist‹, ›Aura‹, ›Atmosphäre‹ und ›Flair‹ – vielleicht besinnen Sie sich mal einen Augenblick und überlegen, wie Sie diese abgedroschenen Phrasen mit Bedeutung füllen könnten? Schließlich bietet uns unsere Sprache ja genügend Möglichkeiten dazu, wenn man sich nur mal auf eindeutige Definitionen einlassen würde, anstatt immer so vage und undeutlich zu reden. Aber ich habe auch bloß den Schutz jenes Sprachgebrauchs im Sinn, den die Leute für die Sprache halten.9 Anscheinend bin ich ja der Einzige, der sich für die Eindeutigkeit und Korrektheit der Sprache interessiert…«10 Damit setzte er sich wieder an seinen eigenen Tisch und ließ sich zwei Eier im Glas schmecken. Er hatte die Diskutierenden sehr aufgebracht zurückgelassen. Nachdem sie ihrer Entrüstung über Karl Krausʼ Zurechtweisung Luft gemacht hatten – besonders Else Lasker-Schüler regte sich auf, weil Kraus die Damen unter ihnen einfach nicht beachtet hatte, als würden sie nicht gleichberechtigt zu der Runde der hier versammelten Autorinnen und Autoren gehören –, wurden sie nachdenklich. »Vielleicht«, fragte sich Peter Altenberg, »müsste man wirklich mal genauer darüber nachdenken, was wir hier eigentlich tun?« »Genau, sehe ich auch so! Lasst uns anfangen!«, ereiferte sich Erich Kästner. Trotzdem war er sich unschlüssig, wo sie ansetzen sollten und legte seine Stirn in tiefe Falten. 8 9 10
Zitat leicht abgewandelt in: Karl Kraus: »Die demolirte Literatur«, in: ders.: Frühe Schriften 18921900. Zweiter Band 1897-1900, hg. v. Joh. J. Braakenburg, München 1979, S. 277-297, S. 285. Karl Kraus: Die Sprache, München 1954, S. 13. Vgl. »Meinungen, Richtungen, Weltanschauungen – es kommt doch zuerst und zuletzt auf nichts anderes an als auf den Satz. Die ihn nicht können, fangen beim Lebensinhalt an, welchen sie infolgedessen nicht haben und welcher da ist, wenn der Satz gelingt. Es wird kaum je einen Autor gegeben haben, dem Stofflicheres, Wirklicheres, Zeitlicheres abgenommen werden konnte als dem, der meine Schriften geschrieben hat, und doch habe ich mich mein Lebtag um nichts anderes als um den Satz geschoren, darauf vertrauend, daß ihm schon das Wahre über die Menschheit, über ihre Kriege und Revolutionen, über ihre Christen und Juden, einfallen wird.«, in: Kraus: Die Sprache, S. 341; »[…] daß es in ihr [der Sprache] auf das Wort so sehr ankommt, daß noch wichtiger als das Wort das ist, was zwischen den Worten ist; daß dem, der im Wort denkt wie ein anderer in der Farbe und wieder ein anderer im Ton, es nicht nur die Welt aufmacht, sondern sie auch wechseln läßt, wenn jenes da steht oder dort […].«, in: ebd. S. 343.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Ein Professor der nahegelegenen Universität, der die Pause zwischen zwei Vorlesungen nutzte, um sich im Café International zu stärken, schaltete sich vom Nebentisch aus in die Diskussion ein: »Hat jemand von Ihnen schon mal daran gedacht, dass man die Bezeichnung ›Kaffeehausliteratur‹ auch begrifflich deutlicher fassen müsste? An Ihrer Stelle würde ich es nicht dulden, dass ›Kaffeehausliteratur‹ im Volksmund nicht als Gattungsbezeichnung, sondern als abfälliges Werturteil und Verunglimpfung Ihrer hervorragenden schriftstellerischen und erstklassig recherchierten journalistischen Arbeit verwendet wird. Das geht aber nur, wenn man gute Gegenargumente hätte und die Frage beantworten könnte, ob es eine Textgattung ›Kaffeehausliteratur‹ gibt und wodurch diese definiert wäre – auch die Bedeutung der Kaffeehausliteratur für das literarische System als ganzes sollte man erkennen und genauer zu beschreiben suchen…« 11 Inspiriert von der Diskussion, begann auch er selbst nun, tiefer über diese Fragen nachzudenken. Mascha Kaléko fügte hinzu: »Und auch die sogenannten ›Kaffeehausliteraten‹ stehen in der öffentlichen Meinung nicht gerade gut da – wir werden verdächtigt, aus lauter Faulheit im Café herumzusitzen und sinnlos zu diskutieren, weil wir angeblich gar nichts schreiben, sondern nur die Zeit vertrödeln wollen, in der andere Leute einer ›ernsthaften‹ Beschäftigung nachgehen, mit der sie ihren Broterwerb sichern. Mal ganz davon abgesehen, dass wir als Frauen meistens sowieso nicht wahrgenommen werden…« Anton Kuh, der sich gerade erfolgreich bei seinen zahlreichen Mäzenen einen zufriedenstellenden Vorschuss für seine noch nicht geschriebenen Werke besorgt hatte, kam hinzu, bestellte Kaffee und erklärte wie selbstverständlich: »Das ist doch logisch – der perfekte Kaffeehausliterat ist ein ›Sprechautor‹, so wie ich. Während ich aus dem Stegreif rede, versprühe ich ein geistiges Feuerwerk und verschaffe mir durch einen mit eindrucksvollen Gesten begleiteten Aphorismus einen unvergesslichen Abgang, den niemand so schnell vergessen wird.12 Das ist ›Kaffeehausliteratur‹!« »Nun ja«, erwiderte Hermann Kesten zögerlich, »das würde ja bedeuten, dass ›Kaffeehausliteratur‹ nur mündlich stattfindet. Es gibt aber auch einige unter uns, die ihre geistigen Ergüsse, zu denen sie hier im Café inspiriert werden, durchaus schriftlich festhalten – sei es hier oder später zuhause.« Und Egon Erwin Kisch fügte mit einem Seitenblick auf Kuh versöhnlich hinzu: »Vielleicht ist ›Kaffeehausliteratur‹ auch genau das, was wir hier gerade tun – ein Gespräch führen, diskutieren, Literatur in Echtzeit?« »Natürlich ist es das«, meldete sich nun auch Otto Friedlaender zu Wort, der bislang schweigend dagesessen und seine Zigarre geraucht hatte. »Das Kaffeehaus ist schließlich der einzige Ort auf Erden, wo sich das witzige, phantasievolle, grüblerische, scharfsinnige, zynische Gespräch der Griechen lebendig erhalten hat.« Allerdings passte es ihm gar nicht, dass Frauen es sich in dieser Domäne männlichen Geistes gemütlich gemacht hatten.13 Mit einem Seitenblick 11
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Alle Zitate (kursiv) in: Michael Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann: Das Kaffeehaus als Ort literarischer Produktion und Rezeption zwischen 1890 und 1950 in Europa und Lateinamerika«, in: ders. (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 13-28, S. 13; 18 und ders: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur. Was ist ein Ort der Literatur?«, in: ders. (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 580-589, S. 588. Zitat leicht abgewandelt in: Géza von Cziffra: Der Kuh im Kaffeehaus, München 1981, S. 12. Zitate leicht abgewandelt in: Otto Friedlaender: Letzter Glanz der Märchenstadt, Wien 1985, S. 252.
Prolog im Café International
auf Else Lasker-Schüler fügte er bissig hinzu: »Aber jetzt scheinen die intellektuellen Damen dieser Gesellschaft ja unser Stammlokal erobert zu haben – der Zauber der guten Unterhaltung ist damit verflogen.« »Bitte was haben Sie da gerade gesagt?!«, kreischten Else Lasker-Schüler und Irmgard Keun völlig außer sich. Während sie sich maßlos aufzuregen begannen, versuchten Gabriele Tergit und Anna Seghers ihre Kaffeehauskolleginnen zu beruhigen und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: »Viel bedeutungsvoller, als diese – zwar auch nicht unwichtige – Geschlechterdiskussion ist es doch, herauszufinden, warum uns das Kaffeehaus so viel wert ist, dass wir es in unzähligen unserer literarischen Texte als Schauplatz verewigen und auf welche Weise wir es thematisieren…« »Wir haben dem Café in unseren Texten anscheinend sogar bestimmte Konnotationen zugewiesen, die das Bild des Kaffeehauses in der Öffentlichkeit geprägt haben…«, so sinnierten sie noch eine Weile vor sich hin. Auch die anderen waren still geworden und dachten über das soeben Gesprochene nach. An dieser Stelle stand Stefan Zweig auf. »Ich muss mich leider verabschieden – aber ich danke Ihnen sehr für das interessante Gespräch und die anregende Diskussion, die zu gegebener Zeit noch vertieft werden sollte. Ich wünsche Ihnen nun noch einen schönen Abend, meine Herren« – er drehte sich mit einem Lächeln zu den weiblichen Anwesenden in der Runde – »und meine sehr verehrten Damen.«
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I. Einleitung
Die Kaffeehaus-Debatte, welche wir gerade belauschen durften, kreist um die Kernpunkte der vorliegenden Studie, nämlich um die zahlreichen und recht ambivalenten Darstellungen des Kaffeehauses1 in der europäischen und amerikanischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, die besondere Atmosphäre dieses Ortes, seine Bedeutung als urbaner Schreibort sowie das noch zu definierende Genre2 der ›Kaffeehausliteratur‹. Die Fragen, über welche die Kaffeehausgäste im Prolog sinnieren, sind gleichzeitig die Forschungsfragen dieser Arbeit. So sollen die Diskurse erforscht werden, die über das Kaffeehaus, die Bedeutung und Funktion dieses Ortes für die Literatur sowie die Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Umlauf sind. Untersucht werden soll, auf welche Weise das Café in der Literatur thematisiert wird und welche Relevanz es als Schreib- und Aufenthaltsort für die Kultur- und Literaturgeschichte Europas aus der Sicht der Schriftstellerinnen und Schriftsteller hat, deren Schaffen mit dem Kaffeehaus in Verbindung steht.
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Im Prolog wurde ersichtlich, dass es nicht das europäische Kaffeehaus gibt, sondern dass jedes einzelne durch eine besondere Eigenart charakterisiert ist. Dies fällt zunächst durch die unterschiedlichen Bezeichnungen auf, die dieser Örtlichkeit zu eigen sind: Die Bezeichnung »Café« kommt am häufigsten vor und ist bei den deutschen, englischen und französischen Schriftstellern üblich, weil er international verständlich ist. Auch in Wien tragen die einzelnen Gasthäuser meist das »Café« im Namen, obwohl in den Texten der Wiener Autoren und Autorinnen häufiger der Begriff »Kaffeehaus« verwendet wird; allerdings benutzen Österreicher wie Joseph Roth, Hilde Spiel oder Heimito von Doderer ebenso die Bezeichnung »Café«. Eine Ausnahme bilden englische Texte, die vor allem auf die Kaffeehäuser im London des 17. und 18. Jahrhunderts rekurrieren und den Ausdruck »coffee-house« nutzen. Interessant ist auch das Beispiel des italienischen Schriftstellers Claudio Magris, der in seinen Texten von »il Caffè« spricht und in deutschen Interviews die Bezeichnung »Café« wählt. In den deutschen Übertragungen seiner Texte jedoch wird »il Caffè« sowohl mit »Cafe« als auch »Kaffeehaus« übersetzt, ohne dass dies näher begründet wird. Diese Ausführungen machen deutlich, dass all diese Bezeichnungen mehr oder weniger synonym benutzt werden und stets auf einen traditionellen Ort beziehungsweise auf die Institution Kaffeehaus verweisen anstatt auf Schnellrestaurants, Eiscafés oder Ketten wie Starbucks oder McCafé. Die synonyme Verwendung von »Kaffeehaus« und »Café« soll in der vorliegenden Arbeit übernommen werden. Diese Bezeichnung soll hier zwar pragmatisch zur Kennzeichnung im Sinne eines ›Typus‹ benutzt, aber gleichzeitig problematisiert werden.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Neben ihren Überlegungen zu einer noch fehlenden Definition für das Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ grübeln die Gäste des Café International im Prolog über die ›Kaffeehaus-Atmosphäre‹, die sie so sehr anzieht, und über den besonderen ›Geist‹, der dem Kaffeehaus innewohnt und die Einmaligkeit dieser europäischen Lokalität seit dem 18. Jahrhundert begründet. Überliefert aus diesen frühen Zeiten ist vor allem die durch anregende, kultivierte Gespräche gekennzeichnete Atmosphäre englischer ›Coffeehouses‹ zu Beginn des 18. Jahrhundert, als in London die Zeitschriften The Tatler und The Spectator erschienen: Until the time of the restoration, neither writers nor readers had practised the studied simplicity of true conversation. […] It was here [i.e. in the coffeehouse] that, besides practising benevolence in small things, men learnt to unravel literary ideas in a style that was colloquial as well as cultured. Conversation has a mysterious power of awakening thought. Commonplaces and trifles appear in a new light, and fresh notions are continually struck off like sparks. The man who has formed his mind by intercourse is more versatile and alert than he whose intellect has grown by reading […]. Thus, the middle classes were accomplishing their own education. They were becoming thinkers with a culture and a standard of manners born of conversation and free from pedantry of thought or expression. Coffeehouses had given them a kind of organisation; a means of exchanging ideas and forming the public opinion of their class. But this spirit was […] manifest only in the atmosphere where it has been formed. It was not found in theatres, universities or salons. Coffeehouses had unconsciously become fraternities for the propagation of a new humanism, and a writer could come into touch with the ideas and sentiments of the age only in those centres.3 Die vorliegende Studie geht deshalb davon aus, dass das europäische Kaffeehaus im weiteren Verlauf der Jahrhunderte eine so große Anziehungskraft auf Künstlerinnen und Künstler ausüben konnte, weil diese Institution es vermochte, an einem Ort eine Fülle unterschiedlichster Menschen mit vielerlei Talenten und Meinungen zusammenzuführen und einen für verschiedene Lebenssituationen passenden, freiheitlichen Raum zu schaffen, in dem neue Ideen entstehen konnten. Aufgrund dieser mannigfaltigen Verflechtungen mit dem Leben der Autorinnen und Autoren wurde ›das Kaffeehaus‹ auch so oft und schillernd in der Literatur beschrieben, was ihm zu einem außerordentlich vielseitigen Bild verholfen hat, welches allerdings auch von vielen glorifizierenden
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Harold Routh: »Chapter II: Steele and Addison«, in: The Cambridge History of English Literature. From Steele and Addison to Pope and Swift, Volume IX., hg. v. A. W. Ward/A. R. Waller, Cambridge 1912, S. 26-65, S. 32f.
I. Einleitung
Mythen4 begleitet ist, die ihm hartnäckig anhaften5 , so dass Andrea Portenkirchner zufolge »eine unverstellte Betrachtung kaum noch möglich scheint.«6 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem literarischen Kaffeehaus und dem mit ihm in Verbindung stehenden literarischen und publizistischen Genre stellt also ein Desiderat dar; so steht laut Portenkirchner eine »eingehende Studie über den Komplex ›Kaffeehausliteratur‹ innerhalb einer größeren Forschungsarbeit« noch aus.7 In wissenschaftlichen Studien findet sich weder eine zufriedenstellende Begründung für die Faszination und den Reiz, den die Kaffeehäuser seit ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert ausgeübt haben, noch wurde versucht, Texte, die mit dem Kaffeehaus in Zusammenhang stehen, auf Grundlage einer adäquaten, komparatistischen Materialbasis mit Blick auf das Genre sowie auf die formale und sprachliche Gestaltung der Texte zu analysieren. Deutlich wurden die fehlende Systematik und mangelnde begriffliche Schärfe in Bezug auf die ›Kaffeehausliteratur‹ und die Anziehungskraft des Kaffeehauses bereits im fiktiven Gespräch der ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹, welche in Ermangelung klarer Begrifflichkeiten auf vage, mehr emotionale Aspekte ansprechende Umschreibungen wie ›Atmosphäre‹, ›Aura‹ oder ›Stimmung‹ ausweichen, ohne genau zu wissen, was gemeint ist. Die unscharfen Termini scheinen sich zum einen darin zu begründen, dass im Kaffeehaus eine Atmosphäre des Flüchtigen und Fragmentarischen vorherrscht, die in der mündlichen Gesprächskultur ihren Ausgang nimmt und schwer fassbar gemacht werden kann.8 Zum anderen äußert sich Atmosphäre in Synästhesien und Reizen, die nicht rational, sondern über die Sinnesorgane wahrgenommen werden, zum Beispiel indem man etwas trinkt und isst, die anderen Menschen beobachtet, Gerüche wahrnimmt und der typischen Geräuschkulisse lauscht. So gilt es herauszufinden, worin diese anziehende, von vielfältigen Sinnesreizen gekennzeichnete Atmosphäre gemäß den literarischen Texten besteht und mit welchen Begrifflichkeiten man dieses Phänomen wissenschaftlich beschreiben könnte. Vor diesem Hintergrund haben sich zwei Forschungsrichtungen für diese Arbeit herauskristallisiert: Zum einen wird das ›Kaffeehaus in der Literatur‹ als fiktiver Ort der Literaturproduktion und -rezeption, als urbaner Schreibort beziehungsweise als Rahmen für die öffentliche Inszenierung von Autorinnen und Autoren betrachtet. Vorangestellt sei hier als erste These der Arbeit, dass sich das Café als Ort, der von Schriftstellern und Künstlerinnen9 auf unterschiedlichste Art beschrieben und verewigt wurde, durch seine Ambivalenz, eine besondere Atmosphäre sowie eine soziale, funktionelle 4
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Unter ›Mythos‹ verstehe ich mit dem Duden eine »Person, Sache, Begebenheit, die (aus meist verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären Charakter hat«, in: Dudenredaktion (Hg.): Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 2003, S. 1113. Vgl. »A fragmented, facetted picture of the café emerges, confirming the essential intangibility of the creative legacy of the coffeehouse.«, in: Charlotte Ashby: »Introduction«, in: dies./Tag Gronberg/Simon Shaw-Miller (Hg.): The Viennese Café and Fin-de-Siècle Culture, New York 2013, S. 1-8, S. 5. Andrea Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt. Das literarische Kaffeehaus in Wien 1890-1950«, in: Michael Rössner: Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 31-65, S. 32. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 32. Vgl. Ashby: »Introduction«, S. 1. Wenn hier und im Folgenden bestimmte Berufsgruppen etc. aufgezählt werden, sind immer alle Geschlechter gemeint.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
und räumliche Beweglichkeit auszeichnet. Dabei stellt das Café einen dynamischen Ort des ›Dazwischen‹ dar, dessen räumliche und funktionelle Wandelbarkeit sich je nach Perspektive ergibt und durch unterschiedliche kulturwissenschaftliche und raumtheoretische Konzepte beschrieben werden kann. Es wird zu erforschen sein, welche Konnotationen und Metaphern dem Kaffeehaus in literarischen Texten zugewiesen werden und wie die Literatur damit spielt. So soll ein Beitrag zur Erforschung der Literarizität der ›Kaffeehausliteratur‹ und eine differenzierte Betrachtung dieser Textsorte geleistet werden. Zum anderen ist auf Grundlage einer breiten Materialbasis zu untersuchen, welche sprachlichen, gattungstypologischen und poetologischen Merkmale die Texte aufweisen beziehungsweise in welches Genre man die untersuchten Texte einordnen kann, die in der Forschungsliteratur meist dann als ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden, wenn die Texte skizzenhaft-autobiographischen Charakter haben und sich der (fiktive) Produktions- und Rezeptionsort ›Kaffeehaus‹ in der Gestaltung der literarischen Texte widerspiegelt. Da das Kaffeehaus auf unterschiedliche Art das Schreiben beeinflusst hat, wäre demgegenüber herauszufinden, ob nicht auch verschiedene Textsorten als ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden könnten. Darunter – so die zweite These dieser Arbeit – könnten diejenigen Texte als ›Kaffeehausliteratur in Reinform‹ bezeichnet werden, die der Textsorte der ›Kleinen Prosa‹ angehören und gleichzeitig den Schreibprozess selbst sowie das Kaffeehaus thematisieren und sich durch die Schilderung von Atmosphäre und Synästhesien auszeichnen. Im Folgenden sollen zunächst der Stand der Forschung zur Geschichte des europäischen Kaffeehauses10 und die Methodik dieser Arbeit dargelegt werden, welche ihr besonderes Augenmerk auf den Fakt legt, dass das Kaffeehaus als realer, historischer Ort vom fiktiven Schauplatz in der Literatur beziehungsweise von den Texten selbst getrennt betrachtet werden muss. Auch darf der Blick der Forschung auf das Kaffeehaus nicht mit der Perspektive der Schriftsteller und Schriftstellerinnen verwechselt werden. Anschließend daran wird der Versuch einer Genredefinition unternommen, bevor versucht werden soll, die genannten Thesen und aufgestellten Genremerkmale ab Kapitel V. im Rahmen der Textanalyse zu belegen.
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Aufgrund der Tatsache, dass bedeutend mehr Forschungsliteratur zu dem Pariser und Wiener Café existiert, erhalten diese Städte ein eigenes Kapitel im Forschungsüberblick.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
Despite the recognised significance of the café space, the informal, haphazard and ephemeral nature of café life has made it relatively resistant to scholarly enquiry.1 In diesem Zitat von Charlotte Ashby deutet sich die Diskrepanz zwischen der als Konsens betrachteten soziologischen Bedeutung des Cafés und der bisher noch zu wenig erfolgten kultur- und literaturwissenschaftlichen Erforschung dieses Ortes an. Auch Michael Rössner kommt im Fazit des von ihm herausgegebenen Sammelbands Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten (1999) zu dem Ergebnis, daß es sich bei den mit dem literarischen Kaffeehaus im Entstehens- und Rezeptionsprozeß verbundenen Texten um einen von der Forschung oft vernachlässigten Bereich der Literatur handelt, der eine kaum zu überschätzende Bedeutung für jenen ästhetischen Wandel gehabt hat, der die Jahre von 1890 bis 1950 prägt und dessen Auswirkungen auch heute noch zu spüren sind, da das literarische Kaffeehaus im beschriebenen Sinn, als Ort der Interaktion, des direkten Feedback, ja fast der ›Gemeinschaftsproduktion‹ von Literatur zwischen Autor und begrenztem Publikum, nicht mehr besteht. Diese Bedeutung der Kaffeehausliteratur – oder auch bloß der Literatur, die mit der Produktions- und Rezeptionssituation im Kaffeehaus in Beziehung steht – für das literarische System als ganzes sollte man erkennen und genauer zu beschreiben suchen […].2 Deutlich wird hier, dass die große kulturelle Signifikanz des Kaffeehauses zwar erkannt, aber noch nicht ausreichend erforscht wurde. Dergleichen stellt auch Severin Perrig in seinem 2011 veröffentlichten Buch Am Schreibtisch großer Dichter und Denkerinnen fest, einer Entwicklungsgeschichte literarischer Arbeitsorte, worin er der Frage nachgeht, inwieweit Schreib- und Entstehungsorte Einfluss auf Schriftsteller und Schriftstellerinnen und ihre literarischen Produkte ausüben.3 Obwohl immer wieder der ›Genius 1 2 3
Ashby: »Introduction«, S. 1. Michael Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur. Was ist ein Ort der Literatur?«, in: ders. (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 580-589, S. 588. Severin Perrig: Am Schreibtisch großer Dichter und Denkerinnen. Eine Geschichte literarischer Arbeitsorte, Zürich 2011.
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Loci‹ von Schreib- und Arbeitsorten beschworen und verehrt werde4 , fehlt Perrig zufolge »nach wie vor eine umfassendere Darstellung von Schreibörtlichkeiten im Kontext europäischer Kultur- und Mentalitätsgeschichte.«5 Speziell Cafés, aber auch Kneipen, Bistros und Bars rechnet er zu den »Prototypen von öffentlichen Schreiborten«, weil man dort idealtypisch »nicht nur das eigene Schreiben und Auftreten einüben konnte, sondern mit deren Vorhandensein man auf Reisen durch Europa bis hin zur unfreiwilligen Emigration ganz sicher rechnen durfte.«6 Widersprüchlich äußern sich dagegen andere Stimmen, die dem Kaffeehaus jegliche Bedeutung absprechen und sie gleichzeitig hervorheben. Zu nennen wäre hier zum Beispiel Gotthart Wunberg, der befindet, man solle »die Rolle des Kaffeehauses nicht als anekdotische Zugabe werten«7 , weil es ein »konstituierende[s] Element der Wiener Literatur« darstelle und das »Zusammentreffen im Kaffeehaus […] nicht zu unterschätzen« sei. Gleichzeitig betont Wunberg im selben Absatz jedoch, dass »seine Bedeutung und sein Stellenwert […] auch überschätzt worden« sei.8 Genauso diskrepant mutet es an, wenn in der Monographie Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik (1999) von Christian Jäger und Erhard Schütz einerseits die »Krise des Caféhauses« als äquivalent zu einer »Krise der Kultur« erklärt wird9 , und andererseits die Aussage zu lesen ist, dass die Kaffeehauskultur »nicht in erwartbarer Weise im Feuilleton der Nachkriegszeit ihren Niederschlag findet«10 , nachdem einige Seiten zuvor jedoch eine beträchtliche Anzahl Wiener Feuilletontexte zitiert wurde, die von einem Kaffeehaus handeln oder darin spielen. Die Leserinnen und Leser wissen nach der Lektüre dieser auseinandergehenden Aussagen also keineswegs, welche Tragweite das Kaffeehaus nun für die Literatur wirklich hatte und könnten die
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Vgl. die heutige Zurschaustellung des eigenen Arbeitsplatzes auf Instagram oder in Blogs und der damit einhergehende Bedeutungszuwachs des Schreibtischs: »Denn der Schreibtisch ist nicht einfach nur irgendein Dekorationsobjekt, er ist ein Möbelstück mit Symbolcharakter […]. Doch warum sind die Konsumenten der Artikel und Bilder so von diesem sperrigen Möbelstück fasziniert? […] Als könnte man geistige Produktivität an einem Ort oder sogar einem Gegenstand festmachen. […] Die Wiederentdeckung des Schreibmöbels zu einer Zeit, in der dort gearbeitet wird, wo sich ein Laptop aufklappen lässt, wirkt wie eine Art nostalgische Antwort auf das zunehmende Schwinden von räumlich festen Arbeitsplätzen. Mit der Digitalisierung und dort, wo Flexibilität und Mobilität gelebte Ideale sind, verliert der persönliche Platz im Büro an Relevanz. Vom Co-Working-Space mit gemietetem Schreibtisch bis zum digitalen Nomaden, der schlicht überhaupt keinen festen Ort zum Arbeiten mehr braucht.«, in: Anna-Lena Niemann: »Schreibtisch als Statussymbol: Hauptsache, aufgeräumt!«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.08.2017, URL: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wohnen/haus/schreibtisch-als-statussymbol-hauptsache-aufgeraeumt-15158823.html (12.02.2018). Perrig: Am Schreibtisch großer Dichter und Denkerinnen, S. 13. Perrig: Am Schreibtisch großer Dichter und Denkerinnen, S. 154f. Im späteren Verlauf der Arbeit wird noch auf andere Untersuchungen zum Thema Schreibort einzugehen sein. Gotthart Wunberg: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, S. 11-79, S. 19. Gotthart Wunberg: »Literarisches Leben«, in: ders. (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, S. 637f., S. 637. Christian Jäger/Erhard H. Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik, Wiesbaden 1999, S. 41. Jäger/Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, S. 43.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
Frage stellen, warum es so häufig erwähnt wird, wenn seine Bedeutung eigentlich überbewertet sei und wieso Kaffeehausfeuilletons analysiert werden mit dem Nachsatz, dass es diese feuilletonistischen Texte zum größten Teil gar nicht gebe. Dieser Inkonsistenz soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Das Kaffeehaus gilt also aufgrund der großen Anzahl von Geschichten und überlieferten Gepflogenheiten in der einschlägigen Literatur als schwer handhabbarer Gegenstand, der sich durch Flüchtigkeit und »ein Ambiente des Zufälligen und Unvorhergesehenen«11 auszeichnet. Dabei scheint es unumstritten, »dass eine lineare oder chronologische Geschichte des Cafés nicht rekonstruierbar ist«12 : Die Vielzahl von Künstler- und Literatentreffs in Kaffeehäusern vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart macht es unmöglich, einen angemessenen Überblick auch nur im Ausschnitt darzustellen. Selbst bei kurzer Skizzierung wird man dem Phänomen nicht beikommen können. […]. Schon ein flüchtiger Blick in das zum Teil unglaublich reiche (unveröffentlichte) Material von Künstlernachlässen in den Bibliotheken, Sammlungen und Archiven der Welt lässt erahnen, welche Arbeit zur Erhellung des Phänomens Künstlercafé noch zu leisten ist!13 Hinzu kommt, dass die Bedeutsamkeit des europäischen Kaffeehauses für die Literatur und politische Kultur sowie seine wichtige Rolle in der Entwicklung der modernen, urbanen Öffentlichkeit keineswegs allgemein anerkannt sind, sondern eine kontroverse Diskussion darüber geführt wird, wie hoch der Stellenwert des Kaffeehauses für einen Schriftsteller oder eine Schriftstellerin und die mit dem Café im weitesten Sinne zusammenhängende Literatur für die europäische Kultur zu bewerten ist. In den meisten Untersuchungen wird die Bedeutung des Kaffeehauses sehr hoch eingeschätzt, weil das Café gemäß Ulrike Zitzlsperger einer jener »bestimmte[n] Ort[e]« ist, welche »komplexe Entwicklungen, aber auch für weite Teile der Gesellschaft relevante Erfahrungen und Themen bündeln«14 können. So erklärt sich auch, dass sich rund um diesen Schauplatz gewisse kulturgeschichtliche Aspekte besonders herauskristallisieren und verdichten, warum für einen Schriftsteller wie Hermann Kesten ein ›großer Teil des Lebens‹ Platz im Kaffeehaus findet15 oder Hilde Spiel den ›Mikrokosmos Café‹, der für sie alle Wechselfälle des Lebens beinhaltet und abbildet, mit dem menschlichen Dasein gleichsetzt: Und so glich es in gewissem Sinn dem Leben selbst, das aus dem Nichts ins Unbekannte führt. Ja, es entsprach weit mehr als die Wohnung oder Arbeitsstätte jenem tiefinneren Empfinden der irdischen Unsicherheit und Vergänglichkeit […].16
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Dagmar Lorenz: Wiener Moderne, Stuttgart/Weimar 2007, S. 29. Noël Riley Fitch: Künstlercafés in Europa. Wo Kafka schrieb, Matisse malte und Freud Schach spielte, München 2007, S. 18. Ulla Heise: Kaffee und Kaffeehaus. Eine Bohne macht Kulturgeschichte, Leipzig 1996, S. 217f. Ulrike Zitzlsperger: Topografien des Transits. Die Fiktionalisierung von Bahnhöfen, Hotels und Cafés im zwanzigsten Jahrhundert, Bern 2013, S. 15. Vgl. Hermann Kesten: Dichter im Café, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1983, S. 7. Hilde Spiel: »Kaffeehaus als Weltanschauung«, in: dies. (Hg.): Wien. Spektrum einer Stadt. Ein Buch von Hilde Spiel, München 1971, S. 124-140, S. 125.
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Hier wird deutlich, dass dem Kaffeehaus in der Erinnerung als Ort des temporären Verbleibs vor allem symbolische Wertschätzung zukommt, weil die Menschen es eher emotional mit besonderen Krisen- und Umschwungphasen in ihrer Biographie verbinden. Aus diesem Grund bezeichnet Zitzlsperger, die sich in ihrer 2013 erschienenen Monographie Topografien des Transits mit Hotels, Bahnhöfen und Cafés als halböffentlichen Räume befasst, Kaffeehäuser als die idealen Orte für die Fiktion der Zwischenkriegszeit, weil sie Themen der Zeit in Szene setzen: Hier werden die kulturgeschichtlich relevanten Bilder der Bohème, des Alltags und der Immanenz des Krieges vorgeführt. Die jeweilige Ankunft an diesen Orten ist vor allem in der Literatur eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart.17 Zitzlsperger betont nicht nur die Relevanz des Kaffeehauses als Schauplatz in fiktionalen Werken der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, sondern hebt auch die hohe Symbolkraft des Cafés als Verdichtungsmedium des Zeitgeistes hervor, der wieder lebendig wird, wenn man beispielsweise Textpassagen untersucht, die im Café spielen. Zitzlspergers Studie attestiert Kaffeehäusern als halböffentlichen Räumen somit eine wichtige Rolle in einem Vermittlungsprozess, in dem »angesichts historischer Brüche lokale und nationale Identitäten […] an einem bestimmten Ort nacherzählbar und sichtbar«18 gemacht werden. Übertragbar auf das Kaffeehaus ist auch Cordula Segers Konzeption des Grand Hotels: Sie begreift jenes in ihrer 2005 veröffentlichten Doktorarbeit Grand Hotel als ›architektonischen Gemeinplatz‹ und ›gesellschaftlich regulierten Ort‹, der hochgradig symbolisch besetzt sei. Dabei geht sie von einer »Interdependenz zwischen Literarisierung, architektonischer Entwicklung und sozialer Besetzung« aus. Diese Annahme kann auf das Kaffeehaus oder Bistro übertragen werden, denn wie im Hotel ist es auch hier möglich, »Gesellschaft zu lokalisieren und ihren Bedürfnissen unter einem Dach nachzukommen«, weshalb diese Lokale als ›Mikrokosmos‹ begriffen werden können, in denen eine »Gemeinschaft auf Zeit« möglich ist.19 In der vorliegenden Dissertation sollen sowohl Zitzlspergers Ergebnisse als auch Cordula Segers Konzeption des Grand Hotels miteinbezogen werden. Angesichts der bisher zitierten Forschungsliteratur und der im kollektiven Gedächtnis vieler Menschen durch Kunst und Literatur20 verankerten Bedeutung des Kaffeehauses kann als Konsens verzeichnet werden, dass das Café als bedeutsamer Ort innerhalb der kulturellen Entwicklung Europas anzusehen ist.21 Jedoch bleibt noch offen, worin diese Verbindung von Literatur, Kunst und Kaffeehaus tatsächlich besteht. Denn
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Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 66. Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 241. Alle Zitate Cordula Seger: Grand Hotel. Schauplatz der Literatur, Köln 2005, S. 6. Außer in der Literatur ist das Kaffeehaus auch in der Populärkultur, in der bildenden Kunst (beispielsweise werden Kaffeehausszenen in Gemälden von Edgar Degas, Edouard Manet, Vincent van Gogh, Edward Hopper, Ernst Ludwig Kirchner oder Georg Grosz abgebildet) oder in der Musik (z.B. spielt der erste Akt von Mozarts Oper Così fan tutte sowie eine Szene aus dem Musical Elisabeth im Kaffeehaus; der italienische Sänger Ivano Fossati singt in dem Lied Caffè Lontano vom Kaffeehaus) als Schauplatz oder Motiv präsent. Vgl. auch Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende. Altenberg – Hoffmannsthal – Polgar, Berlin/New York 1986, S. 12.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
die meisten Darstellungen über das (literarische) Café wurden in subjektiv erzählender, oft verklärender Weise von den ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹ in autobiographischem Stil verfasst, wobei einige von ihnen sich darin versucht haben, eigene Theorien über das Kaffeehaus zu entwerfen.22 Diese Texte werden in der vorliegenden Studie als fiktionaler Untersuchungsgegenstand betrachtet, nicht jedoch als historische Quelle verwendet. Daneben sind verschiedene Anthologien von ›Kaffeehaustexten‹23 erschienen, die aber zum Teil nur lückenhafte Quellennachweise liefern und nicht kommentiert sind. Weiterhin sind in den letzten Jahrzehnten Kulturgeschichten der europäischen Kaffeehauskultur sowie einige anekdotisch-essayistische Veröffentlichungen über ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹ sowie berühmte europäische Kaffeehäuser erschienen, beispielsweise in Bernd Müllers Erinnerungen Im Caféhaus, in denen die Leserinnen und Leser zu einer Reise »durch die Geschichte einiger wichtiger Traditionscaféhäuser Europas«24 gebeten werden. Auch in Gérard-Georges Lemaires Les cafés littéraires wird man eingeladen, auf eine Zeitreise durch die Welt der Kaffeehäuser zu gehen: Ce livre n’est ni une encyclopédie ni un guide exhaustif des cafés ayant eu un lien quelconque avec l’aventure de la pensée. Je le vois plutôt comme un carnet de voyage – voyage extravagant dans le temps et dans l’espace d’une passion immodérée pour le café […]. C’est en somme un livre de bord imaginaire qui suit la route mythique de cette substance qui m’a conduit de l’Arabie à l’Égypte, du Caire à Constantinople, et de là, de l’autre côté de la Méditerranée, à Venise et à Paris et, plus au nord, à Londres et à Vienne, pour s’achever dans l’hémisphère sud, à Buenos Aires. Ce livre est une machine à remonter le temps où l’histoire de la littérature […].25 Lemaire nennt im Vorwort als Ziel seines Buches die Erforschung der Anziehungskraft der Cafés sowie die Beantwortung der Frage, warum Cafés gleichzeitig »un salon et une académie, […] un conservatoire et un cabinet ministériel réel ou fantomatique«26 sein konnten. Da er aber nicht darüber hinausgeht, die Legenden und Gemeinplätze über das Kaffeehaus zu beschreiben, erfüllt sich meines Erachtens seine Zielvorstellung nicht. Zudem schreibt er, es sei seine Absicht gewesen, eine Definition des ›literarischen
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Zum Beispiel: Anton Kuh: »Von Goethe Abwärts. Essays in Aussprüchen von Anton Kuh«, in: ders.: Werke 1918-1923, Bd. 2, hg. v. Walter Schübler, Göttingen 2016, S. 451-472, S. 453ff.;Alfred Polgar: »Theorie des ›Café Central‹«, in: ders.: Kleine Schriften, Bd. 4, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 254-259; Friedrich Torberg: »Kaffeehaus ist überall«/»Traktat über das Wiener Kaffeehaus (1959)«, in: ders.: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, Gesammelte Werke in Einzelausgaben Bd. 8, München 1975, S. 183-206; S. 318-334. Zum Beispiel: Kurt-Jürgen Heering (Hg.): Das Wiener Kaffeehaus. Mit zahlreichen Abbildungen und Hinweisen auf Wiener Kaffeehäuser, Frankfurt 1993; Stefanie Proske (Hg.): Kaffeehaus-Brevier, Frankfurt a.M./Wien/Zürich 2009; Hans Veigl (Hg.): Lokale Legenden. Wiener Kaffehausliteratur, München 1991; österreichische Kaffeehaus-Texte in englischer Übersetzung wurden von Harold B. Segel herausgegeben: The Vienna coffeehouse wits, 1890-1938, West Lafayette 1993. Bernd Müller: Im Cafehaus, Berlin 1984, S. 9. Gérard-Georges Lemaire : Les cafés littéraires. Vies, morts et miracles, Paris 1997, S. 7. Lemaire : Les cafés littéraires, S. 8.
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Cafés‹ zu finden, was ihm aber nicht gelungen sei.27 Da er damit aber nicht das Vorwort beschließen möchte, versucht er sich dennoch an einer Begriffsbestimmung in Form eines aufzählenden Fazits: En somme, un café littéraire, c’est d’abord et surtout une agora qui a possédé, à un moment ou à un autre, la vertu d’un champ magnétique attirant en son sein des peintres et des poètes, des musiciens et des philosophes, des nouvellistes et des comédiens, des danseurs et des chanteurs, des dramaturges et des architectes, des hommes de sciences et des polygraphes, des penseurs politiques et des romanciers, des professeurs et des étudiants – en définitive des endroits qui s’offrent comme autant de creusets du savoir et de la création, de la réflexion et de l’action, de la métamorphose du monde ou de sa représentation.28 Hier wird deutlich, dass sich die meisten Veröffentlichungen über das Kaffeehaus eher an ein breites Lesepublikum als an fachwissenschaftliche Leserinnen und Leser richten: Lemaires Kaffeehaus-Anekdoten sowie die im Folgenden erwähnten Studien sind meist ansprechend illustriert und unterhaltsam geschrieben, enthalten jedoch keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Zudem erscheint die Auswahl der Häuser und Orte häufig willkürlich. Zum Beispiel wird in Klaus Thiele-Dohrmanns Buch Europäische Kaffeehauskultur die Gliederung und Zusammenstellung zwar mit der ›Aura‹ der Kaffeehäuser erklärt, aber ansonsten wenig nachvollziehbar begründet: Der unterschiedlichen Aura entsprechend ist die Auswahl der hier beschriebenen Kaffeehäuser getroffen worden. […] Es sind solche, deren Ruf überlebt hat, und die Stimmen derer, die damals Augen- und Ohrenzeugen waren, werden in Berichten, Erzählungen und Anekdoten hörbar.29 Während Thiele-Dohrmann und Wolfgang Jünger30 in ihren ›Kulturgeschichten‹ des europäischen Kaffeehauses jeder Stadt beziehungsweise jedem Café ein Kapitel von ungefähr gleicher Länge widmen, wirkt Lemaires Zusammenstellung eher unausgewogen.31 Auch bei Jünger hätte es sich beispielsweise geradezu angeboten, einen Vergleich 27 28 29 30
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Vgl. »Enfin, je dois prier le lecteur […] de me pardonner de ne pas apporter une définition bien ronde du café littéraire.«, in : Lemaire : Les cafés littéraires, S. 8. Lemaire : Les cafés littéraires, S. 8. Klaus Thiele-Dohrmann: Europäische Kaffeehauskultur, Düsseldorf/Zürich 1997, S. 11. Vgl. Wolfgang Jünger: Herr Ober, einʼ Kaffee! Illustrierte Kulturgeschichte des Kaffeehauses, München 1955. Auch dieses anekdotenreiche Werk geht chronologisch vor (vom 16. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg), nennt keine Quellen der zitierten ›Berichterstatter‹ und ist ebenfalls nach Ländern beziehungsweise Städten geordnet. Vgl. Lemaire : Les cafés littéraires, S. 8. Deshalb entschuldigt er sich in dem mit »Avant-propos en forme de mea culpa« betitelten Vorwort dafür, die verschiedenen Kaffeehauskulturen der unterschiedlichen Länder ungerecht behandelt zu haben – beispielsweise machen die Kapitel über Paris mit 217 Seiten fast die Hälfte des gesamten Werks aus. Dies rechtfertigt er damit, dass er entweder keinen Zugang zu bestimmten historischen Quellen erhalten habe oder dass benötigte Dokumente nur in Sprachen verfasst wurden, die er nicht lesen könne. Tatsächlich aber werden durchweg alle Zitate auf Französisch und stets ohne Quellenangabe wiedergegeben, obwohl Cafés aus ganz Europa, Arabien, Nordafrika, Russland und sogar Südamerika thematisiert und die unterschiedlichsten Texte zitiert werden, so dass man sich fragt, welche Quellen überhaupt benutzt und welche Übersetzungen herangezogen wurden. Zudem werden wichtige Referenzautoren und
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zwischen der Kaffeehauskultur Wiens und Berlins anzustellen: Während in Wien, wie er schreibt, eine tiefgründige, aber auch lebhafte und spontane Gesprächskultur vorherrsche, fehle in Berlin die prunkvolle Ausstattung, eine lebendige Geschäftigkeit und Gastfreundlichkeit, so dass die dortigen Cafés trotz feilgebotener kulinarischer Genüsse nicht zum Verweilen einlüden, sondern die Kaffeehäuser vielmehr an Gotteshäuser erinnerten.32 Anhand dieses Beispiels wird ersichtlich, dass eine direkte Gegenüberstellung der Kaffeehauskultur Berlins und Wiens neue Einsichten gebracht hätte, nämlich, dass ein jeweils grundlegend anderes Verständnis von der Art des Aufenthalts im Café vorherrscht, wohingegen eine nach einzelnen Städten strukturierte Abhandlung, die keinerlei Verknüpfung unter den Kapiteln unternimmt, dies gar nicht feststellen kann. Deutlich wurde bislang zum einen, dass in den genannten Studien keine Bezüge der Kaffeehäuser zueinander hergestellt werden, um das jeweilige Charakteristikum des Vergleichsobjekts durch Kontrastierung hervorzuheben. Zum anderen fällt auf, dass die zuvor besprochenen Texte zwar einen ersten inhaltlichen Überblick gewähren, aber aufgrund lückenhafter beziehungsweise nicht vorhandener Quellenangaben oder fehlender editorischer Anmerkungen nicht dem Anspruch der literaturwissenschaftlichen Forschung genügen. Daher betont der Böhlau Verlag es auch besonders, dass der von Michael Rössner herausgegebene Sammelband den Gegenstand ›Kaffeehaus‹ nicht anekdotenhaft, sondern wissenschaftlich untersucht, verweist daneben aber auch auf die ›irrationale‹, ›sinnliche‹ Komponente des Kaffeehauses: Und was man bislang in den einzelnen Städten lediglich aus Anekdotenbüchern kannte, ist nun von Forschern aus aller Welt in diesem Band im Kontext der aktuellen Kulturwissenschaften untersucht worden – ohne dabei die ›Sinnlichkeit‹ der Kaffeehausliteratur außer acht zu lassen. […] Dieser Band eröffnet nicht nur der literatur- und kultur-
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-autorinnen wie Else Lasker-Schüler oder Leonhard Frank gar nicht erwähnt, anderen wie Ernest Hemingway wird gerade mal ein Satz gewidmet, obgleich französische Übersetzungen der relevanten Texte dieser Autorinnen und Autoren vorliegen und Lemaire sie daher hätte miteinbeziehen können: Vgl. Ernest Hemingway : Paris est une fête, Paris 1964; Else Lasker-Schüler : Mon cœur, Paris 1994; Leonhard Frank : À gauche à la place du cœur, Marseille 2011. Vgl. »Nach seiner Meinung ist das Wiener Kaffeehaus einzig in seiner Art und der Wiener selbst ein geborener Kaffeehausmensch. Der leichte, gefällige Umgang und die allgemeine Munterkeit gehören zum Kolorit wie die räumliche Enge, das Spiel, der Rauch und das intensive Gespräch. Die Stimmungen und die Anregungen sind unnachahmlich, fern jeder Steifheit und Förmlichkeit, eben echt wienerisch.«, in: Jünger: Herr Ober, einʼ Kaffee!, S. 152f.; »Unterzieht man die Entwicklung der Berliner Kaffeehäuser einer näheren Betrachtung, fällt zunächst der schlichte und entsagungsvolle Zug ins Auge, der dieser Stadt in allen Einrichtungen bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein eigentümlich war. Stellenweise trug sie ein fast dörfliches Gepräge. […] ›Konditorei und Café‹, bemerkt ein Chronist, […] ›diese Aufschrift sagt alles. Das Große und Elegante blieb ihnen mit wenigen späteren Ausnahmen fern. Der Schwerpunkt des Geschäfts lag im Gebäck […]. Kleine, schlecht beleuchtete Räume mit süßem Kuchenduft, zu denen der Gast nach Passieren des Ladenraumes gelangte, wenige Zeitungen lokaler Richtung und eine geringe Auswahl an Getränken […].‹«, in: ebd. S. 187f.; »Allgemein erregte der arrogante Ton der Bedienerinnen Mißfallen. Sie warfen vernichtende Blicke, wenn man seinen Stuhl noch nach dem Verlöschen des Lichtes zu verteidigen suchte. ›Das Kaffeehaus ist tot und still. […]‹ Um die Mitte des Jahrhunderts ging es bei Kranzler so gemessen wie in einem Salon der besten Gesellschaft her. Die Stille einer Kirche umfing den Gast.«, in: ebd. S. 196.
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wissenschaftlichen Forschung neue Perspektiven, sondern bietet auch den Freunden von Pointe und ›Kleinkunst‹, den Liebhabern der ›schlampigen Genialität‹ der Kaffeehäuser einen Streifzug durch eine leider zum Großteil untergegangene Welt des Geistes und des Kaffeedunstes in Europa und in Übersee.33 Rössner zufolge beleuchtet der Band das Thema ›Kaffeehausliteratur‹ aus einem neuen Blickwinkel, indem mit einem literatursoziologischen beziehungsweise kulturwissenschaftlich-anthropologischen Ansatz an die zu analysierenden Texte herangegangen werde, um sich »nach Aufarbeitung der historisch-sozialen Kontexte der Autoren wie des Publikums mit dem Niederschlag eben dieser Kontextbedingungen auf Struktur und Komposition des Textes«34 zu beschäftigen. Dieser Ansatz soll mithilfe verschiedener Konzepte gestützt werden, wie zum Beipiel Pierre Noras Erinnerungsorten, Stephen Greenblatts Konzeption eines zirkulierenden Austauschprozesses zwischen Literatur und kulturellem Kontext oder der von Jurij Lotman begründeten, räumlichstrukturellen Herangehensweise an Texte, welche Oppositionsstrukturen, Grenzen und Schwellen sichtbar machen soll.35 Da diese Theorien jedoch im Verlauf des Sammelbands nicht mehr erwähnt werden, löst die Studie ihren zuvor formulierten methodischen Anspruch nicht ein. Jeder einzelne Artikel darin ist sehr aufschlussreich, allerdings gehen die Autorinnen und Autoren in ihrer Analyse auch hier von den Städten und der Historie anstatt von den Texten aus. So werden keine Vergleiche zwischen den Literaturen angestellt, vielmehr werden die Leser und Leserinnen »gnadenlos, Kaffeehausstadt für Kaffeehausstadt, mit der örtlichen Geschichte der gebrannten Bohne, nicht aber mit den Merkmalen einer erkennbaren Kaffeehausliteratur«36 vertraut gemacht, wie Jürgen Kolbe den Band in der FAZ-Rezension zusammenfasst. Diese Vorgehensweise erscheint umso paradoxer, wenn man die in der Einleitung formulierte ›innovative‹ Fragestellung des Buches betrachtet: Gerade das aber zeigt die neue ›Optik‹ unserer Fragestellung: Wenn dieses ›Projekt wider den Strich‹ Kaffeehausliteratur nicht nur eine Besonderheit Wiens und des alten Österreichs ist, ein Ausfluß der Gemütlichkeit und Grantigkeit des österreichischen Wesens, dann muß es eben gewisse ›Invarianten‹ der Kaffeehauskultur geben, typische Spuren dieses Kontextes in jenen Texten, die doch zur Veröffentlichung gelangten, gewisse Parallelen zwischen den großen Kaffeehausliteraten einzelner Länder […].37
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Titelinformation des Böhlau-Verlags: Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, abrufbar unter der URL: www.boehlau-verlag.com/978-3-205-98630-0.html (21.07.2019). Michael Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann: Das Kaffeehaus als Ort literarischer Produktion und Rezeption zwischen 1890 und 1950 in Europa und Lateinamerika«, in: ders. (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 13-28, S. 24. Vgl. Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 9; 14ff. Jürgen Kolbe: »Gebrannte Bohne scheut das Feuer. Kaffeehausliteratur, obdachlos«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1999, S. L16. Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 24.
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Folgerichtig beschreibt er dann, dass die literarischen Texte im Sammelband unter einem »grundlegend vergleichenden Gesichtspunkt« analysiert werden sollen: Durch komparative Betrachtung so unterschiedlicher Kaffeehausliteraturen wie jener Mitteleuropas, der europäischen Romania und Lateinamerikas sollte festgestellt werden, ob sich ›Kaffeehausinvarianten‹ ausmachen lassen, ob also gewisse Textstrategien durch die Situation des Kaffeehauses unabhängig vom weiteren soziohistorischen Kontext […] immer wieder auftreten.38 Inkonsequenterweise geschieht dies aber gerade nicht: Jede einzelne Stadt samt den sich darin befindenden Kaffeehäusern und deren Gästen wird für sich genommen analysiert; weder werden die literarischen Texte über die Kapitel hinaus miteinander in Beziehung gesetzt noch zusammenfassende Zwischenergebnisse formuliert.39 Daher stellt sich den Lesern und Leserinnen die Frage, wie die besagten ›Invarianten‹ überhaupt festgestellt werden sollen, wenn keine Kontraste hergestellt beziehungsweise die verschiedenen Eigenheiten der jeweiligen Kaffeehaustraditionen einander nicht gegenüber gestellt werden. Um die kulturelle Erfahrung im europäischen Kaffeehaus angemessen untersuchen zu können, müssten nämlich thematische ›Vergleichsräume‹ konstruiert werden, um in der Folge Merkmale für ein eigenes Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ aufstellen zu können. Diese Vorgehensweise, welche am Ende dieses Kapitels erläutert wird, soll in dieser Arbeit gewählt werden.
II.1.
Zum Pariser Café
Obwohl der Kaffee schon 1644 aus Konstantinopel über die Hafenstadt Marseille nach Frankreich gekommen war, und der Orientreisende Jean de Thevenot das Getränk 1658 in seinem privaten Pariser Bekanntenkreis eingeführt hatte, sollte es noch bis 1669 dauern, bis der Kaffee durch Soliman Aga, den türkischen Gesandten Mohammeds IV., dem breiten französischen Publikum zugänglich gemacht wurde. Die ersten Kaffeestuben wurden ab 1672 von armenischen und persischen Kaffeesiedern eingerichtet, welche jedoch in der Pariser Bevölkerung kaum Anklang fanden, da sie recht klein und düster anmuteten, sehr bescheiden und nach orientalischer Art ausgestattet waren.40 Das erste Kaffeehaus von typisch französischer Art wurde 1689 von dem Italiener Francesco Procopio dei Coltelli eröffnet, der als Autorität in Geschmacks- und Modefragen gefeiert wurde. Sein Café erhielt nicht nur viel Zuspruch, weil es als erstes französisches Café Speiseeis anbot, sondern auch, da er sein Kaffeehaus mit Hilfe von Spiegelwänden, Marmorfliesen und filigranem Mobiliar zeitgenössisch und dem europäischen Stilempfinden entsprechend eingerichtet hatte. Hier, im Café Procope, begann im vorrevolutionären Frankreich die Geschichte des Pariser Kaffeehauses, welches vor allem von bürgerlichen Schichten besucht wurde, da der Adel meist seine Salons als Ort des
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Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 24f. Dies ist auch der Eigenschaft des Sammelbandes geschuldet. Vgl. Hermann Westerfrölke: Englische Kaffeehäuser als Sammelpunkte der literarischen Welt im Zeitalter von Dryden und Addison, Jena 1924, S. 3f.
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Kaffeegenusses vorzog. Im Gegensatz zu den Frauen anderer Städte begeisterte sich vor allem die Damenwelt von Paris für die neue Gepflogenheit des Cafébesuchs, da sie es als sehr elegant empfand, aus kleinen orientalischen Porzellantassen ihren Mokka zu trinken und dabei auf orientalischen Kissen zu sitzen.41 Das Café Procope war aufgrund seiner direkten Nähe zur Comédie Française zunächst das Kaffeehaus der Pariser Literaten, wie Voltaire, Rousseau und Diderot, bevor es 1770 nach dem Umzug der Comédie Française in das Palais Royal Revolutionäre wie Danton und Marat beherbergte.42 Den Umschwung vom anti-erotischen französischen Café des 18. Jahrhunderts, dem »Paradeort bürgerlicher Tugend und Geschäftigkeit«43 , der nur Männern Zutritt gewährte, zum erotischen Freizeit-Café des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in dem die Prostitution blühte und Frauen zugelassen waren, beschreibt ein von Gabriele Obrist und Roger Fayet konzipierter Ausstellungskatalog des Johann Jacobs Museums in Zürich zur Ausstellung Gesellschaft – Literatur – Politik. Das Pariser Café als Spiegel sozialen und kulturellen Wandels.44 Deutlich wird insbesondere in Fayets Text, wie sich gesellschaftliche Zusammenkünfte und die Art der Geschäftstätigkeit veränderten: Wenn zuvor das Kaffeehaus der Ort war, wo man seine Geschäfte führte, wurde es nun zum »Ort des ökonomischen Verlustes«, zum Ausweichsort, zur Nische, die man aufsuchte vor der Arbeit, um sie hinauszuschieben, während der Arbeit, um sie zu unterbrechen, nach der Arbeit, um sie zu beenden.
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Vgl. Isaac D’Israeli: Curiosities of literature, London 1867, S. 295f. Vgl. Jünger: Herr Ober, einʼ Kaffee!, S. 72. Vgl. auch Heinrich Cunow: Politische Kaffeehäuser. Silhouetten aus der großen Französischen Revolution, Berlin 1925. Dieser schmale Band erzählt anekdotenhaft und chronologisch die Rolle der Pariser Cafés während der französischen Revolution zwischen 1788 und 1796. Der Text ist ansprechend geschrieben und angenehm zu lesen, verwendet jedoch keine Quellenangaben. Man erfährt darin, dass die Cafés am Palais Royal, wie das Café de Foy und das vornehme Café Corazza, sowie diejenigen in den Tuilerien, zum Beispiel das Jakobinercafé Café Hottot, während der Revolution und später unter Napoléon bedeutsam wurden, da sie den politischen Intellektuellen in den Zeiten, in denen es noch keine regelmäßig erscheinenden Tageszeitungen, dafür aber die königliche Zensurbehörde und viele Analphabeten gab, eine Austauschbörse für alle aktuellen Nachrichten boten. So bahnte sich in den Cafés die Demokratisierung und moralische Befreiung der französischen Gesellschaft an, indem man motiviert wurde, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese zu vertreten. Roger Fayet: »Tugendstätte und Lasterhöhle«, in: ders./Gabrielle Obrist (Hg.): Gesellschaft, Literatur, Politik. Das Pariser Café als Spiegel sozialen und kulturellen Wandels, Ausstellungskatalog Johann Jacobs Museum, Zürich 1994, S. 11-17, S. 13. Neben den Essays bietet der Katalog eine thematische gegliederte Anthologie verschiedener Texte mit Quellenangabe sowie Abbildungen zahlreicher Holz- und Kupferstiche, Fotographien, Zeichnungen und Lithographien. Methodisch werden diese künstlerischen Artefakte und Ausschnitte aus der in Paris entstandenen Literatur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts verwandt, um soziale Veränderungen darzustellen und zu verdeutlichen, inwieweit sich gesellschaftliche Veränderungen anhand des Kaffeehauses als Knotenpunkt der Öffentlichkeit ablesen lassen. Durch diese kreative und interdisziplinäre Verknüpfung verschiedener kultureller, künstlerischer und literarischer Zeugnisse eröffnete sich für das Publikum der Ausstellung ein polyphones und kontroverses, vor allem aber sehr dichtes Bild des Pariser Cafés im 19. Jahrhundert, welches durch die Texte im Katalog informativ abgerundet wird.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
Das Kaffeehaus ermöglichte seinen Besuchern, Bedürfnisse zu stillen, die im Erwerbsleben zu kurz kamen.45 Mit der Verwandlung des Pariser Cafés von einem seriösen Geschäftsort zu einer Lokalität der Unsittlichkeit wechselten auch die Stammgäste: Dies waren nun nicht mehr die Kaufleute und ›anständigen‹ Bürger, die miteinander Handel treiben wollten, sondern Künstlerinnen, Schriftsteller, Maler oder Prostituierte, Menschen also, die im Volksmund als »Verweigerer von bürgerlicher Arbeit und Moral«46 galten. Dieser Umstand wiederum zog Menschen mit ›normalen‹, bürgerlichen Berufen an, die für einen Moment der Alltäglichkeit ihres tristen Daseins entfliehen wollten, um »eine wenigstens für den Augenblick geltende Versöhnung mit den Widersprüchen der sozialen Ordnung sowie ein[en] Gewinn an Lebensfreude und Erotik«47 zu erhaschen. In W. Scott Haines 1996 erschienener Monographie The World of the Paris Café, welche das gesellige Beisammensein der französischen Arbeiterschaft im Café zwischen 1789 und 1914 untersucht, wird eine breite Mischung an verschiedenen und ausgezeichnet recherchierten Quellen genutzt.48 Diese innovative Annäherung an den Gegenstand zeichnet sich aus durch eine gewissenhafte Recherche seriöser Quellen sowie eine kombinierte Auswertung von privaten und amtlichen Dokumenten, also von Individualschicksal und Öffentlichkeit. Als gewinnbringende theoretische Basis seiner Untersuchung führt Haine die Erkenntnisse Jürgen Habermasʼ zur Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit und diejenigen von Michel Foucault zu Strafe und Disziplin, Hierarchie und staatlicher Kontrolle innerhalb der Gesellschaft49 zu einer überzeugenden Synthese zusammen: Combined, their two perspectives illuminate the two strong forces that vied for the café: the discipline imposed by the government, bosses, landlords, or concierges on café customers, as opposed to the customer’s self-expression.50 Dabei greift er Foucaults Sichtweise auf das Café als Umkehrung des Gefängnisses, des Sanatoriums, des Irrenhauses und des Altenheims auf und verknüpft diese mit der Idee der Ebenbürtigkeit des Individuums bei Habermas, die sich im Café mustergültig 45 46 47 48
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Fayet: »Tugendstätte und Lasterhöhle«, S. 13. Fayet: »Tugendstätte und Lasterhöhle«, S. 17. Fayet: »Tugendstätte und Lasterhöhle«, S. 16. Scott W. Haine: The World of the Paris Café: Sociability among the French Working Class, 1789-1914, Baltimore 1996. Neben allgemeinen journalistischen, literarischen, moralistischen, wirtschaftlichen, politischen und soziologischen Darstellungen des Kaffeehauslebens im Paris des 19. Jahrhunderts befinden sich darunter auch Gerichtsbeschlüsse, Heiratsurkunden, Autobiographien, Konkurs- und Demographieberichte sowie Polizeiakten. Zusätzlich zu den schriftlichen und graphischen Quellen sind der Untersuchung Gemälde und Lithographien, beispielsweise von Henri Toulouse-Lautrec, sowie Stiche und Karikaturen aus Pariser Wochenblättern vorangestellt. Allerdings bleiben die in Graustufen gehaltenen Illustrationen im Gegensatz zu dem zuvor erwähnten Ausstellungskatalog des Johann Jacobs Museums unkommentiert und werden weder in den Text eingebunden noch wird die Auswahl näher erläutert. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1971, S. 42-87 und Michel Foucault: Surveiller et punir: Naissance de la prison, Paris 1975. Haine: The World of the Paris Café, S. 248.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
manifestiere: »The café was a place where a network of multiple exchanges and individualities embodying egalitarian rather than hierarchical contacts could develop.«51 Was laut Haine hier fehlt und von ihm selbst hinterfragt wird, ist die proletarische Seite der Öffentlichkeit sowie ihre hitzige und derbe Art der Äußerungsformen. Habermas betrachte nur die eher leidenschaftslose Diskussion der Bourgeoisie, wohingegen Haine insbesondere die Kommunikationsmethoden der Arbeiterklasse erforscht und dabei das Café als Schlüssel sieht, mit dem man die Entstehung der öffentlichen Meinung der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert erklären könne: »Only with this key in hand can we begin to rethink and nuance our notion of class consciousness and class action.«52 Das wichtigste Ergebnis von Haines Analyse ist aber die Tatsache, dass das Café einerseits Gegenstand von Stereotypenbildung ist, wobei ebenjene Stereotypen durch die Analyse von positiven, negativen sowie neutralen Stimmen aufgezeigt werden, und dass es andererseits als »privileged space«53 in der Lage ist, die verschiedensten Facetten menschlicher Geselligkeit innerhalb eines urbanen Mikrokosmos zu Tage treten zu lassen. Dabei legt der Autor das Augenmerk auf die besondere charakteristische Funktion des Cafés als ›Brücke‹ beziehungsweise ›Schnittstelle‹ zwischen den Welten und als Schauplatz eines ›Umschlagsmoments‹ – diese Metaphern werden auffällig oft bemüht, wenn die Funktion des Cafés beschrieben wird. Haine spricht etwa vom Café als »potential bridge between the ordinary world and festival time of carnival and revolution.«54 Das Café ist ein Bindeglied zwischen typischen antagonistischen Polen, wie Arbeit und Freizeit, Öffentlichkeit und Privatsphäre, männlich und weiblich, politisch und unpolitisch, betrunken und nüchtern – es ist »›betwixt and between‹ the worlds«55 , wodurch sich anhand des Cafés gesellschaftliche Spannungen zum Ausdruck bringen lassen.56 Darüber hinaus verwendet Haine noch drei weitere Metaphern, die das Café als gemeinschaftlich genutzten Ort und soziales Forum illustrieren: die Zuflucht, der Brutkasten und die Bühne. Dabei beschreibt das »shelter image« das Café als Ort des Unterschlupfes, wo die Arbeiterklasse innerhalb eines geschützten Rahmens ihre Gefühle, Haltungen und Meinung äußern durfte und gleichzeitig ihre Diskussionsfähigkeit erproben konnte. Die zweite bildliche Umschreibung, das »incubator image«, bezieht sich auf die motivierende Antriebskraft, die durch die Gesellschaft im Café gefördert wurde, und eine Art Ersatz darstellte für die Parlamente, bürgerlichen Versammlungen und Salons der oberen gesellschaftlichen Klassen. Die »stage metaphor« schließlich stellt das Café in die Nähe des Bühnenspiels, da sich dort komplexe soziale Dramen und Tragödien ereigneten wie auf einer Theaterbühne, wo verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Schichten, Männer wie Frauen, Alte und Junge, ihre Rolle im ›Schauspiel des Lebens‹ übernehmen und miteinander interagieren. Zudem gibt es wie im Theater 51 52 53 54 55 56
Haine: The World of the Paris Café, S. 248. Haine: The World of the Paris Café, S. 249. Haine: The World of the Paris Café, S. x. Vgl. Haine: The World of the Paris Café, S. 237f. Haine: The World of the Paris Café, S. 237f. Haine bemüht hier eine Formulierung Victor Turners. Vgl. »As an informal institution that bridged the distance between public and private life, leisure and work, the individual and the family, the café provided a unique space in which the tensions arising from such juxtapositions could be articulated.«, in: Haine: The World of the Paris Café, S. 236.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
auch im Café ein Publikum, das dem Schauspiel vom Zuschauerraum aus zusieht. Alle drei Metaphern beleuchten sehr anschaulich das menschliche Zusammenleben im Café im Paris des 19. Jahrhunderts.57 Drei weitere Artikel58 zum Pariser Kaffeehaus des 19. Jahrhunderts wurden im bereits erwähnten Sammelband von Michael Rössner veröffentlicht, darunter der kurze Text »Das ›Chat Noir‹ als Laboratorium der Avantgarde« vom Herausgeber selbst, welcher sich mit avantgardistischen Schreibverfahren und dem 1880 am Montmartre eröffneten Etablissement Le Chat Noir sowie der gleichnamigen Zeitschrift befasst, die ab 1882 herausgegeben wurde und das Geschehen im Lokal schriftlich festhielt. Ohne die Texte im Artikel tatsächlich miteinander zu vergleichen, rückt Rössner die im Le Chat Noir veröffentlichten französischen Kaffeehaus-Genres in die Nähe der humoristischen ›Greguería‹, der »›typischen Kaffeehausgattung‹ Ramón Gomez de la Sernas«, weil sich in beiden Genres »die typische Rezeptionssituation der Kaffeehausgruppe« abzeichne, »für welche die geistreiche Miniatur, die blitzartige und völlig inkongruente Verbindung zweier Ebenen mehr Wert besitzt als die sorgfältig komponierte Struktur des großen Werks.«59 Hier deutet Rössner erste Ansätze einer Gattungspoetologie der ›Kaffeehausliteratur‹ an, die aber im weiteren Verlauf nicht mehr aufgegriffen werden. Auch Johanna Borek grenzt das Pariser Kaffeehaus in ihrem Artikel mit dem Titel »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur?« entschieden von seinem Wiener Pendant ab. Sie stellt zwar fest, dass Paris »gemeinsam mit Wien Geburtsstätte des Mythos vom literarischen Kaffeehaus« ist, aber befindet daraufhin, dass das »Café mit dem Kaffeehaus so wenig gemein [hat] wie ein Chambéry mit einer Mélange«60 . Vordergründig unterscheide sich das Pariser Café vom Wiener Lokal zum einen darin, dass man in Paris Essen serviert bekomme und dort nicht nur Kaffee, sondern viel Alkohol trinke – sie nennt dies »die unheilige Pariser Allianz von Zigarette, Alkohol und (bisweilen halt doch) Kaffee«61 . Zum anderen manifestiere sich ein deutlicher Gegensatz zu Wien darin, dass die Pariser Cafés nicht nur die Heimat der Franzosen
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Insgesamt ist Haines Text eine sehr informative Studie über die Pariser Cafés im 19. Jahrhundert, die sich durch fundierte Recherche, eine breite Quellenbasis und präzise Analyse auszeichnet. Der Text wäre noch erkenntnisreicher und weniger repetitiv geworden, wenn die Kapitel nicht chronologisch aufgebaut, sondern vergleichend strukturiert wären, und die Methodologie sowie der Forschungsbericht nicht erst am Schluss erwähnt würden. Darunter ein Artikel von Gérard-Georges Lemaire mit dem Titel »Kleine Geschichte von Ästhetik und Koffein«, welcher das Verhältnis zwischen Kaffeehäusern und bildender Kunst eruiert. Darin beleuchtet der Autor, inwieweit ein Café zum zweiten Atelier für Maler und andere Künstler werden konnte und bezeichnet das Cabaret »Le Chat Noir« als das »Modell all dieser Lokale, die aus dem Kaffeehaus so etwas wie eine Synthese zwischen Theater und Galerie machen.«, GérardGeorges Lemaire: »Kleine Geschichte von Ästhetik und Koffein«, in: Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 264-286, S. 265. Michael Rössner: »Das ›Chat Noir‹ als Laboratorium der Avantgarde«, in: ders. (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 287-294, S. 291. Johanna Borek: »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur?«, in: Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 253-263, S. 253. Borek: »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur, S. 262.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
und Französinnen seien, sondern nach dem ersten Weltkrieg insbesondere »eine zentrale Rolle für ausländische Intellektuelle und Künstler«62 gespielt hätten, worin sich das weltoffene und internationale Wesen von Paris offenbare. An dieser Stelle lässt sich anmerken, dass die französischen Cafés auch kurz vor dem zweiten Weltkrieg wieder Anlaufstelle für zahlreiche Emigrierte waren, insbesondere für Deutsche, die auf der Flucht vor den Nationalsozialisten zunächst in Paris strandeten. In zahlreichen Romanen und Erzählungen wird die Rolle von Kaffeehäusern als Zufluchtsort während des deutschen Exils nach 1933 und als Schreibort von Schriftstellern und Schriftstellerinnen thematisiert, beispielsweise von Klaus Mann, Volker Weidermann, Anna Seghers oder Anna Gmeyner.63 Deutlich wird in diesen Texten, dass die Cafés in Paris und anderen französischen Städten wie Marseille für die deutschen Exilanten und Exilantinnen wichtige Anlaufpunkte nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten waren: Sie stellten urbane Orte der Begegnung dar, an denen man sich zu jeder Tages- und auch Nachtzeit mit Leidensgenossen und -genossinnen traf, um sich über Neuigkeiten, Ausweispapiere und eventuelle Arbeitsmöglichkeiten auszutauschen.64 Weiterhin besteht die Abweichung zu Wien laut Borek darin, dass man sich in Paris nicht hinter den Scheiben des Kaffeehauses ›verstecke‹, sondern die Außenterrasse der Cafés in Paris eine sehr große Rolle spiele, und somit die Stadt oder die Passage mit in das Kaffeehausleben einbezogen werde.65 Den Reiz des Wechsels zwischen Innen und Außen, Stadt und Café sowie zwischen beobachtenden Kaffeehausgästen und vorbeieilenden Passantinnen und Passanten erwähnt auch Walter Benjamin in seinem Text »Paris, die Stadt im Spiegel« (1929), in dem er die dichterische Inspiration beschreibt, die von den Pariser Spiegelbildern ausgelöst werde: In tausend Augen, tausend Objektiven spiegelt sich die Stadt. […] Paris ist die Spiegelstadt. […] Ein Überfluß von Spiegeln umfängt auch den Mann, zumal im Café (um es innen heller zu machen und all den winzigen Gehegen und Ställchen, in die Pariser Lokale zerfallen, eine erfreuliche Weite zu geben). Spiegel sind das geistige Element 62 63
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Borek: »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur, S. 255. Vgl. Klaus Mann: Der Vulkan. Roman unter Emigranten, Reinbek bei Hamburg 2010; Volker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft, Köln 2014; Anna Seghers: Transit, Werkausgabe I/5, Berlin 2001; Anna Gmeyner: Café du Dôme, hg. v. Birte Werner, Bern 2006. Eine weiterführende Erzähltextanalyse des Kaffeehauses als Schauplatz des Exils würde in jedem Fall neue Erkenntnisse bringen, aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Vgl. eine Analyse der CaféSchauplätze in den Romanen Transit von Anna Seghers und Café du Dôme von Anna Gmeyner in: Isabell Mandt: »›It’s the Home of Ghosts and Tourists‹ – Französische Cafés als (Nicht-)Orte des Exils 1933-45«, in: Sanna Schulte/Christian Zech (Hg.): Exil interdisziplinär II, Würzburg 2018, S. 107118. Vgl. Julia Franke: Paris, eine neue Heimat? Jüdische Emigranten aus Deutschland 1933-1939, Berlin 2000; Anne-Marie Corbin: »Die Bedeutung der Pariser Cafés für die geflohenen deutschsprachigen Literaten«, in: Anne Saint Sauveur-Henn (Hg.): Fluchtziel Paris. Die deutschsprachige Emigration 19331940, Berlin 2002, S. 88-101; Andrea Hammel: Everyday Life as Alternative Space in Exile Writing. The Novels of Anna Gmeyner, Selma Kahn, Hilde Spiel, Martina Wied, and Hermynia Zur Mühlen, Bern 2008.; Birte Werner: Illusionslos. Hoffnungsvoll. Die Zeitstücke und Exilromane Anna Gmeyners, Göttingen 2006. Vgl. Borek: »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur?«, S. 259.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
dieser Stadt, ihr Wappenschild, in das sich noch immer die Embleme sämtlicher Dichterschulen eingezeichnet haben. […] Spiegel werfen das bewegte Draußen, die Straße, in das Intérieur eines Caféhauses, wie ein Hugo, ein Vigny es liebten, Milieus einzufangen und ihre Erzählungen vor einen ›historischen Hintergrund‹ zu stellen.66 Borek betont zudem die Flüchtigkeit des Augenblicks, die dem Kaffeehausgast bewusst wird, wenn er auf die vorbeiflimmernden Stadtansichten schaut, die sich vor ihm ausbreiten: Der Kaffeehausbesucher sitzt sowohl in einem Interieur als auch auf der Straße; sei es nun hinter Glas oder im Freien: Das Café ist kein Ort der Zuflucht vor der Großstadt, sondern Teil von ihr. Von hier aus beobachtet er den Fluß der Passanten – Momentaufnahmen, flüchtige Bilder, Geschwindigkeit, Vergänglichkeit: Emblematik des Ephemeren.67 An dieser Stelle wird deutlich, warum im Umkreis der Pariser Literaten- und Künstlercafés avantgardistische Bewegungen wie der Surrealismus entstehen konnten, welche Kunst in die Lebens- und Alltagspraxis zu überführen versuchten. Den Surrealistinnen und Surrealisten, die während der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts im Pariser Café tagten und ihnen »die mythische Aura per Dekret«68 verliehen, dienten die Cafés denn auch nicht nur als gewöhnlicher Treffpunkt: Gerade aufgrund der »Alltagsbanalität« der zuvor völlig unbekannten Cafés konnten die Lokale »ästhetische Dignität«69 erringen und wurden zu einem Teil der Kunst. Als spezifisches Genre der Pariser ›Kaffeehausliteratur‹ dieser Zeit identifiziert Borek das ästhetische oder politische Manifest, welches »orale Elemente in rhetorisierter Gestalt aufnimmt und […] den Text zum performativen Akt macht«70 . Essentiell wichtig war es dabei stets, durch die Kunst eine breite Aufmerksamkeit zu erlangen. Diese meist inszenierte Öffentlichkeit war aber nicht nur für die Surrealisten und Surrealistinnen bedeutsam, sondern wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg von Autorinnen und Autoren wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre fortgeführt. Ganz anders äußert sich der 2014 verstorbene amerikanische Publizist Herbert R. Lottman 1965 in der Saturday Review über die Cafés seiner Wahlheimat Paris, wo er viele beschauliche Mußestunden verlebt habe: If you’re left in peace, you are sitting in a literary café. No other definition holds up as well, alas, and the city is fortunate that can sustain more than one café where you may sit for hours over coffee or an apéritif, without the pressure of bullying waiters or waiting customers. […] Above all, then, the literary café – the most satisfactory literary
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Walter Benjamin: »Denkbilder«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1972, S. 305-438, S. 358f. Borek: »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur?«, S. 259. Borek: »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur?«, S. 258. Borek: »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur?«, S. 258. Borek: »Paris – Stadt der Literatencafés, Stadt ohne Kaffeehausliteratur?«, S. 255.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
salon – is a place to sit down, without too much bother or out-of-pocket-expense. […] In a fast-moving world, it is a marvel that the literary café still exists.71 Lottman stellt die mußevolle Atmosphäre der Pariser Cafés, die er dort findet, derjenigen Atmosphäre anderer Cafés in New York oder Rom gegenüber, »where happiness is equated with speed«72 , Städte, in deren Cafés man möglichst schnell bedient werde, rasch einen Drink zu sich nehme, um das Lokal anschließend wieder zu verlassen. In Paris dagegen werde der Gast vom Kellner in Ruhe gelassen und könne sich ganz dem Lesen einer Zeitung, dem Schreiben eines Textes oder dem Tagträumen widmen: »The coffee grounds become gluey. The passing waiters ignore you, and you don’t budge.«73 Ebenso betont Noël Riley Fitch die besondere, geruhsame Atmosphäre der Pariser Cafés und die dort beheimatete genussvolle Lebensart.74 Sie kontrastiert diese Cafés wie Lottman mit einem US-Coffeeshop, in dem man nur seinen Durst stillen, aber nicht länger verweilen könne: Cafés provide some of the basic necessities of life: coffee, cigarettes, toilets, newspapers and telephones. Add stamps and postcards, […] and, most essential, a comfortable environment where you will not be reminded of the hour. Contrast this to the United States, where thirst is quenched at a public drinking fountain or bustling coffee shop and where flights of fancy are brought to earth by a clock, perhaps chiming every quarter hour.75 Fitch stellt die Cafés in eine Reihe mit einigen österreichischen Kaffeehäusern, in denen man auch lange verweilen und genießen könne: »The café is closely related to, and sometimes difficult to distinguish from, the coffee house of Austria […].«76 Letzteres soll im Folgenden näher vorgestellt werden.
II.2.
Zum Wiener Kaffeehaus
Beim Gedanken an Österreichs Hauptstadt stellen sich rasch einige Assoziationen ein, die wie typische Klischees anmuten: Theater, klassische Musik und besonders der Wiener Walzer, Mehl- und Süßspeisen, wie die Sachertorte, sowie das Wiener Kaffeehaus mit seinen vielfältigen Kaffeespezialitäten. Wien ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Stadt der Traditionsbewahrung und der sehnsuchtsvollen Nostalgie, wo sich die
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Herbert R. Lottman: »Splendors and Miseries of the Literary Café«, in: Saturday Review, 13.03.1965, S. 34-35; 119-121, S. 34. Lottman: »Splendors and Miseries of the Literary Café«, S. 34. Lottman: »Splendors and Miseries of the Literary Café«, S. 35. Vgl »If the French […] have excelled in the art of living […] one of the most visible manifestations of this art is the café. Here one can sit in peace for hours, not hassled by impatient waiters or waiting customers. Here one can read and write in the morning, conduct business in the afternoon, and laugh and argue with friends at night.«, in: Noël Riley Fitch: Literary Cafés of Paris, Washington/Philadelphia 1989, S. 9. Fitch: Literary Cafés of Paris, S. 9. Fitch: Literary Cafés of Paris, S. 10.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
Multikulturalität der Donaumonarchie, innovative Kreativität sowie überholt erscheinende, konservative Wertvorstellungen in der Örtlichkeit des Cafés vereinen. Dieses wird beständig so nostalgisch verklärt, dass es schwer ist, die Legende von der Realität zu unterscheiden und das Kaffeehaus nicht als pures ›Klischee‹ zu behandeln.77 In der Forschung wird daher oft hinterfragt, ob eine »unverstellte Betrachtung« des Kaffeehauses, »dieser kulturell so bedeutenden Einrichtung, die längst zu einem Mythos geworden ist, der mit einer derartigen Fülle von Anekdoten und Legenden besetzt ist«78 , überhaupt denkbar ist. Die Forschungsliteratur zum Wiener Café hinterfragt demnach die am häufigsten genannten Legenden und beleuchtet Themen wie die vorgeblich sehr gemächliche und mußevolle Wiener Lebensart, die Rolle des Kaffeehauses als öffentlicher und gleichzeitig privater Raum sowie die traumatische Zerstörung des (jüdischen) Kaffeehauslebens durch den Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933.79 Obwohl das erste Café dort nicht vor 1685 eröffnet wurde80 , gilt Wien in der geläufigen Vorstellung als die Stadt des ursprünglichen Kaffeehauses, welches sowohl in seiner Ausstattung als auch in seinem atmosphärischen Gepräge als Vorbild für andere Cafés in Europa diente. Diese fast zwangsläufige Verknüpfung des Lokals mit dieser Stadt begründet sich einerseits in der Tatsache, dass sich das Kaffeehaus äußerlich sehr harmonisch in Wiens Stadtbild einfügt und sich »zum Symbol einer ganzen Lebensart«81 entwickelt hat, nachdem die Stadt von Kaiser Franz Joseph nach 1858 erneuert und mit prachtvollen Gebäuden und einem Boulevard, der Ringstraße, ausgestattet worden ist. Andererseits scheint die Einrichtung des Kaffeehauses auch dem Lebensgefühl der Wiener und Wienerinnen zu entsprechen: Denn bis in die Gegenwart hinein hat sich sowohl bei Besuchern und Besucherinnen als auch bei Einwohnern und Einwohnerinnen das Bild Wiens als Stadt der Gelassenheit, Langsamkeit und genussorientierten Gemütlichkeit geformt und erhalten.82 Diese gemächliche Lebensform ist früher meist von Reisenden aus Nordeuropa kritisiert worden, wie dem durch preußische Tugenden geprägten Berliner Friedrich Nicolai, der 1781 auf einer Reise feststellt: Alles liebt in Wien Gemächlichkeit, Vergnügen, Zerstreuung, Genuß; und wer dieses liebt, findet gewiß keinen Ort diesem gleich. Sicherlich giebt [!] es nirgends in Deutschland so viel Müßiggänger als in Wien. Man darf zu allen Zeiten des Tages in die Kaffeehäuser und im Sommer in die Kaffeegärten gehen, so findet man beständig eine Menge Menschen, die sich mit Nichts beschäftigen.83 77
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Vgl. Gilbert Carr: »Time and Space in the Café Griensteidl and the Café Central«, in: Charlotte Ashby/Tag Gronberg/Simon Shaw-Miller (Hg.): The Viennese Café and Fin-de-Siècle Culture, New York 2013, S. 32-49, S. 32f. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 32. Vgl. Ashby: »Introduction«, S. 4. Vgl. Birgit Schwaner/Kurt-Michael Westermann: Das Wiener Kaffeehaus. Legende. Kultur. Atmosphäre, Wien/Graz/Klagenfurt 2007, S. 30. Allan Janik/Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien, übersetzt v. Reinhard Merkel, München 1989, S. 51; vgl. auch S. 50. Vgl. Brigitta Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, Frankfurt a.M. 2003, S. 181ff. Vgl. auch Kapitel V.3.2.2. Friedrich Nicolai: »Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 17, hg. v. Bernhard Fabian/Marie-Luise Spieckermann, Hildesheim/Zürich/New York 1994, S. 236.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Der ausgedehnte Besuch eines Kaffeehauses scheint eine ausgesprochen österreichische Gewohnheit zu sein, die von niemandem in Hinblick auf die verfügbare Zeit infrage gestellt wird. Ganz im Gegenteil komme den Wienern und Wienerinnen der Besuch ihres Kaffeehaus so natürlich vor »wie An- und Ausziehen«84 , so dass Bruno Walter sich fragt, woher »all diese Minister, Beamten, Ärzte, Rechtsanwälte, Offiziere, Kaufleute, Handwerker, Journalisten, Dichter, Musiker usw. die Zeit [nahmen] zu ihrem täglichen stundenlangen Verweilen und Beieinandersitzen in den unzähligen Kaffeehäusern?«85 So waren die Wiener Cafés ab Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges für die Menschen eine unentbehrliche Institution, die denjenigen ein Refugium bot, die sich inmitten des großstädtischen Lebens zeitweilig vom direkten Kontakt zu anderen zurückziehen, aber nicht gänzlich allein sein wollten. Im Gegensatz zu Pariser Cafés, in denen die Besucherinnen und Besucher durch die hohen Fensterscheiben meist vom Boulevard aus sichtbar sind, wirken die Wiener Kaffeehäuser weniger durchlässig, da durch Fensternischen und Vorhänge mehr intime Exklusivität geschaffen wird.86 Daher kann der Kontrast zwischen kommunikativer Geselligkeit und kontemplativem Rückzug, der im Kaffeehaus »als Insel abseits der geschäftigen Welt draußen«87 gelebt wird, als eines der konstitutiven Merkmale dieser Institution angesehen werden. Neben dieser gesellschaftlichen Komponente spielten die Wiener Kaffeehäuser eine relevante politische Rolle während der nationalsozialistischen Herrschaft, da viele Stammgäste jüdisch waren. Den meisten dieser Gäste waren die Kaffeehäuser zu einer Heimat geworden, da ihnen schon vor den 1930er Jahren der Zutritt zu anderen exklusiven gesellschaftlichen Institutionen, wie dem ›Club‹ oder dem ›Salon‹, meist verwehrt geblieben war und somit das Kaffeehaus der zentrale Treffpunkt gesellschaftlicher Öffentlichkeit für sie darstellte, wo ein sozialer und kultureller Austausch weiterhin möglich war: the café emerged as an attractive alternative, first as a site for informal business and commodity exchange, and later as a site of political, cultural and literary exchange. In many European cities Jews were enthusiastic participants and sometimes initiators of café culture.88 Die jüdischen Gäste kamen aber nicht nur ins Kaffeehaus, weil sie in anderen Lokalen nicht gern gesehen wurden oder weil sie, wie Shachar Pinsker erläutert, zum Teil aus ökonomischen Gründen aufgrund ihres Handels mit Kaffee, Tee, Zucker oder Kakao mit dem Kaffeehaus in Verbindung standen89 , sondern insbesondere auch, da das 84 85 86
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89
Bruno Walter: Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken, Stockholm 1947, S. 204. Walter: Thema und Variationen, S. 203f. Vgl. Charlotte Ashby: »The Cafés of Vienna: Space and Sociability«, in: dies./Tag Gronberg/Simon Shaw Miller (Hg.): The Viennese Café and Fin-de-Siècle Culture, New York 2013, S. 9-31, S. 20. Vgl. auch Kapitel V.3.2. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 34. Vgl. auch die Verwendung der ›Insel-Metapher‹ z.B. in Heimito von Doderers Strudlhofstiege,Kapitel V.3.2 dieser Arbeit. Shachar Pinsker: »Between ›The House of Study‹ and the Coffeehouse. The Central European Café as a Site for Hebrew and Yiddish Modernism«, in: Charlotte Ashby/Tag Gronberg/Simon ShawMiller (Hg.): The Viennese Café and Fin-de-Siècle Culture, New York 2013, S. 78-97, S. 79. Pinsker: »Between ›The House of Study‹ and the Coffeehouse, S. 79.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
Kaffeehaus als Ort der Moderne eine besondere Sicht auf die Welt und ein ganzheitliches Lebensgefühl verkörperte, mit denen sich Stephen Beller zufolge die ›assimilierten Wiener Juden‹ in Einklang sahen. Beller, der das Wiener Kaffeehaus als jüdisches Reich in der soziokulturellen Landschaft Wiens bezeichnet90 , hält das dort von jüdischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen verfasste Feuilleton für eine Textsorte, die aus der Symbiose zwischen jüdischer Integration und Akkulturation innerhalb der Wiener Gesellschaft hervorgegangen und in der das Kaffeehaus, auch wenn es nicht wörtlich erwähnt werde, stets präsent sei, weil es das ›räumliche Äquivalent‹ zum Feuilleton darstelle: »By implication, therefore, the feuilleton and the coffeehouse are the terrain on which the Viennese-Jewish symbiosis – for good or ill – is taking place.«91 Nach der ›erzwungenen Arisierung‹ des Kaffeehauses durch die Nationalsozialisten wurde dieser ›jüdische Raum in der Stadt‹ und mit ihm das frühere Kaffeehausleben zerstört.92 Neben dem von Charlotte Ashby herausgegebenen Sammelband und den einschlägigen Studien der Exilforschung finden sich auch ›Studien‹, die das Kaffeehaus aus der nationalsozialistischen Perspektive beleuchten: So beschreibt Gustav Gugitz beispielsweise in seiner von der nationalsozialistischen Ideologie durchdrungenen Chronik des Wiener Kaffeehauses, wie die »Arisierung« einer »gepflegte[n] Gaststätte von Weltruf« vorangetrieben werden soll, welche einen »lebhaften Ausdruck des bodenständigen Volkslebens« darstelle«93 : Das Dritte Reich hat mit dieser ihrer Befreiung von aufgepfropften fremden Elementen auch die verheißungsvolle Möglichkeit für eine neue Ära des Wiener Kaffeehauses geschaffen, in der die nicht mehr artfremden Besucher mit ihren Belangen wieder näher zusammenrücken werden.94 Gugitz wirft den Juden und Jüdinnen vor, das ursprüngliche Wiener Kaffeehaus aus der ›goldenen Zeit des Vormärz‹ durch ihre Anwesenheit in ein »Zerrbild«95 desselben verwandelt zu haben, und die jüdisch-kapitalistische Weltherrschaft »mit den typischen Kaffeehausgeschäften und die moralische Zersetzung der Volksgemeinschaft mit Hilfe der demokratischen Presse«96 angebahnt zu haben. Obwohl in diesem Werk Unwahr-
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Vgl. »[…] there was a strong connection between the coffeehouse and Jews: not only that Jews ›belonged‹ there, but […] the coffeehouse as a centre of cultural innovation was a Jewish realm in the socio-cultural landscape of Vienna and Central Europe. […] The character of the coffeehouse as a centre of the modern culture of Vienna 1900 did depend on its being in that part of the sociocultural landscape of Vienna and Central Europa in which Jews, inclusively defined here as individuals of Jewish descent, predominated. And its symbolic power to this day lies in the fact that the coffeehouse was a vehicle for, and represented, a world – a world-view, a whole way of life that was largely that of the region’s ›assimilated‹ Jews.«, in: Steven Beller: »›The Jew Belongs in the Coffeehouse‹. Jews, Central Europe and Modernity«, in: Charlotte Ashby/Tag Gronberg/Simon Shaw-Miller (Hg.): The Viennese Café and Fin-de-Siècle Culture, New York 2013, S. 50-77, S. 51. Beller: »›The Jew Belongs in the Coffeehouse‹«, S. 52. Vgl. Ashby: »Introduction«, S. 4. Die Zerstörung des Kaffeehauses im Zuge des Zweiten Weltkrieges wird im späteren Verlauf nochmal aufgegriffen werden. Gustav Gugitz: Das Wiener Kaffeehaus. Ein Stück Kultur- und Lokalgeschichte, Wien 1940, S. 208. Gugitz: Das Wiener Kaffeehaus, S. 211. Gugitz: Das Wiener Kaffeehaus, S. 210. Gugitz: Das Wiener Kaffeehaus, S. 209.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
heiten stehen, die Sachverhalte vollständig verzerrt und zugunsten einer rassistischen Denkweise verdreht werden, wird es bedauerlicherweise auch in der Nachkriegszeit noch ohne Kommentar in einigen Bibliographien als Standardwerk über das Wiener Kaffeehaus genannt.97
II.3.
Auswahlkriterien des Textkorpus und vergleichende Vorgehensweise
Das dieser Dissertation zugrunde liegende Textkorpus ist sehr umfangreich, dezidiert komparatistisch ausgerichtet und umfasst eine breite Auswahl eher kleinformatiger, sowohl literarischer als auch publizistischer Genres, wie Feuilletons, Essays, Kurzgeschichten, Zeitungsartikel und autobiographische Fragmente. Zusätzlich werden Passagen aus Romanen, Interviews oder Radiosendungen herangezogen, wenn es für die Untersuchung sinnvoll erscheint.98 Der Schwerpunkt des Untersuchungszeitraums liegt auf der Zwischen- und Nachkriegszeit, wobei insgesamt Texte aus dem gesamten 20. und 21. Jahrhundert vertreten sind.99 Einbezogen werden insbesondere Texte amerikanischer, französischer, italienischer, deutscher und österreichischer Autoren und Autorinnen, welche europäische Kaffeehäuser und das Schreiben in ihnen thematisieren beziehungsweise sie als Schauplatz des Geschehens betrachten. Abgesehen von dem unter Kapitel III. vorgestellten Methoden- und Theoriemodell werden in dieser Arbeit weitere relevante kulturwissenschaftliche und raumtheoretische Texte im Zusammenhang mit der späteren konkreten Textanalyse diskutiert100 , da auch Texte eine Rolle spielen werden, die aufgrund ihrer ›Zwitterposition‹ nicht eindeutig dem literarischen, publizistischen oder dem theoretischen Feld zugeordnet werden können – dies ist aber nicht negativ konnotiert, sondern soll als Spezifik dieser Texte sowie des Genres der ›Kaffeehausliteratur‹ begriffen werden. Ziel der Arbeit soll es dabei sein, eine aussagekräftige Schnittmenge an Texten zusammenzustellen, die zu den Diskursen ›Kaffeehaus‹ und ›Schreibort‹ aufgrund ihrer formalen wie semantischen Kriterien in Bezug stehen. Hierbei folgt die Arbeit der Prämisse, dass dem Kaffeehaus eine hochgradig interkulturelle Bedeutung zukommt, der erst durch die Polyphonie vielfältigster Stimmen Ausdruck verliehen werden kann. Zudem soll vorausgesetzt werden, dass die Autoren und Autorinnen diesen Schauplatz bewusst und poetologisch begründet ausgewählt haben.101 Damit knüpft die ArZ. B. in Thiele-Dohrmann: Europäische Kaffeehauskultur, S. 252, Jünger: Herr Ober, einʼ Kaffee!, S. 215. Nicht mit einbezogen werden sehr kleine Textformen wie Aphorismen, da diese nicht die unter IV.4 genannten Merkmale aufweisen und nicht in die thematische Gliederung eingeordnet werden können. 99 Vereinzelt wird auf wenige Texte eingegangen, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts publiziert wurden. 100 So gibt es im Theorieteil dieser Arbeit beispielsweise kein explizites Kapitel, das sich mit der Raumtheorie befasst, sondern vielmehr werden die für diese Arbeit notwendigen raumtheoretischen Konzepte, wie dasjenige von Michel Foucaults Heterotopie oder Marc Augés Nicht-Ort in den jeweiligen Textanalysekapiteln eingeführt. Auf diese Weise kann eine direkte und produktive Verknüpfung der kulturwissenschaftlichen Konzepte mit der Literatur erfolgen. 101 Vgl. zu den Auswahlkriterien eines Textkorpus: Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien, Göttingen 2008, S. 55.
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II. Forschungsüberblick und Textkorpus
beit unter anderem an die vergleichende Methodik der Literatur- und Kunstgeographie und der regionalen Literaturwissenschaft an. Diese Disziplinen gehen davon aus, »dass eine referentielle Beziehung zwischen inner- und außerliterarischer Wirklichkeit besteht«102 und sind laut Armin von Ungern-Sternberg »nur als komparatistische denkbar.«103 Zudem sei zum Referenzieren verschiedener Werke »eine adäquate Materialbasis« erforderlich, »um zu eruieren, in welcher Weise literarische Werke auf eine Region reagieren, beziehungsweise was sie aus ihr ›machen‹«104 und inwieweit der »vom literarischen Text eingefangene Geist«105 dem Ort inhärent sei. Weil das Fehlen einer vergleichenden Vorgehensweise in vielen Arbeiten zum Thema auffällt, wird diese Methodik hier besonders betont, da man Texte mit Bezug zu einem europaweiten Phänomen wie dem Kaffeehaus besser versteht, wenn sie im interkulturellen Kontext beleuchtet und mit ähnlichen Erscheinungen in unterschiedlichen Kulturen und Literaturen in Beziehung gesetzt werden: Die Leistung des Vergleichs besteht darin, dass er sowohl die Besonderheit beziehungsweise Eigenart der jeweiligen Komparata, d.h. das, was sie trennt, als auch ihre Allgemeinheit, d.h. das, was sie verbindet, herausarbeitet. Besonderes und Allgemeines sind im Vergleich dialektisch aufeinander bezogen und bedingen einander wechselseitig.106 Wer nicht vergleiche, schreibt daher Ulrich Schulz-Buschhaus, werde übersehen, dass sich das Erkenntnisziel erst aus dem auf Feststellung von Gemeinsamkeit gerichteten Vergleich zahlreicher Verschiedenheit erreichen läßt. Der Spanien- (oder Frankreich- oder Italien-)Wissenschaftler vergißt, daß sein Erkenntnisziel die Kontrastierung eines unter einem allgemeinen Begriff geordneten Materials verwandter und deshalb vergleichbarer Phänomene fordert.107 Anschließend an Schulz-Buschhaus und Paul Pieper soll hier deshalb von einer breiten, komparatistischen Materialbasis ausgegangen werden, so dass mehr Rückschlüsse über
102 Piatti: Die Geographie der Literatur, S. 25. 103 Armin v. Ungern-Sternberg: Erzählregionen. Überlegungen zu literarischen Räumen mit Blick auf die deutsche Literatur des Baltikums, das Baltikum und die deutsche Literatur, Bielefeld 2003, S. 19. 104 v. Ungern-Sternberg: Erzählregionen, S. 18. Vgl. auch Piatti: Die Geographie der Literatur, S. 61f. 105 Piatti: Die Geographie der Literatur, S. 358. 106 Carsten Zelle: »Komparatistik und comparatio – der Vergleich in der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Skizze einer Bestandsaufnahme«, in: Vorstand der DGAVL (Hg.): Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Heidelberg 2005, S. 13-33, S. 29. Paul Pieper formulierte für die Kunstgeographie folgende Aussage, die sich aber auf die vergleichende Literaturwissenschaft übertragen lässt: »Man wird die Einheit im Verschiedenen, das Verbindende im Wandel der Zeitstile und Persönlichkeiten zunächst kaum erkennen. Dazu bedarf es des Gegensatzes wesensmäßig andersgearteter raumstilistischer Gruppen, erst im V e r g l e i c h kann sich Wesensart gegen Wesensart absetzen.«, in: Paul Pieper: Kunstgeographie. Versuch einer Grundlegung, Berlin 1936, S. 45. 107 Ulrich Schulz-Buschhaus: »Die Unvermeidlichkeit der Komparatistik – zum Verhältnis von einzelsprachlichen Literaturen und Vergleichender Literaturwissenschaft«, in: Arcadia 14:3, S. 223-236, S. 235.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
die Textsorte ›Kaffeehausliteratur‹ gezogen werden können.108 Das methodische Ziel dieser Arbeit soll es daher sein, rahmende ›Vergleichsräume‹109 zu schaffen, in denen die Texte einander nicht geographisch oder chronologisch, sondern nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert gegenüber gestellt werden und auf bestimmte andere Texte und Artefakte ihres kulturellen Umfeldes (zum Beispiel Fotographien, Zeitungsartikeln oder Gemälde) Bezug nehmen, um »Einblick in die sinnstiftende und kulturell prägende Qualität von Gattungen zu gewinnen.«110 Dafür ist es notwendig, die literarischen Gattungen auf ihr eigenes Außen hin zu überschreiten und das intermediale Zusammenspiel zwischen unterschiedlichen literarischen, filmischen und nicht-literarischen Gattungen beziehungsweise Textsorten zu untersuchen. Durch die gleichzeitige Berücksichtigung anderer Gattungen und Medien eröffnet sich ein differenzbewusster Vergleichsraum, in dem Affinitäten zwischen verschiedenen Gattungen, aber auch gattungsspezifische Besonderheiten bei der Verarbeitung, Repräsentation und Inszenierung des Wissens ihrer Entstehungszeit sichtbar werden.111 So sollen thematisch ausgerichtete Kapitel generiert werden, in die die Texte nicht nur gruppiert werden können, sondern die für die Textanalyse weiteren Erkenntnisgewinn versprechen. Wolfgang Hallet zufolge ist es dabei die Aufgabe der Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen, Kategorien festzulegen, die als Tertium Comparationis der Texte fungieren können und somit Beziehungen zwischen den Texten eines Diskurses und einem oder mehreren literarischen Texten zu beschreiben, die im Diskurs selbst nicht erkennbar waren oder sein konnten und die erst durch eine spezifisch kulturwissenschaftliche Herangehensweise offen gelegt [!] werden können. Dies ist z.B. der Fall, wenn für eine größere Zahl von literarischen Texten gemeinsame inhaltliche oder strukturelle Merkmale nachgewiesen werden können, die möglicherweise sogar den Kern einer neuen Gattung darstellen.112 Dieses Verfahren bezeichnet Hallet als »Text-Text-Modell«, welches für die kulturwissenschaftliche Literaturanalyse fruchtbar gemacht werden könne, wenn man nicht vom
108 »Um diese Blickrichtung wahrzunehmen und zu erkennen, wird ein anderer, weiterer Blick erforderlich: die Perspektive der Komparatistik, die sich hier einmal nicht nur dem Gemeinsamen, sondern […] gerade auch dem individuell Verschiedenen der Literaturen zuwendet.«, in: Pieper: Kunstgeographie, S. 224. 109 Vgl. »For it is the method of comparison that spatializes history, that opens up a space of comparison in the first place. The spatialization effected by comparison qua method should not be considered as a defect, but as a productive act.«, in: Christian Moser: »Comparison – Method or Ethos?«, in: Inquire: Journal of Comparative Literature 2:2 (2012), URL: http://inquire.streetmag.org/ articles/76 (21.07.2019). 110 Birgit Neumann/Marion Gymnich: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzeptes: Der Kompaktbegriff Gattung«, in: dies. (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Trier 2007, S. 33-52, S. 43. 111 Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. 43. 112 Wolfgang Hallet: »Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft«, in: Marion Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, Trier 2006, S. 53-70, S. 64.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
Einzeltext ausgehe, sondern von »Diskursen als Menge einander zugeordneter oder aufeinander beziehbarer Texte, in denen eine Gesellschaft ihr Wissen aufbewahrt.«113 Der Gefahr einer fehlenden Objektivierbarkeit dieser Methodik und der Textauswahl zu entgehen ist laut Hallet dabei nur möglich, wenn es gelingt, die für eine Kultur oder den untersuchten Diskurs als repräsentativ geltenden Texte auszuwählen. Da auch der Erfolg der Textanalyse von der gelungenen und kriteriengeleiteten Zusammenstellung des Textkorpus »als repräsentativem Ausschnitt eines Diskurses« abhängt, wurde diesem Arbeitsschritt hier besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt, da sich die Korpusdefinition »durch das Untersuchungsergebnis als Nachweis intertextueller Relativität und kultureller Repräsentativität«114 legitimiert. Das Gesamtziel soll es sein, herauszufinden, welche verschiedenen Arten von ›Kaffeehaustexten‹ existieren und inwiefern es möglich und sinnvoll ist, eine Typologie zu erstellen, in die die Texte eingeordnet werden können. Die in dieser Arbeit analysierten Texte werden zum Teil mehrmals an verschiedenen Stellen erwähnt, wobei sich die verschiedenen thematischen Unterkapitel jeweils auf bestimmte Motive und Themen konzentrieren.115 Dadurch ergeben sich mit dem Kaffeehaus als Schauplatz und Ortsmotiv sowie der ›Kaffeehausliteratur‹ als möglicher Gattungsbezeichnung drei als Rahmung des Textkorpus fungierende Kriterien, mit deren Hilfe die unterschiedlichsten Texte beziehungsweise Textsorten über das Kaffeehaus zusammengefasst werden können, »die ansonsten durch die Grenzen der Nationalliteratur und des Genres getrennt blieben«.116 Dabei ist das mit dem Begriff des ›Motivs‹ bezeichnete variierbare literarische Element Natascha Würzbach zufolge ein besonders geeigneter Ansatzpunkt, »um Bezüge zwischen Texten, Gattungen, Epochen sowie innerhalb von Traditionsverläufen herauszuarbeiten« und »die verschiedensten Bezüge zwischen Texten in synchroner und diachroner Hinsicht zu untersuchen.«117 So können die Einzeltexte jeweils auf einen Fokus hin analysiert und in einem größeren
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Hallet: »Intertextualität als methodisches Konzept«, S. 62. Hallet: »Intertextualität als methodisches Konzept«, S. 63. Auch wenn das Medium eines schriftlichen Textes im Rahmen der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit es nicht zulässt, von einer linearen Anordnung der Kapitel abzuweichen, so wäre es dennoch hilfreich, wenn die Lesenden eine horizontale Anordnung der Kapitel im Hinterkopf behalten und sich idealerweise ein Kaffeehaus vorstellen würden, in dem unterschiedliche Gäste an verschiedenen Tischen auf einer Ebene im Raum verteilt sitzen. Jeder dieser Tische steht dabei für ein Kapitel, das sich mit einem bestimmten Thema befasst beziehungsweise in ein bestimmtes Thema einführt und in dem die zuvor ausgewählten Texte analysiert werden. Da sich einzelne Themen jedoch überschneiden, ergibt es sich, dass dieselben Texte zum Teil an verschiedenen Stellen der Arbeit in den Blick genommen werden, sie wechseln bildlich gesprochen also zum ›Nachbartisch‹. Vgl. »Der systematische Gang der Untersuchung bringt es mit sich, daß die wichtigsten Werke der Romanliteratur mehrmals an verschiedenen Stellen behandelt werden. Diesem Nachteil (falls es einer ist) steht der Vorteil einer Konzentration auf bestimmte Aspekte gegenüber.«, in: Gerhard Hoffmann: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman, Stuttgart 1978, S. 53. Seger: Grand Hotel, S. 114. Natascha Würzbach: »Theorie und Praxis des Motiv-Begriffs. Überlegungen bei der Erstellung eines Motiv-Index zum Child-Korpus«, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 38 (1993), S. 64-89, S. 66; 70.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Zusammenhang betrachtet werden. Die für diese Untersuchung wichtigen Ortsmotive118 sind beispielsweise das Café im Mikrokosmos der Großstadt, als Schicksalsort, als Fluchtpunkt oder Garten, als Himmel, Hölle, Paradies oder Gotteshaus und als Insel, Hafen oder Schiff. Mit dem Kriterium des Kaffeehauses als gemeinsamen Raums, der als Rahmung fungiert, kann das Kaffeehaus anhand einer großen Menge an ausgewählten Texten nicht nur literarisch und interkulturell, sondern auch interdisziplinär betrachtet werden. Dabei können klassische beziehungsweise überkommene Ordnungsgrößen wie ›Epoche‹ oder ›Wertigkeit‹ außer Acht gelassen werden: From a more modest, specifically literary perspective, the region’s spatial framework opens a number of critical possibilities. Taking the region as a unit of study temporarily suspends traditional literary categories like period, genre, and value. It promotes what we might call indiscriminate reading: a shift from the question of what and what not to read to the question of how to make sense of a broad range of texts; the analysis of cultural function rather than literary hermeneutics; and the production of genuinely new kinds of interactions between literature and other disciplines.119 Audrey Goodman zeigt in ihrem Werk Translating Southwestern Landscapes nicht nur die wegweisende Funktion des Raumes als eingrenzenden und rahmenden Merkmals im literaturwissenschaftlichen Kontext auf, sondern weist das räumliche Modell generell als besonderes Medium aus, welches soziokulturelle Konstrukte, menschliche Hoffnungen, Träume und Ideale sowie die nostalgische Sehnsucht nach einem erfüllten (Künstler-) Leben auszudrücken vermag.120 So soll im Anschluss an Audrey Goodman, Barbara Piatti und Cordula Seger unter der Prämisse »der durchgehenden Präsenz eines gemeinsamen Raumes«121 ein sehr heterogenes und vielfältiges Textkorpus die Basis der vorliegenden Untersuchung darstellen. Das dabei als Lesepraktik verwandte topographische Ordnungsmodell, welches an ein und demselben Schauplatz Mannigfaltiges versammelt, gestattet »über das Konstituieren des Schauplatzes eine Analyse des Gleichzeitigen« sowie das Generieren einer befruchtenden »Nachbarschaftlichkeit« von
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Vgl. die Definition des ›Ortsmotivs‹ nach Natascha Würzbach: »Motive, die durch Örtlichkeiten definiert sind, lassen in manchen Fällen […] die Art des Personals erkennen oder implizieren zumindest als potentielle Schauplätze einen Handlungsbezug […]. Ortsmotive können aber auch dominant die Funktion haben, Atmosphäre und Stimmungen zu vermitteln […]. Hierzu gehören auch Tages- und Jahreszeiten oder Naturerscheinungen wie Mond und Gewitter als ›Stimmungsmotive‹, die allerdings immer auch an Raumvorstellung gebunden sind und in einem Handlungszusammenhang durchaus auch vorausdeutende Funktion und so mittelbare Handlungsrelevanz erlangen können. Wenn Stimmungen einerseits mit Örtlichkeiten verknüpft sind, so werden sie andererseits von Menschen erlebt und können in literarischen Texten dann auch an das Bewußtsein von Figuren gebunden sein.«, in: Würzbach: »Theorie und Praxis des Motiv-Begriffs«, S. 68f. 119 Audrey Goodman: Translating Southwestern Landscapes. The Making of an Anglo Literary Region, Tucson 2002, S. 167. 120 Vgl. »The literary histories of British localism and American regionalism have made me aware of how frequently spatial models are used to articulate utopian and nostalgic hopes, to advocate an idealized diversity, or to recover a lost way of life.«, in: Goodman: Translating Southwestern Landscapes, S. 166. 121 Piatti: Die Geographie der Literatur, S. 56.
II. Forschungsüberblick und Textkorpus
Texten.122 Dieses Konzept der ›nachbarschaftlichen‹ Anordnung von Texten innerhalb einer Analyse geht auf einen 1995 veröffentlichten Artikel von Kenneth Reinhard zurück und wurde von Emily Apter aufgegriffen, um es als spezifische ›komparatistische‹ Methode auszuweisen: Abolishing the divides of inside/outside, guest/host, owner/tenant, the ›monolinguism of the other‹ names a comparatism that neighbors languages, nations, literatures, and communities of speakers. This idea of ›neighboring‹ is borrowed from Kenneth Reinhard, ›[…] a reading in which texts are not so much grouped into ›families‹ defined by similarity and difference, as into ›neighborhoods‹ determined by accidental contiguity, genealogical isolation, and ethical encounter‹ […]. For Reinhard, treating texts as neighbors ›entails creating anamorphic disturbances in the network of the perspectival genealogies and intertextual relations.‹ […] ›Neighboring‹ describes the traumatic proximity of violence and love, manifest as exploded holes in language or translation gaps.123 Das Konzept geht also bewusst nicht nach ›Ähnlichkeit‹ und ›Unterschiedlichkeit‹ vor und soll in dieser Arbeit auf seine Tauglichkeit hin überprüft werden.
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Seger: Grand Hotel, S. 12, 282. Emily Apter: The Translation Zone. A New Comparative Literature, Princeton 2006, S. 247; vgl. auch Kenneth Reinhard: »Kant with Sade, Lacan with Levinas«, in: Modern Language Notes 110:4 (1995), S. 785-808, S. 785; 796.
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III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung Methodisch-theoretische Vorüberlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft
Neben der komparatistischen Perspektivierung werden die literarischen Texte in dieser Arbeit methodisch unter einem kulturwissenschaftlichen Blickwinkel betrachtet, welcher »Literatur als Teil der Gesamtkultur« ansieht, also in ihrer Mitwirkung an Konstitution, Tradierung und Veränderung von kulturellen Sinn- und Zeichenbildungen. Daher interessiert sie sich besonders für anthropologische Grundthemen […] und die dazugehörigen Kulturtechniken sowie für interkulturelle Kontakte und Konflikte. Sie untersucht Wechselwirkungen zwischen der Literatur und dem Wissenssystem, zwischen Literatur und anderen Medien […] und den literatureigenen medialen Beitrag zu kultureller Kommunikation, Zeichenbildung und Wahrnehmungsformung. Sie fragt aber auch nach dem Poetischen in der Kultur […], in den Medien, den sozialen Verkehrsformen, dem Alltagsleben.1 So sollen im Sinne einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft literarische Texte als Überlieferungsinstanz und bedeutende Ausdrucksträger unserer Kultur gelten, in denen sich die jeweilige Weltanschauung, das kulturelle Bewusstsein eines Zeitalters sowie die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Wirklichkeitskonzepte der Menschen verdichten und durch die »Schlüsselsymbole und -praktiken sowie Fremd- und Selbstbilder ausgebildet und für die praktische interkulturelle Auseinandersetzung geradezu aufbereitet«2 werden. Dabei soll versucht werden, die literaturwissenschaftliche Textanalyse mit einem besonderen thematischen Interesse an kulturgeschichtlich relevanten Fragestellungen in Bezug auf das europäische Kaffeehaus zu verbinden. Als ergiebiger Ansatzpunkt einer kulturwissenschaftlichen Literaturanalyse
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Bernard Dieterle/Manfred Engel/Dieter Lamping/Monika Ritzer: »KulturPoetik – eine Zeitschrift stellt sich vor«, in: KulturPoetik 1 (2001), S. 1-3, S. 1. Doris Bachmann-Medick: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Tübingen 2004, S. 7-64, S. 8f.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
erweisen sich dabei die Vorschläge von Doris Bachmann-Medick und Moritz Baßler, die »kulturwissenschaftliche Text-Kontext-Analyse als komplexitätssteigernde Vernetzung konkreter Texte«3 zu praktizieren, indem verschiedene Textsorten, Theorien, Methoden und Konzepte so miteinander kombiniert werden, dass durch diese Genrevermischung eine anregende, neue Befunde versprechende, »wechselseitige Verfremdung der Disziplinen ermöglicht«4 wird. Thematisiert und hinterfragt werden soll auch das Problemfeld von der ›Textualität der Kultur‹5 beziehungsweise die Metapher von ›Kultur als Text‹, welche nicht nur die »Selbstbeschreibungsdimensionen einer Gesellschaft«6 zugänglich machen könne, sondern auch den Blick auf »nicht textualisierbare ›Überschüsse‹ des Kulturellen«7 lenke, wie zum Beispiel auf Atmosphären und Synästhesien, welche durch Geräusche, Düfte und Geschmacksempfindungen ausgelöst werden und als wichtiges Element der Kaffeehauskultur untersucht werden sollen. Darüber hinaus sollen Ansätze des New Historicism im Sinne Stephen Greenblatts in vielerlei Hinsicht produktiv einbezogen werden. Beispielsweise können diese Konzepte in Bezug auf die Genres der Kaffeehausschriftstellerei fruchtbar gemacht werden, da der New Historicism in seinen Analysen Momente des Ausschnitthaften und Anekdotischen längeren Texte vorzieht.8 Dies entspricht der Schreibweise der ›Kaffeehausliteratur‹, die vor allem kleinere Formen umfasst, sich durch die Aspekte Mündlichkeit, Fragmenthaftigkeit und Flüchtigkeit auszeichnet und aus der im Kaffeehaus herrschenden Zeitbezogenheit ihren Effekt erzielt. Der Ursprung dieser Zeitbezogenheit liegt in der Vergänglichkeit der Gesprächssituation im Kaffeehaus, weshalb bevorzugte Textformen der ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹, wie die Anekdote oder das Feuilleton, als Verschriftlichung des gegenwärtigen Erlebens im Café betrachtet werden können. In den folgenden Kapiteln wird ein Theorierahmen erarbeitet, der so flexibel sein soll, dass er einerseits der Untersuchung unterschiedlicher Textsorten und Genres eine solide Basis bieten und andererseits die spezifischen Zusammenhänge zwischen ihnen aufzeigen kann. Dies soll unter anderem im Sinne Max Webers geschehen, der die Formulierung von Theorien und Begrifflichkeiten als ›gedankliche Hilfsmittel‹ nicht als eigentliches Ziel von Forschung ansieht, sondern Begriffe vielmehr »zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen« und als »Mittel zum Zweck der Erkenntnis der unter individuellen Gesichtspunkten bedeutsamen Zusammenhänge«9 nutzt.
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Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-KontextTheorie, Tübingen 2005, S. 10. Doris Bachmann-Medick: »Kultur als Text? Literatur- und Kulturwissenschaften jenseits des Textmodells«, in: Ansgar Nünning/Roy Sommer (Hg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2003, S. 147-159, S. 155f. Vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 1. Bachmann-Medick: »Einleitung«, S. 10. Bachmann-Medick: »Einleitung«, S. 33. Vgl. Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 38ff. und vgl. Gertrud Lehnert: »Kulturwissenschaft als Gespräch mit den Toten? Der New Historicism«, in: Iris Därmann/Christoph Jamme (Hg.): Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München 2007, S. 105-118, S. 113; 115. Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 146-214, S. 208f.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
Damit betrachtet er die Erarbeitung von ›Gedankensystemen‹, welche die Wirklichkeit erfassen und ordnen sowie stets dynamisch im Zeitgeschehen verankert und mit fortschreitendem Wissen weiterentwickelt werden müssen, als wichtige Aufgabe des kulturwissenschaftlich Forschenden. Weber betont dabei die subjektive Komponente dieser Systeme, deren Funktion es sei, aufgrund des jeweiligen Standes unseres Wissens und der uns jeweils zur Verfügung stehenden begrifflichen Gebilde, Ordnung in das Chaos derjenigen Tatsachen zu bringen, welche wir in den Kreis unseres Interesses jeweils einbezogen haben. […] In diesem Kampf vollzieht sich der Fortschritt der kulturwissenschaftlichen Arbeit. Ihr Ergebnis ist ein steter Umbildungsprozeß jener Begriffe, in denen wir die Wirklichkeit zu erfassen suchen. Die Geschichte der Wissenschaften vom sozialen Leben ist und bleibt daher ein steter Wechsel zwischen dem Versuch, durch Begriffsbildung Tatsachen gedanklich zu ordnen, – der Auflösung der so gewonnenen Gedankenbilder durch Erweiterung und Verschiebung des wissenschaftliches Horizontes, – und der Neubildung von Begriffen auf der so veränderten Grundlage.10 Im Folgenden sollen daher zunächst einige um die Jahrhundertwende herum entstandene, kulturwissenschaftliche Ansätze von Max Weber, Aby Warburg und Ernst Cassirer sowie von Georg Simmel und Walter Benjamin vorgestellt werden, die den »Zug zur (textuellen wie kulturellen) Komparatistik«11 vorgegeben haben. Dabei sollen insbesondere diejenigen Konzepte aufgegriffen werden, aus denen heraus Fachgrenzen übergreifende, kulturspezifische Fragestellungen, mit Wechselwirkungen befasste Wahrnehmungsformen und interdisziplinäre Arbeitsweisen entstanden. So entwickelte Ernst Cassirer in seiner Kulturphilosophie beispielsweise die moderne Idee von einer positiv konnotierten Pluralität der Kulturen, welche koexistent und miteinander verwoben sind. Um einander befruchten und vorteilhaft entfalten zu können, ist jedoch zudem eine bestimmte Form der Gestaltung vonnöten, um »das Unbegrenzte zu begrenzen, das relativ Bestimmungslose zu bestimmen«12 : Im Gegensatz zu dieser Einheit und zu dieser Starrheit des Seinsbegriff ist der Begriff der Ordnung von Anfang an durch das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit bezeichnet und ausgezeichnet. Wie für das Sein die Identität, so bildet für die Ordnung die Mannigfaltigkeit gewissermaßen das Lebenselement, indem allein sie bestehen und sich gestalten kann. […] Sobald daher […] der Schwerpunkt der Betrachtung vom Pol des Seins nach dem Pol der Ordnung hin verschiebt, so ist damit stets auf einen Sieg des Pluralismus über den abstrakten Monismus, der Vielförmigkeit über die Einförmigkeit gegeben. Unter der Herrschaft des Ordnungsbegriffs können die verschiedenartigsten geistigen Gebilde und die mannigfachsten Gestaltungsprinzipien frei und leicht beieinanderwohnen, die im bloßen Sein, in dem harten Raum, 10 11 12
Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 207. Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe: »Zur Einführung«, in: dies. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 7-24, S. 11. Ernst Cassirer: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927-1933, hg. v. Ernst Wolfgang Orth/John Michael Krois/Josef M. Werle, Hamburg 1985, S. 93-119, S. 100.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
in dem die Sachen sich stoßen, einander zu befehden und einander auszuschließen scheinen.13 Dieser Ansatz folgt der Einsicht, dass »nicht erst im Kontakt ›fremder‹ Kulturen der symbolische Prozeß des Verstehens bedeutungsträchtig wird«, sondern dass auch die ›eigene‹ Kultur stets als Zusammensetzung eines Konglomerats pluraler Kulturen gelten kann und damit »vergleichbaren Prozessen [unterliegt], wie sie das Bemühen um Fremdverstehen kennzeichnen.«14 Diese heute noch gültige Einsicht soll in der vorliegenden Arbeit auf das Kaffeehaus übertragen werden, welches sowohl in Friedens- als auch in Krisen- und Exilzeiten immer ein Ort war, der sich durch gesellschaftliche Pluralität und kontroverse Diskussionen auszeichnete und anhand dessen sich Konflikte und kontroverse Strömungen abbildeten. Dieser Aspekt spielt eine große Rolle in den literarischen Texten und macht die Untersuchung besonders lohnenswert. Daneben sind namentlich Aby Warburgs Konzepte hervorzuheben, wenn es darum geht, der fachlichen Grenzüberschreitung nachzugehen und die kulturwissenschaftliche Nutzbarmachung von literarischen und künstlerischen Quellen verschiedenster Herkunft und Geltung theoretisch zu fundieren.15 Vornehmlich zu nennen wären hier die von ihm begründete und nach assoziativen Gesichtspunkten gegliederte Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg16 sowie seine ›ikonologische Schule‹17 samt der Etablierung neuer, auf gedanklichen Verknüpfungen beruhenden Darstellungsformen, die
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17
Cassirer: »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, S. 99f. Barbara Naumann: »Kulturen des symbolischen Denkens: Literatur und Philosophie bei Ernst Cassirer«, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 161-186, S. 163. Vgl. Aby Warburg: »Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara (1912/22)« und »Dürer und die italienische Antike (1905)«, in: ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, hg. v. Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig, Berlin 2010, S. 373-397, S. 396; 176-182; S. 176. Vgl. »Ich empfand aufs stärkste, […] daß es sich hier nicht um eine bloße Sammlung von Büchern, sondern um eine Sammlung von Problemen handle. Nicht das S t o f f g e b i e t der Bibliothek war es, das diesen Eindruck in mir erweckte; sondern stärker als der bloße Stoff wirkte das Prinzip ihres Aufbaus. Denn hier waren die Kunstgeschichte, die Religions- und Mythengeschichte, die Sprach- und Kulturgeschichte offenbar nicht nur nebeneinander gestellt, sondern sie waren aufeinander und auf einen gemeinsamen ideellen Mittelpunkt bezogen.«, in: Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, S. 171. Vgl. auch: »Spezifisch ›modern‹ ist […] auch die Beweglichkeit beziehungsweise Offenheit seines Denkens, die sich in der Fähigkeit zur Grenzüberschreitung und Interdisziplinarität ebenso spiegelt wie in der Organisation der Bibliothek, deren Ordnung flexibel und den Denkbewegungen Warburgs angepasst bleibt (auch auf Kosten des Verschwindens einzelner Bücher in den assoziativen Zusammenhängen der Bibliothek). Aber eben auch in dem Unwillen, seine Gedanken endgültig zu fixieren.«, in: Perdita Rösch: Aby Warburg, München 2010, S. 123. Vgl. »Bekannt geworden ist sein Name freilich in erster Linie durch die von ihm begründete […] Ikonographie (oder Ikonologie) – eine Methode, Bilder verschiedenster Art auf die ihnen zugrundeliegenden intellektuellen Programme, aber auch die in ihnen verarbeiteten kulturellen und psychologischen Spannungen hin zu entziffern.«, in: Ulrich Raulff: »Von der Privatbibliothek des Gelehrten zum Forschungsinstitut. Aby Warburg, Ernst Cassirer und die neue Kulturwissenschaft«, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 28-43, S. 29.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
»auf den sehenden beziehungsweise lesenden Nachvollzug des Bild- oder Textgeschehens angewiesen«18 sind. Warburg setzt dabei in seiner Dissertation und anderen Veröffentlichungen auf die interdisziplinäre Schilderung mannigfacher Detailbeobachtungen, deren argumentativer Gesamtzusammenhang von den Rezipienten und Rezipientinnen jeweils selbst erschlossen werden muss.19 Dabei war es ihm wichtig, sich ein Denken ›in alle Richtungen‹ zu bewahren und sich nicht durch fachliche und nationale Grenzen oder Quellenklassifizierungen beschränken zu lassen. Vielmehr plädiert Warburg 1912 auf einem kunsthistorischen Kongress in Rom in einem bedeutsamen Vortrag über die Schifanoja-Fresken für eine »methodische[n] Grenzerweiterung unserer Kunstwissenschaft in stofflicher und räumlicher Beziehung.«20 Ihm war also nicht an einer rein immanenten Betrachtung eines Bildes oder Textes gelegen, sondern vielmehr sollte durch die Einbeziehung sämtlicher geisteswissenschaftlicher Fächer und die Zusammenführung von Erkenntnissen der Einzeldisziplinen eine Horizonterweiterung erreicht werden.21 Im Zuge dieser Methodik war es sein Ziel, sich »einen umfassenden Blick auf ein Kunstwerk und damit die dahinterstehende Künstler- oder Auftraggeberpersönlichkeit und ihre Zeit« zu verschaffen: Unter diesem Gesichtspunkte sind die hier behandelten Bilder und Worte […] etwa als bisher ungelesene Urkunden zur tragischen Geschichte der Denkfreiheit des modernen Europäers aufzufassen; es sollte zugleich an einer positiven Untersuchung aufgezeigt werden, wie sich bei einer Verknüpfung von Kunstgeschichte und Religionswissenschaft die kulturwissenschaftliche Methode verbessern läßt. […] Mögen sich Kunstgeschichte und Religionswissenschaft, zwischen denen noch phraseologisch überwuchertes Ödland liegt, […] im Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte an einem gemeinsamen Arbeitstisch zusammenfinden.22 Deutlich wird hier, dass es Warburg wichtig war, nicht nur auf den Gegenstand selbst, sondern auch auf die verwendete interdisziplinäre Methodik einzugehen, die wegweisend für neuere kulturwissenschaftliche Untersuchungen ist. An diese Vorüberlegungen Warburgs und Cassirers knüpfen beispielsweise die Ansätze des New Historicism an, im Rahmen derer die ›soziale Energie‹ eines Kunstwerks wieder sichtbar gemacht werden soll, indem möglichst viele unterschiedliche Quellen in die Analyse einbezogen werden. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie die vorliegende Arbeit auf diese Konzepte eingehen wird und welchen Kulturbegriff sie zugrunde legt.
18 19 20 21 22
Rösch: Aby Warburg, S. 122. Vgl. Rösch: Aby Warburg, S. 123. Warburg: »Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja«, S. 396. Vgl. auch Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 2012, S. 364ff. Vgl. Rösch: Aby Warburg, S. 33. Aby Warburg: »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920)«, in: ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, hg. v. Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig, Berlin 2010, S. 424-485, S. 485.
47
48
Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
III.1.
Kulturbegriff
I have been entrusted with the difficult task of speaking about culture. But there is nothing in the world more elusive. One cannot define or circumscribe it, for it has no precise bounds. One cannot analyse it, for its components are infinite. One cannot describe it, for it is protean in shape.23 Wie A. Lawrence Lowell, der Präsident der Harvard University, hier treffend formuliert, fällt es stets schwer, sich auf »einen theoretisch begründbaren Begriff der Kultur zu verständigen«24 , weil ›Kultur‹ nicht leicht fassbar ist. Wenn die Bedeutung von ›Kultur‹ jedoch völlig beliebig ist beziehungsweise der Begriff nur als ›vage Geste‹25 verwendet wird, taugt sie heutzutage laut Lutz Musner nicht mehr als »politische Konfliktzone«, weil die Gesellschaft keine Notwendigkeit mehr sieht, sich kontrovers dazu zu verhalten, Stellung zu beziehen oder gar zu rebellieren: Man kann die Vermutung äußern, daß der Staat, die Gesellschaft, die Eliten, die Ökonomie et cetera ›Kultur‹ als ein kontrolliertes, semantisch überprüftes Reproduktionsmedium von Subjektivität, Staatsbürgerlichkeit und Disziplin nicht mehr benötigen. Kultur erscheint damit vielen folgerichtig mehr als soft-, denn als hardware, als ein Feld bunter Beliebigkeit, das gleichermaßen konsumfördernd wie ungefährlich dissent ist. […] Es gibt keine Idee von ›Kultur‹ mehr, die Identifikation beziehungsweise Devianz im gesellschaftlichen Feld und ihrer Repräsentation erlauben würde.26 Stephen Greenblatt dagegen beobachtet diese nivellierende, oberflächliche Art der Auslegung von ›Kultur‹ keineswegs, sondern erkennt in einem sich zwar wandelnden Begriff ›Kultur‹ sehr deutlich die jeweils geltenden Konventionen, Normen und Traditionen einer Gesellschaft, zu denen man sich konform verhalten muss, um belohnt zu werden beziehungsweise um keinen Sanktionen oder disziplinarischen Maßnahmen zu begegnen.27 Essentiell wichtig für eine kulturwissenschaftliche Arbeit ist es daher, dem Begriff ›Kultur‹ einen konkreten Gehalt zu geben und ihm Gegenstände, Konzepte oder Werte zuzuweisen, auf die sich der ansonsten inhaltsleere Begriff beziehen kann. Andernfalls kann nicht das Ziel erreicht werden, einen bestimmten Gegenstand, wie im vorliegenden Fall literarische Texte über das Kaffeehaus, mit kulturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen, um durch die Textanalyse Erkenntnisse über die Textsorte und die Kaffeehauskultur zu gewinnen. Vielmehr würde man der Gefahr verfallen,
23 24 25 26
27
A. Lawrence Lowell: »Culture«, in: ders.: At War with Academic Traditions in America, Westport 1934, S. 115-123, S. 115. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1995, S. 31. Vgl. Stephen Greenblatt: »Culture«, in: Frank Lentricchia/Thomas McLaughlin (Hg.): Critical Terms for Literary Study, Chicago 1995, S. 225-232, S. 225. Lutz Musner: »Der Heilige Text. Kritik an einer Orthodoxie der Kulturwissenschaften«, in: Roland Kamzelak (Hg.): Historische Gedächtnisse sind Palimpseste. Hermeneutik – Historismus – New Historicism – Cultural Studies: Festschrift zum 70. Geburtstag von Gotthart Wunberg, Paderborn 2001, S. 215228, S. 217f. Vgl. Greenblatt: »Culture«, S. 225f.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
die kulturwissenschaftliche Vorgehensweise nicht seiner eigentlichen Bestimmung gemäß als methodisches Instrument zu gebrauchen, sondern ›Kultur‹ selbst de facto zum Gegenstand der Analyse zu machen, ohne einen wissenschaftlichen Mehrwert zu generieren. Dies passiert laut Bill Readings oft, da ›Kultur‹ durch eine voranschreitende ›Akademisierung der Kultur‹ ihre spezifische Bedeutung verliere und alles zu ›Kultur‹ werden könne28 , wodurch sie für die Wissenschaft eigentlich bedeutungslos geworden sei: What allows Cultural Studies to occupy the entire field of the humanities without resistance is their very academization of culture, their taking culture as the object of the University’s desire for knowledge, rather than as the object that the University produces. Culture ceases to mean anything as such; it is dereferentialized. […] If culture is everything, then the invocation of culture cannot have redemptive force, cannot lend meaning (unity and direction) to symbolic life.29 Wichtig ist es also, immer auch eine Bedeutung zu vermitteln, wenn über ›Kultur‹ gesprochen wird. Obwohl sich ›Kultur‹ stets auf sich selbst als auch auf Fremdes bezieht, soll hier nicht der Gefahr verfallen werden, starre Grenzziehungen vorzunehmen beziehungsweise binäre Oppositionen zu konstruieren, um näher zu bestimmen, was die Kultur des Kaffeehauses darstellt respektive was sie nicht ist.30 Anknüpfend an Uwe Steiner, Lutz Musner und Niklas Luhmann soll ›Kultur‹ vielmehr als ›dritter Wert‹ angesehen werden, der einerseits als ›Text‹ beziehungsweise ›Zeichenfeld‹ unsere Lebenswelten mit Bedeutung versorgt und diese in Form von ›Drehbüchern‹, Traditionen und Erfahrungen zuallererst begründet und damit soziales Handeln ermöglicht: Daß eine Kultur in dem, was sie vergleicht, über sich hinausgehen kann, ohne sich selbst zu verlassen, muss als bemerkenswert festgehalten werden. Sie greift in andere Zeiten, andere Länder, andere ›Welten‹ über, aber lokalisiert ihren Vergleichsgesichtspunkt, ihr ›Drittes‹, gleichwohl in sich selbst. Mithin ist Kultur nicht nur durch Reflexion ausgezeichnet, sondern, dies bedingend, immer auch durch Selbstreflexion.31 Andererseits zeichnet sich dieser ›dritte Wert‹ dadurch aus, dass Lebensprozesse, die in der Vergangenheit entwickelt und fixiert wurden, in der Gegenwart (selbst-)reflexiv vergegenwärtigt werden32 : Die Artikulation und Formulierung von Kultur ersetzt die weltinvarianten Wesensformen auf der Basis vergleichender Beobachtungen – durch Reflexion. […] Kultur kann es irgendwo und irgendwann geben, aber die Reflexion muß hier und jetzt stattfinden […].33
28 29 30 31 32
33
Vgl. Bill Readings: The University in Ruins, Cambridge, Mass. 1998, S. 17. Readings: The University in Ruins, S. 99. Vgl. Musner: »Der Heilige Text«, S. 220f. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 52. Vgl. Uwe C. Steiner: »›Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspruchen?‹ Eine Bestandsaufnahme«,, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71:1 (1997), S. 5-38, S. 10; und vgl. Musner: »Der Heilige Text«, S. 221. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 49.
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Im Anschluss an Luhmann scheint es hier daher plausibel zu sein, Kultur zu verstehen als eine »in die Gesellschaft eingezogene[] Ebene für Beobachtungen und Beschreibungen«34 und »normative Innensicht der Gesellschaft […], also eine Beschreibungsoperation der Zustände und Funktionen der Gesellschaft.«35 So wird die Kaffeehauskultur im Sinne Luhmanns erst zur Kultur, weil beispielsweise ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin diese ›im Modus erster Ordnung‹ beobachtet hat, sie anschließend durch Beschreibung ›materialisiert‹ und damit ›Spuren‹ hinterlässt36 , welche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der »Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung« erneut betrachten und das Kaffeehaus damit überhaupt erst »als kulturelles Phänomen erfaßt und Vergleichen« ausgesetzt wird.37 Durch die Hinterlassenschaft von ›Spuren‹ in Form von Texten, Artefakten, überlieferten Sitten und Gebräuchen kann Kultur trotz ihres flüchtigen, ständigen kulturellen Umbrüchen unterworfenen Wesens Stabilität erzeugen, indem sie verstanden wird als »ein sich wandelndes Symbol des Wandels, durch das sich die Realität als symbolisch erzeugte beschreibt.«38 ›Kultur‹ soll hier also als reflexive, zeitabhängige und durch selektives Erinnern gesteuerte Vergegenwärtigung der menschlichen Geschichte begriffen werden, die sich durch ›Spuren‹ materialisiert. Damit kann ›Kultur‹ im Anschluss an Luhmann als »Form der Vervollkommnung (Perfektibilität) im Unterschied zur immer schon erreichten naturalen Perfektion des Menschen«39 definiert werden. Im Folgenden soll auf semiotisch und konstruktivistisch geprägte Konzepte von ›Kultur‹ sowie auf den Kulturbegriff Max Webers, der auf Bedeutungs- und Wertorientierung setzt und damit eine individuelle Form der Selektion betont, eingegangen und die Relevanz dieser Konzepte für die vorliegende Arbeit erläutert werden.
III.1.1
Kultursemiotik
Das auf Ernst Cassirer, Roland Posner und Umberto Eco zurückgehende kultursemiotische Modell, welches ›Kultur‹ als einen niemals abzuschließenden »Prozeß der Signifikation, der Zirkulation und auch Subversion von Bedeutungen« begreift, hat sich als fruchtbare und tragfähige Basis für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft erwiesen, die »sozial signifikante Wahrnehmungs-, Symbolisierungsund Kognitionsstile in ihrer lebensweltlichen Wirksamkeit analysiert.«40 Herausgebildet hat sich damit laut Böhme und Scherpe ein Konzept, […] wonach es sich bei ›Kultur‹ um einen symbolischen oder textuellen Zusammenhang handele, um ein Textuniversum, in welchem sich einzelne kulturelle Momente, als Texte, immer nur durch ihre Kontexte beziehungsweise eine Fülle von Kontexten erschließen. […] Die kulturelle Realität wird mithin als Text oder Zeichen verstanden, 34 35 36 37 38 39 40
Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 39. Musner: »Der Heilige Text«, S. 222. Vgl. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 45. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 38; 42. Steiner: »›Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspruchen?‹«, S. 18. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 41. Beide Zitate Böhme/Scherpe: »Zur Einführung«, S. 16. Vgl. auch Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1977, S. 85f.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
als ein gewaltiges Gewebe, eine Textur die – im historischen Querschnitt – gemäß ihrer topographischen Verteilung, Vernetzung und Struktur, im zeitlichen Längsschnitt dagegen als ein langwelliger, sich langsam wandelbarer, transsubjektiver, gleichwohl hergestellter, darum immer neu interpretierbarer und entzifferbarer Bedeutungszusammenhang aufgefaßt wird.41 Roland Posner hat diesen Ansatz aufgegriffen und als dreigliedriges Dimensionenmodell weiterentwickelt, in dem das Zeichensystem ›Kultur‹ als ein zusammenwirkender Dreiklang von materialen, sozialen und mentalen Phänomenen definiert wird. Posner sieht die Vorteile einer kultursemiotischen Untersuchung der drei Teilaspekte darin, dass damit die »Gegenstandsbereiche der Sozial-, Norm- und Geisteswissenschaften […] in einen theoretisch fundierten, systematischen Zusammenhang« gestellt und die »Einheit der kulturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände«42 aufgezeigt werden kann. Wenn als Prämisse vorausgesetzt wird, Kulturen als »spezielle Zeichensysteme« zu begreifen und »kulturelle Verhaltensweisen« als »auf Konventionen beruhende Semiosen, d.h. signifikative Zeichenprozesse«43 zu betrachten, stellt die kultursemiotische Methodik eine gute Basis für die Untersuchung des Kaffeehausgespräches dar. Dieses wird von Richard Sennett als ›Extremform einer Ausdrucksform‹ bezeichnet, welche auf einem Zeichensystem beruhe und damit von einem auf gesellschaftlichem Rang oder familiärer Abstammung begründeten Symbolsystem abgegrenzt werden könne.44 Darüber hinaus wird ›Kultur‹ von Posner »als Gesamtheit von Organismen« aufgefasst, »deren Verhaltensweisen einer bestimmten Tradition angehören, d.h. durch Lernen erworben und nach kreativer Veränderung an die nächste Generation weitergegeben werden«45 , indem innerhalb der materialen Dimension ›Texte‹ produziert werden, welche sowohl Althergebrachtes tradieren als auch Zeitgenössisches und Innovatives auf sich vereinen. Das Ziel ist es dabei, durch die Texte »mittels konventioneller Kodes Botschaften« zu verbalisieren, »welche den Zeichenbenutzern die Bewältigung ihrer Lebensprobleme ermöglichen.«46 Diese Definition unterstreicht die erinnerungspolitische Funktion, die eine Kultur für eine Gesellschaft ausübt, wenn sie »bestimmte Handlungsmuster, die sich im Laufe ihrer Evolution als wichtig erwiesen haben« speichert, um die »Identität der Kultur«47 aufrechtzuerhalten: Die Kultur ist also für die Gesellschaft, was das Gedächtnis für das Individuum ist […]. Sie ist ein kollektiver Mechanismus für die Informationsspeicherung. Kollektive Informationsspeicherung erfordert Kodes ebenso wie Kommunikation, Signifikation und Indikation. […]. Kollektive Informationsspeicherung beruht also auf der Herstellung von
41 42
43 44 45 46 47
Böhme/Scherpe: »Zur Einführung«, S. 15. Roland Posner: »Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe«, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt a.M. 1991, S. 37-74, S. 53. Posner: »Kultur als Zeichensystem«, S. 54. Vgl. Richard Sennett: The Fall of Public Man, Cambridge 1977, S. 82. Posner: »Kultur als Zeichensystem«, S. 39. Posner: »Kultur als Zeichensystem«, S. 53f. Posner: »Kultur als Zeichensystem«, S. 67.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Texten mit Hilfe kultureller Kodes und auf ihrer Rezeption mit Hilfe von Indikationsprozessen.48 Auch das Kaffeehaus ist ein Ort, welcher von einer idealisierenden Legendenbildung lebt, die zwar auch von Gastronomen aus wirtschaftlicher Perspektive geschürt wird, daneben aber ein Eigenleben besitzt, welches in den zahlreichen literarischen Erinnerungen fortgeschrieben wird. Darin werden nicht nur Anekdoten und Traditionen weitergegeben, sondern auch positive wie negative Konnotationen transportiert, die in den verschiedenen literarischen Diskursen ihren Niederschlag finden und vor allem im kollektiven Gedächtnis verhaftet sind. Daher kann im Anschluss an Posner für diese Arbeit konstatiert werden, dass die Literatur über das Kaffeehaus als »Speichermechanismus«, »Selektionsapparat« und »Informationsfilter«49 eine besondere historische Bedeutung für die Kultur des Kaffeehauses hat, die in der literarischen Überlieferung fortlebt, auch wenn sie in der Wirklichkeit nicht mehr existiert.50 Des Weiteren sollen in dieser Arbeit in Anlehnung an den von Posner definierten semiotischen Kulturbegriff die Institution ›Kaffeehaus‹ als ein Phänomen der sozialen Dimension und ›Literatur‹ als ein Phänomen der materialen Dimension angesehen werden. Diese Institution veranlasst die Cafébesucher und -besucherinnen, also die Zeichennutzenden, sich mit der mentalen Dimension der Kultur auseinanderzusetzen. Das heißt, sie rekonstruieren »das Gesamtsystem kulturell geprägter Werte, Normen, Weltanschauungen und Kollektivvorstellungen«51 , um einen Beitrag zur materialen Dimension zu leisten, indem sie beispielsweise literarische Texte verfassen, in denen bestimmte Mentalitätsaspekte, wie Werte, Selbst- und Fremdbilder sowie Konventionen, verdichtet zutage treten. Somit kann Literatur in diesem Zusammenhang als Ausdrucksform begriffen werden, durch welche Kultur zum einen beobachtbar gemacht wird und »die Rückschlüsse auf epochenspezifische beziehungsweise epochenübergreifende Mentalitäten erlaubt«52 ; zum anderen ist Literatur »dialogisch auf kollektive Mentalitäten und soziale Gegebenheiten bezogen, deren kulturspezifische Ausprägung sie darstellt, kritisch reflektiert, antizipiert und mitformt.«53 So soll im weiteren Verlauf dieses theoretisch-methodischen Überblicks die Rolle von Literatur für eine Kultur herausgestellt werden, die im Sinne Ernst Cassirers54 in beträchtlichem Maße auf Sprache als individuelles wie kollektives, stets produktives Medium des reflexiven
48 49 50 51
52
53 54
Posner: »Kultur als Zeichensystem«, S. 65f. Posner: »Kultur als Zeichensystem«, S. 67. Vgl. dazu Kapitel V.1.6. Ansgar Nünning/Roy Sommer: »Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Disziplinäre Ansätze, theoretische Positionen und transdisziplinäre Perspektiven«, in: dies. (Hg.): Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2003, S. 9-29, S. 19. Astrid Erll/Simone Roggendorf: »Kulturgeschichtliche Narratologie. Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S. 73-113, S. 100. Erll/Roggendorf: »Kulturgeschichtliche Narratologie«, S. 107. Vgl. Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. Mit einem Anhang: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, Hamburg 2011, S. 16f. und Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 176.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
Wirklichkeitsbezugs und der Konstruktion von ›Welt‹, ›Bedeutung‹ und ›Bezeichnung‹ abhebt.
III.1.2
Kultur als Wertbegriff
Auch Max Weber betont indirekt im Anschluss an die neukantianische Erkenntnistheorie Heinrich Rickerts, dass ›Kultur‹ nichts universal Gegebenes sei, sondern eine »sinnund wertbehaftete[] Wirklichkeit«55 darstelle. Daher müsse jeder einzelne Mensch beziehungsweise jedes Kollektiv für sich selbst definieren, welche persönliche Bedeutung sie habe: Eine Kulturerscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld, alle drei deshalb und nur deshalb und nur soweit, als ihre Existenz und die Form, die sie historisch annehmen, unsere Kulturinteressen direkt oder indirekt berühren, als sie unseren Erkenntnistrieb unter Gesichtspunkten erregen, die hergeleitet sind aus den Wertideen, welche das Stück Wirklichkeit, welches in jenen Begriffen gedacht wird, für uns bedeutsam machen.56 Deutlich wird in diesem Zitat Webers, dass kein kultureller Aspekt wertvoller ist als ein anderer, vielmehr fußt die Beimessung von Bedeutung immer auf der individuellen Neigung beziehungsweise dem persönlichen Hintergrund. Das heißt, es werden zwar ständig ausgrenzende, wertorientierte Entscheidungen getroffen, die jedoch keine ächtende, negative Konnotation haben, sondern der Orientierung des Menschen dienen, der sonst aufgrund der Fülle seiner Möglichkeiten überfordert wäre. Daher muss er laut Weber zwangsläufig Prinzipien der Selektion festlegen und seine bisherige Lebenserfahrung nutzen, um durch die »Auslese aus der Mannigfaltigkeit des anschaulich Gegebenen« dem »›historisch‹ Wesentlichen«57 näher zu kommen. Dies sei aber nur möglich, weil wir zum Urteilen fähige »Kulturmenschen« seien, wobei bereits die potentielle Befähigung zur kulturwissenschaftlichen Erkenntnis als vorangegangener Wertentscheid gesehen werden kann: ›Kultur‹ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens. […] Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ›Kultur‹ wertvoll finden, sondern dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.58
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58
Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1926, S. 78; vgl. auch S. 18ff. Vgl. auch Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001, S. 80; 85. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 181. Max Weber: »Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie«, in: ders. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 1-145, S. 11. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 180 [Hervorhebung bei Weber].
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Dies betrifft auch die Selektionsfähigkeit menschlicher Sinne, insbesondere das rezeptive Sehen und Hören in der Großstadt sowie die unbewusste, aber prinzipiengeleitete Auslese des Wahrgenommenen, die der Mensch vornehmen müsse: In dieses Chaos bringt nur der Umstand Ordnung, daß in jedem Fall nur ein Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bedeutung hat, weil nur er in Beziehung steht zu den Kulturwertideen, mit welchen wir an die Wirklichkeit herantreten. Nur bestimmte Seiten der stets unendlich mannigfaltigen Einzelerscheinungen: diejenigen, welchen wir eine allgemeine Kulturbedeutung beimessen, sind daher wissenswert, sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklärung.59 Damit begreift Weber ›Kulturwissenschaften‹ zwar als interdisziplinäre und grenzüberschreitende, aber immer auch als »genuin wertorientierte Wissenschaften«60 . ›Kultur‹ wird damit für ihn zum »Wertbegriff«, welcher »diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit [umfasst], welche durch jene Beziehung zu uns bedeutsam werden.«61 Demnach ist ›Kultur‹ derjenige Teil der Wirklichkeit, welcher das Objekt unserer willentlich urteilenden Stellungnahme ist, verknüpft mit individuellen Wertvorstellungen: Denn im Gegensatz zum bloßen ›Gefühlsinhalt‹ bezeichnen wir als ›Wert‹ ja eben gerade das und nur das, was fähig ist, Inhalt einer Stellungnahme: eines artikuliert-bewußten positiven und negativen ›Urteils‹ zu werden, etwas, was ›Geltung heischend‹ an uns herantritt, und dessen ›Geltung‹ als ›Wert‹ ›für‹ uns demgemäß nun ›von‹ uns anerkannt, abgelehnt oder in den mannigfachsten Verschlingungen ›wertend beurteilt‹ wird.62 Daraus folgt, dass wir bestimmten Lebensbereichen ablehnend oder zustimmend begegnen, uns anderen gegenüber jedoch indifferent verhalten. Nur erstere stellen aufgrund ihres wertenden Charakters eine Kulturerscheinung im Sinne Webers dar, weil es »eine menschliche Grunddisposition [ist], solche Werte bewusst, das heißt als Normen, zu vertreten und weil eine wertende Stellungnahme »die Bedingung der Möglichkeit [ist], Gegenstände ihres Interesses zu identifizieren.«63 Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird deutlich werden, dass es notwendig ist, im Sinne Webers Wertentscheidungen zu fällen, um festzulegen, was ›Kaffeehausliteratur‹ beinhaltet und um eine Auswahl aus der schier unendlich scheinenden Anzahl von Texten zu treffen, die es dann zu untersuchen und in ein Genre einzuordnen gilt. Im Folgenden soll die Eignung von kultursemiotischen Ansätzen und Konzepten der Intertextualität, Kulturpoetik und Kontextualisierung von Literatur für die kulturwissenschaftliche Untersuchung der literarischen Texte geprüft und die aus der Jahrhundertwende stammenden kulturwissenschaftlichen Konzepte rückwirkend neu beleuchtet werden. Zielsetzung dabei soll es auch sein, die bereits identifizierten Grundthemen 59 60 61 62 63
Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 177f. Vgl. auch Rickert:Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 35. Daniel: Kompendium Kulturgeschichte, S. 79f. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 175. Weber: »Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie«, S. 123. Daniel: Kompendium Kulturgeschichte, S. 449.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
zu überprüfen, in denen sich kulturwissenschaftliche Fragestellungen bezüglich des literarischen Kaffeehauses besonders verdichten, wie die Thematik der Autofiktion, des Raumes, der Urbanität, der Erinnerung und der Atmosphäre. Deutlich werden soll dabei die besondere Eignung der kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise für dieses Projekt, die es ermöglicht, »Literatur als funktionalen Teil ihres kulturellen Kontextes zu begreifen«64 , ohne die Bedeutung der literarischen Texte dabei auf historischkulturelle Quellen zu reduzieren und ihre Eigentümlichkeit aus dem Blick zu lassen. Vielmehr sollen sie im Hinblick auf ihre spezifische Ästhetik und sprachlich-poetische Ausdrucksform gewürdigt65 und kontextualisiert werden, um die Texte »in jene größeren kulturellen Zusammenhänge zurückzubetten, in denen sie entstanden sind.«66
III.2. Verdichtung und Selbstbeobachtung In attempting to glimpse the formation of identity in the English Renaissance, we cannot rest content with statistical tables, nor are we patient enough to tell over a thousand stories, each with its slight variants. […] So from the thousands, we seize upon a handful of arresting figures who seem to contain within themselves much of what we need, who […] promise access to larger cultural patterns.67 In diesem Zitat bezieht sich Stephen Greenblatt auf Figuren wie King Lear oder Othello, die in seiner Idee der literaturwissenschaftlichen Textanalyse beispielhaft all das in sich vereinen, was die Kultur und besonders die Machtstrukturen der elisabethanischen Epoche ausmacht. So stehen diese Figuren in Greenblatts Konzeption als herausragende Kristallisationspunkte für ein umfassenderes Kulturschema und dessen Stimmen. In seinen Untersuchungen setzt Greenblatt daher nicht auf möglichst große Vollständigkeit, sondern geht im Sinne Max Webers selektierend und wertend vor, »constantly returning to particular lives and particular situations […], and to a small number of resonant texts«68 , um sich mittelbar zu einer vergangenen Kultur Zugang zu verschaffen, indem er den ›Spuren‹ dieser Figuren in den von ihnen handelnden literarischen Texten folgt, »to seek the living will of the dead in fictions«69 : We do not have direct access to these figures or their shared culture, but the operative condition of all human understanding […] is that we have indirect access or at least that we experience our constructions as the lived equivalent of such access.70 64 65
66 67 68 69 70
Manfred Engel: »Kulturwissenschaft/en – Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft – kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft«, in: KulturPoetik 1 (2001), S. 8-36, S. 36. Vgl. »Grob vereinfacht, besteht die Disziplin begründende Eigenart des literaturwissenschaftlichen Blickes darin, dass für ihn das ›Wie‹ der Aussage nicht sekundär ist gegenüber dem ›Was‹, dass er Texte also als geformte Sprachgebilde behandelt.«, in: Engel: »Kulturwissenschaft/en«, S. 34f. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2008, S. 29. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980, S. 6. Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning, S. 5. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations, Oxford 1988, S. 1. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 7.
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Die Intention Greenblatts, die hinter seinem Forschungsvorhaben steht, ist sein Wunsch, mit bestimmten, auserwählten ›Toten zu sprechen‹, also beispielsweise mit William Shakespeare, der in den Texten seine Spuren hinterlassen hat, welche Greenblatt durch ›heutige‹ Lektüre und das Stellen der richtigen Fragen wieder zum Leben erwecken will. Mit diesem Vorgehen, das er ›poetics of culture‹ nennt, möchte er herausfinden, warum manche Texte noch nach hunderten von Jahren sehr viel Macht und Einfluss ausüben können, wohingegen andere kaum ihre eigenen Autorinnen und Autoren überlebt haben: If the textual traces in which we take interest and pleasure are not sources of numinous authority, if they are the signs of contingent and social practices, then the questions we ask of them cannot profitably center on a search for their untranslatable essence. Instead we can ask how collective beliefs and experiences were shaped, […] concentrated in manageable aesthetic form, offered for consumption. […] The idea is not to strip away and discard the enchanted impression of aesthetic autonomy but to inquire into the objective conditions of this enchantment, to discover how the traces of social situation are effaced.71 Greenblatt sucht nach der ›sozialen Energie‹, die sich indirekt durch die verdichtete Darstellung bestimmter innovativer Momente und durch eine ästhetische Ausdrucksweise in herausragenden, großartigen Kunstwerken kristallisiert hat: »it is manifested in the capacity of certain verbal, aural, and visual traces to produce, shape, and organize collective physical and mental experiences.«72 Die Aufgabe des Forschenden sei es nun, diese Situationen in Texten zu finden, in denen sich die soziale Energie konzentriere, um die kulturellen Austauschverhandlungen, die ›negotiations‹, zu rekonstruieren, um die Toten, Shakespeare und seine Figuren, heraufzubeschwören.73 Dies funktioniere allerdings nur mit bestimmten Kunstwerken, in denen sehr viel von dieser sozialen Energie vorhanden ist, das heißt in denen der Kontext, in dem sie gefertigt wurden, schon impliziert ist beziehungsweise zu ›leben‹ scheint. Literarizität, Qualität und Leistungsvermögen sind demnach für Greenblatt immer dann die Eigenschaften literarischer Texte, wenn sie »als Kraftfelder sozialer Verhandlungen und Prozesse«74 auftreten: To recover the meaning of such texts, to make any sense of them at all, we need to reconstruct the situation in which they were produced. Works of art by contrast contain directly or by implication much of the situation within themselves, and it is this sustained absorption that enables many literary works to survive the collapse of the conditions that led to their production.75 So können bestimmte Werke nicht nur unzählige Rezipienten und Rezipientinnen überleben und diesen immer wieder neue Antworten geben, sondern vermögen es darüber 71 72 73 74
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Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 5. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 6. Greenblatt: Shakespearean Negotiations, S. 7. Annegret Heitmann: »Einführung: Verhandlungen mit dem New Historicism«, in: Jürg Glauser/Annegret Heitmann (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft, Würzburg 1999, S. 9-20, S. 15. Greenblatt: »Culture«, S. 227.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
hinaus, einen historischen Kontext aufleben zu lassen und am Leben zu erhalten: »the social energy encoded in certain works of art continues to generate the illusion of life for centuries.«76 Daran anknüpfend ist es die Intention dieser Arbeit, Texte auszuwählen und zu untersuchen, die vergangenes Leben respektive die ›Quintessenz‹ der Kaffeehauskultur in sich gespeichert haben und diese durch Lektüre und Befragung näher zu beleuchten. Obgleich vielmals eine unzureichende Theoretisierung der Konzepte und das essayistisch-eklektizistische Vorgehen des New Historicism beklagt werden77 , berufen sich kulturhistorisch arbeitende Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen stets auf Greenblatt, wenn sie zunächst thematisch ausgewählte literarische Texte in einem zweiten Schritt »als Belege für kulturelle Vorstellungen und Normen«78 auswerten. So betrachtet zum Beispiel Gertrud Lehnert in einer Analyse die literarischen Texte selbstredend nicht als Wiedergabe von Wirklichkeit, sondern als ein spezifisches mediales, ästhetisches Verhandeln von Wahrnehmungen, Vorstellungen, Ereignissen und Emotionen im Sinne und in Weiterentwicklung des New Historicism à la Stephen Greenblatt. Im weiteren Sinne verstehe ich dieses Vorgehen als eine Form der Diskursanalyse, bei der schriftliche Texte unterschiedlichster Art mit kulturellen Texten – also kulturellen Handlungen und Artefakten, die als Zeichen lesbar sind – in Verbindung stehen.79 Zuvörderst ist deshalb zu betonen, dass literarische Texte in dieser methodischen Herangehensweise keinesfalls die außerliterarische Wirklichkeit beziehungsweise den Kontext abbilden. Da sie also nicht »Zeugnis für etwas sind«, kann man sich ihrer laut Ansgar Nünning nicht »als Spiegel sozialer, politischer oder religiöser Fragen« bedienen, sondern muss sie als einen dynamischen »Faktor sui generis« begreifen, im Rahmen dessen sie die historische Wirklichkeit auf ihre Weise verhandeln und mit »literaturspezifischen Gestaltungsmitteln kommentierend und interpretierend verarbeiten«80 , ohne sie zu imitieren. Daraufhin wirken die Texte reziprok auf die zeitgenössische Gesellschaft zurück, indem sie »zur Ausbildung neuer Wahrnehmungs-, Denk- und Empfindungsweisen«81 ihren Beitrag leisten. Daneben fungieren sie Astrid Erll und Simone Roggendorf zufolge als Gedächtnisträger und Archiv, wenn sie es vermögen, »kollektive Erfahrungswirklichkeit zu artikulieren, beispielhaft zu restrukturieren und […] einen bedeutenden Einfluss auf die symbolischen Sinnwelten einer Kultur auszuüben.«82
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Greenblatt: Shakespearean negotiations, S. 7. Vgl. z.B. Lehnert: »Kulturwissenschaft als Gespräch mit den Toten? Der New Historicism«, S. 118. Gertrud Lehnert: »Einsamkeiten und Räusche. Warenhäuser und Hotels«, in: dies. (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011, S. 151-172, S. 153. Lehnert: »Einsamkeiten und Räusche. Warenhäuser und Hotels«, S. 153. Alle Zitate Ansgar Nünning: »Narrative Form und fiktionale Wirklichkeitskonstruktion aus der Sicht des New Historicism und der Narrativik. Grundzüge und Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erforschung des englischen Romans im 18. Jahrhundert«, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 40 (1992), S. 197-213, S. 199. Nünning: »Narrative Form und fiktionale Wirklichkeitskonstruktion«, S. 199. Erll/Roggendorf: »Kulturgeschichtliche Narratologie«, S. 80.
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Auch in der vorliegenden Arbeit soll Literatur als Gegenstand der »kulturellen Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Thematisierung«83 und »Teil des ständigen Prozesses der Selbstbefragung und Selbstauslegung«84 aufgefasst werden, die als »formende Kraft« und »zentrale kulturelle Ausdrucksform[] […] wesentlich zur Selbstdeutung und Sinnstiftung einer Kultur«85 beitragen. Gerade weil literarische Texte als »spezifische Formen des individuellen und kollektiven Wahrnehmens von Welt und Reflexion dieser Wahrnehmung« betrachtet werden können und durch ein »hohes Maß an Selbstreflexion charakterisiert«86 sind, soll mittels der kulturwissenschaftlichen Analyse ausgewählter literarischer Texte versucht werden, Fragen nach der Bedeutung der europäischen Kaffeehauskultur sowie dem spezifischen Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ zu beantworten. Die vorangegangenen Erläuterungen lassen es angebracht erscheinen, die literarischen Texte aus einer funktionsgeschichtlichen Perspektive zu betrachten, im Rahmen derer untersucht wird, wie Literatur »als selbstständiger Teil von gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen« und »aktive kognitive Kraft, die an der Generierung von Einstellungen, Diskursen, Ideologien, Werten, Denk- und Wahrnehmungsmuster maßgeblich beteiligt« und im Stande ist, unter Verwendung der für sie charakteristischen, ästhetischen Darstellungsweisen »eigenständige fiktionale Wirklichkeitsmodelle zu erzeugen«87 . Um die von Roy Sommer bemängelte geringe begriffliche Exaktheit und fehlende theoretische Differenzierung88 bei der Verwendung des Funktionsbegriffs in dieser Arbeit zu vermeiden, sollen ›Funktionen‹ im Anschluss an Sommer nicht als dem literarischen Text inhärente »Wesensmerkmale«, sondern als »Beobachterkategorien« und »retrospektive Konstrukte«89 definiert werden, die dem literarischen Text während des Lesens in Form von ›Funktionszuschreibungen‹ oder ›Funktionshypothesen‹ beigemessen werden. Letztere lassen sich nur dann formulieren und beobachten, wenn der außertextuelle, gesellschaftliche und kulturelle Kontext einbezogen wird90 , weil sowohl die Rezipientinnen und Rezipienten stets mit Erfahrung und Vorwissen an die Lektüre herangehen als auch der Text nie zusammenhangslos, das heißt ohne Anbindung an sein kulturelles Umfeld, entsteht. Vielmehr hat der Text laut Wolfgang Hallet, der die Kontextualisierung literarischer Texte aus den zuvor genannten Gründen für einen zwangsläufigen Prozess jeder Interpretation hält, ›teil‹ an den zentralen gesell-
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Wilhelm Voßkamp: »Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften«, in: Wilfried Barner/Walter Müller-Seidel/Ulrich Ott (Hgg.): Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 503-507, S. 504. Engel: »Kulturwissenschaft/en«, S. 36. Erll/Roggendorf: »Kulturgeschichtliche Narratologie«, S. 77; 81. Voßkamp: »Die Gegenstände der Literaturwissenschaft«, S. 504. Marion Gymnich/Ansgar Nünning: »Funktionsgeschichtliche Ansätze: Terminologische Grundlagen und Funktionsbestimmungen von Literatur«, in: dies. (Hg.): Funktionen von Literatur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen, Trier 2005, S. 3-27, S. 14. Vgl. Roy Sommer: »Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 41 (2000), S. 319-341, S. 325. Sommer: »Funktionsgeschichten«,S. 333. Vgl. Gymnich/Nünning: »Funktionsgeschichtliche Ansätze«, S. 10.
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schaftlichen Diskursen, die er auf seine Weise ›wiederaufnimmt‹.91 Deshalb postuliert Hallet als Kernaufgaben einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft das Aufspüren intertextueller Relationen zwischen Texten und Diskursen92 , eine repräsentative und objektivierbare Selektion von relevanten Texten und anderen Quellen sowie die Bildung eines textuellen Netzwerks mit dem betreffenden literarischen Text als Zentrum, wobei er letzteres als »making connections between texts« bezeichnet: »Das ›Ganze‹ der Kultur wird lesbar durch die Verknüpfung ihrer diskursiven Elemente mit den Bedeutungen der Elemente und Strukturen einzelner Texte.«93 Um dies zu erreichen, sei eine weitläufige, erschöpfende Lektüre und ein zweigleisiges Vorgehen notwendig im Rahmen eines »Close reading«, welches die genaue Bedeutung der einzelnen Zeichen ergründet, bei gleichzeitigem »wide reading im Sinne eines co-reading«, welches die Texte des kulturellen Kontextes erfasst.94 Gemäß einer solchen funktionsgeschichtlichen Betrachtungsweise erscheint Literatur nicht nur als Ausdruck, sondern als selbstständiger Teil von gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, die ihrerseits nicht als ›Hintergrund‹, sondern als Bestandteil von Literatur angesehen werden. Daran angelehnt sollen in der vorliegenden Arbeit unterschiedliche literarische Genres im Hinblick darauf untersucht werden, wie sich die europäische Kaffeehauskultur in den Texten manifestiert und auf welche Weise sie perzipiert wird, welche möglichen Emotionen sie auslöst und wie sich flüchtige Merkmale wie ›Ambiente‹ im Text darstellen. Zudem soll die Literatur mit den ›Kontexten‹ dieses Ortes in Bezug gesetzt werden, das heißt, mit dem vermeintlich typischen Verhalten im Kaffeehaus, den Erinnerungsbildern, Klischees und Stereotypen, welche über selbiges zirkulieren sowie mit ›extratextuellen‹ Diskursen wie Kunstwerken, Speisen und Atmosphären, die mit dem Kaffeehaus assoziiert werden. Methodisch ist dabei der Begriff des Diskurses dienlich, um Gegenstände aus verschiedenen ›Medien‹, d.h. verschiedenen kulturellen Bereichen und Zusammenhängen, vergleichbar zu machen. Diese Medien […] können im engeren Sinne literarisch, aber durchaus auch außerliterarisch und sogar außertextuell sein – sofern sie einer Kultur angehören, stehen sie auch miteinander in Zusammenhang und Austausch. Die Diskurse sind nun das Verbindende zwischen diesen Medien.95 Mit diesem Konzept der ›kulturellen Texte‹96 im Sinne des New Historicism wird die relevante Vernetzung von Literatur sowohl mit anderen Medien und Diskursen als auch
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Vgl. Hallet: »Intertextualität als methodisches Konzept«, S. 53f.; 60. Vgl. »[…] in dem Bemühen, einerseits Aufschluss über das historische und kulturelle Umfeld des Textes zu gewinnen, andererseits nachzuzeichnen, in welcher Weise der Text sich in seinem diskursiv-kulturellen Feld positioniert, worauf er antwortet und wie er selbst kulturbildend wirkt.«, in: Hallet: »Intertextualität als methodisches Konzept«, S. 57. Hallet: »Intertextualität als methodisches Konzept«, S. 65f. Hallet: »Intertextualität als methodisches Konzept«, S. 64. Moritz Baßler: »Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur«, in: ders. (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Tübingen/Basel 2001, S. 7-28, S. 14. »Kultur ist vielmehr eine Konstellation von Texten, die – über das geschriebene oder gesprochene Wort hinaus – auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen usw. verkörpert sind.«,in: BachmannMedick: »Einleitung«, S. 10.
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mit grenzüberschreitenden »Vorgänge[n] kultureller Gefühls- und Verhaltensmodellierung«97 hervorgehoben. Blickt man zurück auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, zeigt sich, dass bereits Aby Warburg schon früh erkannt hatte, dass es der »kulturwissenschaftliche Zweck« sei, »die Austauschvorgänge der Kultur a) historisch betrachtet und gewertet, b) praktisch beleuchtet und gefördert zum eigentlichen Objekt des akademischen Betriebs zu machen.«98 So bezeichnet es Ulrich Raulff als herausragende Leistung von Warburgs Denk- und Arbeitsweise, »die Kunstgeschichte zu einer allgemeinen Kulturgeschichte und Kulturwissenschaft zu erweitern«, dessen Kernstück in einer Ikonologie besteht, »welche Bilder als Ausdruck von sozialen und psychischen Kräften, als Resultat von Spannungen und Konflikten« begreift.99 Damit befindet Warburg sich in direkter Linie zu Greenblatts Denkrichtung, der den Konnex von Text und Kontext deshalb als ›negotiation‹ bezeichnet, weil zum Ausdruck gebracht werden soll, dass literarische Texte neben anderen Kunstwerken »die Welt sowie ihre kulturellen Codes auf symbolische Weise« verkörpern, da »Literatur die (Zeichen der) Welt in literarischen Zeichen symbolisch repräsentiert«100 : Literarische Texte und die außerliterarische Welt befinden sich in einem wechselvollen Austauschprozess, wirken reziprok aufeinander ein, beeinflussen und gestalten sich gegenseitig, weshalb Formen der intertextuellen Kontextualisierung und die Thematisierung der Text-Kontext-Hierarchie im Rahmen des New Historicism und anderer kulturwissenschaftlich orientierter Konzepte nicht nur eine wichtige Rolle spielen, sondern geradezu essentiell sind, da diese sich einer strikten Grenzziehung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten ausdrücklich widersetzen.101 Warburg kann als Vorläufer der Methodik gesehen werden, Kunstwerke in ihrem Entstehungszusammenhang und als Zeitzeugnisse zu betrachten, in denen sich »die psychologische Verfasstheit der dahinterstehenden Menschen sowie die Erhellung allgemeiner zyklischer Entwicklungszusammenhänge […] in der geistigen Geschichte der Menschheit«102 manifestieren. Dabei plädiert er nicht nur dafür, die verschiedensten thematischen Aspekte mit in die Bildanalyse einzubeziehen, die sowohl räumlich als auch zeitlich weit auseinanderliegen103 , sondern fordert daneben auch »den Einbezug jeglicher Form von ›Bildlichkeit‹«. Damit erweitert er den Forschungsbereich auf »Alltagsgegenstände und -phänomene (Wappen, Münzen, Briefmarken, Trinkbecher, Hochzeitstruhen etc.)« und »zweit- oder drittrangige Kunstwerke«104 , um einen größeren Zusammenhang herstellen zu können: Ich hoffe, durch die Methode meines Erklärungsversuches der Fresken im Palazzo Schifanoja zu Ferrara gezeigt zu haben, dass eine ikonologische Analyse, die sich durch grenzpolizeiliche Befangenheit weder davon abschrecken lässt, Antike, Mittelalter und 97 98 99 100 101 102 103 104
Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 152. Aby Warburg: Unveröffentlichter Brief an Max Warburg (25.11.1911), WIA (Warburg Institute Archive), FC, Family Correspondence, Kopierbuch II, 151-157. Raulff: »Von der Privatbibliothek des Gelehrten zum Forschungsinstitut«, S. 43. Lehnert: »Kulturwissenschaft als Gespräch mit den Toten? Der New Historicism«, S. 107; 112. Vgl. Engel: »Kulturwissenschaft/en«, S. 24f. Rösch: Aby Warburg, S. 35. Rösch: Aby Warburg, S. 35. Rösch: Aby Warburg, S. 34.
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Neuzeit als zusammenhängende Epoche anzusehen, noch davor, die Werke freiester und angewandtester Kunst als gleichberechtigte Dokumente des Ausdrucks zu befragen, dass diese Methode, indem sie sorgfältig sich um die Aufhellung einer einzelnen Dunkelheit bemüht, die grossen allgemeinen Entwicklungsvorgänge in ihrem Zusammenhange beleuchtet.105 Bilder sind somit nicht einfach ästhetische Kunstobjekte, die zufällig von Malern und Malerinnen geschaffen werden, sondern das »privilegierte Anschauungsmaterial von Warburgs Forschung« und »Speicher von Ausdrucksenergien«106 . Als »Stücke zur Geschichte« offenbaren sie für Warburg die Chance, die ›Gesamtkultur‹ eines Gegenstands 107 zu analysieren. Weil auch das Kaffeehaus als außertextueller Ort und die dort entstandenen oder handelnden Texte eng miteinander verknüpft sind und sich wechselseitig beeinflussen, sollen diese Kontextualisierungen im Folgenden näher beleuchtet werden.
III.3. Verknüpfung von Kultur und Literatur: Textualität von Kultur Mit dem Konzept der ›Kulturpoetik‹ (›poetics of culture‹) unterstreicht Greenblatt, wie sehr die die Kultur konstituierenden ›negotiations‹ im weitesten Sinn von Texten abhängen, also von Literatur, Kunstwerken et cetera., da es nur in dieser fixierten Form möglich ist, Kultur trotz ihrer Flüchtigkeit zu speichern und sie der Nachwelt zu überliefern108 : Language, like other sign systems, is a collective construction; our interpretive task must be to grasp more sensitively the consequences of this fact by investigating both the social presence to the world of the literary text and the social presence of the world in a literary text. […] great art is an extraordinarily sensitive register of the complex struggles and harmonies of culture […].109 Auch Doris Bachmann-Medick hebt die generelle Sprach- und Zeichenvermitteltheit von Kultur hervor, wenn sie ausführt, dass es einer kulturwissenschaftlich-anthropologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft vor allem darum gehe, »ein Feld interdisziplinärer Überschneidungen auszuloten: ein Verständnis der Textvermitteltheit von Kulturen ebenso wie von kulturellen Implikationen literarischer Texte«.110 Aufgrund dieser Annahmen, die voraussetzen, dass Kultur durch Texte konstituiert ist, beruft sich diese Arbeit auf literarische Texte, welche im Zusammenhang des europäischen Kaffeehauses entstanden sind und dessen Kultur so näher beleuchtet werden soll:
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Warburg: »Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja«, S. 396. Rösch: Aby Warburg, S. 36. Warburg: »Dürer und die italienische Antike (1905)«, S. 176. Vgl. Lehnert: »Kulturwissenschaft als Gespräch mit den Toten? Der New Historicism«, S. 112. Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning, S. 5. Bachmann-Medick: »Einleitung«, S. 45.
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And if an exploration of a particular culture will lead to a heightened understanding of works of literature produced within that culture, so too a careful reading of a work of literature will lead to heightened understanding of the culture within which it was produced.111 Bereits Ernst Cassirer sah Sprache und Schrift in Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) als »Ursprung des Maßes« an, da sie als substantielle Instrumente der menschlichen Selbstschöpfung und Gestaltung von Welt und Wirklichkeit »das Flüchtige und Wandelbare festzuhalten und es damit dem Zufall und der Willkür zu entziehen« vermögen.112 Durch Sprache kann das Flüchtige der Kultur fixiert werden, so dass sich individuelles Sprachverstehen zu einem gegenständlichen, allgemeingültigen und bedeutsamen »Ausdruck des Weltverstehens«113 entwickelt, in dem Sprache das Medium darstellt, »in dem allein das Wissen um die Dinge entstehen und sich fortschreitend ausbauen kann.«114 Wahrnehmung und Anschauung werden insoweit ›gegenständlich‹, als es der Energie der Sprache gelingt, das dumpfe und ungeschiedene Chaos von einfachen Zuständlichkeiten zu lichten, zu unterscheiden, zu organisieren. Die sprachliche Symbolik erschließt eine neue Phase des seelisch-geistigen Lebens. An die Stelle des bloß triebhaften Lebens, des Aufgehens im unmittelbaren Eindruck und den jeweiligen Bedürfnissen, tritt das Leben in Bedeutungen. Diese Bedeutungen sind ein Wiederholbares und Wiederkehrendes […]. Kraft dieser Identität des Meinens, die sich über der Buntheit und Verschiedenheit der momentanen Eindrücke erhebt, tritt, allmählich und stufenweise, ein bestimmter ›Bestand‹, ein ›gemeinsamer Kosmos‹ hervor.115 Cassirer betont, dass das Kennenlernen der jeweiligen ›Welt‹ und ihres Wissens für den Menschen immer damit verbunden ist, dass er in einem dynamischen, nie zu einem Ende kommenden Prozess die vorherrschende Sprache lernt: […] und in dem Maße, als dieser Prozeß fortschreitet, zeichnen sich für den Menschen auch die Umrisse seiner Welt immer klarer und bestimmter ab. Der Name wird somit nicht einfach an die fertige und vorhandene gegenständliche Anschauung, als ein äußeres Kennzeichen, angefügt, sondern in ihm drückt sich ein bestimmter Weg, eine Weise und Richtung des Kennenlernens aus.116 Das heißt, die Benennung eines Gegenstandes oder Aspektes vollzieht sich in einem Zug mit der Erforschung des Gegenstandes selbst. Daher konstatiert Cassirer, dass die Funktion von Sprache, Zeichen und Bildern nicht darin bestehe, die Gegenstände vom Menschen zu entfernen, sondern darin, die »einzig mögliche, adäquate Vermittlung und das Medium« zu schaffen, »durch welches uns irgendwelches geistige Sein erst faßbar und verständlich wird.«117 111 112 113 114 115 116 117
Greenblatt: »Culture«, S. 227. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 5. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 15. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 16. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 17. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 16. Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 176.
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Was wir das Erlernen einer Sprache nennen, ist daher niemals ein bloß rezeptiver oder reproduktiver, sondern ein im höchsten Maße produktiver Prozeß. In ihm gewinnt das Ich nicht nur Einblick in eine bestehende Ordnung, sondern es baut an seinem Teil diese Ordnung auf; es gewinnt Anteil an ihr, nicht indem es sich ihr einfach, als einem Gegebenen und Vorhandenen, einfügt, sondern indem jeder einzelne, jedes Individuum sie für sich einwirbt und in und kraft dieser Erwerbung an ihrer Erhaltung und Erneuerung mitwirkt.118 Das bedeutet, dass Zeichen und Bilder nicht nur Mittler zwischen Gegenstand und Mensch sind, sondern durch ihren konstruktiven und produktiven Charakter eine eigene Wirkkraft entfalten, welche unser subjektives Wahrnehmen und Denken prägt und damit dem ›geistigen Sein‹ konkret materiellen Rückhalt und eine ›sinnlich-anschauliche‹ Form verleiht, um ›objektive Wirklichkeit‹ zu erlangen.119 Die Form des Lauts illustriert dabei nicht nur den Gedanken an sich, sondern die gesamte »innere[] Bewegung des Denkens selbst«, wodurch das Lautzeichen zu »Mittel und Bedingung der innerlichen Gliederung der Vorstellungen selbst« wird.120 Von der Prämisse der »Sprachabhängigkeit und Sprachprägung« kultureller Praktiken hängt auch ihre »Konstruiertheit«121 ab, wie Bachmann-Medick und Greenblatt betonen, wenn im Rahmen des New Historicism die strikte Trennung zwischen ›literarischem Vordergrund‹ und ›politischem beziehungsweise historischem Hintergrund‹ beleuchtet wird. Greenblatt postuliert, dass Texten diese Grenze nicht inhärent ist, sondern sie ihnen von den die jeweils geltende Kultur repräsentierenden Institutionen aufoktroyiert wurde: The critical practice represented in this volume challenges the assumptions that guarantee a secure distinction between ›literary foreground‹ and ›political background‹ or, more generally, between artistic perfection and other kinds of social production. Such distinctions do in fact exist, but they are not intrinsic to texts; rather they are made up and constantly redrawn by artists, audiences, and readers. These collective social constructions […] link that mode to the complex network of institutions, practices, and beliefs that constitute the culture as a whole.122 Da aber nur die Einheit aus Text und Kontext die Kultur in ihrer gesamten Komplexität konstituiert und Grenzen stets von Menschen geschaffene Konstruktionen sind, die auch wieder aufgegeben werden können, sollte eine literaturwissenschaftliche Textanalyse, die auf kulturelle Parameter abhebt, laut Greenblatt und Bachmann-Medick ei-
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Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 17. Vgl. Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 176ff. Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 178. Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 151. Diese Arbeit lehnt sich an die positive Definition des Konstruktbegriffs von Roy Sommer an: Der Begriff »stellt nicht das Erklärungspotential und damit die Brauchbarkeit literaturwissenschaftlicher Konzepte in Frage, sondern betont lediglich ihren Modellcharakter: Literarhistorische ›Fakten‹ wie die Ausdifferenzierung des Gattungssystems sind ›Gemachtes‹, nicht ›Gegebenes‹.«, in: Sommer: »Funktionsgeschichten«, S. 320, Fußnote 6. Stephen Greenblatt: »Introduction«, in: ders. (Hg.): The Forms of Power and The Power of Forms in the Renaissance, Sonderausgabe von Genre 15 (1982), S. 3-6, S. 6.
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ner strikten Trennung zwischen Inner- und Außerliterarischem entgegentreten123 und eher den wechselseitigen, kontextualen Bezug zwischen »Texten beziehungsweise Ausdrucksformen und übergreifenden kulturellen Zusammenhängen, Lebensweisen und Diskursformationen«124 akzentuieren. Auch die vorliegende Studie beschäftigt sich mit literarischen Texten sowie ihrem Kontext, dem Kaffeehaus, in dessen Zusammenhang sie vermeintlich entstanden sind oder in dem sie inspiriert wurden. Das heißt, dieser Kontext wird beständig von den Autorinnen und Autoren erwähnt, so dass die Texte zuweilen eher nicht-fiktionalen beziehungsweise nicht-literarischen Textsorten ähneln, wenn sie beispielsweise autobiographischen oder historiographisch-publizistischen Charakter haben. Daher ist es einerseits problematisch, die Texte in ein bestimmtes Genre einzuordnen respektive ihre exakte Funktion darzulegen; andererseits ist es gerade dieses hybride Gepräge, welches den Texten ihren Reiz verleiht. Dennoch bleibt es aus methodischer Sicht eine der Hauptschwierigkeiten dieser Arbeit, eine schlüssige Zusammenschau und Analyse dieser unterschiedlichen Texte mit Blick auf die Betrachtung des europäischen Kaffeehauses zu vollziehen, oder wie Thomas Fechner-Smarsly es formuliert: »von welchem Kontext ist eigentlich die Rede, welche Rahmungen führe ich ein, welche Ausgrenzungen nehme ich vor, wie etabliere ich einen Zusammenhang«125 ? Im Hinblick darauf soll deshalb im Folgenden versucht werden, eine konsistente methodische Vorgehensweise zu erarbeiten und explizite Textauswahlkriterien festzulegen. Wenn als Prämisse vorausgesetzt werden kann, dass es sich bei Literatur aus kulturwissenschaftlich-anthropologischer Perspektive um eine der »materialen Formen beziehungsweise textuellen Medien handelt, an denen mentale Aspekte der Kultur beobachtbar werden«126 , ist an dieser Stelle weder die Frage nach der Eigenheit oder dem ›Wesen‹ von Literatur oder danach, wie sie sich von anderen textuellen, nicht-literarischen Erzeugnissen unterscheidet, noch diejenige nach der hierarchischen Staffelung von Text und Kontext relevant: Vielmehr manifestieren sich die kulturbestimmenden sozialen Konstellationen, Diskurse und Mentalitäten in Texten. Für eine kulturgeschichtlich interessierte Literaturwissenschaft geht es daher um die Fragen, in welchem Verhältnis literarische Texte zu den Diskursen und dem Wissen einer Gesellschaft stehen, wie sie das soziokulturelle Wissen ihrer Entstehungszeit verarbeiten und welche gesellschaftlichen Funktionen sie jeweils erfüllen.127 Als Zwischenfazit lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass literarische Texte in dieser Arbeit als poetischer Ausdrucksträger und Übermittlungsinstanz eines Teils der europäischen Kaffeehauskultur im 20. und 21. Jahrhundert aufgefasst werden, in denen sich 123 Vgl. Greenblatt: »Culture«, S. 227. 124 Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 152. 125 Thomas Fechner-Smarsly: »Clifford Geertzʼ ›Dichte Beschreibung‹ – ein Modell für die Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft?«, in: Jürg Glauser/Annegret Heitmann (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft, Würzburg 1999, S. 81-101, S. 92. 126 Nünning/Sommer: »Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft«, S. 20. 127 Nünning/Sommer: »Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft«, S. 20.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
das Wissen, die spezifischen Gepflogenheiten, Erinnerungen sowie bestimmte Wirklichkeitskonzepte der Menschen konzentrieren und in denen diese verhandelt werden, so dass sich eine semantisch dichte, vielschichtige und polyperspektivische Art der Veranschaulichung ergibt, welche auf die Gesellschaft zurückwirkt. Dabei gilt jedoch immer, dass es sich um ästhetische Kunstwerke handelt, die keinesfalls als historische Quelle oder reale Darstellung missdeutet werden dürfen. Manfred Engel erscheint es bedenklich, wenn literarische Texte »primär in ihrer Dokumentfunktion gewürdigt« werden, da zum ersten »Poetik und Ästhetik […] wichtige Teilbereiche der Kultur« darstellten, zum zweiten der kompetente Umgang mit »elaborierten Ausdrucksweisen schriftlicher und mündlicher Rede« bewahrt werden solle und zum dritten Literatur als »eine höchst problematische, schwer zu handhabende und oft äußerst unzuverlässige Quelle für soziale Realität und allgemeine Mentalität« anzusehen sei.128 Das heißt, es geht bei literarischen Texten sowohl darum, welche Gegenstände vermittelt werden, als auch auf welche Weise respektive mit welchen sprachlichen Mitteln etwas kommuniziert wird. Diese gilt es nicht nur zu erforschen, sondern vielmehr sollen laut Bachmann-Medick neben den »Themen und stofflichen Wirklichkeitsbezügen« auch poetische Ausdrucksweisen »kulturspezifisch verortet und ausgelotet werden«129 . Diese Methodik eignet sich für die Analyse der Kaffeehaustexte besonders, da bestimmte sprachliche Ausdrucksformen nur entstehen konnten, weil sie vom Kontext des Kaffeehauses beeinflusst wurden. Wenn es um die Differenzierung von Text und Kontext, Literatur und Wirklichkeit geht, wird immer wieder auf die von Clifford Geertz geprägte Formel von ›Kultur als Text‹ zurückgegriffen, da es aufgrund der Prämisse von der Textualität von Kultur keine rigorose Unterscheidung mehr gibt »zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen, literarischen und nicht-literarischen Texten und zwischen Texten und sozialen Handlungen.«130 Geertz propagiert in einer sehr metaphorischen Sprache im Kontext der Ethnographie nicht nur ein semiotisches Interpretationsvorgehen, sondern fordert die Lesenden auf, eigene Interpretationsvarianten aufzustellen und möglichen Bedeutungen nachzuspüren, um mit Hilfe dieser vielfältigen, dynamischen Lesarten »Deutungsangebote zu machen, Mehrdeutigkeiten ernstzunehmen und Interpretationskonflikte auszuhalten, sie sogar fruchtbar zu machen.«131 Der Kultur einer Gemeinschaft beispielsweise, die in diesem Sinn als hochgradig text- und momentabhängig begriffen werden kann, solle man auf diese Weise ›lesend‹ nahe kommen: Doing ethnography is like trying to read (in the sense of ›construct a reading of‹) a manuscript – foreign, faded, full of ellipses, incoherencies, suspicious emendations, and tendentious commentaries, but written not in conventionalized graphs of sound but in transient examples of shaped behavior. […] Cultural analysis is (or should be) guessing at meanings, assessing the guesses, and drawing explanatory conclusions
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Engel: »Kulturwissenschaft/en«, S. 18f. Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 151. Engel: »Kulturwissenschaft/en«, S. 24. Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 150.
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from the better guesses, not discovering the Continent of Meaning and mapping out its bodyless landscape.132 Damit betont er zum einen, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf eine gute sprachliche Ausdrucksweise angewiesen sind, um Kultur in Form von Texten zu fixieren, sie für die Nachwelt zu archivieren und für die Gesellschaft verständlich zu machen. Zum anderen wird deutlich, dass das ›Entziffern‹ von Kultur immer von der Lesefähigkeit und Interpretationsleistung der einzelnen Rezipienten und Rezipientinnen beeinflusst ist. So sei es das Hauptziel einer semiotischen Kulturanalyse, sich Zugang zur Kultur einer Gruppe zu verschaffen, indem man sie in ihrer alltäglichen Gewöhnlichkeit darstelle, ohne dabei ihre Eigentümlichkeit aus dem Blick zu verlieren133 : The whole point of a semiotic approach to culture is […] to aid us in gaining access to the conceptual world in which our subjects live so that we can, in some extended sense of the term, converse with them. […] This is the first condition for cultural theory: it is not its own master. As it is unseverable from the immediacies thick description presents, its freedom to shape itself in terms of its internal logic is rather limited. What generality it contrives to achieve grows out of the delicacy of its distinctions, not the sweep of its abstractions.134 Das Vorgehen in dieser Arbeit wird es denn auch sein, ausgewählte Texte zu analysieren und Schnittstellen sowie Einzelverbindungen darzulegen, um durch diese Analysen der Kaffeehauskultur nahezukommen und das aktive ›Gespräch‹ zwischen Schreibenden und Lesenden wieder zu eröffnen – wie im Prolog angedeutet. Damit verschiebt sich das »hermeneutische Grundmodell des Gesprächs« in Richtung eines reziproken Austauschs, in dem die Interpretierenden »nicht außerhalb einer abgeschlossenen Aussage [stehen], die es zu verstehen gilt«135 , sondern eine aktive Rolle im Kommunikationsprozess spielen. Im Rahmen eines weiteren Kontextes, demjenigen von Politik und Macht, weist Bachmann-Medick auf das Potential der Metapher ›Kultur als Text‹ hin, im Zusammenhang einer kritischen Auseinandersetzung mit einem westlich geprägten Textbegriff durch das »Experimentieren mit neuen Darstellungsformen wie Collage, Fragment, Gedicht, Dialog« politisch-ethnographische Schwerpunkte setzen zu können und hierarchische »Darstellungselemente innerhalb von Texten«136 mit gesellschaftlichen Rangordnungen in Bezug zu setzen. Sie unterstreicht auch die Relevanz eines Bewusstseins für den konstruktiven und nicht-holistischen Charakter von Kultur, da in der Metapher von ›Kultur als Text‹ zum Teil die Konnotation von ›Ganzheit‹ beziehungsweise »Vollkommenheit‹ mitschwingt. Denn es sei heikel, wenn »Kultur im Sinne eines kohärenten, in sich geschlossenen Bedeutungszusammenhangs« betrachtet wird, da sie
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Clifford Geertz: »Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture«, in: ders: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, London 1993, S. 3-30, S. 10; 20. Vgl. Geertz: »Thick Description«, S. 14. Geertz: »Thick Description«, S. 24f. Baßler: »Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur«, S. 17. Bachmann-Medick: »Einleitung«, S. 33.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
in diesem Fall »der Flüchtigkeit und der Veränderungskraft sozialer Situationen enthoben ist und als Gesagtes beziehungsweise als fixierter Sinnzusammenhang quasi wie ein Text festgehalten wird.«137 Im Gegensatz dazu eröffne der ethnographische Blick auf Texte durch »bruchstückhafte Auflistung des Disparaten anstelle von Ganzheitseindrücken« und »offene Textassoziationen im Sinne von Evokationen« die Möglichkeit, das Nicht-Offensichtliche aufzudecken und die »Sperrigkeit fremder Kultureindrücke aufrecht[zuerhalten].«138 Bachmann-Medick fordert daher, zum Gemeinplatz gewordene Begriffe aufzusprengen, um neue Einsichten zu erlangen: Einer Literatur- und Kulturwissenschaft jenseits des Textmodells wird es darum gehen, zentrale Momente kultureller Erfahrung wie Situationsabhängigkeit und Intentionalität ebenso einzubeziehen wie die Dynamik kultureller Praktiken, kulturelle Differenzen und Konfliktverläufe sowie überhaupt die Prozeßhaftigkeit performativer Ereignisse und Szenarien, die Erfahrung von Macht und Gewalt, die kulturellen Ausdrucksformen von Geschlechterverhältnissen und v.a. die dialogische Hervorbringung von Kultur.139 Sie warnt allerdings auch vor einer Überstrapazierung und inflatorischen Verwendung der Metapher, die sich »allzuleicht zu verselbstständigen und ein formelhaftes Eigenleben zu führen«140 drohe. Stattdessen plädiert sie für eine Abänderung der Metapher hin zu dem offeneren Begriff von »Kultur als Prozeß des Aushandelns«, welcher die Betonung auf Dynamik beziehungsweise Prozesshaftigkeit von kulturellen Konstellationen legt sowie die Möglichkeit von Bedeutungsvielfalt miteinschließt: Hybridisierung, Ungleichzeitigkeiten, ›dritte Räume‹ von Heimatlosigkeit und Zwischenexistenzen […], also konfliktreiche Spannungsräume in interkultureller Auseinandersetzung treten an die Stelle von Bedeutungszusammenhängen, die noch über Instanzen kultureller Selbstdarstellung und Selbstreflexion zugänglich waren.141 Auch Birgit Neumann spricht sich für ein aktiveres, beweglicheres Konzept aus, welches sich durch die Metapher von ›Kultur als Performance‹ von einem statischen, textuellen Begriff abgelöst hat und dessen Fokus mehr »auf die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens« gerichtet ist, wodurch »etablierte Strukturen aufgelöst werden und neue emergieren.«142 Durch das Moment des Performativen wird betont, dass es sich hier auch um Formen von kultureller Darbietung handelt, in denen sich Einzelne oder Gruppen wie auf einer Bühne inszenieren und temporär in andere Rollen schlüpfen können, um neue, interaktive Formen der Darstellung von Kultur auszuprobieren.
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Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 152. Bachmann-Medick: »Einleitung«, S. 34. Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 153 Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 148. Bachmann-Medick: »Kultur als Text?«, S. 154. Birgit Neumann: »Performanz und Literatur: Vorschläge zur Konzeptialisierung der Text-KontextRelationen«, in: Marion Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, Trier 2006, S. 87-106, S. 87.
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So erweise sich diese Perspektive »vor allem deshalb als produktiv, weil sie kulturelle Phänomene prozessual versteht, […] rekonstruktiv und konstruktiv zugleich.«143 Diese Konzeptionen von ›Kultur als Performance‹ beziehungsweise ›Aushandlungsprozess‹ eignen sich zur Beschreibung der Kaffeehauskultur, da an diesem Ort durch die eher unkonventionelle Lebensweise der ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹ keine ›herkömmlichen‹ sozialen Hierarchien herrschen und das Kaffeehaus einen durchaus hybriden Ort der Schwellenerfahrung darstellt, sei es beispielsweise als Zuhause außerhalb der Wohnung oder als Heimat im Exil. Weiterhin sind die Texte durch Mehrstimmigkeit und permanenten Dialog gekennzeichnet und nicht auf bestimmte Bedeutungen festgelegt, so dass sich in polyphonen Kunstwerken »eine Vielzahl von divergenten Stimmen, Perspektiven und Weltanschauungen in der Orchestrierung des Autors [ergänzen und brechen], der wiederum als eine Stimme an dem dynamischen Sinnkonstituierungsprozeß teilnimmt.«144 Im Sinne Michail Bachtins, auf den das Konzept der Dialogizität zurückgeht, ist eine dialogische Auseinandersetzung mit literarischen Texten niemals abgeschlossen, sondern dynamisch und offen für weitere Deutungen und weist ein hohes Maß an Selbstreflexion auf: Dialogue here is not the threshold to action, it is the action itself. […] To be means to communicate dialogically. When dialogue ends, everything ends. Thus dialogue, by its very essence, cannot and must not come to an end.145 Deutlich wird an dieser Stelle somit auch, dass die während einer Lektüre entstandene Lesart immer nur eine Form der Interpretation eines Textes darstellt, die einzelne Leser und Leserinnen aus ihrer subjektiven Betrachtung heraus erstellt haben. Das bedeutet, dass immer nur eine Lesart hervorsticht und Anklang findet, wohingegen andere zunächst einmal vernachlässigt werden, die allerdings zu einem späteren Zeitpunkt beziehungsweise innerhalb eines anderen Kontextes wieder aktuell werden können: Erst im Leseprozeß wird in Abhängigkeit von den spezifischen Voraussetzungen der Leser ein bestimmter Teil des Wirkungspotentials realisiert und in einer Lesart konkretisiert, während andere Möglichkeiten der Interpretation verworfen werden. Durch die für das Verstehen eines Textes notwendige ›selektive Vereindeutigung‹ wird jeweils eine der denkbaren Lesarten privilegiert.146 So ist eine Lektüre niemals ›neutral‹, sondern stets abhängig von Situation und Kontext, in denen die Lesenden sich im Austausch mit den Stimmen des Textes befinden. Diese Dialogizität spiegelt immer auch eine demokratische, nicht hierarchisch organisierte Gemeinschaft, da alle Stimmen – auch die der Leserinnen und Leser – zu Wort kommen. Genau dieser Charakter ist es, welcher dem Kaffeehaus bis zu Beginn der 1930er Jahre in den Texten nachgesagt und häufig thematisiert wird. Dabei nutzen die Autoren und Autorinnen bestimmte literarische Darstellungsverfahren, die sich 143 Neumann: »Performanz und Literatur«, S. 87. 144 Laurenz Volkmann: »Dialogizität«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart/Weimar 2004, S. 113-114, S. 114. 145 Vgl. Michail Bachtin: Problems of Dostoevsky’s Poetics, Theory and History of Literature, Vol. 8, Minneapolis/London 1984, S. 252. 146 Sommer: »Funktionsgeschichten«, S. 330f.
III. Kulturelle Pluralität und interdisziplinäre Grenzüberschreitung
durch »semantische Offenheit und Mehrdeutigkeit«147 auszeichnen, um zu zeigen, dass das Kaffeehaus zum Beispiel in der Zwischenkriegszeit ein Ort ist, an dem sich die vielfältigsten, auch dissonanten Stimmen überlagern und ihre Gültigkeit beanspruchen können. Dies änderte sich zu Beginn der NS-Herrschaft, als viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller in fremde Cafés im Exil fliehen müssen, weil ihre Stimme als unerwünscht und ›entartet‹ bewertet wird und eine dialogische Kommunikation im Sinne Bachtins nicht mehr möglich ist. Die Konzepte der ›Themenorchestrierung‹ und ›sozialen Redevielfalt‹ werden von Bachtin hauptsächlich auf den Roman angewandt148 , eignen sich seiner Meinung nach aber zum Teil auch für andere Prosatexte149 und scheinen ebenso auf die Texte der ›Kaffeehausliteratur‹ zu passen, weil diese sehr dialogisch strukturiert sind und das an diesem Ort zuweilen herrschende »babylonische Stimmengewirr« thematisieren, welches den widerhallenden, »notwendigen Hintergrund«150 für den jeweils eigenen Text bildet. Nünning definiert diese ›Orchestrierung‹ im Zuge seiner Analyse des Briefromans als perspektivisches Aufbrechen des »zentrale[n] Geschehen[s] durch unvermittelt nebeneinandergestellte Sehweisen«, was sich insbesondere »zur literarischen Gestaltung einer kulturellen Umbruchssituation«151 eigne und den Wert des Individuums erhöhe: Die Vielfalt und Streubreite individueller, selbstständiger und gleichberechtigter Perspektiven in diesen Romanen zeugt ebenfalls von einer enormen Aufwertung von Individualität und Subjektivität, aber auch von einer Fragmentarisierung der Wirklichkeitserfahrung in einer durch soziale Differenzierung geprägten Gesellschaft. In diesem Nebeneinander konkurrierender Werte- und Normensysteme schlägt sich eine Pluralisierung von Moral- und Wirklichkeitsvorstellungen nieder, die die Romane in sich aufnehmen und in ein dialogisches Verhältnis zueinander bringen.152 Anknüpfend daran sollen in der vorliegenden Arbeit diese Elemente einer dialogischen, polyphonen Darstellung untersucht und mit ihrer semantischen Entsprechung im Text korreliert werden, um einerseits aufzuzeigen, dass Dialogizität eines der konstituierenden Merkmale der ›Kaffeehausliteratur‹ ist, womit dem demokratischen Charakter des Ortes Rechnung getragen wird. Andererseits soll durch die Einbeziehung des his-
147 Gymnich/Nünning: »Funktionsgeschichtliche Ansätze«, S. 8. 148 Vgl. »der Roman orchestriert seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrückende Welt der Gegenstände und Bedeutungen mit der sozialen Redevielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden individuellen Stimmenvielfalt. Die Rede des Autors und die Rede des Erzählers, die eingebetteten Gattungen, die Rede der Helden […] Jede von ihnen begründet eine Vielzahl von sozialen Stimmen und eine Vielzahl von Verbindungen und Korrelation zwischen den Aussagen und den Sprachen. Diese Bewegung des Themas durch Sprachen und Reden, deren Aufspaltung in Elemente der sozialen Redevielfalt, ihre Dialogisierung: dies macht die grundsätzliche Besonderheit der Stilistik des Romans aus.«, in: Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, Frankfurt a.M. 1979, S. 157. 149 Vgl. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 171. 150 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 171. 151 Nünning: »Narrative Form und fiktionale Wirklichkeitskonstruktion«, S. 201. 152 Nünning: »Narrative Form und fiktionale Wirklichkeitskonstruktion«, S. 206.
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torischen Kontextes verdeutlicht werden, wie abhängig das Wirkungspotential und die Interpretation eines Textes vom jeweiligen ›Zeitgeist‹ ist. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass aufgrund der vielfältigen Verknüpfungen des Ortes ›Kaffeehaus‹ mit der Literatur sowie der jeweils aktuellen Zeitgeschichte eine mentalitäts- und kulturwissenschaftlich orientierte Betrachtung der hier ausgewählten literarischen Texte angemessen zu sein scheint.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
IV.1. Gattungsbegriffe und Idealtypen Bezugnehmend auf den Prolog zu Beginn dieser Arbeit, in dem die Protagonisten und Protagonistinnen über die Atmosphäre im Kaffeehaus, die Gattung der ›Kaffeehausliteratur‹ sowie das Kaffeehaus als Schauplatz nachgrübeln, soll nun näher auf die darin erwähnten Forschungsfragen eingegangen werden, um zu eruieren, wie die Atmosphäre des Kaffeehauses in den Texten beschaffen ist. Weiterhin soll gefragt werden, ob es eine eigene literarische Gattung mit spezifischen Merkmalen gibt, welche als ›Kaffeehausliteratur‹ definiert werden kann oder ob dieser Begriff lediglich übergreifend Texte der verschiedensten Genres bezeichnet, welche keine gemeinsamen Merkmale aufweisen, sondern lediglich von denjenigen Autoren und Autorinnen verfasst wurden, die sich zu bestimmten Zeiten im Kaffeehaus aufhielten, um dort zu arbeiten. Im Folgenden soll zunächst anknüpfend an das vorherige Kapitel zur kulturwissenschaftlichen Methodik auf die Ergebnisse der einschlägigen Forschung zum Thema ›Gattung‹ und ›Kaffeehausliteratur‹ eingegangen werden, bevor daran angelehnt beziehungsweise davon abgesetzt eine eigene Herangehensweise vorgestellt sowie Genremerkmale formuliert werden, die im darauffolgenden Kapitel bei der konkreten Textanalyse überprüft werden sollen.
IV.1.1.
›Gattung‹ als ordnender Sammelbegriff: Kriterienpluralismus und Idealtypus
In der kulturwissenschaftlichen und gattungstheoretischen Forschung wird weitgehend einstimmig festgehalten, dass Gattungsbegriffe ordnende Sammelbegriffe oder, gemäß Max Weber, vom Wissenschaftler oder der Wissenschaftlerin konstruierte »gedankliche Bildungen«1 sind, »die einem wissenschaftlichen Gedankengebäude Struktur verleihen«2 sollen. Dabei stellen Gattungen trotz ihrer Konstrukthaftigkeit laut Rüdi-
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Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 205 Volker Kruse/Uwe Barrelmeyer: Max Weber. Eine Einführung, Konstanz/Stuttgart 2012, S. 51.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
ger Zymner auf Unveränderlichkeit ausgerichtete »Organisationsformen von Sprachverwendung« dar, welche sozial eingeübten und akzeptierten Regeln folgen und dadurch eine gewisse innere und äußere Stabilität bekommen – eine äußere Stabilität im Hinblick auf die Abgrenzung von anderen Gattungen, eine innere Stabilität im Hinblick auf die bestimmenden Regeln und die dadurch gewährleistete Gattungsidentität. Als historisch-soziale Institutionen sind literarische Gattungen eine Form von Sinngebungsmuster, die eine ordnende, stabilisierende und auch entlastende Funktion haben.3 In dieser Konzeption der Gattung als ›Strukturierungsprinzip‹ wird ›Gattung‹ »als ein mehr oder weniger normativer Begriff« angesehen, dessen Funktion darin besteht, »eine möglichst klar begrenzbare beziehungsweise individuierbare Teilmenge aus der Fülle literarischer Texte zu erfassen«4 sowie »einen Gegenstandsbereich nach dem Prinzip der Ähnlichkeit«5 zu gruppieren und »heterogene literarische Texte zu klassifizieren, einander zuzuordnen und umfassender zu charakterisieren.«6 Die Prämisse dieses Gattungskonzepts setzt also voraus, dass sich literarische Texte auf der Basis textueller Merkmale in intersubjektiv nachvollziehbarer Weise bestimmten Typen oder Kategorien zuweisen lassen. Diese Merkmale können inhaltlicher und/oder formal-struktureller Art sein, wobei die Gewichtung dieser beiden Typen von Merkmalen je nach Gattung unterschiedlich ausfallen kann.7 Wie in diesem Zitat aus dem Beitrag von Marion Gymnich und Birgit Neumann und auch in der Studie von Zymner deutlich wird, ist nicht nur die äußere Form für die Merkmalsbestimmung relevant, sondern von Bedeutung sind auch inhaltliche Kriterien »ebenso wie solche der übergreifenden ›Wirkungsdisposition‹ oder auch der weltanschaulichen Grundhaltung sowie der literatursoziologischen Situierung und der literarischen Wertung«8 . Alastair Fowler und Elisabeth Wesseling betonen ebenfalls die zwingende Notwendigkeit, stets externe und interne Faktoren gleichzeitig zu berücksichtigen, um zu einem plausiblen Ergebnis zu kommen.9 Das heißt, die Möglichkeiten,
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Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003, S. 132. Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. 33. Zymner: Gattungstheorie, S. 84. Marion Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning: »Vorwort & Danksagung«, in: dies. (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Trier 2007, S. vii–viii, S. vii. Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. 36. Zymner: Gattungstheorie, S. 108. Vgl. auch Birgit Neumann/Ansgar Nünning: »Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie und Gattungsgeschichte«, in: Marion Gymnich/dies. (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Trier 2007, S. 1-28, S. 4. Vgl. »Every genre has a unique repertoire, from which its representatives select characteristics. These distinguishing features […] may be either formal or substantive. As Austin Warren says, generic grouping should be based ›upon both outer form (specific metre or structure) and … upon inner form (attitude, tone, purpose – more crudely, subject and audience).‹ […] The best of the older theorists, in fact, always kept external and internal forms together in discussing the historical kinds.«, in: Alastair Fowler: Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes,
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Merkmale zu bestimmen, sind fast unerschöpflich, immer wieder neu festlegbar und schließen einander nicht aus, weil ein Text mehreren Gattungen angehören kann. Der daraus resultierende »Kriterienpluralismus«10 verstärkt laut Zymner, Neumann und Nünning das Bewusstsein für die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Aspekten von Gattung und verdeutlicht die Vielschichtigkeit des Gegenstands. Zudem erlaubt er die Auswahl beziehungsweise Kombination der Kriterien, die der jeweiligen Fragestellung, dem Erkenntnisinteresse und dem Gegenstand angemessen sind.11 So bietet eine aus pluralen Kriterien aufgebaute Gattungskonzeption durch ihre dynamische Komponente einerseits die Chance, Texte nicht in eng umrissene Schemata zwängen zu müssen; andererseits bringt die Pluralität aber als Konsequenzen Begriffsverwirrung, mangelnde Systematik und eine unüberschaubare Zahl von undifferenzierten Kategorien mit sich, so dass es vielen Begriffsprägungen laut Ansgar Nünning und Birgit Neumann oftmals »an definitorischer Klarheit, interner Konsistenz und systematischer Verankerung in literaturwissenschaftlichen Kategorien oder Modellen« fehle und es sich »daher weniger um klar explizierte Gattungsbegriffe als vielmehr um bloße ›Gattungsnamen‹« handle.12 Deutlich zeigt sich hier, dass man zur Ausarbeitung eines schlüssigen und dynamischen Gattungskonzeptes zwar von den individuellen Texten und der aktuellen Forschungsfrage ausgehen sollte, dass die Typologisierung aber auch theoretisch verortet und objektiv nachvollziehbar sein muss. Angelehnt an diese erste Prämisse einer ausgewogenen Gattungsbestimmung sollen im Folgenden Max Webers Überlegungen zu einem ›scharfen Gattungsbegriff‹ vorgestellt und danach eruiert werden, welche Art von Gattungsbegrifflichkeit für die vorliegende Arbeit sinnvoll ist. Weber geht in seinem Text »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« (1904) zum einen davon aus, dass ein Gattungsbegriff nur dann für die kulturwissenschaftliche Forschung wertvoll und produktiv sein kann, wenn er trennscharf, das heißt, aus subjektiver Perspektive für den konkreten Fall formuliert und folglich im Rahmen eines historisch wandelbaren Konzepts ›vergänglich‹, also nicht immerwährend gültig ist. Damit wird ein Gattungsbegriff im Weberschen Sinne zu einem ›Idealtypus‹, das heißt, zu einer »begriffliche[n] Konstruktion, die dazu bestimmt ist, Wirklichkeit in ihrer Eigenart zu beschreiben«13 sowie die Besonderheit des Bezeichneten und dessen »spezifische Kulturbedeutung« auf positive Weise zu unterstreichen: »Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein zu bringen.«14 Während sich dieses Konzept auf die Betonung des Individuellen richtet, entfernt es sich von dem zuvor erwähnten ›Prinzip der Ähnlichkeit‹
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Oxford 1982, S. 55. Vgl. auch Elisabeth Wesseling: Writing History as a Prophet. Postmodernist Innovations of the Historical Novel, Amsterdam/Philadelphia 1991, S. 18. Zymner: Gattungstheorie, S. 109. Neumann/Nünning: »Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven«, S. 8. Neumann/Nünning: »Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven, S. 2. Kruse/Barrelmeyer: Max Weber, S. 51. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 202.
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und lässt ein abgeschlossenes, kulturwissenschaftliches »System von Begriffen […], in dem die Wirklichkeit in einer […] endgültigen Gliederung zusammengefaßt« wird im »Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete«, für Weber sinnlos erscheinen.15 Wenn eine Klassifikation nämlich allgemeingültig gehalten sei, so dass sie zwar einerseits umfassend, zukunftsträchtig und objektiv, damit andererseits aber auch abstrakt sei und somit ihre Trennschärfe verliere, wird sie Weber gemäß zu einem inhaltsarmen, wissenschaftlich unergiebigen Schema beziehungsweise Massenphänomen16 : Und je ›allgemeiner‹, d.h. abstrakter, die Gesetze [sind], desto weniger leisten sie für die Bedürfnisse der kausalen Zurechnung individueller Erscheinungen und damit indirekt für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge. […] für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. Denn je umfassender die Gestaltung eines Gattungsbegriffes – sein Umfang – ist, desto mehr führt er uns von der Fülle der Wirklichkeit ab, da er ja, um das Gemeinsame möglichst vieler Erscheinungen zu enthalten, möglichst abstrakt, also inhaltsarm sein muss. Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll.17 Er plädiert also dafür, sich nicht zu scheuen, konkrete Aussagen »mit begrifflicher Schärfe«18 zu formulieren, auch wenn man dadurch bestimmte Fälle ausgrenzt. Dies führt zur zweiten Prämisse Webers, die voraussetzt, dass Gattungsbegriffe nicht aus dem Gegenstand selbst erwachsen, sondern vielmehr stets auf subjektiven Prinzipien beruhen, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unbewusst aufgrund ihrer eigenen Wertvorstellungen auswählen, indem sie bestimmte Forschungsfragen stellen und in der Folge die ›Utopie‹ eines ›Idealtypus‹ erschaffen, welche »bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge«19 verschmilzt. Der Idealtypus wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht […].20
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Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 184. Vgl. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 180; 202. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 178ff. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 197. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 190. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 191.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Betont und im Schriftbild hervorgehoben wird hier von Weber die subjektive Konnotation der Merkmalsauswahl beim Idealtypus, den die Forschenden mit der Wirklichkeit, also zum Beispiel mit den tatsächlich existierenden literarischen Texten, abgleichen müssen. Diesen Vorgang betrachtet Weber als wesentlich für die kulturwissenschaftliche Forschung: Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem ›Stoff selbst entnommen‹ werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt. In dieser immer und überall bewußt oder unbewußt erfolgenden Auswahl einzelner spezieller ›Seiten‹ des Geschehens waltet auch dasjenige Element kulturwissenschaftlicher Arbeit, welches jener oft gehörten Behauptung zugrunde liegt, daß das ›Persönliche‹ eines wissenschaftlichen Werkes das eigentlich Wertvolle an ihm sei, daß sich in jedem Werk […] eine Persönlichkeit aussprechen müsse. Gewiß: ohne Wertideen des Forschers gäbe es kein Prinzip der Stoffauswahl und keine sinnvolle Erkenntnis des individuell Wirklichen […].21 Damit erteilt Weber einer »objektive[n] Behandlung der Kulturvorgänge« eine grundsätzliche Absage, weil seiner Meinung nach »Erkenntnis von Kulturvorgängen« nur möglich ist »auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat.«22 Dies knüpft an die in Kapitel III. vorgestellte Konzeption von ›Kultur‹ als Wertbegriff an, die den zum Urteil fähigen Menschen voraussetzt, welcher der Welt durch seine Stellungnahme Sinn verleihe.23 Weil das Leben uns also »eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen« anbietet, seien wir gezwungen, im Zuge der Abwägung persönlicher Interessensbereiche zu selektieren und im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung stets darzulegen, nach welchen Prinzipien bestimmte Teilgebiete als relevant betrachtet oder ausgesondert werden.24 Die Herausbildung eines Idealtypus hilft dabei vor allem den Forschern und Forscherinnen, dem jeweils verfolgten Untersuchungsgegenstand durch die Fokussierung nur bestimmter Merkmale Profil und Struktur zu verleihen, denn Idealtypen bilden auch eine Folie, auf der wir das historische Geschehen kontrastieren können, indem wir die in den Quellen vorgefundene ›Wirklichkeit‹ mit dem Idealtypus vergleichen. Wichtig ist dabei, den Idealtypus nicht mit Wirklichkeit zu verwechseln oder zu vermischen.25
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Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 181f. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 180. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 180. Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 171. Kruse/Barrelmeyer: Max Weber, S. 53.
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So kann der Idealtypus als »Darstellungsmittel historischer Individualität«26 die besondere, charakterliche Qualität eines Genres offenlegen, welches damit unter Berücksichtigung der zuvor ausgewählten Merkmalsklassen eine markante Kontur erhält. Obwohl das Genre somit in Abweichung von den bisher vorhandenen Genres dargestellt wird, reiht es sich dennoch in einen historisch gewachsenen Zusammenhang ein, da die einzelnen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, welche die Merkmale nach persönlichen Maßstäben festgelegt haben, von ihrem soziokulturellen Umfeld geprägt sind. Deutlich wird hier, dass Gattungsmuster mit kollektiven Wertvorstellungen aufs Engste verknüpft sind, deshalb »normatives wie normierendes Potential« aufweisen und »damit zumindest implizit die Grenzen zwischen kulturell akzeptierten und abweichenden Erfahrungen« kennzeichnen.27 Diese Prämissen eines ›scharfen‹ Gattungsbegriffs und der subjektiven und kulturell vorgeprägten Merkmalsselektion sollen auch für die Gattungsfragen in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt werden.
IV.1.2.
Gattungen als Kommunikationsphänomen im kulturellen Kontext
Aus dem Vorangegangenen folgt, dass literaturwissenschaftliche Gattungsbegriffe nicht nur ordnende Sammelbegriffe darstellen, sondern mittels spezifischer, gattungsanzeigender Signale28 auch als funktional-sprachliches Mittel in Kommunikationsprozessen dienen und somit eng mit bestimmten Sprechweisen und dem jeweiligen soziokulturellen Kontext verknüpft sind, in dem sie in Erscheinung treten.29 Dabei bilden sie laut Brian Paltrige im Sinne einer ›prototypischen Idealisierung‹ die aktuell vorherrschenden Gattungskonzepte ab30 und reagieren gemäß Marion Gymnich und Birgit Neumann als von der Gesellschaft konstruierte, »literarisch-soziale Konsensbildungen […] mit literarischen Mitteln auf spezifische Herausforderungslagen und
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Kruse/Barrelmeyer: Max Weber, S. 53. Neumann/Nünning: »Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven«, S. 14 und vgl. Wesseling: Writing History as a Prophet, S. 18. Vgl. Wesseling: Writing History as a Prophet, S. 20. Vgl. Bernd Schmid-Ruhe: Fakten und Fiktionen. Untersuchungen zur Wissenschaftsberichterstattung im deutschsprachigen Feuilleton der Tagespresse des 20. Jahrhunderts, Konstanz 2005, URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-23143 (10.07.2019), S. 32ff. Vgl. »Our perception of genre is an instance of particular communicative event. This instance incorporates prototypical idealisations of particular concepts and situations which may be derived from previous experiences with other similar such events. These concepts and situations comprise a common set of interactional and conceptual characteristics. The interactional characteristics of a genre may include specific author/s and audience/s of the text, a particular channel of communication and, at a certain level of abstraction, a particular ›topic‹, and social stock of knowledge. The communicative event, furthermore, occurs in a particular social and cultural setting and has a particular communicative function. Co-occurring with this interactional frame is also a cognitive frame which incorporates a certain conceptual scenario. This scenario may include certain roles, co-occurring patternings of textual organisation and shared understandings, protocols, of how the text might proceed. […] The nature and conditions of genres, however, may change and evolve through time. Genres, thus, are dynamic rather than static and are closely bound to the social and cultural contexts in which they occur.«, in: Brian Paltridge: Genre, Frames, and Writing in Research Settings, Amsterdam/Philadelphia 1997, S. 106f.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
kulturell prävalente Sinnbedürfnisse.«31 Hier wird offenkundig, was Weber bereits vorausgesetzt hat: Gattungen sind sowohl in ihrer Merkmalsausgestaltung als auch in ihren Begrifflichkeiten inhaltlich und strukturell durch ihren kulturellen Kontext sowie durch die Menschen, die mit ihnen umgehen, ›präformiert‹: In ihrer kulturellen Konventionalität weisen Gattungen über die ästhetische Welt hinaus und partizipieren als formende Kraft an kollektiven Sinnstiftungsprozessen, in dem sie semantisch aufgeladene Deutungsmuster zur Verfügung stellen, die mehr oder weniger flexible Modelle für die Anordnung und Deutung zuvor pränarrativer und ungeformter Erfahrungen bereitstellen: Gattungen sind kulturelle Deutungsschablonen, die als internalisierte Schemata wirksam werden können […].32 Das heißt, dass nicht nur literarische Texte, sondern auch die Gattungskonzepte selbst stark kontextabhängig, kulturell geprägt und prägend sind, weil sie sich »in einem dialogischen Verhältnis zum kulturellen und literarischen Wissen ihrer Entstehungszeit« befinden und sich in ihnen »kulturell akzeptierte Normen und Wertehierarchien niederschlagen«.33 Daher bezeichnet Wilhelm Voßkamp Gattungen, die ihm gemäß »als historisch bedingte Kommunikations- und Vermittlungsformen« von »Kontinuitätserwartungen«34 der Rezipienten und Rezipientinnen geprägt werden, als historische »Bedürfnissynthesen«, in denen »bestimmte historische Problemstellungen beziehungsweise Problemlösungen oder gesellschaftliche Widersprüche artikuliert und aufbewahrt sind.«35 An dieser Stelle wird die besondere Rolle deutlich, die die Rezipienten und Rezipientinnen und deren Lebenskontext bei der Konstruktion von Gattungsmustern spielen, da Gattungen nur durch den stetigen, aktualisierten Dialog mit den Leserinnen und Lesern »als Deutungsmuster Wirksamkeit entfalten«36 können. Auch Elisabeth Wesseling betont die intertextuelle, kontextabhängige und erinnerungspolitische Dimension von Gattungen, die als »guide« und »problem-solving model« zum einen den Schreibprozess der Schriftsteller und Schriftstellerinnen und zum anderen als »bodies of shared knowledge« die Erwartungshaltung der Leserinnen und Leser und deren Lesart beeinflussten.37 Damit können sie nicht nur als passive Ausdrucksträger, sondern als eigenständig agierender Teil von gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Diskursen angesehen werden, die sie selbst mitgestaltet haben. Neben Wesseling rücken auch Hendrik van Gorp und Ulla Musarra-Schroeder die Vorstellung von ›Gattung‹ als literarischem Gedächtnisort sowie von der historischen Wandlungsfähigkeit einer Gattung ins Zentrum ihrer Analysen. So überschneiden sich ihnen zufolge die Konzeption von kulturellem Gedächtnis und literarischer Gattung insofern, als der Ursprung eines Genres in einer bestimmten Epoche immer als ›Antwort‹ auf die
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Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. 39. Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. 40. Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. 41. Wilhelm Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie«, in: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre, Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 27-44, S. 27; 30. Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen.«, S. 32. Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. 45. Wesseling: Writing History as a Prophet, S. 18.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
drängenden Fragestellungen der jeweiligen Zeit angesehen werden kann, so dass diese spezielle Gattung auch als lösungsorientierter Ansatz bei ähnlichen Problemen zu einer späteren Zeit zu fungieren vermag.38 Daher können alle in Kapitel III. vorangeschickten methodischen Vorüberlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft und die dort vorgenommene Auseinandersetzung mit dem Begriff ›Kultur‹ hier im Zuge der Genredefinition zur Anwendung kommen: So wie der Einzeltext als kulturelle Überlieferungsinstanz gelten kann, in dem sich die jeweilige Weltanschauung, das kulturelle Bewusstsein eines Zeitalters und wissenschaftliche Erkenntnisse konzentriert manifestieren, kann das Genre ›Kaffeehausliteratur‹ als ein Medium betrachtet werden, das die Merkmale bündelt, durch welche die besondere Atmosphäre, Sinnesreize, Selbst- und Fremdwahrnehmungen sowie Emotionen, die mit dem Kaffeehaus assoziiert werden, sprachlich zum Ausdruck gebracht werden können. Deshalb gilt es im Rahmen der Genrebestimmung in Anlehnung an Marion Gymnich und Birgit Neumann »das dialogische Verhältnis zwischen Literatur und Kultur genauer zu erfassen« und die Genres »in ihrer Interaktion« zu erforschen, »d.h. in ihrem wissenskulturellen Komplementär- und Konkurrenzverhältnis zu kulturell koexistierenden Gattungen und synchronen Medien«.39
IV.2.
Bisherige Forschung und Desiderate zum Genre ›Kaffeehausliteratur‹
Zur Thematik der ›Kaffeehausliteratur‹ selbst existiert nur wenig einschlägige Forschungsliteratur; explizit genannt wird dieses Genre beziehungsweise diese ›Gattungsbezeichnung‹ beispielsweise in dem von Michael Rössner 1999 herausgegebenen Sammelband Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten sowie in dem Artikel »Kaffeehausliteraten«, der 1990 von Helmut Bachmaier veröffentlicht wurde. Zudem befasst sich Claudio Magris in seiner Dissertation mit dem in Kaffeehäusern entstandenen Genre, welches er jedoch nicht als ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet, sondern unter der Gattung des Feuilletons zusammenfasst, dessen Verfasser und Verfasserinnen ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹ seien.40 Im Folgenden sollen die Ergebnisse dieser und anderer Studien diskutiert sowie im Anschluss daran Möglichkeiten einer eigenen Genrekonzeption vorgestellt werden. Auf einen gemeinsamen Nenner lassen sich die zuletzt genannten Untersuchungen insofern bringen, als dort Texte meist dann als ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden, wenn sie eher kurz und fragmenthaft sind, skizzenhaft-autobiographischen Charakter haben und sich das Lokalkolorit, das heißt die literarischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen beziehungsweise das Café als Schauplatz, in Inhalt und Form der Texte widerspiegeln. Zudem ist die Forschung sich einig, dass die ›Kaffeehausliteratur‹ insgesamt eine moderne Ästhetik inspiriert haben könnte, die sich Michael Rössner zufolge durch eine »Durchbrechung der Totalität, eine humoristisch-parodistische Subversion 38
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Vgl. Hendrik van Gorp/Ulla Musarra-Schroeder: »Introduction: Literary Genres and Cultural Memory«, in: dies. (Hg.): Genres as Repositories of Cultural Memory, Vol. 5 of the Proceedings of the 15th Congress of the International Comparative Literature Association, Amsterdam 2000, S. i-ix, S. ii. Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. 41f. Vgl. Claudio Magris:Der habsburgische Mythos, Salzburg 1966, S. 184.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
überkommener Kanones, ein kreatives Sprachspiel und eine Tendenz zur Polyphonie charakterisieren läßt.«41 Rössner formuliert in der Einleitung seines Bandes die Ausgangsfrage des Forschungsprojektes, welches der Publikation vorausging: »Gibt es also eine Art von Literatur, ein Genre, das an das Kaffeehaus so sehr gebunden ist, daß man es als ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnen könnte?«42 Weiterhin fragt er danach, »ob es eine Textgattung ›Kaffeehausliteratur‹ gibt und wodurch diese definiert wäre.«43 Im zweiten Beitrag führt Andrea Portenkirchner dies weiter aus, wenn sie die Frage stellt, was mit dieser Kombination aus Ort und Literatur gemeint ist: Die im Kaffeehaus geschriebenen Texte? Die dort besprochene Literatur? Die Existenz von verschiedenen Dichtergruppierungen in verschiedenen Kaffeehäusern? Die Werke jener Autoren, die häufig ein Café aufsuchten?44 In diesem Sammelband fallen bis zum Ende die beständige Formulierung von relevanten Fragen die Gattung betreffend und die wiederholte Beteuerung auf, dass viele Aspekte noch nicht vollständig erforscht worden seien und sich einiges noch »herausfinden und sagen ließe«45 , um zu verdeutlichen, dass man noch sehr am Anfang der Forschung steht und nur wenige Lösungsvorschläge existieren. Beispielsweise schlägt Rössner vor, die Bestimmung einer literarischen Gattung durch einen bestimmten Ort methodisch mittels eines ›kühnen‹ ›Brückenschlages‹ zwischen einem kulturwissenschaftlich-anthropologisch begründeten Ansatz des Ortes und einer literaturwissenschaftlichen Textanalyse zu vollziehen.46 Obwohl dieser Vorschlag sehr interessant klingt, wird der Anspruch im Sammelband nicht eingelöst. Wenig kontrovers wird in allen Studien dargestellt, dass es die Eigenschaften der vermeintlich im Café verfassten literarischen Textsorten den Autoren und Autorinnen erschwerten, gesellschaftliche wie schriftstellerische Anerkennung zu erlangen, da diese Genres zumeist als minderwertig, oberflächlich und launenhaft angesehen wurden.47 So tragen beispielsweise Feuilletontexte oft metaphorische Namen, wie »Stimmungsbilder«, »Miniaturen« oder »Farbenskizzen«48 , um die angebliche Trivialität, Belanglosigkeit und Uneinheitlichkeit der Texte zu assoziieren.49 Zudem sei es laut Hilde41 42 43 44 45
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Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 585. Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 13. Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 18. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 32. Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 18, vgl. auch S. 26 und Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 588; vgl. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 32. Vgl. Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 14f. Vgl. zur Kritik am Feuilleton nach der Jahrhundertwende: Irmgard Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen. Das Feuilleton der zwanziger Jahre und ›Die Geschichte von der 1002. Nacht‹ im historischen Kontext, Berlin 1997, S. 23ff. Hildegard Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton (1848-1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Exkurs der Moderne, Tübingen 1998, S. 31. Vgl. auch die Aussagen vornehmlich österreichischer Autoren zum ›kulturhistorischen Sendungsbewusstsein‹ beziehungsweise zur ›Seichtigkeit‹ des Feuilletons: »Denn trotz der Liebenswürdigkeit der Form oder des Inhalts musste hier der Stoff in kleinstem Rahmen zu vollendeter Klarheit
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
gard Kernmayer aufgrund der »formal-ästhetische[n] Heterogenität« der Texte und des Mangels an »Definitivem« und »Definitorischem«50 schwierig, diese Texte einer eigenen literarischen Gattung zuzuordnen. Deshalb werde die Bezeichnung ›Kaffeehausliteratur‹ laut Michael Rössner auch oftmals weniger als gattungstheoretische Definition, sondern vielmehr als »abfälliges Werturteil« beziehungsweise »abwertendes Prädikat, als Gegensatz zu wertvoller und künstlerisch gelungener Literatur«51 verwendet, worin sich das geringe gesellschaftliche Ansehen des vermeintlichen Genres spiegelt, welches im Prolog schon angeklungen ist. Gleichzeitig verleihen diese lyrisch-schillernden Umschreibungen, welche auch von den Autoren und Autorinnen selbst verwendet wurden, dem Feuilleton sowohl Literarizität als auch Bedeutsamkeit und Beliebtheit über das Kaffeehaus hinaus, wodurch sich der ambivalente Charakter des Genres verstärkt. Obwohl sich in der Forschungsliteratur also keine einheitliche Definition finden lässt, wird die Existenz des Genres beziehungsweise die Bezeichnung ›Kaffeehausliteratur‹ dennoch nicht gänzlich in Frage gestellt52 , sondern man versucht, einzelne Typen
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gestaltet sein und aus dem Plaudern durfte beileibe kein Plauschen werden, hatte doch dieses aus dem Erlebnis, auch dem kleinsten Erlebnis!, heraus geborene Kind der Stunde durch Wissen, Lebensweisheit und Weltaufgeschlossenheit über den Tag hinaus fortzuwirken, zu belehren, zu bilden, zu formen…«, in: Alfred Zohner: »Das Wiener Feuilleton«, in: ders.: Kunst des Tages – Eine Sammlung Wiener Meisterfeuilletons, Wien 1946, S. 5-18, S. 6. Während Alfred Polgar das Wiener Feuilleton aufgrund seiner vermeintlichen Gehaltlosigkeit kritisiert (»Das Wiener Feuilleton ist nicht merkbar. Es verdunstet sofort vom Gehirn, auf das man es schüttet. Man ist mit dem Lesen fertig und spürt nichts davon.«, in: Alfred Polgar: »Das Wiener Feuilleton«, in: ders.: Kleine Schriften, Bd. 4, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 200-205, S. 201), begreifen Hermann Kesten (»Auf kleinstem Raum in einer Weise zu plaudern, die alles oberste und alles innerste anrührt und nichts wirklich betrifft, das ist schon mehr als Kunsthandwerk. So witzig und graziös zu schreiben, als verwandelte man einen Walzer in Prosa, es konnte nur in Wien sich ereignen.«, in: Kesten: Dichter im Café, S. 362) und Hermann Bahr das Wiener Feuilleton aufgrund seines Selbstverständnisses zwischen literarischer Prosa und Sachbericht als in sich gespaltenes Kunsthandwerk, das in Wien zuhause sei (»Eigentlich, genau genommen, ist es gar nichts: aller Gehalt der Wirklichkeit, die irgendwo außer dem Menschen sich Geltung einbildet, wird von ihm schnöde verschmäht […]. Und es ist dabei doch wieder, noch eigentlicher und noch genauer genommen, es ist zugleich dabei alles«, in: Hermann Bahr: »Feuilleton«, in: ders.: Die Überwindung des Naturalismus, hg. v. Claus Pias, Weimar 2004, S. 28-31, S. 29). In diesem Zusammenhang betont auch Joseph Roth die Komplexität des Feuilletons, welches dem Schriftsteller ein hohes Maß an Können abverlange, vgl. Brief Roths vom 22.04.1926 an Benno Reifenberg (in: Joseph Roth: Briefe 1911-1939, hg. v. Hermann Kesten, Köln/Berlin 1970, S. 87ff.) und den Kurzprosatext »Feuilleton«, erschienen am 24.07.1921 im Berliner Börsen-Courier (in: ders.: Werke III. Das journalistische Werk 1929-1930, Bd. 3, hg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 293-296). Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton (1848-1903), S. 1. Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 13 und Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 587. Walter Schübler, der Herausgeber der Werke Anton Kuhs, bemerkt hierzu 2019 in einem polemischen Artikel allerdings folgendes: »Dass der Begriff ›Kaffeehausliteratur‹ als Gattungs- oder Genrebezeichnung unbrauchbar ist, weil sich unter diese nichts praktikabel, geschweige denn sinnvoll subsummieren lässt, ist inzwischen wissenschaftlich ausdiskutiert. Dass im Kaffeehaus bisweilen auch Texte verfasst wurden, ist unbestritten und im Einzelnen belegt. […] Damit erweist sich auch der Schluss von der (vermeintlichen) Schreibsituation – vom unruhigen Ambiente – auf Textcharakteristika wie Kürze, Prägnanz, Mündlichkeit, Aktualität, Dialogizität als Fehlschluss. Nicht der (vermeintliche) Entstehungsort bestimmte die Formenwahl, sondern der Publikationsort: das Feuil-
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
dieses Genres näher zu beschreiben. Beispielsweise führen Milan Tvrdík, Andrea Portenkirchner und Michael Rössner neben der Konzentration auf Kleinformen eindeutige formale Kriterien an, welche die hier betrachteten Autorinnen und Autoren in ihren Texten vereinigten, wie zum Beispiel »die wahrheitsgetreue Wiedergabe der durch die Oralität geprägten Wirklichkeit«53 , die knappe, prägnante Beschreibung eines zeitlich begrenzten, meist aktuellen Ereignisses, die zugespitzte, mit Pointe endende Handlung, der dialogische Charakter oder der Zeit- und Publikumsbezug.54 Diese Kennzeichen sowie das Lokalkolorit, die abgebildete Oralität und parodistischen Anspielungen auf im Café stattfindende Gespräche, verweisen laut Rössner auf den Entstehungskontext ›Kaffeehaus‹55 und seien bei der Einordnung der Kaffeehaustexte in ein Genre hilfreich. Dennoch tendiert Rössner im Fazit des Sammelbands dazu, mit der Verwendung des Begriffs ›Kaffeehausliteratur‹ sehr vorsichtig umzugehen, obgleich er zwei konkrete Texttypen der ›Kaffeehausliteratur‹ ausmachen kann, die aber wiederum nicht mit den vorherigen Beiträgen verknüpft und daher nicht mit literarischen Beispielen oder Analysen verbunden werden: Erstens derjenige (mündliche) Texttypus, welcher durch die spezifische Produktionssituation und die Rezeptionsbedingungen der Literatur im Kaffeehaus geprägt und oftmals erst im Nachhinein zu Publikationszwecken schriftlich fixiert und verändert werde.56 Durch die Veröffentlichung werde der Text aus seinem Entstehungskontext, dem Kaffeehaus, losgelöst und verliere damit zum Teil diejenigen stilistischen und inhaltlichen Merkmale, welche die Umgebung zuvor erkennbar gemacht hätten, wie zum Beispiel »Pointenorientiertheit, Anspielungen, Reste von Oralitätsmustern, Codewörter und Neologismen, die der ›Gruppensprache‹ entnommen sind, oft auch parodistische Verfahren«57 . Zweitens nennt er den Typus des fragmentarisch-impressionistischen Prosagedichts beziehungsweise der feuilletonistischerzählenden ›Mikroerzählung‹. Darunter kategorisiert er beispielsweise sowohl Claudio Magrisʼ Text »Caffè San Marco«58 , der laut Rössner aufgrund des Themas, seines ironischen Tons und seiner impressionistisch-fragmentarischen Struktur sowie der im Text widergespiegelten Sensibilität »in jeder Hinsicht Kaffeehausliteratur zu sein scheint«59 als auch die Textsammlung Pombo60 des »Kaffeehausliteraten par excellence«61 , Ramón Gómez de la Serna. Dieser formuliere laut Rössner in seinem Buch über das Café Pombo
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leton […].«, in: Walter Schübler: »Wider die ›Kaffeehausliteratur‹. Sie ist ein fixer Bestandteil der Wiener Folklore, obwohl die Bezeichnung ›Kaffeehausliterat‹ eigentlich eine Schmähung darstellt. Eine Polemik«, in: Wiener Zeitung, 05.01.2019, URL: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/vermessungen/1010319-Wider-die-Kaffeehausliteratur.html (03.12.2019). Milan Tvrdík: »Kaffeehauslandschaft Prag«, in: Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 126-150, S. 138. Vgl. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 55; 59. Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 584. Vgl. Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 584. Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 584. Vgl. Claudio Magris: »Caffè San Marco«, in: ders.: Microcosmi, Mailand 1997, S. 11-36. Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 28. Vgl. Ramón Gómez de la Serna: Pombo, Madrid 1986. Michael Rössner: »Das literarische Kaffeehaus in Madrid«, in: ders (Hg.).: Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weim 1999, S. 376-405, S. 392.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
eine moderne »Ästhetik des Kaffeehaustextes […], welche die Prinzipien traditioneller Ästhetik – eben die der Geschlossenheit, des großen Werks, der einheitlichen Komposition – subversiv aus den Angeln zu heben trachtet.«62 Anstatt die Perspektive also auf das einheitliche Ganze oder bestimmte, überlieferte Gattungsmuster zu legen, fokussiere die ›Kaffeehausliteratur‹ die Darstellung der zersplitterten Wahrnehmung eines einzigen Moments und zeige ›eine zergliederte, aus Augenblicken bestehende Idee des Lebens‹, wie Gómez de la Serna schreibt63 , wodurch das Kaffeehaus Rössner zufolge als der bevorzugte Ort erscheint, »an dem man die neue Sensibilität der Moderne, die Ästhetik der Avantgarde erst richtig verstehen, erleben, in sich fühlen kann«.64 Es ist erstaunlich, dass Rössner trotz der ausführlichen Beschreibung dieser beiden Texttypen in seinem Fazit argumentiert, dass das Genre ›Kaffeehausliteratur‹ womöglich gar nicht existiere, weil man die Texte nicht immer eindeutig einem der Typen zuordnen könne, die Aufsplitterung der Wahrnehmung auf die Erfahrung in der modernen Großstadt zurückgehe und somit nichts mit dem Kaffeehaus zu tun haben könne.65 Auch sehe man es beispielsweise einem Text nicht an, ob er wirklich im Café verfasst worden sei und damit zu dem ersten Texttypus gehöre – es gebe nämlich auch Fälle von Selbstinszenierung von im Kaffeehaus schreibenden Autoren und Autorinnen, was bedeute, dass man sich »auf Äußerungen der Autoren und Autorinnen selbst, auf Bekenntnisse zum Kaffeehaus als Ort des Schreibens oder wenigstens als Schule der Ästhetik« verlassen müsse, was »trügerisch« sein könne.66 Übrig blieben damit die beiden Merkmale ›Kürze‹ und ›Fragmentarität‹ als einzige Gemeinsamkeiten der Kaffeehaustexte. Aus diesem Mangel an Kriterien folgert Rössner, dass man die Gattung der ›Kaffeehausliteratur‹ nicht zweifelsfrei abgrenzen und sich kaum eine Definition finden läßt, die beide Varianten einschlösse, ohne daß dann auch viele Texte einbezogen werden müssten, die keine Beziehung zum Kaffeehaus haben. Aber heißt das, daß es Kaffeehausliteratur als Gattung tatsächlich nicht gibt? Wenn wir uns diese Frage stellen, dann müssen wir wohl den Begriff der Gattung an sich in Frage stellen.67 Allein in diesem einen Zitat relativiert Rössner seine Schlussfolgerung mehrmals; zudem hinterfragt er insgesamt den Wert seiner Forschung, wenn er betont, dass Gattungen stets künstliche Konventionen und historische Konstrukte seien und dass ›Kaffee62 63
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Rössner: »Das literarische Kaffeehaus in Madrid«, S. 393. Vgl. »El escritor debe estar sentado siempre en medio de la vida, pero al margen de ella y en sitio en que están las gentes sin profesión determinda y haya una ventana – mejor si hay dos a dos calles distintas – que no sea la suya, sino la ventana inesperada. […] En el Café se escribe major y frente a todos los aspectos de la cuestiones. […] En las pausas al escribir en los Cafés, se contrasta todo mejor y nuestra cabeza se eleva hacia los techos, queriendo escaparse a su elástico que es en los Cafés donde más da de sí y se despereza. En los Cafés se comprende que no es nada una novela, un drama o un poema, que estamos lejos de que uno de esos actos limitadísimos merezcan la reputación. Se ve que hay que demostrar una idea de la vida deslabazada y hecha de instantes.«, in: Gómez de la Serna: Pombo, S. 243f. Rössner: »Das literarische Kaffeehaus in Madrid«, S. 394. Vgl. Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 586. Vgl. Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 586. Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 586f.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
hausliteratur‹ daher nur dann als eigene Gattung begriffen werden könne, wenn sie als solche von Schreibenden und Rezipierenden verstanden würden und wenn man sich bewusst sei, dass die Bezeichnung zwei verschiedene Texttypen umfasse, die nicht leicht voneinander abzugrenzen seien.68 Mit dieser wenig schlüssigen Argumentation kann jedoch jegliche Forschung zu literarischen Gattungstypen für unsinnig erklärt werden, weil eine zweifelsfreie Abgrenzung immer schwierig ist. Daneben begründet Rössner die Existenz der Gattung ›Kaffeehausliteratur‹ damit, dass im Sammelband immer wieder von ihr die Rede sei, so als ob man sie ›herbeibeschwören‹ könne: In unserem Buch ist so lange von der Bedeutung von Kaffeehausliteratur die Rede gewesen, daß nun wohl fast jeder Leser davon überzeugt sein muß, daß es sie wirklich gibt. Aber gibt es sie wirklich? Ausgegangen waren wir unter anderem auch von der Feststellung, daß es gelte, den idyllisierenden Mythos des Kaffeehauses in der Literatur zu stürzen. Haben wir das getan? Oder haben wir nicht am Ende sogar einen neuen, den Mythos von der Kaffeehausliteratur, aufgerichtet, hinter dem sich letztlich nicht mehr verbirgt, als wir selbst an Prämissen eingebracht haben?69 Auch in diesem Zitat aus dem Fazit fallen die vielen Fragen nach der Existenz der ›Kaffeehausliteratur‹ auf, die aber bis zum Ende des Bandes nicht beantwortet werden. Diese Art der Fragestellung in Bezug auf ein literarisches Genre bezeichnet Rüdiger Zymner als »essentialistisches Mißverständnis«70 , da die »Definition von Gattungsbegriffen« wie auch die »Klassifikation literarischer Texte und die Typologie literarischer Elemente« nur eine »Form von Sprachverwendung« seien, an die »besondere Anforderungen zu stellen sind« und damit als »Sprachspiele des Literaturwissenschaftlers« bezeichnet werden könnten.71 Stattdessen ist es seiner Meinung nach sinnvoller, danach zu fragen, »unter welchen Bedingungen man von Gattungen« sprechen kann und welches dabei »die kulturell eingeübten und tradierten Regeln der Sprachspiele sind, in denen man über Gattungen spricht.«72 Diese Herangehensweise erscheint plausibler als Rössners Vorgehensweise. Insgesamt scheinen sich die einzelnen Beiträge des Sammelbandes gegenseitig zu widersprechen, beispielsweise wenn dem Wiener Kaffeehaus bei Andrea Portenkirchner jegliche aktuelle literarische, soziokulturelle Bedeutung abgesprochen und der Schwund des öffentlichen literarischen Lebens, welches während seiner »Glanzzeit«73 rund um die Jahrhundertwende im Kaffeehaus, dem »Zentrum des pulsierenden Lebens«, stattfand, mit einem »Funktionswandel des Kaffeehauses« erklärt und der Rückzug des schriftstellerischen Austauschs »ins Private«74 angekündigt wird. Michael Rössner betont demgegenüber, dass »in dem Text von Claudio Magris […] die immer
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Vgl. Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 587f. Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 582. Zymner: Gattungstheorie, S. 59. Alle Zitate Zymner: Gattungstheorie, S. 58. Zymner: Gattungstheorie, S. 59. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 32. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 33.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
noch aktuelle Faszination des literarischen Kaffeehauses für den Autor demonstriert«75 werde. Angesichts dieser Konfusion und des recht vage bleibenden Fazits, dem man nicht entnehmen kann, ob eine Gattung ›Kaffeehausliteratur‹ den Autorinnen und Autoren des Bandes zufolge existiert und worin diese besteht, erscheint die Schlussfolgerung des FAZ-Rezensenten Jürgen Kolbe nachvollziehbar, der den Band nicht nur als ›wirr‹ und ›absurd‹ bezeichnet, sondern zudem die Vermutung aufstellt, dass die willkürliche Wahl des hier untersuchten Gegenstandes schlicht mit der Bewilligung eines Forschungsetats begründet sei.76 Obwohl die in Rössners Band beschriebenen Texttypen einen interessanten Ansatz darstellen, können die Ergebnisse des Sammelbandes nicht gänzlich überzeugen beziehungsweise nicht als theoretische Basis der vorliegenden Arbeit herangezogen werden, da die Verknüpfung von Einzeltextanalyse und Theorie und damit der Beleg der Thesen ausbleibt. Zielführender sind die Erkenntnisse Helmut Bachmaiers77 und Claudio Magrisʼ, die sich jedoch nur auf das Wiener Kaffeehaus beziehen und die Entstehung des Genres ›Kaffeehausliteratur‹ mit der historischen Situation in Wien um 1900 verknüpfen, weshalb geprüft werden muss, ob ihre Schlüsse auf andere Nationalliteraturen übertragbar sind. So thematisiert Bachmaier, wie der allmähliche Niedergang der Habsburger Monarchie einen Wandel im Habitus der gesellschaftlichen Identität ausgelöst habe, der durch Orientierungsverlust, Wertezerfall und eine Lebenshaltung abseits von Tradition und der althergebrachten Ordnung geprägt gewesen sei. Die Wirklichkeit sei in dieser Zeit nicht mehr als eine große Einheit betrachtet worden, sondern habe sich in einzelne Momente und flüchtige Impressionen aufgespalten, die nur einen kleinen Teil vom Leben eines Menschen und der Welt bedeuteten. Dabei seien die Einzelnen, die sich nur noch als Teil der Masse empfänden, mit der geringen Wertschätzung ihrer individuellen Persönlichkeit und der Zersplitterung der Wirklichkeit konfrontiert worden. In der Folge hätten sich einerseits Mikrokosmen entwickelt, die »den einen diffussegmentierten Makrokosmos«78 ersetzten; andererseits habe eine typisch österreichische Form der Legendenbildung floriert, mittels derer man sich verklärend auf vergangene, vermeintlich positive Zeiten und Leitbilder rückbesonnen habe und welche die Widersprüchlichkeit der Habsburger Monarchie kompensieren sollte: Man habe laut Bachmaier versucht, die durch verschiedene Ethnien hervorgerufene Instabilität und Identitätskrise des österreichisch-ungarischen Reiches, die Ungleichheit der Menschen sowie eine nur theoretisch vorhandene, liberal-parlamentarische Regierung auszugleichen, indem man sich einem starren Zeremoniell verschrieben und »an der Oberfläche
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Rössner: »Das Kaffeehaus als Ort der Literatur«, S. 580. Vgl. »Er [der Etat, Anm. I.M.] will Konferenzen und Symposien auf Teufel komm raus, auch wenn das alles, wie man etlichen dilettantischen Beiträgen anmerkt, über die fixe Idee nicht hinausgelangt, hier würde ein unverwechselbarer, fixierbarer Typus Literatur samt seinen caféseligen Produktions- und Verteilungsformen erkannt.«, in: Kolbe: »Gebrannte Bohne scheut das Feuer«, S. L16. Vgl. Helmut Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, in: ders. (Hg.): Paradigmen der Moderne, Amsterdam/Philadelphia 1990, S. 237-270. Bachmaiers Artikel ist eher ein Essay; Zitate werden darin nur zum Teil nachgewiesen. Helmut Bachmaier: »Einleitung: Die Signaturen der Wiener Moderne«, in: ders: Paradigmen der Moderne, Amsterdam/Philadelphia 1990, S. vii-xxiii, S. xii.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
sinnenfroher Weltlichkeit Glanz und Gloria«79 demonstriert habe, um das in der Realität existierende, soziale Elend zu verschleiern. Da die ›habsburgische Idee‹ fortgesetzt werden sollte, für die jede institutionelle Erneuerung und ein gedanklicher Wandel Gefahr bedeutet hätte, habe man an veralteten Normen und konservativen Wertvorstellungen festgehalten, Zensur geübt und Vernunft, Ruhe, Ordnung und Disziplin von seinen Bürgerinnen und Bürgern verlangt.80 Folglich hätten die Wienerinnen und Wiener versucht, sich introspektive Freiräume zu schaffen, in denen sie zwar selbstbestimmt leben und vor der Außenwelt flüchten können, die jedoch in ihrer minimalisierten Gestalt den Makrokosmos des Habsburgischen Reiches abbildeten.81 Im Bürgertum habe das eigene Haus des Familienoberhauptes als mikrokosmischer Zufluchtsraum fungiert, wohingegen es Kunstschaffende und Schreibende, aber auch Studierende und Journalisten vorgezogen hätten, den größten Teil ihres Lebens im Kaffeehaus82 zu verbringen, da die Mietswohnungen kaum beheizbar und dunkel gewesen seien und nur sehr beengtes Wohnen ermöglicht hätten.83 Das Ziel sei es dabei gewesen, mit Hilfe der Übertragung von identitäts- und ordnungsstiftenden Funktionen von der Makrostruktur an Kleinformen wie dem Kaffeehaus eine konkrete österreichische Identität mit eigenen Wertvorstellungen zu erlangen und eine »bestimmte österreichische Form der Unübersichtlichkeit«84 , welche innerhalb der Entwicklung zur Moderne entstand, durch neue Ordnungsprinzipien zu überwinden. Helmut Bachmaier und Irene Köwer begegnen dieser Gemengelage, indem sie den Faktor ›Zeit‹ beziehungsweise ›Zeitlichkeit‹ als übergreifendes, gattungskonstituierendes Moment voraussetzen: So bewertet Irene Köwer den knappen Umfang der zu dieser Zeit entstandenen literarischen Texte als bewusste Kalkulierung und als »Versuch, ›Zeit‹ abzubilden und einer Geisteshaltung, einem Weltbild gerecht zu werden«85 , in dem die Welt aufgrund eines Überflusses an »Informations- und Reizwerten« mehr als »schwer greifbare, unüberschaubare Vielheit« erscheint denn als »intakte Einheit faß- und darstellbar« ist86 : Immer wieder, über Jahre hin, taucht in den Äußerungen der an dieser Epoche des Auf- und Umbruchs Teilhabenden der Terminus ›Zeit‹ auf: die kürzer werdende Zeit, der Mangel an Zeit. In dieser Zeitmetaphorik schwingt unüberhörbar neben dem euphorischen Stolz über die eigene Fortschrittlichkeit auch die Angst, von eben diesem
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Janik/Toulmin: Wittgensteins Wien, S. 45. Vgl. Janik/Toulmin: Wittgensteins Wien, S. 46; 52. Vgl. Bachmaier: »Einleitung: Die Signaturen der Wiener Moderne«, S. xii. Vgl. »Das Kaffeehaus wird damit zur kleinen intakten Zone stilisiert, zur Ersatzwelt. Diese Ersatzwelt besteht in ihrer Überschaubarkeit und traditionsbedingten Konstanz dem wandelbaren Weltbegriff als Opposition gegenüber. Der eigene Gesetzeskanon in den Räumen des Kaffeehauses und der vertraute Ritus dort runden das Bild der Gewohnheit und lassen, daraus folgend, beim Stammpublikum das Gefühl des ›Geborgenseins‹ aufkommen.«, in: Irene Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, Frankfurt a.M./Bern/New York 1987, S. 67. Vgl. Janik/Toulmin: Wittgensteins Wien, S. 42. Bachmaier: »Einleitung: Die Signaturen der Wiener Moderne«, S. xii. Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, S. 58. Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, S. 62.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Zeitsystem einer unruhigen Epoche, das heißt von einem modernen Lebensentwurf, der neu und befremdlich zugleich anmutet, überrollt zu werden.87 Bachmaier thematisiert einerseits die knapp bemessene Zeit der Autoren und Autorinnen und damit die Beschränkung, aus der heraus die literarischen Produkte im Kaffeehaus entstanden seien, und zum anderen die inhaltliche Dichte der dort entstandenen literarischen Texte, welche den Augenblick intensivieren sollten, um in einer Zeit der äußeren Unübersichtlichkeit mittels der Literatur und im begrenzten Raum des Cafés einen größeren inneren Zusammenhang vorzutäuschen. Daher bewährten sich Bachmaier zufolge das Feuilleton, der Aphorismus und die Anekdote als hervorragende und zweckdienliche Genres der ›Kaffeehausliteratur‹ in der Wiener Moderne, da sie aufgrund ihrer charakteristischen Themenvielfalt, prägnanten Kürze und suggerierten Vorläufigkeit schnell und unkompliziert, das heißt ohne größere Recherchen, verfasst werden konnten: Da man keine Bücher mit in die kultivierten Kaffeesiedereien schleppen konnte, entfielen die Möglichkeiten zu Exkursen und gelehrten Anmerkungen beim Schreiben: der Kaffeehaustisch war bestenfalls ein Schreibtisch, aber kein Büchertisch. Ein Stapel Zeitungen hatte darauf Platz, ein Berg Bücher hätte unweigerlich den Umsturz bedeutet. Da jeder nur sehr wenig Zeit hatte, mußte das geschriebene bei der Skizze bleiben, da Neues verlangt wurde, mußte man verblüffen. Und da der Kaffeehausliterat von seinem Erzeugnis auch noch leben wollte, orientierte er sich am Interessanten. Es entstanden Produkte aus den Einschränkungen der Zeit, aus dem Verlangen nach Neuigkeit; das Gewöhnliche mußte als das Prickelnde, schließlich alles als interessant erscheinen: Zeit, Neuigkeit, Skizze, Verblüffung und das Interessante verschränken, vermischen sich in diesen literarischen Zeugnissen.88 Mit diesen Texten sei es den Literatinnen und Literaten im begrenzten Raum des Kaffeehauses möglich gewesen, rasch auf gegenwärtige Vorkommnisse, Stimmungen und Interessensgebiete zu reagieren, um sich am nächsten Tag wieder neu am Zeitgeschmack zu orientieren. Nur indem sie ihre Produktionen so auf die Publikumswirkung ausrichtet hätten, konnten sie ihre Schriftstellerei für den Erwerb nutzen und von den Erträgen leben, die die Zeitungen und Zeitschriften für die Texte zahlten. Weiterhin stellt Bachmaier in seinem Artikel zwei Thesen auf, die sich sowohl mit der Genredefinition der ›Kaffeehausliteratur‹ als auch mit dem Kaffeehaus als Schreibort und ›literarischer Gegenwelt‹ befassen: So postuliert er zum ersten, dass dem Café, welches sich »als eine Art kollektiver Monade den tradierten Welt- und Wertorientierungen«89 entziehe, die einheitsstiftende Funktion eines Kollektivs zukomme, welches auf sich die Relevanz eines lebensphilosophischen Grundgedankens in Bezug auf Friedrich Nietzsches Unterscheidung des Apollinischen und Dionysischen vereinige. So gewährt das Kaffeehaus laut Bachmaier
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Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, S. 63. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 251f. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 242.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
den einzelnen Zugehörigkeit und Einheit, aufgelöst in ein Ganzes, retten sie sich in ein Groß-Individuum. Das Kaffeehaus als Ersatztotalität gewinnt dadurch fast den Rang eines lebensphilosophischen Fundaments, vergleichbar dem Ureinen i. S. Nietzsches, in das ein zerfließendes Ich eintauchen kann, oder dem Zerbrechen der Individuation, das auf den wahren Grund des Daseins führt, der sich nurmehr [!] im Caféhaus finden lässt.90 Damit bezieht sich Bachmaier neben Nietzsche auf eine Formulierung Alfred Polgars, der die ›Ersatztotalität‹ in seiner »Theorie des ›Café Central‹« (1923)91 als wichtiges Merkmal begreift, welches das Café nachdrücklich zu einem Ort des Schreibens und der Literatur mache, da es den nach Beständigkeit und Geborgenheit bedürfenden ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹ das Empfinden vermittle, ein wichtiges Teilstück einer zusammengehörigen Einheit zu sein. Polgar hat in seiner »Theorie« die Bedeutung der Cafés für diejenigen Menschen herausgehoben, die zwar im Allgemeinen eher misanthropisch eingestellt sind und ihre Umgebung lieber aus der Distanz betrachten, jedoch auch nicht gänzlich ohne die Gesellschaft anderer auskommen können, um der Wirklichkeit verhaftet zu bleiben: Ihre Innenwelt bedarf einer Schicht Außenwelt als abgrenzenden Materials, ihre schwankenden Einzelstimmen können der Stütze des Chors nicht entbehren. Es sind unklare Naturen, ziemlich verloren ohne die Sicherheiten, die das Gefühl gibt, Teilchen eines Ganzen (dessen Ton und Farbe sie mitbestimmen) zu sein. Der Centralist ist ein Mensch, dem Familie, Beruf, Partei solches Gefühl nicht geben: hilfreich springt da das Caféhaus als Ersatztotalität ein, lädt zum Untertauchen und Zerfließen.92 Bachmaiers oben genannte These ist insofern plausibel, als sich den Literaten und Literatinnen im Kaffeehaus die Möglichkeit biete, vor dem »Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens«93 in die Masse der anderen Kaffeehausgäste, also in das ›Ureine‹, zu flüchten. Im Café können die unsicheren Einzelgänger und Einzelgängerinnen mit dem Kollektiv verschmelzen, in ihm ›untertauchen‹ und ›zerfließen‹, da die »Stütze des Chors« (TCC 255) ihnen Rückhalt verleiht: »Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maßen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter […].«94 So gewähre die dionysische Natur des Kaffeehauses dem Künstler und der Künstlerin den Rückzug ins ›Ureine‹, in dem keine Subjektivität, also kein ›Ich‹ existiert. Durch diese dionysische Rauscherfahrung würden nicht nur gemeinschaftsfeindliche Grenzen überwunden sowie eine innere Befriedigung erreicht, sondern auch Kunst hervorgebracht:
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Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 240. Polgars Text wurde erstmals am 30.12.1923 im Berliner Tageblatt veröffentlicht; anschließend 1926 in Buchform (im Band An den Rand geschrieben im Rowohlt Verlag). Polgar : »Theorie des ›Café Central‹«, S. 255. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »TCC« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Friedrich Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, in: ders.: Werke, Bd. 1, hg. v. Alfred Baeumler, Leipzig 1930, S. 98. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, S. 64.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. […] Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. […] Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.95 Die sich nur auf das ›Ureine‹ beziehende These Bachmaiers kann jedoch noch weiter ausgeführt werden, da dem Kaffeehaus auch ein apollinisches Wesen zuerkannt werden muss. Wenn man die Welt außerhalb des Cafés als diejenige Wirklichkeit betrachtet, die den Literat und die Literatin aller künstlerischen Freiheit beraubt, indem sie bürgerliche Konventionen und die Leistungsanforderungen der Gesellschaft verkörpert, wird deutlich, dass der Schriftsteller oder die Schriftstellerin sich nach einer – wenn auch nur scheinbaren – Beschönigung des Daseins durch die Kunst sehnt. Diese Illusion, welcher der Literat und die Literatin im Kaffeehaus teilhaftig werden können, wertet nicht nur die Kunst als bedeutendes ästhetisches Phänomen auf, das »die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins«96 darstellt. Sondern vielmehr lässt sie den Menschen auch sein Leben innerhalb der Anonymität besser ertragen: Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst: sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden.97 So legt sich also die Umgebung des Kaffeehauses mit seiner Atmosphäre, seinen Geräuschen und Gerüchen wie ein besänftigender ›Schleier‹ über die Literaten und Literatinnen. Wie später noch zu zeigen sein wird, ermöglicht dieser ihnen, die Wirklichkeit zu bejahen, der Neigung zu einem ›Allmachtswahn‹ zu entkommen98 und damit ihre Schreibproduktion zu motivieren. Folglich können dem Café nicht nur die gemeinschaftsstiftenden Eigenschaften der dionysischen Gottheit zuerkannt werden, wie Bachmaier dies tut, sondern auch die Qualitäten des Apoll, der dem Menschen innerhalb der Masse durch die ›Individuation‹ eine »Persönlichkeit kreditiert«, wie Polgar es für das Kaffeehaus formuliert (TCC 256). Dies bedeutet, dass das Apollinische und das Dionysische sowohl in der griechischen Tragödie, auf die Nietzsche sich bezieht, als auch auf das Café übertragen zwar Gegenpole sind, sich jedoch wechselseitig bedingen und voneinander abhängig bleiben, um gemeinsam fruchtbar zu wirken: 95 96 97 98
Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, S. 51f. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, S. 59. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, S. 82. Vgl. Claudio Magris: Microcosmi, Mailand 1997, S. 17.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Beide so verschiedne Triebe gehen nebeneinander her, zumeist im offnen Zwiespalt miteinander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort ›Kunst‹ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ›Willens‹, miteinander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.99 So soll an dieser Stelle die These formuliert werden, dass dem Kaffeehaus eine zugleich dionysische und apollinische Natur inhärent ist, welche dort von den Literaten und Literatinnen auf unterschiedliche Weise erlebt und in Texten verarbeitet wird. Es wird im weiteren Verlauf zu prüfen sein, wie dieser Charakter des Cafés in seiner Eigenschaft als Schreibort auf die Autorinnen und Autoren gewirkt und damit die Art ihres Schreibens und ihre Texte beeinflusst hat. Wenn man Bachmaiers Ausführungen weiter verfolgt, stellt man jedoch fest, dass ihm zufolge das Café als ›Ersatztotalität‹ und »integrale Instanz« den Literaten und Literatinnen nur für den Moment des dortigen Aufenthalts ein befriedigendes Zusammengehörigkeitsgefühl zur Wirklichkeit und nicht-künstlerischen Umgebung verschaffen könne, da dieses beim Verlassen desselben zerbreche, denn »die fingierte Ersatztotalität erhält nur in den Augenblicken der inszenierten Plötzlichkeit Gestalt, bis sie im nächsten zerfällt.«100 Auch Claudio Magris schreibt, dass die Habsburger »seit jeher einer einheitlichen Lebensauffassung und einer Durchdringung der konkreten geschichtlichen Zusammenhänge ausgewichen« seien und sich »in einzelne Aspekte des Realen hineingerettet [hätten], die darum die Gestalt vieler nebeneinander liegender Parallelen angenommen hatten.«101 Daher verlören Ideen von Kontinuität und Ganzheit der Dinge in Zeiten von Ordnungs- und Traditionszerfall an Relevanz, so dass Elemente des Augenblickhaften und Fragmentarischen als kurze, pointierte Unterbrechungen des vergänglichen Zeitstromes im Wien der Jahrhundertwende außerordentlich an Bedeutung gewännen. Aus der Betonung des Momenthaften ergibt sich auch die zweite These Bachmaiers, in der er postuliert, dass »sich die Quintessenz der Kaffeehausliteratur mittels einer Phänomenologie und Poetik des Augenblicks vollständig ausformulieren« ließe. Gemäß Bachmaier ist der Augenblick, welcher als Substitut für die kontinuierliche, holistisch erfahrene Wirklichkeit »das spontane Innewerden der Totalität«102 gestattet, im Wiener Café beheimatet, weil die literarischen Genres des Kaffeehauses die »sprachliche Kristallisation des flüchtigen, ziellosen Augenblicks der selbstinszenierten Präsenz«103 seien. Obwohl Bachmaier explizit den Begriff ›Kaffeehausliteratur‹ im Singular nennt, meint er damit eher eine Zusammenfassung von verschiedenen »literarischen Gattungen der Kaffeehausschriftstellerei«104 beziehungsweise die »Kleinformen der Wie-
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Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, S. 47. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 243. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 185. Bachmaier: »Einleitung: Die Signaturen der Wiener Moderne«, S. xviii. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 254. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 242.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
ner Kaffeehauskultur«105 , worunter er insbesondere die Anekdote und den Aphorismus fasst. Denn der Aphorismus ist laut Bachmaier das Ergebnis einer Konfrontation des Augenblicks mit der Sprache, wobei sich der Aphorismus zum Feuilleton entwickeln könne, weil das Feuilleton »dessen räumliche und zeitliche Ausbreitung oder seine prosaische Explosion«106 darstelle. Die Anekdote liege von ihrem Umfang her betrachtet genau zwischen dem Aphorismus und dem Feuilleton, und sei eine literarische Form, die auf den Verlust des Kontinuums reagiert, eine Gattung, die auf Zersplitterung mit Kontraktion, mit der Zusammenziehung der Welt in der Kleinform, antwortet. Alle moderne Kunst ist nach Adorno Montage; die Anekdoten sind […] die spezifische Wiener Form der Montage, der fragmentarischen Konstitution der Welt aus dem treffenden Augenblick oder der pointierten Situation. […] Ihre Ambivalenz liegt in der Erreichung gegensätzlicher Stimmungen und Gefühle, nämlich von Trauer und Genuß mittels des indizierten Verlustes und der überspielenden Pointe.107 Das wichtigste Kennzeichen des Aphorismus sei die absolute Zielgerichtetheit auf die vollkommene, erinnerungslose Gegenwart und der Verzicht auf jegliche kausale Begründung oder Systematisierung. Auch lehne sich der Aphorismus nicht an eine aus der Vergangenheit herrührende Form an, sondern konzentriere sich auf die »spontane[] Erfassung des Selbst« in der Jetzt-Zeit: »Der Aphorismus und die ihm korrespondierende Selbsterfahrung in bedrängender Gegenwart, umgeben von den Schatten der Vergangenheit und einer amorphen Zukunft, werfen Licht auf den Augenblick.«108 So sei es erforderlich, den gegenwärtigen Moment in seiner ganzen Fülle in sich aufzunehmen, seinen Genuss zu vervielfachen und ihn in Szene zu setzen109 , so dass in der Folge, wie Magris poetisch formuliert, nur »reizende, aus dem Zusammenhang herausgerissene Stücke und zarte, wie Seifenblasen jäh entschwindende Bilder« von der Realität übrig blieben.110 Die spezifische Funktion der Literatur bestehe daneben darin, unterschiedliche »Schattierungen einer Stimmung«111 innerhalb einer Kultur zu kommunizieren, so dass Flüchtiges, wie das im Café geführte Gespräch, die Zeit überdauern könne. Daher lebe die Kaffeehauskultur, so Bachmaier, »von gebändigten und wilden Assoziationen. […] Auf diese Weise wird das Flüchtige zum Ereignis, und das Beständige erweckt nur die Qual der Langeweile.«112 Im Verlauf dieser Arbeit wird zu untersuchen sein, inwieweit die Texte der ›Kaffeehausliteratur‹ nach Bachmaier als »Denkform der Erinnerungslosigkeit«113 bezeichnet werden können oder ob ihnen ganz im Gegenteil eine besondere Rolle als ›Erinnerungsort‹ zukommt. Claudio Magris hebt neben der Augenblicksbezogenheit noch inhaltliche Merkmale des Genres hervor, wie zum Beispiel seine »farbenfrohe, heitere Geographie«, also seine starke Verbundenheit mit dem »Wiener Boden« sowie die Sentimentalität, Ironie und 105 106 107 108 109 110 111 112 113
Bachmaier: »Einleitung: Die Signaturen der Wiener Moderne«, S. xii. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 251. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 258f. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 253. Vgl. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 242. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 185. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 186. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 254. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 252.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Emotionalität des Genres, welche sich in der dargestellten Ambivalenz einerseits zwischen der »Klage um das alte, entschwindende Wien« und der selbstironischen Verspottung dieses Wehgeschreis sowie andererseits zwischen melancholischem Selbstmitleid und »spontaner, volkshafter Lebenslust« ausdrückt.114 Er schreibt, dass das Kaffeehaus der ›Locus amoenus‹ dieses Genres sei115 : Inmitten der Wiener Kaffeehäuser und Bierstuben erblüht ein lebendiges, sonderbares literarisches Genre: das Feuilleton, die rasch hingeworfene gehaltvolle, lokalgefärbte Seite, die Milieuskizze, das ironisch-weiche, autobiographische Selbstbekenntnis.116 Somit spiegeln sich in den literarischen Erzeugnissen des Kaffeehauses Bachmaier und Magris gemäß sowohl die Zeitstruktur des Augenblicks als auch das Leben der Literaten und Literatinnen im Kaffeehaus selbst wider, da sie aufgrund ihrer ungesicherten Arbeits- und Lebenssituation in der augenblicklichen Präsenz existierten, ohne zu wissen, wen sie im nächsten Moment treffen, was sie am nächsten Tag schreiben und womit sie im nächsten Monat ihr Geld verdienen würden. Im Folgenden sollen nun Vorschläge für eine eigene Konzeption dieses literarischen Genres erarbeitet werden. Dabei sollen die Betonung des Augenblickhaften und das Format der ›Kleinen Form‹ als erste Merkmale vorausgesetzt sowie Helmut Bachmaiers und Claudio Magrisʼ sich auf das Wiener Kaffeehaus beziehende Ideen von der ›Quintessenz der Kaffeehausliteratur‹ miteinbezogen und weiterentwickelt werden.
IV.3. Versuch einer Genrekonzeption ›Kaffeehausliteratur‹ IV.3.1.
Partizipationsmodell, bewegliche Gattungsräume und hybride Genres
Angelehnt an Birgit Neumann und Marion Gymnich soll der Gattungskonzeption dieser Arbeit ein »differenzbewusstes Mehr-Ebenen-Modell« zugrunde gelegt werden, welches deutlich macht, dass die verschiedenen, inhaltlichen und formalen sowie funktionalen und soziokulturellen Merkmale miteinander verwoben sind: Das Modell […] ist weniger an Homogenisierung und Verallgemeinerung interessiert, als vielmehr daran, durch die multiperspektivische Betrachtungsweise von Gattungen das je Besondere eines Textes zu erfassen, ohne den Anspruch auf wissenschaftliche Systematisierung aufgeben zu müssen.117 Daneben soll zum einen ein konstruktivistisches Verständnis von Gattungen zugrundegelegt werden, das heißt, Gattungen werden gemäß Klaus W. Hempfer »als aus der Interaktion von Erkenntnissubjekt und -objekt resultierende Konstrukte« begriffen, die hauptsächlich kommunikative Funktionen erfüllen.118 Zum anderen verwende ich mit
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Alle Zitate Magris: Der habsburgische Mythos, S. 185f. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 187. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 184. Gymnich/Neumann: »Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte«, S. S. 34f. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie, München 1973, S. 221.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Rüdiger Zymner einen ›typologischen‹ Gattungsbegriff, der sich durch einen elastischen, komparativen Charakter auszeichnet und als ›innerlich- und randbereichsunscharfer‹ Begriff angesehen werden kann.119 Das Gegenteil davon wäre laut Zymner eine ›klassifikatorische‹ Vorgehensweise, bei der versucht wird, Gattungsbegrifflichkeiten, welche sich gegenseitig ausschließen und im Sinne einer ›pyramidalen Hierarchie‹ aufgebaut sind, systematisch zu ordnen. Eine Typologie dagegen könne man sich als ›Kreis‹ oder ›in sich geschlossenes Kontinuum‹ vorstellen, in dem die Begriffe dynamisch verteilt sind.120 Diese dynamische Konzeption passt besser zu den hier untersuchten und als ›Kaffeehausliteratur‹ definierten Texten, da diese mithilfe des Begriffs der ›hybriden Genres‹ definiert werden können. Diese Bezeichnung wird meist benutzt, wenn eine Textsorte die Kennzeichen verschiedener Gattungen in sich vereint und eine »Mischung von Fakt und Fiktion vorliegt«, beispielsweise wenn ein »Roman selbstreflexiv auf den Prozeß des Schreibens und damit auf seinen Konstruktcharakter verweist (Metafiktion).«121 Deutlich wird in diesem Zitat von Jutta Ernst, dass der Begriff der ›hybriden Genres‹ bisher vor allem bei der Analyse des zeitgenössischen Romans Anwendung gefunden hat. Daher scheint im Hinblick auf die kurzen Prosaund Feuilletontexte der ›Kaffeehausliteratur‹ Forschungspotential vorhanden zu sein, weil laut Ernst bislang weitgehend übersehen worden sei, dass durch eine weiterentwickelte Beziehung zwischen Fakt und Fiktion »die Vorstellung einer externen, objektiv darstellbaren Realität der subjektiv erfahrenen Wirklichkeit gewichen ist.«122 Diese Feststellung soll weiter unten durch die Analyse literarischer Texte überprüft werden. Ein weiterer interessanter Lösungsvorschlag für hybride, bewegliche Gattungen stammt von Kai Sicks, der den Raumbegriff mit der Gattungstheorie verschmilzt und literarische Gattungen im Sinne eines relationalen Raumbegriffs als »eigene Räume« auffasst, in deren »dynamischen Grenzen sich Werke anordnen und bewegen«, »die sich überlagern, aneinander an- oder sich voneinander abgrenzen.«123 Angelehnt an das Konzept Hartmut Böhmes zu kulturellen Topographien versteht Sicks Gattungstheorie damit als »räumliches Ordnungsverfahren«, in dem Topographien einen »semiotisch organisierten Raum« bezeichnen, der »orientierte Bewegung ermöglichen soll.«124 Betont wird hier zum einen das repräsentative und performative Vermögen von Topographien, welche etwas darstellen, »das ist und das als solches in der Darstellung erst hervorgebracht wird«125 , und zum anderen der bei Michael Rössner bereits angedeutete Konstruktcharakter von Gattungen und ihre Eigenschaft als menschengeschaffener, »konventionalisierter Rahmen, innerhalb dessen Körper (beziehungsweise
119 Vgl. Zymner: Gattungstheorie, S. 96; 104. 120 Vgl. Zymner: Gattungstheorie, S. 102ff. 121 Jutta Ernst: »Hybride Genres«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Ansgar Nünning, 3. Auflage, Stuttgart/Weimar 2004, S. 267-268, S. 267. 122 Ernst: »Hybride Genres«, S. 267. 123 Kai Marcel Sicks: »Gattungstheorie nach dem spatial turn: Überlegungen am Fall des Reiseromans«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 337-354, S. 337. 124 Hartmut Böhme: »Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie«, in: ders. (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005, S. IX-XXIII, S. XIX. 125 Böhme: »Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie«, S. XIX.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Texte) wahrnehmbar und verstehbar werden.«126 Durch diese ›Sortierung des literarischen Bestandes‹127 in Form einer ›Verortung‹ können Sicks zufolge neue Perspektiven eröffnet werden: Eine raumtheoretisch fundierte Gattungstheorie […] betont, dass Gattungsräume unterschiedlicher Provenienz in der literarischen Praxis permanent durcheinandergeraten, gleichzeitig auftreten, sich integrieren usw. Der Blick auf Gattungsräume fokussiert Unschärfen und Offenheiten; ihm geht es darum, ein Modell bereitzustellen, das die Weite und Vielfältigkeit einer Gattung ausleuchtet, die dauernde Bewegung von Texten zwischen unterschiedlichen Gattungszugehörigkeiten berücksichtigt […] und die Überlagerungen, Verschiebungen und Verbindungen von Gattungen im Prozess der Gattungskonstruktion reflektiert.128 Dieser bewegliche und raumtheoretische Ansatz, in dem Gattungen »keine festen Entitäten [sind], sondern offene Systeme, die sich […] nicht mehr trennscharf voneinander unterscheiden, sondern fließende Grenzen haben und sich […] auch leicht ausdehnen, verengen oder verlagern können«129 , kommt dem heterogenen Charakter der Kaffeehaustexte sehr nahe und soll erprobt werden. Verwandt mit diesem Ansatz ist auch das ›Partizipationsmodell‹ sowie das Konzept der ›Familienähnlichkeit‹, da beide Modelle viele verschiedene, inhaltliche sowie formale, quantitative als auch qualitative Kriterien berücksichtigen. Die Zugehörigkeit eines literarischen Textes zu einer Gattung konstituiert sich dem Partizipationsmodell zufolge durch ein Bündel aus spezifischen Merkmalen, wobei nicht alle Texte einer Gattung eine Kongruenz mit allen Merkmalen dieser Gattung aufweisen, sondern nur mit so vielen Merkmalen übereinstimmen müssen, dass man die ›Gattungsfamilie‹ erkennt130 : Genre criticism has been heavily concerned with distinguishing genres from each other, with finding criterial or essential features by which a given work can unambiguously be identified as belonging to a particular genre. This system-oriented, structural approach needs to be complemented by a genre criticism that concerns itself not only with criteria1 features of genres, also but with non-essential and occasional ones, with characteristics that aren’t relevant points of contrast with other genres, or with vaguer 126 127 128 129
Sicks: »Gattungstheorie nach dem spatial turn«, S. 340. Sicks: »Gattungstheorie nach dem spatial turn«, S. 339f. Sicks: »Gattungstheorie nach dem spatial turn«, S. 341. Peter Wenzel: »Gattungstheorie und Gattungspoetik«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. Ansgar Nünning, 3. Auflage, Stuttgart/Weimar 2004, S. 211-214, S. 214. 130 Vgl. auch: »Each subgenre has too much variety too elusively and mutably distributed for definition to be feasible. We can specify features that are often present and felt to be characteristic, but not features that are always present. […] They never have enough necessary elements common to all members for them to be regarded as classes. Either defining characteristics are absent altogether, or they are limited to meager distinctions that do no more than subdivide the genre. In short, genres at all levels are positively resistant to definition. Definition is ultimately not a strategy appropriate to their logical nature. […] I can think of no better expression to characterize these similarities than ›family resemblances‹; for the various resemblances between members of the family: build, features, colour of eyes, gait, temperament etc. etc., overlap and criss-cross in the same way. […] Genres appear to be much more like families than classes.«, in: Fowler: Kinds of literature, S. 40f.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
tendencies and trends not visible in all members of the genre, but present often enough to be noticed. Genres can be characterized not by an unambiguous discovery procedure for classifying texts, but by a cluster of characteristics and tendencies, only some of which may be present in a given text.131 Dieses Model kann in der vorliegenden Untersuchung fruchtbarer angewendet werden als Rössners Versuch, diese Texte in zwei exakt voneinander abgrenzbare, literarische Textsorten aufzuteilen. Für die Typologie der ›Kaffeehausliteratur‹ muss daher ein Gattungsmodell erprobt werden, in dem die einzelnen Texte nicht eindeutig einem bestimmten Typ zugeordnet werden. Vielmehr soll durch die inhaltliche und formale Analyse mehrerer Kaffeehaustexte ein Bündel an aussagekräftigen Kriterien zusammengestellt werden, welches die Basis eines Genres darstellen kann. Diese Basis wiederum kann beliebig erweitert oder modifiziert werden. Marie-Laure Ryan beschreibt dieses Modell mit der Metapher eines Clubs, dessen Mitglieder zwar unterschiedliche Aufnahmekriterien erfüllen, sich aber trotz ihrer Verschiedenheit doch so ähnlich sind, dass sie exakt diesem Club angehören. Mit der fortschreitenden Existenz des Clubs werden die Aufnahmebedingungen verändert sowie der neuen Zeit und ihren Mitgliedern angepasst, ohne dass ältere Mitglieder ihren Platz verlieren.132 Damit verweist Ryan auf die Temporalität von Gattungen: Sowohl die Kriterien, die ein Genre ausmachen als auch unser Verständnis von Gattungen modifiziert sich im Laufe der Zeit, weil fortwährend neue Texte entstehen, welche parallel neben den schon vorhandenen einem Genre zugeordnet werden müssen. Das heißt, dass sowohl ältere Texte als auch jüngere Texte demselben Genre angehören können, auch wenn es dieses spezifische Genre schon gab, als die neueren Texte noch nicht existiert haben.133
IV.3.2.
›Kleine Form‹ und Feuilleton
Anhand des für die vorliegende Arbeit ausgewählten Textkorpus soll gezeigt werden, dass es sich vornehmlich um eher kleinformatige Textsorten mit feuilletonistischem Schreibstil handelt, die mit dem Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ in Verbindung gebracht werden können, beziehungsweise längere Texte, die aus vielen, zunächst in Zeitungen veröffentlichten Textfragmenten zusammengesetzt und nachträglich in Buchform veröffentlicht wurden, weil sie zwar nicht unbedingt eines linearen, aber doch eines kulturellen Kontextes bedürfen.134 So ist der Mikrokosmos der ›Kleinen Form‹ gemäß Sabiene 131 132
133 134
Mary Louise Pratt: »The Short Story: The Long and the Short of It«, in: Poetics 10 (1981), S. 175-194, S. 178. Vgl. »This approach invites us to think of genres as clubs imposing a certain number of conditions for membership, but tolerating as quasi-members those individuals who can fulfill only some of the requirements, and who do not seem to fit into any other club. As these quasi-members become more numerous, the conditions for admission may be modified, so that they, too, will become full members. Once admitted to the club, however, a member remains a member, even if he cannot satisfy the new rules of admission.«, in: Marie-Laure Ryan: »Introduction. On the Why, What and How of Generic Taxonomy«, in: Poetics 10 (1981), S. 109-126, S. 118. Vgl. Ryan: »Introduction. On the Why, What and How of Generic Taxonomy«, S. 119. Vgl. »Aus der Perspektive beobachtender und empfindender, sich erinnernder und reflektierender Subjekte entwerfen solche Bände Kleiner Prosa ästhetische Reflexionsräume moderner Selbst-
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Autsch und Claudia Öhlschläger auch immer eng mit seinem Kontext, dem Makrokosmos, verbunden, so dass diese Textform ihr volles Potential nur ausschöpfen könne, wenn Mikro- und Makrokosmos gleichzeitig sichtbar seien. So werde die kleine Form zum Format »wenn sich in ihr […] Prinzipien der Beschränkung und des Pluralismus in gleicher Weise abzeichnen.«135 Dabei kann ein Wechsel des Kontextes, also in diesem Falle des Publikationsortes, auch die Deutung und Aussage des eigentlichen Textes verändern136 , weshalb der Kontext im Sinne eines dichten Netzes von »Bezüge[n], Abgrenzungen, Parallelentwicklungen und Wiederanknüpfungen«137 als reziprok auf den Text wirkender Faktor bei jeder kulturwissenschaftlichen Interpretation mit betrachtet werden muss. Nur so kann die gesellschaftliche Dynamik des ›kulturpublizistischen Diskurses‹, der im Feuilleton angestoßen, abgebildet und vernetzt wird138 , aber durch seinen Kontextbezug niemals autonom sein kann139 , in Gänze erfasst werden. Neben der ›Kürze‹ beziehungsweise ›Kleinheit‹, die hier begrifflich in Anlehnung an Autsch und Öhlschläger als formale und inhaltliche ›Relevanzkriterien‹140 gefasst werden sollen, ist auch die offene, sich einer unzweideutigen Interpretation verweigernde Form ein charakteristisches Merkmal der Texte, welche gemäß Hildegard Kernmayer als ›Hybride‹ ihre »spezifische Gestalt in Zusammenführung unterschiedlicher literarischer Textfunktionen und Formtraditionen«141 ausbilden. Diese ›Hybridform‹ kann nach Sibylle Schönborn als mustergültige literarische Form sowohl der Moderne als auch der Postmoderne bezeichnet werden, da sie alle Eigenschaften »eines (post-)modernen Textbegriffs von der Hybridität und Dialogizität, der Intertextualität und Intermedialität bis zur Autoreflexivität auf sich vereint.«142 Schönborn und Günter Oesterle und Wirklichkeitserfahrung, die aus der Spannung zwischen Einzeltext und Bandzusammenhang leben und zu offenen Rezeptions- und Reflexionsprozessen einladen.«, in: Dirk Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart, Münster 2006, S. 23. 135 Sabiene Autsch/Claudia Öhlschläger: »Das Kleine denken, schreiben, zeigen. Interdisziplinäre Perspektiven«, in dies./Leonie Süwolto (Hg.): Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien, Paderborn 2014, S. 9-17, S. 12. 136 Vgl.Peter Utz formuliert es für die ›Kleine Prosa‹ Walsers so: »Doch zwischen den Buchdeckeln lesen sich die Feuilletons anders als verstreut in den Bleiwüsten der Zeitungen: Der Einzeltext verliert an Querbezügen zu seinem Zeitkontext, was er im ›Gesamtwerk‹ an werkinternen Bezügen gewinnt.«, in: Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers ›Jetztzeitstil‹, Frankfurt a.M. 1998, S. 296. 137 Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart, S. 9. 138 Vgl. Almut Todorow: Das Feuilleton der ›Frankfurter Zeitung‹ in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen 1996, S. 4. 139 Vgl. Hildegard Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2012), S. 509-523, S. 511. 140 Vgl. Autsch/Öhlschläger: »Das Kleine denken, schreiben, zeigen«, S. 11. 141 Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 511. 142 Sibylle Schönborn: »›…wie ein Tropfen ins Meer‹. Von medialen Raumzeiten und Archiven des Vergessens: das Feuilleton als ›kleine Form‹«, in: Thomas Althaus/Wolfgang Bunzel/Dirk Göttsche (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen 2007, S. 197-211, S. 199. Vgl. auch Peter Utz: »Zu kurz gekommene Kleinigkeiten. Robert Walser und der Beitrag des Feuilletons zur literarischen Moderne«, in: Elmar Locher (Hg.): Die kleinen Formen in der Moderne, Bozen/Innsbruck 2001, S. 133-165, S. 135 und Ulrich Stadler: »Kleines Kunstwerk, kleines Buch und kleine Form. Kürze bei Lichtenberg, Novalis und Friedrich Schlegel«, in: Elmar Locher (Hg.): Die kleinen Formen in der Moderne, Innsbruck 2001, S. 15-36, S. 16.
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gehen ferner davon aus, dass insbesondere die kurzen Feuilletontexte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind, als »Speicherung kultureller Erfahrung«143 und »literarische Hypertexte« gelten können, welche den in Kapitel III. behandelten, um 1900 entstandenen kulturwissenschaftlichen Theorien als »Beispielerzählungen«, also quasi als literarische Unterfütterung beziehungsweise Illustration ihrer Konzepte dienen, nicht nur weil das Feuilleton selbst die kulturellen Wandlungen der Zeit zum Beispiel in der Großstadttopografie aufspürt und medialen Entwicklungsprozessen (Telegraf, Telefon, Rundfunk, Schreibmaschine, Fotografie, Panorama, Film) kommentierend nachgeht, sondern auch weil es die Veränderungen der Raumzeitordnungen durch die Entwicklung von Medien- beziehungsweise Verkehrstechniken beschreibt, an denen sich die Verfassung einer Kultur ablesen lässt.144 Das heißt, diesen kleineren Textformen kommt insbesondere in der Zwischenkriegszeit eine große Bedeutung zu als aktueller, wandelbarer Ort, an dem gleichzeitig ein breit gefächertes Themenspektrum sowie aktuelle Vorkommnisse aus Politik, kulturellem und gesellschaftlichem Leben verhandelt, bewertet und in schriftlicher Form in den Zeitungen verbreitet und fixiert werden. Die Besonderheit des feuilletonistischen Genres bewegt sich dabei gemäß Irmgard Wirtz im Spannungsfeld zwischen einer den historischen Moment abbildenden Geschichtsschreibung und der »Subjektivität des Standpunkts«, welcher keinen »temporären Wahrheitsanspruch« erhebe.145 Dabei lägen die Qualitäten der Feuilletons nicht in den beschriebenen Themen, sondern in der sprachlichen Gestaltung: Die sprachlichen Zeichen, die ›Sprachereignisse‹ üben eine selbständige Herrschaft über die Dinge und Ereignisse der Welt aus. Das Objekt fürchtet den Zeichenträger, weil es nicht eindeutig fixiert ist, sondern autonom einen beweglichen Bedeutungsüberschuß transportiert.146 So zeichneten sich die Feuilletons der Zwischenkriegszeit durch eine »vollständige Autonomie der sprachlichen Zeichen gegenüber den Phänomenen der Welt« aus.147 Daneben kommt ›kleinen‹ Schreibweisen und Genres gemäß Autsch und Öhlschläger auch die Funktion zu, »Wahrnehmungseinstellungen und Realitätsentwürfe« sowie »spezifische Sehkulturen, Mentalitäten, Erfahrungs- und Erinnerungsentwürfe« zu prägen und »neue sozio-ökonomische und kulturell-ästhetische Maßstäbe« auszubilden.148 Nicht nur diese thematische »Integrationsleistung«149 zeichnet die ›kleinen‹ Texte aus, sondern dazu profitieren sie gemäß Almut Todorow und Peter Utz auch davon, dass sie sich vom Tagesgeschehen und von der »Sphäre politischer und wirtschaftlicher
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Günter Oesterle: »›Unter dem Strich‹. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert«, in: Jürgen Barkhoff (Hg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, Tübingen 2000, S. 229-250, S. 250. Alle Zitate Schönborn: »›…wie ein Tropfen ins Meer‹«, S. 199. Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 119. Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 25. Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 25. Autsch/Öhlschläger: »Das Kleine denken, schreiben, zeigen«, S. 10. Schmid-Ruhe: Fakten und Fiktionen, S. 24.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Machtausübung« distanzieren150 und mittels einer nur vorgeblich harmlosen, ›unpolitischen Optik‹ eine eigene Meinungen vertreten könnten, die sonst in bürgerlichen Zeitungen nicht gedruckt worden wären.151 Aus den zuletzt genannten Gründen bietet das Feuilleton laut Susanne Scharnowski große thematische und stilistische ›Freiräume‹, die als Qualitätsmerkmal der Ware ›Feuilleton‹ anzusehen seien.152 So sei trotz des Lokalkolorits europaweit eine dynamische »Zirkulation der Ideen und Stilgesten«153 entstanden, welche durch das vielfache Echo in den Zeitungen aus In- und Ausland im Gegenteil noch stimuliert und intensiviert worden sei. Diese Thesen aufgreifend sollen in der vorliegenden Arbeit Feuilletontexte nicht als historisches Quellenmaterial, sondern vielmehr als nicht-neutrales »Medium des Wissens«154 und »Forschungsgegenstand von erheblicher kommunikations-soziologischer, zeithistorischer und kultureller Aussagefähigkeit«155 gelten sowie als »›Ort‹ der gesellschaftlichen Kommunikation« betrachtet werden, »an dem sich unterschiedliche Diskurse bündeln beziehungsweise verstärken.«156 Dabei sollen solche Texte in das Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ eingeordnet werden, welche durch direkte oder indirekte Bezugnahme auf den Makrokosmos ›Kaffeehaus‹ einen unmittelbaren Zugang »zur jeweils zeitgenössischen Wahrnehmungswirklichkeit«157 ermöglichen und damit den Kontext der Literatur erkennbar machen. Untersucht werden soll demnach, wie in Kapitel III. theoretisch antizipiert, inwieweit Literatur und Kaffeehaus – also Text und Kontext – sich gegenseitig erhellen und reziprok so aufeinander gewirkt haben, dass das Genre ›Kaffeehausliteratur‹ im Rahmen einer ›Kleinen Form‹ und im Kontext ›der‹ Kaffeehauskultur entstanden ist. Daneben soll auch die sich verändernde kulturelle Funktion und Bedeutung des Genres im Wandel der Zeit nachgezeichnet werden: Beispielsweise trug das eher kleinformatige, dem Feuilleton nahestehende Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ dazu bei, dass sich in den 1920er Jahren in kurzer Zeit damit Geld verdienen ließ, indem die Autoren und Autorinnen diese Texte in rascher Abfolge verfassten und an Zeitungen verkauften. Dagegen können die hier untersuchten Feuilletontexte heutzutage als »Spiegel für die in der Gesellschaft möglichen Sprechweisen zu einem bestimmten Thema«158 angesehen werden, weshalb heutigen Leserinnen und Lesern das Genre diskursive Einblicke in eine (vielleicht vergangene) Kaffeehauskultur gewährt, die durch die Texte wieder lebendig gemacht und untersucht werden kann. Aufgrund dieser ›doppelten Historizität‹ begreifen Gustav Frank und Stefan Scherer das Feuilleton nicht als Textsorte, eigene Form oder sogar Gattung, sondern lediglich
150 Todorow: Das Feuilleton der ›Frankfurter Zeitung‹ in der Weimarer Republik, S. 46. 151 Vgl. Utz: Tanz auf den Rändern, S. 306ff. 152 Susanne Scharnowski: »›Berlin ist schön, Berlin ist groß.‹ Feuilletonistische Blicke auf Berlin: Alfred Kerr, Robert Walser, Joseph Roth und Bernard von Brentano«, in: Matthias Harder/Almut Hille (Hg.): Weltfabrik Berlin. Eine Metropole als Sujet der Literatur, Würzburg 2005, S. 67-82, S. 69. 153 Oesterle: »›Unter dem Strich‹«, S. 245f. 154 Schmid-Ruhe: Fakten und Fiktionen, S. 30. 155 Todorow: Das Feuilleton der ›Frankfurter Zeitung‹ in der Weimarer Republik, S. 46. 156 Schmid-Ruhe: Fakten und Fiktionen, S. 22. 157 Jäger/Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, S. 11. 158 Schmid-Ruhe: Fakten und Fiktionen, S. 20.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
als »Funktion an einem markierten Ort innerhalb der Tagespresse«159 und widersprechen damit Hildegard Kernmayer, die eine eigenständige Gattung in der ›Kleinen Form‹ des Feuilletons erkennt und diese aufgrund ihrer ästhetischen oder ästhetisierenden Schreibweise und den ihr eigenen Stilmitteln als literarische Textsorte mit eigenen Regeln bezeichnet: Seine ›Teilhabe ohne Zugehörigkeit‹ die daraus resultierende ›Poetik des Dazwischen‹, die sich im feuilletonistischen Text manifestiert, verhindern mitunter die Wahrnehmung des Feuilletons als Gattung. Was dabei jedoch übersehen wird, ist, dass die spezifische Generizität des Feuilletons gerade in der spielerischen Inszenierung des Ungefähren, des Beiläufigen, des Flüchtigen, des Gestimmten besteht, und diese die Texte erst als feuilletonistische hervorbringt. Das scheinbar unfassbare und gattungsgesetzlose Feuilleton folgt dabei sehr wohl einer Reihe von genuin feuilletonistischen Vertextungsregeln, die es von anderen textuellen […] Ereignissen unterscheiden und es auch zur historisch und kulturell etablierten Institution, mithin zur Gattung des Feuilletons werden lassen.160 Auch diesen kontroversen Aussagen soll in der Untersuchung der Texte nachgegangen und dabei gezeigt werden, dass für die ›Kaffeehausliteratur‹, auf die diese ›Poetik des Dazwischen‹ ebenso zutrifft, eine eigene Genretheorie formuliert werden kann. Obwohl in der einschlägigen Literatur zur ›Kleinen Form‹ und zum Feuilleton meist die Unbestimmbarkeit des Genres in Bezug auf Form und Inhalt als konstituierend festgelegt wird161 , fallen in den Forschungsschwerpunkten aktueller Studien und Projekte162 trotzdem bestimmende Merkmale auf, die mit dem Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ in Einklang gebracht und zusammenfassend in vier Gruppen eingeteilt werden können: Die Hybridität beziehungsweise ›generische Beweglichkeit‹ der Textsorte, die inhaltliche und formale Ambivalenz, der Fokus auf Zeitwahrnehmung, Erinnerungsbilder und Augenblickserfahrung sowie die Selbstreflexivität der Texte. Diese Aspekte sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
IV.3.2.1.
Hybridität und Bewegung
Der hier betrachtete Aspekt der generischen und thematischen Beweglichkeit ist sowohl mit den unter Punkt 3.1 genannten Annahmen zu Kontextabhängigkeit und Hybridität literarischer Gattungen und einem räumlich organisierten Ordnungsverfahren163 als
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Gustav Frank/Stefan Scherer: »Zeit-Texte. Zur Funktionsgeschichte und zum generischen Ort des Feuilletons«, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2012), S. 524-539, S. 527. 160 Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 523 und vgl. Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 23f. 161 Vgl. Schmid-Ruhe: Fakten und Fiktionen, S. 22 und Kai Kauffmann: »Zur derzeitigen Situation der Feuilleton-Forschung«, in: ders./Erhard H. Schütz (Hg.): Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin 2000, S. 10-24, S. 14. 162 Vgl. das DFG-Graduiertenkolleg »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« an der HU Berlin, URL: www.kleine-formen.de (15.08.2019); und die Projektgruppe »Kulturen des Kleinen« an der Universität Paderborn, URL: http://kw.uni- paderborn.de/fach-kunst/kunstkunstgeschichte-und-ihre-didaktik/forschung/kulturen-des-kleinen/(11.07.2019). 163 Vgl. Kapitel III.3.1; vgl. auch der Artikel von Kai Sicks: »Gattungstheorie nach dem spatial turn«.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
auch mit der ›schlendernden‹ Bewegungsform des Spaziergangs und der Flanerie verknüpft, welche oft mit der ›Kleinen Form‹ und dem Feuilleton in Verbindung gebracht wird.164 So sieht das an der HU Berlin angesiedelte Graduiertenkolleg »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« die Ursache für die ›generische Beweglichkeit‹ der ›Kleinen Form‹ beispielsweise darin, dass deren ›Kleinheit‹ ausschließlich relational in Wechselbeziehung zu größeren Formen definiert werden kann, da sie kontextabhängig ist: Kleinformen entstehen als Abbreviaturen, durch Selektion und Verdichtung; sie stimulieren durch ihre Partikularität aber gleichzeitig Ergänzungen, können rekombiniert und amplifiziert werden und sich als Formen auf diesem Weg ganz unterschiedlich zur Geltung bringen.165 Hildegard Kernmayer dagegen begründet einerseits die äußere Beweglichkeit des Genres in seinem »Ineinandergreifen von publizistischer Wirkungsabsicht und literarischem Stilwillen«166 , welches sich in einer spezifisch feuilletonistischen Schreibweise niederschlage, die sich zu einer »polyfunktionalen, aber eigenständigen Gattung des Feuilletons«167 herausgebildet habe, also zu einem ›konventionalisierten Sinnbildungsmuster‹ geworden sei, welches sich dem ästhetischen Prinzip der Schreibweise anschließe.168 Das Resultat sei die Konstituierung eines explizit feuilletonistischen Genres durch die kunstvolle poetische Schilderung publizistischer »Zweckformen mit ihren vornehmlich referentiellen kommunikativen Funktionen des Aufzeichnens, des Berichtens, des Informierens, des Kommentierens […] und ihren spezifischen Wirkungsdispositionen«.169 Andererseits würden ein kontinuierlicher, durch Assoziationen ausgelöster Themenwechsel, der subjektive Schreibstil, die Schilderung gleichzeitig ablaufender, vorgeblich unverbundener Vorkommnisse sowie »das ununterbrochene Oszillieren der Texte zwischen Gebundenheit und formaler Verwandlungsfreiheit«170 eine innertextuelle Bewegung bewirken. Letztere charakterisiere laut Kernmayer nachdrücklich die feuilletonistische Schreibweise und mit ihr die ›Kleine Form‹171 , welche in der täglich erscheinenden Zeitung ihren idealen Erscheinungsort gefunden habe. Diese auf
164 Vgl. Peter Utz: »›Sich gehen lassen‹ unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons«, in: Kai Kauffmann/Erhard H. Schütz (Hg.): Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin 2000, S. 142-162, S. 142. 165 Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen«, URL: www.kleine-formen.de/forschungsprogramm/(15.08.2019). 166 Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 513. 167 Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 512. 168 Vgl. Kernmayer bezieht sich hier auf Zymner: Gattungstheorie, S. 187. 169 Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 511f. 170 Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 521. 171 Vgl. »Sowohl in der Wahrnehmung wie auch in der Wiedergabe treten die einzelnen Details nicht mehr in linearer Abfolge auf, sie sind scheinbar zusammenhanglos, sie erscheinen als gleichrangige Einzelteile im Raum, sind austauschbar und frei kombinierbar. In der subjektiven Wahrnehmung des Flaneurs wird somit das zeitliche Kontinuum zum räumlichen Agglomerat. Dem Ineinanderfließen der Impressionen, der Diffusion des Raum-Zeit-Gefüges entspricht auf der Ebene des Flanierenden selbst die Diffusion von dessen Identität.«, in: Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 521f.
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die Bewegung abhebende Deutung verweist erneut auf die räumliche Konfiguration des Genres, welche sich auf die ›Kaffeehausliteratur‹ übertragen lässt.
IV.3.2.2.
Augenblick und Zeitwahrnehmung
In den Feuilletons der Zwischenkriegszeit lässt sich eine besondere Form der Zeitwahrnehmung feststellen, die als Reaktion auf die Komplexitätssteigerung, Fragmentierung und Beschleunigung einer Welt angesehen werden kann, die sich schneller als jemals zuvor zu verändern scheint. So begreift Irmgard Wirtz das Feuilleton »als Zeitzeichen im doppelten Sinne«, nämlich als dokumentarisches, aus einem konkreten historischen Ereignis entstandenes Abbild der Zeit und gleichzeitig als Gegenpol der Zeit, da es eine eigene Zeitlichkeit entwickle.172 Wirtz stützt auch ihre Genrekonzeption des Feuilletons auf das Konzept der Zeitwahrnehmung: Das Feuilleton ist ein Genre, das sehr viel direkter als andere aus der Zeit gewonnen wird und gegen die Zeit auftritt, das aus dem Moment entsteht und auf den Moment reagiert. Hier liegen Ansätze, die der Doppelnatur des Feuilletons gerecht werden, das in einem dialektischen Verhältnis als Reflex auf die aktuelle politische Situation, die außersprachliche Wirklichkeit, referiert, und das gleichzeitig als ästhetischer Text rein selbstreferentiell und polyvalent zu verstehen ist. Das Feuilleton kann also gleichzeitig ganz eindeutig und konkret auf die historische Situation verweisen und im selben Moment eine fiktionale Wirklichkeit als Gegenmodell zu dieser entwerfen.173 Deutlich wird in Wirtzʼ Konzeption die dem Feuilleton innewohnende Ambivalenz im Hinblick auf den Zeitbezug des Genres. Auch Sibylle Schönborn siedelt das Feuilleton »zwischen den Polen der Normierung und der Vervielfältigung von Zeit« an.174 Dadurch werden der Wunsch nach Entschleunigung und eine Segmentierung der Wahrnehmung angestoßen175 , die nur den für das Individuum jeweils bedeutsamen Teil betrachtet. Im Feuilleton drückt sich aus, dass ganzheitliche, totale Konzeptionen von ›Gegenwart‹ oder ›Gesellschaft‹ abgelehnt werden und die Menschen im gerade entstehenden Augenblick beziehungsweise der ›Jetztzeit‹176 leben, ein Begriff, mithilfe dessen Robert Walser laut Peter Utz »ein Zeitwort mit dem ästhetischen Anspruch auf einen unverwechselbaren ›Stil‹« verbindet.177 Walser illustriert diesen Sachverhalt in seinem Kurzprosatext »Aquarelle« von 1925: Der Aquarellist ist vielleicht auf dem Gebiet der Malerei ein Feuilletonist. […] Er malt gleichsam keck und dokumentiert dabei eine gesunde Vernunft, einen Sinn für das,
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Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 22. Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 21. Schönborn: »›…wie ein Tropfen ins Meer‹«, S. 201. Vgl. Kapitel IV.2 dieser Arbeit sowie Isabell Mandt: »›Ja, ich liebe das ›abgekürzte Verfahren‹, den Telegramm-Stil der Seele!‹ Die Wiener Kaffeehausliteratur und ihr Umgang mit Zeit«, in: Kritische Ausgabe 21 (2011), S. 19-24, S. 19. Vgl. Robert Walsers Wortschöpfung ›Jetztzeitstil‹: »[…] um im Stil vergangener Zeiten zu sprechen. Doch sprechen wir lieber im Jetztzeitstil!«, in: Robert Walser: »›Räuber‹-Roman«, in: ders.: Aus dem Bleistiftgebiet, hg. v. Bernhard Echte/Werner Morlang, Bd. III, Frankfurt a.M. 1985, S. 73. Vgl. Utz: Tanz auf den Rändern, S. 15.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
was ist. Er spricht sozusagen zum Beschauer: ›Ich aquarelliere, weil ich dich lieben lehren möchte, was um uns ist‹.178 Der Fokus liegt hier auf der sinnlichen Erfassung der Gegenstände, welche laut Lothar Müller im Sinne eines ›impressionistischen Sehens‹ in der Weise betrachtet werden sollen, »wie sie im Moment ihrer Wahrnehmung erscheinen, ohne den Eindruck des Auges durch das Wissen über die Gegenstände zu korrigieren.«179 Walser setzt die schnelle Maltechnik des Aquarellierens mit dem Schreiben eines Feuilletons gleich, um auf »das wenig randscharfe Kleinformat des Feuilletons« sowie auf »seine Nicht-Definierbarkeit als Gattung«180 aufmerksam zu machen und lenkt damit die Perspektive hin zum Charakter eines Aquarells, dessen Motive nicht exakt gezeichnet, sondern aufgrund der Verdünnung mit Wasser eher verschwommen sind. Diese Wahrnehmung, welche derjenigen der Zeitgenossen und -genossinnen entspricht, die noch keine genaue Vorstellung von der Zukunft haben, soll auch in den Feuilletons – eben im ›Aquarell-Stil‹ – widergespiegelt werden. Daher wird die Ausdrucksweise der Texte in der Forschung zum Beispiel als »skizzenhaft, impressionistisch und flüchtig« beschrieben, also auch mit Begriffen aus der Malerei bezeichnet; gleichzeitig wird sie trotz ihrer ›Flüchtigkeit‹ aber auch »lyrisch verdichtet, gedanklich konzentriert und gleichnishaft« genannt.181 Damit drückt sich in den Texten sowohl inhaltlich als auch stilistisch-formal ein generelles Phänomen dieser Zeit aus, nämlich der Gegensatz von einem durch Industrialisierung, Beschleunigung und Globalisierung initiierten Prozess der Komplexitätssteigerung und dem parallelen Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion, Entschleunigung und Fragmentierung.182 Dieser Prozess wird in den Texten der ›Kleinen Form‹ mustergültig dargestellt, indem durch Titel wie ›Skizze‹ oder ›Studie‹ auf das Provisorische und die subjektive Ausschnitthaftigkeit hingewiesen und somit ein »prinzipielle[r] Verzicht auf jede Form von Totalität in der Wirklichkeitserfassung«183 ausgedrückt wird. So können diese ›Mikroformate‹ gemäß Öhlschläger und Autsch zu »Indikatoren eines zunehmenden Bedürfnisses nach Entschleunigung« werden, indem sie »den Augenblick im Vollzug seines Vergehens« fixieren, dadurch »den Blick für die Erscheinungsweise des Flüchtigen, Ephemeren«184 schärfen und die Leserinnen und Leser durch unerwartete Pointen oder Metaphern aus eher fernen Bereichen, wie der Malerei, der Lebensmittelzubereitung
Robert Walser: »Aquarelle«, in: ders.: Festzug. Prosa aus der Bieler und Berner Zeit, Gesamtwerk Bd. VII, hg. v. Jochen Greven, Genf/Hamburg 1966, S. 175-177, S. 175f. 179 Lothar Müller: »Impressionistische Kultur. Zur Ästhetik von Modernität und Untergang in der Metropole«, in: Thomas Steinfeld/Heidrun Suhr (Hg.): In der großen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie, Frankfurt a.M. 1990, S. 41-69, S. 48. 180 Utz: Tanz auf den Rändern, S. 299. 181 Alle Zitate Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen«, URL: www.kleine-formen.de/forschungsprogramm/(15.08.2019). 182 Vgl. Autsch/Öhlschläger: »Das Kleine denken, schreiben, zeigen«, S. 10. 183 Wolfgang Bunzel: »Das Prosagedicht im Textfeld ›kleiner Formen‹ um 1900«, in: ders./Thomas Althaus/Dirk Göttsche (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen 2007, S. 123-138, S. 125. 184 Autsch/Öhlschläger: »Das Kleine denken, schreiben, zeigen«, S. 11. 178
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oder industrieller Fertigungstechniken185 , auf vorgeblich irrelevante Details aufmerksam machen. Auch die im weiteren Verlauf dieser Arbeit analysierten Autoren und Autorinnen kurzer oder auch längerer Prosa, wie Peter Altenberg186 oder Ernest Hemingway187 , verwenden und thematisieren diesen visuell-impressionistischen Schreibstil im Zusammenhang mit dem Café, weil dieser es ihnen laut Natascha Würzbach ermöglicht, mit Hilfe einer selektiven »Wahrnehmung, die als Filter wirkt und in impressionistischer Darstellung zum Ausdruck kommt«, inmitten der Großstadt vermeintlich unwesentliche Eindrücke zu schildern und eine Verbindung zu schaffen zwischen »konkret Wahrgenommenem und den Inhalten der gleichzeitig entstehenden Gedanken und Gefühle.«188 Trotz der Fokussierung der absoluten Gegenwart und der formalen Ausrichtung auf Flüchtigkeit und ein im Tempo erhöhtes Erleben von Zeit fungiert die ›Kleine Form‹ auch als textuelles Speichermedium, welches individuelle Erinnerungen und kollektive Spuren der Vergangenheit aufbewahrt und damit paradoxerweise zu einem »Archiv polychroner Zeiterfahrung«189 werden kann, das im Feuilleton gemäß Oesterle einen eigenen »Erinnerungsraum der Gebildeten« schafft, welcher das Vermögen hat, als Form der »Speicherung kultureller Erfahrung« den Augenblick künstlerisch zu verewigen.190 Auch Sibylle Schönborn akzentuiert die archivarische Rolle der Feuilletontexte »als Gedächtnisräume des Alltäglichen und damit von zu Erfahrung geronnenem Leben«, eine Rolle, welche die Texte eher zufällig übernehmen, da sie als ›Abfallprodukte‹ aus willkürlichen ›Resten‹ beziehungsweise »dem morgen schon Gestrigen« der Tagespresse entstehen. Dadurch erhalten sie eine gewisse Unabhängigkeit und begründen laut Schönborn in ihrer Eigenschaft als Kritik- und Kommentarorgane der ›großen Geschichten‹ »Gegenwelten in anderen Raum-Zeit-Dimensionen als diejenigen der globalen Medienzeiträume.«191 Also auch in Bezug auf das Feuilleton als Medium von Erinnerungsbildern wird in der Forschung die subjektive und notwendig reduzierte Wahrnehmung durch die Sin-
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Peter Altenberg präsentiert laut Wolfgang Bunzel seine »Kurzprosatexte als Ergebnis eines sprachlichen Verfahrens, das am Vorbild der Naturwissenschaft und den sich davon ableitenden Fabrikationstechnologien ausgerichtet ist.«, in: Wolfgang Bunzel: »›Extrakte des Lebens‹ – Peter Altenbergs poetische Diätetik«, in: Jutta Schlich/Sandra Mehrfort (Hg.): Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Moderne (1770-2006), Heidelberg 2006, S. 131-147, S. 136f. In Peter Altenbergs Text »Selbstbiographie« von 1921 werden besonders sein konzentrierter, das Wesentliche zum Ausdruck bringender Schreibstil und sein Autorenprofil von ihm thematisiert, in: Peter Altenberg: »Selbstbiographie«, in: ders.: Was der Tag mir zuträgt. Fünfundsechzig neueStudien, Berlin 1901, S. 5-12, S. 6. Vgl. das dem Werk Wie ich es sehe vorangestellte Motto aus J.-K. Huysmans A rebours, in: Altenberg: Wie ich es sehe, Berlin 1918, S. X. Vgl. Kapitel V.1.4 der vorliegenden Arbeit; vgl. auch Mandt: »›Ja, ich liebe das ›abgekürzte Verfahren‹, den Telegramm-Stil der Seele!‹«, S. 22f. Vgl. das Kapitel V.1.3 dieser Arbeit. Natascha Würzbach: Raumerfahrung in der klassischen Moderne. Großstadt, Reisen, Wahrnehmungssinnlichkeit und Geschlecht in englischen Erzähltexten, Trier 2006, S. 48; 50. Autsch/Öhlschläger: »Das Kleine denken, schreiben, zeigen«, S. 10. Oesterle: »Unter dem Strich‹, S. 246; 250. Alle Zitate Schönborn: »›…wie ein Tropfen ins Meer‹«, S. 204f.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
nesorgane hervorgehoben192 , da Erinnerungsbilder innerhalb der ›Kleinen Form‹ nach Dirk Oschmann als »hochgradig verdichtete Zeitmomente, als Augenblicksaufnahmen aus der Vergangenheit« aufgefasst werden können.193 Anhand von Benjamins Berliner Kindheit zeigt er, dass der ›Kleinen Form‹ oft eine besondere Materialität eignet, welche die Erinnerung zuallererst auslöst, weil eine Reflexion, die Wahrnehmung, Traum und Erinnerung verbindet, immer von einer vorherigen Betrachtung von ›Orten, Dingen oder Wörtern‹ ausgeht. Das Ziel sei es dabei laut Oschmann, »die Dinglichkeit des Gegenstandes selbst im und durch das Schreiben erfahrbar zu machen.«194 Da diese verdichteten Erfahrungen immer mit der jeweiligen Persönlichkeit der Autorinnen und Autoren verknüpft sind, die das feuilletonistische Ich195 erschaffen, erwähnt Oschmann in diesem Zusammenhang den von Walter Benjamin geprägten Begriff des ›Mosaiks‹, welcher den Eigenwert der einzelnen Teilstücke sowie die Bedeutung von Details unterstreicht.196 Hildegard Kernmayer und Peter Utz werten den subjektiven Duktus des Feuilletons sogar als eines seiner konstitutiven Merkmale: »Die subjektive Einfärbung, das explizite ›Ich‹-Sagen, ist ein ungeschriebenes Gesetz der ›kleinen Form‹.«197 Dieses Merkmal verleihe der ›Kleinen Form‹ seine charakteristische Schreibweise und unterscheide sie durch ihre Poetizität von anderen Textsorten und den übrigen Zeitungsteilen.198
IV.3.2.3.
Selbstreflexivität und Selbstreferentialität
Neben der Verhandlung des Konflikts zwischen der be- und entschleunigten Wahrnehmung von Welt und den damit verbundenen inner- und außertextuellen Diskrepanzen kommt der ›Kleinen Form‹ die Rolle philosophischer Gedankenprosa zu, in der (vorgeblich) gleichzeitig geschrieben und nachgedacht wird. Dabei werden die Gedanken in einem fiktiven Dialog mit den Rezipierenden in Form einer schriftlich erzeugten, ›fingierten Mündlichkeit‹199 geteilt, indem der Text zu einem performativen ›Sprechakt‹ wird, welchem das »Denken als Vehikel des Sprechens«200 dient. So reflektiert, charakterisiert und kommentiert die ›Kleine Form‹ in ihrer Eigenschaft als »kritischer
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196 197 198 199 200
Vgl. Kapitel III.1.2dieser Arbeit und Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, S. 177f. Vgl. auch Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 35. Dirk Oschmann: »Kleine Prosa – Kleine Phänomenologie. Benjamins Erkundungen der Lebenswelt«, in: Thomas Althaus/Wolfgang Bunzel/Dirk Göttsche (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen 2007, S. 235-251, S. 248. Oschmann: »Kleine Prosa«, S. 243. Vgl. »die Idee einer Feuilletonisten-Rolle«: »Der potentielle Verfasser eines Feuilletons schlüpft demgemäß in die Rolle des Feuilletonisten und beobachtet aus dynamischem Blickwinkel die Stadt und filtert mit mehr oder weniger reflexivem oder imaginativem Zutun in einem Feuilleton seine Beobachtungen.«, in: Michaela Lischer: »Poetologisches im Feuilleton der 1920er Jahre«, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2012), S. 629-633, S. 631. Vgl. Oschmann: »Kleine Prosa – Kleine Phänomenologie«, S. 248. Utz: Tanz auf den Rändern, S. 309. Vgl. Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 514. Vgl. Utz: »Zu kurz gekommene Kleinigkeiten«, S. 162. Michael Niehaus: »Das Prosastück als Idee und das Prosastückverfassen als Seinsweise: Robert Walser«, in: Thomas Althaus/Wolfgang Bunzel/Dirk Göttsche (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen 2007, S. 173-186, S. 180; vgl. S. 176.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Resonanzraum«201 paratextuell auch ihr eigenes Genre und ihre Literarizität, was sie zu einem Ort macht, »an dem Inkonsistenzen und Widersprüche der bis dato bestehenden Gattungsordnung in ihrer Konflikthaftigkeit modellhaft zur Anschauung gebracht werden können.«202 Laut Thomas Althaus und Wolfgang Bunzel fungiert sie daher im Sinne eines ›produktiven Defekts‹ als »Formmodell literarischer Innovation, Selbstreflexion und Grenzüberschreitung« und als »literarisches Medium der Sprengung oder Subversion jeweils gültiger Textnormen«.203 Dabei scheint es paradoxerweise so zu sein, als müssten die Feuilletons vom eigenen Schreiben und ihrer »scheinbare[n] Marginalität«, handeln, um dem vorgeblichen ›Verdacht der Banalität‹204 zu begegnen. Gleichzeitig konstituieren sich die kleinen Texte gemäß Althaus, Bunzel und Göttsche durch eben diesen »Status der Randständigkeit« zuallererst, da dieser »sich als eigentlicher Motor der weiteren Entwicklung dieses Textfeldes« erweist und »zur Infragestellung der Genrekonventionen«205 befähigt. So sollen auch in den Texten der ›Kaffeehausliteratur‹ selbstreflexive Äußerungen zum Schreibakt und zur vorgeblichen Bedeutungslosigkeit untersucht und es jeweils als konstituierendes Merkmal angesehen werden, wenn die Texte sich selbst charakterisieren und ihr eigenes Genre unter die Lupe nehmen.206 Dabei sollen auch die Performanz 201 Utz: »Zu kurz gekommene Kleinigkeiten«, S. 154. 202 Bunzel: »Das Prosagedicht im Textfeld ›kleiner Formen‹ um 1900«, S. 123. 203 Thomas Althaus/Wolfgang Bunzel/Dirk Göttsche: »Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne«, in: dies. (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen 2007, S. IX–XXVII, S. IX. 204 Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen«, URL: www.kleine-formen.de/forschungsprogramm/(15.08.2019). 205 Althaus/Bunzel/Göttsche: »Ränder, Schwellen, Zwischenräume«, S. IX und XV. 206 Vgl. Alfred Polgar tritt beispielsweise in »Orchester von oben« (1926) vehement für die seiner Ansicht nach oft verachtete, aber nicht zu unterschätzende ›Kleine Form‹ ein: »Aber ich möchte für diese kleine Form, hätte ich nur hierzu das nötige Pathos, mit großen Worten eintreten: denn ich glaube, daß sie der Spannung und dem Bedürfnis der Zeit gemäß ist […]. Ich halte episodische Kürze für durchaus angemessen der Rolle, die heute der Schriftstellerei zukommt. […] Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch für Psychologie, zu romanhaft für Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als daß es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe. […] wer wollte da mit überflüssigem Gepäck beladen sein? Ballast ist auszuwerfen – und was alles entpuppt sich nicht als Ballast? – kürzeste Linie von Punkt zu Punkt heißt das Gebot der fliehenden Stunde.«, in: Alfred Polgar: Orchester von oben, Berlin 1927, S. 11ff. Von Anton Kuh wurden auch nur kleinformatige Texte veröffentlicht, weswegen er selbst dazu Stellung genommen hat: »Eine Zahl solcher Sprechergebnisse […] vereinigt diese Schrift. Es sind Endglieder ungeschriebener Gedankenketten, deren Stolz oft die unaphoristisch glanzlose Prägung die blendende Pointenlosigkeit bildet. […] Die vorliegenden Aphorismen haben den Vorzug, keine zu sein. Man betrachte sie im übrigen als Anfangs-, Endoder Mittelsätze von Essays, die der Leser nach Intelligenz und Neigung hiermit zu schreiben aufgefordert wird.«, in: Kuh: »Von Goethe Abwärts«, S. 453f.; auch andere Autoren haben über ihn und seine literarischen Produkte geschrieben, wie Géza von Cziffra, der über den »Sprechautor« Anton Kuh schreibt: »Er hatte nämlich einen großen Fehler, er schrieb nichts. Er redete nur. […] er redete aus dem Stegreif. Befreundete und oft angepumpte Theaterdirektoren […] stellten ihm […] ihre Theater zur Verfügung, wo Anton dann gegen Eintritt zwei Stunden lang auf der Bühne stand und ein geistiges Feuerwerk versprühte.«, in: Géza von Cziffra: Der Kuh im Kaffeehaus, München 1981, S. 12. Franz Werfels Nachruf über Anton Kuh verweist auf die Mündlichkeit der Literatur Kuhs, die ihn zum ›Kaffeehausliteraten‹ mache: »Mit ihm ist vielleicht der letzte ›Kaffeehaus-Literat‹ da-
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
und die wechselnde Perspektive des Autors oder der Autorin auf Text und Kontext in den Blick genommen werden.
IV.3.3.
Ambivalenz zwischen Wirklichkeit und Fiktion
Die zuvor erwähnte Beweglichkeit der Texte der ›Kleinen Form‹ und damit der ›Kaffeehausliteratur‹ zeigt sich auch in der Darstellung und Verhandlung von Ambivalenzen, sei es auf inhaltlich-sprachlicher Ebene, auf welcher insbesondere die Kontraste zwischen Flüchtigkeit und Fragmenthaftigkeit im Gegensatz zu Konzentration und Verdichtung deutlich werden, oder sei es die Ambivalenz im Hinblick auf die Form und Funktion des Genres. Letztere wird beispielsweise offenbar in der Gegensätzlichkeit zwischen der changierenden Betrachtung der Texte als in Buchform fixierter Literatur beziehungsweise zwischen literarischer Fiktion und ihrer ursprünglichen Ansiedelung in der Tages- oder Wochenzeitung, also einem täglich erscheinenden, publizistischen Medium der sachlichen oder kommentierenden Berichterstattung. Günter Oesterle erkennt die charakteristische Funktion des Genres daher in seinem »Wechselverhältnis von Lebendigem und Ornamentalem« und bestimmt das Feuilleton als »Grenzphänomen zwischen Zweckform und Ornament«, welches sich aus einer »eigenwilligen Kombination von Internationalität und Lokalität« speise.207 Durch die formalen und inhaltlichen Ambivalenzen und besonders durch die metaphorischen Titel der Feuilletons ergibt sich laut Hildegard Kernmayer eine »Polarität von Sachgebundenheit und formaler Verwandlungsfreiheit«, welche die wankelmütige »Selbsteinschätzung der Feuilletonproduzenten zwischen Minderwertigkeitsgefühl und literarischem beziehungsweise politischem Sendungsbewußtsein« unterstreiche208 : […] in den zahlreichen für das Feuilleton eingeführten Metaphern zeichnet sich deutlich die Ambivalenz bezüglich der Deutung des Genres und der eigenen Bedeutung als Schriftsteller ab. […] sämtlich evozieren die Bezeichnungen das Hingeworfene, Nebensächliche, Zufällige, kokettieren mit der Nichtigkeit der Textsorte und verleihen ihr gleichzeitig durch die ihnen inhärente Poetizität Bedeutung. Das Nebeneinander von poetischer Verniedlichung und pathetischer Überhöhung verwischt die Grenze zwischen Definition und Wertung.209 Auch in Bezug auf die ›Kaffeehausliteratur‹ lässt sich fragen, inwiefern in den hier untersuchten Texten auf ein real existierendes Kaffeehaus und damit auf die außertextuelle Wirklichkeit Bezug genommen wird und ob es sich in diesem Fall um einen Sachbericht im Feuilletonteil oder um einen literarischen Text handelt, der sich auf einen realen Schauplatz bezieht. Wird zudem bedacht, dass die Texte auch oftmals autobiographisch geprägt sind, stellt sich an dieser Stelle die grundsätzliche Frage nach hingegangen. Wir werden nimmer seinesgleichen sehen. […] Von Anton Kuh gibt es nur wenige Schriften. Seine gesammelten Werke lagen zwischen seinen schmalen Lippen.«, in: Franz Werfel: »Anton Kuh«, in: ders.: Zwischen oben und unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge (Gesammelte Werke), München 1975, S. 455-457, S. 456. 207 Oesterle: »›Unter dem Strich‹«, S. 231f.; 236. 208 Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 23; 30. 209 Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton, S. 31.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
der Referentialität und Fiktionalität der ›Kaffeehausliteratur‹. Zieht man in diesem Zusammenhang die einschlägige Forschungsliteratur zurate, wird diese Ambivalenz auch stets als konstituierendes Merkmal ›hybrider‹ Texte genannt. Für Markman Ellis, der dieser Frage in seinem Buch The Coffee House. A Cultural History nachgegangen ist, sind solche Texte beides, Literatur und historisches Zeugnis: In depicting the life-world of coffee-houses, however, much of the most compelling testimony is literary. […] Using this literary evidence, however, is not straightforward and has long troubled historians. […] In this book the coffee-house satires are considered as works of literature as well as historical evidence: these low and vulgar satires are not simply indictment of coffee-house life, but part of their conversation, one voice in the ongoing discussion of the social life of the city.210 Ellis weist in einem anderen Artikel darauf hin, dass literarische Texte, die nach diesem ›hybriden‹ Muster funktionieren, seiner Meinung nach in methodischer Hinsicht oft falsch behandelt werden, nämlich als geschichtliches Zeugnis und korrekte Beschreibung historischer Tatsachen, und nicht, wie es richtig wäre, als »complex and complicated literary forms«, welche zwar als historischer Beleg gelten können, aber dennoch vor allem als literarische Texte aufgefasst werden müssen, weil sie eine andere Wirkungsabsicht verfolgen: And there may be some truth in these depictions – it is true that women were not expected to be in the coffeehouse […]. But this is obviously complicated evidence of an experience, because it is satirical, because of its interest in using low and vulgar language. […] Satire does see itself as embedded in real life, and as such, these scabrous, vulgar satires would seem to be about something historical. But to do so you need a complex model of what a literary text is.211 Auch die vorliegende Arbeit nimmt sowohl auf historische Ereignisse als auch auf bestimmte Schauplätze Bezug – mittels literarischer Texte, die ein hohes Maß an Selbstbezüglichkeit aufweisen und vielfach konkrete Entsprechungen in der Realität haben. Daher ist die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufgrund des hybriden Genrecharakters der Kaffeehaustexte oftmals nicht eindeutig zu benennen, so dass sich bei der Textanalyse gemäß Beate Kennedy das Problem ergibt, »dass ›Wirklichkeit‹ sich in den fiktionalen Texten zu spiegeln scheint oder als Referenz anbietet.«212 Kennedy, welche diese Problematik für Irmgard Keuns Texte festgestellt hat, begründet dies damit, dass diese Texte »ihre jeweiligen Gattungsgrenzen insofern überschreiten«, als sie auf die realen Autoren und Autorinnen verweisen, »andererseits aber auch erkennbar ein erzählendes Ich konstruieren.«213 Sie empfiehlt daher eine ›textzentrierte Lektüre‹, »welche das künstlerische Potenzial der Darstellungsweisen in den Blick« nimmt, aber
210 Markman Ellis: The Coffee House. A Cultural History, London 2005, S. xiif. 211 Markman Ellis: »The Emergence of Cultural History«, in: Dandelion 2:2 (2011), S. 1-8, S. 6, URL: https://dandelionjournal.org/article/id/249/ (04.07.2019). 212 Beate Kennedy: Irmgard Keun: Zeit und Zitat, Berlin/Boston 2015, S. 28. 213 Kennedy: Irmgard Keun: Zeit und Zitat, S. 28f.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
»thematische, stilistische und konzeptionelle Probleme der Texte […] nicht mit Rückgriff auf die Biographie« der Autorinnen und Autoren löst, um die Texte nicht auf eine »Abschrift von Wirklichkeit« zu reduzieren.214 Dennoch lässt sich in der vorliegenden Arbeit nicht ausblenden, dass die Texte trotz ihres grundsätzlich fiktiven Status durch die subjektiv gefärbte Wahrnehmung der Autorinnen und Autoren geprägt sind, die beispielsweise aus der Erinnerung heraus über ein Kaffeehaus schreiben und dabei auf reale, außertextuelle Schauplätze, historische Ereignisse oder wirklich lebende Personen Bezug nehmen. Es ist kaum möglich, die Kaffeehaus-Atmosphäre aus einer neutralen Sicht zu schildern, da gemäß Robert Krause »Vergangenes nie voraussetzungslos erinnert, sondern stets innerhalb eines gewissen Bezugsrahmens rekonstruiert wird«215 , der sich durch die gegenwärtige, soziokulturelle Umgebung der sich erinnernden Autoren und Autorinnen konstituiert. Ein bekanntes Beispiel für die Verknüpfung von Literatur, Fiktion und Realität ist Karl Krausʼ Essay anlässlich der Schließung des Wiener Kaffeehauses Café Griensteidl 1897, der Kraus als Zeitzeuge beiwohnte: Wien wird jetzt zur Grossstadt demolirt. […] Unsere Literatur sieht einer Periode der Obdachlosigkeit entgegen, der Faden der dichterischen Production wird grausam abgeschnitten. Zu Hause mögen sich Literaten auch fernerhin froher Geselligkeit hingeben; das Berufsleben, die Arbeit mit ihren vielfachen Nervositäten und Aufregungen, spielte sich in jenem Kaffeehause ab, welches wie kein zweites geeignet schien, das literarische Verkehrscentrum zu präsentiren.216 Deutlich wird in diesem Zitat aus Krausʼ Essay nicht nur die Gleichsetzung von dem Ort des Kaffeehauses und der Literatur217 , sondern auch, wie die ›echten‹ Kaffeehäuser als reale Objekte in den Text eingezogen sind. Damit können sie nach Frank Zipfel als »immigrant objects« bezeichnet werden, die definiert sind als »reale Objekte in fiktiven Geschichten«.218 Hier kann mit Zipfel gefragt werden, »inwieweit die immigrant objects, in der Art und Weise, wie sie in fiktionalen Texten erwähnt beziehungsweise beschrieben werden, tatsächlich als mit den respektiven realen Objekten identisch angesehen werden können«, wobei eine »strikte Trennung zwischen Fiktion und Wirklichkeit« laut Zipfel »hochgradig kontra-intuitiv« ist.219 Dies begründet er damit, dass
214 Kennedy: Irmgard Keun: Zeit und Zitat, S. 21; 81. 215 Robert Krause:Lebensgeschichten aus der Fremde. Autobiografien deutschsprachiger emigrierter SchriftstellerInnen als Beispiele literarischer Akkulturation nach 1933, München 2010, S. 99. 216 Karl Kraus: »Die demolirte Literatur«, in: ders.: Frühe Schriften 1892-1900. Zweiter Band 1897-1900, hg. v. Joh. J. Braakenburg, München 1979, S. 277-297, S. 277. 217 Vgl. »Daß Kaffeehaus und Literatur miteinander zu tun haben, sehr innig sogar, das ist nichts Neues, spätestens seit Karl Kraus 1896 anläßlich der Demolierung des Café Griensteidl sein Feuilleton ›Die demolirte Literatur‹ betitelte. Seit damals zumindest wissen wir in Wien, daß Kaffeehaus und Literatur eine enge Symbiose bilden, so eng, daß sie als leidendes Subjekt austauschbar werden können: Wer das Kaffeehaus demoliert, demoliert die Literatur.«, in: Rössner: »Wo man Literatur schreiben, lesen, hören, kritisieren und wiederschreiben kann«, S. 13. 218 Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, S. 97f. 219 Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 92.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
fiktive Welten immer auch auf die Wirklichkeit bezogen und damit erst für uns verständlich und nachvollziehbar seien220 : Fiktive Geschichten sind allerdings nie ganz und gar unwirklich. Die Welt einer fiktiven Geschichte, die so genannte fiktive Welt, basiert immer (wenn auch in unterschiedlichem Maße) auf der Welt unserer Wirklichkeitskonzeption. Der Zusammenhang von fiktiver und realer Welt kann durch das so genannte ›Realitätsprinzip‹ erläutert werden. Das Realitätsprinzip besagt, kurz gefasst, dass eine fiktive Welt so nah wie möglich an der realen Welt konstruiert wird. […] Zur fiktiven Welt gehören also neben dem, was in den expliziten Aussagen des Textes über die Geschichte gesagt wird, alle Sachverhalte der realen Welt, sofern sie nicht durch den Erzähl-Text ausdrücklich aufgehoben oder negiert werden.221 Eine exakte Trennung zwischen Literatur und Realität ist daher für die hier untersuchten autofiktionalen Texte weder möglich noch erwünscht, da das charakteristische Kennzeichen der Autofiktion im Sinne Frank Zipfels die Verknüpfung ist »von zwei sich eigentlich gegenseitig ausschließenden Praktiken: die referentielle Praxis und die Fiktions-Praxis«222 , so dass das ständige Oszillieren zwischen Fakt und Fiktion sowie die Thematisierung dieses Schwebezustands die Texte auszeichnet. Zudem kann die Einstufung der Texte als ausschließlich ›fiktiv‹ laut Robert Krause »schnell eine verkürzende binäre Gegenüberstellung von Fiktion und Wirklichkeit« zur Folge haben, welche »sowohl der Autonomie literarischer Texte als auch den erwähnten erkenntnistheoretischen Prämissen«223 nicht angemessen zu sein scheint. Auch Angelika Corbineau-Hoffmann betont die generelle Ambivalenz von Texten, in denen ein Ort eine Rolle spielt, und diskutiert anhand des Beispiels der Stadt Venedig, die einen lokalisierbaren Schauplatz in der realen Geographie darstellt und zugleich als Thema und Imaginationsbild in der literarischen Fiktion fungiert, die grundsätzliche Problematik der Beziehung von Fiktion und Wirklichkeit in literarischen Texten.224 Dabei erklärt sie die poetische Relevanz Venedigs sowie die Faszination und den ›magischen Reiz‹, den die Stadt auf Schriftsteller und Schriftstellerinnen ausübt, mit ihrer Ambivalenz beziehungsweise ›Janusköpfigkeit‹: »Das Thema Venedig […] wird gleichsam janusköpfig, indem es sowohl eine Gegebenheit der Realität als auch die poetologischen Verfahrensweisen eines Textes bezeichnet.«225 Dies lässt sich auf das literarische Kaffeehaus übertragen, welches wie Venedig »im Spannungsfeld vieler verschiedener Texte« steht und »in vieler Hinsicht ein sprachgesättigter Ort [ist] – ein Ort der sich in der Polyphonie seiner Diskurse aufzulösen droht.«226 Auch das Kaffeehaus ist zwar
220 Vgl. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 82. 221 Frank Zipfel: »Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?«, in: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York 2009, S. 285-314, S. 290f. 222 Zipfel: »Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?«, S. 311. 223 Krause:Lebensgeschichten aus der Fremde, S. 69. 224 Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder 1797-1984, Berlin/New York 1993, S. 23ff. 225 Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion, S. 21. 226 Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion, S. 3.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
ein real existierender Schauplatz, scheint aber zuweilen nur noch Kulisse zu sein, ein ehemals berühmter Ort, der von der Literatur mit Bedeutung aufgeladen wurde und seine »Existenz primär nicht in der Realität, sondern im Text« findet.227
IV.4.
›Aura‹, ›Atmosphäre‹, ›Stimmung‹ – Ansatz zur begrifflichen Fundierung
Man hat den Eindruck, daß mit Atmosphäre etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares bezeichnet werden soll, und sei es auch nur, um die eigene Sprachlosigkeit zu verdecken. […] Auch damit wird in andeutender Weise auf ein Jenseits dessen, wovon man rational Rechenschaft geben kann, hingewiesen, und zwar mit Emphase, als finge erst dort das Eigentliche, das ästhetisch Relevante an.228 Die von Gernot Böhme erwähnte Sprachlosigkeit ist nicht nur in den bereits erwähnten literarischen Texten und Zeitungsartikeln, sondern auch in einschlägigen wissenschaftlichen Beiträgen zu ›Aura‹, ›Atmosphäre‹, ›Stimmung‹ et cetera in unterschiedlichem Ausmaße sichtbar. Da diese Begriffe oft synonym beziehungsweise undifferenziert verwendet werden, ergibt sich eine eher vage Ausgangslage, die sich durch unpräzise Definitionen auszeichnet und meist Hilfe in Ersatzbezeichnungen sucht. Friederike Reents weist in zahlreichen Artikeln und ihrer Monographie zur ästhetischen Kategorie der Stimmung in der Literatur jedoch darauf hin, dass mit dieser unbestimmten Mehrdeutigkeit des Stimmungsbegriffs – bedingt durch die oft sprachliche Ungenauigkeit der Begriffe und ihre synonyme Verwendung – nicht nur Schwammigkeit, sondern auch Potential im Sinne einer Bedeutungsvielfalt einhergehe; zudem könnten Stimmungen gerade wegen des Mangels an Spezifizität und ihres »nicht handlungsunterbrechenden Charakter[s] […] vielfältige und zum Teil tiefgreifende Auswirkungen auf Prozesse wie Wahrnehmung, Verhalten und Denken haben.«229 Im Folgenden soll daher versucht werden, auf der Grundlage der Auswertung wissenschaftlicher Studien zu den Themen ›Atmosphäre‹, ›Aura‹ und ›Stimmung‹ eine Definition für die Atmosphäre im Kaffeehaus zu formulieren, welche für die folgenden Analysekapitel als Basis der Untersuchung dienen kann. Obwohl Reents Sprache für ein zuweilen unzureichendes Medium hält, um die Kategorie der ›Stimmung‹ vollständig und adäquat zu erfassen, sieht sie sie gleichzeitig als das einzige uns zur Verfügung stehende Mittel für die Beschreibung an und versucht ›Stimmung‹ wie folgt zu definieren: Unter Stimmung versteht man die Haltung oder Disposition des Gemüts oder die Färbung der Gefühlslage eines Menschen, die sich entweder als bestimmter augenblicklicher, häufig auf das körperliche Befinden bezogener Zustand (zum Beispiel Behagen
227 Corbineau-Hoffmann: Paradoxie der Fiktion, S. 17. 228 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995, S. 21. Hervorhebungen im Original. 229 Friederike Reents: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 11f.; 16.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
oder Spannung, Müdigkeit oder Schwäche) oder als eine auf charakterlicher Disposition beruhende Anwandlung wie Besorgnis, Unsicherheit und Ängstlichkeit äußert.230 In Reents Definition wird deutlich, dass sich der Begriff ›Stimmung‹ auf den Menschen in seiner Ganzheit bezieht, also sowohl Auswirkungen auf die Psyche des Menschen als auch auf seinen Körper haben beziehungsweise von diesen Polen ausgehen kann. Daneben kann ›Stimmung‹ Reents zufolge auch »die Haltung oder Einstellung eines Menschen […], von der er erfüllt und beherrscht ist« sowie »eine kollektiv vorherrschende, zumeist öffentliche Meinung« bedeuten, wobei Stimmungen flüchtige »Gefühlszustände geringerer Intensität«231 darstellten, die zugleich weniger flexibel und länger anhaltend und nicht auf einen bestimmten Ursprung zurückzuführen seien.232 Auch Hans Ulrich Gumbrecht und David Wellbery verweisen darauf, dass ›Stimmung‹ zum einen als kontinuierlich andauerndes, abgestuftes Spektrum von Empfindungen angesehen werden solle233 und zum anderen zwar individuell verschieden, also ›subjektiv‹, erlebbar sei, aber dennoch diffus und ungerichtet bleibe, da sie nicht eindeutig als ›subjektiv‹ beziehungsweise ›objektiv‹ zu kategorisieren und sprachlich nicht exakt beschreibbar, sondern stark metaphorisch geprägt sei.234 Daher definieren Hans-Georg von Arburg und Sergej Rickenbacher ›Stimmungen‹ auch als »diffuse, atmosphärische Umgebungen eines Subjekts«, die mithilfe von Angaben zu »Licht-, Ton- und Farbverhältnisse[n], Temperatur oder Wind« näher umschrieben werden und »in architektonischen Räumen, in Landschaften, in Kunstwerken oder in einer Gesellschaft vorkommen« können.235 Otto Friedrich Bollnow verneint gleichermaßen eine schlichte Klas-
230 Reents: Stimmungsästhetik, S. 13f. 231 Reents: Stimmungsästhetik, S. 14f. 232 Vgl. auch: »Anders als Gefühle, die sich auf etwas Konkretes richten (wie etwa die Furcht vor etwas), bedarf die Stimmung eines bestimmten Anlasses; sie ist nicht international, aber häufig von gewisser Dauer und zugleich flüchtig, was sie per definitionem zu einem Mischungsverhältnis macht, das sich im Literarischen durch Metaphorisierungen aus den Bereichen Wetter, Farbe oder aber der Musik evozieren lässt.«, in: Friederike Reents: »Das große Füllhorn des Wohllauts«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.05.2010, S. N4. Vgl. auch: Jean-Pierre Palmier: Gefühlte Geschichten. Unentscheidbares Erzählen und emotionales Erleben, Paderborn 2014, S. 57. 233 Vgl. »Nur im Deutschen verweist die Wurzel des Worts auf ›Stimme‹, aber auch auf das Verb ›stimmen‹ […]. Die Assoziation mit dem ›Stimmen eines Instruments‹ deutet an, wie einzelne Stimmungen meist als Teil eines skalenförmigen Kontinuums erfahren werden, d.h. als eine jeweilige Nuance, die unsere Unterscheidungsfähigkeit und die Möglichkeiten der Beschreibungssprachen herausfordert.«, in: Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011, S. 10. 234 Vgl. »Stimmungen gehören zum emotionalen Bereich und weisen […] Ichqualität auf. Zum Sinn einer Stimmung gehört […], dass sie als ›meine‹ erlebt wird. Aber Stimmungen sind – im Gegensatz zu Gefühlen – nicht international auf einen Gegenstand gerichtet. Sie sind diffus, teilen sich allem, was man einzeln wahrnimmt oder denkt, mit, ohne daß sie an ein spezifisches Objekt gebunden wären. […] Eine Stimmung ist eine Gesamtqualität, ein Wie, in dessen fahlem, sanftem, heiterem oder grellem Licht das Was des einzeln Begegnenden erfahren wird. Letztlich aber betrifft dieses Wie das Sich-Befinden des Subjekts.«, in: David Wellbery: »Stimmung«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, hg. v. Karlheinz Barck, Stuttgart/Weimar 2003, S. 703-733, S. 704. 235 Hans-Georg von Arburg/Sergej Rickenbacher: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Concordia discors. Ästhetiken der Stimmung zwischen Literaturen, Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2012, S. 7-22, S. 9.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
sifizierung der ›Stimmung‹ im Sinne einer ›objektiven‹ und ›subjektiven‹ Qualität und unterstreicht besonders die »Doppelseitigkeit« der ›Stimmung‹, also die Reziprozität zwischen Mensch, Stimmung und Raum, welche ihre Wirkung durch die »atmosphärischen Verhältnisse« entfalten kann: Der Raum hat seine bestimmte Stimmung […] und dieser Stimmungscharakter überträgt sich dann auf den darin weilenden Menschen. Insbesondere sind es die atmosphärischen Verhältnisse, die als heiter, strahlend, drückend usw. auf den Menschen einwirken. Und ebenso ist der Mensch selber von innen her von einer bestimmten Stimmung durchwaltet, und ist geneigt, diese dann auch auf den umgebenden Raum zu übertragen […].236 Das heißt, ›Stimmung‹ wird den bisher genannten Definitionsversuchen zufolge durch die vorherrschende Atmosphäre zum Beispiel in einem bestimmten Raum von den dort anwesenden Menschen auf diffuse Weise psychisch oder physisch gespürt und sprachlich beispielsweise mithilfe von Metaphern aus dem Bereich des Wetters, der Musik und Farbgebung realisiert; daneben besteht übereinstimmend eine Wechselwirkung zwischen Stimmung, Atmosphäre und den anwesenden Menschen. Andererseits gibt es aber zweifellos auch diejenige Stimmung, welche nicht diffus, sondern sehr deutlich empfunden und lokalisiert werden kann, zum Beispiel wenn Menschen miteinander diskutieren und Zuhörende diese Stimmung aufgrund der Lautstärke oder der Wortwahl als konfliktgeladen einordnen. In diesem Fall ist die Stimmung ganz deutlich auf einen bestimmten Ursprung zurückzuführen und weist nicht nur Ich-Qualität auf, sondern ist objektiv von vielen Personen wahrnehmbar, wobei graduelle Abstufungen in der individuellen Wahrnehmung möglich sind. Da es sich bei der Stimmung also schon um die Wirkfolge handelt, welche durch eine bestimmte Atmosphäre ausgelöst wird, in dieser Arbeit hingegen aber gerade die in den Texten beschriebene oder erzeugte besondere Atmosphäre des Kaffeehauses untersucht wird, soll im Folgenden bei dem Auslöser der ›Stimmung‹ angesetzt werden und mit Martina Löws, Hermann Schmitzʼ und Gernot Böhmes raumsoziologischen sowie phänomenologischen Studien zum Begriff der Atmosphäre gezeigt werden, dass sich letztgenannter Begriff für die Texte der ›Kaffeehausliteratur‹ eher zu eignen scheint. Folgt man Martina Löws Untersuchungen zur ›Atmosphäre‹, geht diese von bestimmten Räumen aus, die aus eigener Kraft auf die Menschen wirken, also eine »Außenwirkung« haben und eine »eigene Potentialität« aufweisen, »die Gefühle beeinflussen kann.«237 Daher könne ›Gestimmtheit‹ nicht nur »die Projektion von Gefühlen auf die umgebenden Räume« sein, da es gleichzeitig »das Phänomen des ›UmgestimmtWerdens‹ durch Räume« gebe238 , also eine unaufhörliche Wechselbezüglichkeit statt236 Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 231. 237 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 204. 238 Löw nennt folgendes Beispiel: »Man betritt zum Beispiel hektisch ein kleines Geschäft, um noch schnell vor Ladenschluß die nötigen Einkäufe zu tätigen, und wird zum Beispiel durch ruhige Musik, angenehme Gerüche etc. in eine Stimmung der Gelassenheit versetzt.«, in: Löw: Raumsoziologie, S. 204. Unterstützt wird diese These von Hermann Schmitz, der betont, dass die ›Umstimmung‹ durch einen Raum meist »unter denkbar ungünstigen Umständen« passiert, nämlich gerade dann, »wenn jemand in einer Weise gestimmt ist, die zu der Gestimmtheit seiner Umgebung in schrof-
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
finde. So definiert Löw ›Atmosphären‹ – sie benutzt diesen Begriff stets im Plural – in Abhängigkeit desjenigen Raumes, von dem ›Atmosphäre‹ ausgeht, erzeugt und gespürt wird, weil Raum und Atmosphäre eine untrennbare Bindung miteinander eingingen im Sinne eines beständigen, räumlich zugeordneten Elements und eines wandelbaren, unterschwellig vorhandenen, aber nicht fixierbaren Elements, welches man nur mit den Sinnen ›erspüren‹ kann: Atmosphären sind demnach die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung. Das bedeutet, Atmosphären entstehen durch die Wahrnehmung von Wechselwirkungen zwischen Menschen oder/und aus der Außenwirkung sozialer Güter im Arrangement. […] Dementsprechend muss die Entstehung von Atmosphären aus der relationalen (An)Ordnung an Orten hergeleitet werden. Raum ist eine an materialen Sachverhalten festgeschriebene Figuration, deren spürbare unsichtbare Seite die Atmosphäre ist.239 Der Raum ist Löw zufolge also nur wahrnehmbar durch die ›Atmosphären‹, welche von bestimmten Räumen hervorgebracht werden und damit das nicht sichtbare Pendant zu ihnen darstellen. Dabei sei die Wahrnehmung von Räumen immer selektiv und »sozial vorstrukturiert« sowie die »Realisierung von Atmosphären abhängig von Strukturprinzipien wie Geschlecht, Klasse oder auch Ethnizität«240 , so dass »der oder die Wahrnehmende immer auch in seinem/ihrem sozialen Kontext und Wahrnehmung als konstruktiver Vorgang gesehen werden.«241 Ebenso verweist Gernot Böhme darauf, dass die Art der Wahrnehmung »sehr stark von der Wahrnehmungssozialisation und auch von der jeweiligen Handlungssituation«242 abhänge und ›Atmosphären‹ weder objektiv noch subjektiv243 , sondern eher »nebelhaft«, aber örtlich lokalisiert in einem bestimmten Raum vorhanden seien – Atmosphäre also »ein nie zu fixierender Zustand des Dazwischen, weder dem Objekt noch dem Subjekt ganz zugehörig« sei, der aber von beiden zusammen produziert werde.244
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fem Gegensatz steht.«, in: Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld/Locarno 2007, S. 24f. Löw: Raumsoziologie, S. 205. Hervorhebungen im Original. Löw: Raumsoziologie, S. 209f. Löw: Raumsoziologie, S. 209. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 97. Löw wirft Böhme dagegen vor, den »Einfluss von Kultur und Sozialisation auf das Erspüren von Atmosphären« kaum zu beachten: »Ihn interessiert als Aspekt der Wahrnehmungssozialisation nur die Frage, ob der Mensch durch technische Zivilisation zu spüren verlernt habe, was er schließlich verneint. Die Menschen einer Epoche konstruiert er als geschlechtslose Subjekte ohne soziale Prägungen. Die Atmosphären hält Böhme für objektiv wahrnehmbar. Sie sind entweder abweisend oder einladend, autoritativ oder familiär etc. […] Böhme betont zwar die Inszenierung von menschlichen Körpern und sozialen Gütern, um die Wahrnehmung bestimmter Atmosphären vorzubereiten, er vernachlässigt aber das Maß, in dem Kulturen, Klassen oder Geschlechter in den Körper der Wahrnehmenden eingeschrieben werden. Die Inszenierung erscheint bei Böhme nach außen gerichtet zu sein, denn das leibliche Spüren wird von ihm nicht in seiner sozialen Dimension analysiert.«, in: Löw: Raumsoziologie, S. 208f. Dieser Vorwurf erscheint wenig nachvollziehbar. So Gertrud Lehnert über Böhmes Definition, in: Gertrud Lehnert: »Raum und Gefühl«, in: dies. (Hg.):Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011, S. 9-25, S. 16.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Diese ›Atmosphären‹ erfüllen den betreffenden Raum gemäß Böhme »mit einem Gefühlston«245 und seien gleichzeitig »subjekthaft« sowie durch die Gegenwart des Menschen bedingt: Atmosphären […] sind Räume […]. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume. […] werden so die Atmosphären nicht freischwebend gedacht, sondern gerade umgekehrt als etwas, das von den Dingen, von Menschen oder von deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird. Die Atmosphären sind so konzipiert weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding Gehöriges […]. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft, gehören zu Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden und dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist.246 So definiert Böhme ›Atmosphäre‹ als »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen«247 , wobei ›Atmosphären‹ »Wirklichkeiten« seien, »die sich als Realität ausgeben« und zur Wahrnehmung »die affektive Betroffenheit durch das Wahrgenommene«248 gehöre, das heißt, dass die Wahrnehmenden zunächst eine Beziehung zum wahrgenommenen Raum oder Gegenstand aufbauen müssen, um die Atmosphäre empfinden zu können. Daraus folgt, dass diese Personen der Atmosphäre gegenüber nur dann zugänglich sind, wenn sie der Atmosphäre offen begegnen und jene es vermag, emotional eine Wirkung auf sie auszuüben – diese Reflektion widerspricht der These Löws vom möglichen ›Umgestimmt-Werden‹ durch Räume, was in bestimmten Fällen auch möglich ist, wenn man der Atmosphäre im Raum zunächst eher neutral oder ablehnend gegenüber gestanden hat.249 Gertrud Lehnert greift in ihrer Studie zu »Raum und Gefühl« bezugnehmend auf Walter Benjamin den Terminus ›Aura‹ auf und geht im Gegensatz zu Löw davon aus, dass Räume »ebenso wie Dinge eine Aura [besitzen], so dass sich eine Atmosphäre […] zwischen Subjekt und Objekt bilden kann«, jene Aura aber ausschließlich dann wahrgenommen werden könne, wenn der oder die Wahrnehmende »bestimmte Empfänglichkeiten, bestimmte Dispositionen besitzt«: eine Aura sei »nichts Absolutes, sondern abhängig von der ästhetischen Gestaltung und von Kontexten der Präsentation, des Gebrauchs und der Begegnung mit dem wahrnehmenden Subjekt.«250 Benjamin erklärt Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 22. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 33f. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 34. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 47. Vgl. Löw: Raumsoziologie, S. 204; 206. Vgl. Friederike Reents nennt den Prozess, wenn ›Stimmungen‹ trotz der Tatsache, dass sie »tendenziell ungerichtet, diffus und von längerer Dauer« seien, durch verschiedene Mittel künstlich erzeugt beziehungsweise willentlich beeinflusst werden können, »eine provozierte Umstimmung«: »Während Räume, Bilder, Klänge oder auch Worte eher als weiche, stärker im Hintergrund bleibende Stimmungsmodulatoren erscheinen, so könnte man Stimulanzien wie Alkohol, rhythmisierte Bewegung oder auch gesuchte sexuelle Reize als harte und meistens bewusst eingesetzte Stimmungsmacher, gewissermaßen als harte Drogen der Einstimmung bezeichnen.«, in: Reents: Stimmungsästhetik, S. 73. 250 Lehnert: »Raum und Gefühl«, S. 15.
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in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) den Terminus ›Aura‹ im Hinblick auf die besondere Ausstrahlung und Authentizität ›wirklicher‹, das heißt nicht reproduzierbarer, sondern ›originaler‹ Kunstwerke, die zwar nachgebildet werden könnten. Bei diesem Reproduktionsprozess ginge jedoch das für sie einmalige251 , sich auf den Augenblick beziehende Moment verloren: Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist. […] Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.252 Benjamin bietet zwar keine exakte Definition des Begriffs an, unterstreicht jedoch durch die verwendeten Beispiele die Bedeutung der ›Aura‹ im Sinne eines Mehr, das heißt, der Wert eines ›auratischen‹ Kunstwerks kann »nicht durch seine gegenständlichen Eigenschaften allein erfasst werden«253 . Gernot Böhme schließt aus Benjamins Ausführungen, dass die Aura »etwas räumlich Ergossenes« ist: »Die Aura spüren heißt, sie in die eigene leibliche Befindlichkeit aufzunehmen. Was gespürt wird, ist eine unbestimmt räumlich ergossene Gefühlsqualität.«254 So erläutert Benjamin seine Konzeption von ›Aura‹ anhand eines Landschaftsbildes: Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweigs atmen.255 Benjamin rückt hier die Empfindung einer ›Aura‹ in den Bereich des Leiblichen, wenn er schreibt, dass man die Aura ›atme‹, der Mensch sie also vermittels einer lebensnotwendigen, körperlichen Funktion in sich aufnehme. Dies bedeutet wiederum, dass der Mensch ebenso, wie er sich nicht weigern kann, zu atmen, vermeiden kann, die Aura der Umgebung in sich aufzunehmen; er somit nicht die Wahl hat, ob er ›in Stimmung‹ ist oder nicht, sondern die Aura wahrnehmen muss, weil sie so wie die Atemluft in unterschiedlicher Qualität schlicht vorhanden, aber nicht greifbar ist:
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Birgit Recki definiert »Einmaligkeit« im Anschluss an Benjamin als »das Außerordentliche, Überragende und damit ungemein Eindringliche« im Sinne einer »unverwechselbare[n] Bedeutung«; vgl. Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, Würzburg 1988, S. 19. Recki erklärt die Aura als »Metapher«, »unter der die Bestimmungen des originalen Kunstwerks versammelt werden sollen.« Die Aura des Kunstwerks sei »eine ausgezeichnete Singularität […], weil sie nur im Zusammenhang mit ihrer Geschichte vorgestellt und insofern als unverwechselbar und unwiederholbar erfahren wird«, vgl. ebd. S. 15. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M. 1981, S. 11f. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 26. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 27. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 15.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Bedeutsam ist die Vorstellung, daß der Ruhende die Aura der Naturerscheinungen ›atmen‹ könne. Mit dieser Assoziation an einen gasförmigen Stoff, etwas Ätherisches, ist die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes αύρα als Luft, Hauch vergegenwärtigt. Aus der Bestimmung geht hervor, daß die Aura nichts von dinghafter Festigkeit ist, sondern etwas Atmosphärisches in der Art und Weise, wie die Dinge erscheinen, ein Hauch, der von ihnen ausgeht – wohltuend, aber nicht greifbar, flüchtig, zart, vergänglich wie Atemluft oder wie bloßer Schein.256 So betont hier Birgit Recki die Ambivalenz der Benjamin’schen Aura, die einerseits immer gegenwärtig ist und sehr bedeutungsschwer sein kann, andererseits aber nicht fassbar ist. Im Gegensatz zu Löw und Böhme unterscheidet Hermann Schmitz zwischen »kollektiv zugängliche[n] Atmosphären«, die beispielsweise menschliche Gefühle betreffen, und »optisch-klimatische[n] Atmosphären«257 , wie zum Beispiel die ruhige Mittagsstimmung in einem halbleeren Kaffeehaus vor dem nachmittäglichen Besucheransturm. Dabei definiert Schmitz Gefühle als »räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären«, das heißt, er begreift sie explizit als freischwebend im Raum, losgelöst von den Menschen und Gegenständen, so dass der Fall ausgeschlossen wird, dass beispielsweise die Möblierung in einem Raum eine bestimmte Atmosphäre erzeugen kann. Dabei würden diese ›ortlos ergossenen Atmosphären‹ bei Schmitz, so Böhme, den menschlichen Leib »einbetten« und »in der Weise des affektiven Betroffenseins heimsuchen, wobei dieses die Gestalt der Ergriffenheit annimmt.«258 Dabei empfinde der menschliche Körper instinktiv mittels seiner Sinne, wie er sich in einer bestimmten Situation zu verhalten habe.259 Auch Böhme definiert das Phänomen des ›Sich-leiblich-Spürens‹ mit Blick auf die Stimmung, die eine Person in Verbindung mit der Atmosphäre eines Raumes empfindet: »sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umgebung befinde, wie mir hier zumute ist.«260 Damit heben Böhme und Schmitz besonders die sinnliche und leibliche Erfahrbarkeit eines atmosphärischen Raumes hervor: In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, daß ich jetzt hier bin. Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also spürbare Präsenz. Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren.261
Recki : Aura und Autonomie, S. 15f. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 23. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 30. Vgl. »Das affektive Betroffensein von Gefühlen ist immer leiblich. In Gestalt leiblicher Regungen lassen sich Gefühle als ergreifende Atmosphären im Leib nieder und geben ihm mit erstaunlicher Sicherheit angemessene Gebärden ein. Das geschieht durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Diese sind Brückenqualitäten, die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gestalten wahrgenommen werden.«, in: Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 84. 260 Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 31. 261 Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 96. Hervorhebungen im Original. 256 257 258 259
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Ebenso ordnet Hans Ulrich Gumbrecht Stimmungen und Atmosphären »zum präsentischen Teil der Existenz«262 und verweist auf das leibliche Empfinden in Bezug auf das Innere und Äußere des eigenen Körpers, wenn er die Schriftstellerin Toni Morrison zitiert, die sich angesichts bestimmter Stimmungen fühle, als sei sie ›von innen berührt‹, weil sowohl ihre Psyche als auch ihr Körper betroffen seien. Insbesondere bei der Sinneswahrnehmung des Hörens263 , die ebenso wie das Wetter vornehmlich geeignet sei, Stimmungen auszulösen, zeigt sich die körperliche Räumlichkeit Gumbrecht zufolge deutlich, wenn sich der Klang physikalisch im Innenohr ausbreite, um darauf im Gehirn entschlüsselt zu werden. Dies begründet Gumbrecht damit, dass Hören »eine komplexe, ganzkörperliche Verhaltensform« sei, welche Hörende als »physische Wirklichkeit« auffassen.264 Dieser Stimmungsbegriff im Sinne einer vielschichtigen, ganzkörperlich zu erfassenden Wirklichkeitsdimension könne aber nicht nur einseitig als Auswirkung auf den menschlichen Leib definiert werden, sondern funktioniere ausschließlich im wechselseitigen Austausch mit der Umwelt, wie Kerstin Andermann und Undine Eberlein darlegen: Leiblichkeit und leibliche Betroffenheit, wie sie sich insbesondere im Falle der gefühlten Wahrnehmung von Atmosphären zeigt, ist nicht im Raum abgeschlossener Innerlichkeit zu finden, sondern nur vom Umgebungsraum her und in dialogischer Dynamik zu diesem zu verstehen.265 So sollen in den folgenden Kapiteln solche Texte analysiert werden, in denen besonders die im Café vorkommenden Gerüche, Geräusche und andere die Sinnesorgane betreffenden Elemente angesprochen und diskutiert werden, um zum einen deren Einfluss auf die im jeweiligen Lokal vorherrschende Atmosphäre nachzugehen und die Wirkung der beschriebenen Atmosphäre auf die Erzählenden beziehungsweise die Gäste im Café zu ergründen. Zum anderen soll die Bedeutung der sprachlich erzeugten Atmosphäre und die damit einhergehende Metaphorik mit Blick auf Kriterien des Genres der ›Kaffeehausliteratur‹ analysiert werden; dabei wird deutlich, dass verschiedene ›Arten‹ von
262 Gumbrecht: Stimmungen lesen, S. 15. 263 Vgl. auch: »Dafür besitzt das Hören eine Empfänglichkeit für mächtige Auslöser leiblicher Kommunikation, womit es das Sehen überholt. Es handelt sich um Bewegungssuggestionen, die sowohl an Gestalten wahrgenommen […] wie am eigenen Leibe gespürt werden, und um synästhetische Charaktere, für die gleiches gilt. […] Als Brückenqualitäten, die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gestalten wahrgenommen werden können, vermitteln Bewegungssuggestionen leibliche Kommunikation in jeglicher Wahrnehmung, ganz besonders aber in der akustischen.«, in: Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 33f. 264 Gumbrecht: Stimmungen lesen, S. 11. 265 Kerstin Andermann/Undine Eberlein: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 29, Berlin 2011, S. 7-17, S. 8. Vgl. auch: »Stimmungen und Gemüt sind dabei nicht auf das Subjekt beschränkt, sondern greifen vom Ich auf die Welt und umgekehrt. Aufgrund der Beweglichkeit des Gemüts können Stimmungen in Kontakt mit der jeweiligen Umgebung umschlagen oder sich verändern lassen. Dies macht die ›seit der Antike bewährte[n] Stimmungsträger‹ – ›Musik[,] Räume, insbesondere Landschaften und ihre je eigenen Atmosphären, aber auch Intérieurs, Jahres- und Tageszeiten wie auch Wetterbedingungen‹ zu ›objektive[n] Korrelate[n] der inneren Stimmung‹ […].«, in: Reents: Stimmungsästhetik, S. 76.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Atmosphäre in der Literatur erzeugt werden können. Unter Kapitel 4.5 soll zudem die bildliche Sprache Joseph Roths mit Blick auf die evozierte Atmosphäre untersucht und mit Hans Ulrich Gumbrecht gefragt werden, ob zum Beispiel Musik und Wetter »nur Metaphern für das [sind], was wir den Ton, die Atmosphäre oder die Stimmung eines Textes nennen können«, oder ob bestimmte Texte über diese Metaphorik hinaus mittels ihrer textuellen Wirklichkeit eine Wirkung auf Atmosphäre und Stimmung haben, da letztere »nie ganz unabhängig von den materiellen Komponenten der Texte« seien.266 Weiterhin soll nach dem »Machen von Atmosphären«267 gefragt werden, also nach den Faktoren, mithilfe derer zum Beispiel in literarischen Texten sprachlich eine bestimmte Atmosphäre erzeugt oder unterschiedlichen Räumen durch architektonische Maßnahmen eine besondere Stimmungsqualität verliehen werden kann. Diese Faktoren bezeichnet Gernot Böhme als die »Erzeugenden von Atmosphäre«.268 Beispielsweise beschreibt Cordula Seger mit Blick auf das literarische Grand Hotel, wie Autoren und Autorinnen Atmosphäre durch eine Semantisierung des Raums und eine beständige ›Neukomponierung‹ des Augenblicks förmlich ›erschreiben‹. So werde in den von ihr analysierten Romanen durch die Schilderung von oberflächlichen Äußerlichkeiten wie Kleidern, Frisur, Schmuck, gelebter Raum in Atmosphäre übersetzt, so dass im Text durch die Parallelität einer Vielzahl von Raumeindrücken »eine Polyphonie des Gestimmten, der sich relativierenden und überlagernden Wahrnehmungen des Raums« geschaffen würden.269 Dabei würden sich die optische Beschreibung der Materialität der Gegenstände im Raum »zusammen mit Geräuschen und Gerüchen zu virtuosen Raumatmosphären« verdichten.270 Die Literatur nehme hier einerseits eine Kompensationsrolle ein271 , um das nicht mehr existente Grand Hotel wieder erlebbar zu machen, und bleibe andererseits darauf beschränkt, Atmosphäre »als Nebeneinander einer sukzessiven Dekodierung sprachlicher Zeichenfolgen« zu gestalten.272 Segers Überlegungen zur literarisch-sprachlichen Erzeugung von Atmosphäre in Texten über das literarische Grandhotel sollen in dieser Arbeit auf den Ort des literarischen Kaffeehauses übertragen werden. 266 267 268 269 270 271 272
Gumbrecht: Stimmungen lesen, S. 12. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 34. Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 123. Hervorhebungen im Original. Seger: Grand Hotel, S. 154. Seger: Grand Hotel, S. 279. Vgl. Seger: Grand Hotel, S. 6. Seger: Grand Hotel, S. 278. Seger nimmt hier Bezug auf den Begriff des gelebten Raums nach Elisabeth Ströker; insbesondere auf den gestimmten Raum, der die Komponente des Subjektiven betone und im Erleben des Menschen konstituiert werde: »Der Begriff des gestimmten Raums führt die Stimmung attributiv dem Raum zu und betont dabei eine Umhaftigkeit gegenüber einer Gerichtetheit, die sich vom Standort des wahrnehmenden Subjekts ausgehend orientiert. Das heißt, die Perspektivität ist im gestimmten Raum nicht zentral, vielmehr tragen die Beziehung der Dinge und Menschen untereinander, die Lautstärke der Musik, die Verteilung von Schatten und Licht zur Stimmung bei, ohne deshalb eine bestimmte Ansicht der Dinge zu favorisieren. […] Zur Atmosphäre gehören jedoch auch Töne und Klänge, Licht und Schatten, Dunkelheit und Helligkeit und nicht zuletzt […] die Präsenz weiterer Gäste. […] Gerade im gestimmten Raum überkreuzen sich die affektive Betroffenheit des Subjekts mit der atmosphärischen Besetzung des Grand Hotels durch die Gesellschaft.«, in: Seger: Grand Hotel, S. 276ff. Vgl. Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M. 1965, S. 22ff.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Neben der zuletzt beschriebenen kompensatorischen Funktion von in der Literatur dargestellten, atmosphärischen Räumen können diese auch sehr machtvoll auf die Lesenden beziehungsweise auf die Erzählenden wirken, vergleichbar etwa mit respekteinflößenden Gebäuden wie Palästen, Tempeln oder Kathedralen, die mit ihrer Atmosphäre durch ihre gewaltige Bauweise und ›unleugbare Kraft‹ beispielsweise auch auf nichtund andersgläubige Menschen intensive Gefühle und eine große körperliche Wirkung ausüben können, wie Colin Ellard es in seiner Studie Places of the Heart: The Psychogeography of Everyday Life (2015) zum Beispiel für den Petersdom in Rom beschreibt. Er führt die zum Teil unterschwellige, aber offensichtliche Macht von Gotteshäusern dieser Art unter anderem darauf zurück, dass sie den Menschen, die sie betreten, neben Ohnmacht das mehr oder minder stark ausgeprägte Gefühl von einer ›mystischen Einheit‹ vermitteln, so dass sie sich mit anderen Besuchern und Besucherinnen der Basilika verbunden fühlen, auch wenn diese ihnen völlig fremd sind. Noch erstaunlicher sei, so Ellard, dass sich dieser Effekt auch dann einstelle, wenn man genau wisse, dass diese machtvolle und einschüchternde Wirkung bei der Bauweise der Kirche bereits beabsichtigt gewesen ist, man also bewusst durch die Architektur eine bestimmte Atmosphäre schaffen und Macht auslösen wollte.273 Damit sei dem ›Machen von Atmosphäre‹ ein tiefgehendes psychologisches Moment zugeordnet, wie Gernot Böhme ausführt, weil Menschen dadurch in ihrem Unterbewusstsein manipulierbar seien. So würde das Wissen darum, wie man Atmosphären ›macht‹, zugleich den Gedanken nahe[legen], daß mit diesem Wissen eine bedeutende Macht gegeben ist. […] Sie greift bei der Befindlichkeit des Menschen an, sie wirkt aufs Gemüt, sie manipuliert die Stimmung, sie evoziert die Emotionen. Diese Macht tritt nicht als solche auf, sie greift an beim Unbewussten. Obgleich sie im Bereich des Sinnlichen operiert, ist sie doch unsichtbarer und schwerer fassbar als jede andere Gewalt.274 So ist die von Ellard erwähnte Schaffung einer ›mystischen Einheit‹ innerhalb eines atmosphärischen Raumes ein wichtiger Aspekt, der auch in den Texten der ›Kaffeehausliteratur‹ zum Tragen kommt, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird. Neben dem Gemeinschaftsgefühl haben bestimmte Cafés aufgrund ihrer augenscheinlichen ›Aura‹ das Potential, Atmosphären künstlich zu erzeugen, die bewusst eingesetzt werden können, um bestimmte Ziele zu erreichen; dazu gehört beispielsweise die Marketingstrategie bestimmter Cafés, damit zu werben, Aufenthaltsort berühmter Persönlichkeiten gewesen zu sein. Der Gast hat dann das Gefühl, an demselben Tisch wie Hemingway zu sitzen, so dass ihm das Mehr der ›Aura‹ im Benjamin’schen Sinne bewusst wird – er fühlt sich im Kontakt mit etwas ›Authentischem‹, das er bewundert. Auch Colin Ellard geht implizit auf Benjamin ein, wenn er das ergreifende Gefühl beschreibt, das er als Schuljunge beim Betrachten der mumifizierten Körper in den Sarkophagen des Ägyptischen Museums in Toronto empfunden hat: Even to our young, unformed minds, there was little question that we were in the presence of things that were real – that the chance to look through glass cabinets at
273 Vgl. Colin Ellard: Places of the Heart. The Psychogeography of Everyday Life, New York 2015, S. 155f. 274 Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 39.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
carvings, jewelry, and pottery that was unimaginably old brought us into contact with times, thoughts, and places that were unreachable in any other way. Many of us relished the opportunity […] to poke our hands through a guardrail or across a barrier to make actual contact with antiquity using our hands. […] we were seeking to break through centuries of time using our fingertips to make our connection with ancient great civilizations, quite literally, palpable.275 Wenn er heutzutage mit seinen eigenen Kindern im Museum echte Dinosaurierknochen oder ›wirkliche‹ Felsstücke vom Mond ansehe, bemerke er dagegen einen Perspektivwechsel bei der jüngeren Generation, die ihr Interesse mehr auf die wahrheitsgetreue Nachbildung eines Plastikskeletts richte als auf die Authentizität eines Knochens.276 An diesen Gedankengang anknüpfend, soll in den folgenden Textanalysen die Überlegung miteinbezogen werden, ob ›Atmosphäre‹ vor allem von der Authentizität eines Cafés abhängig ist und zum Beispiel nur Bestand hat, wenn ein traditionelles Kaffeehaus niemals den Besitzer oder die Besitzerin gewechselt hat, nicht umgezogen oder renoviert worden ist, oder ob eine frühere ›Atmosphäre‹ auch in die moderne Rekonstruktion eines Cafés hinübergerettet werden kann. Übertragen auf diese Arbeit soll ›Atmosphäre‹ im Sinne Martina Löws als räumlich realisierte Außenwirkung mit eigener Potentialität definiert werden, die von bestimmten Kaffeehäusern ausgeht, um aus eigener Kraft auf die Menschen zu wirken und diese in ihrer Wahrnehmung zu beeinflussen. Dabei findet eine stete Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum statt, die atmosphärisch gesteuert wird, wobei die Atmosphäre nicht ›ortlos ergossen‹ im Sinne Hermann Schmitzʼ, sondern an den konkreten Raum des Cafés, dessen Einrichtung und Personal gebunden ist. Das Kaffeehaus wird also insbesondere durch die augenblicklich präsente Atmosphäre wahrgenommen, welche als von außen kommende Kraft sowohl die Gefühle des Menschen beeinflussen, bestimmte Stimmungen bei ihm auslösen und auf seinen Körper sowie seine Sinne, also leiblich auf ihn einwirken kann, wobei dies abhängig ist von der persönlichen Situation der Wahrnehmenden. Daraus folgend soll ›Stimmung‹ hier in Anlehnung an Regine Heß als »innere Atmosphäre« bezeichnet277 sowie im Anschluss an Friederike Reents
275 Ellard: Places of the Heart, S. 89. 276 Vgl. »The mere authenticity of the specimen didn’t seem to mean much to them. More recently, I’ve questioned my children about their favorite museum experiences, and they’ve described enjoying plastic reconstructions of animal skeletons and augmented reality screens meant to shower how dinosaurs […] might have looked when they were alive. Trying to avoid leading the witness, I asked them whether the authenticity of an artifact was important to them. […] My questions were mostly met with confusing and shoulder shrugs. Over the course of a short period, something important had changed, and perhaps not just for our children. We seem to have transformed an attraction for authenticity with one for fidelity. We’re more interested in whether things look real them whether they are real. This important change in perspective has wide-ranging implications not just for our appreciation of the bones of a wooly mammoth, but more generally, for how we understand and respond to places and events.«, in: Ellard: Places of the Heart, S. 90. 277 Regine Heß: »Stimmung, Atmosphäre, Präsenz. Wirkungsästhetische Begriffe zur Analyse der Architektur von Peter Zumthor«, in: Institut für immersive Medien (Hg.): Jahrbuch Immersiver Medien 2013, Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung, Marburg 2013, S. 55-66, S. 59.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
als die durch die Atmosphäre ausgelöste, gegenwärtige Haltung des Gemüts, der Gefühle und Empfindungen eines Menschen in seiner ganzheitlichen Lage in Bezug auf dessen momentanen seelischen und körperlichen Zustand oder dessen charakterlichen Disposition definiert werden.278 In den nachfolgenden Textanalysen soll gezeigt werden, dass die Atmosphäre in den hier beschriebenen Kaffeehäusern durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: Zum einen durch das Vorhandensein von ›leiblich gespürter Materie‹279 im Raum, das heißt von Sinnesreizen und Synästhesien, also Sinneseindrücken, die verschiedenen Sinnesbereichen parallel angehören280 , beispielsweise die für das jeweilige Kaffeehaus typischen Geräusche und Gerüche, Speisen und Getränke, Farbimpressionen und der damit einhergehende Eindruck von traditioneller Gemütlichkeit beziehungsweise kühler Modernität. Gleichzeitig werden mit Blick auf die empfundene Raumtemperatur die Attribute ›warm‹, ›plüschig‹ und ›stickig‹ gleichgesetzt mit einer ruhigen, vielleicht ›altmodischen‹, aber meist positiv konnotierten Behaglichkeit und dem Gefühl von Geborgenheit, wohingegen das Attribut ›kühl‹ sowie ein Tresen mit glatt polierter Oberfläche und Selbstbedienung mit betriebsamer Hektik, Trendbewusstsein und wenig Gemütlichkeit verbunden werden. Diese Aspekte, welche in den bisherigen und noch im Folgenden zu analysierenden Texten metaphorisch verdeutlicht und mit Wortfeldern aus den Bereichen der Nautik, des Wetters, aus der Naturwissenschaft, Architektur und Küche dargestellt werden, sind in Anlehnung an Hermann Schmitz als ›Brückenqualitäten‹ zu bezeichnen, welche die »beiden Pole der objektiven Atmosphäre als Umgebungsqualität und der subjektiven Wahrnehmung der Atmosphäre« verbinden und sich dadurch auszeichnen, »dass sie sowohl in der Umgebung vorhanden sind als auch auf das subjektive Empfinden wirken.«281 Dabei können ›Bewegungssuggestionen‹ und die bereits erwähnten ›synästhetischen Charaktere‹ als die zwei Ausprägungen von Brückenqualitäten gelten.282 Die Atmosphäre dient im Kaffeehaus nicht nur als unmittelbarer Auslöser einer bestimmten Stimmung bei den Gästen und dem Personal, sondern kann in ihrer Funktion als gelebtes Ritual stabilisierend wirken, Kontinuität ausstrahlen und dadurch wiederum die Atmosphäre selbst beleben sowie auf Dauer erhalten.283 278 Vgl. Reents: Stimmungsästhetik, S. 13ff. 279 Vgl. »Die Erzeugung von Atmosphären durch die Charaktere von Materialien kann in der Tat als Magie bezeichnet werden. Was ist Magie? Beschwörung, Fernwirkung, die Auslösung von Wirkungen durch Zeichen. […] Das Spüren von Materie ist in diesem Sinne ein Sich-Spüren. In diesem leiblichen Sich-Spüren ist das Fundament auch der späteren Materialwahrnehmung zu sehen.«, in: Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 160; 162. 280 Vgl. Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 124. 281 Ewald Scherm/Christian Julmi: »Einfluss der Atmosphäre …und wie diese auf die Entwicklung der Organisationskultur wirkt«, in: OrganisationsEntwicklung 2 (2012), S. 69-76, S. 71. 282 Vgl. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 33f. 283 Vgl. Ewald Scherm und Christian Julmi haben dies für die Atmosphäre in betriebswirtschaftlichen Unternehmen untersucht: »Die Organisationskultur schafft über die geteilten Basisannahmen, Werte und Normen eine gemeinsame Situation, in die Atmosphären eingebunden sind und auf diese Weise stabilisiert werden. Sie aufhalten durch diese Einbindung für die Mitglieder einer Organisationskultur einen dauerhaften Charakter, der zusammen mit der gemeinsamen Situation geweckt wird, wie eine bekannte Melodie, die erklingt, wenn man morgens sein Büro betritt. Auf diese Weise kann eine Organisationskultur auch eine Schutzfunktion einnehmen und Stabilität aufbauen, die atmosphärisch konserviert wird. Die Rituale, Mythen und Legenden in einer Or-
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Letztgenannter Punkt führt zum zweiten Merkmal der Atmosphäre im Kaffeehaus: Sie vermittelt den anwesenden Gästen ein Gefühl von Einheit und Zusammengehörigkeit, welches sie nicht nur während ihres Aufenthaltes spüren, sondern das sie auch in ihrem Alltag begleitet, weil es sie prägt. Die in den Texten beschriebene Atmosphäre der Cafés scheint nämlich oftmals durch einen inneren Antagonismus, zum Beispiel durch Tradition und Modernität, Arbeit und Muße oder Rückzug und Wirklichkeit, charakterisiert zu sein, vermag es jedoch gleichzeitig, diese eigentlich widersprüchlichen Pole miteinander zu vereinen. Durch diese von Kontrasten geprägte Atmosphäre kann bei den anwesenden Personen eine Stimmung hervorgerufen werden, die bewirkt, dass sie sich als zusammengehörig empfinden, obwohl sie einander nicht oder kaum kennen – dies ist beispielsweise die Voraussetzung für ein oberflächliches, aber heilsames ›Gespräch am Tresen‹, wie Marc Augé schreibt.284 So haben Stimmung und Atmosphäre gemäß David Wellbery, Hans-Georg von Arburg und Sergej Rickenbacher »eine integrative Funktion«, welche Menschen »zu einer in sich geschlossenen Ganzheit [vereinigen], ohne daß sich Regeln für diese Zusammenfügung angeben ließen.«285 In den folgenden Kapiteln soll daher in Anlehnung an Hans-Georg von Arburg und Sergej Rickenbacher gefragt werden, auf welche Weise die in der Literatur heraufbeschworene KaffeehausAtmosphäre und die damit ausgelöste Stimmung »jene universale Einheitsvorstellung auf[ruft], die ein verlorenes Ganzes des Lebens zu kompensieren verspricht.« So könne Stimmung »als ein widersprüchlicher Zustand zwischen Harmonie und Dissonanz« im Sinne einer »Eintracht im Widerstreit« definiert werden.286 Der Begriff ›Aura‹ hingegen soll hier insbesondere dann eine Rolle spielen, wenn es darum geht, das Kaffeehaus als architektonisches Ganzes zu betrachten, das aus nostalgischen Gründen eine hohe Bedeutung in Bezug auf persönliche Erinnerungen an eine bestimmte, im Kaffeehaus verlebte und mit Emotionen verknüpfte Zeit innehat, so dass es einer Tilgung von Lebenszeit gleichkommt, wenn jenes Kaffeehaus abgerissen oder renoviert wird. Im Folgenden sollen sowohl letztgenannte Annahmen zu den Themenkomplexen ›Fiktionalität‹, ›Referentialität‹ und ›Atmosphäre‹ überprüft als auch die bisherigen kulturwissenschaftlichen und gattungstypologischen Ansätze zusammengefasst werden. Hierbei soll der Versuch gemacht werden, diese auf das Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ zu übertragen und damit eine eigene Genredefinition zu wagen. Ausgegangen werden soll dabei von den Desideraten und Thesen, welche von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche und Hildegard Kernmayer für die Textsorten ›Kurzproganisation dienen dazu, die Organisationskultur in einer Atmosphäre zum Ausdruck zu bringen und wirken so zusätzlich verstärkend auf die Stabilisierung der Atmosphäre.«, in: Scherm/Julmi: »Einfluss der Atmosphäre«, S. 73. 284 Vgl. Marc Augé : Éloge du bistrot parisien, Paris 2015. 285 Wellbery: »Stimmung«, S. 705. Vgl. auch »Neben ihrer atmosphärischen, objektbezogenen Bedeutung umfasst ›Stimmung‹ als emotionale Grösse auch eine spezifische Ich-Qualität, die sich in einem undifferenzierten und ungerichteten ästhetischen Empfinden des Subjekts äussert. […] ›Stimmung‹ kann daher zusammenfassend als ein undifferenziertes und ungerichtetes ästhetisches Empfinden bezeichnet werden, bei dem ein Subjekt entweder ganz bei sich ist oder in welchen es sich mit anderen Subjekten verbunden und mit dem Objekt seiner Empfindung vereinigt weiss. In diesem Empfinden ist ein Integrationsversprechen angelegt, das bis zur Ich-Entgrenzung und zur All-Einheit führen kann.«,in: von Arburg/Rickenbacher: »Einleitung«, S. 10. 286 von Arburg/Rickenbacher: »Einleitung«, S. 10f.
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sa‹ beziehungsweise ›Feuilleton‹ formuliert wurden. Im Rahmen dessen raten sie aufgrund der »Vielfalt der Kurzprosa-Spielarten und deren mannigfaltige[r] Interferenz« davon ab, Texte der ›Kleinen Prosa‹ »nach trennscharfen Gattungsbegriffen mit klar definierten Merkmalkomplexen«287 zu kategorisieren und empfehlen vielmehr, die Untersuchung statt auf einzelne ›Subgenres‹ im Sinne der ›generische Familienähnlichkeit‹ auf ein »vernetztes generisches Textfeld«288 auszudehnen, in dem die »vielfältigen Schreibweisen, unterschiedlichen Verdichtungszonen und stabilisierenden Traditionslinien«289 sichtbar werden können. So könnte dann im weiteren Verlauf der Begriff ›Kleine Prosa‹ – und übertragen derjenige der ›Kaffeehausliteratur‹ – nicht nur als generischer »Sammelbegriff«, sondern vielmehr »programmatisch als Denkfigur« eingeführt werden.290
IV.5.
Zwischenfazit: Das Genre der ›Kaffeehausliteratur‹
In den vorangegangenen Unterkapiteln zum Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ und dessen Merkmalen wurden Zwischenergebnisse formuliert, in denen die kulturwissenschaftlichen Konzepte und die Voruntersuchungen aus der Forschungsliteratur für das Vorhaben dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden. Im weiteren Verlauf der Arbeit soll die Genrezuordnung der untersuchten Texte durch ein Zwei-Ebenen-Modell (Abb. 1) illustriert werden: Auf der ersten, grundlegenden Ebene, welche man sich anhand eines Modells aus drei Ringen vorstellen kann, wird die Textlänge beschrieben, wobei von innen nach außen die Länge der Texte zu- und die ›Genre-Reinheit‹ abnimmt. Auf der zweiten, darüber liegenden Ebene werden vier Merkmalsgruppen unterschieden, in welche die inhaltlich-formalen Merkmale eingruppiert werden sollen und die sich in der folgenden Kapitelstruktur widerspiegeln. Ziel der Textanalyse ist es, das Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ mithilfe dieses Zwei-Ebenen-Modells näher zu beschreiben, indem die ausgewählten Texte gemäß ihren charakteristischen Merkmalen im Modell verortet werden. Zusammenfassend lassen sich nun folgende Thesen formulieren, die im weiteren Verlauf durch die Textanalyse überprüft werden müssen. Im Sinne Max Webers sollen solche Texte als ›Idealtypen‹ der ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden, welche der ›Kleinen Prosa‹ angehören, also Feuilletons, kurze autobiographische Texte, Essays, 287 Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart, S. 17f. Vgl. auch: »Der nivellierenden Beschreibungen der Gattungstheorie scheint sich das Feuilleton ob seiner ›stoffliche[n] Unbegrenztheit‹, seiner formal-stilistischen Verwandlungsfreiheit und seiner Heterogenität per se zu entziehen. In seinem Oszillieren zwischen Referentialität und Selbstreferentialität, seiner mehrfachen diskursiven Bezogenheit sowie vor allem dem ihm eigenen spielerischen Umformen ›fremder‹ Genera unterwirft es nicht nur publizistische und literarische Formen seinem Sprachspiel, es scheint vielmehr ›mit allen feststehenden Kategorien der Gattungstheorie und -geschichte [selbst] sein Spiel zu treiben, dazu geschaffen, ihre taxomische Sicherheit, die Verteilung der Klassen und die kontrollierbaren Benennungen der klassischen Nomenklatur zu erschüttern‹.«, in: Kernmayer: »Sprachspiel nach besonderen Regeln«, S. 523. 288 Althaus/Bunzel/Göttsche: »Ränder, Schwellen, Zwischenräume«, S. X. 289 Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart, S. 18. 290 Althaus/Bunzel/Göttsche: »Ränder, Schwellen, Zwischenräume«, S. XI.
IV. ›Kaffeehausliteratur‹ als literarisches Genre
Glossen und Kurzgeschichten, die (vorgeblich) im Café entstanden sind oder selbiges thematisieren. Das Café stellt dabei nicht nur den Schauplatz der Handlung dar, sondern spielt in vielen Fällen als besonderer, zum Teil personifizierter Akteur eine eigene Rolle. Diese prototypischen Texte sind im innersten Ring angeordnet. Direkt darauf folgen im zweiten Ring Texte, welche kleine Ausschnitte respektive Fragmente aus längeren Schriften oder Romanen eines Autors oder einer Autorin darstellen. Diese stimmen im Format nicht völlig mit dem der ›Kleinen Prosa‹ überein, weisen aber inhaltlich und stilistisch diejenigen Merkmale auf, die bereits für den ›Idealtypus‹ formuliert wurden; zudem können einzelne Ausschnitte aus diesen längeren Texten meist aufgrund ihres episodischen Charakters für sich alleine stehen und ohne den sie umgebenden Kontext gelesen werden, so dass sie sich dem Format der ›Kleinen Prosa‹ annähern. Dagegen befinden sich mit einigem Abstand zu den ersten beiden Ringen im dritten Ring längere Texte, wie zum Beispiel Romane, in denen ein Café den Schauplatz des Geschehens darstellt, in welchen die oben genannten inhaltlichen und formalen Merkmale nicht oder schwächer ausgeprägt sind. Insbesondere in den beiden zuerst genannten ›Typen‹ der ›Kaffeehausliteratur‹, also in dem ›Idealtypus‹ und dem Typus des zweiten Ringes, werden die Atmosphäre, persönliche Erinnerungen und autobiographische Erfahrungen thematisiert, die mit dem Kaffeehaus, von dem die Rede ist, in Verbindung stehen. Besondere Relevanz haben auch das Themenfeld des urbanen Schreibortes und die Beeinflussung der Schriftsteller und Schriftstellerinnen und ihrer Texte durch diesen Ort sowie die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Genre. So finden sich an vielen Stellen poetologische Überlegungen ebenso wie die genaue Herausarbeitung des Entstehungsprozesses eines Textes entweder durch die Inszenierung einer vorgeblichen ›Leichtigkeit‹ des Schreibens291 oder durch die Kennzeichnung des Schreibens als ›handwerklichen Beruf‹ und damit als ›harte Arbeit‹. In vielen Texten wird im Rahmen eines autofiktionalen, performativen Schreibprozesses über verschiedene Cafés berichtet, wobei die Texte unablässig und meist bewusst zwischen Fiktion und Wirklichkeit oszillieren. Untersucht werden soll auch die These, dass in den Texten ›Atmosphäre‹ vermittelt wird, indem die sehr dichte Schilderung von Sinnesreizen und Synästhesien, die selbstreflexive Wahrnehmung und die Thematisierung des flüchtigen Erlebens eines Augenblicks beziehungsweise der Einmaligkeit einer Situation unter Verwendung eines subjektiv-autobiographischen Stils einen großen Raum einnehmen. Dabei bedingt die ästhetische Schilderung des Augenblicks und der Atmosphäre die Literarizität der Texte und unterscheidet sie von ›gewöhnlicher‹ Publizistik.
291
Vgl. Lischer: »Poetologisches im Feuilleton der 1920er Jahre«, S. 629f.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Abbildung 1: Das Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ im Zwei-Ebenen-Modell
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Viele der im Folgenden behandelten Autoren und Autorinnen beschreiben in ihren Texten, wie ihr Leben, ihr Werk und ihr schriftstellerischer Erfolg mit dem Kaffeehaus in Verbindung stehen.1 So wird das Kaffeehaus in einigen Fällen aufgrund der »zeitliche[n] Zentrierung von Textproduktion und literarischer Rezeption an ein und demselben Ort« zum prägenden, teilweise sogar schicksalhaften Ort im Sinne einer »Drehscheibe des literarischen Lebens«2 . Bei der Analyse der Texte kann daher eine reziproke Wirkung ausgemacht werden: Einerseits bildete sich der ›Textort Kaffeehaus‹ erst aus der Literatur heraus, indem er – zum Teil wahrheitsgemäß, zum Teil aber auch klischeehaft oder nostalgisch verklärt – beschrieben und nachhaltig geprägt wurde. In der Folge entwickelte er sich zu einem Schreibort, welcher eng mit der Biographie der jeweiligen Autoren und Autorinnen verknüpft ist und in den literarischen Porträts dargestellt und verewigt wurde, worin sich die individuelle Bedeutung des Ortes zeigt. Andererseits beeinflussten der Ort und seine Gäste dieselben Personen durch die vorherrschende Atmosphäre und inspirierten wiederum die entstandenen ›Kaffeehaustexte‹3 , die der Nachwelt erhalten geblieben sind, auch wenn das Lokal nicht mehr existiert. Deutlich wird hier die in Kapitel IV.3.3 schon beschriebene Hybridität der Texte, deren Darstellungen von dem Kaffeehaus und dessen städtischer Umgebung weder rein fiktiv noch völlig an die realen Gegebenheiten angelehnt sind, sondern eine literarische Eigendynamik vorweisen, welche den Texten Literarizität verleiht.4
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In den folgenden Textanalysen sind mit den erwähnten Namen wie beispielsweise »Hemingway«, »Lasker-Schüler« oder »Augé« das jeweilige erzählende Ich des Textes gemeint; Autoren und Autorinnen werden in der Analyse nicht mit ihrem fiktiven Ich gleichgesetzt; ebenso wenig werden die anderen im Text auftretenden Figuren mit Entsprechungen in der Wirklichkeit gleichgesetzt. Portenkirchner: »Die Einsamkeit am ›Fensterplatz‹ zur Welt«, S. 48. Die hier verwendeten Begrifflichkeiten ›Textort‹ und ›Kaffeehaustext‹ sind angelehnt an Andreas Mahler, der die Begriffe »Textstadt« (die Stadt wird durch die Texte im Rahmen eines Imaginationsprozesses erst hervorgebracht) und »Stadttext« (Texte, in denen die Stadt ein vorherrschendes Thema ist; Darstellung beziehungsweise Nachahmung einer bereits existenten Stadt) einführt; vgl. Andreas Mahler: »Stadttexte – Textstädte«, in: ders. (Hg.): Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg 1999, S. 11-36, S. 12. Vgl. Jäger/Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, S. 36.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Im Folgenden werden – jeweils begleitet von kulturwissenschaftlichen Einführungen zur Autobiographik, zum Konzept des Schreibortes sowie zur Großstadt- und Raumthematik – ausgewählte literarische Texte untersucht, in denen die spezielle ›Atmosphäre‹ des Kaffeehauses beschrieben wird sowie autobiographische und performative Elemente enthalten sind, welche mit dem Kaffeehaus in Verbindung stehen. So soll insbesondere das Kaffeehaus als großstädtischer Ort unter die Lupe genommen sowie eruiert werden, inwiefern Formen von urbaner Mentalität und Atmosphäre Eingang in die Texte gefunden und damit die feuilletonistische Schreibweise beeinflusst haben. Zudem werden Aussagen der ›Kaffeehausautoren und -autorinnen‹ in Bezug auf ihren Schreibort und ihre Form des Schreibens analysiert und parallel dazu literarische Texte interpretiert, welche vermeintlich vom Ort des Schreibens beeinflusst worden sind.5
V.1.
Autobiographische Rückblicke: Leben, Schreiben und Erinnern im Café
À partir de 1970, retour d’Afrique, s’ouvrit pour moi une longue période parisienne de stabilité professionnelle dans le cadre de l’École des hautes études. […] l’emplacement des salles de séminaires, notamment, changea souvent, entraînant des changements de bistrots. Le bistrot, en effet, était le prolongement naturel du séminaire. […] et je crois pouvoir dire qu’il y avait un lien entre la qualité des séminaires et celle de bistrots. […] alors votre vie se résume à quelques débits de boissons? Et je réponds sans sourciller : les bistrots (non tous les bistrots, mais quelques-unes, et je voudrais m’interroger, justement, sur ce qui les distingue des autres) ont inscrit en moi ce que les chiromanciens appellent une ligne de vie. La ligne de vie, sur la paume exhibée, se dessine plus ou moins nettement, parfois d’un trait net et bien creusé, parfois avec des zones moins franches et plus brouillées. Eh bien, je continue à filer la métaphore et considère que notre passé est comme une main ouverte, mais une main un peu particulière sur laquelle on peut lire plusieurs lignes de vie; la ligne des bistrots est l’une d’elles. […] Mais sur la main du passé, ma main métaphorique, la ligne des bistrots est transversale et recoupe toutes les autres.6 Der Anthropologe Marc Augé verknüpft in seiner autobiographischen Studie Éloge du bistrot parisien (2015) sein Leben ganz explizit mit den Pariser Bistros, mit denen er die unterschiedlichsten Erinnerungen an seine Jugend- und Studentenzeit in den 1940er und 1950er Jahren bis hin zu der Zeit in den siebziger und achtziger Jahren verbindet, als er selbst Hochschullehrer an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales
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An dieser Stelle scheint der Hinweis darauf sinnvoll zu sein, dass in dieser Arbeit in keinster Weise nachgewiesen werden soll, ob ein Text ›wirklich‹ im Kaffeehaus entstanden ist. Vielmehr soll es darum gehen, die ausgewählten literarischen Texte selbst unter einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zu analysieren, um ihre ästhetischen Qualitäten sichtbar zu machen und verschiedene Formen medialer Verhandlung von Wirklichkeit mit Blick auf das literarische Kaffeehaus zu untersuchen. Augé : Éloge du bistrot parisien, S. 27ff. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »EBP« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
war und viel Zeit in den verschiedenen Bistros verbracht hat. So setzt er zum einen die Qualität der Lokale mit denen der Seminare gleich beziehungsweise stellt im Sinne einer Interdependenz einen Zusammenhang zwischen beiden her, und verwendet zum anderen das Bild der Lebenslinie, die sich in der Handfläche eines jeden Menschen individuell abzeichnet, um seine enge persönliche Verbindung mit den Pariser Bistros darzustellen: So gebe es in seiner ›metaphorischen Hand‹ eine eigens den Bistros gewidmete Linie, die nicht parallel zu den anderen Handlinien verlaufe und somit das Leben passiv begleitet habe, sondern vielmehr die anderen Linien kreuze und damit aktiv in sein Leben eingegriffen und entscheidend mitgewirkt habe. Auch in Horst Bieneks Band Werkstattgespräche mit Schriftstellern (1962), in dem er acht Schriftsteller und die Schriftstellerin Marie-Luise Kaschnitz hinsichtlich ihres Arbeitsplatzes und ihrer Schreibgewohnheiten befragt, ist das Café als Ort des Schreibens und der Inspiration für mehrere von ihnen relevant. Bienek versucht in seinen Interviews einerseits einen tieferen Zugang zu deren literarischem Werk zu erlangen, indem er den »Phasen des schöpferischen Prozesses« nachgeht, um die »Umwelt, die Atmosphäre, in der er [der Schriftsteller] arbeitet, kennenzulernen«7 . Andererseits möchte er darstellen, dass die Autoren Schreiben als Beruf und harte Arbeit, also als eine »Art Handwerk« empfinden8 , wohingegen Marie-Luise Kaschnitz, mit der Bienek über ihr autobiographisches Werk Haus der Kindheit (1956)9 spricht, äußert, dass ihr das Schreiben leicht von der Hand geht. Auf seine Frage, ob sie darin »wirkliche biographische Erlebnisse« verarbeitet habe, antwortet sie: Ja, jedes Erlebnis im ›Haus der Kindheit‹, in dem sonderbaren Museum, ist biographisch. Mit dem erzählenden Ich bin ich allerdings nicht identisch. Die Ansichten dieser etwas pedantischen Dame sind nicht immer meine Ansichten. Biographisch, d.h. kennzeichnend für meine zeitweilige Entfernung aus dem Gewohnten, ist das Leben in dem dort geschilderten Kaffeehaus, in dem man nichts von der Außenwelt erfährt.10 Kaschnitzʼ Überlegungen zur Faktizität des Erzählten reihen sich in die metafiktionalen und poetologischen Aussagen vieler hier besprochener Autorinnen und Autoren ein: Die Frage danach, inwiefern die Geschichte der Ich-Erzählerin mit der Biographie der Autorin übereinstimmt, beantwortet Kaschnitz einerseits im Sinne einer klaren Absage an die Identität von Figur und eigener Person, andererseits betont sie auch den fließenden Übergang zwischen Fakt und Fiktion, der sich zwischen den abweichenden ›Ansichten dieser etwas pedantischen Dame‹ und dem Kaffeehaus bewegt, welches für sie als abgeschirmter Rückzugsort fungiert und sich konkret an den wirklichen Schauplätzen ihres ihres eigenen Lebens orientiert. Neben dieser gewollten Hybridität wird 7 8
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Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. Mit 15 Photos auf Tafeln, München 1962, S. 8. Im Interview mit Friedrich Dürrenmatt sagt dieser zu Bienek: »Ich glaube, daß ich ein Arbeiter, ein Handwerker bin. Schreiben ist für mich nicht so sehr eine Sache der Stimmung. Ich muß zum Arbeiten zuhause sein. Ich kann eigentlich nur in meiner Schreibstube arbeiten. […] Ich fasse Schriftstellerei streng als einen Beruf auf, als meinen Beruf. Ich mußte sehr vieles schreiben, weil ich Geld verdienen mußte, um mich und meine Familie durchzubringen.«, in: Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern, S. 108. Vgl. Marie-Luise Kaschnitz: Das Haus der Kindheit, München 1995. Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern, S. 36.
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in dem Interview auch deutlich, dass sie als jung verheiratete Frau das Schreiben nicht als Beruf, sondern vielmehr als eine Art Hobby oder heimliche Leidenschaft zwischen Haushalt und Familie ausgeübt hat und sie sich die Zeit dafür ›absparen‹ musste. Das Kaffeehaus wird von ihr in diesem Zusammenhang als relevanter und geschätzter Ort erwähnt, an dem das Schreiben möglich gewesen ist: Ich habe oft heimlich, im Café-Haus, zwischen den Einkäufen, gearbeitet. Ich kann nicht sagen, daß ich jetzt, wo ich, abgesehen von Vorlesereisen, Besuchen und einer großen Korrespondenz, unbegrenzte Muße habe, mehr zustande bringe als damals in der kurzen, gestohlenen Zeit.11 So hat das Kaffeehaus ihr für ihre schriftstellerische Arbeit einen zwar geschützten, jedoch gut erreichbaren öffentlichen Raum geboten, den sie als Schauplatz und Handlungsträger inklusive des Kellners auf das Haus der Kindheit übertragen hat. Auch in Walter Benjamins autobiographisch gefärbter »Berliner Chronik«, die er zu Beginn der 1930er Jahre zu schreiben beginnt, werden die Cafés im Berliner Westen und in Paris wie bei Augé und Kaschnitz eng mit seinem Leben und seiner schriftstellerischen Tätigkeit verknüpft. So seien die Cafés nicht nur ein ›tägliches Lebensbedürfnis‹ gewesen, sondern hätten sich in Paris zu einem persönlichen ›Laster‹ entwickelt, wo es ›wirkliche‹ Kaffeehäuser gegeben habe: Dies war die Zeit, in der die berliner [!] Cafés für uns eine Rolle spielten. Ich entsinne mich noch des ersten, das ich mit Nachdruck in mich aufgenommen habe. […] Noch war die Zeit nicht gekommen, in der der Cafébesuch mir zum täglichen Lebensbedürfnis wurde und schwerlich ist es Berlin gewesen, das dieses Laster in mir großgezogen hat, so gut es sich auch später den Lokalen dieser Stadt hat anpassen können, welche ein viel zu angestrengtes und bewußtes Genußleben führt, um wirkliche Caféhäuser zu kennen.12 Benjamin knüpft auch seine Erinnerungen an den Beginn des Kriegsausbruchs 1914 eng an die Treffen mit seinen Bekannten im Café des Westens, in dem sie eine ›Gruppe für sich‹ gewesen seien.13 Trotz seiner engen emotionalen Bindung an dieses Café zeigt sich auch in seiner Rückschau wieder eine Ambivalenz: Als er im Ausland in der Zeitung liest, dass das Café des Westens geschlossen worden sei, bekennt er: »Sehr heimisch war ich darinnen nie. […] Sehr viel vertrauter wurde mir das benachbarte Café, dessen Anfänge noch in die Zeit fallen, von der ich hier spreche. Das ist das Prinzeßcafé.« In seinem »Versuch einer ›Physiologie der Caféhäuser‹« unternimmt er eine Trennung zwischen »Berufs- und Vergnügungslokalen« und stellt fest, dass die »beiden Funktionsarten« ineinander übergehen. Als Beispiel beschreibt er die Wandlung des Romanischen Cafés, das zunächst die Bohème aus dem Café des Westens in sich aufnimmt, als Letzteres seine Stammgäste kurz vor Kriegsbeginn vor die Tür setzt, und wenig später zu einem bürgerlichen Café wird, als die Konjunktur in Deutschland von neuem ansteigt und die
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Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern, S. 44. Walter Benjamin: »Berliner Chronik«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. VI, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1985, S. 465-519, S. 480f. Vgl. Benjamin: »Berliner Chronik«, S. 481.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
»Bohème zusehends die bedrohliche Atmosphäre« verliert.14 So verflicht Benjamin alle wichtigen Ereignisse, Daten und Zäsuren sowie die verschiedenen Menschen, mit denen er zusammen ist, mit jeweils einem Kaffeehaus in Berlin und lokalisiert so seine Erinnerung an diesen Schauplätzen. Neben dem Bewahren von Erinnerungen üben die Cafés bei Benjamin auch eine Funktion als Orte des Schicksals aus, in denen ihm durch Begegnungen mit bestimmten Menschen oder die Beobachtung eines bestimmten Geschehens Ideen und Einfälle kommen, die sich auf sein gesamtes Leben auswirken sollten. Dies beschreibt er gemäß Martina Wagner-Egelhaaf im Rahmen eines »komponierten Bildes«, dessen Elemente sich »in erster Linie nur auf sich selbst und aufeinander zu beziehen« scheinen15 : Ich denke an einen Nachmittag in Paris, dem ich Einsichten in mein Leben verdanke, die blitzartig, mit der Gewalt einer Erleuchtung mich überfielen. […] An den Nachmittag, von welchem ich reden will, saß ich im Innenraum des Cafés des deux magots bei St. Germain des Prés […]. Da kam mit einem Mal und mit zwingender Gewalt der Gedanke über mich, ein graphisches Schema meines Lebens zu zeichnen und ich wusste im gleichen Augenblick auch schon genau wie das zu tun sei. […] Das war es, was der Aufriß meines Lebens, wie er an jenem pariser Nachmittag vor mir entstand, mir zeigte. So treten auf dem Hintergrund der Stadt die Menschen, die um mich gewesen waren, zur Figur zusammen.16 Auch Benjamin selbst stellt allgemeine Reflektionen zum Genre der Autobiographie an und vergleicht sie mit der Schilderung von ›Erinnerungen‹: Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar. Und dieses hier ist ganz gewiß keine, auch nicht für die berliner Jahre, von denen hier ja einzig die Rede ist. Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede.17 Dabei beschreibt Benjamin Martina Wagner-Egelhaaf zufolge nie »die Faktizität des Gewesenen«, weil es »weniger um das Erinnerte selbst als um den sich im Erinnerten spiegelnden Vorgang der Erinnerung« gehe im Sinne einer Erinnerung als ›sprachlichem Prozess‹.18 So ist die »Berliner Kindheit« für Michaela Holdenried ein »vielfach verschachteltes Reservoir sehr persönlicher Erinnerungen, die zugleich umgearbeitet werden zu einer allgemeinen Poetologie der Erinnerung.«19 Auffällig sei in Benjamins Werk wie auch in anderen autobiographischen Texten die »Bindung der Erinnerung an Orte« im Sinne eines autobiographischen Verfahrens: So würden ausgewählte Orte zu ›Schwellenorten‹, fungierten als »Scharniere zwischen drinnen und draußen«20 und »Koordinationsgerüst für die Wiedergabe der an sie geknüpften Erfahrungen«. Dabei 14 15 16 17 18 19 20
Benjamin: »Berliner Chronik«, S. 482. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart/Weimar 2000, S. 183. Benjamin: »Berliner Chronik«, S. 490ff. Benjamin: »Berliner Chronik«, S. 488. Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 184. Michaela Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 229. Holdenried: Autobiographie, S. 229f.
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werde der betroffene Raum »zum eigenwertigen Bestandteil der erzählerischen Anlage selbst« und als »essentielle Erfahrungsdimension sichtbar gemacht.«21 In Anlehnung an die Ausführungen Holdenrieds sowie an Gaston Bachelards Konzeption einer ›einfachen Lokalisierung der Erinnerungen‹22 lässt sich für Benjamins autobiographisches Schreibverfahren konstatieren, dass er seine Erinnerungen explizit mit dem Raum verbindet, wo sich das erinnerte Ereignis zugetragen hat, sowie mit dem besonderen Augenblick und dem ausgewählten Ereignis als herausgehobenem Moment im zeitlichen Verlauf des Lebens. Dahingegen sieht er die Autobiographie als eine auf Kontinuität und auf Dauer angelegte Art des Schreibens beziehungsweise als Textsorte an, in der viele einzelne Erinnerungen zu einem Ganzen verwoben werden. So beleuchtet er beispielsweise mithilfe der Nennung der von ihm besuchten Kaffeehäuser schlaglichtartig einzelne Momente in seinem Leben, die ihm besonders erwähnenswert erscheinen in Zusammenhang mit den Orten, die gleichfalls wichtig für sein persönliches Leben gewesen sind. Auf die Beziehung zwischen Erinnerung und Raum wird später in Kapitel V.1.6 noch einmal einzugehen sein. Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller verknüpfen wie die zuletzt genannten Autoren und Autorinnen ihr Leben mit den Cafés, in denen sie viel Zeit verbracht haben oder erwähnen zumindest bestimmte Cafés im Zusammenhang mit wichtigen Stationen in ihrem Leben. Daher soll in den anschließenden Kapiteln versucht werden, einen theoretischen Rahmen für die besondere Form des hier betrachteten ›autobiographischen Schreibens‹23 zu entwerfen, um der Problematik, die sich im Zusammenhang mit dem Genre der Autobiographie ergeben kann, zu begegnen. Gezeigt werden soll dabei, dass in den untersuchten Texten aufgrund autobiographischer Bezüge ein permanentes Oszillieren zwischen Fiktion und Wirklichkeit stattfindet, welches als ein konstitutives Merkmal der ›Kaffeehausliteratur‹ vorausgesetzt werden soll. So können sich gemäß Ulrike Zitzlsperger »biografisch relevante und literarisierte Räume überschneiden, erstere direkt auf die Fiktionalisierung einwirken und die enge Bindung an historische Hintergründe und wirkliche Orte verstärken«.24 In der Folge werden Schriftsteller und Schriftstellerinnen selbst zum Gegenstand ihrer Erzählungen, so dass sich Autorschaft gemäß Matthias Schaffrick und Marcus Willand in ein »autofiktionales Identitätsspiel« verwandelt, aus dem heraus sich »Selbstfiktionalisierungen (Autofikti-
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Holdenried: Autobiographie, S. 48. Vgl. »On croit parfois se connaître dans le temps, alors qu’on ne connaît qu’une suite de fixations dans des espaces de la stabilité de l’être, d’un être qui ne veut pas s’écouler, qui, dans le passé même quand il s’en va à la recherche du temps perdu, veut ›suspendre‹ le vol du temps. Dans ses mille alvéoles, l’espace tient du temps comprimé. L’espace sert à ҫa. […] Ici l’espace est tout, car le temps n’anime plus la mémoire. La mémoire – chose étrange! – n’enregistre pas la durée concrète […]. L’inconscient séjourne. Les souvenirs sont immobiles, d’autant plus solides qu’ils sont mieux spatialisés.«, in : Gaston Bachelard : La poétique de l’espace, Paris 2009, S. 27f. Vgl. »Der offenere Begriff des ›autobiographischen Schreibens‹ trägt der Pluralität der auftretenden Formen, der für die Moderne geradezu programmatischen Unabgeschlossenheit sowie der zunehmend in den Blick geratenen Rolle des autobiographischen Schrift-Mediums selbst Rechnung.«, in: Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 191. Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 4.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
on) wie auch Selbstrealisierungen oder -objektivierungen« entwickeln können.25 Wenn also bei der folgenden Textanalyse die Namen der Autorinnen und Autoren genannt und deren Empfindungen und Handlungen rund um ein Kaffeehaus beschrieben werden, geschieht dies im Bewusstsein des literarisch-autofiktionalen Charakters26 der Texte, in denen das erzählende Ich meist nach den Verfasserinnen und Verfassern benannt sind. Zu keiner Zeit werden das ›erzählende‹ Ich und reale Personen gleichgesetzt; vielmehr wird die doppelte sprachliche Funktion des Wortes ›Ich‹ betont, welches auf der einen Seite für die im Text beschriebene, zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum agierende Person steht; auf der anderen Seite markiert es den performativen Akt der Aussage, das heißt, das Ich ist die »Instanz, die spricht bzw. schreibt«.27 Diese Doppelung beziehungsweise Grenzverwischung zwischen handelndem Subjekt und beschriebenem Objekt soll im folgenden Kapitel beleuchtet und so das Genre der Autobiographie28 für diese Arbeit fruchtbar gemacht werden.
V.1.1.
Vorbemerkungen zu autobiographischen Textsorten
Das hier betrachtete literarische Genre zeichnet sich durch seine charakteristische Doppelung zwischen Subjekt und Objekt aus, da es die Autorinnen und Autoren selbst sind, die ihr eigenes Leben beschreiben. So befindet sich die Autobiographie durch ihre »zweifache Lesbarkeit als historisches Zeugnis und als literarisches Kunstwerk« laut Martina Wagner-Egelhaaf nicht nur an einer »Randposition des genuin literaturwissenschaftlichen Feldes«29 , wo es den Spalt zwischen Gehalt und Rede beziehungsweise »zwischen Referenz und Performanz«30 markiert, im Sinne eines ›Grenzgängers‹ zwischen geschichtlichen Fakten und Literatur. Vielmehr entfacht das Genre selbst per se eine stetige Diskussion, die zwischen einer neutralen Berichterstattung und der persönlichen Wahrnehmungsperspektive der Schreibenden hin- und herpendelt, da es eine vollständige Objektivität aufgrund der Identität von Autor oder Autorin und beschriebener Person nicht geben kann. Auch Christian Klein betont den fließenden Übergang zwischen den drei Komponenten der von ihm als ›biographische Trias‹ betitelten Einheit von Autorin oder Autor, Gesellschaft und literarischem Werk, da diese reziprok aufeinander wirkenden und sich gegenseitig beeinflussenden Elemente aufgrund des konkreten gesellschaftlichen, kulturellen und räumlichen Umfelds, in dem die Schriftsteller und Schriftstellerinnen leben und arbeiten, nicht voneinander zu trennen seien: 25
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Matthias Schaffrick/Marcus Willand: »Autorschaft im 21. Jahrhundert. Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung«, in: dies. (Hg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft, Berlin/Boston 2014, S. 3150, S. 55. Vgl. Zipfel: »Autofiktion«, S. 302f. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 11. Zur Definition der ›Gattung‹ Autobiographie vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. 1994, S. 14; vgl. auch Paul de Man: »Autobiographie als Maskenspiel«, in: ders.: Die Ideologie Des Ästhetischen, hg. v. Christoph Menke, Frankfurt a.M. 1993, S. 131-146; zur Funktion und Konstruktion des ›Autors‹ vgl. Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: ders: Schriften zur Literatur, hg. v. Daniel Defert/Franҫois Ewald, Frankfurt a.M. 2003, S. 234-270. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 1. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 12.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Die Aufhebung der Grenze zwischen Realität und Authentizität einerseits sowie Inszenierung, Künstlichkeit, Gemachtheit oder Bedingtheit eines Künstlerlebens andererseits ist die besondere Erkenntnis der soziologischen Betrachtungen. Diese Grenzverwischung eröffnet neue Perspektiven […], nicht zuletzt deshalb, weil sie die Interdependenzen zwischen den Größen der biographischen Trias betont beziehungsweise deren Abgeschlossenheit aufhebt.31 Hingegen unterstreicht Jürgen Joachimsthaler die Relevanz einer (künstlichen) Trennung zwischen Subjekt und Objekt innerhalb der Autobiographie: Ihm zufolge ist es notwendig, das Subjekt in ein erinnertes und ein sich erinnerndes Ich aufzuspalten, damit einerseits Erinnerung überhaupt möglich ist, das heißt damit die Autorinnen und Autoren das erinnerte Ich als literarisches Produkt und mentales Abbild ihrer selbst erschaffen können; und andererseits, damit das sich erinnernde Ich in Widerstreit mit seinem früheren Ich treten kann und gleichzeitig so autonom bleibt, dass es einen künstlerischen Mehrwert generieren kann.32 In diesem Zusammenhang akzentuiert Ernst Cassirer die Unmöglichkeit einer (fixen) Grenze zwischen den Polen, da diese die künstlerische Produktivität einschränke und auf »bloße Nachahmung oder Wiederholung« setze.33 Vielmehr müssten Subjekt und Objekt fortwährend ineinander verschwimmen und gleichzeitig in ständige Interaktion, also in Reibung treten, um produktiv zu werden und Neues zu schaffen: Auch in der Sprache, auch in der Kunst […] herrscht nicht ein einfaches Gegenüber von ›Ich‹ und ›Welt‹. Auch hier bildet sich die Anschauung beider in ein und demselben Prozeß aus, der zu einer ständig fortschreitenden ›Auseinandersetzung‹ der beiden Pole führt. […] Kein Künstler kann die Natur darstellen, ohne daß er, in dieser Darstellung und durch sie, sein eigenes Ich zum Ausdruck brächte […]. Subjektives und Objektives, Gefühle und Gestalt müssen ineinander übergehen und völlig in einander aufgehen, wenn ein großes Kunstwerk entstehen soll. Daraus aber ergibt sich, daß und warum das Werk der Kunst niemals eine bloße Abbildung des Subjektiven oder Objektiven, der seelischen oder der gegenständlichen Welt sein kann, sondern daß sich hier eine echte Entdeckung beider vollzieht […].34 So würden »die wahrhaft großen Kunstwerke« bei den Betrachtenden den Eindruck hinterlassen, etwas Neuem, bisher Unbekanntem zu begegnen. An dieser Stelle legt der Begriff der ›Produktivität‹ nahe, dass autobiographische Texte immer ein Produkt der Erinnerung, also eines das Gedächtnis betreffenden Prozesses ist, welches sich naturgemäß nicht an alle Vorkommnisse des vergangenen Lebens gleichermaßen intensiv
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Christian Klein: »Lebensbeschreibung als Lebenserschreibung? Vom Nutzen biographischer Ansätze aus der Soziologie für die Literaturwissenschaften«, in: ders. (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002, S. 69-85, S. 85; vgl. auch S. 69. Vgl. Jürgen Joachimsthaler: »Die memoriale Differenz. Erinnertes und sich erinnerndes Ich«, in: Judith Klinger/Gerhard Wolf (Hg.): Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen, Tübingen 2009, S. 33-52, S. 33f. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 34. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 33f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
erinnert. Das nicht unbegrenzt aufnahmefähige Gedächtnis als »Hauptquelle«35 des Autors oder der Autorin trifft also eine Auswahl und beschreibt nur bestimmte Ereignisse des Lebens, sei es, weil jene für besonders relevant gehalten werden, sei es, weil ein bestimmter Zweck damit verfolgt wird. Damit wird der individuelle Vorgang des Erinnerns gemäß Ingrid Aichinger zur »psychologische[n] Grundlage des autobiographischen Prozesses«36 , wobei der Autor oder die Autorin den erwähnten und damit hervorgehobenen Lebenserfahrungen jeweils unterschiedlichen Wert zumesse, wodurch die Autobiographie ihr »bestimmtes Gepräge, eine individuelle Kontur« erhalte.37 So lässt sich auch von einer (Re)Konstruktion des eigenen Lebens sprechen, wenn Schriftsteller und Schriftstellerinnen vermittels ihrer Schreibtätigkeit Erinnerungen niederschreiben, sie damit fixieren und den Lesenden ihre Biographie so präsentieren, wie sie als Person mit ihrem bereits gelebten Leben wahrgenommen werden möchten; gleichzeitig lässt sich die eigene Identität auf diese Weise immer wieder neu ›erschaffen‹, ohne sich auf ein bestimmtes Schema festlegen zu müssen. Zudem dient das erinnernde Schreiben auch dazu, das eigene vergangene Leben für sich selbst einzuordnen und Bilanz zu ziehen.38 Christian Moser und Jürgen Nelles verweisen in diesem Zusammenhang insbesondere auf den schöpferischen Aspekt dieses Prozesses, welcher beim Entwurf der eigenen ›Lebenscollage‹ zum Tragen komme: […] man entwirft Selbstbilder, nach denen man seine Lebensführung einrichtet, um sie nach einiger Zeit gegen andere auszutauschen; oder man kombiniert gar gleichzeitig verschiedene kulturelle Identitätsmuster, um sich – nach Art eines bricolage – ein hybrides patchwork-Selbst zu verfertigen. Das Selbst erscheint unter diesen Umständen nicht als natürliche Gegebenheit, sondern als ein künstliches Konstrukt. Subjektive Identität bestimmt sich nicht mehr als Treue zu einem präexistenten Wesenskern, sie wird vielmehr als das Produkt einer kreativen Tätigkeit angesehen.39 Aus den zuletzt genannten Gesichtspunkten folgt zweierlei: Zum ersten die Prämisse, dass autobiographisches Erinnern auch immer »ein sprachlicher, um nicht zu sagen
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Ingrid Aichinger: »Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk (1970)«, in: Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 170199. S. 180. Aichinger: »Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk (1970)«, S. 181. Aichinger: »Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk (1970)«, S. 184. Sehr deutlich wird dies in Kapitel 1.3, wenn Hemingways Erinnerungen an Paris vorgestellt werden. Christian Moser/Jürgen Nelles: »Einleitung: Konstruierte Identitäten«, in: dies. (Hg.): AutoBioFiktion. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie, Bielefeld 2006, S. 7-19, S. 7. Moser und Nelles kontrastieren die unendliche Flexibilität der Gegenwartskultur, in der eine ›Selbstformung‹ möglich ist, mit Konzepten aus der älteren Forschung, welche »die (Auto-)Biographie als Darstellung und Selbstdarstellung einer Person: als Repräsentation eines vorgegebenen Selbst« begreift. Dagegen stehe die moderne Einsicht, dass »erst das Schreiben der (Auto-)Biographie und das Erzählen der Lebensgeschichte für das Selbst konstitutiv« sei, ebd. S. 8.
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literarischer Akt«40 ist, also dass »Fiktion Bestandteil von Erinnerung ist«41 , da es außer mit Worten keine andere Möglichkeit gibt, Erinnerungen festzuhalten: Erinnerung ist ja als ein Akt der Imagination von frei assoziierender Fiktion nicht immer klar zu unterscheiden: Die Bilder fluktuieren und durchdringen einander. Weil Erfindung, weil Fiktion ohnehin nur möglich ist als Kombination aus Momenten, die bereits bekannt […], durchlebt und erfahren sind, setzen all diese das Bewusstsein durchwabernden Vorstellungen, Reminiszenzen, Halb- und Viertelträume sich aus ohnehin bereits Bekanntem zusammen und wirken so selbstverständlich vertraut und ›erinnert‹ […].42 So ist es einem Menschen kaum möglich, seine Erinnerungen in die Kategorien ›Fakt und Fiktion‹ einzuordnen, weil diese nicht geeignet sind, um jene zu gliedern. Wirklichkeit und Traum, faktengestützte Zeitgeschichte und persönliche Erinnerungen durchdringen sich gegenseitig und werden zu einem neuen Ganzen verwoben, das seinen Reiz durch die ihm inhärente Widersprüchlichkeit und Ambivalenz erhält: Keine Kritik kann Erinnerung davor schützen, manipuliert worden zu sein […], ihre befreiende Stärke liegt gerade im Gegenteil in ihrer Ambivalenz, ihrer systematischen Ungenauigkeit und Unbeherrschbarkeit, der Unberechenbarkeit, mit der Bilder plötzlich durch die Imagination vagieren können.43 Obwohl in autobiographischen Texten also keine eindeutige Trennlinie zwischen Fakt und Fiktion, zwischen dem ›wahren‹ Leben und dem literarischen Abbild des Ichs gezogen werden kann, kann jedoch unterschieden werden zwischen Texten, die ein Bewusstsein für diese Sachlage artikulieren, und denjenigen, bei denen jene Metabetrachtung fehlt. So soll bei der folgenden Textanalyse erstens besonders darauf eingegangen werden, mit welchen sprachlich-literarischen Mitteln die Bewusstseinsmachung dargestellt wird. Zweitens stellt sich daraus abgeleitet die Frage, ob das Postulat der ›Wahrhaftigkeit‹44 noch Relevanz haben kann oder ob autobiographisches Erinnern und Schreiben vielmehr eine Form der Bewältigungsarbeit darstellt, in welcher das Bild des beschriebenen Ichs »unabhängig von seiner referentiellen Richtigkeit«45 existiert. Die Referenz auf die Wirklichkeit ist dabei in ihrer Bedeutung zweitrangig; vielmehr geht es Klaus
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Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 43. Vgl. auch: »[…] das Selbst [wird] einer rückhaltlosen Textualisierung unterzogen. Es existiert nicht jenseits der Texte und der Erzählungen, in denen es zur Darstellung gelangt. Das Selbst ist ein Produkt der literarischen Repräsentationstechniken. […] Es ist durch und durch literarisch.«, in: Moser/Nelles: »Einleitung: Konstruierte Identitäten«, S. 8f. Joachimsthaler: »Die memoriale Differenz«, S. 39. Joachimsthaler: »Die memoriale Differenz«, S. 40. Joachimsthaler: »Die memoriale Differenz«, S. 42. Vgl. »Wenn die Autobiographie nicht im Stande ist, die ›wahre Wirklichkeit‹ zu protokollieren, so hat sie doch ›wahrhaftig‹ zu sein, das heißt nach bestem Wissen und Gewissen zu berichten.«, in: Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 3. Martina Wagner-Egelhaaf geht hier auf die ›Authentizitätserwartung‹ und den ›idealen Anspruch‹ an eine Autobiographie ein, die in vielen Autobiographien früherer Jahrhunderte festhalten, aber bereits in der Antike konterkariert worden seien. Joachimsthaler: »Die memoriale Differenz«, S. 43.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Schenk zufolge um die Realisierung und Veröffentlichung der Erinnerungen im Rahmen eines autobiographischen, performativen Schreibprozesses und damit um eine geplante Inszenierung derselben, die zum Kennzeichen des autobiographischen Erinnerns in der Moderne geworden sei: In moderner Prosa erscheint Erinnerung vielmehr als imaginäre Dimension. Prozesse des Schreibens bilden dabei die Grundbedingung für das Zustandekommen wie auch für die Inszenierung literarischer Erinnerung. […] Nicht mehr der Anspruch auf Wahrhaftigkeit kann zum Maßstab des Schreibens gemacht werden. Vielmehr speist sich moderne Autobiographik aus einer Ambivalenz, die den Inszenierungen von Erinnerung zugehört, wenn sie sich zu einem semiotischen Spiel des Schreibens transformiert.46 So soll bei der nun folgenden Analyse ausgewählter Kaffeehaustexte eben jener Ambivalenz zwischen erinnernder Innenperspektive und neutraler Außenwahrnehmung nachgegangen werden, indem die literarische Realisierung persönlicher Erinnerungen in Bezug auf das im jeweiligen Text erwähnte Kaffeehaus untersucht wird, welches einen Teil der ›erinnerten Wirklichkeit‹ ausmacht. Auch wenn die folgenden Unterkapitel besonders unter dem Blickwinkel des Autobiographischen und des Widerstreits zwischen Fakt und Fiktion gelesen werden sollen, spielt diese Perspektive für die gesamte Arbeit und die Beschäftigung mit dem Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ eine wichtige Rolle. Im weiteren Verlauf von Kapitel V.1 sollen der in verschiedenen Texten geschilderte, performative Schreibprozess analysiert sowie die (Un-)Möglichkeit des Schreibens im Café eruiert werden. Den Abschluss bildet das Unterkapitel V.1.6 über die ›verlorene Atmosphäre‹ und die nostalgische Rückschau auf vergangene Momente, die sich in Erinnerungen an nicht mehr existierende Cafés widerspiegeln – emotional empfundene Verluste, die den früheren Gästen die Bedeutung dieses Ortes noch deutlicher vor Augen führen.
V.1.2.
Leben und Schreiben am Kurfürstendamm
1912 publiziert ein junger Münchner Verlag die als Mein Herz betitelte und mit 20 Zeichnungen versehene erste Buchfassung von Else Lasker-Schülers Briefen an ihren Mann Herwarth Walden und dessen Rechtsanwalt Dr. Curt47 Neimann, in denen sie das Leben im Berliner Café des Westens während einer Zeit beschreibt, in der ihr Mann durch Skandinavien reist und seine künftige Frau Nell Roslund kennenlernt.48 Mithilfe der Briefe,
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Klaus Schenk: »Erinnerndes Schreiben. Zur Autobiographik der siebziger Jahre und ihren didaktischen Konsequenzen«, in: Judith Klinger/Gerhard Wolf (Hg.): Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen, Tübingen 2009, S. 19-31, S. 19f. Neben »Curt« ist auch die Schreibweise »Kurt« an einigen Stellen zu finden; sein Pseudonym in Waldens Kabarett Teloplasma lautete »Kurt Neander«, vgl. Ricarda Dick: »Anmerkungen zu ›Briefe nach Norwegen‹«, in: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3.2: Prosa 19031920. Anmerkungen, hg. v. Norbert Oellers/Heinz Rölleke/Itta Shedletzky, Frankfurt a.M. 1998, S. 177-236, S. 193. Vgl. Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie, Göttingen 2010, S. 171.
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welche einerseits wirklich nach Norwegen geschickt49 und andererseits zwischen September 1911 und Februar 1912 vorab unter der Rubrik »Briefe nach Norwegen« im expressionistischen Wochenblatt Der Sturm veröffentlicht werden und sich sowohl an die beiden Männer als auch an das gesamte Kaffeehauspublikum richten, verabschiedet sich Lasker-Schüler im Jahr ihrer Scheidung nicht nur öffentlich von ihrem zweiten Mann Walden, sondern berichtet ihm und aller Welt auch von ihren mit Pseudonymen bedachten Liebhabern, darunter »Minn, der Sohn des Sultans von Marokko«, der »Erzbischof«, der »Slawe« und »Cajus-Majus, Cäsar von Rom«50 . Die fiktiven beziehungsweise die Realität poetisierenden51 , jedoch unerwiderten Briefe werden von den neugierigen Leserinnen und Lesern im Kaffeehaus begeistert angenommen, weil sie ihre Bekannten und sich selbst darin wiedererkennen; so hatten die Briefe gemäß Sigrid Bauschinger »eine ähnliche Wirkung wie die Kabarettsatire, die […] auf dem Wiedererkennungseffekt« beruhe.52 Aufgrund des großen Zuspruchs fährt Else Lasker-Schüler mit dem Briefeschreiben auch dann noch fort, als Walden schon wieder aus Skandinavien nach Berlin zurückgekehrt ist (vgl. BnN 216; 252). Auf diese Weise trägt die Autorin während der Erscheinungszeit ihrer Briefe maßgeblich zum Erfolg von Waldens Zeitschrift Der Sturm bei: Ihrerseits liefert sie ihm Geschichten und Material für seine Zeitschrift, während er die Struktur und Organisation der ›Kunst‹ übernimmt53 , wofür sie ihm dankbar ist. So profitieren die Eheleute künstlerisch voneinander und Lasker-Schüler drückt auch noch am Ende ihrer Ehe ihre weiterhin bestehende enge Verbindung zu ihm aus: »Ohne Dich, Herwarth, geht es hier doch nicht. Du hilfst mir immer in der Geschichte, auch genier ich mich Jemand zu bitten, mir die Kommas zu machen.« (BnN 182) Obwohl Walden in einem Brief an Karl Kraus schreibt, dass er seiner Frau »genügend Geld«54 zurückgelassen habe, als er die Nordlandreise mit Dr. Neimann angetreten sei, durchzieht das Thema Geldmangel wortspielerisch den gesamten Text55 ; denn eine ausreichende finanzielle Versorgung ist gemäß Kerstin Decker »nicht der Normalfall im Dasein des Ehepaares Walden, es ist die Ausnahme. Ihr gemeinsames Leben ist eine einzige Notstandserklärung, rein finanziell gesehen.«56 Die extravagant auftretende und aufsehenerregend gekleidete Lasker-Schüler wird somit immer dann aus ihren Phantasiereisen gerissen und mit der Realität konfrontiert, wenn es darum geht, ihre
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Vgl. Uta Grossmann: Fremdheit im Leben und in der Prosa Else Lasker-Schülers, Oldenburg 2001, S. 196. Else Lasker-Schüler: »Briefe nach Norwegen (1911/1912)«, in: dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3.1: Prosa 1903-1920, hg. v. Norbert Oellers/Heinz Rölleke/Itta Shedletzky, Frankfurt a.M. 1998, S. 177-261. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »BnN« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. Dick: »Anmerkungen zu ›Briefe nach Norwegen‹«, S. 192. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 172. Vgl. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 176. Vgl. Waldens Brief an Karl Kraus (Brief Nr. 549, vor dem 26.08.1911), in: Karl Kraus/Herwarth Walden: Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein. Karl Kraus – Herwarth Walden, Briefwechsel 1909-1912, hg. v. George C. Avery, Göttingen 2002, S. 354. Vgl. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 176. Kerstin Decker: Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler, Berlin 2009, S. 24. Vgl. auch Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 137ff.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Rechnungen zu bezahlen. Da sie stets knapp bei Kasse sei, müsse sie sich gezwungenermaßen von ihren Geliebten aushalten lassen (vgl. BnN 186f.); zuweilen werde ihr auch das Gas abgedreht, so dass sie aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten sowie ihrer unglücklichen Liebschaften den Wunsch verspüre, sich umzubringen. Ironischerweise ist es nun gerade das fehlende Geld, das sie daran hindert, ihrem Leben ein Ende zu setzen: Ich hab ihm nämlich gebeichtet, dass ich mir ausserdem das Leben meiner beiden Freunde wegen hätte nehmen wollen am Gashahn, der aber abgestellt worden sei; der ganze Gasometer ist geholt worden. Ich konnte die Gasrechnung nicht bezahlen, auch in der Milch kann ich mich nicht ersäufen, Bolle bringt keine mehr. Wie soll ich nun, ohne zu erröten, wieder ins Cafe kommen? (BnN 183f.) Obwohl die Erzählerin beteuert, dass sie sich schäme, mittellos ins Café zu kommen, wo sie bei den Kellnern ebenso Schulden hat wie bei den anderen Gästen, nutzt sie eben diese Thematik des Schuldenmachens für die widersprüchliche Gestaltung ihrer Briefe, in denen sie ausführlich aufzählt, welche großzügigen Mahlzeiten sie im Kaffeehaus angeblich gegessen, aber nicht bezahlt habe: Was wir so alles durchmachen, auch geht es mir materiell schlecht. Im Café habe ich grosse Schulden, beim Ober vom Mittag: ein Paradeishuhn mit Reis und Apfelkompott; beim Ober von Mitternacht: ein Schnitzel mit Bratkartoffeln und Preiselbeeren und ein Vanilleneis, ein ganzes zu fünfzig Pfennig. Martha Hellmuth […] lieh mir einen Groschen fürs Nachhausekommen, sonst hätte ich Dir wieder mein Wort nicht halten können. (BnN 189) Diese Darstellung des Verspeisens von ausgedehnten Portionen widerspricht den Aufzeichnungen anderer Kaffeehausbesucher und -besucherinnen, die vielmehr beobachten, dass Lasker-Schüler und ihr Mann im Café kaum etwas essen beziehungsweise bestellen. So beschreibt die Schauspielerin Tilla Durieux in ihren Memoiren, dass es der Familie Walden nicht möglich gewesen sei, durch einen bürgerlichen Beruf für ihr Einkommen zu sorgen und die Eheleute deshalb darauf angewiesen gewesen seien, dass andere sie mitfinanziert oder die Kellner ihnen ausgeholfen hätten; ansonsten hätten sie von Kaffee gelebt.57 Die finanzielle Lage Waldens bessert sich erst, als er seine zweite Ehefrau Nell Roslund heiratet, die nicht nur Geld, sondern auch kaufmännisches Verständnis mit in die Ehe bringt und ein Auge auf Waldens Ausgaben hält, da
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Vgl. »Dieses Ehepaar, mit seinem unglaublich verzogenen Sohn, konnte man nun von mittags bis spät nachts im ›Café des Westens‹ unter all den wilden Kunstjüngern und Kunstfrauen antreffen. […] So reich sie an geistigen Gütern war, so schlecht stand es mit den irdischen. Die kleine Familie ernährte sich, wie ich vermute, nur von Kaffee, den ihnen der bucklige Oberkellner des ›Café des Westens‹ mitleidig stundete oder den ein freimütiger Gast bezahlte. Das Kind ging inzwischen heimlich zu den Kuchenschüsseln und nahm sich in unbewachten Augenblicken, was ihm gefiel. […] Alle beteiligten sich dann an der Finanzierung des Ehepaares. Herwarth Walden war viel zu schöngeistig, um sich mit einem plebejischen Beruf zu belasten, der ihn in eine schmähliche Bürgerlichkeit hinabgedrückt hätte.«, in: Tilla Durieux: Meine ersten neunzig Jahre. Erinnerungen. Die Jahre 1952-1971 nacherzählt von Joachim Werner Preuß, München/Berlin 1971, S. 145f.
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sie erkennt, dass er selbst dazu nicht in der Lage ist.58 Damit er keine Sehnsucht mehr danach verspürt, ständig im Café des Westens zu sitzen, es als Büro zu nutzen und dort Geld auszugeben, habe sie ihm ein »behagliches, eigenes Heim« eingerichtet, so dass er mit dieser »hübschen Wohnung […] repräsentieren und sie der Propaganda für den ›Sturm‹ dienstbar« machen könne.59 Für Else Lasker-Schüler hingegen bleibt das Café des Westens sowohl während ihrer Ehe als auch nach der Scheidung Hauptaufenthaltsort und Lebensmittelpunkt.60 Obwohl sie dort Gleichgesinnte trifft und Anregungen für ihre Texte erhält, wird das Café in »Briefe nach Norwegen« vom erzählenden Ich als alternativloser, zentraler Schauplatz sowie als unerreichter Sehnsuchtsort dargestellt, der zuweilen auch einem Albtraum gleicht. Dabei sind stets die Polarität und starke Anziehungskraft des Kaffeehauses offenkundig – so ändert das erzählende Ich seine Meinung zu diesem Ort innerhalb eines einzigen Absatzes, was die innere Zerrissenheit deutlich macht: Lieber Herwarth und guter Kurt, ich habe das Café satt, aber damit will ich nicht behaupten, dass ich ihm Lebewohl für Ewig sage, oder fahre dahin Zigeunerkarren. Im Gegenteil, ich werde noch oft dort verweilen. (BnN 196) Lasker-Schüler ist in einer Art Hassliebe mit dem Café verbunden, da es sie gleichzeitig abstößt und süchtig macht, die Atmosphäre sie dort anödet und ihr zugleich vor Aufregung schwindelig wird. Sie hält es daher heimlich für einen Teufel, der sie zu Müßiggang verführt und wie eine Droge wirkt, welche sie berauscht und abhängig macht. Trotzdem kann sie ohne den täglichen Kaffeehausbesuch nicht leben, denn »ohne den Teufel ist doch nun mal nichts.« (BnN 184) So empfindet sie das Lokal meist als gesundheitsförderlich und stimmungsaufhellend, zuweilen erscheint es ihr sogar die Bedingung für ihre bloße Existenz zu sein. Insbesondere zieht das Lokal die freiheitsliebende, unkonventionell lebende LaskerSchüler an, weil sie die »Häuslichkeit« hasst (vgl. BnN 260)61 und sich gelegentlich ängstigt, alleine in ihrer leeren Wohnung zu sein (vgl. BnN 183), wo ihr die Gesellschaft fehlt: Ich bin nun zwei Abende nicht im Cafe gewesen, ich fühlte mich etwas unwohl am Herzen. Dr. Döblin vom Urban kam mit seiner lieblichen Braut, um eine Diagnose zu stellen. Er meint, ich leide an der Schilddrüse, aber in Wirklichkeit hatte ich Sehnsucht nach dem Café. (BnN 183)
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Vgl. »Lebenslänglich hatte sich Herwarth Walden mit pekuniären Schwierigkeiten herumzuschlagen. Geld an sich interessierte ihn nicht. Er war in seinen persönlichen Ansprüchen fast spartanisch zu nennen. Doch erforderte der ›Sturm‹ viel Geld, und Waldens kaufmännische Tätigkeiten waren leider ›gleich null‹, wenn er auch selber davon überzeugt war, daß er sie in reichem Maße besitze.«, in: Nell Walden: Herwarth Walden, Berlin/Mainz 1963, S. 21. Nell Walden: Herwarth Walden, S. 20. Vgl. ihr Brief an Jethro Bithell vom 7. Mai. 1910 (Brief Nr. 240): »Weißt du, das ist unsere Börse, dort muß man hin, dort schließt man ab. Dorthin kommen alle Dramaturgen, Maler, Dichter und viele Prolethen, die gucken wollen, Damen mit Riesenhüten, Männer mit Monocle, nüchterne, betrunckene; lilagepuderte Gesichter auch Jungens, die sich pudern.«, in: Else Lasker-Schüler: »240 An Jethro Bithell«, in: dies.: Briefe 1893-1913. Kritische Ausgabe, Bd. 6, hg. v. Norbert Oellers/Heinz Rölleke/Itta Shedletzky, Frankfurt a.M. 2003, S. 156-158, S. 157. Vgl. hierzu auch Nell Walden: Herwarth Walden, S. 20.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Deutlich wird hier, dass Lasker-Schüler ihr Leben außerhalb des Cafés sowie ihre körperlichen Bedürfnisse mit dem Café selbst und ihren Gefühlen verknüpft; wenn sie die Leiden an der Schilddrüse mit ihren Sehnsüchten gleichsetzt. Das erzählende Ich zeigt sich laut Sigrid Bauschinger in den Texten »als ein in Einsamkeit und Angst lebender Mensch […], der keine Heimat mehr hat.«62 So seien die »Briefe nach Norwegen« einerseits eine »Huldigung an die Berliner Bohème«, in deren Kaffeehausszene eine aufgrund von ernsthaften Erkrankungen und persönlichen Enttäuschungen physisch und psychisch geschwächte Else Lasker-Schüler zunächst völlig aufgegangen sei; der Roman zeige andererseits aber auch die »Überwindung« jenes Bohème- und Künstlerbetriebs im Café des Westen in den zwanziger Jahren.63 Davor, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, hat das Kaffeehaus dagegen einen so großen Einfluss auf das Leben der Ich-Erzählerin, ihren Alltag und ihr Werk, dass sie sich wie ein halber Mensch fühlt, der etwas Kostbares verloren hat, wenn sie es nicht besucht: Aber ich bin so begierig, wie es meiner Bleibe und meiner Sterbe geht, dem Café des Westens? Es ist genau so, als ob ich einen Ohrring verloren hab, ich beginne, mich nicht mehr zu fühlen. Ein Säufer muß in seine Kneipe, ein Spieler in seine Hölle, nur ich bin abnorm. (BnN 250) So braucht Lasker-Schüler, die sich selbst fremdartig vorkommt, das Café als Gegenpol in der Wirklichkeit, der ihr Rückhalt und ein gewisses Maß an Sicherheit verleiht. Kerstin Decker nennt das Café daher auch »ein Inkognito, einen Ort zum Ausruhen nach der ganzen Creatio ex nihilo« – so sei Lasker-Schüler eine »Weltenerfinderin, eine Weltenschöpferin, eine Eigenweltenbewohnerin, auch – darin liegen ihr Glück und ihre Tragik zugleich – eine Eigenweltinhaftierte.«64 Diese Eigenwelt, die sie sich selbst erschaffen hat, war am ehesten mit der Umwelt im Café des Westen vereinbar, in der weniger Tabus gegolten haben als außerhalb. Trotz der Erschaffung dieser eigenen Welt und ihrer diffusen Empfindung von Abhängigkeit stößt die Umgebung des Cafés sie in bestimmten Momenten auch ab, nämlich dann, wenn sie die dortige Atmosphäre als abweisend, monoton und ermüdend wahrnimmt: Kinder, ich langweile mich furchtbar, die ganzen Geliebten sind mir untreu geworden. Ich komme mir vor wie eine Ausgestossene, trete ich in den Vorhof unseres Cafés. […] Ich bin so allein, wäre ich wenigstens einsam, dann könnte ich davon dichten. (BnN 196) Obwohl sie weiß, dass es sich bei ihr selbst nicht anders verhält, wenn sie ihr Eheleben durch ihre Texte publik macht und darin beispielweise ihrem Mann vorwirft, untreu zu sein, während sie ihm im gleichen Brief von ihren eigenen Liebschaften berichtet65 , 62 63 64 65
Sigrid Bauschinger: »Anmerkungen«, in: Else Lasker-Schüler: Werke. Lyrik, Prosa, Dramatisches, hg. v. Sigrid Bauschinger, Darmstadt 1992, S. 447-515, S. 488. Bauschinger: »Anmerkungen«, S. 488f. Decker: Mein Herz – Niemandem, S. 18. »Herwarth, gestern war ein Monstrum im Cafe mit orangeblonden, angesteckten Locken, und wartete scheints bis Mitternacht auf Dich, Herwarth. Leugne nur nicht, Du kennst sie […] das Mons-
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empfindet sie die künstliche Inszenierung der anderen Schriftstellerinnen und Künstler, die sich im Café zur Schau stellen, als besonders störend und unruhestiftend: Gestern ging es Tür auf, Tür zu, wie in einem Bazar; nicht alles dort ist echte Ware: Imitierte Dichter, falsches Wortgeschmeide, Similigedanken, unmotivierter Zigarettendampf. […] Warum es einen so ins Café zieht! Eine Leiche wird jeden Abend dort in die oberen Räume geführt; sie kann nicht ruhen. (BnN 196) Die beständige Exaltiertheit provoziert laut Helmut Kreuzer bei Else Lasker-Schüler das naive Erleben des Cafémilieus als »orientalisches Märchenreich« und als »romantisch ›blaue[r]‹ Pol des modernen sozialen Lebens«66 . In ihrer überbordenden Phantasie verwandeln sich die Kaffeehäuser in eine zauberhafte, morgenländische Traumwelt, die mit ihrer »Bazarbuntheit« (BnN 250) unentwegte Mobilität und Inspiration verspricht. Zudem werden die Cafés personifiziert und entweder mit dem ›herzallerliebsten‹ Geliebten oder einer geheimnisvollen Frau gleichgesetzt, die sie in eine Phantasiewelt entführt und die unterschiedlichsten Gefühle auslöst: Ihr beiden Freunde, was ist das? Wart ihr schon dort, […] im Café Kurfürstendamm? Ich bin zum Donnerwetter dem Café des Westens untreu geworden; wie einen Herzallerliebsten hab ich das Caféhaus verlassen, dem ich ewige Treue versprach. Das Café Kurfürstendamm ist eine Frau, eine orientalische Tänzerin. Sie zerstreut mich, sie tröstet mich, sie entzückt mich durch die vielen süßerlei Farben ihres Gewands. Eine Bewegung ist in dem Café, es dreht sich geheimnisvoll wie der schimmernde Leib der Fatme. Verschleierte Herzen sind die sternenumhangenen, kleinen Nischen der Galerien. O, was man da alles sagen und lauschen kann – leise singen Violinen, selige Stimmungen. (BnN 257f.) Lasker-Schüler beschreibt hier eine sehr dichte Atmosphäre, die im Kaffeehaus vorherrscht und sie immer wieder anzieht. Dabei besteht diese vom erzählenden Ich heraufbeschworene Atmosphäre aus vielen grellbunten, metallisch schimmernden Farben, orientalischen Gerüchen und sanften Klängen und Geräuschen, welche LaskerSchüler aus dem Gebaren der Gäste, deren Kleidung, der Inneneinrichtung und dem geschäftigen Treiben des Kaffeehausbetriebs herausliest und in eine Phantasiewelt überführt. Sylke Kirschnick zufolge erzielt Lasker-Schüler mit dem Vergleich zwischen dem am östlichen Ende des Kurfürstendamms beheimateten Café und der zwischen Metapher und Vergleich verorteten Figur »Fatme« eine Ambivalenz, in der sich der Widerspruch zwischen Europa und Orient, West und Ost, Traum und Wirklichkeit ausdrücke.67 So gleicht dieses elysische Reich in ihren Beschreibungen einerseits einem Paradies, welches die Imagination stimuliert und die ingeniöse Leistung der
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trum stampfte so wütend mit dem Fuss, dass die gläserne Tür des kleinen Kabinetts klirrte. Und so stampfen nur Verhältnisse. Es wäre doch eine Gemeinheit von Dir, wenn Du mir untreu wärst. Jemand hat hier im Café gesehn, wie sie Dir unter dem Tisch eine ihrer künstlichen orangefarbenen Locken schenkte. Aber was wollt ich noch sagen, heute Morgen war Minn bei mir in der Wohnung […].« (BnN 188). Mit dem »Monstrum« ist Nell Roslund gemeint. Helmut Kreuzer: Die Bohème. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart 1968, S. 209. Sylke Kirschnick: Tausend und ein Zeichen. Else Lasker-Schülers Orient und die Berliner Alltags- und Populärkultur um 1900, Würzburg 2007, S. 176.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Kunstschaffenden steigert. Andererseits wird im Kaffeehaus die pure Alltäglichkeit fassbar, welche der Schriftstellerin wieder Bodenhaftung verleiht und sie in die Realität zurückholt: [E]r bat mich, er drängte mich, nicht mehr ins Café zu gehen. Es war mir so zärtlich zu gehorchen, ich ging am selben Abend nicht mehr ins Café. Am anderen Abend war ich wieder dort; er war sehr traurig, als er da sagte, er hätte eine Schlacht verloren. Mich bekümmerts, er sollte alle Schlachten gewinnen, und wenn ich ihm helfen sollten, mir den Kopf abzuschlagen. Oder meint Ihr, ich ginge auch ohne Kopf ins Café? Nur mit dem Rumpf, dumpf stumpf in den objektiven Sumpf! O, wie pathetisch, nicht? Aber, es gibt ja nichts objektiveres [!], wie das Café, nachdem man in seiner Literatur am Schreibtisch zu Haus die Hauptrolle gespielt hat. Entzückend, sich abzuschütteln, seine intensiveste Last. Sagt, Ihr beide, kann mir das Café schaden oder nicht schaden? […] Soll ich mich nun von ihm trennen und ins Café zurückkehren oder soll ich bei ihm bleiben? (BnN 249f.) In diesem Absatz wird der literarische Charakter des Textes deutlich: Während sie von sich und ihrem Leben spricht, flicht sie einen Reim in die Erzählung ein und kommentiert gleichzeitig auf einer Metaebene dasjenige, was sie sagt und bezeichnet es als »pathetisch«. Weil einer ihrer imaginierten Geliebten, den sie hier nur »er« nennt, ihr vom Besuch des Kaffeehauses abrät, drückt auch sie immer wieder ihre Zweifel daran aus, ob das Café eine positive Wirkung auf sie habe. Augenscheinlich wird hier auch erneut der dialogische Charakter des Textes, in dem sie sich in einem permanenten Gespräch mit den beiden Männern befindet. Sie hadert mit sich und ihrer Liebe zum Café und weiß gleichzeitig, dass sie sich eher von einem Mann trennen würde, als von ›ihrem‹ Café, das zwar manchmal auch einem ›Sumpf‹ voller Inszenierung und Selbstdarstellung gleicht, ihr aber trotzdem einen Ort bietet, wo sie sich als eher unkonventionell lebende Frau geborgen fühlt und ihre Einbildungskraft Nahrung erhält. Auch Herwarth Waldens 1911 im Sturm erschienener satirischer ›Spezialbericht‹ »Der Sumpf von Berlin«68 , in dem er mit einem »ironischem Katalog bürgerlicher Gemeinplätze, die dem windigen Etablissement unterstellt werden«69 , auf die in bürgerlichen Zeitungen erschienene Schmähkritik über den Berliner Westen und das ›Café Größenwahn‹ antwortet, stellt diese Ambivalenz des Cafés heraus, in dem gleichzeitig Inspiration, Kunst und Kreativität, aber auch Müßiggang und Selbstdarstellung zuhause sind. Walden nimmt in diesem Beitrag Bezug auf klischeehafte Ausdrücke und überzeichnete Stereotypen, die in der bürgerlichen Presse aufgrund von Unwissenheit und Angst vor dem Unbekannten, Neuen verbreitet werden. So wird das Café mit der Hölle selbst gleichgesetzt, wo neumodische, fremde Kunst von Leuten geschaffen werde, die eigentlich schlicht faul seien und keinem ›ordentlichen‹ Beruf nachgingen. Mit ihren ›teuflischen‹ Werken und ihrem dämonischen, andersartigen
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Herwarth Walden: »Der Sumpf von Berlin«, in: Der Sturm, 82 (1911), S. 651-652, S. 652. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »SvB« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Alfred Rath: »Berliner Caféhäuser (1890-1933)«, in: Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 108-125, S. 122.
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und verwahrlosten Äußeren würden sie Revolutionen anzetteln und den ehrbaren Bürger maßlos erschrecken und davonjagen: Dort, wo die Joachimsthaler Straße den Kurfürstendamm schneidet, haben sie den Sitz der Hölle aufgeschlagen. Noch rasch vor seinem Tode hatte Messel das Café erbaut, und Cassirer die Wände mit Klimtschen Satanswerken ringsum behängt. […] Scheu und geängstigt hastet der schlichte Bürger am Höllenpfuhl vorbei. Der ehrbare Kaufmann, der sparsame Rentier, der mutige Offizier, […] die handkoffertragende Jungfrau, und last not least der bescheidene Lumpensammler werfen einen scheuen Blick durch die revolutionären Scheiben und empfehlen ihre Seele Wildenbruch und allen guten Geistern der großen Kunstausstellung. Bleicher Schauer rieselt durch ihr normales Gebein durch ihr gesundes Blut. Tief im Innern haben sie dämonische Gestalten sitzen sehen. Männer mit langen Haaren, schlangenhaft geringelte Locken, wildflatternde Kravatten [!], sezessionistischen Socken und alkoholfreien Unterhosen leben sich aus. Drücken sich bedeutsam in die Sofaecken, bespiegeln sich selbst und gegenseitig, schleudern sich biertonnengroße Weihgefäße um die stefangeorgischen Ohrmuscheln, und bringen durch ruchloses, dekadentes Kaffeetrinken die deutsche Kunst an den Rand des Abgrunds. (SvB 652) Walden beschwört hier ironisch-klischeehaft durch viele Adjektive aus dem Bereich des Horror- und Geistermilieus und dem Tierreich eine angsteinflößende, gruselige Atmosphäre herauf und setzt Künstler mit ›langen Haaren‹ und ›schlangenhaft geringelten Locken‹ in Kontrast zu sparsam-bescheidenen Bürgerinnen und Bürgern mit ›normalem Gebein‹ und ›gesundem Blut‹, als sei der ›Beruf‹ der Kunstschaffenden eine Art Krankheit, die das Äußere und Innere des menschlichen Körpers zum Negativen verändere. Gleichzeitig ist die Wirkung dieses Bildes völlig ironisch und absurd, da es als bekannt vorausgesetzt werden kann, dass es sich hier um ein ›normales‹ Kaffeehaus handelt, zu dem eigentlich alle Zutritt haben70 und in dem niemand belästigt wird. Zudem kombiniert Walden Adjektive mit Substantiven, die nicht zusammenpassen, weil jene passive Gegenstände benennen, die keine der Handlungen ausführen können, welche die Adjektive nahe legen; beispielsweise können ›Fensterscheiben‹ keine ›Revolution‹ anzetteln, ›Socken‹ sich nicht ›sezessionistisch‹ abspalten und ›Unterhosen‹ nicht ›alkoholfrei‹ leben. So zieht Walden einerseits die Haltung der Künstler und Künstlerinnen ins Lächerliche, dass jedes noch so unbedeutende ›Ding‹ einen künstlerischen Wert haben müsse und macht sich andererseits darüber lustig, dass die bürgerliche Presse nur über einen kleinen geistigen Horizont verfügt, innerhalb dessen nur Althergebrachtes als Kunst bezeichnet werde. Obwohl er in diesem Text den Pressebetrieb mit seiner vermeintlich moralischen Haltung vorführen möchte, versäumt Walden es also nicht, sich auch über die Künstlerinnen und Künstler selbst lustig zu machen, die sich durch ihr ›ruchloses, künstlerisches Auftreten‹ und ungepflegtes Aussehen von der restlichen Welt abheben möchten, dabei aber zuweilen vergessen, dass man auch in der Kunst etwas leisten und zustande bringen muss, um als Künstlerin oder Künstler Erfolg zu haben. So verwechselten 70
Vgl. die weiterführenden Überlegungen zu Eintritt und Zutritt, zur Schwelle und Tür des Kaffeehauses unter Kapitel V.2 und V.4.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
diese wirkliche künstlerische oder schriftstellerische Arbeit mit alkoholgetränkten, wilden Diskussionen zu nächtlichen Uhrzeiten und laute Selbstdarstellung mit echter Vortragskunst. Die grauenvoll und schauderhaft dargestellte Atmosphäre wird dabei noch durch die Erwähnung der schrill-lauten Geräusche und des Stimmengewirrs verstärkt; in Waldens Beschreibung wird deutlich, dass es den Anwesenden nur darum geht, ›größenwahnsinnig‹ die eigene Person herauszustellen, ohne den anderen mit dem Ziel zuzuhören, die ›Kunst‹ voranzubringen: So vergeht der Tag, bis abends die große Orgie der täglichen modernen Nacht beginnt: die markzerfressende Zersetzungsarbeit der Caféhausliteraten. Dann kommt es herangekrochen aus Wilmersdorf und Halensee, sezessionistisches Gewürm, krankhaft Empfindende, bizarre Gesellen, ›vom Größenwahn‹ geschlagene. Und es beginnt ein irrsinniges Lallen. […] Und um Mitternacht hebt an das große Opfer der gegenseitigen Beweihräucherung: ein gigantisches Überschreien, Einandervorlesen: tolle Wortgebilde durchdringen die Lüfte, Sätze, die man weder bei Schiller noch bei Goethe findet, unverständliches Gestammle, französische, italienische Wortkonstruktionen ohne germanische Deutlichkeit, unreife Ansichten über Grillparzer und Hebbel. (SvB 652) Walden klagt in diesem Sturm-Beitrag sowohl die Künstler und Künstlerinnen selbst an, die ihre bloße Anwesenheit im Kaffeehaus als Arbeit deklarieren, als auch die Scheinmoral der bürgerlichen Presse, in deren Augen sich die Kunstschaffenden allein durch ihr exzentrisches Auftreten und ihren unkonventionellen Kleidungsstil bereits verdächtig machen, keine ehrbaren Bürger und Bürgerinnen zu sein. In »Briefe nach Norwegen« ebenso wie in »Der Sumpf von Berlin« stechen nicht nur Waldens und Lasker-Schülers enge Beziehung zum Schauplatz der Briefe, dem Café des Westens, und den dortigen Stammgästen hervor, sondern auch das Spiel mit dem autobiographischen Bezug der Texte. So verweist bereits der Untertitel von Lasker-Schülers Erstveröffentlichung Mein Herz, »Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen«71 , auf diese Ambivalenz zwischen Fakt und Fiktion. Dies wird ausgedrückt durch die dem Fiktiven zuzuordnende Genrebezeichnung »Liebesroman«, in dem wiederum ›wirklich‹ existierende Personen handeln, was das Genre trotz der nur einseitigen Briefkorrespondenz noch erfolgreicher gemacht hat – schließlich kannten die Leser und Leserinnen die meisten der im Roman auftauchenden, ›wirklich lebenden‹ Figuren.72 Lasker-Schülers erzählendes Ich bezeichnet den Text als »Massenlustspiel« und kommentiert damit selbst die Relation von Wirklichkeit und Fiktion in ihrem Text: Haben Sie denn noch nicht bemerkt, daß meine norwegische Briefschaft ein Massenlustspiel ist – allerdings mit ernsten Ergüssen, die bringt so der Sturm mit sich. Peter Baum hat mich besonders gebeten, die Rolle des Herumtreibers in meinem Werk zu spielen, um ganz unerkannt zu bleiben […]. Im wirklichen Leben ist er viel langweiliger, […] er sitzt nämlich den ganzen Tag oben in seinem Zimmer und arbeitet. (BnN 213f.)
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Vgl. Else Lasker-Schüler: Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen, München/Berlin 1912. Vgl. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 172.
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Ein Zeitgenosse Lasker-Schülers, der ebenso wie sie in Elberfeld geborene Schriftsteller Armin T. Wegner, thematisiert in seinem Text »Unser Kaffeehaus oder Die Arche«, den er 1969 für einen Sammelband anlässlich des 100. Geburtstags der Autorin verfasst, das zwangsläufige Oszillieren zwischen Leben und Literatur im Werk Else Lasker-Schülers: Fälschlich warf man ihr vor, dass sie nur von sich spräche. Denn für den Dichter gibt es im Grunde kein Ich. […] Die Dichtung kennt keinen Unterschied zwischen dem Dichter und den Menschen. […] Sie war der natürlichste, aufrichtigste Mensch, dem man begegnen konnte. Bis ins hohe Alter hinein hatte sie eine lebhafte Einbildungskraft, die mit allem spielte. Sie verzauberte und verwandelte dadurch sich selbst ebenso wie ihre Umgebung.73 Wegner zufolge führt sie ein »Schaustück« auf, das »von sich und der Welt« handle und im Kaffeehaus spiele, ohne dass sie sich dagegen wehren könne: Jeden reihte sie seinem Wesen nach in die Schar der Schöpfer ihrer Legende ein. ›Ich bin nur ein Dichter‹ entschuldigte sie sich, demütig lächelnd, als könne sie nichts dafür. ›Vielmehr es wird in mir gedichtet. Es dichtet in mir.‹74 Weil die beschriebenen Figuren in Lasker-Schülers Phantasie leben, macht es für die Autorin keinen Unterschied, ob sie eine Person nur erfindet oder ob sie wirklich existiert und wahrhaftig neben ihr am Kaffeehaustisch sitzt (vgl. BnN 185). Auch das eigene Auftreten in ihrem Briefroman oder in anderen Texten, welche in der ersten Person verfasst sind, erscheint für sie vollkommen natürlich zu sein, wie es umgekehrt nicht verwunderlich ist, wenn sie noch etwas hinzudichtet, da sie »immerzu den Helden ihrer Bücher in der Wirklichkeit« begegnet.75 So pendelt der Text »zwischen (fiktivem) Dialog und Introspektive«76 , Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen ineinander, was das Kennzeichen ihrer Prosa darstellt: »Durch das Spiel mit Täuschung und Enttarnung erhält der Text ein holografisches Schillern, das dem vagierenden, zwischen Spaß und Ernst oszillierenden Tonfall korrespondiert.«77 Einerseits zeichnen sich die »Briefe nach Norwegen« somit durch die Kongruenz von Autorin, Erzählerin und handelnder Ich-Figur aus, so dass der Text sich als autobiographisch geprägter, authentischer und nicht-fiktionaler Text zeigt. Andererseits enthalten die Briefe vielerlei Bezugnahmen auf die zeitgenössische Kulturszene, welche laut Ricarda Dick als »Folie für Inszenierungen«, ebenso wie reale Orte und die Zeitgenossen und -genossinnen als Kulisse und Personal in einem literarischen »Spiel« dienten. So befinde sich der Text in einer »Grauzone zwischen der Sachprosa von Briefen und der Literarizität eines Briefromans«, wobei Else Lasker-Schüler genau diese verwirrende Uneindeutigkeit und Grenzverwischung in ihren Texten beabsichtige und thematisiere.78 Damit wird die Literatur bei
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Armin T. Wegner: »Unser Kaffeehaus oder Die Arche«, in: Michael Schmid (Hg.): Lasker-Schüler. Ein Buch zum 100. Geburtstag der Dichterin, Wuppertal 1969, S. 87-99, S. 89f. Wegner: »Unser Kaffeehaus oder Die Arche«, S. 93f. Decker: Mein Herz – Niemandem, S. 17. Rath: »Berliner Caféhäuser (1890-1933)«, S. 120. Grossmann: Fremdheit im Leben und in der Prosa Else Lasker-Schülers, S. 197. Dick: »Anmerkungen zu ›Briefe nach Norwegen‹«, S. 192.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Lasker-Schüler Sylke Kirschnick zufolge zum »Zwischenraum«, in dem »die Prozesse der Hervorbringung von Faktizität und von kulturellen Deutungen« gespiegelt und »nicht-ästhetische und ästhetische Bereiche zugleich miteinander« verknüpft und voneinander getrennt würden.79 Auch Helmut Kreuzer erkennt in der Grenzverwischung zwischen Autobiographie und Dichtung, zwischen Subjektivität und Objektivität das unverwechselbare Gepräge von Lasker-Schülers Briefroman, der die »bohemische Dichterexistenz in ›Unordnung‹ und ›Verrücktheit‹« widerspiegle und ein »literarischer Reflex dieses Lebens und dieser Lebensform«80 sei: Der schmale Briefroman Else Lasker-Schülers ist ganz und gar Spiegel eines Ich, das Subjekt einer Liebe ist, die sich nur im ›Wunder‹ genügt und daher nur in immer wechselnden Liebesbeziehungen erhalten kann, und er wird zur literarischen Gestalt eines Lebensspiels mit den Bildern und Geschöpfen ihrer Phantasie wie mit den Menschen und Dingen der Wirklichkeit; beide ›Welten‹ werden ineinander verknüpft.81 Die Stimmen in der einschlägigen Forschung stimmen darin überein, dass der zwar glaubwürdig erscheinende Text Else Lasker-Schülers nicht als »authentische Mitteilungen über bestimmte Personen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten« gelesen werden könne, sondern dass in diesem »Kunstspiel« der Autorin vielmehr die Literarizität der Briefe begründet liege.82 Else Lasker-Schüler treibe dieses ›Spiel‹ bis zum Äußersten und ordne die Frage nach der Faktualität des Textes laut Uta Grossmann ihrer Autonomie als Künstlerin unter: Das Ich läßt sich in seinem Schreiben durch keine Rücksichtnahme einschränken. Es verwertet die Reaktionen der in den Briefen Genannten gleichberechtigt mit allen anderen Briefthemen als Textmaterial. Erfundenes ist von Gefundenem nicht zu unterscheiden, die künstlerische Freiheit wird absolut gesetzt. […] Selbstherrlich erschafft es sich und seine Welt, ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit, die Leser für die eigentliche halten. Der Versuch, das Subjekt des Textes mit dem Ich der Autorin zu verbinden, läuft ins Leere.83 Die Autorin verwendet in ihrem Text sowohl Eigennamen als auch Kunstnamen und thematisiert bewusst die Wandlungsfähigkeit und ›Vielheit ihrer Ichs‹, was gemäß Grossmann zum einen die Komplexität des Textes vervielfacht und dessen Wirkungskreis vergrößert; zum anderen liege ihrem Schreiben ein Verfahren zugrunde, in welchem die Verwendung von bestimmten, dem Leser oder der Leserin bekannten Namen suggeriere, dass zwischen der Wirklichkeit und deren sprachlicher Repräsentation eine Verbindung bestehe, so dass die »als nicht fiktiv präsentierte Fiktion«84 vermeintlich auf die außerliterarische Welt zurückwirke: 79 80 81 82 83 84
Kirschnick: Tausend und ein Zeichen, S. 186. Kreuzer: Die Bohème, S. 128. Kreuzer: Die Bohème, S. 130. Bauschinger: Else Lasker-Schüler, S. 174f. Grossmann: Fremdheit im Leben und in der Prosa Else Lasker-Schülers, S. 214. Grossmann: Fremdheit im Leben und in der Prosa Else Lasker-Schülers, S. 205; vgl. auch S. 210. Vgl. »Wie es mir gehn mag, meinen verschieden aufgefaßten Ichs?« (BnN 246).
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Darin [in den »Briefen nach Norwegen«] irritiert die Zersplitterung eines nicht mehr faßbaren Subjekts den Leser. In der Oberflächenstruktur des Textes ist die Zuordnung zur autobiographischen Gattung scheinbar eindeutig; so zeichnet das Ich viele der Briefe mit Else Lasker-Schüler, den Namen, der auf dem Titelblatt auf die Autorin verweist. Doch das Ich […] ist nicht konsistent. Es führt kein Weg aus dem Text in die vermeintlich so authentisch beschriebene Kaffeehauswelt.85 So schreibt sie im November 1911 in einem Brief sich selbst verteidigend an Karl Kraus: »Jedenfalls liebe ich nach meiner Sehnsucht die Leute alle zu kleiden, damit ein Spiel zu Stande kommt. […] Spielen ist alles.«86 Kraus hatte sich nämlich zuvor bei ihrem Mann darüber beschwert, dass Lasker-Schüler Kraus in ihren Briefen erwähne, ihm den Namen ›Dalai Lama‹ gebe87 und Informationen über andere Personen im Café des Westens verbreite88 , die vielleicht nicht der Wahrheit entsprächen. Walden relativiert dies, nennt die Informationen »frei erfunden« und begründet die Nennung der Personennamen mit der künstlerischen Freiheit.89 Gleichzeitig bittet er seine Frau, Kraus und andere Personen nicht mehr in den Briefen auftauchen zu lassen, um einem Konflikt vorzubeugen. Diesem Wunsch kommt sie nach: Lieber Herwarth, willst Du im Sturm veröffentlichen lassen, daß sich alle Vertreter unseres gemeinschaftlichen Cafés melden mögen, die den Wunsch hegen, nicht mehr in den Briefen an Euch erwähnt zu werden. Ich gewähre ihnen freien Abzug. (BnN 216) Kirschnick bewertet die in »Briefe nach Norwegen« durch Lasker-Schülers »Zitat- und Montageverfahren«90 hergestellte Beziehung zwischen dem literarischen Text und dem kulturhistorischen Kontext jedoch als vielfach komplexer als diejenige zwischen Realität und Fiktion: Wenn in den ersten Briefen immer wieder Schauspielerinnen genannt werden, Caféhausbesucher sich blitzschnell in Mitwirkende des Schauspiels verwandeln, alle in den Briefen aufgeführten Personen früher oder später maskierende oder demaskierende Rolle erhalten, sämtliche Künstler bis hin zu den Schriftstellern immer auch als Darsteller ihrer Profession inszeniert werden […], werden das Theatralische und das Exotische zum verbindenden Moment. […] Es ist ein durch Korrespondenzen, Vergleiche,
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Grossmann: Fremdheit im Leben und in der Prosa Else Lasker-Schülers, S. 159. Else Lasker-Schüler: »313 An Karl Kraus«, in: dies.: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 6: Briefe, hg. v. Norbert Oellers/Heinz Rölleke/Itta Shedletzky, Frankfurt a.M. 2003, S. 209-210, S. 209. Vgl. der unveröffentlichte Brief von Karl Kraus an Herwarth Walden vom 22.01.1912, in dem er darum bittet, nicht mehr als ›Dalai Lama‹ bezeichnet zu werden: »Könnten Sie nicht wenigstens dafür wirken, daß dieses Motiv – mir wächst die Würde zum Hals heraus – aus dem Sturm entschwindet?«, zitiert nach Dick: »Anmerkungen zu ›Briefe nach Norwegen‹«, S. 197. Vgl. Krausʼ Brief an Walden (Brief Nr. 587 nach dem 23.10.1911), in: Kraus/Walden: Feinde in Scharen, S. 376f. Vgl. »Wenn dem Autor die Namen passen für seinen Zweck, mögen ja schließlich Personen dazu existieren. Wo auf die Persönlichkeit Wert gelegt wird, das spricht sich noch in den Briefen sehr deutlich aus.«, in: Antwort Waldens an Kraus (Brief Nr. 590 vom 05.11.1911), in: Kraus/Walden: Feinde in Scharen, S. 378. Kirschnick: Tausend und ein Zeichen, S. 173.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Metapher und Metonymien erzeugtes, komplexes Gewebe, das die Parallelisierung von künstlerischer Avantgarde und kulturell Anderem in Szene setzt und sichtbar macht.91 Dabei erscheine das Café innerhalb Berlins als sich mitbewegender, räumlicher Fixund Angelpunkt, der den Blick zu verschiedenen Perspektiven hin öffne92 und als »Ort jenes denkwürdigen Durch- und Übergangs, an dem sämtliche kulturhistorische Orte und Zeiten einander kreuzen und aufeinandertreffen«, so dass das Café des Westens und die Stadt einen »Rahmen für die Bewegungen des Austauschs und der Kontiguität« böten.93 Aus den bisherigen Ausführungen und der Textanalyse lässt sich schlussfolgern, dass das Café nicht nur den Schauplatz von Lasker-Schülers Briefen und den Lebensmittelpunkt der Autorin darstellt, sondern dieser Ort überhaupt erst die Voraussetzung für Inhalt und Schreibverfahren schafft: Er liefert einerseits Ideen für Figuren und deren Geschichten zu jedweder Thematik des menschlichen Lebens; andererseits fängt Lasker-Schüler durch ihren improvisatorisch-assoziativen Schreibstil die Gesprächsatmosphäre des Cafés ein und spielt selbstironisch mit dem Thema des bohèmehaften Schreibens im Café. Dabei fügt sie Metakommentare zur Referentialität ein und gibt vor, eine Grenze zwischen Fakt und Fiktion zu ziehen, indem sie auf der einen Seite sehr bodenständige, realistische Themen wie Geldmangel und die Furcht vor einer leeren Wohnung notiert und auf der anderen Seite durch die Heraufbeschwörung vieler bunt und detailreich ausgeschmückter Bilder und die Verwendung von Phantasienamen eine orientalische Kaffeehaus-Traumwelt skizziert, in der sie zu leben vorgibt und in die die Leserinnen und Leser während der Lektüre flüchten können. So besteht der Reiz in der Wahl des Cafés als literarischem Schauplatz in der Ambiguität, da die Lesenden diesen Ort und die anderen Gäste in- und auswendig zu kennen glauben, sie sich aber durch Lasker-Schülers Briefe in eine verzauberte Welt entführen lassen können, in der sie sich gleichzeitig fremd und vertraut fühlen. Mit Blick auf die Frage nach dem Genre und der möglichen Kategorisierung von Lasker-Schülers Roman als ›Kaffeehausliteratur‹ befindet Alfred Rath, der diese Frage innerhalb des von Michael Rössner herausgegebenen Sammelbandes für die »Briefe nach Norwegen« zu beantworten sucht, dass Else Lasker-Schülers Text ›klassische‹ Voraussetzungen für eine Einordnung in das Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ mit sich bringt, da jener im Café entstanden sei, die Autorin »Caféhausgeschehen« beschreibe und mittels der Briefe mit den anderen Kaffeehausbesuchern und -besucherinnen kommuniziere. Weiterhin präsentiere der Text eigentlich banale Begebenheiten und »humoreske und pointenreiche ›Quasi-Begebenheiten‹« durch eine sehr bildreiche Sprache auf eine Weise, welche diesen Vorkommnissen eine »Aura des Essentiellen« angedeihen lasse: häufige Inversionen und Ellipsen, überhaupt eine literarische Un-Syntax deuten vielmehr auf spezifische Dialogizität und Oralität […] Die Umstände der Entstehung, strukturelle Eigenheiten und Sprache lassen den Text als nahezu idealtypische Caféhaus-
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Kirschnick: Tausend und ein Zeichen, S. 181. Vgl. Kirschnick: Tausend und ein Zeichen, S. 182. Kirschnick: Tausend und ein Zeichen, S. 187.
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Textsorte wirken. Zuletzt bestätigt er auch recht anschaulich den primären Status des zeitgenössischen Cafés als außerhalb jeglichen bürgerlichen Raums stehenden Ort.94 Diese Ausführungen Raths sind plausibel, ebenso wie die Aussage, dass diese Textsorte »in äußerst kompakten Einheiten« verwirklicht werden müsse, »deren Teile selten mehr als eine Seite in Anspruch« nähmen. Wenig nachvollziehbar allerdings ist Raths Einschätzung, dass es sich nicht um einen »durchkomponierten Text«, sondern um einen Text handle, in dem die Szenenabfolge nachrangig sei und das Geschehen selten »greifbar« würde95 , da Lasker-Schüler sehr wohl die Reihenfolge bedacht hat und konkrete Geschehnisse schildert. Ein Beispiel dafür ist die Erwähnung eines Spaziergangs mit ihrem Dienstmädchen, das die Ich-Erzählerin als oberflächlich und ungebildet beschreibt (vgl. BnN 220f.). Einige Briefe später berichtet sie dann davon, dass das Dienstmädchen aufgrund der unvorteilhaften Erwähnung in den Briefen gekündigt habe (vgl. BnN 223). Hier zeigt sich zum einen die dargestellte Verquickung von einem vorgeblich wirklichen Ereignis und der Brieffiktion, zum anderen wird eine klare chronologische Gliederung der Briefe und der Geschehnisse deutlich. Else Lasker-Schülers autobiographischer Text kann nach dem Verständnis der vorliegenden Arbeit nicht als Idealtypus der ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden, da er trotz seiner Aufteilung in einzelne Briefe und damit in kleinere Einheiten aufgrund der Buchfassung nicht der ›Kleinen Prosa‹ entspricht. Allerdings ist dieser Text ohne die Verbindung der Autorin zum Café des Westens kaum vorstellbar, da es den Schauplatz und Dreh- und Angelpunkt der Geschichte darstellt. Daneben finden sich alle schon definierten Kennzeichen der ›Kaffeehausliteratur‹ in diesem Text wieder, wie das Oszillieren zwischen Fakt und Fiktion und das Verweben des eigenen Lebens mit dem großstädtischen Umfeld des Berliner Cafés, die Äußerung von Gedanken zum eigenen Schreibprozess und die metaphorische Vermittlung einer besonders dichten Atmosphäre, in diesem Fall einer orientalisch-exotischen, fremdländischen Atmosphäre, die großen Eindruck auf das Publikum ausübt und im Kontrast steht zum ›normalen‹ bürgerlichen Leben, das außerhalb des Kaffeehauses stattfindet. Ganz besonders deutlich wird in diesem Text somit auch die Ambivalenz, mit der die Ich-Erzählerin dem Kaffeehaus begegnet: Einerseits wird ihre Unsicherheit in Bezug auf ihre permanente Anwesenheit im Café deutlich zum Ausdruck gebracht; andererseits ist sie sicher, dass sie keine andere Wahl hat, als jeden Tag im Kaffeehaus zu verweilen. So symbolisiert das Kaffeehaus auch die Zweifel Else Lasker-Schülers im Hinblick auf Leben und Kunst und veranschaulicht den Zwiespalt, in dem sie sich befindet. Herwarth Waldens Text, der diese Zerrissenheit zwar als Künstler, jedoch auch aus einer eher distanzierten, leicht spöttischen Beobachterposition kommentiert, kann dagegen als Feuilletonbeitrag der ›Kleinen Prosa‹ zugeordnet werden. Er kreiert mittels einer sehr metaphorischen und ironisierenden Sprache eine äußerst dichte Atmosphäre und akzentuiert den Kontrast zwischen der internen Wahrnehmung des Cafés durch die Künstlerinnen und Künstler und dem externen Blick darauf durch die bürgerliche
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Rath: »Berliner Caféhäuser (1890-1933)«, S. 122f. Rath: »Berliner Caféhäuser (1890-1933)«, S. 119.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Presse auf drastische Weise. Es findet sich in diesem kurzen Text zwar kein expliziter Hinweis auf eine autobiographische Beziehung und den Schreibprozess, jedoch auf das Bohème-Leben im Café, dem er angehört. Insgesamt kann dieser Text als Idealtypus bezeichnet werden.
V.1.3.
Erinnerungen an Paris
Ähnlich augenfällig wie im vorherigen Kapitel ist das Oszillieren zwischen Wirklichkeit und Literatur in Ernest Hemingways autobiographischem Text A Moveable Feast, der seit 2009 als Restored Edition in der vom Autor hinterlassenen Fassung inklusive zusätzlicher, bisher unbekannter Skizzen und Fragmente vorliegt.96 Diese Erinnerungen an seine in den zwanziger Jahren verlebte Zeit in Paris, die der gealterte und depressive Hemingway in seinen letzten Lebensjahren zwischen 1957 und 1960 verfasst hat97 , schildern zwar einerseits reale Erlebnisse des Autors, beeindrucken und fesseln die Leser und Leserinnen vor allem durch die Genauigkeit der Erinnerung sowie den die Topographie und Atmosphäre betreffenden Detailreichtum. Andererseits sind sie erstens durch Selbstmystifizierung und legendenbildende Tendenzen98 geprägt, so dass dem Autor in einigen Rezensionen ein regelrechter Zwang zur heldenhaften Inszenierung seiner selbst nachgesagt wird99 , und zweitens wird in den Texten selbst das Verhältnis von Fiktion und Faktualität verhandelt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Einig sind sich die Rezensionen darin, dass Hemingways Memoiren mit der Neuausgabe nicht nur auf gebührende Weise gewürdigt werden, sondern auch, dass trotz der scheinbaren Fragmenthaftigkeit und Unabgeschlossenheit kein »Steinbruch, sondern ein ungemein ehrliches und eindringliches Textlabor von Hemingways letztem Buchprojekt in statu nascendi«100 entstanden sei, in dem der Fokus auf dem professionellen Schreiben im Café im Sinne eines ›Handwerks‹, auf synästhetischen Reizen und der Atmosphäre von Paris in den zwanziger Jahren liege. Darin werde mittels Hemingways Blick nicht nur die »Liebe zur Schöpfung« in einer »hymnische[n] Feier von Einfachheit und Geradli-
Ernest Hemingway: A Moveable Feast. The Restored Edition, hg. v. Séan Hemingway, London 2011. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »MF« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Hingegen folgte die von seiner Frau Mary Hemingway und Harry Brague vom Scribner Verlag herausgegebene, erste Veröffentlichung im Frühjahr 1964 nicht dem Originalmanuskript. Vielmehr nahmen die Herausgeber bedeutende Eingriffe am Manuskript vor, änderten die Reihenfolge der Kapitel, kürzten den Text beziehungsweise nahmen Material, das Hemingway selbst verworfen hatte, wieder mit hinein. Vgl. die dem Buch vorangestellte »Introduction« von Hemingways Enkel Séan Hemingway, in: ebd., S. 1-13, S. 2f. 97 Er fand seine Notizbücher und Manuskripte aus den zwanziger Jahren im November 1956 im Pariser Hotel Ritz. Nachdem er sich das Material in zwei Koffern hatte aushändigen lassen, begann er auf seinem Anwesen in Kuba mit den Aufzeichnungen seines Erinnerungsbuches A Moveable Feast. Vgl. Séan Hemingway: »Introduction«, S. 1. 98 Vgl. Hans-Peter Rodenberg: Ernest Hemingway, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 45. 99 Vgl. Richard Kämmerlings: »Paris trägst du für den Rest deines Lebens in dir«, in: WELT am Sonntag, 26.06.2011, S. 55. 100 Hanns-Josef Ortheil: »Es geht nur um das Glück. Die Urfassung von Hemingways unvollendetem Paris-Buch ist endlich zu lesen«, in: DIE ZEIT, 26.06.2011, S. 53. 96
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nigkeit«101 zelebriert, sondern mit dem Gongschlag des einprägsamen ersten Satzes102 vielmehr der Beginn einer endlosen Traumreise [eingeläutet], mitten hinein in das Leben der Literaten- und Maler-Clubs und so nahe dran an den Atmosphären von Boheme, Hinterhof und Literaten-Café, dass man sich wie ein Eingeweihter vorkommen konnte. Im Zentrum dieser Einweihung aber stand die Initiation in das Schriftstellerleben, wie es verführerischer und vor allem problemloser nie geträumt worden ist.103 Hanns-Josef Ortheil betont in diesem Zitat nicht ganz nachvollziehbar die Problemlosigkeit von Hemingways ersten Schreibversuchen, da Hemingway selbst im Buch sein Hadern mit der Disziplin, sein Bedürfnis nach Stimulanzien wie Alkohol oder seine finanziellen Ängste geradezu betont. Im Zitat wird jedoch deutlich, dass der Text sich zum einen dadurch auszeichnet, dass er die Lesenden in Hemingways Alltag und Überlegungen miteinbezieht, beispielsweise mittels der Verwendung der zweiten Person Plural, wodurch der Eindruck erweckt wird, Hemingway spreche sowohl zu sich selbst als auch zu den Leserinnen und Lesern.104 Zum anderen ist »verführerisch« genau die Beschreibung der Empfindung, die Hemingway mit seinem Text bewirkt: Unabhängig davon, ob er uns an einem einfachen Mittagsmahl (z.B. MF 68f.), einem Schreibversuch im Café (z.B. MF 169) oder einem Spaziergang (z.B. MF 23, 65f.) teilhaben lässt, kann man Hemingways Empfindungen und dem Hall seiner Schritte nachspüren, jeden Bissen, die Gerüche und Stadtansichten mit dem Erzähler zusammen wahrnehmen, schmecken und riechen. Hemingway beschreibt auch das schriftstellerische Potential von Paris und die Atmosphäre dieser Stadt, die Freiheit und Luxus für ihn bedeutet105 und in der er und
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Ortheil: »Es geht nur um das Glück. S. 53. Vgl. »Then there was the bad weather.« (MF 15) Ortheil: »Es geht nur um das Glück«, S. 53. Vgl. Séan Hemingway: »Introduction«, S. 4. Richard Lehan dagegen erklärt, Hemingway hege eine tiefe Aversion gegen Paris, wenn er ihn mit Jake Barnes, dem Ich-Erzähler aus Hemingways Roman Fiesta vergleicht, welcher deutliche Züge des Autors trage, und laut Lehan das Leben in der Stadt so sehr verachtet, dass er nur beim Fischen am Irati in Spanien Ruhe und Frieden finden könne: »It took almost fifty pages for Hemingway to move from this personal sphere into the story, creating Jake Barnes as a vehicle to convey his own impressions. Thus Jake expresses his likes and dislikes, his impatience with Paris, and his sense of relief in Burguete. Hemingway’s aversion to the city is powerfully expressed through the vivid impressions of a viewer. When Jake describes Paris in the morning – the streets slick with water, the smell of roasting chestnuts, the scent of strong coffee from the cafe – that also captures an impression in a manner very close to impressionistic art, each detail illustrating an engaged subjectivity. Hemingway worked in a primitive and elemental time grounded in the impressionistic. His city comes to life through such impressionistic detail (e.g. scent of coffee); otherwise, he found the city wanting.«, in: Richard Lehan: The City in Literature. An Intellectual and Cultural History, Berkeley/Los Angeles/London 1998, S. 256. Der Text selbst gibt keinen Hinweis darauf, dass Lehans Behauptung plausibel ist. Hemingway schreibt, dass er mit seiner Familie eine sehr glückliche Zeit dort verlebt hat, obwohl sie kaum Geld zur Verfügung hatten. Aber Paris habe ihm und seiner Frau in ihrem Leben eine kurze Zeit mit vielen ideellen Werten geschenkt: »There is never any ending to Paris […]. It was always worth it and we received a return for whatever we brought to it.« (MF 236); »but this is how Paris was in the early days when we were very poor and very happy.«
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
seine Frau Hadley sich wohlfühlen und integrieren. Aber er kritisiert ebenso sowohl in A Moveable Feast als auch im Roman Fiesta die ›Amerikanisierung‹ der traditionellen Pariser Lokale während der zwanziger Jahre. Als der Schriftsteller Evan Shipman ihm erzählt, dass sein Lieblingscafé, La Closerie des Lilas, nach dem Besitzerwechsel in eine amerikanische Bar verwandelt werden soll, um reichere Kundschaft und amerikanische Touristen und Touristinnen anzulocken, hat er großes Mitgefühl für die Kellner André und Jean, die von nun an das weiße Jackett eines amerikanischen Barkeepers tragen und ihren geliebten Schnurrbart abrasieren müssen.106 Hemingway beschäftigt sich gedanklich noch lange mit der schmerzlich empfundenen Ummodelung der Closerie, da dies sein »home café« (MF 170) sei, das er zum Leben und Schreiben brauche. Er denkt fortwährend an die glücklichen »old days« (MF 129), die er in diesem charakteristischen Pariser Café mit Freunden verbracht hat, und welche für ihn die nostalgische Erinnerung an seine Jugend in Paris ausmachen. Aufgrund dieser Begeisterung versucht er mehrmals, seinem Freund Scott Fitzgerald die französische Lebensweise nahezubringen und ihn für die Menschen seiner Umgebung zu erwärmen; jedoch bleiben die Fitzgeralds nie lange an einem Ort in Europa, leben meist in großen touristischen Hotels und verkehren nur mit US-amerikanischen Landsleuten, sprechen nicht die Landessprache oder versuchen kaum, sich auf eine fremde Kultur und Lebensart einzulassen107 : I thought of telling Scott about this whole problem of the Lilas […] but I knew he did not care about waiters nor their problems nor their great kindnesses and affections. (MF 220). In Stefan Zweigs autobiographischem Text Die Welt von Gestern (1942) macht Zweig im Kapitel »Paris, die Stadt der ewigen Jugend« der französischen Hauptstadt und deren Cafés eine ähnliche Liebeserklärung wie Hemingway: »Aber doch, nirgends und nirgends hat man die naive und zugleich wunderbar weise Unbekümmertheit des Daseins beglückter empfinden können als in Paris, wo sie durch Schönheit der Formen, durch Milde des Klimas, durch Reichtum und Tradition glorreich bestätigt war. […] Es gab keinen Zwang, man konnte sprechen, denken, lachen, schimpfen, wie man wollte, jeder lebte, wie es ihm gefiel, gesellig oder allein, verschwenderisch oder sparsam, luxuriös oder bohèmehaft, es war für jede Besonderheit Raum und gesorgt für alle Möglichkeiten.«, »Ach, was lebte man schwerelos, lebte man gut in Paris und insbesondere, wenn man jung war! Schon das bloße Flanieren war eine Lust und zugleich eine ständige Lektion, denn alles stand jedem offen […] War man müde, so konnte man auf der Terrasse eines der zehntausend Kaffeehäuser sitzen und Briefe schreiben auf dem unentgeltlich gegebenen Briefpapier«, in: Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a.M. 2005, S. 153; 155. Zweig erlebt mit fast körperlichen Schmerzen, wie Paris im Juni 1940 von der Wehrmacht besetzt wird und traditionelle Lokale von den Deutschen vereinnahmt werden: »Ich weiß es wohl, dieses selig beschwingte und schwingende Paris meiner Jugend ist nicht mehr; vielleicht wird ihm niemals mehr jene wunderbare Unbefangenheit zurückgegeben werden, seit die härteste Hand der Erde ihm das eherne Brandmal herrisch aufgedrückt. […] die Hakenkreuzfahne weht vom Eiffelturm, die schwarzen Sturmtruppen paradieren herausfordernd über Napoleons Champs Elysées, und ich fühle von weitem mit, wie in den Häusern die Herzen sich krampfen, wie gedemütigt die einst so gutmütigen Bürger blicken, wenn durch ihre traulichen Bistros und Cafés die Stulpenstiefel der Eroberer stapfen.«, in: ebd. S. 151. 106 Vgl. »They can’t do that to André and Jean. […] Jean has had a mustache all his life. That’s a dragoon’s mustache. He served in a cavalry regiment.« (MF 106) 107 Vgl. Scott Donaldson: Hemingway vs. Fitzgerald. The Rise and Fall of a Literary Friendship, London 2000, S. 59.
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At that time Scott hated the French, and since almost the only French he met with regularly were waiters whom he did not understand, taxi-drivers, garage employees and landlords, he had many opportunities to insult and abuse them. (MF 143f.) Auch in der Kurzgeschichte »American Bohemians in Paris«, die am 25. März 1922 im Toronto Star Weekly erscheint, beschreibt Hemingway, dass die Pariser Lokale durch seine ›ungebildeten‹ Landsleute ›überflutet‹ würden und ist sehr ungehalten über diese Veränderungen in Paris, da gerade die Ursprünglichkeit der französischen Cafés und deren typische Kundschaft ihren Reiz ausgemacht hätten. Er ärgert sich in seinen Texten über die Sitten und das Benehmen der amerikanischen Touristen und Touristinnen, welche die Atmosphäre und die Annehmlichkeiten von Paris nicht zu schätzen wüssten. Hemingway urteilt sehr drastisch, bezeichnet seine müßigen Zeitgenossen und -genossinnen als ›Bummler‹ und nennt sie den ›Abschaum‹ Amerikas: The scum of Greenwich Village, New York, has been skimmed off and deposited in large ladlesful on that section of Paris adjacent to the Café Rotonde. New scum, of course, has risen to take the place of the old, but the oldest scum, the thickest scum and the scummiest scum has come across the ocean, somehow, and with its afternoon and evening levees has made the Rotunde the leading Latin Quarter show place for tourists in search of atmosphere. It is a strange-acting and strange-looking breed that crowd the tables of the Café Rotonde. They have all striven so hard for a careless individuality of clothing that they have achieved a sort of uniformity of eccentricity. A first look into the smoky, high-ceilinged, table-crammed interior all of Rotunde gives the same feeling that hits you as you step into the bird house at the zoo. There seems to be a tremendous, raucous, many-pitched squawking going on broken up by many waiters who fly around through the smoke like so many black and white magpies. The tables are full – they are always full – someone is moved down and crowded together, something is knocked all for, more people come in at the swinging door, another black and white waiter pivots between tables towards the door […].108 Hemingway beschreibt sehr plastisch und abschätzig, wie seine ›nichtsnutzigen‹ und wenig unterscheidbaren Landsleute auf passive Weise wie eine minderwertige, unverwertbare, schleimige ›Masse‹ von den USA aus über den Atlantik nach Europa befördert wurden, wo sie sich eingenistet haben und sich nun fest mit dem Quartier Latin und dem Café Rotunde verbunden fühlen. Um den Fokus auf die abstoßende Wirkung dieser ›schleimigen amerikanischen Welle‹ zu legen, wiederholt er immer wieder das Wort »scum«, verstärkt dieses Bild auch noch durch alliterierende Steigerungen wie »thickest scum« und »scummiest scum«, um die unangenehme Atmosphäre zu beschreiben, die seiner Meinung nach in den Lokalen vorherrscht und gleichzeitig anziehend auf Touristen und Touristinnen wirkt. Die im Café befindlichen Personen, sowohl die Gäste als auch die Kellner, werden mit Tieren verglichen, die ihnen in ihrer Farbgebung, ihren typischen Bewegungen und kreischenden Geräuschen ähneln, und deren Gebaren dem Café die hektische Atmosphäre eines bevölkerten, lautstarken Tiergeheges oder
108 Ernest Hemingway: »American Bohemians in Paris«, in: ders.: By-Line. Selected Articles and Dispatches of Four Decades, hg. v. William White, New York 1967, S. 23-25, S. 23.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
einer geschäftigen Zirkusmanege verleiht. Ebenso wie Herwarth Walden macht sich Hemingway im Text über die ›Möchtegern-Künstler‹ lustig, die im Café sitzen und sich als außergewöhnlich inszenierten, dabei aber nur ein Teil einer gleichförmigen Masse seien, aus der niemand aufgrund von Talent oder Leistung hervortrete109 : You can find anything you are looking for at the Rotonde – except serious artists. […] They are nearly all loafers expending the energy that an artist puts into his creative work in talking about what they are going to do and condemning the work of all artists who have gained any degree of recognition. By talking about art they obtain the same satisfaction that the real artist does in his work. Since the good old days when Charles Baudelaire led a purple lobster on a leash through the same old Latin Quarter, there has not been much good poetry written in cafes.110 Diesen von ihm verachteten ›Faulenzern‹ wirft er vor, ständig mit ihren schriftstellerischen Plänen anzugeben, anstatt wirklich zu schreiben, und die Leistung sowie das Talent derjenigen zu verunglimpfen, die tatsächlich im Café arbeiten sowie obendrein die auf Baudelaire zurückgehende Figur des dandyhaften Flaneurs zu imitieren, als sei dies bereits eine Leistung, die ihre Bedeutung als Schriftsteller steigern würde. Hemingway bemüht sich in A Moveable Feast sehr darum, sich selbst als hart arbeitenden Schriftsteller darzustellen, der nicht müßig im Café sitzt, sondern stets auf den Fortschritt und die Qualität seiner Texte bedacht ist und um deren Willen ernst genommen werden möchte. Er schreibt, dass er nur in Cafés voller Gäste geht, die gearbeitet hätten (vgl. MF 83) und stattdessen die lärmigen Cafés meidet, in denen jeder jeden kenne und in die man nur gehe, um von einem großen Publikum gesehen zu werden: People from the Dôme and the Rotonde never came to the Lilas. There was no one there they knew, and no one would have stared at them if they came. In those days many people went to the cafés at the corner of the Boulevard Montparnasse and the Boulevard Raspail to be seen publicly and in a way such places anticipated the columnists as the daily substitute for immortality. (MF 73) Die Closerie des Lilas dagegen sei ein persönlich geführtes und »one of the nicest cafés in Paris« (MF 73), da es den Gästen dort nicht um die ›Vermarktung‹ ihrer selbst oder um Klatsch gehe: Most of the clients knew each other only to nod and there were elderly bearded men in well worn clothes who came with their wives or their mistresses […]. We thought of them all hopefully as scientists or savants and they sat almost as long over an aperitif as the men in shabbier clothes who sat with their wives or mistresses over a café crème […]. These people made it a comfortable café since they were all interested in each other and in their drinks or coffees, or infusions, and in the papers and periodicals which were fastened to rods, and no one was on exhibition. (MF 74)
109 Diese Thematik wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch einmal bei der Analyse von Texten von Erich Kästner und Siegfried Kracauer aufgegriffen (vgl. Kapitel V.2). Die Thematisierung dieser Künstlerinszenierung soll als Kennzeichen der ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden. 110 Hemingway: »American Bohemians in Paris«, S. 24f.
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Um diesen Fokus der Ernsthaftigkeit zu unterstreichen, finden sich in seinem Text weniger konkrete Handlungsstränge, die erzählt werden, sondern vielmehr Überlegungen und Metakommentare zu seinem persönlichen, stets mit der Topographie111 verknüpften Schreibstil, zum handwerklichen Prozess des Schreibens, zu den Schreibutensilien und seiner eigenen poetologischen ›Theorie der Reduktion‹ sowie dem fiktionalen Gehalt seiner Texte. So bezeichnet er seine Erinnerungen in den der Restored Edition angefügten Fragmenten als dezidiert fiktiven Text, wobei jedoch in jeder Fiktion ein Funke Wahrheit stecken könne: »This book is fiction. But there is always a chance that such a work of fiction may throw light on what has been written as fact.« (MF 230) Dieser Absatz wird mit jeweils leicht veränderter Formulierung wie ein Mantra mehrmals wiederholt, was einerseits die Relevanz für den Autor und andererseits auch dessen Unsicherheit in Bezug auf die Formulierung deutlich macht, besonders, wenn er schuldbewusst versucht, das Ende seiner Ehe mit Hadley und den Beginn der Beziehung zu seiner zweiten Frau Pauline darzustellen.112 Gleichzeitig spielt Hemingway in diesem fragmenthaften, unfertigen Nachwort mit der Problematik von Fakt und Fiktion und verschleiert dieses Verhältnis mit seinen Worten umso mehr, während er seinen Text verteidigt, um nicht auf eine faktuale Lesart festgelegt zu werden. So bleibt die Hybridität des Textes bestehen und zeigt sich verantwortlich für den von diesem Text ausgehenden Reiz: It was necessary to write as fiction rather than as fact […]. All remembrance of things past is fiction and this fiction has been cut ruthlessly and people cut away just as most of the voyages are gone along with people that we cared for deeply. […] It would be fine if it could all be true but lacking that I have attempted in this fiction only to make it interesting. […] This book is fiction and many things have been changed in fact to try to make it a picture of a true time. (MF 230f.) Das Wort »true« kann als Schlüssel nicht nur in Bezug auf Hemingways Begriff von literarischer Qualität113 sowie sein Verständnis von Fiktionalität angesehen werden, sondern auch im Hinblick auf seinen Schreibstil insgesamt. So überzeugt er sich selbst davon, dass er – besonders in Momenten, wenn der Schreibfluss stockt – wenigstens
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Vgl. »Maybe away from Paris I could write about Paris as in Paris I could write about Michigan.« (MF 19); vgl. ebenso z.B. MF 17; 22; 169. Vgl. Séan Hemingway: »Introduction«, S. 9. Vgl. »I have left out much and eliminated and I hope Hadley understands. […] Hadley would know and understand why certain things were altered I hope and why it was fiction. She would understand why fictionis fiction and when it is fact.« (MF 229f.) Vgl. Ernest Hemingways Beitrag »Monologue to the Maestro: A High Seas Letter«, der im Oktober 1935 im Magazin Esquire publiziert worden ist: »Good writing is true writing. If a man is making a story up it will be true in proportion to the amount of knowledge of life that he has and how conscientious he is; so that when he makes something up it is as it would truly be. […] If it was reporting they would not remember it. […] But if you make it up instead of describe it you can make it round and whole and solid and give it life. You create it, for good or bad. It is made; not described. It is just as true as the extent of your ability to make it and the knowledge you put into it.«, in: ders.: By-Line. Selected Articles and Dispatches of Four Decades, hg. v. William White, New York 1967, S. 213-220, S. 215f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
einen einzigen ›wahren‹ Satz schreiben müsse, von dem ausgehend die geplante Geschichte ihren weiteren Verlauf nehmen könne: But sometimes when I was starting a new story and I could not get it going, I would sit in front of the fire and squeeze the peal of the little oranges into the edge of the flame and watch the sputter of blue that they made. I would stand and look out over the roofs of Paris and think, ›Do not worry. You have always written before and you will write now. All you have to do is write one true sentence. Write the truest sentence that you know.‹ […] It was easy then, because there was always one true sentence that you knew or had seen or had heard someone say. […] I found that I could cut that scrollwork or ornament out and throw it away and start with the first true simple declarative sentence I had written. (MF 22) In diesem Zitat wird nicht nur deutlich, dass der Erzähler in einem permanenten motivierenden Dialog mit sich selber steht114 , in dem er alle Zweifel und Argumente diskutiert und sich selbst Mut zuspricht, sondern auffällig ist auch die dichte, von Reizen übervolle Atmosphäre, die geschildert wird: So spürt die Leserin oder der Leser förmlich die Wärme des Feuers, sieht die sprühenden Funken im Vordergrund, im Hintergrund die Silhouette der Stadt Paris und riecht den Duft, der von den Orangenschalen aufsteigt. Die Schilderung von Sinnesreizen, tief empfundenen Emotionen und gespürter Atmosphäre gehören für Hemingway zum Kern dessen, was ein ›wahrer Schriftsteller‹ für ihn bedeutet.115 Anhand dieser panoramatischen Beschreibung seiner Hotelzimmer-Schreibstube lässt sich die Verbindung zu den impressionistischen Gemälden und Stillleben nachvollziehen, die Hemingway im Musée du Luxembourg bewundert (vgl. MF 65). Diese würden ihn lehren, dass ›einfache‹ und ›wahre‹ Sätze zwar einen Beginn darstellten, aber nicht ausreichten, um seinen Texten den nötigen Tiefgang zu verleihen: »I was learning something from the painting of Cézanne that made writing simple true sentences far from enough to make the stories have the dimensions that I was trying to put in them.« (MF 23) In diesem Zusammenhang können auch die alternativen Titelvorschläge von A Moveable Feast betrachtet werden, auf die sein Enkel Séan im Vorwort hinweist und die Hemingway 1961 seinem Verleger Charles Scribner übersandte, darunter auch seinen Favoriten »The Early Eye and The Ear«, mit dem der Autor laut Séan Hemingway einen Zusammenhang zwischen Musik, Malen und Schreiben herstellen und die Relevanz des einzelnen Elements innerhalb eines Kunstwerks betonen wollte:
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Vgl. auch »What did I know best that I had not written about and lost? What did I know about truly and care for the most?« (MF 72). Vgl. Ernest Hemingways Artikel »Old Newsman writes: A letter from Cuba«, der im Dezember 1934 im Magazin Esquire erschienen ist: »All good books are alike in that they are truer than if they had really happened and after you are finished reading one you will feel that all bad happened to you and afterwards it all belongs to you; the good and the bad, the ecstasy, the remorse and sorrow, the people and the places and how the weather was. If you can get so that you can give that to people, then you are a writer.«, in: ders.: By-Line. Selected Articles and Dispatches of Four Decades, hg. v. William White, New York 1967, S. 179-185, S. 184.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
The eye […] draws an interesting comparison between writing and painting, a subject that Hemingway discusses in A Moveable Feast, especially his learning from the paintings of Cézanne. Hemingway first developed his eye, his ability to discern the gold from the dross and turn his observations into prose, in Paris in the twenties. The ear, which we think of as more pertinent to musical composition, is clearly important to creative writing. Hemingway’s writing typically reads well when spoken aloud. When complete, his writing is so tight that every word is integral, like notes in a musical composition. In his early years in Paris, he learned about the value of rhythm and repetition in writing from Gertrude Stein and, especially, James Joyce […]. The Early Eye and The Ear gets at the need to hone your craft, something Hemingway truly believed in and worked at all his life.116 Ausgehend von einem ›wahren‹ Satz versucht Hemingway diese authentische, vom Überflüssigen befreite und handwerklich vollkommene Schreibmethode durch ein zweigleisiges Verfahren zu erreichen: Erstens entwickelt Hemingway eine Theorie der Reduktion, innerhalb dessen er alles Überflüssige, alles Ausschmückende weglässt, so dass nur noch diejenigen Elemente ohne weitläufige Ausschweifungen im Text übrig bleiben, die seiner Ansicht nach das Authentische in konzentrierter Form ausmachen: All of that Paris you could never put into a single book and I have tried to write by the old rule that how good a book is should be judged, by the man who writes it, by the excellence of the material that he eliminates. So much that was interesting and instructive is gone and this book is an attempt to distill rather than amplify. (MF 233f.) In writing there are many secrets too. Nothing is ever lost no matter how it seems at the time and what is left out will always show and make the strength of what is left in. Some say that in writing you can never possess anything until you have given it away […]. (MF 222) Dieses auf das Wesentliche reduzierte Schreibverfahren bezeichnet er 1958 in einem Interview mit George Plimpton als ›Eisbergverfahren‹117 . Dieser Begriff sollte ausdrücken, dass das dem literarische Text zugrunde liegende Wissen zwar unter der Wasseroberfläche verborgen liege, das Ausgelassene die Lesenden jedoch gerade dann im Unterbewusstsein anspreche, wenn der Text von hoher literarischer Qualität und Sachkenntnis sei118 und der Autor den Mut und die geduldige Zuversicht habe, um etwas Neues auszuprobieren, was jedoch nicht alle sofort verstünden:
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Séan Hemingway: »Introduction«, S. 11f. Vgl. »I always try to write on the principle of the iceberg. There is seven-eighths of it underwater for every part that shows. Anything you know you can eliminate and it only strengthens your iceberg. It is the part that doesn’t show. […] So I left that out. All the stories I know from the fishing village I leave out. But the knowledge is what makes the underwater part of the iceberg.«, in: George Plimpton: »Ernest Hemingway«, in: ders. (Hg.): Writers at Work. The Paris Review Interviews, 2nd series, New York 1963, S. 216-239, S. 235f. Vgl. »Anything you can omit that you know you still have in the writing and its quality will show. When a writer omits things he does not know, they show like holes in his writing.«, in: Plimpton: »Ernest Hemingway«, S. 229.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
It was a very simple story called ›Out of Season‹ and I had omitted the real end of it which was that the old man hanged himself. This was omitted on my new theory that you could omit anything if you knew that you omitted and the omitted part would strengthen the story and make people feel something more that they understood. Well, I thought, now I have them so they do not understand them. There cannot be much doubt about that. There is most certainly no demand for them. But they will understand the same way that they always do in painting. It only takes time and it only needs confidence. (MF 71) Hemingways »Poetik der radikalen Verknappung«119 wurde nicht nur von anderen Schriftstellern und Schriftstellerinnen bewundert und kommentiert120 , sondern auch vorgelebt und nachgeahmt121 , und soll im Rahmen dieser Arbeit als Facette eines Kaffeehausschreibverfahrens gelten. Zweitens sei es das Ziel seines Schreibverfahrens gewesen, bestimmte ›typische‹ Formulierungen122 zu verwenden beziehungsweise das authentische Material so zu verWolfgang Schneider: »Die wahren und guten Dinge«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.07.2011, URL: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/buecher-der-woche/f-a-z-romane-der-woche-diewahren-und-guten-dinge-17282.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (25.08.2018). 120 Vgl. die begeisterte Würdigung von Hemingways Stil in Alfred Polgars Kurzprosatext »Hemingway«: »Wenn du, bestürmter Leser, Literatur willst, die das kaum noch ist (so völlig scheint jeder Tropfen von Literarischem aus ihr fort destilliert), an der keine Spur von des Schreibtischs Müh’ und Absicht haftet, die nicht fälscht und färbt, sondern merkwürdigen, des Merkens würdigen Vorgang rein darstellt, gleichsam in Kristallform, denn lies den Amerikaner Hemingway […]. […] Hemingways Geschichten sind nackter Realismus, in der Darstellung von einer schon fast romantischen Nüchternheit […]. Auch an Schilderung wird nur das Existenzminimum gegeben […].«, in: Alfred Polgar: »Hemingway«, in: ders.: Kleine Schriften, Bd. 4, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 152-163, S. 153f.; weiter heißt es: »Seine Art des Erzählens in ihrer Herbheit, Härte und gleichsam blühenden Knappheit ist eine wahre Literarität. Es ist genialisch, wie da mit kleinstem Worte-Aufwand Sein und Müssen einer Menschengestalt bestimmt werden, ihre besondere Stärke und der Grund ihres geringsten Widerstands, die Beziehungen, in die sie gestellt, das Fatale, dem sie unterworfen ist, ihre Stellung und Chance im Kampf gegen dieses. Psychologie bleibt weg, beschrieben wird nicht, die Figuren beschreiben sich selbst durch Reden und Schwierigkeiten, durch die Handlung, die sie tun, und die Haltung, die sie einnehmen.«, in: ebd. S. 156. Vgl. auch Polgars »Orchester von oben«, vgl. Kapitel IV.3.2. 121 Vgl. der Kommentar des in Cafés arbeitenden Protagonisten Michael in Leonhard Franks autobiographischem Roman Links, wo das Herz ist (1952): »Während dieser Arbeit von eineinhalb Jahren war Michael zu der Überzeugung gelangt, daß im schnellen 20. Jahrhundert jedes Romanthema auf 300-400 Seiten vollendet abgehandelt werden könne,wenn es gelänge, in klarer, einfacher Sprache mit den treffenden Worten immer das Wesentliche der Schauplätze und Situationen, nur das Charakteristische der handelnden Person zu schildern und dennoch einen scheinbar von selbst entstandenen ruhigen Fluß der Geschichte zu erzielen. Da erscheine diese neu geschaffene Wirklichkeit, von der vorher nichts existiert habe, dem Leser so selbstverständlich wie die Wirklichkeit. Ein auf diese Weise geschriebener Roman könne unvergleichlich mehr an Lebensvorgang und Menschenschicksalen enthalten als ein breit geschriebener Roman in drei Bänden über dasselbe Thema, und er fessele stärker das Interesse des Lesers. Nur koste der verkürzt geschriebene Roman auch unvergleichlich mehr Hingabe und Arbeit als der dickbäuchige.«, in: Leonhard Frank: Links, wo das Herz ist, Frankfurt a.M./Berlin 1991, S. 108. 122 Nachdem Gertrude Stein Hemingways Kurzgeschichte »Up in Michigan« aufgrund des Themas und der realistischen Art der Schilderung als »inaccrochable« bezeichnet hat, verteidigt sich Hem-
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ändern, dass die Geschichte interessant wird und die Lesenden glauben, der Erzähler der Geschichte habe all das, wovon er berichtet, wirklich erlebt. Wie er 1925 in einem Brief an seinen Vater schreibt, solle man keinerlei Zweifel daran haben, dass die Geschichte nicht ›fiktiv‹ ist, sondern während des Lesens das Gefühl haben, die beschriebenen Erlebnisse selbst zu durchleben: You see I’m trying in all my stories to get the feeling of the actual life across – not just depict life – or criticize it – but to actually make it alive. So that when you have read something by me you actually experience the thing. You can’t do this without putting in the bad and the ugly as well as what is beautiful. Because if it is all beautiful you can’t believe in it. Things aren’t that way. It is only by showing both sides – 3 dimensions and if possible 4 that you can write the way I want to.123 Hierbei geht es dem Autor nicht darum, auszudrücken, ob er selbst das beschriebene Ereignis wirklich erlebt hat, also ob es im wahrsten Sinne des Wortes ein autobiographisches Element darstellt. Vielmehr ist ihm wichtig, etwas zu schreiben, das ›wahr‹ sein könnte, so dass es möglich wäre, dass sein Erzähler oder jemand anderes das Geschilderte wirklich erlebt haben könnte. In diesem Zusammenhang ließe sich Hemingways »true« in Anlehnung an Wagner-Egelhaaf auch mit ›wahrhaftig‹124 übersetzen. Hemingway selbst unterscheidet im Kapitel On writing in the first person, welches erstmalig in der Neuausgabe veröffentlicht wurde, zwar zwischen dem »writer« und dem »narrator«, hält die Frage nach der Faktualität der Geschichte, also danach, ob etwas von einem Erzähler oder einer Erzählerin »wirklich« Erlebtes oder über etwas Erfundenes berichtet wird, jedoch für völlig unerheblich und verspottet die »members of the private detective school of literary criticism« (MF 181), weil diese stets zu ergründen versuchten, ob die in der ersten Person verfassten Geschichten eines Autors oder einer Autorin wirklich selbst erlebt worden seien. Für ihn persönlich habe es vielmehr oberste Priorität, eine qualitativ hochwertige, für die Leserinnen und Leser interessante Geschichte zu erzählen. Für diesen Zweck schöpft er Material aus seiner eigenen Erfahrung, aber auch aus anderen Quellen und bearbeitet dieses dann so, dass die Leserinnen und Leser sich vorstellen können, der Autor sei die Hauptfigur der Geschichte: When you first start writing stories in the first person, if the stories are made so real that people believe them, the people reading them nearly always think the stories really happened to you. That is natural because while you were making them up you had to make them happen to the person who was telling them. If you do this successfully enough, you make the person who is reading them believe that the things happened to him to. […] In the early days writing in Paris I would invent not only from my own
ingway: »But what if it was not dirty but it is only that you are trying to use words that people would actually use? That are the only words that can make the story come true and that you must use them? You have to use them.« (MF 25) 123 Brief Hemingways vom 20. März 1925 an seinen Vater Dr. C. E. Hemingway, in: Ernest Hemingway: Selected Letters 1917-1961, hg. v. Carlos Baker, London/Toronto/Sydney/New York 1981, S. 153. 124 Vgl. »Wenn die Autobiographie nicht im Stande ist, die ›wahre Wirklichkeit‹ zu protokollieren, so hat sie doch ›wahrhaftig‹ zu sein, das heißt nach bestem Wissen und Gewissen zu berichten.«, Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 3.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
experience but from the experiences and knowledge of my friends and all people I had known, or met since I can remember, who were not writers. I was very lucky always that my best friends were writers and to have known many intelligent people who were articulate. (MF 181f.) In der einschlägigen Forschung heißt es, Hemingway habe Menschen, deren Charakter sowie die von ihm aufgesuchten Orte und erlebten Genüsse förmlich aufgesogen wie ein Schwamm125 und damit einen Arbeits-, Schreib- und Lebensstil im Sinne eines »living it up to write it down« etabliert.126 Jacqueline Tavernier-Courbin beschreibt die Trennlinie zwischen Fiktion und Autobiographie bei Hemingway als äußerst fragil und ›wacklig‹, da seine fiktionalen Texte unzählige autobiographische Elemente enthielten und bewusste Projektionen und Erkundungen des Autors selbst seien127 , die er unternehme, um sich als ehrlichen, hingebungsvollen und lebensbejahenden Menschen und Schriftsteller zu inszenieren. Zudem habe dies den Zweck, seine Vergangenheit aus der Rückschau zu rehabilitieren und zu idealisieren, im Sinne einer Erschaffung des ›künstlerischen Ganzen‹, in dem er selbst sein ›bevorzugter Protagonist‹ sei128 : […] und bedenkt man, in welchem Maß die autobiographische Rekonstruktion ihren eigenen Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten folgt, etwa den Erfordernissen des autobiographischen Diskurses oder im Wunsch, ein Lebensganzes darzustellen, wo ein Leben im Rückblick vielleicht eher unübersichtlich erscheint, kann man durchaus auch von ›Konstruktion‹ sprechen – Er-innerung nicht als Nachinnenholen eines einstmals innen Gewesenen, […] will sagen Vergessenen, sondern Er-innerung als Geste der Verinnerung eines (so) niemals innen Gewesenen.129 So lässt sich mit Wagner-Egelhaaf konstatieren, dass Hemingway im Rahmen eines ›Willensaktes‹ darauf abgezielt haben könnte, »der Erinnerung die Vergangenheit abzuverlangen«, um das eigene Leben mithilfe der Erinnerung zu ›rekonstruieren‹ oder vielmehr zu ›konstruieren‹.130 Hemingways autobiographischer Text kann nicht als ›Idealtypus‹ der ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden, da er trotz seiner Episodenhaftigkeit nicht der ›Kleinen Prosa‹ entspricht. Da die erwähnten Pariser Cafés jedoch eine große Relevanz für sein Schreiben haben und der Text alle übrigen, unter IV.5 definierten inhaltlichen Merkmale aufweist, wie das autobiographische Gepräge, das Oszillieren zwischen Fakt und Fiktion, das Heraufbeschwören einer sehr dichten, auf Sinnesreizen beruhenden Atmosphäre131 sowie die Thematisierung des Cafés als Schreibort, des eigenen Schreibstils William White: »Hemingway Needs No Introduction…«, in: Ernest Hemingway: By-Line. Selected Articles and Dispatches of Four Decades, hg. v. William White, New York 1967, S. xi-xiv, S. xii. 126 Linda Underhill/Jeanne Nakjavani: »Food for Fiction: Lessons from Ernest Hemingway’s Writing«, in: Journal of American Culture 15:2 (1992), S. 87-90, S. 87. 127 Vgl. Jacqueline Tavernier-Courbin: »Fact and Fiction in A Moveable Feast«, in: Hemingway Review 4:1 (1984), S. 44-51, S. 44. 128 Tavernier-Courbin: »Fact and Fiction in A Moveable Feast«, S. 46ff. Vgl. auch Jacqueline TavernierCourbin: Ernest Hemingway’s A Moveable Feast. The Making of Myth, Boston 1991, S. xiff. 129 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 13. 130 Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 13. 131 Vgl. Kapitel V.4.6. 125
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und -prozesses132 , kann Hemingways Text in den zweiten Ring der ›Kaffeehausliteratur‹ eingegliedert werden.
V.1.4.
Schicksalsmomente im Wiener Kaffeehaus
Ein anderer in der Öffentlichkeit arbeitender oder vielleicht häufig nur das Schreiben ausstellender Schriftsteller, Peter Altenberg, besaß ein großes Pappschild, das er bei Bedarf an die Stuhllehne hängte: ›Ich bin heute ausnahmslos für niemanden zu sprechen. Peter Altenberg‹. Ob es nützte, ob es ein genuiner Teil einer Inszenierung des Schreibortes war, ist ungewiß.133 Peter Altenberg, laut Claudio Magris einer der »radikalsten Vertreter«134 des Fragmentarischen und Impressionistischen innerhalb der Wiener Kultur der Moderne, thematisiert in seinen Texten das öffentliche Schreiben, inszeniert sich zumeist als ›Kaffeehausliterat‹ und als in der Öffentlichkeit arbeitender Schriftsteller; in diesem Sinne nutzt er das von Ursula Krechel im obigen Zitat erwähnte Pappschild. Daneben widmet er sich in seinen Texten vor allem der Darstellung von besonderen, schicksalsträchtigen Momenten, dem Augenblickhaften und Ausschnitthaften des menschlichen Lebens und hat mit seinen Texten eine »stark autobiographisch gefärbte Variante des Feuilletons«135 geprägt. Ein Beispiel für eine im Café stattfindende Fügung des Schicksals ist sein Text »So wurde ich« (1912) aus der Sammlung Semmering, in dem das erzählende Ich, im Folgenden »Altenberg« genannt, monologisch seine Entdeckung als Schriftsteller im Café Central durch seine Literatenkollegen beschreibt, die zufällig mitbekommen, wie Altenberg seine Skizze »Lokale Chronik« (1901) verfasst und ihn darauf so bekannt machen, dass er gedruckt wird: Ich saß im 34. Jahre meines gottlosen Lebens, Details kann eine Tageszeitung unmöglich bringen, ich saß im Café Central, Wien, Herrengasse, in einem Raume mit gepreßten englischen Goldtapeten. Vor mir hatte ich das ›Extrablatt‹ mit der Photographie eines auf dem Wege zur Klavierstunde für immer entschwundenen fünfzehnjährigen Mädchens. Sie hieß Johanna W. Ich schrieb auf Quartpapier infolgedessen, tief erschüttert, meine Skizze ›Lokale Chronik‹. Da traten Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hoffmann, Hermann Bahr ein. Arthur Schnitzler sagte zu mir: ›Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie dichten!? Sie schreiben da auf Quartpapier, vor sich ein Porträt, das ist verdächtig!‹ Und er nahm meine Skizze ›Lokale Chronik‹ an sich.136 In diesem Kurzprosastück und auch in anderen Texten137 Altenbergs werden fiktionale Elemente mit realen, autobiographischen Erfahrungen verknüpft, so dass der Autor 132 133 134 135 136 137
Vgl. Kapitel V.1.5.3. Ursula Krechel: »Ausgesetzt in Einfallschneisen«, in: Marbacher Magazin. Vom Schreiben 4: Im Caféhaus oder Wo schreiben? 74 (1996), S. 1-16, S. 13. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 189. Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, S. 195. Peter Altenberg: »So wurde ich«, in: ders.: Semmering 1912, Berlin 1913, S. 35-36, S. 35f. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »Swi« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. Peter Altenberg: »Kaffeehaus«, in: ders.: Vita Ipsa, Berlin 1918, S. 186-187.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
zum Erzähler und Protagonisten wird138 ; daneben lässt Altenberg die Ereignisse wie hier oft im Kaffeehaus spielen, weil dies sein bevorzugter Aufenthaltsort ist und in seiner Wahrnehmung ein für alle Situationen des Lebens angemessener Ort: Später sandte Karl Kraus […] an meinen jetzigen Verleger S. Fischer […] einen Pack meiner ›Skizzen‹, mit der Empfehlung, ich sei ein Original, ein Genie, Einer, der anders sei, nebbich. S. Fischer druckte mich, und so wurde ich! Wenn man bedenkt, von welchen Zufälligkeiten das Lebensschicksal eines Menschen abhängt! Nicht?! Hätte ich damals, im Café Central, gerade eine Rechnung geschrieben, über die seit Monaten nicht bezahlten Kaffees, so hätte Arthur Schnitzler sich nicht für mich erwärmt, Beer-Hofmann hätte keine literarische Soiree gegeben, Hermann Bahr hätte mir nicht geschrieben. […] Alle zusammen jedoch haben mich ›gemacht‹. Und was bin ich geworden?! Ein Schnorrer! (Swi 35f.) So lässt er in diesem Zitat einfließen, dass er als bislang unbekannter Schriftsteller chronisch an Geldmangel gelitten und daher im Café seinen Kaffee nicht bezahlt habe, sondern als »Schnorrer« auf Almosen angewiesen gewesen sei. Altenberg bezieht sich in diesem Text nicht nur auf einen für ihn persönlich wichtigen Augenblick im Leben, sondern auch auf den Entstehungsprozess des Textes »Lokale Chronik«139 , zu dem er im Kaffeehaus durch das Lesen der Zeitung inspiriert worden sei und daraufhin geschrieben habe.140 Er thematisiert hier nicht nur sehr detailliert den Schreib- und Rezeptionsvorgang seines Textes, sondern verwebt den Text auch sehr eng mit biographischen Elementen, indem er seine Entdeckung als Schriftsteller in den Text einflicht und auch einen Ausblick in eine irreale Zukunft wagt, in der er ohne die Begebenheit im Kaffeehaus nicht ›entdeckt‹ worden wäre. Eine emotionale Komponente erhält der monologische Text durch die vielen Satzzeichen, die ihm auch das Kennzeichen von Mündlichkeit verleihen.
Vgl. Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, S. 193. Vgl. Peter Altenberg: »Locale Chronik«, in: ders.: Was der Tag mir zuträgt. Fünfundsechzig neue Studien, Berlin 1901, S. 159-165. 140 Vgl. der Roman Links, wo das Herz ist von Leonhard Frank, in dem auch das schicksalsträchtige Schreiben im Café thematisiert wird: »Er fühlte sich körperlich wohl und hätte seine 10 Stunden täglich arbeiten können. Aber keines seiner Themen faszinierte ihn so stark, wie es nötig gewesen wäre, damit er das geliebte Kreuz hätte auf sich nehmen können. […] Ein dreiviertel Jahr war vergangen, als er eines Tages im Romanischen Café eine Zeitungsnotiz las, die ihn verblüffte […] Der Gerichtsbericht zuckte durch Michaels unbewachtes Bewußtsein durch, ins Gefühl, und verursachte eine blitzartige Vorstellung, die blitzschnell wieder verschwand – eine fremde Landschaft, die er nie gesehen hatte. Es wurde ihm heiß in der Brust. Er wußte nicht, warum die Notiz ihn innerlich so stark angesprochen hatte, daß er plötzlich blind und taub war für alles, was um ihn vorging. Vage Vorstellungen, die er nicht festhalten konnte, entstanden schnell hintereinander und verschwanden. […] Entflammt trug Michael die einsame Steppenlandschaft mit den zwei Kriegsgefangenen durch die Nürnberger Straße und die drei Steinstufen hinunter in das kleine Café, wo er um sechs Uhr mit Ilona verabredet war. Es war erst vier Uhr. In den zwei Stunden schrieb er auf die Papierserviette den ersten Satz von ›Karl und Anna‹ […]. Er dachte nicht mehr an den Gerichtsbericht, der nur als Zündflämmchen gedient hatte, wie das der Zündschnur für die Dynamitexplosion. Aber ›Karl und Anna‹ wäre nicht geschrieben worden, wenn er die Zeitungsnotiz von sechs Zeilen nicht gelesen hätte.«, in: Frank: Links, wo das Herz ist, S. 113. 138 139
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Daneben formuliert Altenberg in seinen Texten auch eine eigene Gattungspoetik, deren Merkmale darin bestehen, dass die Texte sich nicht auf eine bestimmte Form festlegen beziehungsweise eingrenzen lassen. So stellt er seine Texte laut Irene Köwer bewusst in einen »triasbezogenen Zwischenraum« und verweigere sich einer Einteilung in Lyrik, Epik und Dramatik, womit er die Grenze zwischen Philosophie und Literatur verwische. Zudem nehme er mit der programmatischen Bezeichnung seiner Kleinprosa als ›Extrakte‹ im Text »Selbstbiographie« im Rahmen der zeitgenössischen »Form-Inhalt-Diskussion […] eine stark inhaltsbezogene Position ein«, womit er sowohl seine Texte in ihrer Stellung hervorhebe als auch von der Dichtung abgrenze.141 Sein »Prinzip gestalterischer Kürze« kann in diesem Zusammenhang gemäß Irene Köwer als »adäquates Abbild seiner persönlichen exzentrischen Lebensweise« gewertet werden sowie als besondere Art der Darstellungsform, die seiner »unruhigen Mentalität« und seinem unsteten Arbeitsstil entgegen komme.142 Diese Verwobenheit des eigenen Lebens mit den eigenen literarischen Texten, die Nennung von Inspirationsquellen- und orten sowie die minutiöse Nacherzählung des Schreibvorgangs können neben dem kleinen Textumfang und der Thematisierung des Cafés als Schreibort als Kennzeichen der ›Kaffeehausliteratur‹ gewertet werden. In »Selbstbiographie« (1921) werden besonders Altenbergs konzentrierter, das Wesentliche zum Ausdruck bringender Schreibstil und sein Autorenprofil von ihm thematisiert; dabei vergleicht er seine Texte mit einer konzentrierten Rindfleischbrühe: Denn sind meine kleinen Sachen Dichtungen?! Keineswegs. Es sind Extracte! Extracte des Lebens. Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2-3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel!143 Hier überblendet Altenberg Ästhetik, Kunst und Ernährung, indem er »Kunst eng mit der Körperlichkeit des Menschen verkoppelt und ihr den Status eines Lebens-Mittels im direkten Wortsinn zuweist.«144 Deutlich wird in dieser Skizze auch, dass er ein sehr empfindsam wahrnehmender Beobachter ist, der auch damit hadert, dass er keinen gesellschaftlich anerkannten Beruf wie Arzt oder Jurist ausgeübt hat.145 So schwingt stets eine triste, melancholische Stimmung in seinen Zeilen mit, eine »tiefe Schwermut und der Ton eines unerfüllten, quälenden Bedürfnisses nach Liebe«146 machen sich unKöwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, S. 76f. Alle Zitate Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, S. 59. Altenberg: »Selbstbiographie«, S. 6. Bunzel: »›Extrakte des Lebens‹«, S. 131. Vgl. auch das dem Werk Wie ich es sehe vorangestellte Motto aus J.-K. Huysmans A rebours : »le duc avait médité sur cet inquiétant problème, écrire un roman concentré en quelques phrases qui contiendraient le suc de centaines de pages.«, in: Altenberg: Wie ich es sehe, S. X. Irene Köwer schreibt hierzu, dass Altenberg zum einen dieses scheinbar wörtliche Zitat Huysmans so verändert habe, dass die Aussage zu seinem Schreibstil passe; zum anderen würden in diesem Ausschnitt aus A rebours viele der Gestaltungskriterien von Altenbergs Texten angesprochen, nämlich die »Vermittlung eines gedanklichen Konzentrats, in dem analytische Längen und Beschreibungen in extrakthafter Form zusammengepreßt sind, daraus resultierend die Wichtigkeit des vermittelten Wortes und die bewußt gestaltete Lückenhaftigkeit, die ein idealer Leser zu füllen vermag.«, in: Köwer: Peter Altenberg als Autor der literarischen Kleinform, S. 84. 145 Vgl. Altenberg: »Selbstbiographie, S. 5f. 146 Magris:Der habsburgische Mythos, S. 190.
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V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
terschwellig bemerkbar, wenn er sein Leben als Bohémien und Frauenliebhaber sehr gefühlvoll und ironisch in Worte kleidet.147 Altenbergs Position als Schriftsteller ist eine visuell betrachtende, von der aus er die Lokalität und die Gesellschaft, in der er sich befindet, genau beobachtet und dabei immer wieder Bezug auf sich selbst nimmt. So stellt er eine scheinbar völlig übereinstimmende Kongruenz zwischen dem Autor und dem erzählenden Ich her und vollführt eine gleichzeitige Betonung und Zurücknahme der erzählenden Person, die die Welt in ihrer Fülle durch Beobachtung in sich aufnimmt: Wenn P.A. erwacht, fällt sein Blick auf die heilige Pracht und er nimmt die Noth und die Bedrängnis des Daseins ergeben hin, da er zwei Augen mitbekommen hat, die heiligste Schönheit der Welt in sich hineinzutrinken! […] Ich möchte auf meinem Grabstein die Worte haben: ›Er liebte und sah!‹148 Als Fortsetzung von Altenbergs ›Entdeckungsgeschichte‹ »So wurde ich« kann Berthold Viertels autobiographischer Text »Erinnerung an Peter Altenberg« gelesen werden, welcher 1956 in Viertels autobiographischen Fragmenten publiziert wird. Viertel beziehungsweise sein erzählendes, fünfzehnjähriges Ich berichtet im Text selbstironisch über seine schicksalhafte Bekanntschaft mit Peter Altenberg und das erste Treffen mit ihm im Café Central, das aufgrund von Viertels glühender Verehrung für Altenberg von seinem »Freund B.«149 eingefädelt wurde, damit Altenberg sich die Manuskripte ansehe, in denen Viertel seine ersten schriftstellerischen Versuche gemacht hat.150 Im Text werden das Café, dessen Atmosphäre und die dort empfundenen Sinnesreize sehr anschaulich geschildert: So werden die dort empfundenen Sinnesreize, besonders das gedämpfte, warme Licht und die Grün- und Holztöne der Möbel erwähnt, die beim Gast zusammen mit dem Zigarettenrauch, dem Geplätscher des Brunnens und dem Geklapper der Billardkugeln ein wohliges Gefühl von natürlicher Gemütlichkeit und uriger Vertrautheit auslösen: Am selben Tage, Punkt sechs Uhr abends, betrat ich das Cafe Central, das, ein Haus des Lebens, in warmem Lichte und in gutem Dunste lag und viele bemerkenswerte raucherfüllte Räume hatte: den großen Saal, in dessen Hintergrund die Billardkugeln sauber klapperten, wenn sie aufeinanderstießen; und die ruhigeren Seitentäler, will sagen Seitenzimmer; und das besonders rauchige, durch seine dunklen Gruppen von Kampf-Genießern und Spiel-Prüfern beängstigende Schachzimmer; und die grün abgedämpften Karten-Spielzimmer; und den Arkadenhof, einen offenen, hohen Hof zwischen Häusern, mit dem monumentalen Brunnen und der Marmortreppe mit vielen Bogen und Nischen. Dieser Hof, dieser Wiener Schacht, war der Ort des raffiniertesten Geisteslebens, das zwischen vollkommen untätigen Skeptikern überhaupt möglich ist.
147 Vgl. Altenberg: »Selbstbiographie«, S. 7f. 148 Altenberg: »Selbstbiographie«, S. 7f. 149 Hier ist der österreichische Schriftsteller, Journalist und Verleger Erhard Breitner gemeint, vgl. Katharina Prager: Berthold Viertel. Eine Biografie der Wiener Moderne, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 202. 150 Berthold Viertel: »Erinnerung an Peter Altenberg«, in: ders.: Dichtungen und Dokumente. Gedichte, Prosa, autobiographische Fragmente, hg. v. Ernst Ginsberg, München 1956, S. 311-318, S. 311. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »EPA« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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Hier verkehren hieß einem, allerdings friedlichen, Orden angehören, der gelobt zu haben schien, die Wirklichkeit nur aus Berichten und nur als die Spiegelung der kleinen Züge eines Nebenmenschen, der auch nichts tat als spiegeln, zu gewinnen. (EPA 314) Die Kaffeehaus-Kundschaft wird von Viertel als verschworene Gemeinschaft beschrieben, die sich ihre eigene Wirklichkeit innerhalb dieses »Haus des Lebens« erschaffen habe. Peter Altenberg erscheint dabei als besonderer Mensch, der inmitten dieser Umgebung nur im und aus dem Augenblick heraus lebt, aus dieser Konstellation seine Literatur schöpft und das Konzept seines Stils regelrecht verkörpert: Er selbst ist der menschgewordene Augenblick; gelenkt von seinen Sinnesorganen und authentischen Empfindungen lebt er nur für den gegenwärtigen Moment: Er war nur da, um zu atmen, zu schauen und der Mittelpunkt seiner Erregungen zu sein. Er war ohne Zweck, er war der Augenblick an sich; er war die Konzentration auf sich selbst und sein Dasein, einmal für immer! Er lebte absolut nur, um absolut er selbst zu sein. Und das beglückte, das befreite, das gab den Andern Kräfte. Wenn Peter Altenberg Zeit hatte, und er hatte immer Zeit, dann war es die größte und die höchste Zeit. – Ich brauchte nicht lange herumzusuchen. Ich sah ihn sofort. Mein Glück waren die zehn Minuten, bevor der Kellner Jean sich bei mir einfand. Diese zehn Minuten lang durfte ich den allerlebendigsten Peter Altenberg betrachten und ergründen und begrüßen. Ich sah den vollendeten Schauspieler seiner selbst, das unverkümmerte Ich auf seiner unvergeßlichen Lebensbühne. (EPA 316) So setzt Viertel hier das Café Central mit einer Theaterbühne gleich, auf der Peter Altenberg sein Leben aufführt. Auch in Viertels Text verschwimmen somit die Grenzen zwischen Kunst und Leben, Autobiographie und Fiktion, wenn Altenberg als »Schauspieler seiner selbst« bezeichnet wird, der ein Schaustück seines Lebens spielt, während er es gleichzeitig lebt beziehungsweise während er darüber schreibt; dabei sei es Altenbergs Mission, den »Kultus des Augenblicks in moderne Herzen [zu] pflanzen, die keine Zeit haben, geschweige denn einen Augenblick!« (EPA 311) Viertel verwendet viele Metaphern, um Altenbergs Erscheinung und die Atmosphäre im Café Central zu beschreiben, das als sein Wohnort bezeichnet wird. Neben der schon erwähnten Bildlichkeit des Lichtes, welches in Verbindung gebracht wird mit Altenbergs leuchtenden und genau beobachtenden Augen, in denen sich auch seine große Phantasie spiegele, wird der hochsensible Dichter von Viertel auf der einen Seite als gurrend glucksende Lachtaube und grellbunt gekleideter Clown beschrieben, der durch Wutausbrüche oder Lachanfälle auffalle; auf der anderen Seite sei er das genaue Gegenteil, eine welkende Pflanze ohne Lebensenergie oder ein melancholisch-kränklicher, vom Schmerz gebeutelter, farbloser Vogel: Dort lebte Peter Altenberg. Dort kamen und gingen seine Lebensfreunde, die zugleich seine Todfeinde waren, und seine Frauen. Dort saß er und kämmte liebevoll den Seehunds-Bart oder polierte mit einem Bürstchen die Glatze, während seine riesenstarken Augen wetterleuchteten. Mitten im rauchigen Caféhaus, dem dumpfesten Orte der Welt, ereigneten sich in diesen Augen ungeheure Sonnenaufgänge im Gebirge, oder strahlendes Meer. Dieser Neurastheniker im englischen Anzug, grell kariert, eine Art von höchstverfeinertem Clown, hatte die Gabe, Natur auszuströmen.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
[…] Wenn er tief bekümmert dasaß, zusammengekauert, war er ein kranker Vogel mit aufgeplustertem Gefieder, und mangels der Flügel wirkten die Schmerzensdrehungen seines Leibes wie Rudimente von krampfhaften Flügelschlägen. Sein Lachen war das der Lachtaube, es gab kein ähnlich gutturales Glück, das sich freilich zu gewaltigen Trillern des Zornes steigern konnte, seines gewaltigen Zornes, den er manchmal plötzlich wieder in ein erlösendes Gelächter umschlagen ließ. Seine Glatze konnte bleich sein, wie eine dahinsiechende Kellerpflanze; und sie konnte, blank poliert, einen fröhlichen Tag ansagen. (EPA 314f.) Diese äußeren Erscheinungs- und inneren Gefühlszustände Altenbergs wechseln sehr oft, changieren zwischen Phantasie und Faktualität und sind so mannigfaltig, dass der Eindruck entsteht, in Altenbergs Person vereinigten sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Persönlichkeiten. Er erscheint dem erzählenden Ich als »übernatürlich-natürlichste[r] Mensch« (EPA 314), an dessen hohe Kompetenz als Autor niemand heranreiche. So ist dessen Urteil zu seinen Manuskripten für den jungen Ich-Erzähler auch besonders ausschlaggebend, auch wenn sein großes Vorbild Altenberg seine Texte paradoxerweise gar nicht gelesen zu haben scheint: Als er gegangen war, wagte ich nicht länger sitzenzubleiben, obwohl wir uns in einem Caféhaus befanden. Ich hatte kein Recht mehr auf einen verlängerten Aufenthalt. Aber ich kam am nächsten Tag wieder. […] Immer deutlicher wurde mir bewußt, daß es eine Ungeheuerlichkeit ist, einen Dichter, ein Genie privat zu kennen. Endlich, nach einer Woche, kam ich dem Stand der Unschuld wieder näher, denn Peter Altenberg war am Ende unserer Abmachung angelangt. Er erschien an meinem Tisch und hatte mein Manuskript gelesen. Nein, nur eines der beiden Manuskripte hatte er gelesen. ›Welches von beiden?‹ fragte ich leider doch. Pause. ›Das kürzere!‹ antwortete Peter Altenberg mit großer Bestimmtheit. ›Was kommt drin vor?‹ versuchte er von mir zu erfahren. Wie froh war ich, daß alles so unbestimmt zu bleiben schien! ›Es ist eine Phantasie‹, sagte ich entschuldigend. Aber er ließ sich nicht ablenken. ›Das gibt es nicht!‹ entschied er unversöhnlich. Und mit der Härte eines Robespierre setzte er fort: ›Man schreibt keine Phantasien mehr! Man hat heute keine Phantasie, Phantasie ist bei Dichtern eine Arroganz! […].‹ Er hatte das Seinige getan. Er stand auf – : ich war glücklich. Die private Bekanntschaft mit Peter Altenberg war zu Ende. Am nächsten Tag erschien ich bereits im Café Central, liebte ihn, sah ihn und grüßte ihn nicht. (EPA 317) Die Ironie der Szene, die entsteht, als der Ich-Erzähler das impulsive Schauspiel Altenbergs beglückt mitspielt, obwohl er keine wirkliche Antwort erhält, schlägt einen Bogen zurück zu Altenbergs Kurzprosa, in der er auch vorgibt, spontane Einfälle im Café niederzuschreiben. So entwickelt sich die kurze, im Café geknüpfte Bekanntschaft zwischen Altenberg und dem Erzähler zurück in eine von glühender Verehrung geprägte Beziehung, die in der Folge nur noch aus ferner Beobachtung besteht und in der kein weiterer zwischenmenschlicher Kontakt mehr stattfindet. Altenbergs »So wurde ich« und Viertels »Erinnerung an Peter Altenberg« können aufgrund ihres kleinen Formats, der Lokalisierung des Geschehens im Kaffeehaus, der metaphorischen Schilderung der Atmosphäre und der Thematisierung des eigenen Schreibens als ›Kaffeehausliteratur‹ im Sinne der ersten Kategorie bezeichnet werden.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Zudem fällt in den Texten als weiteres Merkmal das starke Changieren zwischen literarischer Fiktion und autobiographischem Erzählen auf, da Autor und erzählendes beziehungsweise handelndes Ich jeweils zusammenfallen.
V.1.5.
Café als Schreibort: Performanz, Schreibwerkzeug und Handwerk
Schreibort und Schreiben stehen in einem schwer definierbaren Bezug. Wie jeder Mensch einen Geburtsort hat […], so hat jeder Text einen Schreibort. Für manche Texte ist er gänzlich gleichgültig […]. In anderen Menschenleben entfaltet der Geburtsort eine Strahlkraft. […] Ist der Schreibort die Geburtsanstalt, in der die Texte das Licht der Welt erblicken oder ein erzwungener Aufenthaltsort, leidlich komfortabel eingerichtet, ein Ruhepunkt auf der Flucht vor der Energie früherer Texte, den Störungen bei diesen Texten, vor der Ausgesetztheit dieser Texte. [!] […] Es ist ja illusionär, sich vorzustellen, daß die Einnistung an einem schönen Ort den guten Text hervortreibe.151 Ursula Krechels lenkt in ihrem Essay »Ausgesetzt in Einfallschneisen«, welcher 1996 im Marbacher Magazin zum Thema ›Schreibort‹ (Reihentitel: Im Caféhaus oder Wo schreiben) erschienen ist, den Fokus auf die unumgängliche Beziehung zwischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen und ihrem Schreibort sowie die Bedeutung des Letzteren für den zu schreibenden Text. Sichtbar wird diese Verbindung entweder durch eine bewertende oder neutrale Thematisierung oder das bewusste Verschweigen des Ortes; in jedem Fall entsteht gemäß Krechel »eine sprachliche Textur, die an diesen Schreibort gebunden ist, die Distanz umschreibend, vergrößernd.«152 Durch die Verbindung zwischen Schreibenden, dem Schreibort und dem literarischen Produkt, das vermeintlich an diesem Ort, in diesem Café entstanden ist, ergibt sich eine ungeheure Faszination für die Rezipierenden des Textes, jenen Ort aufzusuchen. Denn es dränge sich oftmals der Gedanke auf, dass sich in jedem Arbeitsraum, der ein solch faszinierendes Werk hervorbrachte, Spuren von Letzterem, von seinem Entstehen noch auffinden lassen. Denn ein Ort, wo Lesenswertes entsteht, muss auch sehenswert sein. So wird sogar touristisch zu diesem bald himmlisch, bald höllisch erscheinenden literarischen Zuhause gepilgert, um einen andächtigen Blick auf den realen Schreibtisch werfen zu können.153 Wie Severin Perrig schreibt, erklärt sich der Reiz von vermeintlich wirklichen Schreiborten daraus, dass jenen Orten etwas von der Literatur anhafte, was die Leserinnen und Leser durch das Aufsuchen des Ortes physisch erfassen wollten und dem sie nachzuspüren suchten. In diesem Zusammenhang wird auch begreiflich, warum Touristen und Touristinnen in berühmten, altehrwürdigen Kaffeehäusern zum Beispiel in Wien und Paris dem literarischen ›Geist‹ vergangener Zeiten nachspüren wollen und weshalb einige Autorinnen und Autoren dem als persönlichen Schreibort genutzten Café und demjenigen ihrer künstlerischen Vorbilder so viel Bedeutung beimessen.
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Krechel: »Ausgesetzt in Einfallschneisen«, S. 6. Krechel: »Ausgesetzt in Einfallschneisen«, S. 5. Perrig: Am Schreibtisch großer Dichter und Denkerinnen, S. 9.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Im Folgenden werden verschiedene, kontroverse Stimmen von Autoren und Autorinnen vorgestellt, die das Café als Schreib- und Aufenthaltsort beschreiben, diesen dabei sehr ambivalent beurteilen und meist höchst emotional betrachten. In diesen Texten erscheint das Café entweder als Ort des ehrlichen, handwerklichen Schreibens oder, ganz im Kontrast dazu, als Ort der künstlichen Inszenierung, an dem ein Aufenthalt geradezu unerträglich und konzentriertes Arbeiten nicht möglich ist. Es finden sich dagegen kaum Kommentare, die hinsichtlich des Schreibortes neutral sind beziehungsweise keine Wertung vornehmen. Vermittels des Verfassens eines Schreibortporträts wird zumeist auch die Konstitution des erzählenden Subjekts unternommen, da mit Blick auf den Schreibort stets auf die persönliche Lage der Schreibenden und ihrer literarischen Produktion rekurriert wird. Besonders in den im Folgenden untersuchten Texten von Walter Benjamin, Egon Erwin Kisch und Ernest Hemingway, in denen unter anderem ein vermeintliches ›Schreiben in Echtzeit‹ dargestellt wird, gehen die Autoren immer wieder ein auf ihre Schreibutensilien, auf die produktive Bewegung des Körpers und des Stiftes beim handschriftlichen Schreiben154 sowie die Umgebung, das Café, in dem sie während des Schreibens sitzen. Hier soll versucht werden, diese performativen Schreibakte in Anlehnung an Christian Moser und Regine Strätling als »Schreibspiele« zu verstehen, die nicht nur auf ein bestimmtes Schreibgerät angewiesen sind, sondern immer auch vor dem Hintergrund tradierter Schreiborte, Schreibanlässe, Schreibsituationen und Textsorten Profil gewinnen, auf die sie sich zumindest implizit beziehen. Wie das Stichwort der Schreibspiele zeigt, verbinden sich Spieler auch mit anderen Medien und Techniken der Subjektkonstitution – also mit den kulturell jeweils verfügbaren ästhetischen und sozialen Formen der Selbsterfahrung, der Selbststeuerung und vor allem der Selbsterprobung und des Selbstexperiments.155 Bereits in Kapitel V.1.2 ist bei Else Lasker-Schüler eine Tendenz zum ›Spiel‹ erkennbar geworden, in dem das noch zu konstituierende Subjekt als »Erzeugnis eines komplexen dynamischen und relationalen Prozesses«156 gefasst wird. So verwendet sie den Begriff des ›Spiels‹ beispielsweise, wenn sie ohne Skrupel ›wirklich lebende‹ Personen in ihren Briefen auftreten lässt und bei Karl Kraus entschuldigend davon spricht, dass ›Spielen alles sei‹.157 Hier kann das autobiographisch geprägte Schreiben als Technik verstanden werden, durch welche »Subjektivität ausgebildet und reflektiert wird, durch die sie aber auch ›bearbeitet‹, modifiziert und modelliert werden kann.«158 Im Folgenden soll daher gezeigt werden, inwieweit das Schreiben selbst mit dem Café als Schreibort und dem Leben der Schreibenden in Verbindung steht beziehungsweise wie das Selbst der Autorin oder des Autors durch den Schreibakt und -ort geformt wird und auf welche Wei154 155
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Vgl. Davide Giuriato: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932-1939), München 2006, S. 151. Christian Moser/Regine Strätling: »Sich selbst aufs Spiel setzen. Überlegungen zur Einführung«, in: dies. (Hg.): Sich selbst aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung, Paderborn 2016, S. 9-27, S. 13. Moser/Strätling: »Sich selbst aufs Spiel setzen«, S. 9. Lasker-Schüler: »313 An Karl Kraus«, S. 209. Moser/Strätling: »Sich selbst aufs Spiel setzen«, S. 9.
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se diese Verbindung literarisch realisiert wird. Darüber hinaus kann mit Vilém Flusser die Frage gestellt werden, ob es sich beim Schreiben um eine streng ›lineare‹ und »konstruktive Geste« im Sinne eines Materialauftrags (wie zum Beispiel Tinte oder Kreide) auf eine Oberfläche (beispielsweise Papier oder eine Tafel) handelt, wobei systematisch und regelhaft neue Strukturen (also die Schrift) entstehen, oder ob es sich vielmehr – insbesondere bei der Nutzung einer Schreibmaschine – um eine »eindringende, eindringliche Geste« im Sinne einer ›Inskription‹ handelt159 und wie diese Gesten mit dem Kaffeehaus verbunden sind. Neben der Frage nach der Selbsterfahrung und -konstitution stellt sich an dieser Stelle erneut diejenige nach dem Genre der analysierten ›Schreibtischtexte‹, welche stets zwischen Faktualität und Fiktion oszillieren. Sabine Mainberger, die in ihrem Artikel »Schreibtischporträts« untersucht, wie Schreibtische in Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge zu Voraussetzung und Gegenstand des Schreibens werden, zeigt, wie der Ort des Schreibens für die Autoren als materielle Grundlage und Identifikationsobjekt dient und damit zum Medium für ihre schriftstellerische Produktion wird. Fokussiert wird in ihrer Studie nicht nur der gewährte, demaskierende Einblick »in die Werkstatt […], in die Fabrik, ins Labor, in die Küche«, der das »sonst Verborgene zugänglich machen« könne, sondern auch das hybride Genre eines ›Schreibtischporträts‹, das sich »irgendwo zwischen historischem Dokument und Fiktion oder Dichtung« bewege und eine »typische Mischung aus Autobiographischem, Fiktionalem bzw. Poetischem und Essayistischem«160 darstelle: Denn die Genese eines oder des Werkes offenbaren heißt Literatur entmystifizieren. Mit dieser Geste bekennen Schreibende sich zu einem depotenzierten Kunst- und Selbstverständnis: zum Arbeiten mit Hilfsmitteln und Vorgaben, zur Bedeutung von Archiv, Bibliothek, Zettelkasten oder zum Rekurs auf heteronome Regeln und Formzwänge. […] Texte über den Ort des Schreibens sind in diesem Sinn Methodologie und Poetik und zugleich Reflexionen zum Ort – zum Stand-Ort – der Literatur. […] Selbstpräsentationen von Schreibenden […] sprechen sowohl aufrichtig wie kokett, bekennerisch wie mythisierend, verdunkelnd wie exhibitionistisch. Art und Ausmaß der Stilisierung unterscheiden sich je nachdem, ob es sich um Paratexte, Werkteile oder eigenständige Werke handelt; sie unterscheiden sich auch von Fall zu Fall, die Ambivalenz aber bleibt. Das berechtigt – und zuweilen verpflichtet es sogar – dazu, Schreibtischporträts zumindest auch als Literatur zu lesen.161 Dieser Prämisse, Schreibtischporträts als Literatur zu lesen, wird im Folgenden nachgegangen ebenso wie der Frage nach dem Potential des Cafés als ›kulturkonstituierendem Erinnerungsort‹: Sandro Zanetti definiert in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Schreiben als Kulturtechnik die Funktion von Schreibakten nicht nur als »Aufzeichnungsakte«, sondern als Akte, »in denen Erinnerungen, Erfahrungen und Wissensbe-
159 Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a.M. 1997, S. 32f. 160 Sabine Mainberger: »Schreibtischporträts. Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge«, in: Sebastian Hackenschmidt/Klaus Engelhorn (Hg.): Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld 2011, S. 177-197. S. 179f. 161 Mainberger: »Schreibtischporträts«, S. 179.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
stände produziert, artikuliert und organisiert werden.«162 Da Schreiben als »Technik zu begreifen [sei], die sowohl kulturell bedingt als auch kulturkonstituierend ist«163 , beinhalten sie gemäß Zanetti sowohl Spuren des Vergangenen, dem sie entweder folgen oder von dem sie sich absetzen, als auch Ausblicke auf die Zukunft, die sie selbst mitprägen werden. So soll unter V.I.6 das Café als vergänglicher oder vielleicht schon vergangener Ort des Schreibens und der Literatur beleuchtet werden, an den die vorgestellten Texte erinnern und den sie damit wieder lebendig werden lassen.
V.1.5.1.
Schreiben im Stimmengewirr oder die Unmöglichkeit des Schreibens: Kontrast von Disziplin und Müßiggang, Arbeit und Inszenierung im Café
Hand aufs Herz: Ist Zuhausesein schön, angenehm, ideal? Am ehesten in der Nacht. Und damit meine ich gar nicht das Vorhandensein von Familie. Ich meine die störende, konzentrationshemmende Atmosphäre der Wohnung, jeder darf die Türklingel betätigen, jeder darf anrufen. Aber auch die absolute Stille stört. Es gibt […] zuhause soviele Abhaltungen, Ausreden, Pflichten, die uns der wahren Arbeit entziehen. Was man alles lesen, was man alles erledigen, was man alles ordnen müßte! Im Café findet man soundsoviele Zeitungen, die man durchsieht, das gehört dazu, ist die rechte Einstimmung für die Arbeit […]. Es ist halb drei, man hatte Zeitung gelesen, man hat vorsorglich für sechs ein Rendezvous in diesem Café verabredet – was bleibt einem anderes übrig? Man arbeitet. Natürlich kann es sein, daß so ein Stammcafé sich herumspricht. Dann wird man auch dort aufgesucht und angerufen und ermangelt der arbeitsfördernden Konzentration.164 Hans Weigel nennt in diesem Zitat schon die wichtigsten drei Aspekte, welche für die meisten Autoren und Autorinnen bei der Wahl des Cafés als Schreibort ausschlaggebend sind: Zum einen wird thematisiert, inwieweit sich beispielsweise die visuellen und auditiven Reize und die daraus resultierende Atmosphäre im öffentlichen Kaffeehaus im Vergleich zur eigenen Wohnung auf die Konzentration und Kreativität der Schreibenden auswirken können und wie sich das Verhältnis der Schreibenden in Bezug auf ihr ›Stammkaffeehaus‹ je nach Situation wandeln kann. Zum zweiten und dritten spielen das Alleinsein in Gesellschaft sowie das Potential zur Störung und Unterbrechung bei der Arbeit eine Rolle. In den autobiographischen, journalistischen und fiktionalen Textausschnitten, die in diesem und im folgenden Kapitel vorgestellt werden, berichten die zitierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller oder ihre literarischen Figuren von Arbeits- und Schreiberfahrungen im Kaffeehaus, wo sie mit der typischen Geräuschkulisse der Lokale, dem Chor der menschlichen Stimmen und den Tätigkeiten der anderen Gäste sowie ihrer eigenen Disziplin beziehungsweise müßigen Passivität konfrontiert werden. Durch die Untersuchung vieler verschiedener Textausschnitte soll ein Einblick in das Spektrum der sehr kontroversen Meinungen gewonnen werden, bevor Sandro Zanetti: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012, S. 7-34, S. 7. 163 Zanetti: »Einleitung«, S. 31. 164 Hans Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung. Einleitender Essay von Hans Weigel«, in: Brandstätter, Christian (Hg.): Das Wiener Kaffeehaus, Wien 1979, S. 6-25, S. 14.
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unter V.1.5.3 drei Texte ausführlicher analysiert werden, in denen im Café stattfindende literarische Schreibhandlungen geschildert werden. In den hier betrachteten literarischen Texten werden insbesondere die gleichmäßigen Hintergrundgeräusche und das vielfältige, aber eher leise und gleichförmige Stimmengewirr als höchst relevant für die besondere Atmosphäre eines Cafés dargestellt, wobei diese auditiven Reize einerseits als störend, andererseits als förderlich empfunden werden können.165 Marc Augé zum Beispiel zeigt sich gespalten: Mal nimmt er die Geräusche in seinem Stammbistro als hektisch und konzentrationshinderlich wahr, mal erlebt er das Klackern der Billardkugeln beim Eintreten ins Bistro als familiär und gemütlich.166 Dahingegen empfindet Tobias Kremkau, ›Coworking-Manager‹ im Café St. Oberholz, die Café-Geräusche immer als positiv und verwendet daher die App »Coffitivity«167 , um auch außerhalb des Cafés dessen Atmosphäre durch die entsprechende Akustik nachzuahmen: »Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn es zu leise ist. Zu Hause benutze ich eine App, die mir die Geräuchskulisse [!] eines Cafés vermittelt.«168 Diese enge Verknüpfung von persönlicher Konzentrationsfähigkeit mit den Geräuschen des Außenraums wird auch in einem Artikel im Magazin brand eins thematisiert, in dem der Journalist Holger Fröhlich von Oliver berichtet, einem Dichter aus dem Schwarzwald. Dieser brauche Trubel, um sich zu vertiefen. Sein liebster Arbeitsplatz ist das Café, mit seinem Alltagsgemurmel und dem Geruch nach frischem Brot. […] ›Konzentration kommt durch Arbeit‹, sagt er und meint den Zustand, in dem kein Nachbar ihn mehr anzusprechen 165
Vgl. »Michael arbeitete im Café Nebelspalter, wo nachmittags eine kleine Streichkapelle spielte. Er war jeden Tag der erste Gast. Er schrieb. Die Kapelle begann zu spielen, Gäste kamen. Er schrieb. Das Café wurde voll, Gäste setzten sich auch an Michaels Tisch. Er schrieb. Das Café wurde allmählich wieder leer, die Musiker packten die Instrumente ein. Michael schrieb, bis der Kellner sich bemerkbar machte. So war es ein halbes Jahr, Tag für Tag. Wenn in der Pension im Nebenzimmer gesprochen oder auch nur hin und wieder gehustet wurde, konnte er nicht arbeiten. Für das Massengeräusch im Café Nebelspalter war er taub. Musik und Massengeräusch bauten um ihn herum einen lauten Turm, in dem er ganz allein saß und in aller Stille schrieb, in Trance, ein Schlafwandler, der nichts hörte und nichts anderes sah als seine Visionen.«, in: Frank: Links, wo das Herz ist, S. 68f. 166 Vgl. Augé beschreibt »la rumeur fébrile« im bureau de tabac : »toute concentration est impensable« (EBP 39); andererseits : »le claquement sec et sonore des boules qui se percutaient finit par devenir un bruit familier que je retrouvais avec plaisir en poussant la porte du bistrot.« (EBP 26). 167 Vgl. Die (nicht näher genannten) Verantwortlichen der App verweisen auf ihrer Homepage auf eine empirische Studie der Universität Chicago, in der ein größeres Maß an Produktivität und Kreativität bei Menschen nachgewiesen wurde, sofern diese von ihrer eigentlichen Arbeit teilweise abgelenkt gewesen seien beziehungsweise in einem Raum mit leisen Geräuschen gearbeitet hätten: »According to a peer-reviewed study out of the University of Chicago, ›A moderate level of ambient noise is conducive to creative cognition.‹ In a nutshell, this means being a tiny bit distracted helps you be more creative. […] If we’re not focused too much at a task at hand, we come up with awesome stuff. In the coffee shop, the chatter and clatter actually distracts us a tiny bit and allows our creative juices to start flowing. It sounds crazy, but it works!«, in: URL: https://coffitivity. com/research (13.01.2019). Vgl. die erwähnte Studie: Ravi Mehta/Rui (Juliet) Zhu/Amar Cheema: »Is Noise Always Bad? Exploring the Effects of Ambient Noise on Creative Cognition«, in: Journal of Consumer Research, 39:4 (2012), S. 784-799. 168 Jörg Hunke: »Es kommt Dynamik in die Arbeitswelt«, in: Berliner Zeitung, 19.01.2018.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
wagt und der Espresso vor ihm unberührt erkaltet. Die Gespräche ringsherum werden zum schützenden Hintergrundrauschen. Auf das Notat folgt die Verdichtung und mit ihr die Suche nach der endgültigen Form. […] ›Zum Schreiben brauche ich keine Weite, kein Licht – es passiert alles in mir.‹ Nur still darf es nicht sein. Wenn er keine Stimmen hört, kann er nicht schreiben.169 In Fröhlichs Zitat wird ein scheinbarer Widerspruch deutlich: Einerseits benötigt der Dichter das Café mit seinen akustischen und olfaktorischen Reizen; andererseits nimmt er diese in Phasen des vertieften Schreibens kaum wahr, vergisst zu essen und zu trinken sowie seine gesamte Umgebung. Jedoch wäre diese Konzentration sofort beendet, wenn beispielsweise die Gespräche ringsherum schlagartig verstummten – die Stimmen, Gerüche und das visuelle Panorama, das verschwommen an seinem Auge vorbeischweift, wenn er während des Schreibens hochschaut, stellen einen äußeren Schutzraum aus synästhetischen und emotionalen Reizen dar, welcher den Schreibenden sowohl abschirmt als auch dessen innerem Konzentrationsprozess förderlich ist. Ein anderer Grund für das Schreiben im Café ist die Assoziation von Kreativität mit diesem Ort. Der mexikanische Dichter und Essayist Marco Antonio Campos zitiert in seinem Essay »Die Kaffeehäuser in Mexiko-Stadt«170 aus einem nicht datierten Interview mit dem spanisch-mexikanischen Autor Tomás Segovia, dessen Werk zu einem Großteil in Kaffeehäusern von Mexiko-Stadt entstanden ist und welches das Leben der Stammgäste beschreibt (beispielsweise sein Gedicht »Del Natural«171 ). Segovia thematisiert im Interview den Aspekt, dass das Schreiben von Literatur nur schwierig mit der nüchternen Atmosphäre eines ›Büros‹ oder privaten Arbeitszimmers in Verbindung zu bringen sei, weil seiner Meinung nach ein Büroraum und dessen häusliche Umgebung der Kreativität und Natürlichkeit von Literatur nicht gerecht wird, sondern nur vorgesehen sei für sachliche, administrative Prozesse. Dagegen könne er sich im Kaffeehaus erstens gut konzentrieren, da er nicht von alltäglichen Handlungen abgelenkt werde und zweitens wirke die Umgebung gleichzeitig inspirierend und erholend auf ihn: ›Ich glaube, niemand in meiner Generation war irgendwo in der Welt so sehr den Kaffeehäusern verbunden wie ich. Woher stammt dieses seltsame Bedürfnis? […] Ich konnte nie an einem stillen Ort schreiben. Wenn ich ruhig in meinem Arbeitszimmer sitze, umgeben von Papier und Büchern und (heute) von meinem Computer, dann werde ich sofort unfruchtbar. Ich fühle mich dann wie ein Bürohengst, der für das Schreiben von Gedichten bezahlt wird. Wie könnte man denn ein ›Gedichtbüro‹ rechtfertigen? Wenn ich so dasitze, beginne ich den Aschenbecher zurechtzurücken, meine ich, einen Wasserhahn im Badezimmer tropfen zu hören, oder werde allmählich nervös, weil ich 169 Holger Fröhlich: »Wege in die Versenkung. Wer alleine arbeitet, genießt viele Freiheiten. Und muss sich selbst eine Struktur schaffen, um sich nicht zu verlieren. Drei Porträts von Freischaffenden und ihren Techniken«, in:brand eins. Wirtschaftsmagazin, 16:4 (2014), S. 114115, URL: https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2014/konzentration/wege-in-die-versenkung (10.07.2019). S. 114. 170 Marco Antonio Campos: »Die Kaffeehäuser in Mexiko-Stadt. Ein Essay«, in: Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 540-579. 171 Vgl. Tomás Segovia: »Del Natural«, in: ders.: Historias y poemas, Mexiko-Stadt 1968, S. 57. Wieder abgedruckt und übersetzt in: Campos: »Die Kaffeehäuser in Mexiko-Stadt.«, S. 574f.
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plötzlich meinen Schlüsselbund nicht finden kann; oder ich gehe in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Im Kaffeehaus ist das etwas ganz anderes: Hier trete ich symbolisch ein und aus, manchmal lenkt mich etwas ab, aber wenn ich mich hier konzentriere, dann ganz, und wenn ich in der Konzentration nachlasse, dann wirkt der Anblick der Leute auf mich sehr erholend.‹172 Er beschreibt sich in seiner privaten Umgebung wie ein gehetztes, eingesperrtes Tier mit vielerlei Bedürfnissen, das erst ruhig wird und aufblüht, sobald es im Kaffeehaus ankommt. Betont wird in diesem Zitat auch der Unterschied zwischen den typischen Geräuschen einer Wohnung, wie dasjenige des tropfenden Wasserhahns, von denen er sich belästigt fühlt, und denjenigen im Café, die ihn zur Ruhe bringen. Zudem unterstreicht er das symbolische Eintreten in das als andere Welt empfundene Kaffeehaus, an dessen Schwelle er jegliche Gereiztheit und Anspannung ablegen kann.173 Ein weiteres Beispiel für eine Schriftstellerin, die über ihre Arbeit Mitte der 1930er Jahre in Pariser Cafés geschrieben hat, ist Simone de Beauvoir: Da sie die Atmosphäre in ihrer kargen Wohnung als sehr einsam und nüchtern empfindet, schreibt sie beispielsweise im Café Les Deux Magots oder im Café du Dôme. Gegen die Trostlosigkeit ihres Zuhauses bietet das gedämpfte Gemurmel der anderen, insbesondere der ausländischen Gäste eine wohltuende Abwechslung voller Lebenskraft, Behaglichkeit und Geselligkeit, wie sie in ihren Memoiren festhält: Puis nous descendions vers Montparnasse. Nous avions établi notre quartier général au Dôme. Les matins où je n’allais pas au lycée, j’y prenais mon petit déjeuner. Je ne travaillais jamais dans ma chambre, mais dans un box, au fond du café. Autour de moi des réfugiés allemands lisaient les journaux et jouaient aux échecs; des étrangers de toutes nationalités discutaient entre eux, avec passion, mais en sourdine : leurs murmures ne me gênaient pas; c’est austère, la solitude en face d’une feuille blanche; le [!] levais les yeux, je vérifiais que les hommes existaient : cela m’encourageait à tracer des mots qui, peut-être, un jour, toucheraient quelqu’un. […] Une espèce de familiarité tacite s’établit entre nous et les autres habitués du Dôme; ayant appris, d’une source ou d’une autre, que nous étions fonctionnaires, donc relativement à notre aise, souvent un ivrogne, un traîne-misère, ou un tapeur professionnel venait nous demander cent sous […]. Tous ces déclassés, ces exilés, ces ratés, ces fabulants nous reposaient des monotonies de la province. […] J’ai eprouvé de fortes joies à travailler en solitaire au milieu de ces gens, très proche et très lointains, qui cherchaient à tâtons leur vie.174 Immer wieder überzeugt sie sich von der Anwesenheit der ihr fremden, leise diskutierenden Menschen im Café, welche sie beruhigt und besonders in Momenten der Einsamkeit und des Gefühls einer Schreibblockade ermutigt, weiterzuschreiben und ihr Blatt zu füllen.175 Dies liegt vor allem an der familiären, aber auch unverbindlichen Atmosphäre, die der Ort vermittelt und seine Anziehungskraft ausmacht: Denn obwohl 172 173 174 175
Campos: »Die Kaffeehäuser in Mexiko-Stadt«, S. 573. Vgl. die weiterführenden Überlegungen zu Eintritt und Zutritt, zur Schwelle und Tür des Kaffeehauses unter Kapitel V.2 Raumfigurationen. Simone de Beauvoir : La force de l’âge, Paris 1960, S. 320ff. Vgl. Simone de Beauvoir : La force de choses, Paris 1963, S. 108.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
die anwesenden Menschen sich im sozialen Status sehr voneinander unterscheiden und nicht miteinander bekannt sind, vermag es das Café, sie zu verbinden. Diese Chance, der Gesellschaft beim Schreiben gleichzeitig nah und fern zu sein, und den freien, zu nichts verpflichtenden Charakter eines öffentlichen Cafés weiß auch Hermann Kesten zu schätzen, der in Dichter im Café (1959) schreibt, dass er es vorziehe, stets »angesichts müßiger Menschen zu arbeiten«.176 Hermann Glaser nennt Kesten im Nachwort der Neuauflage von Dichter im Café einen ›heimatlosen Weltbürger‹, der »im Café seine existenzielle Verankerung und Ruhe« und »eine bewegliche, regsame Geborgenheit« gefunden habe. So seien die meisten seiner Werke »unmittelbar aus der Atmosphäre dieses Topos entstanden«177 , die aus einer Mischung aus »Weltschmerz und Lebensfreude« bestanden habe.178 Besonders das Vermitteln eines persönlichen Freiheitsgefühls ist für Kesten eines der wichtigsten Kriterien, das ein Café erfüllen muss, um ein guter Schreibort sein zu können; daneben muss das dortige Geschehen so mitreißend und beflügelnd sein, als säße er im Theater: Das Beste am Kaffeehaus ist sein unverbindlicher Charakter. Da bin ich in einer Gesellschaft, und keiner kennt mich. Man redet, und ich brauche nicht zuzuhören. Ich sehe einen nach dem anderen an und erkenne alle. Für mich agieren sie wie Komödianten. […] Oft leiht mir das Kaffeehaus eine geheime Unabhängigkeit. Ich bin der Fremde in einer Stadt, wo jeder jeden kennt. Ich bin der Gast an einem Ort, wo jeder andere zu Hause ist.179 Für Kesten hat das Kaffeehaus nicht nur eine Bedeutsamkeit als Ort eines inspirierenden Theaterspiels, sondern als geradezu paradiesischer Ort »zwischen Wolken, Wipfeln und Wellen«180 , als Leuchtturm im Meer oder Oase181 , welche in der trockenen Wüste lebensrettende Flüssigkeit spendet. Diese Metaphern drücken auch aus, dass es dem Kaffeehausgast möglich ist, sich inmitten einer Masse von Menschen zurückzuziehen und aus seiner privaten Nische wie von einem Turm herab das Geschehen im Café und »das leidenschaftliche Getümmel auf den Straßen«182 zu beobachten, als säße er im eigenen Wohnzimmer und schaue aus dem Fenster. Deshalb sei es für Kesten wesentlich, in einem Kaffeehaus zu schreiben, welches nicht als ›Literatencafé‹ bekannt sei, sondern von ›gewöhnlichen‹ Kunden und Kundinnen ohne literarische Ambitionen besucht
Kesten: Dichter im Café, S. 13. Hermann Glaser: »Nachwort«, in: Hermann Kesten: Dichter im Caf é, Cadolzburg 2015, S. 367-372, S. 367. 178 Glaser: »Nachwort«, S. 370f. 179 Kesten: Dichter im Café, S. 7. 180 Kesten: Dichter im Café, S. 10f. 181 Vgl. der Roman Café Engel (2018), in dem das gleichnamige Café den Schauplatz der Handlung darstellt und auch als ›Oase‹ oder ›Insel‹ bezeichnet wird: »›Schön, dass es euch beide gibt‹, meint sie und nippt genüsslich den ersten Schluck. ›Überhaupt das Café Engel. Es ist wie eine Insel im Ozean. So ein warmer, sicherer Ort mitten im wilden Meer. Wenn du verstehst, was ich meine…‹ ›Klar. Wir sind so was wie Honolulu. Nur ohne Meer. Und ohne Grasröckchen…‹ […] Irgendwie hat Gisela recht. Das Café ist eine Insel, ein geschützter Ort, eine Zuflucht. Das Gemurmel, die Stimmen in der Gaststube, die feuchten Regenschirme im Ständer, der Geruch nach Kaffee und Marmeladentörtchen […].«, in: Marie Lamballe: Café Engel. Eine neue Zeit, Köln 2018, S. 246; 250. 182 Kesten: Dichter im Café, S. 7. 176 177
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werde: »Wenn ich ins Café gehe, um zu schreiben, muß ich allein sein und unter Menschen, die nicht im Café schreiben«; außerdem fliehe er »vor der Boheme« und schreibe »gern in Cafés, aber nicht, wo mir die Kollegen und Kritiker über die Schulter schauen.«183 Deutlich wird hier, dass Kesten gar nicht so sehr ein bestimmtes Kaffeehaus im Sinn hat, sondern vielmehr die Institution eines gemütlichen, öffentlichen Schreibortes an sich und dass jedes beliebige Café den Zweck erfüllen kann, sein Schreibort zu sein. Er wird von Horst Bienek in einem Interview gefragt, ob er »das Café-Haus als Milieu oder auch den Kaffee wie Balzac als eine Art Stimulans« brauche und antwortet: Ich schreibe so gern im Café, weil es mir eine gewisse Anonymität gibt, weil ich sehr gern, während ich schreibe, Menschen beobachte, weil ich abseits bin von meinen Büchern, von meiner Wohnung, von allem, was mich stört, weil ich auf dem Weg zum Café und vom Café mir schon überlege, was ich schreiben will, mir schon die Dialoge selber führe, die ich meine Person führen lassen will.184 Die bei Kesten durchgängig hervorgehobene Empfindung von Anonymität und Freiheit verbindet sich immer mit dem Ort des Cafés und ist für ihn mit seinem Beruf als Schriftsteller verbunden, so dass es nicht verwundert, dass auch seine Erinnerungen immer mit dem Café verknüpft sind. Obwohl Kesten auch die Gefahr der nationalsozialistischen Zeit für Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowie für liberale ›Literatencafés‹ erwähnt185 , ist das Kaffeehaus bei ihm als Ort des Schreibens und gemütlichen Beisammenseins doch überwiegend positiv konnotiert und insbesondere als Institution der Kontinuität markiert.186 In den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass das Kaffeehaus in Verbindung mit dem Beruf einer Schriftstellerin oder eines Künstlers zu Kontroversen anregt und es beschönigend wäre, wenn man die Atmosphäre im Kaffeehaus nur als idyllischfriedvolle Harmonie beschriebe, da sich neben denjenigen, die das Café als eine »von Haß und Feindschaft unberührt gebliebene Institution« und einen Ort »der loyalen Begegnung«187 bezeichnen, auch andere Stimmen finden, die die charakterlose Künstlichkeit und maskenhafte Verstellung der Gäste im Kaffeehaus kritisieren. So moniert Karl
183 Kesten: Dichter im Café, S. 190; 420. Vgl. Kapitel V.1.3: Hemingway formuliert dies ähnlich. 184 Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern, S. 160. 185 Vgl. »Was habe ich nicht alles in Kaffeehäusern erlebt! […] Im Café Rotonde am Montparnasse saß ich an einem Silvesterabend zwischen zwei deutschen Dichterinnen im Exil, eine war aus Köln, die andre aus Mainz; […] indes die Anna Seghers verstört in den zahlreichen wandhohen Kaffeehausspiegeln imaginäre oder reelle Spitzel verfolgungswahnsinniger Diktatoren suchte, jenes Diktators, vor dem sie zitternd geflohen, und jenes, den sie zitternd anbetete.«, in: Kesten: Dichter im Café, S. 9. 186 Vgl. »In Berlin saß ich im März 1933 mit Freunden am Kurfürstendamm, vor dem Café Wien, vor dem Café Dobrin oder vor Mampes Likörstube, und Hitlers braune Buben mit einem Hakenkreuz im Herzen jagten blutende Juden und Arbeiter über den Kurfürstendamm. Da hörte ich zu schreiben auf und verließ das Café, schüttelte den Staub der Stadt Berlin von meinen Füßen und ging außer Landes und setzte mich in die fremden Kaffeehäuser im Exil und schrieb.«, in: Kesten: Dichter im Café, S. 12. 187 Milan Dubrovic: Veruntreute Geschichte der Wiener Salons und Literatencafés, Wien/Hamburg 1985, S. 30.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Kraus in seinem Essay »Die demolirte Literatur« die Unfruchtbarkeit einer Kaffeehausrunde, die nur aus ›talentlosen‹ und faulenzenden Möchtegern-Literaten bestehe188 und Edmund Wengraf verneint jegliches konzentriertes Arbeiten im Kaffeehaus aufgrund der dort vorherrschenden lauten und hektischen Atmosphäre.189 Auch der Erzähler in Thomas Bernhards Erzählung Wittgensteins Neffe (1982) äußert sich gegen Ende dieses Textes eher negativ über ›das‹ Wiener Kaffeehaus, welches für ihn gleichzeitig, trotz seines Haderns, einen Ort darstellt, dem er nicht entkommen kann. Bernhard thematisiert in Wittgensteins Neffe, einem autobiographisch geprägten Text, welcher von seiner Freundschaft mit Paul Wittgenstein, dem Neffen des Philosophen Ludwig Wittgenstein, handelt, vor allem die Luft, die Gerüche, die Emotionen und die Menschen, die für ihn die Atmosphäre seiner Wiener Stammcafés ausmachen 188 Vgl. »Ueber den vielen Kaffeehaussitzungen, die zum Zwecke einer endgiltigen Formulirung des Begriffes ›Künstlermensch‹ abgehalten wurden, sind so manche dieser Schriftsteller nicht zur Production gekommen. Bevor man sich nicht über eine Definition geeinigt hatte, wollte sich keiner an die Arbeit trauen, und manche hatten sich längst als Stammgäste einen Namen gemacht, bevor sie dazu kamen, sich ihn durch ihre Werke zu verscherzen. Griensteidl ist nun einmal der Sammelpunkt von Leuten, die ihre Fähigkeiten zersplittern wollen, und man darf sich über die Unfruchtbarkeit von Talenten nicht wundern, welche so dicht an einem Kaffeehaustisch beisammen sitzen, dass sie einander gegenseitig an der Entfaltung hindern.«; »Es folgen Tische, deren Verhältnis zur Literatur nur noch ein sehr gelegentliches ist. Hier sitzen Leute, deren Talent sich in den Randbemerkungen und Glossen ausgibt, mit welchen sie sämmtliche [!] im Literatur-Café aufliegenden [!] Zeitschrift versehen. […] Manche wiederum schienen redlich bemüht, die freien Gewohnheiten pariserischer Bohémiens nachzuahmen; der Wille war gut, die Begabung zu schwach für das Nichtsthun.«, in: Kraus: »Die demolirte Literatur«, S. 285; 296. 189 Vgl. »Das Kaffeehaus bedeutet den geistigen Ruin der Wiener Gesellschaft. […] Der Kaffeehausmensch liest nur mehr die Tageblätter und allenfalls – wenn er besonders ›gebildet‹ ist – auch illustrirte [!] Zeitschriften. Aber auch diesen nicht allzu anstrengenden Lesestoff vermag er bald nicht mehr gründlich zu bewältigen. Ernst und Gründlichkeit gedeihen nicht in der Atmosphäre des Kaffeehauses. Diese rauchgeschwängerte, durch Gasflammen verdorbene, durch das Beisammensitzen vieler Menschen verpestete Luft, dieses Durcheinanderschwirren von Kommenden und Gehenden, gesprächigen Gästen und geschäftigen Kellnern, dieses Gewirr schattenhafter Erscheinungen und unbestimmbarer Geräusche macht jedes ruhige Nachdenken, jede gesammelte Betrachtung unmöglich. Die Nerven werden überreizt, Gedächtnißkraft, Aufmerksamkeit und Fassungsvermögen werden geschwächt. […] Das Kaffeehaus macht unser männliches Lesepublikum denkträge, oberflächlich und wählerisch im schlechtesten Sinne. Es erzeugt nicht den überverfeinerten Geschmack, der nur am Auserlesensten Gefallen findet, sondern den abgestumpften Gaumen, dem nur mehr die gepfefferte Kost ein schwächliches Behagen bereitet. Es vernichtet das frische Verständniß, die gesunde Empfänglichkeit. Es erzeugt die gähnende Schlaffheit, die stumpfe Zerstreutheit. […] Das Wiener Kaffeehaus verschlingt unsere Intelligenz und unsere Bildung. In diesem dunstigen, rauchigen Schlunde liegt unser literarisches Leben begraben. Der Mann verlernt im Kaffeehause den geistigen Verkehr mit seiner Familie, er gewöhnt sich an eine oberflächliche Lectüre, an ein inhaltsleeres Geplauder, er verliert die Spannkraft, die zu tiefer anregenden Gesprächen, zu fruchtbarer Ueberlegung, zu ernster literarischer Geschmacksbildung nöthig wäre. […] Für die Gegenwart aber kann man sagen, daß im Wiener Kaffeehause alle Quellen unseres literarischen Unglückes zusammenlaufen. Hier sitzt nicht der verborgene Keim, wohl aber der sichtbare Ursprung des Uebels. Aus der harmlos scheinenden braunen Mischung steigen die Dünste auf, die unseren Blick umnebeln und uns blind und stumpf machen für einen der edelsten und lautersten Genüsse des Daseins.«, in: Edmund Wengraf: »Kaffeehaus und Literatur«, in: Wiener Literatur Zeitung 2:7 (1891), S. 1-2, S. 1f.
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und die gleichzeitig dafür verantwortlich sind, dass der Autor dem Kaffeehaus beziehungsweise speziell dem ›typischen Wiener Literatenkaffeehaus‹ hochgradig emotional und völlig gespalten gegenübersteht, er es liebt und gleichzeitig ›hasst‹.190 In diesem zwischen Fiktion und Wirklichkeit angesiedelten Text191 , welcher durch die »Fiktionalisierung des Erlebten« als »komplexe[] Auseinandersetzung des Ich mit seinen historischen und sozialen Lebensbedingungen«192 betrachtet werden kann, werden in Bezug auf das Kaffeehaus vor allem die Frage nach Synästhesie und Atmosphäre und deren Auswirkungen auf Körper, Intellekt und Psyche einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers verhandelt. Insbesondere das Thema ›Luft‹ beziehungsweise Belüftung spielt für den lungenkranken, von einer »nervenzehrenden Unruhe« besessenen Autor (WN 294) eine große Rolle und beeinflusst nachhaltig seine Einstellung zu den beschriebenen Cafés und auch zur Stadt Wien. So berichtet der Erzähler, wie er als »Großstadtmensch« in den Wiener Kaffeehäusern zwar ›aufatme‹, wenn er vom Land komme, er aus der Stadt aber auch wieder fliehen müsse, um nicht »in der scheußlichen Wiener Luft [zu] ersticken« (WN 293). Der Ich-Erzähler schildert, dass er ein treuer Besucher vieler verschiedener Kaffeehäuser sei, wie dem Sacher, dem Hawelka oder dem Bräunerhof, obwohl sie »eine stinkende, die Nerven irritierende und den Geist tötende Luft« (WN 290) und deshalb eine »eine tödliche Wirkung auf den Schriftsteller« (WN 293) hätten. Er geht immer wieder hin, obgleich er »dort nur immer irritiert und belästigt und auf die sinnloseste Weise deprimiert worden« sei (WN 290). Diesen zwanghaften Drang, das Café gegen seinen Willen aufzusuchen, führt er darauf zurück, dass er an der ›Kaffeehausaufsuchkrankheit‹ leide, welche verhindere, dass er einen anderen Ort zum Schreiben finden kann als das Café: es hat sich herausgestellt, daß diese Kaffeehausaufsuchkrankheit die unheilbarste aller meiner Krankheiten ist. Ich habe die Wiener Kaffeehäuser immer gehaßt, weil ich ihn ihnen immer mit Meinesgleichen konfrontiert gewesen bin, das ist die Wahrheit und ich will ja nicht ununterbrochen mit mir konfrontiert sein, schon gar nicht im Kaffeehaus, in das ich ja gehe, damit ich mir entkomme, aber gerade dort bin ich dann mit mir und mit Meinesgleichen konfrontiert. […] Ich meide die Literatur, wo ich nur kann, weil ich mich selbst meide, wo ich nur kann und deshalb muß ich mir den Kaffeehausbesuch in Wien verbieten oder wenigstens immer darauf Bedacht nehmen, wenn ich in Wien bin, unter keinen wie immer gearteten Umständen ein so genanntes Wiener Literatenkaffeehaus aufzusuchen. Aber da ich an der Kaffeehausaufsuchkrankheit leide, bin ich gezwungen, immer wieder in ein Literatenkaffeehaus hineinzugehen, auch wenn sich alles in mir dagegen wehrt. Je mehr und je tiefer ich die Wiener Literatenkaffeehäuser gehaßt habe, desto öfter und desto intensiver bin ich in sie hineingegangen. (WN 292)
190 Vgl. Thomas Bernhard: »Wittgensteins Neffe«, in: ders.: Werke. Erzählungen III, Bd. 13, hg. v. Hans Höller/Manfred Mittermayer, Frankfurt a.M. 2008, S. 209-307, S. 291f. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »WN« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 191 Vgl. Robert H. Vellusig: »Thomas Bernhard und Wittgensteins Neffe: Die Bewegung des Hinundher«, in: Modern Austrian Literature, 23:3/4 (1990), S. 39-52, S. 49. 192 Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche – Werk – Wirkung, München 2010, S. 105.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Ebenso wie Kesten unterscheidet auch Bernhard zwischen den Kaffeehäusern, in denen sich bevorzugt andere Autoren und Autorinnen treffen, um miteinander über Literatur zu sprechen oder sich gegenseitig vom Arbeiten abzuhalten, und denjenigen Kaffeehäusern, wo sich die »Opfer« dieser Ablenkungsversuche treffen (WN 289), wozu er sich selbst zählt. Betont wird hier insbesondere die passive Ausweglosigkeit, gegen die der Ich-Erzähler wenig ausrichten kann – er fühlt sich nicht nur auf pathologische Weise gezwungen, Kaffeehäuser gegen seinen Willen aufzusuchen, sondern vielmehr sieht er sich dort bestimmten Menschen gegenübergestellt, denen er nicht ausweichen kann, obgleich er sie aufgrund ihrer beifallsheischenden Art der Inszenierung verabscheut. Er vergleicht sie mit Schauspielenden, die das Café wie eine Bühne betreten, als seien sie berühmte Persönlichkeiten, die den ihnen gebührenden Applaus ernten und bewundert werden wollen: In einem Literatenkaffeehaus wäre es mir niemals möglich gewesen, einen ganzen Vormittag völlig ungestört mich meinen Zeitungen zu widmen, denn nicht einmal eine halbe Stunde ist dort vergangenen, und ich bin gestört worden durch den Auftritt eines Schriftstellers und seinem Gefolge, einer Gesellschaft, die mir immer schon zutiefst zuwider gewesen ist, weil sie mich fortwährend von meinen eigentlichen Vorhaben abhielt, mir das Wesentliche immer auf ihre grobe Weise behinderte, ja mir dieses Wesentliche überhaupt nicht und niemals, wie ich es wollte, möglich machte. (WN 289f.) Dabei unterstreichen seine langen, verschachtelten Sätze und sein monologisch-repetierender Stil die Unausweichlichkeit jener Gewalt, die ihn in Besitz genommen hat und ihn trotz seines inneren Widerstands das Kaffeehaus aufsuchen lässt, als wäre er von ihm abhängig. Jedoch bewertet er nicht alle Kaffeehäuser gleichermaßen: Zum Beispiel kontrastiert er das Sacher, in dem er »niemals irritiert, deprimiert oder auch nur belästigt worden« sei und meist gut habe arbeiten und lesen können, mit dem Café Bräunerhof, in dem ihn die »schlechte Luft und das wohl aus perversen Sparsamkeitsgründen andauernd auf ein Beleuchtungsminimum heruntergedrückte Licht« belästigen und seine Schreibtätigkeit beeinträchtigen würden genauso wie der »penetrante[] Küchengeruch« und die unbequemen Sitzbänke, die »der Wirbelsäule unweigerlich den größten Schaden zufügen« (WN 290). Er stellt auch verschiedene Aspekte innerhalb eines einzigen Kaffeehauses einander gegenüber; so grenzt er beispielsweise den rechten Salon des Café Sacher, welchen sein Freund Paul aufgrund der »bequemeren Sessel« und »besser gemalten Gemälde« bevorzuge, von dem linken Salon ab, den er selbst wegen »der viel besseren Luft« und der ausländischen Zeitungen präferiere (WN 288f.) – im Vergleich zu den dort ausliegenden internationalen Zeitungen seien deutsche und österreichische Zeitungen nichts weiter als »millionenfach erscheinende unbrauchbare Klosettpapiere« (WN 291). Weiterhin lobt er den aufmerksamen Service der Kellner im Bräunerhof und die »geradezu ideale[] Höflichkeit des Kaffeehausbesitzers, die also weder über- noch untertrieben ist.« (WN 291) Bernhard urteilt demnach recht differenziert, bezieht sämtliche Aspekte mit ein, die die Atmosphäre ausmachen und die Aufenthaltsqualität für ihn als Gast beeinflussen können. Deutlich wird, dass er durch die unangenehmen Gerüche, lau-
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ten Geräusche und schummrigen Lichtverhältnisse zwar physisch angegriffen ist, sich jedoch psychisch wohlfühlt, wenn störende ›Kollegen‹ abwesend sind. Auch die pure Gewohnheit und die Bedienung bewirken, dass er sich geborgen und beheimatet fühlt, insbesondere weil sich die Atmosphäre innerhalb der Lokale nicht in Abhängigkeit von seiner Gemütsverfassung verändere, sondern jeden Tag gleich sei. Denn obwohl er diesen Zug zuweilen als gegen sich gerichtet empfindet, bestehe darin jedoch gerade die Anziehungskraft der jeweiligen Cafés: Im Bräunerhof ersticken die Gedanken sofort im Raucherqualm und im Küchendunst und im Gewäsch der Wiener Dreiviertel- und Halb- und Viertelgebildeten, die dort gegen Mittag ihren gesellschaftlichen Dampf ablassen. Im Bräunerhof reden mir die Leute zu laut oder zu leise, bedienen die Kellner zu langsam oder zu schnell, aber im Grunde ist das Bräunerhof gerade weil es gegen alles ist, das ich mir jenen Tag für mich in Anspruch zu nehmen getraue, das Wiener Kaffeehaus, genau wie das in den letzten Jahren in Mode und in diesen Jahren mit der gleichen Geschwindigkeit völlig heruntergekommene Café Hawelka. Das typische Wiener Kaffeehaus, das in der ganzen Welt berühmt ist, habe ich immer gehaßt, weil alles in ihm gegen mich ist. Andererseits fühlte ich mich jahrzehntelang gerade im Bräunerhof, das immer ganz gegen mich gewesen ist (wie das Hawelka), wie zuhause, wie im Café Museum, wie in anderen Kaffeehäusern von Wien, die ich in meinen Wiener Jahren frequentiert habe. (WN 291) Neben dem drastisch zum Ausdruck gebrachten Widerspruch findet sich in den Zitaten auch ein starker Akzent auf dem Zusammenspiel Bernhards mit den besuchten Lokalen selbst, die hier wie eigenständige, personifizierte Akteure auftreten und mit ihm interagieren. Dabei beeinflussen die für ihn bedeutsamen Lokale nicht nur seine Wahrnehmung, Laune und Gesundheit, sondern vor allem auch seine Texte sowie sein Lese- und Schreibverhalten. In seinen kontroversen Reflektionen auch zu anderen Orten des Schreibens193 nimmt das Kaffeehaus aufgrund von Bernhards Rastlosigkeit und »permanenter Heimatverweigerung«194 eine wichtige Rolle ein als Raum des Dazwischen195 , als Ort zwischen dem ländlichen Zuhause in seinem Ohlsdorfer Vierkanthof und der urbanen Außenwelt, da er sich hier sowohl beheimatet als auch frei fühlt: »Ich gehöre zu den Menschen, die im Grunde keinen Ort auf der Welt aushalten und die nur glücklich sind zwischen den Orten, von denen sie weg und auf die sie zufahren.« (WN 294f.)
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Vgl. auch »Die Bücher, oder was ich schreib gleicht ganz dem – worin ich hause.« Das Zitat findet sich auf der Homepage der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft (URL: https://thomas bernhard.at/die-haeuser/); als Quelle wird Bernhards Artikel »Meine eigene Einsamkeit« (1965) angegeben. Darin lässt sich das Zitat jedoch nicht nachweisen, vgl. Thomas Bernhard: »Meine eigene Einsamkeit«, in: Die Presse, 24.12.1965, Nr. 5309, S. V. 194 Vellusig: »Thomas Bernhard und Wittgensteins Neffe«, S. 46. 195 Vgl. »Lebensraum erschließt sich dem Ich nur zwischen den Räumen – das ist die Pointe, in der die Sprachbewegung kulminiert. Die permanente Heimatsverweigerung macht die räumliche Differenzerfahrung, den je gegenwärtigen Bewegungsvollzug, zum Selbstzweck, der das Problem der Zukunftssicherung nicht kennt.« in: Vellusig: »Thomas Bernhard und Wittgensteins Neffe«, S. 46.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Deutlich negativer konnotiert ist der Ort des Kaffeehauses aber vor allem in den autobiographisch beeinflussten Werken Arthur Schnitzlers196 , besonders wenn das Kaffeehaus »eine Ecke des psychischen Raums [besetzt], in der gesellschaftliche und ideologische Spannungen unausgeglichen bleiben.«197 So deckt Schnitzler Kehrseiten der Institution des Kaffeehauses auf, welche die soziale Maskerade und scheinheilige Doppelmoral der Wienerischen Gesellschaft widerspiegeln, in der Missstände vertuscht werden sollen. In seinem Roman Der Weg ins Freie (1907) beispielsweise beobachtet der Protagonist Georg von Wergenthin von außen durch ein Kaffeehausfenster den Kritiker Rapp und den Dichter Gleißner, die sich »wie tot« und »mit ins Leere gehenden Gesten«198 am Kaffeehaustisch gegenübersitzen. Obwohl dieses Beisammensein ihnen keine weiteren Erkenntnisse bringt und sie sich gegenseitig verabscheuen, gelingt es ihnen nicht, ihr Treffen auf ehrenhafte Weise zu beenden. Vielmehr ertragen sie diese feindselige und unproduktive Atmosphäre, da eine dekadente Untätigkeit bequemer und einem Intellektuellen ›angemessener‹ ist: Als Georg, ohne ihre Stimmen zu hören, nur die Lippen der beiden sich bewegen und ihre Blicke hin- und hergehen sah, faßte er es kaum, wie sie es ertragen konnten in dieser Wolke von Haß sich eine Viertelstunde lang gegenüber zu sitzen. Er fühlte mit einemmal, daß dies die Atmosphäre war, in der das Leben dieses ganzen Kreises sich abspielte, und durch die nur manchmal erlösende Blitze von Geist und von Selbsterkenntnis zuckten. Was hatte er mit diesen Leuten zu tun? Eine Art von Grauen erfaßte
196 In Schnitzlers Monolognovelle »Leutnant Gustl« (zuerst veröffentlicht am 25.12.1900 in der Neuen Freien Presse) trägt die lebensrettende Erfahrung, die Gustl im Kaffeehaus macht, nicht zu einer reflektierten Erkenntnis bei, sondern verhilft ihm nur zu einer scheinbaren Lösung, die sein Leben nicht verändern wird. Der Leutnant hatte sich um seiner Soldatenehre willen erschießen wollen, da er von einem gesellschaftlich unter ihm stehenden Bäcker beleidigt worden ist, diesen jedoch nicht zum Duell fordern kann, weil er nicht satisfaktionsfähig ist. Obgleich er eigentlich nicht sterben möchte, fühlt er sich durch die Konventionen der Gesellschaft dazu verpflichtet, sich umzubringen. Als er im Kaffeehaus die Nachricht hört, dass der Bäcker plötzlich gestorben sei, empfindet er dessen Tod als glücklichen Wink des Schicksals und nicht als zufälliges Ereignis: »Und das Mordsglück, dass ich in das Kaffeehaus gegangen bin… sonst hätt‹ ich mich ja ganz umsonst erschossen – es ist doch wie eine Fügung des Schicksals…«, in: Arthur Schnitzler: »Leutnant Gustl«, in: ders.: Gesammelte Werke, Köln 2018, S. 151-188, S. 187. Obwohl die militärisch-konservativen Normen und gesellschaftlichen Zwänge, denen er verhaftet ist, ihn beinahe zu einem Selbstmord geführt hätten, ist er nicht fähig zu erkennen, dass diese Gesellschaftsordnung mit einem konfliktfreien Kaffeehausleben, das fest in seinem Alltag verwurzelt ist, unvereinbar ist, und stellt sie nicht in Frage. Denn die Spannungen und Zwistigkeiten, die dort durch den Umgang der verschiedenen Stände miteinander erzeugt werden können, werden verdrängt und nicht ausgetragen, da die unterschiedlichen Wertvorstellungen und die Etikette keine ebenbürtige Kommunikation ermöglichen. So verkehren zwar alle gesellschaftlichen Schichten in demselben Café, jedoch gehören sie parallelen Wertordnungen an, die nicht zusammen zu führen sind, da alle Mitglieder von der Weltanschauung ihrer Gruppe beeinflusst und durchdrungen sind. 197 Gilbert Carr: »Großstadt und Kaffeehaus in der Wiener Literatur um 1900«, in: Eda Sagarra (Hg.): Deutsche Literatur in sozialgeschichtlicher Perspektive, Dublin 1989, S. 146-162, S. 159. 198 Arthur Schnitzler: »Der Weg ins Freie«, in: ders.: Gesammelte Werke, Erzählende Schriften, Bd. 3, Berlin 1912, S. 112.
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ihn, er wandte sich ab und entschloß sich, statt ins Kaffeehaus zu gehen, endlich wieder einmal den Klub aufzusuchen […].199 Das Kaffeehaus ist also keineswegs, wie oben bei Milan Dubrovic zitiert, eine von Unbilden unberührt gebliebene Institution, sondern ein Ort, an dem Dinge, die außerhalb zur Sprache kommen oder zu Gewalt führen würden, verschwiegen oder nicht beachtet werden. Laut Gilbert Carr wird das Kaffeehaus deshalb bei Schnitzler als »Zeichen für gesellschaftliche Zersetzung und Charakterlosigkeit«200 beschrieben. Auch in Schnitzlers posthum veröffentlichter Novelle Später Ruhm (1894, erstmals erschienen 2014)201 wird das Wiener Kaffeehaus, in dem sich eine Gruppe junger Möchtegern-Künstler trifft, um über ihre Texte und verschiedene Schreibstrategien202 zu diskutieren, weniger als Ort des Schreibens und des ehrlichen Arbeitens, sondern vielmehr als Ort der Scheinmoral und Feindseligkeit dargestellt. Auffällig ist der sehr ironische Tonfall, wenn über das Schreiben berichtet wird: »Da war ja gewiss ungeheuer viel Talent, gearbeitet wurde aber eigentlich recht wenig.« (SR 88) So könne der Text verschiedenen Rezensenten zufolge als eine »Satire auf den modernen Literaturbetrieb«203 sowie als »Typologie«204 und »parodistische Skizze der Kaffeehausliteraten« interpretiert werden, in der die »Frage nach der Vereinbarkeit von Künstlertum und bürgerlicher Existenz«205 von Schnitzler aus autobiographischer Perspektive verhandelt werde. Der Protagonist Eduard Saxberger ist ein alter Herr und Junggeselle, der in seinen jungen Jahren für kurze Zeit »die Fesseln der Alltäglichkeit abgestreift« (SR 15) und den Gedichtband Wanderungen geschrieben hat, seitdem jedoch nicht mehr schriftstellerisch tätig, sondern in einem sicheren, jedoch eintönigen Beamtenverhältnis angestellt gewesen ist. Nun wird er ganz unverhofft von den ehrgeizigen jungen Leuten des Vereins ›Begeisterung‹ aufgefordert, an der literarischen Diskussionsrunde ihrer 199 Schnitzler: »Der Weg ins Freie«, S. 690. 200 Carr: »Großstadt und Kaffeehaus in der Wiener Literatur um 1900«, S. 155. 201 Arthur Schnitzler: Später Ruhm. Novelle, hg. v. Wilhelm Hemecker/David Österle, Wien 2014. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »SR« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Die Autoren des Schnitzler-Handbuches widersprechen den Herausgebern dieser Ausgabe, die im Nachwort der Novelle schreiben, dass die genaue Herkunft und das Entstehungsdatum des Textes gesichert seien. Vgl. Michael Scheffel: »Später Ruhm (2014)«, in: Christoph Jürgensen/Wolfgang Lukas/ders. (Hg.): Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2014, S. 245-247, S. 245. 202 Vgl. »Staufner erzählte, dass er oft wochenlang nicht fähig wäre, einen Vers zu schreiben, aber es gäbe gewisse Gegenden, die einen belebenden Einfluss auf seine Arbeitsfreudigkeit ausübten. Welches diese Gegenden wären, wollte er nicht verraten. ›Vielleicht ist’s ein Aberglaube, aber ich denke, wenn ich’s sagte, wäre der Zauber vorbei.‹ Darüber wurde nun viel hin und her gesprochen. […] ›Ich hab eine Eigenheit […] ich studiere am besten, wenn in meiner Schreibtischschublade lauter faule – Pomeranzen liegen.‹ […] ›Na, was brauchen denn Sie für eine Stimmung?«, fragte Meier den kleinen Winder. ›Ich‹, erwiderte dieser errötend… ›ich kann eigentlich immer schreiben…‹ (SR 69f.) 203 Scheffel: »Später Ruhm (2014)«, S. 247. 204 Andreas Breitenstein: »Literatur als Luftnummer«, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.05.2014, URL: https://www.nzz.ch/literatur-als-luftnummer-1.18302355 (02.02.2019). 205 Hubert Spiegel: »Die große Entdeckung von Schnitzlers ›Später Ruhm‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2014, URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/erstveroeffentlichung -die-grosse-entdeckung-von-schnitzlers-spaeter-ruhm-12926300.html (11.07.2019).
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
»Kaffeehaus-Traumwelt«206 teilzunehmen und einen neuen Text für einen geplanten Literaturabend beizusteuern, der ihnen den großen künstlerischen Durchbruch bescheren soll. Saxberger nimmt daraufhin regelmäßig an ihren Treffen im Café teil, denn er fühlt sich anfangs aufgrund der scheinbaren Aufmerksamkeit für sein Werk und seine Person geschmeichelt und wie neu geboren, eine »neue Epoche seines Lebens schien begonnen zu haben« (SR 41); denn im Kaffeehaus herrscht eine »Atmosphäre von Hoffnung, Jugend, Selbstbewusstsein, in der er tief aufatmete. […] es war ihm, als gehörte er zu diesen Menschen.« (SR 32) Zu Beginn der Bekanntschaft mit den exaltierten ›Dichtern‹ des Kaffeehauses versucht Saxberger noch, aufrichtig teilzunehmen und die Hintergründe zu verstehen. Wenig später stellt er jedoch fest, dass die Gespräche nur aus hohlen Phrasen bestehen und die Atmosphäre im Café von Egoismus, Heuchelei und Selbstgefälligkeit sowie Häme und Missgunst gekennzeichnet ist – sowohl innerhalb der eigenen Gruppe als auch im Vergleich zu den Gästen an anderen Tischen: ›Wer sind denn die Leutʼ?‹, wandte sich Saxberger an Meier. […] ›Das sind die Talentlosen.‹ ›Weiß man das ganz bestimmt?‹, fragte Saxberger ernsthaft, oder nennt sich am Ende die Gesellschaft so?‹ ›Wir nennen sie so, höhnte Friedinger. […] Warum nennt Sie sie denn talentlos?‹, fragte Saxberger mit Beharrlichkeit. ›Talentlos […] nennen wir im Allgemeinen diejenigen, welche an einem andern Tische sitzen als wir.‹ (SR 38f.) Diese völlig irrationale Begründung weist auf das Konkurrenzdenken und die hohe Emotionalität hin, mit der die Vorgänge bewertet werden. Im weiteren Verlauf entwickelt Saxberger selbst ein hohes Maß an Eitelkeit und Indifferenz den anderen gegenüber und ist am Vortragsabend nur noch darauf bedacht, seine eigene Ruhmsucht zu befriedigen: »Er freute sich auf den Abend, auf die Vorlesung seiner Gedichte, auf den Applaus. An die andern dachte er eigentlich wenig.« (SR 102) Er hat nur die Publikumswirkung seiner Gedichte im Sinn und zeigt sich höchst empört, als er nicht den erwarteten Beifall erhält: »Alles andere war vollkommen gleichgültig. […] Alle schwiegen. Die Gedichte Saxbergers waren ihnen vollkommen gleichgültig.« (SR 105) Auch als Saxberger die Ahnung beschleicht, dass der ganze Abend nur Schall und Rauch bedeutet und seine ›Bekannten‹ »einen Ausbund von Unbegabtheit« darstellen, die ihn nur als »kunstreligiöse Trophäe«207 betrachten, schafft er es zunächst noch nicht, aus dem Modus des scheinbar verehrten greisen Dichters herauszutreten. Er wundert sich stattdessen in einem krisenhaften Moment, warum ihm niemand mehr den gewohnten Beifall spendet, sondern die anderen ihn vielmehr als Greis verhöhnen und als ›armen Teufel‹ bezeichnen: Ja, war es denn gestattet, einen redlichen Menschen, der nichts Böses verübt, in dieser Weise zu behandeln? Angejahrt… das war spöttisch gesagt, er fühlte es wohl – über sein Alter machte man sich da lustig – darüber, dass er, der alte Narr, sich dem Kreis dieser Jungen zugesellt, zu denen er gar nicht mehr gehörte […]. Und diese da, warum sagten sie denn jetzt nichts? Warum erklärten sie ihm denn nicht, dass ja möglicherweise ihre
206 Breitenstein: »Literatur als Luftnummer«. 207 Breitenstein: »Literatur als Luftnummer«.
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kleinen Versuche nichts Rechtes bedeuteten, dass sie aber nach wie vor in Verehrung sich vor ihm neigten – ja, warum entschuldigten sie sich nicht, wie es sich doch gebührt hätte, und redeten da durcheinander und sprachen von sich und immer wieder von sich und erklärten nun, dass sie doch Genies wären und es den Leuten zeigen wollten. (SR 123f.) Darauf erfährt die Novelle eine Peripetie: Nachdem er seine Enttäuschung über den Abend und die darauffolgende Leere überwunden hat, findet Saxberger seinen früheren Seelenfrieden und sein Gleichgewicht wieder, so dass er in seine bürgerliche Wirklichkeit zurückzukehren und das gewohnte Leben mit seinen gleichaltrigen Stammtischbrüdern wieder aufnehmen kann. Die in der Novelle geschilderte Atmosphäre in den beschriebenen Kaffee- und Gasthäusern mutet recht unterschiedlich an und korrespondiert mit den Gemütszuständen des Protagonisten. So nimmt er die Atmosphäre im ›Literaten- und Künstlerkaffeehaus‹ als feindselig und physisch angreifend wahr, er fühlt sich eingeengt und nicht frei: »Der niedrige, gewölbte Saal war noch ziemlich voll, und die Luft war beklemmend vor Dunst und Rauch.« (SR 25) Dahingegen empfindet er die geruchsintensive, schwülstige Luft der Blauen Birne, seines kleinbürgerlichen Stammlokals, in dem er sich nach dem gescheiterten Vortragsabend mit seinen ›alten Freunden‹ trifft, paradoxerweise als gemütlich und behaglich, die vertrauten Geräusche und Stimmen wertet er als ein Zeichen des Nachhausekommens, es sei »eine Wohltat, wie ihn nun, nach der dumpfen Atmosphäre im Kaffeehaus, eine stille, weiche Luft umquoll«: Mit diesen Worten ließ der alte Herr den kleinen Winder stehen und öffnete die Tür des Gasthauses, wo die Gesellschaft seiner alten Freunde sich zu versammeln pflegte. Die Luft, die ihm entgegenschlug, roch nach Bier, Rauch und Speisen. Die wohl bekannten Stimmen tönten durcheinander, laut und lachend. Und es war ihm, als käme er von einer kurzen, beschwerlichen Reise nach Hause, in ein Heim, das er nie geliebt, indem er aber die dumpfe und weiche Behaglichkeit von früher wieder fand. Er spürte, dass er nichts anderes mehr wollte, nichts anderes mehr brauchte. Er blieb nur einen Augenblick an der Türe stehen; dann trat er entschlossen an den Tisch, atmete tief auf und setzte sich nieder. Er wusste: ›armer Teufel‹ wird ihm hier keiner sagen. (SR 134f.) Obwohl der Geräuschpegel sehr hoch und die Luft im Gasthaus sehr durchdringend ist, es dort ebenso wie im Kaffeehaus nach Tabakrauch riecht und auch Speisengerüche hinzukommen, empfindet Saxberger dieses Gemisch nicht als Beklemmung, wie er es zuvor im Café empfunden hat, sondern hier in der Blauen Birne vermitteln ihm der typische Gasthausgeruch und die vertrauten Töne Erleichterung und Geborgenheit, die sich aus der langjährigen Gewöhnung und der Bekanntschaft mit den Anwesenden ergeben, die im Gegensatz zu den jungen Schriftstellern keine Erwartungshaltung an ihn stellen. So werden im Text zwei Lokale miteinander kontrastiert, die in ihren Charakteristika mit den Menschen und deren Lebensumständen verknüpft sind. Die jeweils vorherrschende Atmosphäre, die Ereignisse und Emotionen verstärken sich gegenseitig, so dass am Ende offenbar wird, dass kein Rollenwechsel stattfinden kann und für die handelnden Personen keine Veränderung ihrer Verhältnisse möglich erscheint, in-
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
dem sie schlicht ›das Lokal wechseln‹, um ›Künstler‹ zu werden, sondern dass alle ihrem ursprünglichen Kreis und ihrem Schicksal verhaftet bleiben. Ein weiteres Textbeispiel, das unter dem Blickpunkt des Cafés als Ort des scheinbaren Schreibens, der unterdrückten Wahrheit und des vermeintlichen Beginns eines neuen Lebensabschnitts betrachtet werden soll, ist Alfred Polgars Skizze »Das neue Leben«, welche in der Textsammlung Bewegung ist alles (1909) erschienen ist und in der die Geschichte über den faulen Studenten Karl als Rahmenhandlung dient. Darin sind zwei von Karl verfasste Essays eingebettet, die den »schriftstellerische[n] Extrakt seines Erdenwandels« darstellen.208 Karl, der das Lernen seit einem Jahr vor sich herschiebt, hat plötzlich beschlossen, sich nicht mehr »vom Studium frozzeln und schikanieren zu lassen«, sondern »sich ganz ins Privatleben zurückzuziehen«, also ins Kaffeehaus, wo er »zum alleinigen Inhalt seiner Existenz das Existieren« macht, welches er »einen langsamen Selbstmord durch konsequentes Auf-der-Welt-Sein« nennt. (DnL 112) Entgegen seiner Absicht, ein neues Leben zu beginnen, fleißig und tugendhaft zu werden, verwirklicht er das genaue Gegenteil, verstrickt sich in immer tiefere Abgründe seines alten Lebens und versinkt in »Indolenz, Faulheit und Willensschwäche, die ihn Tag und Nacht am Kaffeehaustisch« festhalten. (DnL 121) Im Folgenden soll Karls Essay »Das Caféhaus« betrachtet werden, in dem die Atmosphäre und die Rolle des Kaffeehauses als alltäglicher Aufenthaltsort, als Ort der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe beleuchtet wird, wo man in jeder Hinsicht ›Wahlfreiheit‹ genieße und mit allen anderen Gästen gleichgestellt sei: Das Caféhaus ist der einzige Ort, wo ›Menschen ohne Schwerpunkt‹ leben können. Dort ist eine so wunderbare Egalität hergestellt, wie unter den verschiedensten Materien im luftleeren Raum, wo alle mit gleicher Raschheit zu Boden fallen und keines sich vom Gewichte eines anderen übertrumpft fühlt. […] Man hat, wie man will, den Trubel oder die Einsamkeit, man kann sich ins ›Leben‹ stürzen oder in dunkelste Gruben der Meditation verkriechen, man hat die Lektüre und das Gespräch und, wenn man ganz leer an Teilnahme und Interessen, die künstliche Füllung mit den Emotionen des Spiels. Frauen und Mädchen nehmen am Tische Platz, wohlwollend angeregt, benehmen sich lieblich-forciert, fangen die hinflackernde Bewunderung werbender Augen gern auf halbem Wege im Netz der eigenen Blicke. (DnL 115f.) Wie sich in diesem Zitat zeigt, ist in Karls Essay ein besonderes Augenmerk auf die Sinnesreize gerichtet, da diese die Atmosphäre und damit die vorherrschenden Gefühle von Karl bestimmen. So nimmt er mithilfe seiner Augen und Ohren, welche Blicke und Gesprächsfetzen auffangen oder Zeitung lesen, am »Trubel« teil oder zieht sich ›meditativ‹ zurück. Er beschreibt sich dabei als eher passiven Gast, den man von der Wohnung ins Café verpflanzen kann, als sei er eine Blume. Sowohl der Geruch als auch die betäubende Wirkung einer Zigarette verschleiern für ihn die Absurdität seines Vorhabens ein neues Leben zu beginnen, was aufgrund des fehlenden Willens von vornherein zum Scheitern verurteilt ist:
208 Alfred Polgar: »Das neue Leben«, in: ders.: Bewegung ist alles, Frankfurt a.M. 1909, S. 109-123, S. 115. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »DnL« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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Eingewickelt in den narkotischen Duft der Zigarette sitzt man friedlich und vergißt der Armseligkeit und Lächerlichkeit des eigenen Daseins, deren man sich gleich fürchterlich bewußt wird, wenn man dies Dasein in ein leeres und graues ›Zu Hause‹ verpflanzt. Wie angenehm ist es, im Café zu lesen, zu schreiben, zu träumen! Zu Hause trägt man die Stille nicht, weil sie eine saugende Wirkung aufs Gehirn übt und die Nerven zu den wildesten Tänzen aufreizt. Zu Hause verträgt man den Lärm auch nicht, weil er etwas Persönlich-Feindseliges hat, weil man sich von allen Geräuschen direkt angeschossen fühlt. Aber der Kaffeehauslärm in seiner vagen Zusammensetzung, in seinem neutralen Farbengemisch und seiner unpersönlich-monotonen Art wirkt wie ein Abzugskanal aller Nervositäten. Bei einiger Technik schafft man sich mitten im Lärm eine Zone der Stille, in der eben es sich so angenehm leben, schreiben, träumen läßt. Und nirgends so gut wie dort vernimmt man den Ruf des neuen Lebens, sei es, daß er aus einem menschlichen Munde, aus einem Frauenauge, aus einer Zeitung, einem Buch, einer Stimmung, einer Nachdenklichkeit, einem Ärger oder einer Melancholie lockend hervorklänge. (DnL 116f.) Auch in Polgars Text nimmt der Gegensatz von Lärm und Stille eine bedeutende Rolle ein, weil sie direkt mit bestimmten Emotionen verknüpft sind: So erscheint die Stille zuhause als aggressiv-feindliches Gefühl, dem man nicht entrinnen kann, wohingegen der Kaffeehauslärm als Teil einer freundlich-zurückhaltenden Atmosphäre empfunden wird, die dabei hilft, die mitgebrachten Emotionen zu verflüchtigen. Dabei werden die eigentlich den Hörsinn betreffenden Geräusche mit visuellen Reizen, nämlich mit einem »neutralen Farbengemisch«, assoziiert, was den hohen Grad an Sinneswahrnehmungen im Café anzeigt. Zudem wird im Text die Metapher vom Kaffeehaus beziehungsweise dem Zuhause als »Schwamm« und dessen saugendem Effekt widersprüchlich verwendet: Wenn Karl sich im Café wohlfühlt, hat die Stille der eigenen Wohnung auf ihn eine negativ konnotierte, »saugende Wirkung aufs Gehirn«, wohingegen der Kaffeehauslärm positiv »wie ein Abzugskanal aller Nervositäten« wirkt. In dem Moment aber, wo Karl zum wiederholten Male ein ›neues Leben‹ beginnen und dem Café als Ort des vermeintlichen Müßiggangs entsagen will, bezeichnet er jenes als »riesigen Schwamm, der ihm den letzten Tropfen Hirn- und Nervensaft fortsauge« (DnL 121). Ausgedrückt wird durch diese Bilder insbesondere die Passivität der Figur Karls, die selbst nicht imstande ist, etwas zu verändern, sondern von der Außenwelt völlig beeinflussbar ist. Sehr deutlich wird aber auch die Ambivalenz der Bewertung des Kaffeehauses, die von der Perspektive der Betrachtenden abhängt. Am Ende des Textes meldet sich der Ich-Erzähler zu Wort und nennt Karl einen zuwidere[n] Kerl, der sich seine graue, kahle, schmutzige Lebensstube vergeblich mit einer fetzigen Weltanschauung in einen originelles Bohêmegemach [!] umzutapezieren versuchte. Und ich bin eigentlich froh, daß ich diese ennuyanten Ankündigungen des ›neuen Lebens‹, diesen ohnmächtigen Schrei, mit dem ein jämmerlich verschlaffter Wille sich selbst zur Energie aufbrüllen wollte, nicht mehr hören muß. (DnL 123) Er berichtet weiter vom körperlichen Verfall Karls, der am Ende »verschimmelte« und »allerlei böse Pilze« ansetzte, »die seine körperliche und seelische Zähigkeit brachen« (DnL 122). Dies ist für jeden Anwesenden im Kaffeehaus augenscheinlich, jedoch inter-
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
essiert es niemanden genug, um Karl die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, sondern alles bleibt unter der Oberfläche verborgen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hier vorgestellten Texte unter Verwendung einer sehr metaphorischen Sprache sehr anschaulich die Atmosphäre der erwähnten Kaffeehäuser transportieren, die sich durch eine besonders ausgeprägte Sinneswahrnehmung in Form von vielfältigen Gerüchen, Geräuschen und visuellen Reizen auszeichnet und von den Erzählenden beziehungsweise Figuren mit ihrem Leben, der Literatur und dem Schreiben, also ihrem Beruf, aufs Engste verknüpft wird, so dass der Charakter des Cafés als Ort der Literatur, aber auch als eigener, zum Teil kontrovers dargestellter Akteur, mit dem die Erzählenden interagieren können, deutlich zum Ausdruck kommt. Dies trifft auch auf die ausführlicher analysierten Texte zu, wobei Bernhards »Wittgensteins Neffe« und Schnitzlers Später Ruhm nicht dem kleinen Format des hier definierten Idealtypus der ›Kaffeehausliteratur‹ entsprechen und daher im zweiten Ring beziehungsweise dritten angesiedelt sind. Polgars kurze Skizze »Das neue Leben« hingegen kann insbesondere aufgrund der ›Kleinen Form‹ und seiner ausgeprägten, die Sinnesreize betonende Metaphorik als Idealtypus bezeichnet werden.
V.1.5.2.
Literatur in Echtzeit – Walter Benjamin und Egon Erwin Kisch
Es kratzt und schleift, scharrt, kreiselt und zwitschert; es pocht, hämmert, klingelt, knattert; es schnalzt, schneuzt, schnurrt, schlotzt und piept; es ist Atem zu hören, dann Stille, jemand rutscht auf dem Stuhl hin und her, scharrt mit den Füßen, reibt mit der flachen Hand Oberschenkel und Tischkante, klopft mit den Fingern einen ungeduldigen Takt, schnieft hemmungslos. Kurz gesagt: Jemand dichtet. Zuerst habe ich versucht, die Geräusche der Schreibgeräte einzusammeln, danach die des Dichters selbst. Beide zusammen ergeben eine keineswegs vollständige Geräuschkulisse poetischer Arbeit. […] Das Schreibgerät beeinflußt unbezweifelbar das Schreiben selbst. Wer mit sich sträubenden Kielen schreibt, kommt langsamer und gegen mitunter verdrießliche Widerstände voran. Wer auf einer alten Hermes – wie ich eben – tippt, darf sich auf keinen Fall dem unstatthaft lauten, rhythmischen Gehämmer hingeben. […] Meine erste Schreibmaschine kaufte ich im Winter 1954/55 in Heidenheim an der Brenz und diese Zeilen schreibe ich, wie gesagt, auf ihr. […] Womit ich auf die Zusammenhänge zwischen Werkzeug und Produkte kommen möchte. Griffel, Rohr, Feder, Stift, mit der rechten oder mit der linken Hand werden diese Instrumente geführt. […] Jede Kleinigkeit, jede kaum merkliche Veränderung kann Inspiration und Laune beeinflussen. Ein rauher Griffel, eine sich reizende Feder stören und verstören nicht nur, sie mischen sich ungebeten ein, verhindern ein sprechendes Metrum oder legen sich quer vor einen bereits gedachten Satz.209 In Peter Härtlings Essay, in dem er sich mit dem ›Wie‹ und ›Womit‹ des Schreibens befasst, fallen besonders die haptischen und auditiven Reize, seine Emotionen und Er-
209 Peter Härtling: »Federleicht oder doch etwas schwerer. Dichter und ihre Schreibgeräte«, in: Marbacher Magazin (69): Vom Schreiben 2: Der Gänsekiel oder Womit schreiben?, Marbach am Neckar 1994, S. 3-11, S. 3ff.
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innerungen an bestimmte Schreibsituationen sowie eine metareflexive, unmittelbare und den Moment erfassende Haltung ins Auge, die in Texten über das Schreiben oftmals zum Tragen kommt – so tippt Härtling »eben« jetzt gerade auf seiner Hermes: »diese Zeilen schreibe ich, wie gesagt, auf ihr.« Mit dieser Referenz auf sich selbst beziehungsweise auf den von ihm aktuell ausgeführten Schreibvorgang unternimmt Härtling im Zuge seiner essayistisch-literarischen Sprachverwendung einen performativen Sprechakt, innerhalb dessen Sprechen und Schreiben eine »weltverändernde Kraft entbinden und Transformationen bewirken«210 können. Eine performative Äußerung beschreibt nicht nur sprachlich bestimmte Sachverhalte, sondern nimmt gleichzeitig einen Handlungsvollzug vor und schafft somit »die sozialen Tatsachen, von denen sie spricht«211 : So dient »die Äußerung des performativen Verbes […] der Initialisierung eines Handlungsprozesses, bei dem die formulierte Handlungsankündigung schon integraler Teil des Handlungsvollzugs selbst ist.«212 Das heißt, ebenso wie eine Taufe oder eine Eheschließung durch Worte im Moment des Aussprechens vollzogen werden, »tut der poetische Text, was er sagt«213 : Härtlings Text erscheint – zumindest fiktiv214 – im Augenblick seiner ›Aussage‹ durch sein Maschinentippen auf dem Papier215 , und so wie die Ehe nach der Äußerung noch weiter besteht, hat sich aus der flüchtigen Schreibsituation ein fixiertes Produkt ergeben, das auch viele Jahre später noch rezipierbar
Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 38. Neumann: »Performanz und Literatur«, S. 89. Neumann: »Performanz und Literatur«, S. 89. Uwe Wirth: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität«, in: ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-60, S. 25. 214 Richard Ohmann verweist auf den ›nur‹ quasi-illokutionären Status eines literarischen, ›imaginativen‹ Sprechaktes, welcher trotzdem welterzeugend und handlungsauslösend sei, da er reale Sprechakte imitiere und der Leser oder die Leserin die Leerstellen des unvollständigen, literarischen Sprechaktes in seiner oder ihrer Phantasie füllen und ergänzen könne: »A literary world is a discourse whose sentences lack the illocutionary force that would normally attached to them. Its illocutionary force is mimetic. […] Specifically, a literary work purportedly imitates (or reports) a series of speech acts, which in fact have no other existence. By doing so, it leads the reader to imagine a speaker, a situation, a set of ancillary events, and so on. […] literary works […] are relevant in quite special way: specifically, in allowing mimesis to take place. […] The making of the statement is an imaginary illocutionary act. […] In short, a literary work calls on all a reader’s competence as decipherer of speech-acts, but the only speech-act he is directly participating in is the one I have called ›mimesis‹. […] A literary work creates a ›world‹ […] by providing the reader with impaired and incomplete speech acts which he completes by supplying the appropriate circumstances. […] In inviting the reader to constitute speech acts to go with its sentences, the literary work is asking him to participate in the imaginative construction of a world […]«, in: Richard Ohmann: »Speech Acts and the Definition of Literature«, in: Philosophy & Rhetoric 4:1 (1971), S. 1-19, S. 14f.; S. 17. 215 Sofern man mit einem Stift, dem Computer oder der Schreibmaschine schreibt, erscheint der Sprechakt in einem Text nur mittelbar zu sein, weil noch die Hilfe der Hand nötig ist, um den Text zu Papier zu bringen, im Gegensatz zu einem Sprechakt, mit dem beispielsweise eine Ehe geschlossen wird – hier reicht das Aussprechen der erforderlichen Sätze und die institutionelle Autorisierung des Sprechers oder der Sprecherin aus, um den Sprechakt zu vollziehen. Zieht man jedoch in Betracht, dass Sprechen nur mittelbar durch die beteiligten Organe und Texte dagegen auch mittelbar, nämlich mündlich mithilfe eines Diktierprogramms entstehen können, erscheint das Konzept vom Schreiben als Sprechakt plausibel. 210 211 212 213
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
ist. Dieses kontextorientierte Konzept von »Kultur als Performance« zeichnet sich laut Birgit Neumann durch »Inszeniertheit, theatralische Zurschaustellung, interaktive Dynamiken und Prozessualität« aus und gehe »damit über rein textuelle, statisch fixierte Strukturen« hinaus. Diese Perspektive erweise sich insbesondere deshalb als fruchtbar, »weil sie kulturelle Phänomene prozessual versteht, d.h. im Fluss, in the making, rekonstruktiv und konstruktiv zugleich.«216 Diese Prämissen vorausgesetzt, sollen in den folgenden Textanalysen die Prozesshaftigkeit, die sich entwickelnde Eigendynamik und Inszeniertheit des Schreibens innerhalb eines Cafés näher beleuchtet werden. Im Zusammenhang mit der Haptik des Schreibens, dem Hinterlassen von ›Schreibspuren‹ und der Koppelung von Denken und manuellem Handeln werden in Texten über das Schreiben zumeist die Schreibwerkzeuge und deren Auswirkungen auf die Schreibenden genannt; in Peter Härtlings und Vilém Flussers Fall sind es jeweils die Eigenschaften der Schreibmaschine, über die reflektiert wird. Neben den rhythmischen Geräuschen des Tippens, insbesondere bei einer mechanischen Maschine, wird der ›eindringende‹ Charakter der Maschine betont, da jene die Buchstaben, Zahlen und Zeichen nicht ›aufsetze‹, sondern mit ihren Typenhebeln ins Papier ›eingraviere‹, also mit ihrer Inschrift in die Tiefe geht: Die Maschine schlägt mit ihren Hämmern auf die Oberfläche, und das Tippen ist somit eine eindringendere, in spezifischerer Weise graphische Geste als das Schreiben mit einer Füllfeder. Schreiben ist eine der Phänomenalisierungen des Denkens. Auf einer Maschine zu tippen ist eine offenkundigere Form des Denkens als das Schreiben mit einer Füllfeder, einem Stück Kreide oder einem Bleistift. Es ist die kennzeichnendste Geste des Schreibens.217 Die Wahrnehmung des Schreibprodukts als ›Gravur‹ geht mit der Idee der Dauerhaftigkeit und Beständigkeit einher, die im Kontrast zur Flüchtigkeit des (inszenierten) Schreibprozesses steht. Flusser und Härtling unterstreichen besonders die Wirkung des Schreibens mit der Schreibmaschine, welche es den Schreibenden ihrer Ansicht nach ermöglicht, den Akt des Schreibens bewusster wahrzunehmen. Dabei spielen insbesondere die von der Schreibmaschine verursachten Geräusche sowie der mechanische Prozess, innerhalb dessen mit dem Tastenhebel ein Buchstabe hervorgebracht wird, eine wichtige Rolle. Dagegen verläuft der im Café stattfindende Schreibprozess, welcher in Walter Benjamins sehr kurzem Prosatext »Poliklinik« (1928), dargestellt wird, sehr viel stiller, gemächlicher und systematischer ab; das Werkzeug ist hier keine Maschine mehr, sondern die Hand des Schreibenden, welche ›handwerklich‹ geschickt mit Füllfeder und Bleistift umgeht: Im Text mutiert der Akt des Schreibens zu einer Operation am menschlichen Körper, das marmorne Kaffeehaustischchen wird zum Operationssaal, das Schreibwerkzeug zum OP-Besteck. Weitere benötigte Utensilien sind der stimulierende Kaffee und die Pfeife. Daneben wird auch die Umgebung einbezogen, wenn die übrigen Kaffeehausgäste zu Studierenden einer anatomischen Vorlesung und der Kellner zum Operationsassistenten werden: 216 217
Neumann: »Performanz und Literatur«, S. 87. Flusser: Gesten, S. 34f.
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Der Autor legt den Gedanken auf den Marmortisch des Cafés. Lange Betrachtung: denn er benutzt die Zeit, da noch das Glas – die Linse, unter der er den Patienten vornimmt – nicht vor ihm steht. Dann packt er sein Besteck allmählich aus: Füllfederhalter, Bleistift und Pfeife. Die Menge der Gäste macht, amphitheatralisch angeordnet, sein klinisches Publikum. Kaffee, vorsorglich eingefüllt und ebenso genossen, setzt den Gedanken unter Chloroform. Worauf der sinnt, hat mit der Sache selbst nicht mehr zu tun, als der Traum des Narkotisierten mit dem chirurgischen Eingriff.218 Durch den Vergleich mit einer chirurgischen Operation werden die subtilen, kunstgerechten Fertigkeiten des Schriftstellers verdeutlicht, der ebenso behutsam und einfallsreich mit der Sprache umgehen muss wie ein Chirurg mit seinem OP-Werkzeug, wenn er den menschlichen Körper operiert: In den behutsamen Lineamenten der Handschrift wird zugeschnitten, der Operateur verlagert im Innern Akzente, brennt die Wucherungen der Worte heraus und schiebt als silberne Rippe ein Fremdwort ein. Endlich näht ihm mit feinen Stichen Interpunktion das Ganze zusammen und er entlohnt den Kellner, seinen Assistenten, in bar. (P) Die Verben ›zuschneiden‹, ›verlagern‹, ›herausbrennen‹ und ›nähen‹ passen eigentlich nicht in den beschriebenen Kontext des Schreibens, sondern gehören zum Repertoire eines Schneiders oder, wie hier im Text dargestellt, eines Arztes. Jedoch dient dieser Wortschatz als anschauliche Metaphorik, welche die nicht unerhebliche handwerkliche Arbeit beleuchtet, die hinter einem fertigen Text steht. Betont wird auch die persönliche Note des Autors, der zunächst grob ›zuschneidet‹, also seinen Text plant, daraufhin stilistische ›Akzente‹ setzt, bestimmte Worte herausstellt und schließlich als Höhepunkt ein Fremdwort verwendet. Danach beginnt er zu redigieren und vergisst währenddessen auch seine Umwelt in Form des Kellners nicht, dessen Leistung vergütet wird. Auffällig sind der distanziert-förmliche Tonfall sowie die ausgeprägte Bildlichkeit und Haptik, mithilfe derer der Schreibprozess dargestellt und zu einer sehr ernsten Angelegenheit erklärt wird. Daneben liegt der Akzent auf der Beschreibung der Materialien von Tisch und ›Besteck‹ und der manuellen Tätigkeit, also der Bewegung der Hände, und der Kunstfertigkeit des Schriftstellers. Aufgrund dieser Merkmale und seiner Kürze kann dieser Prosatext in die Kategorie der ›Kaffeehausliteratur‹ des ersten Rings eingeordnet werden. Die Figur des Kellners versorgt den Chirurg-Autor nicht nur mit allem, was er benötigt, um in Ruhe schreiben zu können, sondern stellt auch die Verbindung zur Außenwelt dar: Jene besteht neben dem Kellner aus der Umgebung des Kaffeehauses, dessen übrige Gäste zu Zuschauern und Zuschauerinnen des aufgeführten Schreibgeschehens werden. So erhält der Text den Charakter eines Theaterstücks, dessen Inszenierung genau geplant und mit einer Choreographie versehen ist. Davide Giuriato betont daher auch mit Blick auf die »Dynamik der Schreibgesten« in Walter Benjamins Texten vor allem den Körpereinsatz der Schreibenden sowie die daraus resultierende produktive Kraft, die auf den Schreibprozess einwirkt: 218
Walter Benjamin: »Poliklinik«, in: ders.: Einbahnstraße, Kritische Gesamtausgabe Bd. 8, hg. v. Detlev Schöttker, Frankfurt a.M. 2009, S. 59. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »P« nachgewiesen.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Die Wahl des Schreibinstrumentariums hängt also mit einer mehr oder minderen Beteiligung des Körpers am Schreiben zusammen. Als körperliche Tätigkeit ist das Schreiben […] etwa im Aufschreiben oder im Abschreiben nicht nur reproduzierend, sondern selbst produktiv. Die körperliche Schreibbewegung zeigte eine Eigendynamik des Schreibens an, die eine abschließbare Prozessualität in Szene setzte […].219 Auch Sandro Zanetti unterstreicht die »Interaktion von Körper und Schrift im Vorgang des Schreibens«: So sei Schreiben »ein Vorgang, der notwendig eine Beteiligung des Körpers«220 impliziere: Schreiben ist zudem eine Form der Disziplinierung, die nicht nur die Leser des Geschriebenen zur Konzentration anhält, sondern vorab die Schreiber zum Einnehmen einer bestimmten Körperhaltung, zum möglichst geschickten Umgang mit Schreibgeräten sowie zur Organisation der Gedankenführung zwingt (sofern eine solche angestrebt wird).221 Im Folgenden sollen weitere Kaffeehaustexte unter der Prämisse untersucht werden, dass der darin dargestellte Prozess schriftstellerischer Arbeit als selbstbezügliche, performative Äußerung verstanden werden kann, die wirklichkeitskonstituierend ist sowie äquivalent zu einer zeitlich begrenzten Theateraufführung gesetzt werden kann, welche sowohl selbstreferentiell vorgeht als auch Bezug nimmt zur Außenwelt, Räumlichkeit und Körperlichkeit des Schreibens und diese Wahrnehmungseffekte mehr oder minder durch bestimmte Inszenierungseffekte steuert. Der Flüchtigkeit des Sprechaktes respektive der körperlichen Geste des Schreibens wird dabei mit der Materialität des fixierten und tradierbaren schriftstellerischen Produkts begegnet. Ein besonderer Fokus soll darauf liegen, die wirklichkeitsherstellenden schriftstellerischen Verfahren der Autoren und Autorinnen offenzulegen sowie die Texte in Anlehnung an Erika Fischer-Lichte definitorisch im Sinne einer ›performativen Aufführung‹ und ›theatralen Inszenierung‹222 zu betrachten. Die Texte sollen zudem im Hinblick auf die Mittel des »showing statt telling« und andere Textstrategien der Blicksteuerung, Visualisierung und fingierten Mündlichkeit223 sowie als »Prozesse der Selbstinszenierung«224 untersucht werden. Wichtige Aspekte sind dabei die körperlichen Gesten beziehungsweise Giuriato: Mikrographien, S. 151. Zanetti: »Einleitung«, S. 16. Zanetti: »Einleitung«, S. 8. Vgl. Erika Fischer-Lichte fasst unter dem Begriff der ›Aufführung‹ alles, »was in ihrem Verlauf in Erscheinung tritt – also das Gesamt der Wechselwirkungen von Handlungen und Verhalten zwischen allen Beteiligten.« Sie verknüpft den Begriff der Aufführung mit dem der ›Performativität‹, da die Aufführung sich »als Wechselwirkung körperlicher Handlungen aller im Raum Anwesenden« vollziehe, wohingegen der Begriff der ›Inszenierung‹ der ›Theatralität‹ der Aufführung zugeordnet sei, da die Inszenierung in »Hinblick auf die Wahrnehmung durch andere/die Zuschauer« geschehe und der Begriff der Inszenierung alle Strategien umfasse, die »vorab Zeitpunkt, Dauer, Art und Weise des Erscheinens von Menschen, Dingen und Lauten im Raum festlegen«, in: Fischer-Lichte: Performativität, S. 55f. 223 Fischer-Lichte: Performativität, S. 140. 224 Erika Fischer-Lichte: »Grenzgänger und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 277-300, S. 292. 219 220 221 222
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die physische Präsenz sowohl der Schreibenden als auch des Publikums sowie die vorherrschende Atmosphäre, welche durch die Raumwirkung, die Geräusche und Gerüche des Lokals sowie die Bewegungen der Anwesenden vermittelt wird und als Kulisse der Aufführung dient. Hierbei soll die Konstitution von gesellschaftlicher Wirklichkeit und deren aktive Vermittlung an die Rezipienten und Rezipientinnen als Kriterium aufgefasst werden, welches literarischen Texten ihre eigene Performativität zuspricht.225 Unter der Voraussetzung, dass bestimmte Faktoren, wie »eine spezifische Art der Raumwahrnehmung, ein besonderes Körperempfinden, eine bestimmte Form von Zeiterlebnis sowie eine neue Wertigkeit von Materialien und Gegenständen« zusammenspielen, kann der Begriff des Performativen gemäß Fischer-Lichte als »Schlüsselbegriff« aufgefasst werden, mit dessen Hilfe Bedeutung hervorgebracht werde: Es konstituiert und manifestiert sich hier eine bestimmte Weise des leiblichen In-derWelt-Seins, das schöpferische Prozesse der Gestaltung und Umgestaltung fokussiert, in denen es die Performanz ist, über die man zur Referenz gelangt. D.h. die Generierung von Bedeutungen erfolgt in Abhängigkeit von den Veränderungen, die durch wirklichkeitskonstituierende Handlungen – Sich-Bewegen, Sprechen, Wahrnehmen – hervorgebracht werden.226 In den nachstehend behandelten Texten erfolgt nicht nur ein Zugewinn an Bedeutung durch den Vollzug wirklichkeitskonstituierender Handlungen, sondern vielmehr rücken die öffentliche Inszenierung des Schreibaktes und die performative Aufführung des Schreibens vor einem Kaffeehauspublikum beziehungsweise mit Blick auf spätere Leser und Leserinnen den literarischen Text in die Nähe von »Sprechakten, symbolischen körperlichen Handlungen, Praktiken und Aufführungen«227 . Daher sind diese nach Fischer-Lichte »von Unvorhersehbarkeit der Lektüre, Ambivalenzen und transformativer Kraft gekennzeichnet«228 . Sowohl in Walter Benjamins Text »Poliklinik« als auch in den im Folgenden untersuchten Texten von Ernest Hemingway und Egon Erwin Kisch wird Wirklichkeit innerhalb der Beschreibung eines Schreibprozesses konstituiert, indem drei Verfahren angewandt werden: Zum ersten wird auf eine bestimmte Rahmenhandlung im Café, auf anwesende Personen beziehungsweise auf Gegenständliches wie das Schreibwerkzeug Bezug genommen, um einen Authentizitätseffekt zu erzielen. Durch diese Bezogenheit der Äußerung auf die Außenwelt wird Performativität laut Birgit Neumann »kontextualisiert« und als ›soziales Phänomen‹ verankert.229 Zum zweiten sind die Texte in hohem Maße selbstreferentiell: Sie figurieren als Darstellung eines Schreibprozesses im Café, welcher als performative Aufführung innerhalb einer geplanten Inszenierung realisiert wird. Das heißt, der jeweilige in den Texten beschriebene und vorgeblich noch zu schreibende Text entsteht erst im Verlauf desselben, so dass die Tätigkeit des Schriftstellers beziehungsweise des erzählenden
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Vgl. Fischer-Lichte: Performativität, S. 143. Alle Zitate Fischer-Lichte: »Grenzgänger und Tauschhandel«, S. 289. Fischer-Lichte: Performativität, S. 145. Fischer-Lichte: Performativität, S. 145. Neumann: »Performanz und Literatur«, S. 90.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Ichs zu einer Inszenierung des Schreibens gerät, bei welcher der Leser oder die Leserin zuschaut. Die Aufführung vollzieht sich im leiblichen Sinne ko-präsentisch und zugleich flüchtig, enthält eine Ich-Erfahrung und lenkt die Wahrnehmung der Rezipienten und Rezipientinnen. Aus dieser Konstellation lässt sich mit Erika Fischer-Lichte ein spezifischer »Subjektbegriff« ableiten: Da die Aufführung aus den Wechselwirkungen der Handlungen und Verhaltensweisen aller an ihr Beteiligten hervorgeht, eröffnet sie ihnen die Möglichkeit, sich in ihrem Verlauf als Subjekt zu erfahren, welches das Handeln und Verhalten anderer mitzubestimmen vermag und dessen eigenes Handeln und Verhalten ebenso von anderen mitbestimmt wird; als ein Subjekt, das weder autonom noch fremdbestimmt ist […].230 So soll überprüft werden, ob dieser Subjektbegriff auf das erzählende Ich der Texte von Kisch und Hemingway angewandt und damit dessen Haltung mit Blick auf das eigene Schreiben näher beleuchtet werden kann. Zum dritten wird Wirklichkeit konstituiert, indem die performative Aufführung des Schreibens mit dem Text selbst ein materielles Produkt hinterlässt. Darin wird nicht nur versucht, den Augenblick einzufangen und die Flüchtigkeit des Moments zu überwinden, sondern es wird durch die zeitlich versetzte Entstehung desselben auch eine gewisse Eigendynamik erzeugt, da sich die Schreibenden immer selbst durch ihre Reflektionen überholen und somit Ungleichzeitigkeit bei simulierter Gleichzeitigkeit realisiert wird. Sandro Zanetti verweist in diesem Zusammenhang auf den Archivierungsund Prozesscharakter des Schreibens: Jeder, der schreibe, hinterlasse langlebige Spuren für die Zeit nach dem flüchtigen Schreibprozess, »die indirekt Auskunft über die durch sie bezeichneten oder angeleiteten Akte geben.« Dabei sei »die Möglichkeit der Simulation bzw. der Fiktionalisierung nicht ausgeschlossen«, was aber nicht problematisch, sondern als Produktionsmodus ernst zu nehmen sei.231 Dabei könne die Ungleichzeitigkeit als Kennzeichen eines Schreib- und Leseprozesses begriffen werden, die »bereits im Moment des Schreibens« beginne: »Die Hand gleitet fort, aber das Geschriebene bleibt stehen, die Gedanken bereiten etwas vor oder nach, doch die Schrift hält inne.«232 In der nachstehenden Analyse eines Kurzprosatextes von Egon Erwin Kisch sowie von Ernest Hemingways Paris-Erinnerungen sollen diese Prämissen und Konstellationen überprüft und im Hinblick auf Schreibprozesse und -orte analysiert werden. In beiden Texten berichten die Erzähler davon, wie sie beim Schreiben vorgehen, woher sie ihre Inspiration nehmen, welche Utensilien sie zum Schreiben benötigen und welche Umgebung dem Schreiben förderlich oder hinderlich ist. Beide Erzähler befinden sich im Café, bestellen etwas beim Kellner, unterhalten sich mit anderen Gästen beziehungsweise binden ihre direkte Umgebung in den zu schreibenden Text ein, seien es die Inhalte einer Zeitung oder die Personen, die sich im Café aufhalten. Die Texte unterscheiden sich insofern, als Kischs Text beschreibt, wie eben jener Text selbst entstanden ist; einbezogen wird weiterhin ein im Café ausliegender Zeitungsteil, der die Authentizität des Feuilletons verstärkt, wobei unklar bleibt, ob jener Zeitungsteil fiktiv
230 Fischer-Lichte: Performativität, S. 56. 231 Zanetti: »Einleitung«, S. 32. 232 Zanetti: »Einleitung«, S. 33.
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ist, also ob es sich um reale Ereignisse handelt, die darin beschrieben werden. Dagegen vermischen sich in Hemingways Erinnerungen der (fiktive) Entstehungskontext sowie zwei real existierende Texte miteinander: Derjenige Text, der über den Entstehungsprozess einer Kurzgeschichte berichtet (A Moveable Feast) und die Kurzgeschichte selbst (»Up in Michigan«). In den Texten der beiden Autoren finden sich metareflexive Kommentare über das eigene Schreiben im Café sowie eine Thematisierung der Zeitlichkeit und der Vermischung von Text und Kontext. In Egon Erwin Kischs autoreflexivem Prosatext »Feuilleton«, publiziert am 12. August 1917 in der deutschsprachigen Zeitung Bohemia, welche von 1828 bis 1938 als Beilage der Prager Zeitung erschien, wird beschrieben, wie der Ich-Erzähler im Café sitzt und die Wartezeit bis zu seiner Verabredung überbrückt, indem er ein ›Feuilleton‹ schreibt – eben jenes, das die Rezipienten und Rezipientinnen bei der Lektüre vor sich sehen. Aufgrund des monologischen Duktusʼ erscheint der Text wie ein »Protokoll der Gedanken«233 des Erzählers; neben der minutiösen, sehr ironisierten Schilderung des Schreibprozesses und des damit einhergehenden performativen Aufführungscharakters fallen gesellschaftskritische und politische Kommentare auf, welche die vermeintliche ›Seichtigkeit‹ der Textsorte des eigenen Feuilletons karikieren234 sowie den Text im zeitlichen Kontext des ersten Weltkrieges verorten: So zitiert der Erzähler aus einem »scharfmacherische[n], antiösterreichische[n] Leitartikel vom Grafen Reventlow« und »Berichte[n] vom Kriegsschauplatz«, die er in der vor sich liegenden »Deutschen Tageszeitung« findet (F 197); er erwähnt, dass die Schweiz »neutral«, England dagegen Teil des »feindlichen Auslandes« sei (F 198f.) und vermag es, anhand des in der Zeitung inserierten Zuchtbullengesuchs »die nicht nur nationalistische, sondern im Kern rassistische Grundstimmung der Zeit zu entlarven.«235 In den ersten und letzten Sätzen erhält der Text einen Rahmen: Das erzählende Ich sitzt im Kaffeehaus, erbittet vom Kellner »einen Bogen Papier und Tinte« als »Werkzeug« (F 196) zum Schreiben, versucht, sich durch die auf dem Kaffeehaustisch befindliche Zeitung inspirieren zu lassen, kommentiert und problematisiert das eigene Schreiben: Ich sitze im Kaffeehaus und warte auf Helene. Um drei Uhr wird sie pünktlich hier sein, das hat sie mir diesmal fest versprochen. Jetzt ist es halb vier. Nun ich habe also noch eine gute Stunde Zeit. Was fange ich an? Zeitung lesen? Nein, es ist zu heiß. Nur keine geistige Anstrengung! Ich will Ihnen lieber ein Feuilleton schreiben. […] Ich weiß bloß 233 Jäger/Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, S. 282. 234 Vgl. »Damit würde ich doch wenigstens einmal die Feststellung entkräften können, daß meine Artikel ›sachlich, beinahe wissenschaftlich und präzis‹ sind, was jedenfalls soviel wie ›langweilig, fantasielos, pedantisch und sklavisch an den Tatsachen klebend‹ bedeuten soll.«, in: Egon Erwin Kisch: »Feuilleton«, in: ders.: Mein Leben für die Zeitung 1906-1925, Journalistische Texte 1, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. VIII, hg. v. Bodo Uhse/Gisela Kisch, Berlin/Weimar 1983, S. 196-200, S. 196. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »F« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Vgl. Kapitel IV.2. 235 Irina Wutsdorff: »An der Schnittstelle von Faktizität und Fiktionalität: Zum Grenzgängertum der Prager Autoren Jan Neruda und Egon Erwin Kisch zwischen Journalismus, Feuilleton und Literatur« in: Hildegard Kernmayer/Simone Jung (Hg.): Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur, Bielefeld 2017, S. 105-124, S. 107.
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nicht, worüber ich schreiben soll. Ich werde jedenfalls als Titel das Wort ›Feuilleton‹ hinschreiben. Das paßt immer. Hab schon. (F 196) Mit dem Eintreffen seiner Verabredung im Café schließt er seine Schilderung respektive den Text völlig abrupt, erhöht jedoch gleichzeitig die Spannung, welche auch im Folgenden nicht aufgelöst wird: Aber das Allerkomischste kommt erst, befindet sich nämlich in den… Pardon, da kommt Helene. Sie hat sich etwas verfrüht. Ich muß schließen. (F 200) Die auffälligsten Merkmale des Textes sind zum einen die unmittelbare Ansprache der Leserinnen und Leser, für die das erzählende Ich eigens ein Feuilleton schreibt, und zum anderen die simulierte Gleichzeitigkeit innerhalb einer Inszenierung des Augenblicks, so dass der Eindruck entsteht, man könne dem Erzähler beim Sprechen beziehungsweise dem Autor beim Schreiben zusehen: Jetzt werde ich aufschreiben, daß ich im Kaffeehaus sitze, auf Helene warte, mich zu einem Feuilleton entschlossen, beim Kellner Papier bestellt und den Titel ›Feuilleton‹ auf das Blatt gesetzt habe – kurz, all das, was der Leser in den sechzehn ersten Zeilen dieses Artikels gefunden hat. Ich halte jetzt in der Beschreibung meiner Arbeitsleistung bei den beiden Schlußworten ›Hab schon‹ des vorherigen Absatzes. (F 196) Erst beobachtet sich der Erzähler selbst beim Schreiben, darauf steigert er dies, indem er wiederum seine Beobachtungen und den Schreibprozess kommentiert. Er verwendet dabei die Metapher der sportlichen Fortbewegung, um die Unmöglichkeit des gleichzeitigen Schreibens und schreibenden Beobachtens beziehungsweise der Simultanität von Ereignis und Vermittlung zu veranschaulichen: Jetzt sollte ich eigentlich die Niederschrift der letzten zehn Zeilen […] protokollieren, aber auf diese Weise ginge es ins Unendliche, ohne daß ich imstande wäre, mich einzuholen, auch wenn ich das Resumé meiner vorangegangenen Arbeiten noch so knapp fassen würde. Ich bliebe immer um einen Absatz zurück. Es wäre ganz hübsch, einige Spalten lang immer hinter mir her zu laufen, mir immer näher auf die Fersen zu rücken, ohne mich aber ganz einholen zu können. (F 196) So erzeugt Kisch gemäß Sibylle Schönborn mit einer Inszenierung von ›Leichtigkeit‹ »beliebige[] zeitliche[] Simultanität« sowohl aus der Perspektive des Autors und Erzählers als auch der Lesenden.236 Kischs Feuilleton stelle »Schreiben als Bewegung in einem Textraum entlang einer Zeitspur« dar und verdopple den Schreibprozess, während er ihn kommentiere. Dadurch reflektiert er sein eigenes Textgenre: Das Feuilleton […] wird damit zu so etwas wie einer metatheoretischen Selbstbeschreibung oder Poetik des Feuilletons, die besagt, dass ein Feuilleton in letzter Konsequenz nichts anderes als das Schreiben des Schreibens bzw. die schreibende Verdopplung oder Potenzierung des Augenblicks, die Beobachtung und Kommentierung des Schreibens durch das Schreiben ist.237 236 Schönborn: »›…wie ein Tropfen ins Meer‹«, S. 202. 237 Schönborn: »›…wie ein Tropfen ins Meer‹«, S. 201.
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Verdeutlich werden solle mit dieser Poetik die »postmoderne Einsicht, dass Zeichen sich zum einen immer wieder auf sich selbst bzw. andere Zeichen beziehen, es also keine Wirklichkeit außerhalb des Textes gibt«; so sind Textprozesse laut Schönborn nicht abschließbar, weil sie immer »neue Zeichenproduktionen und damit Ebenen des Kommentars« evozierten, womit jede Zeichenproduktion »einen nicht einzuholenden Aufschub« erhalte, »der von der Nachzeitigkeit aller Zeichenproduktion« herrühre.238 Neben der Thematisierung dieser Ungleichzeitigkeit gerät die Schilderung des Schreibprozesses durch die ironischen Kommentare des Erzählers zu einem absurden Unterfangen: So wird er nicht müde zu betonen, dass er sich einerseits nicht anstrengen möchte, weil es im Kaffeehaus so »heiß« sei, weshalb er weder eine Zeitung lesen noch die vor ihm liegende Zeitung umdrehen möchte, um das Titelblatt sehen zu können. Dahingegen betont er jedoch, dass er für seine Leserschaft jedwede Mühe und Anstrengung auf sich nehme: Ich will lieber, wie es sich geziemt, gar keine Umschweife machen, gleich in medias res übergehen. Aber in welche res? Worüber dichtet man? Aha, ich weiß schon: Über irgend etwas, das ich vor mir sehe, damit ich mich nicht anstrengen muß. Also einmal über etwas, wozu man keine Vorstudien und keine Erlebnisse braucht. Vor mir liegt irgendeine Zeitung, die mein Vorgänger an diesem Tische gelesen und liegen gelassen hat. Welches Blatt es ist, weiß ich nicht, denn es liegt auf dem Kopf. Und umdrehen werde ich die Zeitung nicht, dazu bin ich viel zu faul. Ich sehe also nur die Inseratenseite. […] Hm, ich weiß schon, welche Zeitung das ist: die ›Deutsche Tageszeitung‹ aus Berlin. (F 196f.) Im Folgenden liest der Erzähler die Zeitung ›gegen den Strich‹, das heißt nicht aus der Perspektive heraus, etwas Neues erfahren zu wollen, sondern um aktuellen Stoff für seinen eigenen Text zu erhalten: So parodiert er Inserate und banale Annoncen, als seien sie kein alltägliches Phänomen, sondern etwas Besonderes, dessen Inhalt, Form, Sprache und Hintergrund man so tiefgehend analysieren kann, dass sich darüber ein feuilletonistischer Text schreiben lässt. Der Erzähler lenkt dabei den Blick auf die Kuriositäten, die Unterschiede zwischen Ländern und Berufen und zieht die hochtrabende, pathetische Sprache ins Lächerliche, indem er sich ihr in vorgeblicher Ernsthaftigkeit widmet. Dabei tritt er fortwährend in den Dialog mit den Lesern und Leserinnen: Ich bin froh, daß ich sie nicht umgewendet habe, vorne ist sie gar nicht interessant […]. Da sind die Annoncen viel, viel schöner. Sie lächeln! Sie glauben natürlich, daß das eine faule Ausrede, eine ausredende Faulheit ist, damit ich das Blatt nicht umwenden muß. Sie irren; für meine Leser ist mir keine Unbequemlichkeit zuviel. Aber Inserate sind wirklich immer anregender als der Text. (Meine Feuilletons natürlich ausgenommen.) […] Da finden Sie zum Beispiel ein ›Adeliges Gut‹ in Holstein angepriesen. Haben Sie je gewußt, daß auch Güter in den Adelstand gehoben werden können? Es gibt sogar ganze Rangstufen, ganz genau wie im Gothaischen Hofkalender und im Genealogischen Taschenbuch. Das alles können Sie aus den Inseraten ersehen: ›Fürstlicher
238 Schönborn: »›…wie ein Tropfen ins Meer‹«, S. 203.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Besitz‹, ›Gräfliche Domäne‹, ›Freiherrnsitz‹, ›Rittergut mit Schloß‹, ›Feudale Herrschaft mit Jagdgrund‹ […]. (F 197) Der Ich-Erzähler bezieht nicht nur seine Leserschaft in die Zeitlichkeit seines persönlichen Schaffens- und Denkprozesses mit ein, den er damit für sie auf »authentische[] Weise nachvollziehbar«239 werden lässt, sondern integriert in seinen Text gleichzeitig die Vergangenheit, das heißt die Dinge, die er in den letzten Minuten getan hat, die Gegenwart und die Zukunft, also nennt die Dinge, die er zu tun gedenkt beziehungsweise tun könnte, und entwirft so ein zeitübergreifendes Panorama. Um die Möglichkeitsebene und die Bedingungen für bestimmte Handlungen auszudrücken, verwendet er den Konjunktiv: »Hier ließe sich eine Reihe von geistvollen Varianten über das Thema […] anstellen – wenn [!] nur nicht so heiß wäre.«; »Oh, ich könnte mir Vermittlerhonorar [!] verdienen, ich wüßte schon Bewerber genug, wenn nur nicht die Bedingungen gar so schwer wären.« (F 198) Sehr auffällig ist hier – im Gegensatz zu dem förmlichen Ton in Benjamins »Poliklinik« – der durchgängig mündliche, meist umgangssprachliche Duktus, bei dem das Subjekt oder der Artikel weggelassen werden. So wird mithilfe dieser vorgetäuschten Mündlichkeit der Charakter eines Sprechaktes beziehungsweise einer performativen Aufführung evoziert, in der das unmittelbare Gespräch des Erzählers mit dem Leser oder der Leserin über die Zeitung imitiert wird. Damit wird in Kischs »Feuilleton« ein fiktiver ›Quasi-Sprechakt‹ hervorgerufen240 , der wirklichkeitskonstituierend und selbstreferentiell ist. Der Erzähler bezieht im Text die Umgebung des Kaffeehauses insbesondere in Form der vor ihm liegenden Zeitung in seinem Text mit ein und entwirft darin eine ironische Textlandschaft der zeitgenössischen Gesellschaft, in der er das aktuelle Geschehen anhand banaler Zeitungsannoncen darstellt, begleitet von einer poetologischen Reflexion über das Schreiben im Allgemeinen und das Genre des Feuilletons im Speziellen. Aufgrund dieser Kriterien und der ›Kleinen Form‹ des Textes kann er in die erste Kategorie der Kaffeehaustexte eingeordnet werden.
V.1.5.3.
»The story was writing itself and I was having a hard time keeping up with it« – Schreiben im Café bei Ernest Hemingway
Noch einmal, schreiben heißt, sich der magischen Macht der Wörter zu überlassen und dabei doch eine gewisse Kontrolle über die Geste zu bewahren.241 Diese von Vilém Flusser formulierte Definition des Schreibens kann auf Ernest Hemingway und dessen Reflektionen zu seiner Art des Schreibens bezogen werden, die er in seine Paris-Erinnerungen integriert und welche im Folgenden analysiert werden sollen. In A Moveable Feast findet eine permanente Wechselwirkung zwischen den von Hemingway verfassten Texten, deren Entstehungsprozess im Café geschildert wird, und seinem Leben als Schriftsteller statt: So werden er selbst und seine Arbeit von seiner Umgebung beeinflusst, während seine Werke die Pariser Café-Umgebung der 239 Jäger/Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, S. 282. 240 Vgl. Ohmann: »Speech Acts and the Definition of Literature«,S. 14f.; S. 17. Vgl. Kapitel V.1.5.2. 241 Flusser: Gesten, S. 37.
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1920er Jahre widerspiegeln. In Hemingways Text manifestiert sich sehr offenkundig, dass sich ihm in Paris mannigfache Möglichkeiten der schriftstellerischen Inspiration und literarischen Befruchtung eröffnen, so dass seine Wahrnehmung von der Stadt, den Menschen, Plätzen und Lokalen in Anlehnung an Helmut Kreuzer als »Kulmination des Wirklichen« und »Schauplatz des entfesselten und gesteigerten Lebens«242 bezeichnet werden kann. Neben der Stadt als Inspirationsquelle reflektiert Hemingway auch die Eigendynamik seiner Texte im Moment des Schreibens sowie die unterschiedlich ausgestalteten Optionen für ihn als Autor, den Fortgang eines Textes mitzubestimmen. Horst Bienek hat diese komplexe, irrationale und schwankende Beziehung zwischen dem Autor und seinem Werk in den bereits thematisierten Interviews mit verschiedenen Schreibenden beleuchtet. Dabei führt er die Ausgestaltung dieser Beziehung auf den individuellen Charakter, die Erfahrung und das Berufsethos des jeweiligen Schriftstellers zurück, da es von der Perspektive des einzelnen Autors abhängt, wie er seine Umwelt wahrnimmt und verarbeitet und welchen Stellenwert er seinem Text zugesteht, unabhängig davon, wie weit sich der fertige Text einmal von ihm entfernen wird: Das ist vielleicht das Einfachste und Überraschendste an diesen Aussagen der Schriftsteller: daß sich ein Kunstwerk, einmal begonnen, vom Intellekt des Schöpfers löst und, von welchen Mächten auch immer gelenkt, seinen eigenen Weg nimmt. […] Das Eigenleben des Kunstwerks, von dem alle Autoren sprechen, auf das sie sich sogar berufen, wird genährt von rational nicht erklärbaren Elementen, die aus der Persönlichkeit des Künstlers stammen müssen. Das geht parallel mit dem Stil, der wie ein Prägestock jedem Satz, jeder Figur, jedem Motiv das unverwechselbare Signum aufdrückt.243 In der folgenden Textanalyse von A Moveable Feast soll diese changierende, reziproke Beziehung zwischen Autor, Schreibprozess und Text beleuchtet werden mit Blick auf das möglicherweise nicht auszubalancierende Gleichgewicht zwischen dem »Eigenleben des Kunstwerks« und der Zielsetzung, der persönlichen Ausdrucksweise und Prägung des Schriftstellers. Anhand des im Text dargestellten Schreibprozesses zeigt sich, wie sehr sich die Rolle des Autors und der Text vermischen und dass der im Text dargestellte (fiktive) Autor zu einer bestimmten Zeit das Schreibgeschehen vollständig zu kontrollieren vermag, so wie es ihm in einem anderen Augenblick unmöglich erscheint, die Entwicklung seines Textes zu beeinflussen. Hemingway schildert in A Moveable Feast, wie sich seine Texte im Café entwickeln und die Inhalte sich mit den dort vor sich gehenden Geschehnissen verweben. Er trägt als Arbeitskleidung ein »café outfit« und bezeichnet sein Pariser Viertel verteidigend als »pretty good« (MF 96), nachdem es von zwei amerikanischen Mädchen als ›Armenviertel‹ deklariert wurde. Er liebt es, weil er dort die Möglichkeit hat, ›gute‹ Cafés, welche er sich sehr sorgfältig aussucht, als Schreib- und Arbeitszimmer zu nutzen, so dass er ein eigentlich dafür angemietetes Hotelzimmer aufgeben kann, um die Miete zu sparen (vgl. MF 19). Dabei kommt es ihm nicht ausschließlich darauf an, dass er ausreichend Ruhe findet, sondern er achtet vielmehr auf das ausgeglichene Naturell, die Zusammensetzung und die Umgangsformen der Menschen, welche sich in den präferierten 242 Kreuzer: Die Bohème, S. 209. 243 Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern, S. 12f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Cafés treffen. Aber auch eine ansprechende, gemütliche Einrichtung, die Beleuchtung und Beheizung des Kaffeehauses selbst sind wesentliche Momente, die ein Café in Hemingways Augen zu einem ›guten‹ Café machen: »I walked down past […] the Cluny and the Boulevard St-Germain until I came to a good café that I knew on the Place St-Michel. It was a pleasant café, warm and clean and friendly […].« (MF 16f.) Diese Kriterien sieht er beispielsweise bei der miserablen Führung eines Lokals nicht erfüllt, wie beispielsweise im Café des Amateurs, welches für Hemingway den Sammelplatz von bemitleidenswerten, alkoholabhängigen Menschen darstellt. Sehr deutlich wird im folgenden Zitat die Atmosphäre dieses ›schlechten‹ Cafés, das aufgrund der Überfüllung und der Ausdünstungen von Trunkenheit vor allen Dingen durch seine niedergeschlagene und hoffnungslose Stimmung, die schlechten Gerüche und die unangenehme, feucht-warme Temperatur auffällt. Das übelriechende Gemisch aus Rauch, billigem Alkohol sowie ungewaschenen Körpern und Kleidungsstücken wird betont und so eindringlich beschrieben, dass die Lesenden den Gestank förmlich wahrnehmen können: […] the Café des Amateurs was crowded and the windows misted over from the heat and the smoke inside. It was a sad, evilly run café where the drunkards of the quarter crowded together and I kept away from it because of the smell of dirty bodies and the sour smell of drunkenness. The men and women who frequented the Amateurs stayed drunk all the time […]. The Café des Amateurs was the cesspool of the rue Mouffetard, that wonderful narrow crowded market street which led into the Place Contrescarpe. The squat toilets of the old apartment houses […] emptied into cesspools which were emptied by pumping into horse-drawn tank wagons at night. […] No one emptied the Café des Amateurs though, and its yellowed poster stating the terms and penalties of the law against public drunkenness was as flyblown and disregarded as its clients were constant and ill-smelling. (MF 15f.) Ebenso wie dieses einer Kloake ähnelnde Café hasst Hemingway Lokale wie das Select oder die Rotonde, in denen die Menschen seiner Meinung nach nur über ihre angeblichen literarischen Projekte reden, um sich wichtig zu machen, anstatt wirklich zu arbeiten. Dagegen hält er sich gerne im Dôme und in dem oben erwähnten Café auf dem Boulevard St-Michel auf, weil ihn die Atmosphäre in diesen Cafés zum Schreiben anregt und er sich den Menschen dort aufgrund ihrer Arbeitseinstellung verbunden fühlt (vgl. MF 83). Vor allem aber schreibt er gern in seinem Stammcafé, der Closerie des Lilas, weil die Gäste dort angenehme Manieren haben, sich für ihre Umwelt interessieren und dieses Café somit einen gelungenen Hintergrund für Hemingway darstellt (vgl. MF 73). In der Closerie ist er aber nicht nur mit allen materiellen Dingen versorgt, sondern er spürt, wie das Café ihm zu den Glücksgefühlen verhilft, welche er zum Schreiben einer brillanten Geschichte benötigt. So reflektiert er im Kapitel »Birth of a new school«, welches in der Restored Edition im Kontext der »Additional Paris Sketches« veröffentlicht wurde, über sein Schreibwerkzeug und die Atmosphäre, die sich erneut vor allem durch verschiedene Gerüche auszeichnet: Zum einen der eindeutige Duft des frischen Kaffees, zum anderen der aus vielen Aromen zusammengesetzte, nicht klar definierte ›Geruch des frühen Morgens‹, der zusammen mit den Utensilien auf dem Marmortisch des Cafés für Hemingway das Glück des Schriftstellers bedeutet:
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The blue-backed notebooks, the two pencils and the pencil sharpener (a pocket knife was too wasteful), the marble-topped tables, the smell of café crèmes, the smell of early morning sweeping out and mopping and luck were all you needed. For luck you carried a horse chestnut and a rabbit’s foot in your right pocket. The fur had been worn off the rabbit’s foot long ago and the bones and the sinews were polished by wear. The claws scratched in the lining of your pocket and you knew your luck was still there. (MF 169) Immer wieder unterstreicht Hemingway auch, dass er einerseits ein naturverbundener Jäger ist, der abergläubisch an eine Hasenpfote als Glücksbringer glaubt und andererseits ein sparsamer Mann ist, der kein Geld verschwendet und mit wenig zufrieden ist; ihm ist also sehr daran gelegen, sein Bild als fleißig arbeitender, genussliebender und fast bedürfnisloser Schriftsteller, der mit geschärften Sinnen und einer großen Aufnahmefähigkeit für die verschiedensten Sinnesreize ausgestattet ist, in der Öffentlichkeit zu verbreiten und dieses Bild beeinflussen beziehungsweise dessen Ausgestaltung kontrollieren zu können. An guten Tagen benötigt er jedoch nicht einmal seine ›Hasenpfote‹ (vgl. MF 175) und schafft es, die Außenwelt völlig auszublenden und sich von keinerlei äußeren Widrigkeiten abhalten zu lassen, wie ein Gespräch zwischen ihm und dem Besitzer eines Restaurants zeigt.244 Wenn er sich in Stimmung fühlt und in geeigneter Umgebung befindet, gelingt es ihm dann, sich zu motivieren, sich trotz Geldsorgen vollkommen in seine Texte zu versenken und diese in seinen Alltag zu integrieren, so dass er nur noch physisch in der Closerie vor seinem café crème sitzt, im Kopf jedoch längst das Pariser Café verlassen hat und sich – solange er schreibt – in der Landschaft seiner Geschichte245 befindet beziehungsweise diese aus den Augen seines Protagonisten Nick betrachtet: What did I know best that I had not written about and lost? What did I know about truly and care for the most? There was only the choice of streets to take you back fastest to where you worked. I went up Bonaparte to Guynemer, then to the rue d’Assas, up the rue Notre-Dame-des-Champs to the Closerie des Lilas. I sat in a corner with the afternoon light coming in over my shoulder and wrote in the notebook. The waiter brought me a café crème and I drank half of it when it cooled and left it on the table while I wrote. When I stopped writing I did not want to leave the river where I could see the trout in the pool, its surface pushing and swelling smooth against the resistance of the log-driven piles on the bridge. The story was about coming back from the war but there was no mention of the war in it. But in the morning the river would be there and I must make it and the country and all that would happen. There were days ahead to be doing that each day. No other thing mattered. In my pocket was the money from Germany so there was no problem. When that was gone some other money would come in. All I must do now was stay sound and good in my head until morning when I would start to work again. (MF 72)
244 Vgl. »›You had the air of a man alone in the jungle,‹ he said. ›I am like a blind pig when I work.‹ ›But were you not in the jungle, Monsieur?‹ ›In the bush,‹ I said.« (MF 81) 245 Gemeint ist hier vermutlich die zweigeteilte Kurzgeschichte »Big Two-Hearted River«, welche 1925 veröffentlicht wurde. Vgl. Ernest Hemingway: »Big Two-Hearted River: Part I«, in: ders.: The Short Stories of Ernest Hemingway, New York 1953, S. 209-218.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Wenn Hemingway in diesen monologisierenden, aufzählenden Sätzen seine Art des Schreibens darlegt, wird zum einen erkennbar, wie sehr er im Café in der Lage ist, sich in seine Storys hineinzuversetzen; zum anderen betont er auch hier seine ›Theorie der Reduktion‹ (»there was no mention of the war in it«), welche bereits in Kapitel V.1.3 erwähnt wurde. Deutlich wird ebenfalls, dass er den Beruf des Schriftstellers zwar mit Selbstvertrauen und großer Leidenschaft ausfüllt und die schriftstellerische Arbeit im Café als wirkliche Berufung empfindet, er aber auch Selbstzweifel hegt, weil er zunächst nichts veröffentlichen kann und sein Einkommen somit nicht immer gesichert ist (vgl. MF 67). Deshalb spricht er sich in einem permanenten inneren Monolog selbst Mut zu, um sich zu disziplinieren und zu motivieren (vgl. z.B. MF 69f.). Er betont in seiner Reflektion über das Schreiben aber auch stets die Eigendynamik eines Textes, welche darin besteht, dass sich ein Text durch die Überarbeitung immer wieder aktualisiert und er selbst als Autor dauernd in Bewegung ist, sowohl im wörtlichen Sinne, wenn er sich durch die Stadt bewegt als auch im übertragenen Sinne, wenn die Geschichte in seinem Kopf weiterarbeitet, ohne dass er gerade daran schreibt: Sometimes you know the story. Sometimes you make it up as you go along and have no idea how it will come out. Everything changes as it moves. That is what makes the movement which makes the story. Sometimes the movement is so slow it does not seem to be moving. But there is always change and always movement.246 So bleibt das Schreiben ein offener und unvorhersehbarer Prozess, was für ihn den Reiz des Schreibens ausmacht. Da er aber weiß, dass nicht jeder Tag erfolgreich für ihn ist, betrachtet er es als besonders wertvollen Umstand, wenn er versunken an der Arbeit sitzt und wird höchst ungehalten, wenn ihn jemand aus seiner Konzentration reißt, was sowohl im Café als auch zuhause immer eine Gefahr darstellt247 : Then you would hear someone say, ›Hi Hem. What are you trying to do? Write in a café?‹ Your luck had run out and you shut the notebook. This was the worst thing that could happen. If you could keep your temper it would be better but I was not good at keeping mine then and said, ›You rotten son of a bitch what are you doing in here off your filthy beat? […] A bitch like you has plenty of places to go. Why do you have to come here and louse a decent café?‹ (MF 169) An seiner äußerst ordinären Beschimpfung des lästigen ›Eindringlings‹ ist ersichtlich, welch hohe Bedeutung die Ungestörtheit in der Closerie für ihn hat, so dass er hofft, Harold, der Störenfried, möge sich nicht dauerhaft in seinem Café niederlassen: Now you could get out and hope it was an accidental visit and that the visitor had only come in by chance and there was not going to be an infestation. There were other good cafés to work in but they were a long walk away and this was my home café. It was bad to be driven out of the Closerie des Lilas. You had to make a stand or move. (MF 170)
246 Plimpton: »Hemingway«, S. 233. 247 Vgl. »The telephone and visitors are the work destroyers. […] You can write any time people will leave you alone and not interrupt you.«, in: ebd. S. 223.
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It was your own fault if anyone interfered with your working in the café because you had a good café for working where no one you knew would ever go. But the Closerie des Lilas was such a fine place to write and so convenient that it was worth the risk of being bothered. (MF 174f.) Deutlich wird, dass der Erzähler, der die Closerie als »home café« bezeichnet, sich hier, an einem eigentlich öffentlichen Ort, bedrängt fühlt, weil jemand Fremdes eingedrungen ist, der ihm nicht ›willkommen‹ ist, weil jener ihn in der Situation des konzentrierten Schreibens unterbricht. Hemingway vermischt den öffentlichen und privaten Raum miteinander und verhält sich so, als sei er der Gastgeber dieses Ortes beziehungsweise der Inhaber des Cafés, der entscheiden kann, wer sich darin aufhalten darf und wer nicht. So ist diese Szene laut Nicole Stamant auch insbesondere durch die Abwesenheit eines Zuhauses gekennzeichnet: Hemingway erledigt die einsame Arbeit des Schreibens nicht in der Privatsphäre seiner Wohnung, sondern im Café.248 Infolgedessen rät er dem anderen Schriftsteller, der ihn dort beim ernsthaften Arbeiten stört, nachdrücklich und auf sehr unflätige, brüske Weise davon ab, überhaupt schriftstellerisch tätig zu sein und seine Zeit im Café zu vergeuden: ›Then keep the muck away from this café. Start with that. […] You shouldn’t write if you can’t write. What do you have to cry about it for? Go home. Get a job. Hang yourself. Only don’t talk about it. You could never write.‹ (MF 172) Obwohl er den Ruhestörer am liebsten aus dem Café ›hinausprügeln‹ würde, versucht er, sich zu bändigen und sein ›Schreibglück‹ wieder an sich zu binden. Weil es ihm im weiteren Verlauf gelingt, das stetige, klagende Gerede seines Gegenübers249 nicht zu beachten und es wie die übrigen Hintergrundgeräusche des Cafés an sich abprallen zu lassen, kann er das Schreiben fortsetzen: I thought I would ignore him and see if I could write. So I ignored him and wrote two sentences. […] I went on and wrote another sentence. It dies hard when it is really going and you are into it. […] I wrote another sentence that ended the paragraph and read it over. It was still all right and I wrote the first sentence of the next paragraph. […] I had heard complaining all my life. I found I could go on writing and that it was no worse than other noises, certainly better than Ezra learning to play the bassoon. […] I went on writing and I was beginning to have luck now as well as the other thing. […] He was in full cry now and the unbelievable sentences were soothing as the noise of a plank being violated in the sawmill. […] I had not heard him for some time except as noise. I was ahead now and I could leave it and go on tomorrow. (MF 170f.) In die Beschreibung des Schreibablaufs integriert er seine Reflektion über verschiedene Arten von Geräuschen, eruiert, inwieweit jene Schreibende zu stören vermögen und erreicht mit seiner Aufzählung eine stark ansteigende Progression bei der Entstehung seines Textes, dessen Fortgang er unaufhörlich bewertet, um für sich selbst zu 248 Vgl. Nicole Stamant: »Hemingway’s Hospitality in A Moveable Feast«, in: The Hemingway Review 33:1 (2013), S. 73-78, S. 75. 249 Diese Äußerungen werden im folgenden Zitat ausgespart, da nur Hemingways Reaktionen relevant sind.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
entscheiden, ob er für diesen Tag genug geleistet hat. Hier geraten die Atmosphäre des Kaffeehauses sowie das Gerede der Menschen darin zu einer Kulisse für seine Literatur, vor deren Hintergrund er schreibt – so zeigt sich erneut, dass die Atmosphäre der Umgebung mit ihren Reizen, Gerüchen und Geräuschen eine unmittelbare Auswirkung auf den Schreibprozess hat und das Café somit in Form dieser atmosphärischen Reize in den Text übergehen kann. Insgesamt findet in Hemingways Erinnerungen eine starke wechselseitige Beeinflussung und Vermischung von Text und Kontext sowie eine intensive Inszenierung des Schreibprozesses statt: Einerseits beschreibt der Erzähler in A Moveable Feast, wie ihn die alltägliche Pariser Café-Atmosphäre, vor allem die Geräusche und Gerüche, daneben auch das Wetter, kulinarische Genüsse und körperliche Bedürfnisse sowie verschiedene menschliche Charaktertypen zu den Details seiner in unterschiedlichen Ländern spielenden Texte inspirieren250 , so dass er diese Aspekte einflicht und ausdrucksvoll zu schildern vermag. Andererseits bekommt er beispielsweise durch die in der Geschichte konsumierten Getränke selbst Appetit darauf – so als wäre es nicht seine eigene Idee gewesen, die Protagonisten und Protagonistinnen etwas trinken zu lassen, sondern als würde die Geschichte dies vorgeben. Durch diese außerordentlich starke Wechselwirkung von Fiktion und Realität scheint der als Autor dargestellte Erzähler vollkommen eins zu sein sowohl mit den Menschen und den Vorgängen seiner wirklichen Umwelt als auch mit den Figuren und der Handlung seiner Story. Sehr deutlich wird hier die unmittelbare körperliche Verwobenheit des Autors mit seinem Text, mit dem er so gänzlich verschmilzt, dass es keinen Unterschied macht, ob in der Geschichte ein Stück Holz unter seinen Schritten oder der Bleistift des Schreibenden im Café zerbricht – die Bewegungen des Schauens, Gehens und Schreibens, des Bleistiftspitzens und Rucksacktragens gehen ineinander über und erfordern allesamt die gleiche Achtsamkeit von der handelnden Figur: Some days it went so well that you could make the country so that you could walk into it through the timber to come out into the clearing and work up onto the high ground and see the hills beyond the arm of the lake. A pencil-lead might break off in the conical nose of the pencil sharpener and you would use the small blade of the pen knife to clear it or else sharpen the pencil carefully with the sharp blade and then slip your arm through the sweat-salted leather of your pack strap to lift the pack again, get the other arm through and feel the weight settle on your back and feel the pine needles under your moccasins as you started down for the lake. (MF 169) Als das erzählende Ich im Kapitel »A Good Café on the Place St.-Michel« beschreibt, wie es seine Kurzgeschichte »Up in Michigan« in dem zuvor erwähnten Café auf dem gleichnamigen Pariser Platz verfasst, fühlt es sich so stark inspiriert, dass sein ›Schreibtempo‹ kaum mit seiner Phantasie Schritt halten kann. Dies hat zur Folge, dass der Erzähler selbst sehr tief in das Geschehen seiner Geschichte eintaucht und seine Umwelt nur
250 Vgl. »That was called transplanting yourself, I thought, and it could be as necessary with people as with other sorts of growing things. […] Maybe away from Paris I could write about Paris as in Paris I could write about Michigan.« (MF 17; 19)
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noch als mögliche Kulisse für seine Story wahrnimmt. Als ein hübsches, adrett gekleidetes Mädchen das Café betritt, nimmt ihn dieser Anblick beispielsweise so gefangen, dass er seine Augen nicht mehr von ihr lassen kann. Er betrachtet sie genau und ist fasziniert von ihrem Äußeren und ihrer stilvollen, abwartenden Haltung. Diese Ausstrahlung möchte er als ›schriftstellerische Eroberung‹ unbedingt in seiner Geschichte widergeben: A girl came in the café and sat by herself at a table near the window. I looked at her and she disturbed me and made me very excited. I wished I could put her in the story, or anywhere, but she had placed herself so she could watch the street and the entry and I knew she was waiting for someone. So I went on writing. […] I’ve seen you, beauty, and you belong to me now, whoever you are waiting for and if I never see you again, I thought. You belong to me and all Paris belongs to me and I belong to this notebook and this pencil. (MF 17f.) Wie berauscht stürzt der Erzähler sich im Folgenden in eine wahre Schreiborgie, verlässt die Wirklichkeit und existiert nunmehr als Schreibmedium, welches von der Geschichte selbst bestimmt ist. So vergisst er Ort, Zeit und alle materiellen Bedürfnisse und merkt auch nicht, dass das anmutige junge Mädchen, welches ihn zuvor noch sehr bezaubert hat, wenig später das Café verlässt. Es findet ein permanentes Changieren zwischen Café-Umgebung und den realen Menschen, dem Blick und der Wahrnehmung des ›erzählenden Autors‹ sowie der zu schreibenden Geschichte statt. So wechselt der selbstreferentielle Gestus des Erzählers mit der Perspektive der Protagonisten seiner Kurzgeschichte: The story was writing itself and I was having a hard time keeping up with it. I ordered another rum St. James and I watched the girl whenever I looked up, or when I sharpened the pencil with a pencil sharpener with the shavings curling into the saucer under my drink. […] Then I went back to writing and I entered far into the story and was lost in it. I was writing it now and it was not writing itself and I did not look up nor know anything about the time nor think where I was nor order any more rum St. James. I was tired of rum St. James without thinking about it. (MF 17f.) Anhand der parallelen Lektüre von »Up in Michigan« und A Moveable Feast lassen sich weitere Wechselwirkungen zwischen Text und Kontext aufzeigen. Wenn der männliche Protagonist Jim in seiner Geschichte beispielsweise Whisky trinkt, bekommt auch Hemingway Durst und bestellt ›Rum St. James‹, so dass nicht nur das Café den Text, sondern dieser ihn und seine eigene Handlungsweise, seine Stimmung und Gefühle beeinflusst und inspiriert: Jim went out to the wagon in the barn and fetched in the jug of whiskey the men had taken hunting with them. […] Jim took a long pull on his way back to the house. It was hard to lift such a big jug up to drink out of it. Some of the whiskey ran down on his shirt front. […] Jim began to feel great. He loved the taste and the feel of whiskey.251
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Ernest Hemingway: »Up in Michigan«, in: ders.: The Short Stories, New York 1953, S. 81-86, S. 83f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
But in the story the boys were drinking and this made me very thirsty and I ordered a rum St. James. This tasted wonderful on the cold day and I kept on writing, feeling very well and feeling the good Martinique rum warm me all through my body and my spirit. (MF 17) Auch das trostlose, nasskalte Winterwetter, welches Hemingway auf seinem Weg zum Café beschreibt und das er durch die Kaffeehausfenster beobachtet, findet Eingang in seine traurig endende Kurzgeschichte, in der das Wetter die Trostlosigkeit versinnbildlicht: Die aussichtslose Verzweiflung der weiblichen Protagonistin Liz über die Gefühlskälte Jims entspricht den von Hemingway als trübsinnig und farblos empfundenen Pariser Wetterverhältnissen: Then there was the bad weather. It would come in one day when the fall was over. All of the sadness of the city came suddenly with the first cold rains of winter, and there were no more tops to the high white houses as you walked but only the wet blackness of the streets […]. […] I was writing about up in Michigan and since it was a wild, cold, blowing day it was that sort of day in the story. I had already seen the end of fall come through boyhood, youth and young manhood, and in one place you could write about it better than in another. (MF 16f.) Liz started to cry. She walked over to the edge of the dock and looked down to the water. There was a mist coming up from the bay. She was cold and miserable and everything felt gone. […] Then she walked across the dock and up the steep sandy road to go to bed. A cold mist was coming up through the woods from the bay.252 Hemingway stellt die Niedergeschlagenheit des Mädchens sehr anschaulich dar, indem er ihre Gefühle mit dem zweifach erwähnten ›feuchten Nebel‹ assoziiert, welcher sich wie ein feiner melancholischer Schleier über ihr deprimiertes Gemüt legt. Er übernimmt auch äußerliche und charakterliche Merkmale des Mädchens im Café, um seine Protagonistin Liz zu gestalten. Dabei überträgt er die Assoziation einer frisch geprägten Münze, welche eigentlich aufgrund der Härte des Materials nicht in das Beschreibungsfeld eines Gesichtes fällt, auf die Makellosigkeit von Lizʼ Äußerem in der Geschichte. Gleichzeitig wird deutlich, dass er die Frauen auch selbst mit den Augen eines begehrenden Mannes betrachtet, der ihre rosige Haut und die langen Beine bewertet: She was very pretty with a face fresh as a newly minted coin if they minted coins in smooth flesh with rainfreshened skin, and her hair was black as a crow’s wing and cut sharply and diagonally across her cheek. (MF 17) Liz Coates worked for Smith’s. Mrs. Smith, who was a very large clean woman, said Liz Coates was the neatest girl she’d ever seen. Liz had good legs and always wore clean gingham aprons and Jim noticed that her hair was always neat behind.253 Liz und wohl auch das ›wirkliche‹ Mädchen warten auf ihren Geliebten oder Verehrer; jedoch muss Liz erleben, wie der von ihr zuvor noch bewunderte Jim ihr wehtut und sie 252 Hemingway: »Up in Michigan«, S. 85f. 253 Hemingway: »Up in Michigan«, S. 81.
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vergewaltigt.254 Daher hofft Hemingway inständig und sehr traurig, das reale Mädchen aus seinem Café möge mit einem liebevolleren Mann fortgegangen sein, als Liz es getan hat, und schlägt so wieder eine Brücke von der Fiktion zur Wirklichkeit: Then the story was finished and I was very tired. I read the last paragraph and then I looked up and looked for the girl and she had gone. I hope she’s gone with a good man, I thought. But I felt sad. (MF 18) Hemingway fühlt sich ausgelaugt und trübselig, obwohl er die Story erfolgreich zu Ende führen konnte und bestellt sich Wein und eine Portion Austern, die ihm im Kontext des Cafés zu Glücksgefühlen und neuer Lebensenergie verhelfen. So findet bis zuletzt eine Wechselwirkung zwischen Text und Kontext statt, so zum Beispiel, wenn intensive geschmackliche Reize in seinen Text einfließen, die hier durch den besonderen Meeresgeschmack der Austern in Kombination mit kaltem Weißwein255 ausgedrückt werden. Hemingways A Moveable Feast ist ebenso wie Kischs »Feuilleton« durch einen starken mündlichen Duktus gekennzeichnet, da sowohl die Selbstgespräche des Erzählers als auch die Dialoge mit anderen einen Großteil der Kapitel ausmachen. Auch hier ist eine starke Selbstreferenz zu verzeichnen; die Konstituierung von Wirklichkeit erfolgt zum einen insbesondere durch die Erwähnung von wirklich existierenden Kaffeehäusern und zum anderen durch die Beschreibung des Schreibprozesses realer Geschichten des Autors. Ein sehr großer Fokus wird auf die Beschreibung der Atmosphäre, in Form von Gerüchen und Geräuschen sowie ausdruckstarken Bildern, gelegt, welche mit in den Text einfließen. Isoliert gesehen kann das zuletzt analysierte Kapitel »A Good Café on the Place St.-Michel« aus Hemingways Erinnerungen als ›Kaffeehausliteratur‹ par excellence bezeichnet werden, weil es nicht nur die charakteristische Kürze aufweist, sondern auch alle anderen definierten Merkmale, wie die Erwähnung von Atmosphäre, die Beschreibung des Schreibprozesses und die Performanz, umfasst.
V.1.6.
Erinnerungen an vergangene Kaffeehäuser
La mémoire est à la fois fidèle et infidèle, c’est bien connu. […] L’imagination fonctionne comme une mémoire artificielle. Nombre de cafés actuels rappellent qu’ils ont été fréquentés par des écrivains, des poètes, des artistes ou des penseurs de premier plan. À la Closerie, où Lénine jouait aux échecs, une petite plaque métallique au coin d’une table peut donner le sentiment à celui qui s’y installe qu’il prend la place de Verlaine ou d’Hemingway; le site des Deux Magots, sur Internet, rappelle que Mallarmé, Verlaine et Rimbaud fréquentaient l’endroit. Des bistrots sont donc présents dans nos têtes, avec leur charge d’histoire et des souvenirs personnels, récents ou anciens, ou encore des souvenirs de lecture, y compris de fictions. Mais la vraie force des bistrots c’est qu’ils sont éminemment actuels, bien présents, aujourd’hui encore, dans les rues de Paris […]. (EBP 81ff.)
254 Vgl. Hemingway: »Up in Michigan«, S. 85. 255 Vgl. Kapitel V.4.6.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Marc Augés Beobachtungen zum Prozess des Erinnerns stellen sehr prägnant die Ambivalenz heraus, die sich mit Blick auf die scheinbare Zuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses ergibt: So vermischen sich persönliche Erinnerungen an ein Café oder Bistro mit historischen Tatsachen und legendenhaften, meist mündlich überlieferten Geschichten über prominente Gäste. Gleichzeitig stellt ein Café oder Bistro, welches heute noch geöffnet hat, für den langjährigen Stammgast einen realen Ort dar, den er besuchen und ›nutzen‹ kann und der ihm vor allem ein Gefühl der Kontinuität vermittelt, da in seiner Wahrnehmung vergangene und aktuelle Erlebnisse in Bezug auf diesen Ort ineinander übergehen. Wenn sich jemand bemüht, sich nach bestem Wissen und Gewissen an etwas zurückzuerinnern, kann diese Rückschau sowohl zuverlässig die wirklich erlebten Begebenheiten enthalten als auch mit frei erfundenen Begegnungen und Episoden vermengt sein, die jedoch in der Retrospektive als vollkommen wahr und tatsächlich erlebt erscheinen. Dieses ›künstliche Gedächtnis‹ entsteht dabei, wie Augé schreibt, beispielsweise mittels des Verwebens mündlicher Erzählungen von Zeitzeugen und -zeuginnen oder literarischer und journalistischer Texte mit Informationen, die sich aus metallenen Hinweisschildern, Fotographien oder Gemälden ergeben, die in den Lokalen hängen.256 Insbesondere, wenn berühmte, in den zuvor genannten Quellen erwähnte Kaffeehäuser auch noch in der Gegenwart existieren, wie das in Paris oder Wien der Fall ist, sorgen auch die Kaffeehausbesitzer dafür, dass Erzählungen fortgeschrieben werden, um die Berühmtheit und damit die Anziehungskraft ihrer Lokale zu erhalten. Die von Augé beschriebene Doppeldeutigkeit kann auf die in anderen Texten enthaltenen Erinnerungen an nicht mehr existente und noch bestehende Cafés übertragen werden: Einerseits ist das Kaffeehaus, insbesondere das Wiener, von idealisierenden Legenden geprägt, die im kollektiven Gedächtnis verhaftet sind und in der Literatur fortgeschrieben werden.257 Andererseits sind persönliche Erinnerungen, die das subjektive Empfinden widerspiegeln oder sogar nur aus der Fiktion heraus entstanden sind und damit einem ›nachgeahmten Gedächtnis‹ ähneln, kein weniger bedeutsames oder authentisches Zeugnis als exakt recherchierte historische Quellen, wenn es wie im Fall der vorliegenden Arbeit darum geht, Wahrnehmungsphänomene, Synästhesien und Emotionen in Bezug auf einen vergangenen Aufenthalt in einem Kaffeehaus nachzuvollziehen.
256 Vgl. auch Maurice Halbwachs : La mémoire collective, Paris 1997, S. 98; 104; 119. 257 Bspw. in Torberg: »Traktat über das Wiener Kaffeehaus (1959)«,S. 318f. Insbesondere betrifft diese Verherrlichung auch die Oberkellner, vgl. Kapitel 2.2.2 und vgl. Joseph Roths Feuilleton »Richard ohne Königreich«, welches am 9. Januar 1923 im 12-Uhr-Blatt der Neuen Berliner Zeitung erschienen istund dem Zeitungskellner Richard aus dem Café des Westens ein Denkmal setzt: »Ich entsinne mich jener schmerzlichen Nacht, in der das alte Café des Westens für immer geschlossen wurde und Richard unsere Unterschriften sammelte. Dieses Einfangen der Unsterblichkeit in ein Stammbuch war seine letzte Handlung im Dienste der Literatur. Dann verschwand Richard, und es dauerte eine Weile, ehe er im Romanischen Café auftauchte. Wer weiß, wie viel Schmerz er da empfunden hat, als er in seine Heimat kam als Gast und Fremdling! Zeitungen fordernd, statt sie zu vergeben?!…«, in: Joseph Roth: »Richard ohne Königreich«, in: ders.: Werke I. Das journalistische Werk 1915-1923, Bd. 1, hg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 909-912, S. 910f.
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Betrachtet man im Hinblick auf diese Ambivalenz kontroverse Stimmen in der Forschung, erfahren diese legendenbehafteten Schilderungen auf der einen Seite eine Geringschätzung, beispielsweise wenn Gilbert Carr sie als ›problematische Konstrukte‹ und Klischees bezeichnet, die dem Gegenstand keine Gerechtigkeit widerfahren ließen258 , und zudem eine Dichtigkeit der Ereignisse und eine Wertigkeit der Bedeutungen nur vortäuschten, weil die Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihre eigentlich im chronologischem Verlauf erlebten Erfahrungen ›zusammendampften‹, als wären sie an einem einzigen Abend im Café passiert.259 So sei es das alleinige Ziel jeder autobiographischen Kaffeehausgeschichte, so Carr, einen für die Nachwelt besonders bedeutsamen Moment im Kaffeehaus festzuhalten und ihn im Nachhinein subjektiv zu gestalten oder umzudichten260 , damit ein möglichst herausragendes, ruhmreiches Bild in der Öffentlichkeit präsent bleibe. Weiterhin kritisiert Carr die Schriftstellerinnen und Schriftsteller dafür, sehr emotional und irrational die Innovation und Einmaligkeit einer entschwundenen Kaffeehauskultur zu beschwören, wobei sie sich ihm zufolge mit wenig originellen »repetitive or stereotypical narrative patterns«261 selbst entlarvten. Auf der anderen Seite lassen sich dieser eher abwertenden Einschätzung die Ergebnisse verschiedener soziologischer und kulturwissenschaftlicher Studien der Gedächtnisforschung entgegenhalten, die aufgezeigt haben, dass das kollektive Gedächtnis immer »stark selektiv und rekonstruktiv« verfährt und »Verzerrungen und Umgewichtungen« bis hin zur Fiktion möglich sind, weil das Gedächtnis niemals ein exaktes »Abbild der Vergangenheit« liefern kann.262 So erscheint es kaum angebracht, die Geschichten über das Kaffeehaus ausschließlich als nostalgisch verklärte Wunschbilder abzutun263 , da in autobiographischen Skizzen meist aus der Erinnerung heraus ein bestimmtes Bild vom Kaffeehaus entworfen wird, um eine gewisse Atmosphäre zu transportieren, welche wie erwähnt ausschließlich subjektiv erfahrbar und vermittelbar ist. Dieser Erinnerung ist damit immer eine individuelle Dynamik inhärent, da sie sich mit dem Leben weiterentwickelt und sich nicht statisch verhält264 : Das Erinnern verfährt grundsätzlich rekonstruktiv; es geht stets von der Gegenwart aus, und damit kommt es unweigerlich zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung.265 Aufgrund der hier von Aleida Assmann beschriebenen Dynamik ist es unausweichlich, dass autobiographische Schriften subjektiv gefärbt sind und sich chronologisch verändern beziehungsweise ›mitwachsen‹, weil Erinnerungsarbeit nicht die Aufgabe hat, 258 259 260 261 262
Vgl. Carr: »Time and Space in the Café Griensteidl and the Café Central«, S. 33. Carr: »Time and Space in the Café Griensteidl and the Café Central«, S. 39f. Vgl. Carr: »Time and Space in the Café Griensteidl and the Café Central«, S. 38. Carr: »Time and Space in the Café Griensteidl and the Café Central«, 37f. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2011, S. 19. 263 Vgl. Ashby: »The Cafés of Vienna: Space and Sociability«, S. 10. 264 Vgl. Jan Rupp: »Erinnerungsräume in der Erzählliteratur«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 181-194, S. 184. 265 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2009, S. 29.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
konkrete außerliterarische Schauplätze widerzuspiegeln, sondern sich aus der Perspektive der Gegenwart heraus nutzbringend mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, im Sinne einer »konstruktive[n], oft konflikthafte[n] Aushandlung über die Orte des kollektiven Gedächtnisses.«266 Die im Folgenden untersuchten Texte können somit – trotz der darin enthaltenen historischen Tatsachen und meist sehr persönlichen Erinnerungen – nicht eindeutig als fiktional, journalistisch oder autobiographisch verstanden werden; es sind hybride Texte, welche »durch die Oszillation zwischen Gegenwartsstandpunkt und Vergangenheitsstandpunkt […], zwischen erinnerndem und erinnertem Ich«267 gekennzeichnet sind. Michaela Holdenried löst den vermeintlichen Gegensatz zwischen authentischer, historisch belegbarer und subjektiv verfälschter Erinnerung auf, indem sie den Fokus auf die Bedeutung der schriftlich verfassten Erinnerungen für die Person legt, die sich erinnert: Was die Tätigkeit des Gedächtnisses freigelegt (oder produziert) ist niemals ›authentisch‹ im Sinne einer Einholbarkeit vergangener Tatsachen, aber es ist auch nicht als ›falsche‹ (verfälschte) Erinnerung zu diskreditieren, weil es sich immer um Sequenzen handeln dürfte, welche bedeutsam für die individuelle Genese waren.268 Neben der Funktion des Erinnerns für die Verarbeitung von vergangenen Ereignissen im Gedächtnis eines Individuums, welche in der folgenden Textanalyse besonders in den Blick genommen werden soll, wird auch die Frage nach der Konstrukthaftigkeit von Erinnerung diskutiert werden. Als überwiegender Konsens in der Forschung kann im Hinblick auf den Begriff des Erinnerns selbst festgehalten werden, dass es Christoph Parry und Edgar Platen zufolge nicht darum geht, einzelne in der Vergangenheit abgelagerte fertige Erinnerungen aus dem großen Speicher des Gedächtnisses abzurufen, sondern dass es sich vielmehr um einen konstruktiven Vorgang handelt, der aktuellen Bedürfnissen der Gegenwart dient. Vergangenheit wird dabei eher produziert als reproduziert.269 Durch diese eher produktive als passiv nacherzählende Handlung des subjektiven Erinnerns, die sich besonders im autobiographischen Schreiben verwirklichen lässt, werden mit Blick auf das Kaffeehaus Räume der Erinnerung geschaffen, also Lokalisierungen, die aufgeladen sind mit persönlichen Emotionen und der spezifischen Wahrnehmung des Schreibenden. Gertrud Lehnert verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass »Räume Vergangenheit speichern und etwas von den Gefühlen und Stimmungen absorbieren [können], die in ihnen gelebt worden sind.«270 Sie betont jedoch, dass Erlebnisse und Impressionen nur dann »erinnerbar« sind, wenn die betreffenden Erinnerungen 266 Rupp: »Erinnerungsräume in der Erzählliteratur«, S. 182. Vgl. Halbwachs : La mémoire collective, S. 118. 267 Holdenried: Autobiographie, S. 58. 268 Holdenried: Autobiographie, S. 60. 269 Christoph Parry/Edgar Platen: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung, Bd. 2, München 2007, S. 9-13, S. 10. 270 Lehnert: »Raum und Gefühl«, S. 9.
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von intensiven Gefühlen begleitet werden.271 Auch Gaston Bachelard verknüpft in La poétique de l’espace (1957) die Rückbesinnung an bestimmte Ereignisse mit den Orten, wo jene stattgefunden und besondere Gefühle ausgelöst haben, die auch zukünftig für immer mit diesen Orten verknüpft sein werden. So bezeichnet er bestimmte Räume als ›glücklich‹ oder ›gepriesen‹ und meint damit jene Räume, an die sich Menschen gerne zurückerinnern und denen sie in der Rückschau neben dem ›normalen‹ Schutzwert imaginierte Werte verleihen, welche alle anderen Werte überlagern und die besondere Anziehungskraft des Raumes ausmachen.272 In den folgenden Unterkapiteln wird zu zeigen sein, dass das Kaffeehaus als einer jener besonderen Orte im Sinne Bachelards bezeichnet werden kann, die sowohl intensive Gefühle auslösen als auch einen hohen persönlichen Wert für diejenigen bereithalten, die sich an einen Aufenthalt zurückerinnern. Wie unter Kapitel V.1 schon im Zusammenhang mit Walter Benjamins autobiographischem Schreibverfahren festgestellt, werden in vielen Texten durch die ›Lokalisierung‹ des Erinnerungsprozesses beziehungsweise die räumliche Speicherung der Zeit273 Erinnerungen explizit mit gewissen Räumen verbunden, von denen die Erinnerung ihren Ausgangspunkt nimmt. So erklärt Georg Simmel in der Soziologie des Raumes (1908) die Bedeutsamkeit des konkreten Schauplatzes für die Erinnerung mit der größeren Anschaulichkeit eines Ortes im Gegensatz zur Flüchtigkeit der Zeit: Für die Erinnerung entfaltet der Ort, weil er das sinnlich Anschaulichere ist, gewöhnlich eine stärkere assoziative Kraft als die Zeit; so dass, insbesondere wo es sich um einmalige und gefühlsstarke Wechselbeziehungen handelte, für die Erinnerung gerade er sich mit dieser unlöslich zu verbinden pflegt und so, da dies gegenseitig geschieht, der Ort noch weiterhin der Drehpunkt bleibt, um den herum das Erinnern die Individuen in nun ideell gewordene Wechselbeziehungen einspinnt.274 Neben der Verknüpfung der Erinnerung mit bestimmten Gefühlen dient die Lokalisierung der Erinnerung somit auch dazu, die Augenblickshaftigkeit der Erinnerung zu überwinden und bei einer Verdauerung mitzuwirken, indem der flüchtigen Zeitlichkeit ein beständiges, ›materielles‹ Milieu entgegengehalten wird – so bezeichnet Maurice
271 Lehnert: »Raum und Gefühl«, S. 16ff. 272 Vgl. »Nous voulons examiner, en effet, des images bien simples, les images de l’espace heureux. Nos enquêtes mériteraient, dans cette orientation, le nom de topophilie. Elles visent à déterminer la valeur humaine des espaces de possession, des espaces défendus contre des forces adverses, des espaces aimés. Pour des raisons souvent très diverses et avec les différences que compostent les nuances poétiques, ce sont des espaces louangés. A leur valeur de protection qui peut être positive, s’attachent aussi des valeurs imaginées, et ces valeurs sont bientôt des valeurs dominantes. L’espace saisi par l’imagination ne peut rester l’espace indifférent livré à la mesure et à la réflexion du géomètre. Il est vécu. Et il est vécu, non pas dans sa positivité, mais avec toutes les partialités de l’imagination. En particulier, presque toujours il attire.«, in : Bachelard : La poétique de l’espace, S. 17. 273 Vgl. Bachelard : La poétique de l’espace, S. 27f. 274 Georg Simmel: »Soziologie des Raumes«, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1918, Bd. 1, hg. v. Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt, Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt a.M. 1995, S. 132-183, S. 150.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Halbwachs in seiner Schrift La mémoire collective (1950) den uns fix umgebenden Raum auch als Prämisse für das kollektive Gedächtnis: Ainsi, il n’est point de mémoire collective qui ne se déroule dans un cadre spatial. Or, l’espace est une réalité qui dure : nos impressions se chassent l’une l’autre, rien ne demeure dans notre esprit, et l’on ne comprendrait pas que nous puissions ressaisir le passé s’il ne se conservait pas en effet dans le milieu matériel qui nous entoure.275 Halbwachs räumt dem konkreten räumlichen Rahmen nicht nur in Bezug auf die Erinnerung einen großen Stellenwert ein, sondern legt auch dar, wie wichtig Permanenz und Kontinuität für die Umgebung sind, in der Menschen sich alltäglich aufhalten. Die Unveränderlichkeit des Wohn- und Lebensraums vermittelt einer sozialen Gruppe nämlich sowohl einen positiven Eindruck von Ordnung und Dauerhaftigkeit als auch ein Gefühl der Zugehörigkeit, wenn Raum und Mensch sich gegenseitig durchdringen und formen, so dass eine soziale Gruppe sich in der Folge mit ihrem Raum identifiziert: Lorsqu’un groupe est inséré dans une partie de l’espace, il la transforme à son image, mais en même temps il se plie et s’adapte à des choses matérielles qui lui résistent. Il s’enferme dans le cadre qu’il a construit. L’image du milieu extérieur et des rapports stables qu’il entretient aves lui passe au premier plan de l’idée qu’il se fait de lui-même.276 So verändern sich der Raum und die sich darin regelmäßig aufhaltende Gruppe miteinander. Sie beeinflussen sich gegenseitig und üben eine Wechselwirkung aufeinander aus, welche sich jeweils nur im ursprünglichen Zusammenhang dieser Gruppe und jenes Raumes ergeben kann. So werden laut Halbwachs die Unternehmungen der Gruppe räumlich ausgedrückt, indem der Ort einen großen Teil der Aspekte, welche diese Gruppe ausmachen, auf sich vereinige, wobei das Gepräge dieses Ortes, welches gekennzeichnet ist durch die Charakteristika dieser authentischen Gruppe, nur durch eben jene wahrnehmbar sei. Daher könne die Erinnerung an den Raum nicht dieselbe bleiben, sobald sich Umfang oder Zusammensetzung der Gruppe wandeln oder der Ort selbst eine Veränderung erfährt.277 Jedoch könnten die Erinnerungen an die vergangenen Er-
275 Halbwachs : La mémoire collective, S. 209. 276 Halbwachs : La mémoire collective, S. 195. 277 Vgl. »Mais le lieu a reçu l’empreinte du groupe, et réciproquement. Alors, toutes les démarches du groupe peuvent se traduire en termes spatiaux, et le lieu occupé par lui n’est que la réunion de tous les termes. Chaque aspect, chaque détail, de ce lieu a lui-même un sens qui n’est intelligible que pour les membres du groupe, parce que toutes les parties de l’espace qu’il a occupées correspondent à autant d’aspects différents de la structure et de la vie de leur société, au moins à ce qu’il y a eu en elle de plus stable. Certes, les événements exceptionnels se replacent aussi dans ce cadre spatial, mais parce qu’á leur occasion le groupe a pris conscience avec plus d’intensité de ce qu’il était depuis longtemps et jusqu’à ce moment, et que les liens qui le rattachaient au lieu lui sont apparus avec plus de netteté au moment où ils allaient se briser. Mais un événement vraiment grave entraîne toujours un changement des rapports du groupe avec le lieu, soit qu’il modifie le groupe dans son étendue, par exemple une mort, ou un mariage, soit qu’il modifie le lieu, que la famille s’enrichisse ou s’appauvrisse, que le père de famille soit appelé à un autre poste ou passe à une autre occupation. A partir de ce moment, ce ne sera plus exactement le même groupe, ni la
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
eignisse wieder aufleben, wenn die Bilder des ursprünglichen Ortes heraufbeschworen werden würden.278 Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass die im Folgenden zu analysierenden Texte, welche sich mit der Erinnerung an ein bestimmtes Kaffeehaus befassen, insbesondere durch eine Ambivalenz zwischen historischer Wirklichkeit und persönlicher Erinnerung gekennzeichnet sind. Ein weiteres Merkmal ist die individuelle, kreative (Re-)Konstruktion einer Vergangenheit, die nicht so sehr dem Nacherzählen tatsächlicher Ereignisse dient als vielmehr mit einer persönlichen Funktion für diejenige Person einhergeht, die sich erinnert, da die Erinnerung und damit der Ort mit bestimmten Emotionen verknüpft ist. Weiterhin wird durch die Bindung der flüchtigen Erinnerung an einen bestimmten Raum eine Form von Kontinuität geschaffen, so dass die Erinnerungen für die Nachwelt erhalten bleiben. Nicht zuletzt kann sich durch die Verknüpfung von Raum und Erinnerung die spezielle Identität einer Gruppe herausbilden, wobei Gruppe und Raum reziprok aufeinander wirken. Diese Thesen sollen in der folgenden Textanalyse diskutiert werden.
V.1.6.1.
Tiefe Gefühle und unerfüllte Sehnsucht. Wehmütige Erinnerung an vergangene Stunden im Café
Es war seit Jahren nicht mehr das alte Café. Demnächst wird man dort wieder ein neues Café eröffnen, das auch nicht wieder das alte sein wird. Wie gesagt, die Sache ist vergangen. Vergangen – ja, aber nicht abgeschlossen. Wenn ich zurückdenke, kann ich es rekonstruieren? Schwerlich. Neunzehnhundertzehn – was ist das? […] Wie kann man wissen, was dort und damals wirklich war? Es ist verschwommen, hinabgeschwommen.279 Ernst Blass erinnert sich in seinem Feuilleton »Das alte Café des Westens« (1928) wehmütig an das »kleine Café«, welches 1893 am Kurfürstendamm 18/19, Ecke Joachimsthaler Straße, als erstes Kaffeehaus im Berliner Westen eröffnet wurde und unter seinem zweiten Besitzer, dem Italiener Rocco, von 1895 bis 1904 einen Aufschwung als Künstlerund Literatentreff erlebte, bevor es 1904 von dessen Schwager Ernst Pauly übernommen wurde. Pauly zog 1913 mit dem Café in den Neubau ›Union Palast‹ am Kurfürstendamm 26 und gründete hier ein vornehmes ›Konzert-Café‹. Jedoch waren dort wenig konsumierende Künstlerinnen und Schriftsteller nicht mehr erwünscht, weshalb sich der Künstlertreffpunkt zunächst ins Café Josty am Potsdamer Platz verlagerte, bevor er ab
même mémoire collective; mais, en même temps, l’entourage matériel non plus ne sera plus le même.«, in : Halbwachs : La mémoire collective, S. 196f. 278 Vgl. »Alors même qu’on pourrait croire qu’il en est autrement, quand les membres d’un groupe sont dispersés et ne retrouvent rien, dans leur nouvel entourage matériel, qui leur rappelle la maison et les chambres qu’ils ont quittées, s’ils restent unis à travers l’espace, c’est qu’ils pensent à cette maison et à ces chambres.«, in : Halbwachs : La mémoire collective, S. 195f. 279 Ernst Blass: »Das alte Café des Westens«, in: ders.: Ferien vom Berliner Pflaster. Erzählungen und Feuilletons, hg. v. Thomas B. Schumann, Werkausgabe Bd. 2, Köln 2009, S. 172-181, S. 172f. Die erste Veröffentlichung dieses Feuilletons findet sich in: Die literarische Welt 4:35 (1928), S. 3-4. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »DaCdW« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
1917 ins Romanische Café wechselte.280 Anhand von Blassʼ Text lässt sich aufzeigen, dass der Prozess des Erinnerns an etwas Vergangenes nicht nur ein mühevoller, schöpferischer Vorgang ist, sondern dass dieser Prozess auch mit tiefgehenden Gefühlen einhergeht, wodurch die Erinnerung nicht objektiv und chronologisch verläuft, sondern sich nach den Prioritäten gestaltet, die der sich erinnernde Schriftsteller für wichtig hält. Es handelt sich also um ganz persönliche Erinnerungen an viele Jahre des Aufenthalts im Café des Westens, deren Abfassung dem Ich-Erzähler nicht leicht fallen – so fragt er sich, den Vorgang des Erinnerns selbst reflektierend, wie er diese Zeit überhaupt rekonstruieren könne, beginnend mit diesem selbstreferentiellen, den Augenblick einfangenden Satz: Was ich hier beginne, ist ein Artikel von mir über das ehemalige Café des Westens, das an der Ecke des Kurfürstendamms und der Joachimsthaler Straße lag. Die Ecke steht noch, das Café wurde geschlossen. (DaCdW 172) In Blassʼ Einleitung wird deutlich, dass er das Fehlen des Cafés als schmerzhafte Lücke im vertrauten Straßenbild Berlins empfindet. Der Ich-Erzähler setzt seine Erzählung mit der Schilderung der Atmosphäre und der Sinnesreize fort, die ihm in den Sinn kommen, wenn er an das Café zurückdenkt. So beschreibt er die rauchgeschwängerte Luft, den Geruch des Lokals und die Anwesenheit sehr vieler Gäste; er verwendet dafür einen sehr umgangssprachlichen, stakkatohaften Schreibstil, der den gerade ablaufenden Prozess der Erinnerung sprachlich unterstreicht: Schön. Ich weiß noch das Café im übermächtigen Berlin. Den gasigen Schlaf des Lichtes. Und es waren viel [!] Leute darin, mit entschiedenen Gesichtern. Zeitungen und Kellner – ganz wie sichs gehört. Was man verzehrte, schmeckte etwas rauchig. […] Das Café lag im Dunkel [!] für mich, und ich selbst lag im Dunkel. Es war noch nichts zu unterscheiden. (DaCdW 173) In seiner Beschreibung spielt die Metaphorik von Licht und Dunkelheit in Zusammenhang mit Orientierungslosigkeit und einem fehlenden Selbstbewusstsein beziehungsweise mit der späteren Einsicht in seine persönlichen Ziele eine wichtige Rolle. So erinnert er sich daran, dass er zu Beginn seiner Zeit im Café des Westens, als er zum ersten Mal an den Kaffeehaussitzungen der expressionistischen Künstlervereinigung »Der Neue Club« von Dr. Kurt Hiller beiwohnt, sehr ängstlich und unsicher ist und nicht genau weiß, ob er dazugehört. Wenig später gewinnt er an Selbstvertrauen und fühlt sich integriert, empfindet jedoch weiterhin sehr starke, zwiespältige Gefühle den anderen Schriftstellern, dem Café, der Stadt und sich selbst gegenüber – denn ein jeder konnte Freund oder Feind sein: Es wurde in mir und um mich etwas heller, und ich erkannte besser, was mich umgab. Das war das Café meiner Schmerzen und Ahnungen, meiner Menschenscheu und meiner Ruhmsucht, Freunde und Verächter, später auch meiner ersten Leidenschaft. Und was ich da unter Schmerzen mitbrachte, war literarische Bewegung, Kampf gegen den 280 Vgl. Ricarda Dick: »Anmerkungen zu Unser Café«, in: Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, Bd. 3.2: Prosa 1903-1920. Anmerkungen, hg. v. Norbert Oellers/Heinz Rölleke/Itta Shedletzky, Frankfurt a.M. 1998, S. 253-254, S. 254.
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enormen Spießer von damals, der fast ebenso schlimm war wie der bestialische Snob von heute. Ja, es war schon ein seelenvoller Kampf gegen die Erlebnislosigkeit, gegen die Stumpfheit, Trägheit, Gemeinheit der Philisterwelt. Im Café, da war noch die Seele etwas wert. Ja, es war eine Erziehung zum Künstler in dieser Institution, an die ich wie an eine herbe Schule zurückdenke, nicht ohne ein Gefühl des Stolzes, sie durchgemacht zu haben. Es war ein Zufluchtsort und ein unparlamentarisches Parlament. Auch der Furchtsame, Schweigsame lernte das Reden und den Ausdruck. Man lernte sich auf das zu besinnen, was einem wirklich am Herzen lag. Es war eine Erziehung zu Gefühlswahrheit. (DaCdW 174f.) Betont wird besonders die Möglichkeit der Entwicklung, die er im Café des Westens durchlaufen hat und die aus der Erinnerung heraus sowohl schmerzlich und mühevoll als auch lohnenswert gewesen ist, da jeder Einzelne wertgeschätzt wurde. Der Erzähler würdigt also vor allem die freiheitliche und demokratische Stimmung sowie das wechselseitige Interesse der Gäste, welches bewirkt habe, dass man sich wahrgenommen gefühlt habe. Auffällig ist hier, dass entweder positive oder negative Gefühle genannt werden, jedoch niemals neutrale oder gleichgültige Empfindungen. Gleichzeitig wird deutlich, dass es sich bei den Gästen um Menschen mit verschiedensten Berufen, Ansichten und Vorlieben handelt, die alle ihre persönlichen Ziele verfolgen, auf den eigenen Vorteil bedacht sind und nur durch das Kaffeehaus als gemeinsames Element verbunden sind, in dem sie sich treffen, um miteinander zu diskutieren: Ich sprach von uns, doch was waren ›wir‹? Lauter verschiedene Menschen, die in demselben Kaffeehaus verkehrten. Wir saßen durchaus nicht zu scheußlichen Klumpen geballt und diskutierten. Es herrschte viel Distanz zwischen den einzelnen Menschen und Tischen, manchmal etwas wie eine offizielle Stimmung, die Meinungen oder Leistungen wurden genau gewogen, scharf kritisiert, es gab zwar enthusiastische Freundschaften zwischen einzelnen, aber im ganzen waren es verschiedene Leute, noch mit verschiedenen Meinungen, wenn sie Ähnliches sagten. (DaCdW 176) Der Erzähler empfindet diese Offenheit und Bereitschaft, mutig die eigene Meinung zu äußern, als besonderes Geschenk und Kennzeichen der Kaffeehausdiskussionen jener Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, selbst wenn damit eine Kontroverse hervorgerufen und möglicherweise das persönliche Einkommen verspielt würden, weil niemand mehr die eigenen Texte kauft. Diese Atmosphäre beschreibt er sehr bildlich: Man konnte sich ganz antikapitalistisch und akapitalistisch separieren. Man dachte nicht an Karrieren und Einnahmen. Man freute sich über Anerkennungen, ohne arrivieren zu wollen. Das war schon eine andere Atmosphäre. […] Das Café hatte ja nichts Spelunkenhaft-Anarchistisches: es war ein Treffpunkt unspießiger Menschen. […] Dort erschienen Dinge, die uns angingen und anregten. Kaffeehaus-Extrakte, in zwangsfreien, marktfreien Nächten empfangen. Dort blühte der Mut zum Abseitigen, Inwendigen. (DaCdW 177f.) Heute dagegen, also 1928, sei eine »schauderhafte Verspießung und Versportlichung« eingetreten, die der Kunst und dem guten Geschmack schade (vgl. DaCdW 178), weshalb
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
er es vorgezogen habe, dem Café den Rücken zu kehren, um in Heidelberg »mehr Weite, mehr Festigkeit« zu finden, als es in Berlin möglich gewesen wäre (DaCdW 181). Im Gegensatz zum Duktus der Einleitung, die von einem eher mündlichen Stil geprägt ist, entwickelt sich das Feuilleton im weiteren Verlauf der Erinnerung zur Schriftsprache hin; die durchgehende Verwendung des Präteritums, von Fremdwörtern und komplexen Sätzen kennzeichnen die letzten Zitate. Der Erzähler wird sich also im Verlauf der Erzählung immer sicherer in seiner Erinnerung an die verlebte Zeit im Café des Westens. Schließlich geht es ihm zum Ende hin darum, inwiefern eine realistische Wertung dieser Zeit aus dem Rückblick vorgenommen werden oder ob er seinem Gedächtnis nicht trauen kann: »Was ich schrieb, ist auch subjektiv sehr unvollständig. So war es vielleicht nicht. Aber so scheint es heut dreiviertelwegs wahr. Ohne Falsch und Gestaltung.« (DaCdW 181) So kehrt der Ich-Erzähler am Ende mit diesen kurzen Sätzen zurück zu der sprachlich hervorstechenden Unsicherheit der Einleitung, indem er seine eigene Glaubwürdigkeit hinterfragt. Wenn ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹ in ihren Erinnerungen an die Zeit im Kaffeehaus zurückdenken, intendieren sie also nicht nur, an einen bestimmten Gastraum mit verschiedenen Gästen, dem Kellner, der spezifischen Einrichtung und der Verköstigung zu erinnern, sondern sie lassen vielmehr ihr ganzes vergangenes Leben Revue passieren. Für sie bedeutet das Kaffeehaus ein Konglomerat verschiedenster, ineinander verwickelter Eindrücke, Wahrnehmungen und Gefühle, das die unterschiedlichsten Assoziationen wachruft, wie Heimat, Geborgenheit, Gemeinschaft, Inspiration und auch Konfrontation. Auch in Egon Erwin Kischs Feuilleton »Die gerächte Bohème« (1922) und Else Lasker-Schülers »Caféhausessay«281 »Unser Café. Ein offener Brief an Paul Block« (1913)« wird der Rauswurf der Künstlerinnen und Autoren aus dem ›neuen‹, renovierten Café des Westens wie die Verstoßung aus dem Garten Eden beschrieben: Sire, Sie möchten etwas aus unserem Café wissen, aber unser Café ist schon seit ungefähr Pfingsten nicht mehr unser Café. […] Herr Café-des-Westens hatte mir, uns allen, das Betreten seines Cafés ein für allemal untersagt. […] Unser Zorn liegt nun über dem Café des Westens wie über einem verlorenen Paradies, in dem wir nicht sündigten, aber das an uns sündigte. Als wir auf der Straße standen, gedachten wir mit Wehmut des Gründers unseres verlorenen Cafés. Herr Rocco hatte es sich als besondere Freude angerechnet, daß wir Künstler in seinen Räumen verkehrten; wir Künstler haben ihm das erste Feierkleid geschenkt, wir Künstler haben es zur Königin aller Cafés erhoben!282 Lasker-Schüler betont in ihrem »Brief« die ihrer Meinung nach große Bedeutung von Künstlern und Schriftstellerinnen für die Kaffeehäuser, die durch deren Anwesenheit eine enorme Anziehungskraft entwickeln. Ebenso erinnert sich Kischs Erzähler an die tolerante, demokratische Grundhaltung des Cafés, in dem vor und während des ersten
281 Eigene Genrebezeichnung der Autorin. 282 Else Lasker-Schüler: »Unser Café. Ein offener Brief an Paul Block«, in: dies.: Prosa 1903-1920. Kritische Ausgabe, Bd. 3.1, hg. v. Norbert Oellers/Heinz Rölleke/Itta Shedletzky, Frankfurt a.M. 1998, S. 291292, S. 291f. Im Siglenverzeichnis wird dieser Text unter der Sigle »UCB« nachgewiesen.
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Weltkriegs ›Jedermann‹ Stammgast gewesen sei und wo alle mit ihren persönlichen Vorlieben auf ihre Kosten gekommen seien: Hier pflegten alle zu sitzen, bevor sie bekannt oder der Gestellungskommission vorgeführt wurden, hier pflegte alles zu sitzen, was die ›Aufmachung‹ und den ›Betrieb‹ verabscheute, diese unübersetzbaren Götternamen Berlins, was sich nicht frei fühlte im eleganten Kaffeehaus mit Konzerten; alles, was etwas mit Kunst zu tun hatte oder zumindest dazugehören wollte. In denen, die kurzgeschnittene Haare hatten, Zigarren rauchten und Stehkragen trugen, ließen sich leicht Frauen erkennen, und die, die schmachtende Blicke um sich warfen und lange Haare und Anzüge mit freiem Hals trugen, waren Männer. Außerdem hatte jeder seine persönliche Note, mancher Mann eine Halskette, manche Frau ein Monokel, dieser den Expressionismus, jener den Anarchismus, je nachdem. Alles war sehr originell, und wenn ungünstiges Wetter am Sonntag den Besuch des Zoologischen Gartens nicht erlaubte, so besuchten die Bürger das C. d. W. und verspotteten die dortigen Narren.283 Gleichzeitig unterstreicht er den extremen Gegensatz zwischen dieser Kaffeehauswelt der Bohemiens, Künstlerinnen, Schauspieler sowie Schriftstellerinnen und der bürgerlichen Welt, deren Angehörige zum Zeitvertreib und als Alternative zu einem ZooBesuch ins Kaffeehaus gehen, wo sie sich über die Kunstschaffenden lustig machen. Da jedoch auch der Kaffeehausbesitzer Ernst Pauly zur vornehmen Bürgerschicht Berlins gehören will, entscheidet er sich, nachdem sein Café durch die Anwesenheit der Künstler, Schauspielerinnen und Autoren berühmt und er vermögend geworden ist, mit dem Café des Westens in ein anderes Gebäude umzuziehen, um aus dem verraucht-gemütlichen Café ein vornehmes Café-Konzert zu machen, in dem er die gut zahlende Bürgerschicht als Gäste erwartet.284 Der Erzähler schreibt sehr ironisch, verspottet Pauly für seine Arroganz und äußert Mitleid und Verständnis für die obdachlos gewordenen, ehemaligen Stammgäste:
283 Egon Erwin Kisch: »Die gerächte Bohème«, in: ders.: Läuse auf dem Markt. Vermischte Prosa, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 10, hg. v. Bodo Uhse und Gisela Kisch, Berlin/Weimar 1985, S. 311-313, S. 312. Der Prosatext wurde erstmals am 14. Juni 1922 in der tschechischen (früher tschechoslowakischen) Tageszeitung Lidové noviny veröffentlicht, Nr. 294, S. 1-2. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »DgB« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 284 Allerdings hatte Pauly nicht bedacht, dass die Anwesenheit der Künstler und Schriftstellerinnen viele andere zahlende Gäste angezogen hatte, wovonder Wirt wirtschaftlich profitiert hatte. Vgl. »Allmählich überzogen Scharen von Geisteshelden aller Fakultäten das Kaffeehaus, sassen und lagerten an den Marmortischen am helllichten Tage und in tiefdunkler Nacht, und wenn es hochkam, hatten sie eine Zeche von 55 Pfennig gemacht, in die nur drei Schokoladenkakes eingerechnet waren […]. Aber sie sassen an den Marmortischen wie an den Wassern Babylons und weineten über die Welt und über alles Bestehende und schimpften und zeichneten Karikaturen auf den Tischdecken und auf den Marmorplatten. Die Gehirnblitze aber flogen in das Nichts und zuckten krampfhaft im Weltall auf, die Karikaturen und Zeichnungen jedoch verbot der Wirt den Kellnern wegzuradieren, und er liess schnell Glasplatten darüberschrauben. Zum ewigen Andenken und damit er für den Ausfall der vielen nicht bezahlten Schokoladenkakes doch wenigstens etwas hätte.«, in: Edmund Edel: »Die Invasion der Bohème«, in: Ernst Pauly (Hg.): 20 Jahre Café des Westens. Erinnerungen vom Kurfürstendamm, Siegen 1986, S. 12-13, S. 12.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Kurz, der Kaffeehausbesitzer wurde zum reichen Manne, und sobald jemand reich geworden ist, will er das auf noble Art unter Beweis stellen. Deshalb entschloß sich Herr Pauly, die Künstler hinauszuschmeißen, die alten bemalten Marmorplatten zu verkaufen, die in allen Ehren verräucherten Wände mit geblümten Tapeten zu beziehen und überhaupt recht fein zu sein mit sehr viel Goldüberzug und Samt und Kitsch und mit einer Musikkapelle im Frack und mit hohen Preisen. Das war gar nicht schön von ihm, denn an der armen Boheme hatte er ja all sein Geld verdient und konnte auch weiterhin viel Geld verdienen. Doch nicht genug damit, daß er sie heimatlos machte, er lachte sie obendrein auf ganz geschmacklose Weise aus. Als er sein neues, geschniegeltes und gebügeltes Lokal eröffnete, ließ er überall ein Doppelplakat anschlagen: Auf der einen Seite war eine Gruppe hagerer langhaariger Künstler karikiert, und darunter stand: ›Diese da sind traurig‹. Auf der andern Seite waren Lebemänner mit Monokel und Weltdamen mit hohen Absätzen in idealisierter Pose dargestellt, und darunter stand: ›Diese frohlocken‹. (DgB 312f.) Im Folgenden wechselt der Erzähler plötzlich ins Präsens, um die Veränderungen zu beschreiben, die sich für die Bohemiens aufgrund des Verlustes ihres Stammcafés und des bequemen Lebens dort ergeben. Im Romanischen Café, das als Ausweichquartier fungiert, werden sie nicht mit offenen Armen empfangen, sondern nur geduldet, erhalten keinen Kredit und befinden sich nicht mehr untereinander, sondern mischen sich mit anderen Berufsgruppen, die keinerlei Interesse an ihrer Kunst haben: Die als traurig Abgebildeten waren tatsächlich traurig: Die Bohemiens gehen jetzt ins Romanische Café, in dessen kuppelförmiger Halle sie unter Kettenhändlern von der Rennbahn und Börsenspekulanten ein ziemlich geduldetes Dasein fristen. Der Kaffee muß sofort bezahlt werden, und das Gebäck ist genau abgezählt, und traurig denken sie an das schöne alte Café des Westens zurück… (DgB 313) In diesem Feuilleton Kischs liegt der Fokus also nicht so sehr auf der Erinnerung des Erzählers an vergangene Zeiten, sondern jener stellt vielmehr die Erinnerung der Protagonisten und Protagonistinnen des Textes dar und nimmt sich selbst zurück, abgesehen von dem ironischen beziehungsweise mitleidsvollen Tonfall. Dieser wird zum Ende hin spöttisch, wenn der Erzähler schadenfroh davon berichtet, dass Herrn Pauly die gut betuchten, bürgerlichen Gäste ausbleiben und ihm seine eigene Werbung zum Verhängnis wird: Die Musikkapelle spielt die schönsten Shimmys, die Plüschmöbel glänzen im schönsten Gold und Bordeauxrot, die Kellner tragen blendende Vorhemden, der Vorgarten hat herrliche Strandmöbel, und es fehlt nur noch das eine: die Gäste. Aber eben das scheint den Gastwirt zu ärgern. Er macht eine recht traurige Miene, wenn er am Eingang seines leeren oder halbleeren Vorgartens steht. Und die Miene wird wütend, wenn er seine ehemaligen Stammgäste vor dem Gitter stehen, ironisch lächeln sieht oder gar den Spruch ›Diese da sind traurig‹ zitieren hört. Die Wanderungen zum Gitter des ehemaligen C. d. W. sind jetzt ein beliebtes Vergnügen, der einzige Lichtblick in diesen unerhört teuren Zeiten. (DgB 313)
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Die in diesem Kapitel besprochenen Texte von Egon Erwin Kisch, Ernst Blass und Else Lasker-Schüler könnten aufgrund ihres kleinen Formats, der Lokalisierung des Geschehens im Kaffeehaus, der Schilderung der Atmosphäre und des ironisch-mündlichen Duktusʼ als ›Kaffeehausliteratur‹ im Sinne der ersten Kategorie bezeichnet werden. In allen drei Texten erfolgt eine Thematisierung der Erinnerung an vergangene Zeiten im Kaffeehaus, auf die sich die Erzählenden beziehungsweise die Hauptpersonen melancholisch zurückbesinnen. Gefühle wie Trauer und Wut werden geäußert, weil die mit dem Kaffeehaus verknüpfte und als annehmlich empfundene Vergangenheit für immer vorbei zu sein und dieser Verlust eine Auswirkung auf das weitere Leben zu haben scheint. Dass der Auszug aus dem Stammcafé in Else Lasker-Schülers oder Egon Erwin Kischs Texten nicht freiwillig geschehen ist, sondern durch den Willen des Kaffeehausbesitzers und dessen Pläne zur Renovierung und Erneuerung des Lokals, wird durch den vorwurfsvollen, bitteren Tonfall deutlich. So findet sich an vielen Stellen eine positive Erwähnung des ›Alten‹, ›Gewohnten‹ und eine negative Bewertung des ›Neuen‹, ›Unerwarteten‹. Auch dies kann als Kennzeichen der ›Kaffeehausliteratur‹ betrachtet werden. Im Folgenden sollen Texte besprochen werden, in denen die Renovierung der gewohnten Kaffeehausumgebung und das Verschwinden eines beliebten Kaffeehauses aus dem Straßenbild nicht nur als traumatisch erlebt werden, sondern wo eine Veränderung des urbanen Raumes beziehungsweise des Inneren eines Lokals den Zerfall einer zuvor zusammengehörigen sozialen Gruppe zur Folge hat.
V.1.6.2.
Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Geborgenheit – das Stammkaffeehaus aus der Rückschau
Mais, dans la rêverie du jour elle-même, le souvenir des solitudes étroites, simples, resserrées nous sont des expériences de l’espace réconfortant, d’un espace qui ne désire pas s’étendre, mais qui voudrait surtout être encore possédé. On pouvait bien jadis trouver la mansarde trop étroite, la trouver froide l’hiver, chaude l’été. Mais maintenant, dans le souvenir retrouvé par la rêverie, on ne sait par quel syncrétisme, la mansarde est petite et grande, chaude et fraîche, toujours réconfortante.285 Gaston Bachelard weist hier auf die natürliche Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses hin, die dazu neigt, Erlebnisse und Orte, die in der Vergangenheit eine Bedeutung für den Menschen hatten, zu verherrlichen, die negativen Aspekte auszublenden und den erinnerten Raum ausschließlich mit positiv besetzten Gefühlen wie Trost und Geborgenheit zu verknüpfen.286 Dieser Prozess dient nicht nur der seelischen Gesundheit eines Menschen, dessen Gedächtnis in der Lage ist, schlechte Erfahrungen so sehr zu verdrängen, dass sie wie vergessen erscheinen, sondern auch der Rehabilitierung der Vergangenheit und der Begründung von Identität im Sinne einer sozialen oder örtlichen Zugehörigkeit. Das heißt, diejenigen, die von ihren Erinnerungen berichten,
285 Bachelard : La poétique de l’espace, S. 29. 286 Möglich ist natürlich auch das genaue Gegenteil, also dass nur die negativen Erinnerungen haften bleiben.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
erzählen nur das, woran sie sich aktiv erinnern wollen oder können, bedingt durch die Inhalte, die das Gedächtnis abgespeichert hat. Somit ist mit dem Akt des Erzählens, also mit der Auswahl und der Art des Erzählens, schon die Realitätswerdung, eine subjektive Bewertung und die soziale Verbreitung der persönlichen Retrospektive verbunden. Zudem erfolgt der Akt des Erzählens gemäß Robert Krause in Abhängigkeit von den sich mit Blick auf eine gesellschaftliche Gruppierung ergebenden Anknüpfungspunkten, so dass eine gemeinsame Vergangenheit als Basis der Gruppenzugehörigkeit entsteht, auf die immer wieder Bezug genommen werden kann: Dadurch, dass man etwas erzählt und anderen zugänglich macht, wird explizit auch die Erinnerungswirklichkeit der erzählten Inhalte postuliert. Sie bilden als tradierte Erinnerungen und Erzählungen einen Verbindungs- und Anknüpfungspunkt für diejenige Gruppe, in der die erzählten Inhalte zirkulieren und die sich über die gemeinsamen Erinnerungen und Erzählungen auf eine gemeinsame Vergangenheit und letztlich auf eine gemeinsame historisch gewachsene Identität als Gruppe verständigen kann. Erinnern und Erzählen sind kulturelle und konstruktive Prozesse, sie begründen narrative Wirklichkeit und stiften damit sowohl persönliche als auch soziale bzw. kulturelle Identität.287 So wird in der folgenden Textanalyse aufzuzeigen sein, dass die Funktion des Erinnerns an bestimmte Kaffeehäuser sich darin begründet, dass die Bedeutung des Ortes für die sich erinnernden Schriftsteller und Schriftstellerinnen ausgedrückt wird und diese sich damit in eine soziale Gruppe integrieren, die an einer bestimmten Lokalität verortet ist. So ist in den literarischen Texten oft die Rede von den als gemütlich empfundenen, aber etwas heruntergekommenen Stammcafés der Autorinnen und Autoren, die nun nicht mehr existieren. Für die meisten von ihnen ist es jedoch trotz dieser Schäbigkeit eine fürchterliche Vorstellung, an ihrem Kaffeehaus, welchem sie mental ein Denkmal gesetzt haben, irgendetwas zu verändern, zu modernisieren oder zu verschönern. Weil die eigene Wahrnehmung von Künstlern und Feuilletonistinnen laut Ulrike Zitzlsperger meist mit einem bestimmten Café verknüpft ist und jeder Wandel als Vorbote eines sich (zum Schlechteren) verändernden Zeitgeistes gesehen werden könne288 , begegneten Gäste daher jeglicher Modernisierung oder Umgestaltung289 mit einem Nachruf auf das Stammcafé, in dem die Renovierung des Cafés als »Heimatsverlust« angeprangert wird:
287 Krause: Lebensgeschichten aus der Fremde, S. 100. 288 Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 77. 289 Vgl. Soma Morgensterns Feuilleton »Wien. Natürlich: das Kaffeehaus« (1930): »Im Zug einer hier so genannten ›Neu-Renovierung‹ wurde das kleine gemütliche Lokal mit einer Palme dekoriert. Die Palme im Kübel reizte den Architekten, und er reklamierte den Hinauswurf der Zierde aus dem zum Salon entwürdigten Lokal. Und verließ es unerbittlich, als der Wirt zum Schutz der Palme den Geschmack der Fremden entgegenzuhalten wagte. Wer je unter Palmen Kaffeedunst geschluckt hat, wird dem Architekten von Herzen zustimmen.«, in: Soma Morgenstern: »Wien. Natürlich: das Kaffeehaus«, in: ders.: Dramen, Feuilletons, Fragmente, hg. v. Ingolf Schulte, Lüneburg 2000, S. 248252, S. 248f.
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Ein solcher Ort hat Heimatscharakter, seine Qualität beruht auf der Vertrautheit der Einrichtung, und er erlaubt die Assoziation mit ritualisierten Handlungen, zu denen auch der für das persönliche Wohlbefinden ausschlaggebende Oberkellner gehört.290 Auch für die in Berlin lebende Schriftstellerin Nora Bossong ist das Café Sur in der Schöneberger Akazienstraße vielmehr als ihre eigene Wohnung oder die Stadt an sich eine Heimat, also einer der wenigen Orte, an denen ich mich nicht nur wohlfühlte, sondern an denen ich wirklich zu Hause war, und das bedeutet vielleicht umso mehr, wenn man eher zu den Getriebenen gehört, die in Texten eine Heimat haben, aber an kaum einem Ort.291 Der Titel ihres am 23. Juli 2019 im Tagesspiegel erschienenen Artikels »Ein letztes Glas im Gehen«, welcher wohl auf eine Zeile des Liedes »Gute Nacht, Freunde« von Reinhard Mey Bezug nimmt, betont einerseits den Charakter dieses Lokals als Ort der Gemeinschaft mit engen und entfernteren Bekanntschaften, andererseits aber auch den Aspekt des Abschiednehmens. Nachdem die bisherigen Betreiber das Café an neue Pächter übergeben hätten, habe sich nicht nur die Inneneinrichtung, sondern der ganze Charakter verändert, so dass die Autorin nun an »Entzugserscheinungen« (GiG) leidet, weil ihr das ursprüngliche Café so sehr fehlt. Sie erklärt das Geheimnis eines guten Cafés mit der »Verbindung von Ruhe und Gesellschaft« (GiG) und beantwortet damit die Frage, warum sich insbesondere Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die »einer tendenziell vereinsamenden Tätigkeit nachgehen« (GiG), zuvörderst zu ihrem Stammcafé hingezogen fühlen, einem »Ort des gelassenen Aufgehobenseins« (GiG), wie Bossong es nennt. Da der tägliche Gang zum und der Aufenthalt im Café Sur für sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern eine Lebensnotwendigkeit geworden ist, empfindet sie nun nach der Übergabe an andere Pächter nicht nur einen Verlust, sondern nimmt eine Veränderung der Straßenecke sowie ihres ganzen Tages- und Wochenrhythmusʼ wahr. Neben der menschlichen Gemeinschaft, die sich im Café durch die Belegschaft und die Bekanntschaft mit anderen Stammgästen ergibt, mit denen sie die »schlechten Abende« und »guten Abende« (GiG) an der Bar durchgestanden habe, sowie dem besonderen Geruch des Cafés und dem »Geräusch, wenn die Bank von draußen reingeholt« werde (GiG), besteht für sie die Atmosphäre des Cafés insbesondere darin, dass sie und die anderen »Geistesmenschen« (GiG) in Ruhe über ihre Texte nachdenken, die Gedanken ordnen und sich inspirieren lassen könnten, beispielsweise durch einen leeren Blick auf die andere Straßenseite von ihrem Stammplatz aus. So liegt der Fokus bei Bossong deutlich auf den visuellen Reizen und dem Blick, den der Gast verträumt schweifen lassen oder scharfstellen kann, je nach seiner persönlichen Lage und Vorliebe: Oft blickte ich geistesabwesend hin, wenn ich nicht weiterkam mit einem Text, dann wieder auf der Suche nach etwas, einer Bewegung, einem Detail, das mir im Text zu fehlen schien. Und über all die Jahre haben sich mir diese Bilder so fest eingeprägt 290 Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 76f. 291 Nora Bossong: »Ein letztes Glas im Gehen«, in: Der Tagesspiegel, 23.07.2019, Nr. 23892, S. 20. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »GiG« nachgewiesen.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
wie vielleicht sonst nur jene der Kindheit, die auch dann, wenn man sie nicht erwartet, plötzlich vor einem auftauchen: die Farben der Ölflaschen, die im oberen Regal über der Bar stehen, die Kissenberge, die auf der Bank liegen, der hohe mit Mosaiksteinen beklebte Tisch mit den Zeitungen. (GiG) Nora Bossongs Text kann als ›Kaffeehausliteratur‹ par excellence angesehen werden, da sie nicht nur die Atmosphäre des Cafés beschreibt, sondern mit ihm in Interaktion tritt und damit ihre Erinnerungen an das Café und sowohl ihre persönliche und emotionale als auch ihre rationale Beziehung zu diesem Lokal darstellt. Diese Rückblicke verbinden sich zu einem Gesamtbild eines Raumes und seiner Atmosphäre. Das Café, das aufs Engste mit ihrem Leben und besonders ihrem Beruf als Schriftstellerin verknüpft ist, hat eine so intensive Bedeutung für sie, dass sie nicht nur mit ihm interagiert, sondern es personifiziert und sich berufen fühlt, in der Zeitung einen »Nachruf zu Lebzeiten« (GiG) zu verfassen; unerwähnt bleibt dabei, in welche Richtung sich das Café Sur verändert hat. Auch die 1894 in Berlin geborene Schriftstellerin, Journalistin und Gerichtsreporterin Gabriele Tergit beschreibt in ihrem Feuilleton »Rat an Cafetiers«292 die Atmosphäre eines Berliner Lokals, des Café Continental, welche von ihr im Nachhinein aus der Erinnerung heraus als ›Heimat‹ idealisiert wird. Tergit beziehungsweise die Erzählerin hat während einer Auslandsreise aus dritter Hand davon erfahren, dass das beliebte Café aufgrund einer geplanten Renovierung geschlossen worden sei. Die Art, wie sie von der Nachricht erfährt, trägt bei ihr zu einer noch größeren Betroffenheit bei, da sie die Schließung nicht selbst miterleben kann. Die von ihr beschriebene, jetzt vergangene Atmosphäre bezieht ihren Reiz einerseits aus der individuellen Bedienung, der Gemütlichkeit und menschlichen Wärme, mit der jeder Gast behandelt worden sei, und andererseits aus dem Gegensatz zur eigenen kleinen Wohnung: Im Ausland erfuhren wir, daß das Conti geschlossen worden ist. Das Café Continental hat jene dämmrige Atmosphäre, die allein dem Geist zuträglich ist. Das Zuhause ist ein modernes, möbliertes Zimmer, winziger Käfig – vom Bett aus konnte man die Wäsche aus dem Schrank nehmen. Das Zuhause ist ein schlecht zu heizender, altmodischer Raum, viel zu voll oder viel zu leer, ohne jede Gemütlichkeit, mit häßlichen Lampen. Aber im Café Continental war Wärme, eine Tasse Kaffee, eine Schale Haut, zwei Eier 292 Gabriele Tergit: »Rat an Cafétiers«, in: dies.: Atem einer anderen Welt. Berliner Reportagen, hg. v. Jens Brüning, Frankfurt a.M. 1994, S. 87-88. Leider war das genaue Datum der Erstveröffentlichung (möglicherweise im Berliner Tageblatt) trotz intensiver Recherche nicht zu ermitteln. Der Klappentext des Suhrkamp-Verlags gibt nur vage an, dass das Entstehungsjahr aller Texte zwischen 1920-1950 liegt. Vgl. die Rezension des Bandes von Stefan Berkholz: »Doch daß Suhrkamp keinerlei Textnachweis gegeben hat, ja nicht einmal die Entstehungsdaten der Texte, ist unverständlich. Man weiß nun nicht, aus welcher Zeitung ein Text stammt und in welcher politischen Situation dieser Artikel gerade so und nicht anders veröffentlicht wurde. Ein Lesebuch eben, sagt Suhrkamp. Genau eine Seite zuwenig, antworten wir.«, in: Stefan Berkholz: »Die Quasselstrippe. Zum 100. Geburtstag der Feuilletonistin Gabriele Tergit«, in: DIE ZEIT, 04.03.1994, URL: https://www. zeit.de/1994/10/die-quasselstrippe (19.07.2019). Tergits Text »Rat an Cafétiers« ist am 22.2.1934 in der deutschsprachigen Zeitung Bohemia, welche von 1828 bis 1938 in Prag erschien, wiederveröffentlicht worden. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »RaC« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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im Glas und Gustav, der Ober, ein guter Mensch, eine anständige Seele, immer bereit, nicht nur Zeitungen zu bringen, sondern ein persönliches Wort zu sprechen. (RaC 87) An Tergits Beschreibung wird ersichtlich, dass das Café nicht durch eine gute Ausstattung, sondern durch eine Geborgenheit spendende, behütende Atmosphäre ihre Bedeutsamkeit erhält – eine Wertzuschreibung, die nach Gaston Bachelard jedoch keine rationale, objektive Grundlage enthält, sondern hauptsächlich aus einem Gefühl heraus entsteht.293 Die persönliche Note des Conti geht Tergits Meinung nach in der Folge durch eine Renovierung verloren, da die flüchtige Atmosphäre sich ausschließlich in Form des menschlichen Zusammenlebens begründe und nur durch das verräucherte Erscheinungsbild des Lokals und die abgelebten Möbel greif- und erinnerbar gemacht werden könne. Dass Ästhetik und Komfort keine Rolle im Hinblick auf die Atmosphäre spielen, wird anhand ihrer Schilderung der ursprünglichen Einrichtung offensichtlich, wenn sie implizit oder auch ganz direkt schreibt, dass das Café aufgrund der einfachen, nicht gepolsterten Holzstühle eher unbequem und die Dekoration mit Plastikblumen recht unansehnlich gewesen sei, die schwache Beleuchtung nur aus nackten Glühbirnen bestanden habe, da kein Tageslicht und kaum frische Luft, sondern vielmehr der beißende Geruch von verrottendem Müll eingedrungen sei. Der Wert des Lokals für die Gäste besteht in der Erinnerung der Erzählerin also ausschließlich aus dem Zusammenspiel zwischen Wirt und Gast: Aber nun hören wir, daß das Conti eine neue Möblierung erhalten soll. Man soll derartige Cafés nicht neu möblieren, man soll sie sogar nicht neu anstreichen. Ein Berliner Cafetier [!] hatte eine alte Konditorei, in der sich hauptsächlich Künstler trafen, es war ein verräuchertes Lokal, schlecht gelüftet durch eine Klappe, die auf den Hof ging, in dem gerade unter der Klappe die Mülleimer standen. Der Hof war so eng, daß die Sonne höchstens bis zur zweiten Etage kam. Es war ewig dunkel in der kleinen Konditorei, nur ein paar irisierende Tulpen und ausgebrannte elektrische Birnen beleuchteten das Ganze. Rote Marmortische standen da, kleine Holzstühle ohne Armlehnen mit Rohrgeflecht. Das war alles. Aber der Wirt kam aus Wien, kannte jeden Gast und, was das wichtigste war, jeden seiner Artikel, Kompositionen, Dramen und Bilder. Eines Tages aber kam er auf die Idee, das an den Künstlern verdiente Geld dazu zu verwenden, es für sie wieder auszugeben, indem er aus dem Café einen modern möblierten Raum machte. (RaC 87) Obwohl der Besitzer des Café Conti im Gegensatz zu Kischs Gastwirt mit dem Café nicht an einen anderen Ort umzieht und die Absicht gehabt hat, das Ergebnis der Renovierung des Kaffeehauses seinen eigenen Stammgästen zugute kommen zu lassen, erreicht er damit das vollkommene Gegenteil, weil er nicht erkennt, dass der Reiz des Lokals nicht darin bestanden hat, ein modernes, hell renoviertes Kaffeehaus mit bester Ausstattung zur Verfügung zu stellen. Vielmehr ist die Atmosphäre durch Individualität und Menschlichkeit gekennzeichnet gewesen, die nun laut der Erzählerin mit der
293 Vgl. Bachelard : La poétique de l’espace, S. 18.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Modernisierung verloren gegangen und durch Gleichförmigkeit und Gesichtslosigkeit ersetzt worden ist, weshalb Stammgäste das Café fortan mieden: Das Café wurde hell gestrichen. Die Wände wurden bemalt. Reizende helle Möbel kamen hinein, bunte weiche Sessel. Es war wirklich ein hübsches Kaffeehaus. Aber es ging keiner von den Alten mehr hinein. Es kamen Damen, es kamen Geschäftsleute, aber Stammgäste blieben weg. Es war ihnen zu neu, zu elegant, es störten sie die Tischtücher, die Blumensträuße. Es störte sie das Neue – als Revolutionäre liebten sie keine Neuerungen – in ihren Kaffeehäusern muss alles hundert Jahre alt sein, die Fensterscheiben angeräuchert, und man muß die Reste seiner Raucherei auf den Fußboden werfen können, ohne Angst davor zu haben, es könnten Teppiche verletzt werden oder helle Möbel. (RaC 87f.) Neben einem leicht ironischen Tonfall, der die stereotype Bewertung des revolutionären, sich dem Fortschritt immer verweigernden ›Künstlers‹ relativiert, wird in Tergits Darstellung jedoch auch eine zögerliche Kritik an den Gästen deutlich, da diese eine Renovierung unter anderem ablehnten, weil sie nicht bereit seien, auf die Möbel und den Fußboden zu achten, womit sich auch eine Respektlosigkeit dem Lokal und dem Gastwirt gegenüber ausdrückt. Dass eine Renovierung heutzutage auch anders, nämlich auf behutsame und dem Publikum entgegenkommende Weise, möglich ist, zeigt der FAZ-Artikel »Madrid hört auf, Madrid zu sein«294 von Hans-Christian Rössler über das alteingesessene Kaffeehaus Comercial in Madrid, das 2017 nach einer zweijährigen Renovierungszeit wiedereröffnet wurde. Das 1887 begründete Café bedeutet für viele Stammgäste ein Kontinuum und Zuhause, ein Ort der Heimat, der für sie geradezu die Stadt ausmacht, wie der Titel zeigt. Deshalb war die Besorgnis darüber, ob das Café nach der Renovierung seinen alten, besonderen Charakter bewahren würde, sehr groß. Im Text werden die an das Kaffeehaus und die Art der Neueröffnung geknüpften Gefühle der Gäste deutlich: Als das Kaffeehaus neben der Glorieta de Bilbao vor zwei Jahren ohne Vorwarnung schloss, kamen sich viele Bewohner Madrids vor, als habe man sie aus ihrer Heimat ausgesperrt. Wehmütig und oft persönlich gekränkt hefteten Stammgäste herzförmige rosafarbene Zettel mit ihren Abschiedsbotschaften an die Tür. Besonders groß war die Sorge, dass eine Fastfood- oder Kaffeekette das Traditionscafé übernimmt und in einen gesichtslosen Ort verwandelt, von denen es auch in Spanien schon zu viele gibt. (MhaM) Hier wird die große Bandbreite der Emotionen offenbar, die mit dem traditionsreichen Lokal eng verbunden, aber im Anschluss an Bachelard295 nicht rational zu erklären sind: Die Menschen sind »schockiert«, »wehmütig« und »persönlich gekränkt«, sie haben erwartet, dass man sie vor der Schließung persönlich informiert hätte und nehmen mit
294 Hans-Christian Rössler: »Madrid hört auf, Madrid zu sein«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.2017, URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/kaffeehaeuser-in-madrid-kaem pfen-ums-ueberleben-15048031.html (14.06.2019). Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »MhaM« nachgewiesen. 295 Vgl. Bachelard : La poétique de l’espace, S. 29.
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fast kitschigen, ihre Trauer, Besorgnis und Wut ausdrückenden Zetteln Abschied von diesem Kaffeehaus, als würden sie sich von einer geliebten Person verabschieden. Die Personifizierung des Kaffeehauses begründet sich darin, dass jenes durch seine Einzigartigkeit aus der Masse der städtischen Lokale heraussticht, welche sich durch Einheitlichkeit und Charakterlosigkeit auszeichnen. So hatte bei den meisten Menschen die Angst davor überwogen, dass das Café durch die Renovierung und die Übergabe des Familienbetriebes an die neuen Betreiber und damit die Stadt »noch vulgärer, nüchterner und unpersönlicher« (MhaM) werden würde, weil die urbane Gestaltung nunmehr finanzkräftigen Investoren obliege. Als das Café 2017 wiedereröffnet, sehen die Menschen sich zunächst mit einer Fülle von Gefühlen in Bezug auf das Lokal konfrontiert: Sie sind einerseits neugierig, ob die Renovierung wohl gelungen sei; andererseits fürchten sie, enttäuscht zu werden, sind vorsichtig und misstrauisch. Als sich herausstellt, dass das altehrwürdige Kaffeehaus auch nach der Modernisierung nicht mit einer Kaffeehauskette zu vergleichen ist, da die besondere nostalgische Einrichtung und damit das »historische Erbe«, bestehend aus Glaslampen, Spiegelwänden, marmornen Tischen und der Theke, erhalten geblieben ist, können die Menschen erleichtert aufatmen – so als hätten sie einen lange vermissten, inständig herbeigesehnten Freund wiedergewonnen: Am Wochenende muss man Geduld mitbringen, um einen Platz an einem der Tische zu bekommen. Die Neugier ist groß, seit in Madrid die Nachricht die Runde machte, dass das ›Comercial‹ wieder öffnet, seit 1887 eine Institution in der spanischen Hauptstadt. Einigen Madrilenen war die Angst vor einer Enttäuschung anzumerken. Sie verabredeten sich mit Freunden und wagten gemeinsam einen Erkundungsbesuch. Aber bald machte Erleichterung der Skepsis Platz. […] Im Comercial aber gingen sie sehr behutsam vor, renovierten und modernisierten, fast ohne den nostalgischen Flair wegzusanieren. Vieles blieb beim Alten: […] »Es ist fast wie früher, nur etwas edler. Daran muss ich mich erst gewöhnen«, sagt ein Gast, der als Student schon nach den Vorlesungen kam und mit seinen Freunden oft den Rest des Tages dort verbrachte. (MhaM) Hier wird noch einmal das Augenmerk auf die Bedeutung von Permanenz und Kontinuität in Bezug auf ein Kaffeehaus gelegt: Wenn ein traditionelles Lokal eine sehr lange Zeit in einer Stadt verwurzelt ist, entwickeln die Stammgäste eine enge Beziehung zu diesem Ort, der sie durch viele Lebensabschnitte hindurch begleitet hat und dadurch mit vielfältigen Erinnerungen verknüpft ist. Die Erinnerung führt gleichzeitig dazu, wie im letzten Satz deutlich wird, dass Vergleiche zwischen ›früher‹ und ›heute‹ angestellt werden – die damit verbundene Bewertung der Kunden und Kundinnen kann einerseits zu strukturellen Veränderungen innerhalb des Kaffeehausbetriebes führen, andererseits mit einer Wandlung des Kundenstamms einhergehen – als beständiger »Drehpunkt«296 fungiert in diesem Fall jedoch das Kaffeehaus, welches an seinem ursprünglichen Platz verortet bleibt. Anders verhält sich dies, wenn das Kaffeehaus selbst den ›Ort wechselt‹ beziehungsweise von seinem angestammten Platz ›verschwindet‹, wie sich anhand der im Folgenden untersuchten Feuilletons von Soma Morgenstern und Siegfried Kracauer zeigen 296 Simmel: »Soziologie des Raumes«, S. 150.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
lässt. In Morgensterns Feuilleton »Wiener Nachrichten«, welches am 20. März 1932 in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde, wird der Wechsel im Wiener Stadtbild sehr bildreich beschrieben: Da gab es in der Kärntner Straße […] ein gutes, altes, sehr beliebtes Kaffeehaus, ›Fenstergucker‹ genannt […]. Dem Kaffeehaus ging es gut bis zum letzten Atemzug. Es hatte einen Stamm treuer heimischer Gäste, und auf die Fremden sahen sich durch die Spiegelscheiben dieses Lokals den Korso sowohl als auch den Strich der Straße gern stundenlang an. Dennoch mußte es sterben. Weil just in seinen Hallen eine Bankfiliale mit ihren Kontors sich einnisten wollte. Und es geschah, daß bei großer Teilnahme der Bevölkerung ein beliebtes Kaffeehaus begraben wurde. Jahre und Banken vergingen. Und nun ist vor ein paar Tagen das gute alte Café ›Fenstergucker‹ auf den Ruinen der Bankfiliale auferstanden. So wechseln – husch, husch, heutzutage – Grab und Wiege, Wiege und Grab auf der Stelle. Der Auferstehungsjubel war dem Ereignis gewachsen. Die Freude ist nicht leicht objektiv zu ermessen: zu sehr nehme ich persönlich teil an dieser Freude.297 Das beliebte Kaffeehaus mit dem metaphorischen Namen Fenstergucker, das plötzlich – »husch, husch« – aus dem Stadtbild verschwindet, weil sich eine Bankfiliale in seinen Räumlichkeiten einrichtet, wird personifiziert und zu einem übernatürlichen Wesen erhoben, welches dahinscheiden und kurz darauf wieder auferstehen kann: So muss es im »letzten Atemzug« »sterben« und wird anschließend wie ein Mensch »begraben«. Wenig später folgt die ›Auferstehung‹, das heißt die Neueröffnung des Cafés und damit die Schließung der Bank, die sich zuvor im Gebäude »eingenistet« hatte. Das Kaffeehaus ›lebt‹ und ›stirbt‹ nicht nur wie ein menschliches Wesen, sondern hat auch ein Gesicht, statt Fenster hat es große, polierte Augen, durch die Passanten hinein- und die Gäste hinausschauen und selbst betrachtet werden können. Besonders deutlich wird hier auch im Gegensatz zu den im vorherigen Text dargestellten echten Gefühlen und der persönlichen Betroffenheit der Gäste in Bezug auf die Schließung und Modernisierung eines beliebten Kaffeehauses die pure Sensationslust der Kunden und Kundinnen, die nach der Neueröffnung mehr aus Neugierde als aus einer engen, emotionalen Beziehung heraus in das Kaffeehaus strömen: Klar gesehn: ein Haus mit großen, blanken, offenen Augen, ein Kaffeehaus, muß nicht gerade so schlicht und schön ›Fenstergucker‹ heißen, um den Passanten besser anzusprechen als ein Haus mit blinden Fenstern, als eines das sich selbst blendet, damit man nicht einsähe, was da alles drinnen getätigt wird. Menschen, die hinter sauberen Spiegelfenstern sitzen, sehen und gesehen werden wollen, sind vermutlich selbst dem Gott der Krise gefälliger als solche, die hinter allerhand undurchdringlichem Fassadenzauber sich von dem Leben der Straße distanzieren, um unsichtbar so lange zu tätigen und zu bilanzieren, bis ihnen der Kredit und uns das nackte Leben gefriert. Gucker sind sympathischer als Mucker. Nur so kann man den demonstrativen, schier
297 Soma Morgenstern: »Wiener Nachrichten«, in: ders.: Dramen, Feuilletons, Fragmente, hg. v. Ingolf Schulte, Lüneburg 2000, S. 317-322, S. 318. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »WiNa« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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ungeheuren Zuzug begreifen, dessen das auferstandene Café sich seit dem ersten Tag seines neualten Daseins erfreut. In Massen drängen sich die Gucker […]. (WiNa 318f.) Auch hier wird nach der Neueröffnung und Umgestaltung der Vergleich zu vorher gezogen, jedoch sehr ironisch und mit Blick auf die ständigen, eher hinderlichen Umbaumaßnahmen in der Stadt: »Es scheint mehr prunkvoll eingerichtet zu sein, vom Professor Witzmann, der zwar nicht zu den bedeutendsten Wiener Baumeistern gehört, aber doch Wiens bedeutendster Umbaumeister ist.« (WiNa 319) Thematisiert wird auch die Neugier der Menschen in Bezug auf Renovierungen und Neueröffnungen von Lokalen. Der Erzähler erwähnt, dass besonders die Besucherinnen einen großen Teil der neugierigen Kundschaft ausmachten und schreibt, dass man in Wien »auf Neueröffnungen und Adaptierungen erpicht sei.« (WiNa 319) Daher habe »man das eine und das andere von Adolf Loos eingerichtete Kaffeehaus durch ›Neurenovierungen‹ zerstört«: Nicht bald werde ich die Trauer in Blick und Stimme vergessen haben, die Trauer der Frage, die mir Adolf Loos vor etwa zwei Jahren auf der Straße gestellt hat, im Vorbeigehen und ehe noch der Gruß recht gewechselt war: ›Haben Sie schon gesehen, wie man mein Café ›Capua‹ zugerichtet hat?‹ … Jetzt hat man auch sein Café ›Museum‹ ›neu renoviert‹, und – hoffentlich hat er es nicht gesehen. (WiNa 319) Deutlich wird hier, dass Renovierungen nicht immer zum Besten verlaufen und auch keinerlei Rücksicht auf die ehemaligen Architekten und Erbauer genommen, sondern ausschließlich aus dem Moment heraus geplant und entschieden wird. Der Erzähler in Morgensterns Feuilleton drückt zwar eine wehmütige, persönliche Betroffenheit an den Vorgängen aus, indem er schreibt, dass er die Begebenheit nicht objektiv bewerten könne, stellt sie dann aber trotzdem bewertend als sinnlos dar, da ein florierendes Kaffeehaus ohne Grund einer Bankfiliale weichen müsse, bevor der ganze Prozess wieder rückgängig gemacht werde. Andererseits deutet sein ironischer Tonfall aber auch an, dass es sich dabei um einen natürlichen Wandel im Stadtbild handelt, bei dem die Menschen weniger eine enge emotionale Bindung zum Café oder Mitleid mit den betroffenen Angestellten empfänden, sondern vielmehr ihre Neugierde und Sensationslust befriedigen wollten, indem alles nach der Neueröffnung begutachtet und mit dem ursprünglichen Zustand verglichen werde. In Siegfried Kracauers Feuilleton »Straße ohne Erinnerung« hingegen, welches einige Monate nach Morgensterns Text, am 16.12.1932, ebenfalls in der Frankfurter Zeitung erschienen ist, wird sehr stark die persönliche und ernsthaft emotionale Betroffenheit des Erzählers selbst thematisiert, dessen Lebensverlauf und täglichen Wege eng mit der Erinnerung an bestimmte Lokale verknüpft sind. Als er eines Tages bemerkt, dass ein für ihn wichtiges Lokal geschlossen worden ist, wird die Alltagsroutine des erzählenden Ichs empfindlich gestört: Scheinen manche Straßenzüge für die Ewigkeit geschaffen zu sein, so ist der heutige Kurfürstendamm die Verkörperung der leer hinfließenden Zeit, in der nichts zu dauern vermag. Am deutlichsten bin ich mir dieser Tatsache durch zwei Ereignisse bewußt geworden, die ungefähr ein Jahr auseinander liegen und in sich zusammenhängen. Das erste: Ich will vor Antritt einer Reise noch rasch eine mir altvertraute Teestube aufsuchen, um dort eine Kleinigkeit zu Mittag zu essen. Die Teestube gehört so durchaus
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
zu meinem Stammbesitz an Lokalen, daß ich, ohne mich weiter umzusehen, automatisch das Vorgärtchen passiere und die Türklinke niederdrücke. Die Tür ist verschlossen. Erschrocken blicke ich auf und erkenne durch die Spiegelscheiben, daß das Innere geräumt ist. Es muß über Nacht geräumt worden sein, denn am Abend vorher war die Teestube noch erleuchtet gewesen. […] bemerke ich unmittelbar vor mir ein Schild an der Tür, auf dem erklärt wird, daß der Eigentümer des Lokals dieses bald an einer anderen Stelle aufzumachen gedenke. Da ich nicht so lange warten kann, kehre ich traurig um und besuche ein mir bisher unbekanntes Café an der nächsten Kurfürstendammecke.298 So sorgt hier die Schließung der Teestube nicht nur für einen Schrecken, sondern der Erzähler muss vielmehr unerwartet seine Gewohnheiten ändern, sich ein neues Stammlokal suchen und kann sich nicht mehr seinen eigenen Gedanken überlassend in der Teestube bewirten lassen. Neben der emotionalen Verstimmung des Erzählers, welcher nicht nur betrübt und aufgrund der Unvermitteltheit erschrocken ist, wird auch ein Einschnitt in seinen alltäglichen Gewohnheiten verursacht, da er seinen Plan, vor der Reise noch in einer vertrauten Umgebung etwas zu essen, nicht ausführen kann und er sich folglich um ein neues Lokal bemühen muss. An dieser Stelle ist – wie in den anderen Texten zuvor – das Unbekannte negativ konnotiert, weil der Gast stets auf der Suche nach einer vertrauten Umgebung ist und diese Vertrautheit einen großen Teil des Reizes ausmacht. So nehmen die Leserinnen und Leser in der Beschreibung des Vorgangs unmittelbar Anteil an dem Prozess der Geschehensverarbeitung durch den Erzähler, der eine tiefe persönliche Betroffenheit ausdrückt, obwohl es sich ›nur‹ um die Schließung eines Lokals handelt. Maurice Halbwachs weist in diesem Zusammenhang auf die Unsicherheit hin, die einen Menschen überfällt, wenn er sich nicht in seiner gewohnten Umgebung befindet, die ihm Kontinuität, Beständigkeit und den Eindruck von einer geregelten Ordnung vermittelt – in diesem Fall fehlen alle vertrauten Anhaltspunkte, so dass er in eine Phase der Unwägbarkeit eintritt: […] si bien que nous trouvons perdus dans un milieu étrange et mouvant, et que tout point d’appui nous manque. En dehors même des cas pathologiques, lorsque quelque événement nous oblige aussi à nous transporter dans un nouvel entourage matériel, avant que nous ne nous y soyons adaptés, nous traversons une période d’incertitude, comme si nous avions laissé derrière nous notre personnalité tout entière : tant il est vrai que les images habituelles du monde extérieur sont inséparables de notre moi.299 Insbesondere in einer schnelllebigen, urbanen Umgebung dient die Unveränderlichkeit und Langlebigkeit von Gebäuden dazu, einen – vielleicht auch nur scheinbaren – Eindruck von Dauerhaftigkeit an die Passanten und Passantinnen zu vermitteln, wodurch sie die in anderen Lebensbereichen stattfindenden Veränderungen zu kompensieren versuchen: 298 Siegfried Kracauer: »Straße ohne Erinnerung«, in: ders.: Aufsätze 1932-1965, Schriften Bd. 5,3, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M. 1990, S. 170-174, S. 170f. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »SoE« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 299 Halbwachs : La mémoire collective, S. 193.
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Les divers quartiers, à l’intérieur d’une ville, et les maisons, à l’intérieur d’un quartier, ont un emplacement fixe et sont aussi attachés au sol que les arbres et les rochers, une colline ou un plateau. Il en résulte que le groupe urbain n’a pas l’impression de changer tant que l’aspect de rues et des bâtiments demeure identique, et qu’il est peu de formations sociales à la fois plus stables et mieuix assurées de durer. […] Il faut plutôt considérer que les habitants se trouvent porter une attention très inégale à ce que nous appelons l’aspect matériel de la cité, mais que le plus grand nombre sans doute seraient bien plus sensibles à la disparition d’une telle rue, de tel bâtiment, de telle maison, qu’aux événements nationaux, reliqieux, politiques, les plus graves.300 Dagegen markiert die abrupte Einstellung eines Betriebes oder die unerwartete Veränderung einer Straße einen starken Einschnitt innerhalb der Wahrnehmung eines Stadtteils, so dass dieser ›materielle Aspekt‹ Halbwachs zufolge eine große Bedeutung für die Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt mit sich bringt. So beschreibt Kracauer in seinem Feuilleton die plötzliche Schließung der Teestube auf dem Kurfürstendamm als schmerzlich empfundenen Verlust, welcher den Erzähler traurig stimmt und nicht durch die Hoffnung auf die Neueröffnung an einem anderen Standpunkt gemildert werden kann. Letztgenannter Umstand deutet darauf hin, dass die Menschen nicht nur mit einem Lokal selbst emotional verbunden sind, sondern dass jenes in ihrer Wahrnehmung auch an einer bestimmten Stelle im Stadtbild verankert ist, so dass die Atmosphäre bereits eine Verschlechterung dadurch erfährt, dass ein Café vermutlich an einer anderen Stelle wiedereröffnet wird. Das im Folgenden vom erzählenden Ich aufgesuchte ›Ersatzcafé‹ kommt im Vergleich mit der beliebten und nun geschlossenen Teestube eher schlecht weg. Obwohl der Erzähler seinen schlechten Eindruck von dem Café begründen kann, entwickelt sich dieses scheinbar gegen seinen Willen zu einem vertrauten Anblick im Straßenbild, das sich nur aufgrund seines Vorhandenseins bewährt hat und in der Folge vermisst wird, als es nach ebenfalls erfolgter Schließung nicht mehr wie gewohnt als hell erleuchteter Ankerpunkt inmitten der anderen Gebäude aufscheint: Das zweite Ereignis, das sich, wie gesagt, ein Jahr später zugetragen hat, betrifft eben dieses Café. Vorauszuschicken ist, daß mein erster Aufenthalt in ihm zugleich mein letzter war. Der Glanz seiner Architektur erschien mir als übertrieben und steigerte noch dazu die Empfindlichkeit gegen den schlechten Geschmack seiner Getränke. Dennoch zählte das Café zu meinen bleibenden Straßeneindrücken. Ich kam hier fast jeden Abend vorbei, und mochte ich auch gerade zerstreut oder in ein Gespräch vertieft sein, so rechnete ich doch an diesem Punkt meines Weges fest mit den Lichteffekten, die das Lokal in verschwenderischer Fülle entsandte. Je heller die Lichter, desto trüber das Publikum. Eines Abends überfällt mich plötzlich eine Art Heimweh nach dem Café. Man hat solche Tage, an denen man vor der Gewohnheit ausrückt und die gemiedenen Orte begehrt. Schon bin ich bei der bewußten Ecke, aber wo ist ihr Glanz? Die Ecke leuchtet nicht mehr, und anstelle des Cafés tut sich ein verglaster Abgrund auf, in den ich langsam hineingezogen werde. Er ist per sofort zu vermieten. (SoE 171)
300 Halbwachs : La mémoire collective, S. 197f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Die hier deutlich zum Ausdruck gebrachte Enttäuschung des Erzählers, die er entgegen seiner rationalen Einschätzung erlebt, ist eine oft beschriebene Emotion in Zusammenhang mit der nicht erfüllten Hoffnung auf einen vertrauten Aufenthalt im gewohnten Lokal oder mit der nicht eingelösten Funktion eines beleuchteten Wegweisers an einem bestimmten Punkt der Stadt, der zuvor ganz verlässlich vorhanden war. Die hier verwendete Metapher des Lichtes steht daneben auch für die Erinnerung, welche nur während der Zeit der Helligkeit, des Glanzes und der Verschwendung Bestand hat und in dem Augenblick getilgt wird, in dem das Licht verlöscht und der ›Leuchtturm‹ zu einem ›dunklen Abgrund‹ wird, in den der Erzähler hinabgesogen wird. Dennoch verhilft ihm dieser äußere Impuls, der Anblick dieses ›Abgrunds‹, zu einer Erinnerung an die geschlossene und damit für ihn vergessene Teestube, die zwar an einem anderen Platz und als Konditorei, aber mit der vertrauten Einrichtung wiedereröffnet worden sei, so dass sich einander bekannte Menschen dort träfen: »Ihr grünes, verschlissenes Mobiliar, ihre altmodischen Stiche und ein paar kuriose Leute, die hier regelmäßig verkehrten« (SoE 172f.) findet der Erzähler fortan dort: Jene Teestube ist bald nach ihrer Schließung durch eine ziemlich betriebsame Konditorei ersetzt worden, die ich inzwischen nicht selten aufgesucht habe. Wäre nun der Raum mit der Kraft begabt gewesen, Erinnerungen entstehen zu lassen, so hätten sie mich in der Konditorei zwangsläufig überwältigen müssen. Statt dessen ist mir während der Stunden, die ich in dem Lokal zugebracht habe, seine frühere Daseinsform auch nicht im Traum nachgegangen. Der Konditoreibetrieb hat in Wirklichkeit die einstige Teestube nicht nur abgelöst, sondern sie so völlig verdrängt, als sei sie überhaupt nicht gewesen. Durch seine komplette Gegenwart ist sie in eine Vergessenheit getaucht, aus der sie keine Macht mehr erretten kann, es sei denn der Zufall, über dem sich der Alltag rasch wieder schließt. Sonst bleibt das Vergangene an den Orten haften, an denen es zu Lebzeiten hauste; auf dem Kurfürstendamm tritt es ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Seit ich ihn kenne, hat er sich in knapp bemessenen Perioden wieder und wieder von Grund auf verändert, und immer sind die neuen Geschäfte ganz neu und die von ihnen vertriebenen ganz ausgelöscht. Was einmal war, ist auf Nimmerwiedersehen dahin, und was sich gerade behauptet, beschlagnahmt das Heute hundertprozentig. (SoE 173) Für das erzählende Ich hat sich mit der Eröffnung der Konditorei das vorherige Kapitel der Teestube gänzlich geschlossen, weil sich das Lokal vollends in einen anderen Betrieb verwandelt hat, der mit dem vorherigen nichts gemein hat. Der Erzähler sieht diese komplette Loslösung von der Vergangenheit und das ausschließliche Existieren in der Gegenwart als charakteristisches Kennzeichen des Berliner Kurfürstendamms, auf dem die Gebäude selbst nicht imstande seien, das Vergangene zu speichern, sondern sich immer dem Neuem zuwendeten und einer ständigen Bewegung und Veränderung unterworfen seien, weil sie nicht von sich aus den Reiz besäßen, der auf Gäste ausstrahle, sondern abhängig seien von dem Betrieb im Inneren. Er beschreibt dies zwar mit einem nostalgischen, wehmütigen Ton, erkennt jedoch auch an, dass er selbst ein Teil dieser Schnelllebigkeit ist, da er sich zwar gerne auf altbekannte Gewohnheiten verlässt, jedoch auch bereit ist, das Vergangene hinter sich zu lassen und sich an ein neues Lokal zu gewöhnen.
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Der Erzähler schildert hier nicht nur den Vorgang seiner eigenen Wahrnehmung, sondern reflektiert auch über die Art und Weise, wie Gebäude, Geschäfte und Lokale aus dem vertrauten Stadtbild verschwinden, teilweise ohne dass die Menschen es wirklich bewusst wahrnehmen könnten, weil es ohne Vorankündigung passiere. Obwohl er einige Gebäude davon ausnimmt, empfindet er es aufgrund der großen Geschwindigkeit so, als seien die meisten durch übernatürliche Kräfte, durch »Hexerei« und »Spuk« (SoE 171; 172), entstanden und würden sich auf die gleiche, für die Gäste nicht nachvollziehbare Weise auch wieder in Luft auflösen: Nicht so, als ob ich bezweifelte, daß der Kurfürstendamm ein paar Läden und Betriebe enthält, die zur Seßhaftigkeit neigen: sie verschwinden jedoch in der Menge der übrigen, die wie eine Hafenbevölkerung kommen und gehen. Der Zeitpunkt, zu dem diese Lokalitäten jeweils auf der Bildfläche erscheinen, ist grundsätzlich nicht zu ermitteln. Genug, daß sie von irgendeinem Termin an vorhanden sind, aus dem Nichts entstandene Restaurants, Cafés, Barinterieurs, Pensionen und Geschäfte, die sich durchweg so gebärden, als existierten sie wirklich. Dabei können sie nur durch Hexerei hergeweht worden sein. (SoE 171) Weil auch die meisten Geschäfte von vornherein gar nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt seien, sei die »Wurzellosigkeit« ihr vornehmstes charakterliches Kennzeichen, weshalb jene den »Eindruck der Improvisation« erweckten, oftmals auf die »Maskerade« der Dauerhaftigkeit verzichteten und in ihrem Antlitz das ›wahre Gesicht‹ der »Vergänglichkeit« zeigten. (SoE 172) Die Fähigkeit zur Erinnerung wird durch diesen ununterbrochenen Wechsel und die vielen Veränderungen behindert, weil die Erinnerung keinerlei Möglichkeit hat, sich an äußerlichen, materiellen Fixpunkten zu orientieren: »Der immer währende Wechsel tilgt die Erinnerung.« (SoE 172f.) Im Zusammenhang mit Kracauers Beobachtungen, dass die Schließungen der Cafés miteinander zusammenhingen, obwohl sie im Abstand von einem Jahr passiert seien, kann erneut auf Halbwachs rekurriert werden, der auf den Trugschluss hinweist, dem das Gedächtnis aufsitzt, wenn sich Veränderungen ergeben. So habe man meist den Eindruck, dass zwischen zwei verschiedenen Ereignissen ein Zeitraum liege, in dem sich nichts ereignet; in Wirklichkeit jedoch müsse es eine Reihe von Ereignissen und Veränderungen geben, die den Übergang zwischen ihnen herstellten, obgleich die Betrachtenden nur das Endergebnis wahrnähmen.301 Am Ende des Feuilletons macht der Erzähler noch einmal deutlich, dass ein Lokal nur in der Gegenwart verhaftet bleiben kann, wenn dessen Verbindung zu den Gästen lebendig ist. Nur dasjenige Gebäude, in dem das soziale Leben aktiv ist, altere nicht, 301 Vgl. »L’histoire est un tableau des changements, et il est naturel qu’elle se persuade que les sociétés changent sans cesse, parce qu’elle fixe son regard sur l’ensemble. […] En apparence, la série des événements historiques est discontinue. Chaque fait étant séparé de celui qui le précède ou qui le suit par un intervalle, où l’on peut croire qu’il ne s’est rien produit. En réalité, ceux qui écrivent l’histoire, et qui remarquent surtout les changements, les différences, comprennent que, pour passer de l’un à l’autre, il faut qu’il se développe une série de transformations dont l’histoire n’aperçoit que la somme […], ou le résultat final. Tel est le point de vue de l’histoire parce qu’elle examine les groupes du dehors, et qu’elle embrasse une durée assez longue.«, in : Halbwachs : La mémoire collective, S. 139f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
sondern könne sich mit der Zeit weiterentwickeln. Andere Gebäude und Lokale, die nicht diese Verbindung zu den Menschen aufbauen könnten, ereile das Schicksal des Leerstands und des Verfalls, wie Kracauer es für ein unbenutztes Haus auf dem Kurfürstendamm beschreibt, das wieder deutlich menschliche Züge erhält: In seinen Erdgeschoßräumen haben viele Restaurations- und Varietébetriebe ihr Glück probiert, ohne daß es einem von ihnen je gelungen wäre, sich über Wasser zu halten. […] Da sich schon seit längerer Zeit niemand mehr in das Haus hineintraut, ist es aus dem Veränderungsprozeß ausgeschieden und lungert beschäftigungslos herum. Noch prangen Schilder am Gitter. Aber sie sind unnütz geworden, und statt dem Haus Leben zuzuführen, bezeugen sie nur seinen frühen Verfall. Er läßt sich nicht aufhalten, weil das Haus am Gewesenen keine Stütze hat. Niemand widmet ihm einen Blick. Die Zeit nimmt es rasch mit sich fort. (SoE 173f.) Da keinerlei positive Erinnerungen oder eine persönliche Verbindung mit dem zuletzt genannten Gebäude verknüpft sind, wird es für die Menschen unwichtig, so dass sie nicht motiviert sind, Erinnerungen aufleben zu lassen. Nora Bossongs, Hans-Christian Rösslers, Siegfried Kracauers, Soma Morgensterns und Gabriele Tergits Kurzprosatexte können in die erste Kategorie der ›Kaffeehausliteratur‹ eingeordnet werden, da sie die Atmosphäre und Wahrnehmung in Verbindung mit der Erinnerung an bestimmte vergangene oder in ihrem Charakter veränderte Kaffeehäuser thematisieren, die emotionale Bedeutung des Augenblicks betonen und die charakteristische Kürze aufweisen. In allen Texten wird die persönliche Beziehung der Erzählenden zu dem sich wandelnden, wiedereröffneten oder ›spukhaft‹ verschwundenen Ort des Stammcafés sehr deutlich, weil das erzählende Ich in den Texten jeweils mit den Lokalen interagiert, sie als Akteur vermenschlicht und mit ihnen mitfühlt. Gleichzeitig nehmen die Erzählenden jedoch auch eine distanzierte Beobachterposition ein, aus der heraus sie die Erinnerung an die Cafés auf einer Metaebene bewerten beziehungsweise dem Reiz eines Cafés aus der Außenperspektive nachgehen. Während Morgensterns Feuilleton in einem plaudernden, ironischen Tonfall geschrieben ist und ein sehr bildreiches Vokabular verwandt wird, schildern Tergits, Rösslers und Kracauers Erzählenden die Situation und den Verlust ihrer Stammlokale sehr realitätsnah.
V.1.6.3.
Kaffeehäuser – früher und heute
Es lässt sich also konstatieren, dass der Ort des Kaffeehauses in den autobiographischen Schriften der ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹ der fassbare Dreh- und Angelpunkt der Erinnerungsarbeit darstellt. Was die Kaffeehäuser für die europäische Kultur bedeuten, lässt sich nicht nur daran ermessen, dass diese Texte über sie verfasst wurden, sondern dass bestimmte Cafés, wie das Café Griensteidl in Wien oder das Café Kranzler in Berlin, nachgebaut oder neueröffnet wurden, um dem Wunsch nach Dauerhaftigkeit Rechnung zu tragen. Aber nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller denken an die dort verbrachten Momente meist mit einer gewissen Wehmut zurück, sondern auch Architekten bemängeln die – teilweise erfolglosen – Versuche, den ehemaligen Glanz berühmter Kaffeehäuser wiederherzustellen. So beispielsweise Holger Pump-Uhlmann, der die seiner Meinung nach misslungene Renovierung des Neuen Kranzler Eck in Berlin beklagt, welche nicht nur das Kaffeehaus seines Charmes
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
beraube, sondern auch den besonderen Charakter des gesamten denkmalgeschützten Gebäudeblocks – einst Symbol für die Architektur der 1950er und 60er Jahre – verschandelt habe: Today, following a highly controversial urban remodeling of Neues Kranzler Eck (19942000 Murphy/Jahn Architects, Chicago), not only has the complex been deprived of its prime architectural features, but so has Café Kranzler. The only restoration to be carried out was to the rotunda of the tea room. […] The exterior of the café, once an emblem of West Berlin, has suffered greatly. […] Today only the rotunda is a reminder of what was once the showcase of the West.302 Das Café Kranzler sei nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur ein Café in der Nähe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, sondern zudem ein eindrucksvolles Symbol für die Freiheit Westberlins gewesen: Two established urban landmark structures, in close proximity to each other, marked the new centre of the western section of the divided city: the Kaiser Wilhelm Memorial Church and Café Kranzler. Both became the symbols of the city of West Berlin. Even after 1961, when the building of the Berlin Wall finally cut off the historical centre, this new city considered itself the showcase of the West, the laboratory of freedom […].303 Auch wenn die Webseite des im Jahr 2000 neueröffneten Neuen Kranzler Eck den Gesamtkomplex als »perfekte Verbindung« zwischen »Tradition und Moderne«304 bezeichnet, dient das altehrwürdige Café Kranzler nurmehr als Namensgeber und kapitalbringende Marke des Quartiers, mit der die Investoren Werbung machen und Aufmerksamkeit erzielen können: Die Rotunde des KRANZLER ECK ist legendär. Und wird im Jahr 2000 um eine Sensation reicher. Stararchitekt Helmut Jahn gestaltet eine neue Ikone… Er kombiniert die traditionsreiche Rotunde mit einem modernen Glasriegel: Ein 16-geschossiges Bürogebäude mit 60 Meter hoher, vorgesetzter Glasfassade, das sich elegant hinter dem Café Kranzler aufbaut. Ein Gebäude mit Signalwirkung: Der Westen ist wieder da!305 Diese Marke und die historische, heute weiterhin als Café genutzte Rotunde leben von dem hundertachtzig Jahre alten Ruf des Kranzler als »Ikone der City West«306 ; jedoch erscheint auch nach der Neueröffnung des Cafés unter dem Namen Café Kranzler – The Barn am 4. Dezember 2016 der »Schmelz vergangener Tage endgültig dahin« zu sein – denn »vom Wirtschaftswundermagneten im alten Berliner Westen [sind] nur noch zwei Dinge übrig: der Name und die Rotunde mit ihren rot-weißen Blockstreifenmar-
302 Holger Pump-Uhlmann : »Café Kranzler, Berlin (1958)«, in : Christoph Graefe/Franziska Bollerey (Hg.) : Cafés and Bars. The Architecture of Public Display, New York/London 2007, S. 172-177, S. 177. 303 Pump-Uhlmann : »Café Kranzler, Berlin (1958)«, S. 174. 304 www.kranzler-eck.berlin/de/gebaeude/(14.06.2019). 305 www.kranzler-eck.berlin/de/gebaeude/(14.06.2019). 306 Daniel Marschke: »Superdry übernimmt Café Kranzler«, in: rbb-online, 21.10.2015, URL: https:// www.rbb-online.de/panorama/beitrag/2015/10/Berlin-Superdry-Kranzler-britische-Modemarkeuebernimmt-Kaffeehaus-am-Kurfuerstendammrhalten-bleiben1.html (07.01.2016).
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
kisen«.307 Die ehemalige Atmosphäre jedoch ist in den Augen vieler unwiederbringlich verloren. So existieren einige Kaffeehäuser oder vielmehr die Idee von einer ›ursprünglichen Kaffeehauskultur‹ nur noch in der Literatur, aber nicht mehr in der Wirklichkeit, so dass jene Ideen und Konzepte ausschließlich durch verschiedene Überlieferungsmedien an heutige Generationen weitergegeben werden und der »Flüchtigkeit der Erinnerung […] die Beständigkeit und Materialität der Gedächtnisorte«308 beispielsweise in Form literarischer Texte gegenüber stehen. In diesem Fall ist die Kaffeehauskultur zu einem Erinnerungs- beziehungsweise Gedächtnisort geworden, also einem Ort, an dem sich gemäß Pierre Noras Definition das Gedächtnis auf besondere Weise verdichtet oder bewahrt309 , welcher aber kein Abbild in der Wirklichkeit hat.310 Nach Jan Assmann sind Erinnerungsorte »Fixpunkte in der Vergangenheit«, die zu »symbolischen Figuren« gerinnen, »an die sich die Erinnerung heftet.«311 Dabei handelt es sich Etienne Franҫois und Hagen Schulze zufolge bei dem Begriff des ›Erinnerungsortes‹ um eine Metapher, welche die symbolische Funktion, die ein Bauwerk zum Erinnerungsort macht, fokussiere. Demnach bezeichne der Begriff langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.312 Wenn ein Lokal zwar nicht mehr in seiner ursprünglichen Form existiert, aber doch noch auf andere Weise fortbesteht, braucht es die symbolische und erinnernde Funktion des Bauwerks, die identitätsstiftend auf eine Gruppe wirkt, und die konkrete Benutzung eines Ortes im gegenwärtigen Alltag, um die Geschichte wachzuhalten und fortzuschreiben. Dabei geht es laut Gernot Böhme um die »leibliche Anwesenheit im Raum«313 , das heißt die Menschen wollen aus ihrer individuellen Perspektive wahrnehmen, was es bedeutet, körperlich in einem Raum anwesend zu sein. So richte sich dieses Verlangen auf 307 Katja Bauer: »Ein Hipster fürs Café Kranzler. Nach Niedergang und Umbau eröffnet Ralf Rüller die Berliner Institution am Sonntag wieder«, in: General-Anzeiger Bonn, 02.12.2016, URL: www.general-anzeiger-bonn.de/news/panorama/Ein-Hipster-fürs-Café-Kranzler-article3419058.html (10.07.2019), S. 48. 308 Rupp: »Erinnerungsräume in der Erzählliteratur«, S. 185. 309 Vgl. Pierre Nora : »Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux«, in : ders. (Hg.) : Les Lieux de mémoire 1, Paris 1997, S. 23-43, S. 23. 310 Vgl. »À la différence de tous les objets de l’histoire, les lieux de mémoire n’ont pas de référents dans la réalité. Ou plutôt ils sont à eux-mêmes leur propre référent, signes qui ne renvoient, qu’à soi, signes à l’état pur. […] ce qui en fait des lieux de mémoire est ce par quoi, précisément, ils échappent à l’histoire. […] En ce sens, le lieu de mémoire est un lieu double; un lieu d’excès clos sur lui même, fermé sur son identité et ramassé sur son nom, mais constamment ouvert sur l’étendue de ses significations.«, in : Nora : »Entre Mémoire et Histoire«, S. 42f. 311 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, S. 52. 312 Vgl. Etienne François/Hagen Schulze: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte I, München 2001, S. 9-24, S. 18. 313 Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 125.
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die Dinglichkeit von Orten, Gegenständen und Menschen. Ein Indiz dafür ist darin zu sehen, dass Touristen schon fast zwanghaft die Gebäude und Dinge, die sie besuchen, anfassen, beklopfen, bekratzen. Wirklich da zu sein, heißt eben auch, die Erfahrung des Widerstandes der Dinge zu machen und – das mag vielleicht sogar noch wichtiger sein – die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit in diesem Widerstand. […] Man sieht daran, dass das Bedürfnis, die leibliche Anwesenheit zu spüren, zugleich das Bedürfnis ist, die eigene Lebendigkeit, die Vitalität zu spüren.314 Wenn die Nutzung nicht mehr gesichert ist, mutieren die Nachbauten zu reinen Kulissen, die zwar versuchen, durch ›bauliche Zitate‹ den ursprünglichen Glanz nachzuempfinden, dabei jedoch leere Hüllen bleiben, frei von jeglicher Lebendigkeit.315 Cordula Seger sieht dies im Grand Hotel Adlon in Berlin gegeben: Die Rekonstruktion bleibt darin befangen, eine Ganzheit wieder herstellen zu wollen und scheitert dabei gerade an der ›geschichtlich-sozialen Dimension‹, weil hier nur Hüllen und keine belebten Räume geschaffen werden. Die Rekonstruktion konzentriert sich immer auf die Hülle, weil sie Vergangenes auf das Abbildbare reduziert.316 Dieser sichtbaren »Banalität des Realen«, hinter jener laut Seger der »Zauber der Vergangenheit«317 zurücktritt, lässt sich jedoch entgegenhalten, dass berühmte und geschichtsträchtige Bauten, wie beispielsweise das Berliner Adlon, kaum als ›Hülle‹ oder Kulisse‹ bezeichnet werden können, wenn sie sich auch heute noch einer regen Nutzung und Beliebtheit erfreuen. Wichtig neben einer entsprechenden Marketingstrategie, welche die glorreiche Vergangenheit eines Schauplatzes wieder heraufbeschwört, ist also auch ein funktionierendes, das heißt lebendiges Innenleben, welches durch ein gelungenes Zusammenspiel von Publikum, Ausstattung und Personal, qualitativ hochwertiger Kulinarik sowie der Gleichzeitigkeit von Intimität und Zurschaustellung sowie Tradition und Zukunftsorientierung gekennzeichnet sein muss. Vor allem in Österreich und Italien existieren heute noch Traditionscafés, die sich ihrer Stammkundschaft sicher sind. Sie scheinen ein Erinnerungsort zu sein, der gleichzeitig ein florierendes Geschäft in der Gegenwart darstellt. Carlo Pelegrini, der Geschäftsführer des altehrwürdigen, 1760 gegründeten Caffè Greco in Rom beispielsweise, fürchtet in einem Radiobeitrag von Jan-Christoph Kitzler (2016) nicht einmal das Vordringen der Kaffeehauskette Starbucks in italienischen Städten318 , denn Kaffee sei in Italien eine »einfache Sache, aber eine ernste«, mit der man keine Experimente
314 315 316 317 318
Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 126. Vgl. Seger: Grand Hotel, S. 160. Seger: Grand Hotel, S. 484. Seger: Grand Hotel, S. 482; 484. Nach vielen erfolglosen Versuchen hat die erste Starbucks-Filiale im November 2018 in Mailand eröffnet. Vgl. Daniela Polizzi: »Milano, da Garibaldi alla Centrale: Starbucks aprirà 25 punti vendita«, in: Corriere della Sera, 20.11.2018, URL: https://milano.corriere.it/notizie/cronaca/18_ novembre _20/milano-garibaldi-centrale-starbucks-aprira-25-punti-vendita-13347cf2-ec90-11e89cc0-d189758894d5.shtml?refresh_ce-cp (14.06.2019).
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
mache: Hier trinke man weder einen ›Caramel Macchiato‹ noch eine ›Flavoured Latte‹, sondern »einen schlichten Espresso. Im Stehen« am Tresen.319
V.2.
Raumfigurationen
Cafés have never been mere buildings within which proprietors and staff take money in exchange for refreshments. Bricks and mortar might contain them, provide their parameters as it were, but the concepts they conjure and the needs and aspirations they satisfy reflect the praxis of time and place and the idiosyncrasies of individual taste and quirkiness.320 In diesem Artikel befasst sich Graham Scambler mit dem soziologischen Gehalt des Ortes ›Café‹ und fragt nach dessen wachsender Bedeutsamkeit für die Zivilgesellschaft. Das Zitat Scamblers macht deutlich, dass Cafés meist nicht nur schlichte ›Gebäude‹ sind, in denen man gegen Geld etwas zu essen und zu trinken serviert bekommt, sondern dass das dahinterliegende Konzept, die ›Atmosphäre‹ und die Funktion jeweils eine tiefere und individuelle Bedeutung haben, die zu dem jeweiligen Gast ›passen‹ müssen. In dem Fall werden an diesem Ort neben der ganz grundsätzlichen Reflektion des Verhältnisses von ›Raum und Zeit‹ ganz persönliche Wünsche zufriedengestellt, die über physische Bedürfnisse hinausgehen. In diesem Zusammenhang spricht Richard Futrell, Besitzer des Third Place Coffeehouse in Raleigh (North Carolina), von der vorherrschenden Atmosphäre und der zugrunde liegenden Idee als einer schwer greifbaren Mischung aus Komfort, Familiarität, Offenheit und einer Ansammlung der verschiedensten Menschen, die seine Gaststätte zu einem ›magischen‹ Ort machten: This ›sense of place‹ and the intangibles that make such a place are difficult to quantify. […] The atmosphere, both physical and social, is the trickiest and most essential part of creating a warm and welcoming third place. Both need constant attention and periodic tweaking. […] These people have proven to be what the Third Place is truly about – bringing together all sorts of people under one roof to work and live and play and just be together under no pretense or set guidelines whatsoever. The outcome is truly magical and I feel incredibly honored to have been a part of it.321 Er beschreibt sich selbst dabei als ›Schöpfer‹ dieses Cafés, das sich auf positiv gemeinte Weise zu einem »beast of its own«322 entwickelt habe, welches er nur noch als außenstehender ›Dienstleister‹ betreut und ›füttert‹ »to the betterment of the human community«.323 Diese moralisch anerkennenswerte Intention, ein Kaffeehaus zu eröffnen 319
Jan-Christoph Kitzler: »Schwieriges Terrain – Kaffeehauskette Starbucks will Italien erobern«, in: WDR 5 Morgenecho, 12.01.2016. 320 Graham Scambler: »Cafés, Third Places, and the Enabling Sector of Civil Society«, in: Aksel Tjora/ders. (Hg.): Café Society, New York 2013, S. 67-86, S. 67. 321 Richard Futrell: »The Third Place Coffeehouse«, in: Ray Oldenburg (Hg.): Celebrating the Third Place. Inspiring Stories about the ›Great Good Places‹ at the Heart of our ommunities, New York 2001, S. 27-31, S. 29f. 322 Futrell: »The Third Place Coffeehouse«, S. 30. 323 Futrell: »The Third Place Coffeehouse«, S. 27.
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mit dem Ziel, die Menschen freundlicher und weniger einsam zu machen, klingt recht hochtrabend, unterstreicht aber zum einen den im Folgenden noch zu analysierenden Punkt, dass ein Raum den Menschen in vielerlei Hinsicht dienstbar sein und ihr Verhalten sich in Abhängigkeit vom Raum reziprok verändern kann. Zum anderen wird die Rolle des Raumes als mächtiger, eigenständiger ›Akteur‹ hervorgehoben, der Einfluss auf diejenigen Menschen auszuüben vermag, die sich in ihm aufhalten. So lässt sich in der Literatur über das Café beobachten, dass einerseits immer wieder Bezug auf den ›Raum‹ genommen wird, welcher mit der Semantik verknüpft wird; andererseits werden die Inhalte mit räumlichen Metaphern wiedergegeben und illustriert. So sollen im Folgenden anhand von literarischen, kulturwissenschaftlichen und raumtheoretischen Texten die Verhandlung und Wahrnehmung von Raum in der ›Kaffeehausliteratur‹ im Allgemeinen und die Darstellung des konkreten ›Kaffeehaus-Raumes‹ im Speziellen untersucht werden.
V.2.1.
Das Café als räumlicher Akteur
Die Beschaffenheit und der Umfang einer Räumlichkeit stehen meist mit den sich in ihr befindlichen gesellschaftlichen Gruppierungen, ihren Interessensgebieten sowie ihren Beziehungen untereinander in Wechselwirkung, da Raum und Menschen sich gegenseitig bedingen und beeinflussen.324 So ist die Art des Raumes wichtig für die Menschen, die sich in ihm befinden, da er oft nicht nur Hintergrund oder beliebiger Aufenthaltsort ist und die Gelegenheit für menschliches Beisammensein bietet, sondern auch die Menschen darin und ihre Interessen näher spezifiziert und so als äußere Begrenzung seiner Inhalte fungiert: Die Orientierung und Positionierung in dem, was wir als Raum begreifen, […] haben reale wie symbolische Signifikanz. Raum ist sowohl in der sozialen Realität wie in literarischen Texten nicht nur die Voraussetzung für Handlungen, sondern immer auch Bedeutungsträger. Soziale Normen, moralische Werte und subjektives Erleben erfahren hier eine konkret anschauliche Manifestation.325 Der Raum ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern vielmehr macht er als Akteur durch die ihm inhärente Bedeutung seinen Einfluss auf die sich in ihm befindenden Menschen geltend. Otto Friedrich Bollnow betont in seiner Studie zur »Räumlichkeit des menschlichen Daseins«326 die Verbindung zwischen der seelischen Befindlichkeit des Menschen und des Raumes, da »der Charakter des den Menschen umgebenden Raums auf seine Gemütsverfassung« zurückwirke: Wir haben also eine doppelseitige Beeinflussung: die seelische Verfassung des Menschen bestimmt den Charakter des umgebenden Raums, und umgekehrt wirkt der
324 Vgl. »Man macht sich selten klar, wie wunderbar hier die Extensität des Raumes der Intensität der soziologischen Beziehungen entgegenkommt, wie die Kontinuität des Raumes, gerade weil sie subjektiv nirgends eine absolute Grenze enthält, eben deshalb ist es überall gestattet, eine solche subjektiv zu legen.«, in: Simmel, »Soziologie des Raumes«, S. 139. 325 Würzbach: Raumerfahrung in der klassischen Moderne, S. 1. 326 Bollnow: Mensch und Raum, S. 22.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Raum dann zurück auf seinen seelischen Zustand. Jeder konkrete Raum, in dem der Mensch sich befindet, […] hat seine sozusagen menschlichen Qualitäten […].327 Wolfgang Hallet und Birgit Neumann zufolge wird die Identität von einzelnen Menschen oder ganzen Gruppen in Folge einer pluralisierten, fragmentierten Lebensweise daher immer auch über »die Zuordnung zu sozialen Räumen konstituiert«, weshalb diese Identitäten als »segmental« und »als eine lose assoziierte Konfiguration räumlich-sozialer Verortungen« zu verstehen seien: Orientierung und Positionierung im Raum haben ebenso reale wie symbolische Bedeutung für die nationale Subjektkonstitution: Figuren werden durch die Räume identifiziert, in denen sie sich aufhalten, und durch die Art und Weise charakterisiert, in der sie in einem Raum handeln, Grenzen überschreiten, mobil werden oder immobil bleiben.328 Viele typische Rituale und Handlungsweisen sind also nur an bestimmten Orten möglich, an denen eines der ›Identitätssegmente‹ beheimatet ist und befriedigt wird. Dadurch entwickeln sich charakteristische Anschauungen und Standards, die von denjenigen Personen, welche sich von der Spezifik eines Raumes angesprochen fühlen, übernommen, modifiziert und weitergegeben werden. Aufgrund der meist alle anderen Perspektiven überlagernden »Ausgangsannahme, daß Raum an sich existiert und im Handeln strukturiert werden kann«, bleibe oft unberücksichtigt, so beklagt Martina Löw, dass die »Entstehung von Räumen selbst ein Moment sozialer Prozesse« darstelle. Sie plädiert deshalb dafür, »Raum als eine relationale (An)Ordnung von Körpern« zu begreifen, »welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert.« Das bedeute, dass Raum kein starrer, vorgegebener Behälter sein könne, sondern »Raum und Körperwelt« stets verwoben seien: Durch den Begriff der (An)Ordnung mit der hier gewählten Schreibweise wird betont, daß Räumen sowohl eine Ordnungsdimension, die auf gesellschaftliche Strukturen verweist, als auch eine Handlungsdimension, d.h. der Prozeß des Anordnens, inne wohnt.329 Im Rückbezug auf Löws Konzept zeigen Wolfgang Hallet und Birgit Neumann, dass Verortungen im Raum so gut wie immer mit orientierenden bzw. explorierenden Bewegungen verbunden sind, mittels derer Raum aktiv in Anspruch genommen, vermessen und durchquert, Raumgrenzen ausgelotet und überschritten werden. Raum wird auf diese Weise von einer statischen zu einer dynamischen, prozessualen Größe […].330 So lässt sich mit Löw, Hallet, Neumann und Getrud Lehnert postulieren, dass der Raum des Cafés in der Literatur »weder absolut gegeben noch bloßes Wahrnehmungsphäno-
327 Bollnow: Mensch und Raum, S. 230. 328 Wolfgang Hallet/Birgit Neumann: »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung«, in: dies. (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11-32, S. 25. 329 Alle Zitate Löw: Raumsoziologie, S. 130f. 330 Hallet/Neumann: »Raum und Bewegung in der Literatur«, S. 21.
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men« ist, sondern durch Bewegung, Wahrnehmung sowie »soziales und symbolisches Handeln von Menschen hervorgebracht wird«331 , so dass sich der Raum im Umkehrschluss auf das menschliche Handeln und dessen Emotionen und Wahrnehmung auswirkt. Letztgenannter Forschungsimpuls manifestiert sich besonders in der These Lehnerts, dass Räume den Ort nicht nur aufgrund eines mehr oder weniger funktionalen Gebrauchs überlagern […], sondern insbesondere aufgrund unterschiedlicher atmosphärischer, ästhetischer und emotionaler Qualitäten, die sie entfalten und die ihnen zugefügt werden. […] Jeder Ort kann somit nacheinander und vielleicht sogar gleichzeitig eine Vielzahl von Räumen werden, je nachdem, wann und wie er von wem ›bespielt‹ wird. Eine Kirche kann zum Ballsaal werden, ein Hotelzimmer zur Bühne eines privaten Dramas […].332 Damit sei jeder Raum abhängig von »seiner kulturellen Codierung, seiner individuellen Bedeutung […], seiner vorübergehenden Funktion«333 und übt somit seine Wirkung auf die Personen aus, die sich dort aufhalten. Schlussfolgernd lässt sich formulieren, dass das in der Literatur beschriebene Kaffeehaus ein Ort ist, an dem sich mehrere Räume überlagern, die sich je nach Blickwinkel immer wieder neu konstituieren. Das literarische Kaffeehaus ist nach dieser Konzeption ein in sich äußerst ambivalenter, nicht neutral konnotierter Ort, der divergierende Anschauungsweisen und intensive Gefühle auslösen kann und zwischen abgöttisch verehrender Abhängigkeit und ironischer oder offensichtlicher Verachtung changiert.334 In der Literatur zeigt sich, dass diese starken Divergenzen in der Wahrnehmung des Ortes sowie die polare Stimmung von Schriftstellern und Schriftstellerinnen nicht nur vage im Sinne einer vorherrschenden Atmosphäre empfunden und beschrieben werden, sondern in den Texten stets Bezug auf konkrete räumliche Konfigurationen genommen wird, in denen sich die Gegensätze kristallisieren. So thematisiert Erich Kästner in seinem Feuilleton »Das Rendezvous der Künstler«, welches am 6. Mai 1928 in der Neuen Leipziger Zeitung erscheint, die Trennung zwischen dem Berliner Lokal der künstlerischen ›Anfänger‹ und Erfolgslosen, dem Romanischen Café, und jenem der ›Arrivierten‹, der Weinstube Schwanneke: Nur wenige der »unzähligen künstlerischen Kräfte, die in Berlin zusammenströmen«, hätten es geschafft, diese ›Grenze‹ zwischen den Lokalen zu überschreiten und von einem Lokal beziehungsweise ›Bassin‹ ins andere zu wechseln, wie Kästner beschreibt: Um das Wichtigste gleich zu sagen: Zwischen den zwei Lokalen besteht ein fundamentaler Unterschied. Im Romanischen Café trinkt man Kaffee in Tassen; bei Schwanneke trinkt man Wein in Flaschen. Das bedeutet, kunstgeschichtlich formuliert: Im ›Romanischen‹ sitzt der Anfängerkursus; bei Schwanneke verkehren die Prominenten. Im
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Lehnert: »Raum und Gefühl«, S. 10f. Lehnert: »Raum und Gefühl«, S. 12. Lehnert: »Raum und Gefühl«, S. 12. Vgl. »The ambiguity of the café as a space was reflected in the attitudes of the writers who frequented them: café life was both celebrated and derided.«, in: Ashby: »The Cafés of Vienna: Space and Sociability«, S. 23.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Romanischen Café herrscht das Langhaar; bei Schwanneke dominiert die vom Haarschwund wirksam verlängerte Stirn. Das Romanische Café ist der Wartesaal der Talente. Es gibt Leute, die hier seit zwanzig Jahren, Tag für Tag, aufs Talent warten. Sie beherrschen, wenn nichts sonst, so doch die Kunst des Wartens in verblüffendem Maße.335 Kästners Feuilleton vergleicht auf ironisch-wertende Weise das Stammpublikum des Romanischen Cafés mit demjenigen des in der Westberliner Rankestraße gelegenen, teureren Künstlerlokals Schwannekes Weinstuben, deren Inhaber, der Schauspieler Viktor Schwanneke, es ab 1922 zu einem beliebten Künstlertreff werden lässt. Der Text realisiert den Vergleich sprachlich durch eine Aneinanderreihung von Gegensatzpaaren, welche die äußerlichen und charakterlichen Attribute und die künstlerische Begabung der Gäste betreffen: So werden die Ungepflegtheit und das lange Haar der jüngeren Cafégäste mit Talentlosigkeit und Faulheit gleichgesetzt, wohingegen die eher älteren, glatzköpfigen Gäste des Schwanneke in ihrem Beruf erfolgreich sind und darum genug Geld haben, statt einer Tasse Kaffee im Romanischen Wein in größeren Mengen zu trinken. Dabei drückt der Erzähler wenig neutral und recht spöttisch seine Verwunderung darüber aus, wie man noch bei der größten künstlerischen Talentlosigkeit die Geduld und den langen Atem aufbringen könne, um auf die Begabung und den Erfolg zu warten. Der Übergang vom Misserfolg zum Durchbruch wird dabei als ein beschwerlicher, im wörtlichen Sinne zu gehender, grenzüberschreitender Weg beschrieben, den Kunstschaffende zurücklegen müssten: Man kann die Entwicklung eines Berliner Künstlers, Journalisten oder Schriftstellers nicht deutlicher erkennen, als wenn man hört: ›Er geht nicht mehr ins Romanische. Er ist jetzt viel bei Schwanneke.‹ Diese Feststellung verrät, unausgesprochen, Kontraktabschlüsse, Avancement, Mehreinnahmen, herannahenden Ruhm. Die beiden Lokale liegen keine drei Minuten auseinander. Aber für manchen dauert der Weg von einem zum anderen Jahrzehnte, und die meisten legen ihn nie zurück. (RdK 253) Aufgrund der wiederkehrenden Thematisierung der räumlichen Grenzen sind die im Folgenden untersuchten Kaffeehaustexte anschließbar an Jurij Lotmans semiotisches Raummodell, welches Handlung ausgehend vom Raum denkt. In Lotmans Konzept werden mithilfe binärer Oppositionen Weltmodelle geschaffen336 und Ordnungen konstituiert. Daneben wird die räumliche Unterteilung eines Textes mit einer semantischen gleichsetzt, indem der Raum durch eine Grenze in zwei klar voneinander getrennte, disjunkte Teilräume unterteilt und jeweils mit einer bestimmten Bedeutung versehen wird. Dabei erhält die »klassifikatorische Grenze zwischen den kontrastierten Welten […] die Merkmale einer Linie im Raum«337 , welche in sujethaltigen Texten von einer be-
Erich Kästner: »Das Rendezvous der Künstler«, in: ders.: Gemischte Gefühle. Literarische Publizistik aus der ›Neuen Leipziger Zeitung‹ 1923-1933, Bd. 1, hg. v. Alfred Klein, Zürich 1989, S. 251-255, S. 251; 254. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »RdK« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 336 Vgl. »Da bedeutsam nur das ist, was eine Antithese besitzt […], wird ein jedes kompositionelle Verfahren sinnunterscheidend, wenn es in die Gegenüberstellung zu einem kontrastierenden System einbezogen ist.«, in: Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 374. 337 Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 337. 335
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weglichen Figur passiert werden kann, das heißt von einer Figur, »die das Recht hat, die Grenze zu überschreiten« und damit die Handlung anzustoßen338 : Jedem semantischen Feld ist eine bestimmte Figur oder Gruppe von Figuren zugeordnet, die mit diesem Teilraum identifiziert wird. […] Raum und Bewegung […] sind nach Lotman also genau das, was literarische Handlung ausmacht: Erst die Figur, die den Raum durchquert und dabei über Grenzen schreitet, bringt das Sujet in Gang.339 In Kästners Feuilleton würde also diejenige Person die räumliche und damit die gesellschaftlich-hierarchische Grenze zwischen dem Romanischen und dem Schwanneke überwinden, die Vertragsabschlüsse, Erfolg und Engagements vorweisen kann, damit Fleiß und Mut bewiesen und ihre künstlerische Karriere ›in Gang gesetzt‹ hat, anstatt passiv zu bleiben und zu warten. So wird anhand dieser räumlichen Grenze auch die Beziehung zwischen Geld und Zeit deutlich: Diejenigen, die im Romanischen Café auf die Anerkennung warten, haben kein Geld, aber viel Zeit, während diejenigen Gäste im Schwanneke keine Zeit haben, ihr verdientes Geld auszugeben: Die Erfolgreichen, die Schauspieler, Dichter, Maler, Baumeister, Regisseure und Filmgrößen, haben viel weniger Zeit als die Neulinge vis-a-vis im Wartezimmer des Ruhms, im ›Romanischen‹. Sie müssen arbeiten. Berühmtheit ist, aus der Nähe gesehen, Arbeit und nichts weiter. Und so haben alle, die hier einkehren, im Grunde keine Zeit zur Einkehr. (RdK 254) In Kästners Text macht der Erzähler, der sich erst im letzten Satz deutlich durch das Wort »Ich« zeigt und als Einzelgänger zu erkennen gibt, keinen Hehl daraus, dass ihm die Café-Gespräche zuwider sind und was er von den sich ohne triftigen Grund ›zusammenrottenden‹ Stammgästen des Romanischen hält: Trotz solcher Unterhaltung hat das Lokal eine Achtung erzwingende Atmosphäre […] Die Leistung erzwingt Respekt. Und sie kann ihn sogar bei Schwanneke verlangen. Trotzdem gibt es auch in Berlin Künstler, die den Umgang mit ihresgleichen nicht zu dem größten der erdenklichen Vergnügen zählen und deswegen lieber am Nordpol säßen als im Romanischen Café oder bei Schwanneke. Ich kann das verstehen. (RdK 255) Für ihn sind es untalentierte, prinzipienlose Müßiggänger, die sich einen anderen ›handfesten Beruf‹ suchen sollten, anstatt im Café herumzusitzen und sich für wichtig zu halten: Es ist ein infernalisches Gewirr von Charakterköpfen und solchen, die es sein wollen. Der erste Eindruck, den man hat: Haare, Mähnen, Locken, die bedeutend ins Gesicht fallen. Der zweite Eindruck: Wie oft wird hier die Leibwäsche gewechselt? […] Die Genialität […] ist hier der Stil des Hauses. Man ersetzt den mangelnden Erfolg durch Gehabe und Getue. […] Diese Leute hier verabscheuen das normale Aussehen, weil es zu 338 Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 338. 339 Michael C. Frank: »Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 53-80, S. 67.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
egalisierend wirke. Sie wollen wie Persönlichkeiten aussehen. Und nun sitzen sie da, einer neben dem anderen, und bilden doch wieder einen Verein! (RdK 252) Der Erzähler bemüht hier das vermeintliche Klischee des ›ungepflegten Bohèmiens‹, der sich durch sein von der Norm abweichendes Aussehen von der bürgerlichen Gesellschaft absetzen möchte, um aus sich etwas Besonderes zu machen. Weil sämtliche Anwesenden jedoch diese Intention haben, hat dies paradoxerweise genau den gegenteiligen Effekt, so dass alle gleich aussehen und niemand hervorsticht. Kästners Erzähler verachtet diese wartenden, sich mit dem ›weiblichen Geschlecht‹ die Zeit vertreibenden Müßiggänger (vgl. RdK 252) ebenso wie die ›Grenzgänger‹, also bereits arrivierte Künstler und Künstlerinnen aus dem Schwanneke, denen es ein Vergnügen bereite, den Talent- und Erfolglosen bei ihren Versuchen zuzuschauen, erfolgreich zu werden und es genießen, selbst bewundert zu werden: »Wie eine Welle der Bewunderung geht es durch den verqualmten, verquatschten Raum, wenn ihn ein Glücklicher betritt. Und wen er begrüßt, der fühlt sich geweiht…« (RdK 253). So wird der gesellschaftlichen Kontraststruktur sowohl bei Kästner als auch in Matheo Quinzʼ kurzem Prosatext »Das Romanische Café« durch die konkrete räumliche Anordnung im Innern eines einzelnen Cafés Ausdruck verliehen. In Quinzʼ Feuilleton, das im August 1926 in der Kulturzeitschrift Der Querschnitt veröffentlicht wurde, werden die Grenzen dabei jedoch nicht zwischen zwei Lokalen gezogen, sondern vielmehr innerhalb eines einzigen Lokales: So habe es im Romanischen Café wie »in einer Badeanstalt« ein ›Bassin für Schwimmer‹ und ein ›Bassin für Nichtschwimmer‹ gegeben, in denen sich die Gäste zwischen ›Geist‹ und ›Kapital‹340 aufspalteten: Die Besucher der zwei Abteilungen haben kaum etwas miteinander zu tun. Wo die Drehtür die beiden Bassins trennt, scheiden sich zwei Welten. […] Das Nichtschwimmerbassin wird in der Hauptsache von Egon Erwin Kisch bevölkert, der die erstaunliche Fähigkeit hat, zu gleicher Zeit an allen Tischen angeregte Unterhaltungen zu führen, dabei alle Zeitungen zu lesen, ohne den faszinierten Blick zu versäumen, den er allen das Bassin passierenden Frauen zuzuwerfen hat. Ist Kisch nicht in Berlin, so entvölkert sich das Bassin merklich. […] Im Schwimmbassin lassen sich die Leute nieder, die Geld haben, oder wenigstens so tun als ob, also Filmleute, abgebaute Dramaturgen, Inseratenakquisiteure […]. Hier in der Sonne des Kapitals sitzen auch die kleinen Mädchen.341 Die räumliche Aufteilung zwischen den Nichtschwimmern und den Schwimmern wird implizit mit den Kategorien ›moralisch nobel, aber wenig geschäftstüchtig und arm‹ sowie ›unmoralisch, aber geschäftstüchtig und reich‹ belegt: Den Schwimmern ordnet der Erzähler die Befähigung zu, auf unsittliche Weise viel Geld zu ›machen‹ und dabei schöne Mädchen zu verführen, und den Nichtschwimmern die Begabung zur ›brotlosen Kunst‹, da sie zwar ein nobleres, künstlerisches Ansinnen hätten und den Frauen
340 Vgl. Rath: »Berliner Caféhäuser (1890-1933)«, S. 116f. Rath nimmt hier Bezug auf den Text von Matheo Quinz. 341 Matheo Quinz: »Das Romanische Café«, in: Christian Ferber (Hg.): Der Querschnitt. Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte 1924-1933, Berlin 1981, S. 143-146, S. 143ff. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »RC« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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nur harmlose ›Blicke zuwürfen‹, dabei aber kein Geld verdienten. Die Nichtschwimmer müssten daher zuweilen wie der Maler John Höxter als Bittsteller die Grenze des eigenen Bassins zeitweise übertreten342 , um sich bei den reichen Schwimmern Spenden zu erbetteln im Sinne des »edle[n] offene[n] Pump[s]«, welcher dem aufgrund seiner niederen Gesinnung nicht gut gelittenen »Zechpreller und Paletotverwechsler« (RC 145) entgegengesetzt wird, der im Inneren des Schwimmerbassins sein ›Unwesen‹ treibe und moralisch auf derselben Stufe der Schwimmer stehe. Nur Ersteres, also der ›Bassinwechsel‹ Höxters, kann aufgrund des Übertritts der ›klassifikatorischen‹ Grenze im Lotmanschen Sinne als ›Ereignis‹ bezeichnet werden.343 Die Drehtür markiert dabei den Übergangsbereich zwischen den beiden Welten.344 An dieser Stelle befindet sich der Platz des Portiers Nietz, der als einziger neben Höxter das Vermögen habe, als Grenzgänger und Ordnungshüter zwischen den Welten zu fungieren: »Überlegen regelt er den Verkehr und hat sich den sachlichen, verhalten-energischen Ton angewöhnt, den man sonst nur bei Irrenwärtern findet.« (RC 143) Hier setzt der Erzähler die Gäste des Kaffeehauses mit den Insassen und Insassinnen einer Irrenanstalt gleich und betont damit die Abgeschlossenheit des Lokals nach außen hin. Er benennt auch einen ›neutralen‹ Zwischenbereich, welcher sich in der Mitte des Cafés befinde, dessen Lage jedoch dem Bassin für Schwimmer angenähert sei. Dort gebühre denjenigen ein Platz, die – auch im finanziellen Sinne – bereits erfolgreich seien, sich aber inhaltlich den Künstlerinnen und Künstlern zugehörig fühlten: Zwischen den beiden Bassins, im Kap der Arrivierten, steht der Honoratiorentisch, in seiner geographischen Lage klar im Gebiet der Schwimmer. In Würde thront hier Slevogt mit Bruno Cassirer. Nur wenige dürfen sich hier heransetzen, diesen wenigen ist aber die Stunde Stammtisch Lebenszweck geworden. (RC 144)
342 Vgl. die Überlegungen des Ethnologen Arnold van Gennep zur Schwellenphase in der Mitte eines sozialen oder gesellschaftlichen Übergangsrituals, welches nach van Gennep in drei Phasen gegliedert ist und in dem Veränderungsprozesse als räumliche Grenzübertritte dargestellt werden. Weiterentwickelt wurde diese Idee von Victor Turner, der den Begriff der ›liminal persona‹ geprägt hat, welche als undefinierbares Zwitterwesen beziehungsweise als Außenseiter oder Grenzgänger konzipiert ist, der sich durchlässig zwischen den verschiedenen Welten bewegt, vgl. Arnold van Gennep: Les rites de passage, Paris 1981; Victor Turner: Betwixt & Between: Patterns of Masculine and Feminine Initiation, La Salle 1987. 343 Vgl. »Die Bewegung des Sujets, das Ereignis ist die Überwindung jener Verbotsgrenze, die von der sujetlosen Struktur festgelegt ist. Eine Verschiebung des Helden innerhalb des ihm zugewiesenen Raumes ist kein Ereignis.«, in: Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 338. 344 In einigen Texten, wie in Ernst Blassʼ Feuilleton »Das alte Café des Westens« von 1928, wird deutlich, dass die unterschiedlichen Gruppierungen im Café nicht immer friedlich nebeneinanderher lebten, sondern sich hier durchaus auch Konflikte entladen konnten, die offen ausgetragen worden seien: »Wir waren ausgesprochen in der Opposition. Es gab getrennte Lager. Es gab Feinde und Widerstände. Man konnte sich damals den Luxus leisten, den Spießer zu verachten, nicht nur mit der Faust in der Tasche; man konnte ihn schneiden.« (DaCdW 177) Vgl. auch: »Das sujetlose System ist also primär und kann in einem selbstständigen Text zum Ausdruck kommen. Das Sujet-System dagegen ist sekundär und stellt immer eine Schicht dar, die die zugrundeliegende sujetlose Struktur überlagert. Dabei ist das Verhältnis der beiden Schichten zueinander immer konfliktgeladen«, in: Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 339.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Betrachtet man dagegen Wolfgang Büschers Reminiszenz an Kästner und Quinz, so beschreibt dieser die Café-Situation im heutigen Berlin nicht als zwischen den verschiedenen Generationen, Berufen und Lebensentwürfen integrierend, sondern als separierend und vergleicht diesen Zustand mit demjenigen in römischen Cafés, in denen es normal sei, dass sich die unterschiedlichsten Menschen in ein und demselben Café träfen: Auch das heutige Berlin kennt solche Kaffeehaus-Grenzen, aber sie verlaufen anders. Man könnte es generationelle Apartheid nennen. In anderen Städten trifft man auf eine natürliche Mischung aus Jung und Alt, es mischen sich Milieus und Klassen. In der Cafébar in der Via delle Grazie in Rom etwa, ein paar Schritte vom Vatikan, ist es allein eine Frage der Tageszeit, wann römische Müllmänner und wann römische Kardinäle am Tresen stehen. Dergleichen ist in Berlin undenkbar, nicht nur wegen fehlender Kardinäle. Man ist hier unter sich, will unter sich sein und achtet darauf, dass es so bleibt. Szenebewusste Kellner und ihre Gäste betrachten es als Verfallssignal, wenn die Segregation aufweicht, dann zieht die Szene weiter.345 So bleibe in Berlin die Klassengesellschaft des Romanischen Cafés und mit ihm die räumliche Trennung in Schwimmer und Nichtschwimmer bestehen. Im Café St. Oberholz wird diese inhaltliche Trennung laut Büscher noch verbunden mit einer vertikalen Grenze zwischen ›oben‹ und ›unten‹, also zwischen dem ›erfolgreichen, mit Konzept arbeitenden Schwimmer‹ und dem ›planlos vorgehenden Nichtschwimmer‹ der ›digitalen Bohème‹ des 21. Jahrhunderts: Man geht ins Oberholz, um öffentlich zu arbeiten und zugleich öffentlich online, also privat zu sein. Oder man ist Tourist und will authentische Berlin-Mitte-Mensch anschauen – auch das gab es übrigens schon im Romanischen Café: in die Bohemehofhaltung hereinbrechendes Touristenvolk. Mittag. Zeit, sich in die obere Etage zurückzuziehen, wo es stiller zugeht, die Lunch-Laufkundschaft bleibt unten – auch dies ein fernes Echo der alten romanischen Klassengesellschaft, nur vertikal statt Saal an Saal: unten die Nichtschwimmer, die fröhlichen Surfer in den Tag hinein, oben die elektronischen Edelleute. (SdT 18) Durch die Verbindung der Semantik mit raumfigurativen Elementen wird das Café als räumlicher Akteur zu einem wichtigen Thema in der ›Kaffeehausliteratur‹, in der das Kaffeehaus selbst damit nicht nur bloßer Schauplatz bleibt. Aufgrund der Verknüpfung der inhaltlichen Thematik mit dem Raum des Cafés, der Kürze ihrer Texte und der ironisch-feuilletonistischen Schreibweise können Büschers, Kästners und Quinzʼ Texte in die erste Kategorie der ›Kaffeehausliteratur‹ eingruppiert werden. Zudem analysieren diese Texte die gesellschaftlichen Vorgänge im betreffenden Kaffeehaus genau, illustrieren es als urbanen Mikrokosmus und entwerfen aus ihren Beobachtungen eine allgemeine Gesellschaftskritik. Das schon in Herwarth Waldens
345 Wolfgang Büscher: »Der Schaum der Tage. Stumme Menschen im Café, vor sich Laptop und Latte – ist das stillos oder die Kaffeehauskultur des 21. Jahrhunderts?«, in: ZEIT Magazin 18 (2009), S. 16-18,S. 18. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »SdT« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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(vgl. Kapitel V.1.2) und Ernest Hemingways (vgl. Kapitel V.1.3) Texten herausgearbeitete Thema der ›Inszenierung‹, also des wichtigtuerischen ›Möchtegern-Literaten‹, der im Auge der genannten Autoren untätig und talentlos im Café herumsitzt, andere bei der Arbeit stört und lautstarke Reden über seine noch zu schreibenden Werke schwingt, wird in Kästners und Quinzʼ Feuilletons noch einmal durch die Perspektive der Grenzziehung verdeutlicht. Diese Thematik wird als Kennzeichen der ›Kaffeehausliteratur‹ gewertet. In den folgenden Kapiteln soll diese Konstellation der Raumfiguration anhand weiterer Textanalysen verdeutlicht werden.
V.2.2.
Das Café als transparentes Gegengehäuse und Ort des Geschlechterkonflikts
Helmut Kreuzer schreibt in seiner Studie über die Bohème346 , dass das Café »als gegenbürgerliche Institution« fungiere, welche von einer bestimmten Gästegruppe erlebt werde als »Kulmination der Wirklichkeit […], Schauplatz des entfesselten und gesteigerten Lebens« und »Entmächtigung des ›Lebens‹, als dessen Gegenwelt, die eben als solche Anziehungskraft für den Lebensaußenseiter hat, den distanzierten Darsteller, die Künstlernatur.«347 Für Letztere stellt das Café Kreuzer zufolge ein »Gegengehäuse« dar, welches als »räumliches Symbol der innerweltlichen Entklammerung aus der Welt der Enge«348 angesehen werden könne. So sei das Kaffeehaus mit seinen Gästen ein Mikrokosmos, der sich kontrastiv von der Außenwelt abhebe. Es tritt damit laut Mechthild Albert als »parasitäre[r] Raum am Rande der zeitgenössischen Wirklichkeit« und »antibürgerliche[] Gegenwelt« auf, mit dessen Hilfe die Schriftstellerinnen und Künstler »den Verlust einer kohärenten, durchschaubaren und sinnhaften gesellschaftlichen Wirklichkeit durch eine eigene Kunstwirklichkeit zu kompensieren« suchten.349 Gleichzeitig betonen Schriftsteller wie Ernst Blass aber auch die Beziehung der Cafés und deren Gäste zu ihrer urbanen Umgebung, wenn er schreibt, dass sie als ›Großstädter‹ »nicht beziehungslos zur Umwelt sein wollten« und daher »die Stadt und das Intellektuelle als Stoff« verwendeten (DaCdW 175). Das Kaffeehaus ist also in den Diskursen ein Ort, der gleichzeitig die Stadt in seinem Inneren spiegelt als auch eine Distanz zur Außenwelt aufbaut: So wird zwar innerhalb des Kaffeehauses durch die Stammkunden und -kundinnen die künstlerische Milieufärbung eingefangen; dennoch findet, etwa durch den Kontakt zu anderen Gästen oder zum Café-Personal eine Grenzüberschreitung zum realen Geschäfts- und Alltagsleben statt. Diese wird noch verstärkt, wenn mittels eines Blicks durch die Fenster des Cafés eine Verbindung zur äußeren Umgebung aufgebaut wird, welche beispielsweise durch den vorbeieilenden
346 Die ›Bohème‹ wird von Helmut Kreuzer definiert als »Subkultur von Intellektuellen […] Randgruppen mit vorwiegend schriftstellerischer, bildkünstlerischer oder musikalischer Aktivität oder Ambition und mit betont un- oder gegenbürgerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen.«, in: Kreuzer: Die Bohème, S. V. 347 Kreuzer: Die Bohème, S. 208f. 348 Kreuzer: Die Bohème, S. 209. 349 Mechthild Albert: »Spiele in der Krypta«, in: Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 406-419, S. 408.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Verkehr auf der Straße beziehungsweise durch die flanierenden Fußgängerinnen und Fußgänger auf dem Boulevard vor dem Café verkörpert wird.350 Da sich aber auch ein Blick von der Straße in das Café hineinwerfen lässt, können die Fenster und damit die äußere Sichtbarkeit insbesondere der Kaffeehausbesucherinnen auch im Hinblick auf den kontroversen Diskurs rund um das Verständnis der Geschlechterrollen betrachtet werden, welcher in einigen Kaffeehaustexten geführt wird. Charlotte Ashby verdeutlicht dies in der Beschreibung der typischen, mit Vorhängen nach außen abgeschirmten Fensternischen des Wiener Cafés im Vergleich mit den zum Boulevard offenen Fensterfronten des Pariser Cafés. Aufgrund der inneren Unterteilung des Wiener Kaffeehauses in verschiedene ›Räume‹ und der damit einhergehenden mangelnden Durchlässigkeit geziemte es sich um die Jahrhundertwende für eine bürgerlich geachtete Frau nicht, diesen männlich geprägten oder als männlich wahrgenommenen Ort unbegleitet aufzusuchen. Diese fehlende Sichtbarkeit brachte einen Mangel an Respektabilität für die Frauen mit sich, so dass ›Sichtbarkeit‹ als wichtiger Faktor bei der gesellschaftlichen Beurteilung eines Cafés gelten kann.351 Im Folgenden sollen einige Textbeispiele deutscher, französischer und österreichischer Autoren352 der Nachkriegszeit vorgestellt werden, in denen verschiedene, zum Teil recht diskrepante Ansichten bezüglich der Anwesenheit beziehungsweise Duldung von Frauen in Kaffeehäusern sowie des weiblichen Verhältnisses zu öffentlichen Räumen diskutiert werden. So heißt es beispielsweise in Leo Perutzʼ Roman Zwischen neun und neun von 1978 sehr abwertend über eine Frau, dass sie durch ihren regelmäßigen Café-Besuch alltäglich werde, damit ›an Wert‹ verlöre und nicht mehr begehrenswert sei.353 Hans Weigel dagegen schreibt 1979, dass Frauen »als Kaffeehausgäste stets gleichberechtigt gewesen« seien, dass sie allerdings »ihre bevorzugten Kaffee-Stunden« hätten.354 Auch in Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras (1951) wird das Domcafé nachmittags ganz selbstverständlich zum geschützten »Hafen« und »bevorzugten Versammlungsort gleichgeseelter Genossinnenschaft«, zu einer ›unverdorbenen‹ Scheinwelt und potentiellen Partner-
350 Vgl. das Motiv des Fensterblicks in verschiedenen Romanen: »Er ging auf einen Morgencafé ins Bauer […] und versuchte, nicht an die vergangene Nacht zu denken. Es war schwierig – immer wieder ließ er die Zeitung sinken und sah durch die Fenster hinaus auf die Bilder, sie sich zwischen die hastenden Passanten auf den Straßen drängten.«, in: Ewald Arenz: Der Duft von Schokolade, München 2009, S. 222. 351 Vgl. Ashby: »The Cafés of Vienna: Space and Sociability«, S. 20. 352 Hier fehlen die weiblichen Stimmen, da der Verfasserin der vorliegenden Arbeit keine Texte von Autorinnen bekannt sind, die sich zum Thema ›Geschlechterkonflikt im Kaffeehaus‹ äußern. Eine weiterführende und beispielsweise raum- und genderorientierte Erzähltextanalyse des Kaffeehauses als Romanschauplatz unter ausführlicherer Betrachtung der bisher genannten und weiterer Texte würde in jedem Fall neue vielversprechende Erkenntnisse bringen, aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. 353 Vgl. »Die Sonja geht fast täglich ins Kaffeehaus, das ist etwas, was mir nie an ihr gefallen hat. Ich habʼ ihr das oft gesagt: Eine Frau sollte nicht ins Kaffeehaus gehen. Zu einer Frau soll man vier Treppen hoch steigen müssen, mit klopfendem Herzen muß man an ihrer Tür läuten. […] Aber eine Frau, die man, so oft man Lust hat, sie zu sehen, in seinem Kaffeehaus vorfindet, […] die verliert an Wert und wird Alltag.«, in: Leo Perutz: Zwischen neun und neun, Wien/Hamburg 1978, S. 108. 354 Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 18.
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börse alleinstehender Damen, wo sie nostalgische Erinnerungen und privaten Kummer austauschen können: Nichtstuend schwätzend träumend, kleine flache gefällige Träume in einem ewigen Halbschlummer einem Schlummer des Glücks träumend, FESCHE ENDVIERZIGERIN SUCHT HERRN IN GESICHERTER POSITION, saßen die Frauen, die von Staatspensionen, geglückten Auszahlungen bei Todesfall, Scheidungsrenten und Trennungsgeldern leben, im Domcafé. Auch Frau Behrend liebte die Stätte, den bevorzugten Versammlungsort gleichgeseelter Genossinnenschaft, wo man bei Kaffee und Sahne sich wohlig der Erinnerung an Ehefreuden, wohlig dem Schmerz des Verlassenseins, wohlig der Bitternis der Enttäuschung hingeben konnte. […] Frau Behrend sah die Tochter mit Furcht und Unbehagen aus dem Schatten des Domturmes in das bonbonrosa gefärbte Ampellicht, in diesen gemächlichen Hafen des Lebens, in die still plätschernde Bucht, in das Gehege der freundlich Versorgten, treten: eine Verlorene.355 So möchte sich Frau Berend diese Illusion um jeden Preis erhalten, weil sie den Kaffeehausbesuch als wohltuende Abwechslung von der eintönigen Alltäglichkeit ihres tristen, einsamen Daseins empfindet, auch wenn sie dafür die eigene Tochter aufgrund deren unehelichen Kindes fallen lässt: Frau Behrend dachte ›du hast es so gewollt, du mußt deinen Weg gehen, laß mich in Frieden‹, und das hieß ›stör mir mein Domcafé nicht, meine Ruhe nicht, meine Bescheidung nicht, meinen Glauben nicht‹, und ihr Glaube war, daß anständige Frauen wie sie irgendwie erhalten werden mußten, daß die Welt niemals so aus den Fugen geraten konnte, daß nicht ihr der Nachmittagsplausch mit den Damen ihrer Art als Trostpreis bleibe.356 Dahingegen schwingen in Heimito von Doderers Dämonen (1956) sehr misogyne Konnotationen in Bezug auf Intellekt und das weibliche Aussehen beziehungsweise Körpergewicht mit, wenn der Erzähler die sehr laute Geräuschkulisse im Café im Zusammenhang mit der mangelnden Kommunikationsfähigkeit der Frauen beschreibt, die keinen sinnvolleren Zeitvertreib fänden, als im Café auf ihre Männer zu warten und dabei große Mengen Torte zu essen: Denn das Stimmengewirre war so überaus gewaltig, daß der zwingende Eindruck entstand, hier rede jeder und höre keiner zu. Noch überraschender aber wirkte es, später festzustellen, daß dem beinahe wirklich so war […]. Vier Fünftel der Gäste waren um diese Zeit, da die Büros noch arbeiteten, Frauen. Ihre Männer kamen, wenn überhaupt hierher, erst gegen sechs. Diese Hunderte von Frauen, die mit ihrem Geschrei die Luft erfüllten, daß es wie ein Sieden in den Ohren lag, wiesen alle nur denkbaren Zustandsund Altersstufen ihres Geschlechtes auf […]. Dem Beobachter, der den ersten Schwall von Eindrücken hinter sich hatte […] mußte sich bald die Tatsache einer gewissen Gliederung dieser ganzen Masse von Frauen offenbaren. Und zwar schien diese Gliederung Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. Werke Bd. 4, hg. v. Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt a.M. 2006, S. 112f. 356 Koeppen: Tauben im Gras, S. 126.
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V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
im allgemeinen dem Körpergewichte zu folgen. Um es kurz zu machen: die Gewaltigsten, Dicksten, Schwersten saßen auf den breiten Polsterbänken der so genannten ›Logen‹, die entlang der Wände je um einen Tisch gebaut waren, an der Fensterbank ebenso wie an der Rückwand. […] Da sitzen Fünfe, und vier davon befinden sich hier unter den Deckel eines Topfes gezwängt, den sie bei jeder winzigsten Pause der Redenden zu lüften versuchen. Aber – schwapp! da wird er wieder niedergedrückt, denn sie spricht weiter. Und die vier hören überhaupt nicht zu, obwohl sie wie gebannt auf die Sprechende hinsehen, denn sie lauern nur auf dieses eine: die Pause. Jetzt könnte sie kommen!357 Laut Wendelin Schmidt-Dengler entlarvt von Doderer mit der ›misogynen‹ Beschreibung dieses Ortes des fürchterlichen Lärmens »gerade das, was das Café sonst so vortrefflich zu ermöglichen schien, nämlich ein Haus der Sprache zu sein«, als falschen »Schein«.358 Auch Léon-Paul Fargue359 und Otto Friedländer äußern sich in ihren Texten sehr abschätzig über die Anwesenheit von Damen im Kaffeehaus. Friedländer schreibt in Letzter Glanz der Märchenstadt (1948), dass das Café früher zu recht eine wahre Männerdomäne gewesen sei, weil zum einen nur bestimmte Frauen ins Kaffeehaus gingen360 und zum anderen ›plappernde‹ Frauen die ruhige, von gedämpften Geräuschen geprägte Atmosphäre stören würden.361 Auch wenn er mit der ›Sitzkassiererin‹ die ›tugendhafte‹ Ausnahme einer weiblichen Anwesenheit im Café erwähnt, die er sehr detailliert und mit männlichem Blick auf ihre Reize beschreibt362 , geht Friedlander in seiner grundsätzli-
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Heimito von Doderer: Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff, München 1956, S. 87f. Wendelin Schmidt-Dengler: »Inselwelten. Zum Caféhaus in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts«, in: Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 66-81, S. 73. Vgl. »D’abord, les dames vont au café aussi, soit qu’elles aient pris goût à l’alcool, soit qu’elles veuillent entendre de la musique, jouer aux courses, ou prendre part à des discussions féministes. Elles ont troublé l’atmosphère purement masculine des cafés d’autrefois.«, in : Léon-Paul Fargue : Le Piéton de Paris suivi de D’après Paris, Paris 1964, S. 35. Vgl. »Jeder Mensch kann in jedes Kaffeehaus gehen – ausgenommen natürlich die Damen. Damen allein werden nicht bedient, wenn sie aber bedient werden, ist das kein gutes Zeichen – dann sind sie offiziell geduldet, um dort Herrenbekanntschaften zu machen, und werden dabei generös von den Kellnern gefördert, die ihrerseits wieder von den Damen generös bedacht werden.«, in: Otto Friedlaender: Letzter Glanz der Märchenstadt, Wien 1985, S. 250. Vgl. »Man kann reden, wenn man Lust dazu hat, man kann aber ebenso die Zeitung vor die Augen halten, wenn das Gespräch einen langweilt, und niemand ist da beleidigt. Das ist jene Formlosigkeit, die der Wiener zu seinem Behagen braucht. […] man hört nichts als das freundliche Geklapper der Billardkugeln und der Dominosteine, das Klirren der Kaffeetassen […]. Gespräche werden nur in gedämpftem Ton geführt. Und es gibt keine Frauen – auch das gehört zum Behagen des Wieners.«, in: Friedlaender: Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 252. Vgl. »Am Buffet aber zwischen den silbernen Aufsätzen mit den Zuckertassen und Rumflascherln waltet reich an Reiz, der nie veraltet, mit wogendem Busen, Brillanten in den Ohren und mit einem hohen blonden Schopf frisch gebrannter Haare die ›Gnädige‹. Meistens ist sie es nicht persönlich, sondern eine so genannte Sitzkassiererin, aber immer ist sie eine üppige, freundlich lächelnde Dame, in der sich Koketterie, Tugend und Gewissenhaftigkeit vereinen müssen. Heute gibt es auch keine Sitzkassiererin mehr – die Registrierkasse in der Küche hat sie verdrängt –, sie ist einmal
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chen Misogynie sogar soweit, die Atmosphäre dieses ›geheimen Gartens‹ als ›Zauber‹ zu bezeichnen, den die Frauen verdrängt und ›entweiht‹ hätten: Die Frauen haben diesen Zauber aus dem Kaffeehaus vertrieben. Sie haben es natürlich erobert. Das lag ja unvermeidlich im Geist der Zeit. Seitdem sich die Frauen emanzipiert haben, lassen sie die Männer gar nirgends mehr allein – nicht mehr im Kaffeehaus, nicht mehr beim Sport, nicht mehr im Beruf… Das Kaffeehaus war einmal wie der Vatikan eine Männerwirtschaft: prächtig, unbequem, schlampig, eine Domäne männlichen Geistes und männlicher Einsamkeit. Was wäre der Vatikan, wenn da plötzlich Frauen etwas zu reden hätten! Es ist derselbe Geist, der gegen Klöster und gegen den Zölibat kämpft, der die Frauen ins Kaffeehaus eindringen läßt – der Geist der Entweihung, der keinen ›Jardin secret‹ mehr respektiert.363 Deutlich wurde bisher, dass Frauen laut der zitierten Texte von Perutz, von Doderer, Fargue und Friedlaender einerseits aufgrund ihres vermeintlichen Bedürfnisses nach permanenter, greller und lautstarker Kommunikation ›ruhige Männerrunden‹ stören würden, und dass sie andererseits bis in die Nachkriegszeit recht schnell als Prostituierte angesehen werden, wenn sie sich unbegleitet in der Öffentlichkeit aufhalten.364 So spricht Beatrix Beneder auch von einem »frauenausschließenden« und »männerbündische[n] Charakter«, den sie als Gemeinsamkeit sowohl bürgerlicher als auch proletarischer Kaffeehaus- und Gasthausöffentlichkeit bezeichnet. Sie konstatiert zusammenfassend, dass sich »öffentliche Geselligkeit […] zur sexualisierten Öffentlichkeit und zur Männergeselligkeit« entwickelt habe.365 Ab 1833 richten einige Kaffeehäuser abgeschieden von den anderen Räumlichkeiten sogenannte ›Damensalons‹ ein, die allein Frauen vorbehalten sind und ihnen zwar den Gang ins Café ermöglichen, sie jedoch vom Rest des Lokals ausschließen. Dieser Vorgang bedeutet Beneder zufolge daher nicht den bedingungslosen Zutritt zum öffentlichen Raum und damit ein Entgegenkommen den Besucherinnen gegenüber, sondern habe ökonomische Gründe gehabt, da Frauen sowohl im Kaufhaus als auch im Café gut zahlende Kundinnen gewesen seien, die angelockt werden sollten.366 Bekannte Kaffeehausbesucherinnen wie Else Lasker-Schüler beschreibt Beneder daher auch als ›exotische‹ Ausnahmen, die sich den Zugang zum Café mühevoll erkämpft hätten und sich nicht darum kümmerten, was andere über ihre Ehrbarkeit dachten.367 Elisabeth Wilson und Franziska Roller thematisieren in diesem
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die einzige Vertreterin tugendhafter und reizvoller Weiblichkeit in der Klausur des Wiener Kaffeehauses gewesen.«, Friedlaender: Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 253f. Friedlaender: Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 252f. Vgl. »Aber wirkliche Damen gehen nur nach einer Soiree oder nach dem Ball mit ihren Herren ins Kaffeehaus und kommen sich dabei so verrucht vor wie ein Mann, der in einen Harem geführt wird.«, Friedlaender: Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 250. Beneder: Männerort Gasthaus?, S. 70f. Vgl. Beneder: Männerort Gasthaus?, S. 75. Vgl. »Das nach außen hin offene Kaffeehaus war nach innen durch Klassen- und Geschlechtskategorien reglementiert. […] Denn abgesehen von einigen Ausnahmen […] die sich als Schriftstellerinnen Zugang und Zuspruch im Kaffeehaus erkämpften, blieb das Kaffeehaus, von Konzeption und Ausführung her, Männerort […]. Diese Frauen, welche an den literarischen Gesprächsrunden teilhatten, waren seltene Ausnahmen, ihre Integration durfte als ihr persönlicher Erfolg gewertet werden. Vergleichbar mit den Salonièren, handelte es sich hierbei um charismatische Einzelgänge-
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Zusammenhang die Problematisierung der grundsätzlichen Anwesenheit von Frauen in der modernen, urbanen Öffentlichkeit, die fast immer mit sexuellen Konnotationen einhergehe, im Sinne einer »umherschweifende[n], keiner männlichen Kontrolle unterworfene[n] Frau, die im Bild der Hure gebannt und aus der Gesellschaft ausgeschlossen« werde.368 Unbegleitete Frauen in der Stadt würden eine »generelle Bedrohung der Ordnung« verkörpern und daher »den Mob, das Fremde, die Revolution«369 symbolisieren. Neben der Betrachtung der Kaffeehausfenster unter gendertheoretischen Aspekten mit Blick auf die ›weibliche Sichtbarkeit‹ können diese auch mit Blick auf den architektonischen Gesamteindruck untersucht werden.370 So symbolisieren die Fenster des Cafés aufgrund ihrer visuellen, aber nicht auditiven Durchlässigkeit den Kontrast von Muße und Rastlosigkeit, Stille und Lärm und damit von Innen- und Außenwelt. Letztgenannte wird vor allem für schriftstellerisch tätige Kaffeehausbesucher und besucherinnendurch die den Blick lenkende Fensterrahmung zu einem in sich geschlossenen, jedoch lebendigen Stadt-Tableau371 , welches sie wie ein Schauspiel betrachten und damit den Kontakt zu dieser geschäftigen urbanen Außenwelt herstellen können. Dennoch steht es ihnen aber auch frei, ihre persönliche Lebenswelt von dem Außenraum der Stadt abzugrenzen. Besonders diese vom Café gewährte Freiheit der Gäsrinnen. […] Kaffeehausgängerinnen waren im Kaffeehaus exotisch, dies hebt die männliche Struktur dieses geselligen Öffentlichkeitstypus hervor.«, in: Beneder: Männerort Gasthaus?, S. 92. 368 Franziska Roller: »Flaneurinnen, Straßenmädchen, Bürgerinnen. Öffentlicher Raum und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen«, in: Margarete Hubrath (Hg.): Geschlechter-Räume. Konstruktionen von ›gender‹ in Geschichte, Literatur und Alltag, Köln 2001, S. 251-265, S. 261. 369 Elizabeth Wilson: Begegnung mit der Sphinx. Stadtleben, Chaos und Frauen, Basel/Berlin 1993, S. 160. Vgl. auch »This was […] a wider and less specific fear, the fear that arose at the sight of women crowding through the streets of the new great cities, women who were not properly if within patriarchal control […] how could you distinguish the respectable from the fallen woman? The lack of clear boundaries caused consternation, even panic. Women in public even became a metaphor for a general horror of the urban crowd […] the urban masses were increasingly invested with feminine characteristics […].«, in: Elizabeth Wilson: »The Rhetoric of Urban Space«, in: New Left Review 209 (1995), S. 146-160, S. 150. 370 Im Zusammenhang der Betrachtung des Kaffeehauses als architektonisch interessanten Untersuchungsgegenstand und ›designed space‹ wurden zahlreiche Bildbände und illustrierte Studien veröffentlicht, die sich mit dem Interieur und der äußeren Architektur früherer und heutiger großstädtischer Cafés beschäftigt haben und das Café sowohl als ›materielle Konstruktion‹ als auch als ›soziales Konstrukt‹ darstellen, in: Christoph Grafe/Franziska Bollerey: »Introduction: Cafés and Bars – Places for Sociability«, in: dies. (Hg.): Cafés and Bars. The Architecture of Public Display, New York/London 2007, S. 1-3; siehe auch Barbara Sternthal/Harald Eisenberger (Hg.): Coffee to stay. Die schönsten Cafés in Europa, Wien 2009. In der Literatur wird auch oft von der innenarchitektonischen, stilbildenden Vorbildfunktion der französischen Cafés und des Wiener Kaffeehauses gesprochen, beispielsweise in Bezug auf die Möblierung mit Thonetstuhl, Marmortischchen und Wandspiegeln. Vgl. auch: Das ›erzählende Photobuch‹ von Walter Vogel: Das Café. Vom Reichtum europäischer Kaffeehauskultur, Wien 1995 sowie Fitch: Künstlercafés in Europa und Adonis Malamos: Die schönsten Cafés in Europa, Mannheim 2013. 371 Vgl. »Bild und Fenster [werden] qua encadrement als ausschnitthafte Repräsentationen, Rahmungen von Wirklichkeit und Inszenierung einer (imaginativen) Wirklichkeit insofern parallelisiert, als ›jedes gemalte Bild eigentlich ein Fenster‹ sei, ›durch welches wir ein Stück Wirklichkeit sehen‹.«, in: Judith Holstein: Fenster-Blicke. Zur Poetik eines Parergons, Tübingen 2004, S. 2.
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te, sich einerseits kontemplativ zurückzuziehen, um ungestört an etwas arbeiten zu können, andererseits im Gespräch mit Bekannten sowie durch den Fensterblick nach draußen und die Beobachtung der anderen Besucherinnen und Besucher neue Inspirationen zu schöpfen, kennzeichnet die Besonderheit dieser Örtlichkeit und hebt ihre Bedeutung für in der Großstadt lebende Künstlerinnen und Künstler hervor. So wie das Fenster und dessen Rahmen die Person umgibt, die sich dahinter befindet, ist das Café auch ein im Ganzen ›einrahmender Ort‹, der die Geschlossenheit der sich darin befindlichen Gäste betont, sie damit auch als inhaltlich verbundenes Ganzes kennzeichnet und von der Stadt abgrenzt. So kommt dem Café eine ähnliche Funktion zu wie der Einrahmung eines Gemäldes372 , welche die Mängel des ästhetischen Erscheinungsbilds vervollständigt und das Bild erst zu einem aus sich selbst heraus wirkenden Kunstwerk macht, das nach eigenen Maßstäben beurteilt werden sollte: Der Rahmen […] hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. An diesem übt er die beiden Funktionen, die eigentlich nur die zwei Seiten einer einzigen sind: das Kunstwerk gegen die umgebende Welt ab- und es in sich zusammenzuschließen; der Rahmen verkündet, daß sich innerhalb seiner eine nur eigenen Normen untertänige Welt befindet, die in die Bestimmtheiten und Bewegungen der umgebenden nicht hineingezogen ist; indem er die selbstgenügsame Einheit des Kunstwerkes symbolisiert, verstärkt er zugleich von sich aus deren Wirklichkeit und Eindruck. So ist eine Gesellschaft dadurch, dass ihr Existenzraum von scharf bewussten Grenzen eingefasst ist, als eine auch innerlich zusammengehörige charakterisiert, und umgekehrt: die wechselwirkende Einheit, die funktionelle Beziehung jedes Elementes zu jedem gewinnt ihren räumlichen Ausdruck in der einrahmenden Grenze.373 Das besondere Charakteristikum des Kaffeehauses besteht also darin, dass es einen ›Gegenort‹ darstellt, welcher öffentlich und in die Stadt eingebettet ist und gleichzeitig dem informellen Charakter eines abgeschotteten Zuhauses nahekommt, in dem man sich mit ›Gästen‹ treffen kann. So werden im Zusammenhang mit dem Café und den dort geltenden Verhaltenskodizes altbekannte dichotomische Vorstellungen von ›privat‹ und ›öffentlich‹ hinterfragt, da das Café seinen Gästen einen zwanglosen Rahmen für private Zusammenkünfte bietet und zur gleichen Zeit ein öffentliches Lokal darstellt, welches eingebettet ist in die Ordnung der Außenwelt, aber auch eigene Regeln im Innern aufstellt.374 In Anlehnung an Michel Foucaults Konzept der Heterotopien kann 372 Vgl. Derridas Überlegungen zu dem Parergon-Konzept Kants, in : Jacques Derrida : La Vérité en peinture, Paris 1978, S. 62-78; hier besonders S. 63-65 : »Un parergon vient contre, à côté et en plus de l’ergon, du travail fait, du fait, de l’œuvre mais il ne tombe pas à côté, il touche et coopère, depuis un certain dehors, au-dedans de l’opération. […] Le parergon inscrit quelque chose qui vient en plus, extérieur au champ propre […] mais dont l’extériorité transcendante ne vient jouer, jouxter, frôler, frotter, presser la limite elle-même et intervenir dans le dedans que dans la mesure où le dedans manque.« 373 Simmel: »Soziologie des Raumes«, S. 138f. 374 Vgl. »One of the many things the café offered writers and thinkers of all kinds was a place that was partially secluded, safe and home-like (private), as well as being integrated into the life of the city (public). […] The café challenges the established binaries commonly used for understanding space. […] It is an informal space […]. But at the same time it is a space governed by its own formalities and institutions […]. These formalities mirror, but do not match, the formalities that governed the
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
das Café daher gesehen werden als völlig ›anderer Ort‹, als ›lokalisierte Utopie‹ sowie ›real existierender Ort jenseits aller Orte‹: Or, parmi tous ces lieux qui se distinguent les uns des autres, il y en a qui sont en quelque sorte absolument différents : des lieux qui s’opposent à tous les compenser, à les neutraliser ou à les purifier. Ce sont en quelque sorte des contre-espaces. Ces contreespaces, ces utopies localisées, les enfants les connaissent parfaitement. […] La société adulte a organisé elle-même, et bien avant les enfants, ses propres contre-espaces, ses [ces] utopies situées, ses [ces] lieux réels hors de tous les lieux.375 Weil das Café sich zum einen als ›Gegenort‹ von seiner urbanen Umgebung abgrenzt sowie zum anderen verschiedene Räume in seinem Inneren beherbergt, vermag es an einem ›einzigen Ort vielfältige Räume zusammenzubringen, die eigentlich nicht miteinander vereinbar sind‹.376 Der zuvor beschriebene Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive, zwischen Künstlertum und urbanem Alltag, der sich im Ort des Kaffeehauses verdichtet, lässt das Café auch deshalb an eine Heterotopie anschließen, weil es für eine gewisse Zeit die ›anderen Räume‹, in denen man sich gerade nicht befindet, hinterfragt. Damit wird eine Illusion geschaffen, die den Gästen suggeriert, am einzig wahren Ort zu sein, wohingegen die äußere Realität eine Illusion sei, in der es keine Ordnung gebe: C’est là sans doute qu’on rejoint ce qu’il y a sans doute de plus essentiel dans les hétérotopies. Elles sont la contestation de tous les autres espaces, une contestation qu’elles peuvent exercer de deux manières […] en créant une illusion qui dénonce tout le reste de la réalité comme illusion, ou bien, au contraire, en créant réellement un autre espace réel aussi parfait, aussi méticuleux, aussi arrangé que le nôtre est désordonné, mal agencé et brouillon […].377 So heißt es in Hilde Spiels Glanz und Untergang (1987) über die Literatinnen und Literaten im Café Herrenhof in der Zwischenkriegszeit, dass sie im Café in eine Scheinwelt flüchteten, in der zwar viele Zukunftsideen entstanden seien, die aber niemals umgesetzt werden sollten, weil dieser Zustand der Unentschiedenheit nur dazu gedient hätte, die Realität vergessen zu machen: In jenen kurzen zwanzig Jahren zwischen dem Kriegsende und Hitlers Einmarsch in Österreich, inmitten von Hunger, Not und politischem Hader, wurden ihre Pläne für eine bessere Zukunft geschmiedet, die von Beginn an zum Scheitern verurteilt waren; wurden vergebliche Anstrengungen unternommen, idealistische Initiativen tot geboren. Mehr denn je wurde das Kaffeehaus zu einem Ort, an dem man die Realität vergaß oder durch eine illusionäre Gegenwelt ersetzte. […] Gleichwohl verhielt sich die
world outside […]. These sites allowed for reflection on the real world and the enactment of many different kinds of difference.«, in: Ashby: »The Cafés of Vienna: Space and Sociability«, S. 22. 375 Michel Foucault : »Les hétérotopies«, in : ders. : Die Heterotopien. Les hétérotopies. Der utopische Körper. Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe, Frankfurt a.M. 2005, S. 39-52, S. 40f. 376 Vgl. »En général, l’hétérotopie a pour règle de juxtaposer en un lieu réel plusieurs espaces qui normalement seraient, devraient être incompatibles.«, in : Foucault : »Les hétérotopies«, S. 44. 377 Foucault : »Les hétérotopies«, S. 49f.
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Herrenhof-Generation nach dem Prinzip des Philosophen Vaihinger immer als ›als ob‹. […] Alle ihre Taten fanden nur in Gesprächen rund um die Marmortische statt. Dieser Schwebezustand, diese Interimsexistenz, konnte ihnen das raue Leben in der Außenwelt überhaupt erträglich machen. […] Exzentriker und Außenseiter standen hoch im Kurs.378 Übertragen auf die Analyse der Kaffeehaustexte kann im Folgenden mit Foucaults Ansatz gezeigt werden, dass der Schauplatz des Cafés es den Künstlerinnen und Künstlern sowie Bohèmiens ermöglicht, sich die Illusion einer heilen Welt im Sinne einer ›Abweichungsheterotopie‹379 zu schaffen, in der sie vorübergehend ihr Anderssein in Bezug auf die von der Gesellschaft vorgegebenen Normen verdrängen können. Da einer Heterotopie auch ein System der Öffnung und Abschließung zukommt380 , ist letztgenanntes nur möglich, sofern es keine Zugangskontrolle gibt.381 Diese Eigenschaft des Kaffeehauses als ›Illusions- und Gegenort‹, der abhängig von der Art der Gäste, der Tageszeit oder des Standortes in Anlehnung an Foucault verschiedenste Räume an einem Ort zusammenbringt, soll in den folgenden Kapiteln in unterschiedlichen Texten analysiert und hinsichtlich der Darstellung des Raumes, des Schreibortes und dessen Metaphorisierung untersucht werden.
V.2.3.
Das Café als Ort des Dazwischen: Veränderlichkeit, Dynamik und ›Third Place‹
Der Feuilletonartikel »Café de l’Europe« von Anton Kuh wurde erstmalig am 21. Dezember 1918 als Feuilletonbeitrag im Prager Tagblatt veröffentlicht. Darin beschreibt Kuh den Werdegang des Café de l’Europe, welches 1874 von Wilhelm Fränkel auf dem Wiener Stephansplatz erbaut und nach seiner Zerstörung am Ende des Zweiten Weltkriegs ganz in der Nähe, in der Fußgängerzone am Graben, als italienisches ›Café-Espresso‹ im Stil der 1950er Jahre wieder errichtet wurde.382 Anton Kuh schreibt in seinem Feuilleton, dass das Café durch die räumliche Nähe zum Stephansdom zum ›Gegenort‹ werde, indem es sich als Lokal des Genusses und der nächtlichen Halbwelt von der stattlichen gotischen Kathedrale absetze beziehungsweise an ihr ›abarbeite‹. Zudem befindet sich während der Zwischenkriegszeit das jüdische 378 Hilde Spiel: Glanz und Untergang. Wien 1866-1938, München 1987, S. 58. 379 Diese definiert Foucault wie folgt : »c’est-à-dire que les lieux que la société ménage dans ses marges […] sont plutôt réservés aux individus dont le comportement est déviant par rapport à la moyenne ou à la norme exigée.«, in : Foucault : »Les hétérotopies«, S. 42. Vgl. auch Kapitel V.2.4 dieser Arbeit und Mandt : »›It’s the home of ghosts and tourists‹«, S. 113ff. 380 Vgl. Foucault : »Les hétérotopies«, S. 47. 381 Vgl. »Das alte Café des Westens […] war immer bummvoll, Tag und Nacht. […] Heute steht an derselben Stelle der pompöse Kranzlerpavillon, der sich um etliche Stockwerke erniedrigt hat. Der Zutritt ist heute viel leichter als vor Jahrzehnten. Die Konsumenten können wahllos hineinströmen. Wir waren damals exklusiver.«, in: Rudolf Forster: Das Spiel mein Leben, Berlin 1967, S. 131f. 382 Das Café wurde im Jahr 2000 vollständig renoviert, um laut Webseite »in modernem Glanz mit klassischem Flair neu zu entstehen.«, vgl. Website des Café de l’Europe in Wien: www.cafe-europe.at/ueber-uns.html (13.03.2018). Birgit Schwaner zufolge ist durch die Renovierung der Originalstil der 1950er Jahre und mit ihm der Charme des Cafés jedoch weitgehend verloren gegangen. Vgl. Schwaner/Westermann: Das Wiener Kaffeehaus. S. 186; 191.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Kaufhaus Rothberger383 neben dem Café, welches eine weitere Komponente des Standortes auszeichne: Es befand sich – wie männiglich bekannt – auf dem Stefansplatz [!], neben dem Rothberger und vis-a-via von der Gothik, im idealen Mittelpunkt der Stadt. Der Standort war Charakter, Eigenart, Spezialität, Schicksal – des Cafés? Ja. Aber noch mehr der Stadt. Keine Kirche in ihr ohne Café, kein Café ohne Kirche. Café, Kirche – das war ihr Wahrzeichen. So gehörte ihr Hauptplatz teils dem traulich-winkeligen, idyllisch-engen Mittelalter, teils der weltstadt-regen, pariserisch-balkanischen Neuzeit. Der Stefansturm vertritt die Traulichkeit, die Enge, das Mittelalter. Das Café de l’Europe vertrat die Weltstadt, Paris, den Balkan – gerade dem Turm gegenüber. Das bewirkte seinen topographischen Reiz, der sich besonders nächtlich wirksam entwickelte.384 Der Erzähler zeichnet hier ein Dreieck zwischen dem Stephansdom, dem jüdischen Warenhaus und dem Café de l’Europe, deren gemeinsame Topographie ein Wahrzeichen der Stadt Wien darstellt, deren Anziehungskraft von der reziproken Wirkung dieser ›Gegen-Orte‹ herrühre. Dabei steht die Kirche für das heimelige, katholisch-konservative Deutsch-Österreich, dessen Bewohner und Bewohnerinnen sich innerhalb ihres engen geistigen Horizonts nicht über die Stadtgrenzen hinausbewegten, wohingegen das Kaufhaus und das Café grenzenlosen Konsum, Freiheit, urbanes Weltbürgertum und Toleranz anderen Religionen und fremden Völker gegenüber symbolisierten. So verkörperten sie zusammengenommen auf kleinem Raum einen ganzen Mikrokosmos, in dem sowohl die Tradition als auch die Moderne, katholische Sittlichkeit und ausschweifendes Nachtleben, Wien und die österreichische Republik nach 1918 sowie das große und vielfältige Habsburger Reich und der Rest Europas abgebildet würden. Daher bedeutet die Schließung des Café de l’Europe und anderer Kaffeehäuser laut dem Erzähler auch nichts weniger als die Reduzierung Wiens auf eine christlich geprägte, biedere österreichische Kleinstadt, die keine Augen mehr für andere Kulturen, Sprachen und Traditionen habe: Das Café de l’Europe ist jetzt gesperrt worden. Eine Bankfiliale soll an seine Stelle kommen. Der Stefansplatz wird wieder rein-christlich (bis auf den Rothberger) und keuschbajuvarisch – das Wahrzeichen für Paris und Balkan schwindet. Ist das nicht zukunftsdeutend für Wien, die deutsch-österreichisch eingeschrumpfte Ex-Hauptstadt eines in Kaffeehäusern vereinten Völkerstaats? Ist es nicht symbolisch für seine Rückentwicklung in eine knödlig-biedere, werktätig-solide Kleinstadt? (CDE 66)
383 Das Warenhaus Rothberger war ein großes Textilkaufhaus am Wiener Stephansplatz, welches der jüdische Schneider Jacob Rothberger 1886 eröffnete und in den nachfolgenden Jahrzehnten aufgrund gutgehender Geschäfte erweiterte. 1938 wurde das Kaufhaus im Zuge der ›Arisierung‹ an Wilhelm Bührer und Joseph Dykoff verkauft, bevor es 1945 im Krieg ausbrannte. Vgl. Christina Gschiel/Ulrike Nimeth/Ulrich Weidinger (Hg.): schneidern und sammeln. Die Wiener Familie Rothberger, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 44; 170. 384 Anton Kuh: »Café de l’Europe«, in: ders.: Werke 1918-1923, Bd. 2, hg. v. Walter Schübler, Göttingen 2016, S. 64-66. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »CDE« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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Die für diese Arbeit definierten Merkmale der ›Kaffeehausliteratur‹ kommen auch in Anton Kuhs Beschreibung zum Tragen: So schreibt er nicht nur im Format der ›Kleinen Prosa‹, sondern verwendet viele Metaphern, Assoziationen, Farben und andere Adjektive aus dem Bereich der Sinneswahrnehmung. Auf diese Weise schildert er die Atmosphäre so, dass sie für seine Leserschaft förmlich zu greifen ist. Dem Café ordnet er kategorisierend ein »strahlendes Halbwelt- und Betriebslicht« zu, wohingegen der Dom aus »Konturen historischer Finsternis, Schwärzen und Schweigen auf einem Fleck« (CDE 65) bestehe. So wird dem Café durch die Zuordnung heller Farben und der Erwähnung des regen Verkehrs eine positivere Konnotation verliehen, während der Kirche durch die dreifache Betonung der Verdunkelung und Stille (Finsternis, Schwärze, Schweigen) eine negative beigemessen wird. Das Café de l’Europe gliedert sich in verschiedene Räume, da es rund um die Uhr geöffnet ist und so die unterschiedlichsten Gäste besonders in den frühen Morgenstunden anzieht. Ganz im Sinne von Foucaults Heterotopie bringt es so je nach Tageszeit einen normalen Gastraum, in dem man bewirtet wird, aber auch Geschäftsraum und Bordell zusammen: Die interessanteste Zeit aber war um 3, 4 Uhr morgens. Da saß etwa, in ein Journal vertieft, ein glattgescheitelter, schüchterner Jüngling, blickte von Zeit zu Zeit unruhig nach der Drehtür, bis der Schwarm aufgedonnerter und hochgeraffter, Parfümströme ausgießender Damen einbrach und eine von ihnen sich seinem Platz näherte. Er stand artig auf, küßte ihr die Hand, hängte ihren Pelz an den Nagel, setzte sich wieder verlegen zu seinem Blatt, während sie seinen Handrücken koste. Dann schob sie ihm sachte ihre Réticule zu – und er zahlte. (CDE 65f.) Friedrich Torberg nennt das Café de l’Europe liebevoll ein »Hurencafé«, in dem sich die Prostituierten nach Mitternacht von ihrer Arbeit erholen und in toleranter Atmosphäre mit den anwesenden anderen Gästen »plaudern« konnten: Die Stammkundschaft des Café de l’Europe war ziemlich genau das, was man ›gemischt‹ nennt. Seine günstige Lage in der Stefansplatz-Nähe, zwischen dem Nobelstrich auf der Kärntnerstraße und dem weniger noblen auf der Rotenturmstraße, machte das Lokal zum natürlichen Sammelplatz der hüben und drüben amtierenden Damen, die sich hier von den Strapazen ihres Berufs erholen konnten […] und, wenn ihnen danach zumute war, mit den Angehörigen der gänzlich anders gearteten Besucherschicht […] ein wenig plauderten, ohne berufliche Hintergedanken, manchmal heiter und manchmal traurig […]. Es war eine unvergleichliche Atmosphäre, die im Café de l’Europe zwei wahrlich diskrepante Lager miteinander verband, eine Atmosphäre gelassenen Einverständnisses und wechselseitigen Respekts, wie er den beiden Lagern nirgends sonst zuteil geworden wäre.385 Torberg führt die gelungene Vermischung der verschiedenen Gäste auf den besonderen Ort zurück, der die Menschen miteinander verbindet, so wie es an keinem anderen Ort möglich gewesen wäre:
385 Torberg: »Kaffeehaus ist überall«, S. 200.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
wer da geringschätzig oder gar verächtlich von Huren spricht, lasse sich gesagt sein, daß ich in diesem Hurencafé zwischen Mitternacht und 4 Uhr früh auf mehr Beweise von Herzenstakt und menschlicher Sauberkeit gestoßen bin als in sämtlichen je von mir frequentierten Kaffeehäusern, und das will etwas heißen.386 Jedoch ist das Café Kuhs Erzähler zufolge kein Ort, an dem es sich gemütlich sitzen lässt, weil die Atmosphäre durch kaltes, grelles Licht und einen erhöhten Lärmpegel nicht zum Verweilen einlade. Ganz im Gegenteil sei es ein Ort des Durch- und Übergangs, weil die anwesenden Gäste ständig im Aufbruch seien und niemals wirklich ankämen. Sogar die Tür stehe niemals still, sondern spüle Menschenmassen in das Café hinein und wieder hinaus. Dieser schnelle Wechsel und die permanente Bewegung werden im Text durch kurze, stakkatohafte Sätze und Bewegungsverben verdeutlicht. Auch wird hier ein Vergleich zum Meer gezogen, wenn die Gästeschar mit tosenden Wellen gleichgesetzt wird, die alles unter sich begraben und durch die sich die Kellner wie Schiffe ihren Weg bahnen müssen. Durch die Erwähnung der Geräusche und die Betonung des ununterbrochenen Aufruhrs wird die aufgewühlte Atmosphäre als ›leiblich spürbare Bewegungssuggestion‹387 greifbar: Das Café de l’Europe hatte einige merkwürdige Eigenschaften. Zunächst war es bummvoll, sommers und winters und zu welcher Tageszeit man es betrat. Denn es war kein Aufenthalts- sondern ein Durchgangscafé. Die Glastüre im Eingang drehte sich ununterbrochen, Tag und Nacht, und oft konnte man während einer Stunde denselben Hut, denselben Bart, dieselbe Diebsnase zehnmal in Rotation sehen. Man kam schauen und ging. Das kalte Weißlicht, der tosende Wellenlärm, durch den, wie Spielmotorboote im Teich, zischend und auf die Seite geneigt, hochbeladene Kellner schnellten, lud nicht zu Behagen. Zweitens: Von hier ging das Zitat aus ›Ende nie‹. Das Café de l’Europe war ein großstädtisches Perpetuum mobile, ein Wunder der Rastlosigkeit und Unaufhörlichkeit und als solches auf Nachtfürchtige und Todesängstliche beruhigend wirkend. In der Früh saßen Übernächtige und Ebenaufgestandene einem Tisch und sahen sich aus fernen Welten an; jene mit heuchlerisch-überschärftem, wegscheuem Verachtungsauge, diese feuchtwimprig, frischgewaschen, rosenbackig, voll überlegenem Neid – zwei Rassen: Tag- und Nachtmensch, Lüderjahn und Bürger, einander widersprechend wie Lackschuhe auf tauigem Almgras. (CDE 65) So werden in der Atmosphäre des Cafés die Angehörigen zweier gegensätzlicher »Welten« oder »Rassen« vereint (CDE 65), deren Wege sich am frühen Morgen im Café kreuzen und die hier dennoch gleichzeitig eine Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse erfahren. Sie werden von Kuh sehr plastisch mit vielen eindrucksvoll kombinierten, sich widersprechenden Adjektiven, Farben und Materialien beschrieben: So wird beispielweise der schwarz-glänzende ›Lack‹ mit grünem, taunassem ›Almgras‹ kontrastiert oder das übernächtigte ›Verachtungsauge‹ im Gegenzug zum frisch ausgeschlafenen, rosigen Gesicht genannt, um die Gegensätze deutlich zu machen. Diese Umgebung von eigentlich unvereinbaren Tag- und Nachtmenschen mit ihren leiblichen Eigenschaften
386 Torberg: »Kaffeehaus ist überall«, S. 200. 387 Vgl. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 84.
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der »Frische und Mattigkeit«388 bezeichnet Hermann Schmitz als »sozialen Gefühlskontrast«389 : So hätten jene trotz aufeinanderprallender gegensätzlicher Atmosphären »wegen ihrer örtlichen Umschriebenheit in einer gemeinsamen Umgebung zwanglos nebeneinander Platz, so daß der frische Impuls keinen Anlaß hat, bei der Annäherung an das matte Befinden stutzig zu werden und sich zurückzuziehen.«390 Auch in Marc Augés Text Éloge du bistrot parisien, einer 2015 veröffentlichten und von persönlichen Erinnerungen an seine Studienzeit handelnden Liebeserklärung an die Pariser Bistros, verwandelt sich das Bistro je nach Tageszeit in einen anderen Raum; ebenso verändern sich die Atmosphäre und der Charakter: Tagsüber ist es ein schlichtes Bistro, abends wird es durch Tischdecken und Stoffservietten zum vornehmen, stilvollen Restaurant – dann sei die ›eigentliche Zeit‹ des Bistros vorbei: D’autres vagues suivront, à l’approche de midi, bien sûr, et vers sept heures du soir, heure à laquelle se croisent les derniers habitués du zinc et ceux qui viennent dîner tôt ou prennent l’apéritif […]. Côté zinc, à midi, ça ne faiblit pas, au contraire. […] Le parton vient donner un coup de main quand les commandes se bousculent un peu trop. Le soir, en revanche, c’est une autre équipe qui s’installe aux commandes. En salle – nappes et serviettes de tissu – le service prend des allures plus distinguées. On n’est plus tout à fait à l’heure du bistrot. (EBP 35) Genau wie Anton Kuh beschreibt auch Augé die Dynamik, mit der die Menschen ins Bistro strömen und später wieder hinausgespült werden, als ›Wellenbewegung‹, die sich täglich wiederholt. Der essentielle Vorteil des Bistros besteht daher laut Augé in der Veränderlichkeit des immer verfügbaren Raumes und der flexiblen Nutzbarkeit des Bistros je nach Tageszeit.391 Bei guter Organisation des Personals merke der Gast dabei gar nicht, wie sich der Wechsel zwischen den Räumen vollziehe. So träumt Augé von einem »équilibre idéal et fragile des divers espaces« und vergleicht ein gut organisiertes Bistro mit einer reibungslos funktionierenden Maschine, deren Räder gut geölt sind. (EBP 48) Die ideale, den Gast zufriedenstellende Atmosphäre lebt Augé zufolge von einer harmonischen Verbindung zwischen Zeit und Raum, da diese es dem Gast erlaube, jegliches psychische oder persönliche Bedürfnis in dem ›Raum seiner Wahl‹ innerhalb des Bistros zu befriedigen.392 Als positive Entwicklung nennt er in diesem Zusammenhang das neue Rauchverbot, welches den Gast zwingt, seinen Platz für kurze Zeit zu verlassen, um draußen zu rauchen. Dabei würde sich der Gast nicht nur einen ›Raum
Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 25. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 25. Hervorhebung im Original. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 25f. Vgl. »C’est donc moins la fonction […] qui fait le bistrot, que l’espace ou, plus précisément, l’espace en mouvement, et le temps ou, plus précisément, l’emploi du temps quotidien qui doit traduire du matin au soir une disponibilité sans faille. La gestion des heures creuses et des heures de pointe suppose une organisation attentive et, idéalement, invisible.« (EBP 49f.) 392 Vgl. »C’est bien la combinaison harmonieuse de l’espace et tu temps qui est source de satisfaction. Le bistrot idéal, c’est celui où, selon l’humeur du jour, on peut se glisser frileusement dans l’arrièresalle, se rapprocher du comptoir ou affronter ouvertement le monde extérieur depuis la terrasse, couverte ou non (là encore c’est affaire d’humeur – et de météo).« (EBP 50)
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neu erobern‹, sondern in Kontakt treten mit anderen Rauchenden, das heißt ihm vorher unbekannten Menschen, wodurch sich meistens ein flüchtiges Gespräch und damit eine ›neue Form der Geselligkeit‹ ergäben, die ohne das Rauchverbot nicht entstanden wäre. (EBP 45f.) Augé hebt besonders das Potential des Bistros hervor, oberflächliche Beziehungen zwischen einander nur flüchtig bekannten Menschen herbeizuführen beziehungsweise zwischen Menschen, die sich zwar regelmäßig dort treffen, jedoch in ihrem übrigen Alltag zwischen Beruf und Familie nichts miteinander zu tun haben. Es zähle dabei der Akt der nicht-intentionalen Konversation an sich und nicht der Inhalt derselben, da sie zur Zerstreuung diene. Deshalb warnt er davor, den Wert von ›banalem TresenSmalltalk‹, beispielsweise über das Wetter oder über Sportergebnisse, für die psychische Gesundheit der Menschen zu unterschätzen und diesen mit tiefgehenden oder gar psychotherapeutisch geprägten Gesprächen zu verwechseln. Letztere sollten nicht im Bistro geführt werden, weil gerade das von niemandem erwartet werde: Nous avons besoin de relations superficielles. Les mots échangés dans les conversations sont souvent plus importants par le fait d’être échangés que par leur contenu. Important du simple fait d’être prononcés en s’adressant à un autre, même s’ils ne lui apprennent rien, pas plus que la réponse de celui-ci n’apportera quoi que ce soit à son interlocuteur. Les mots échangés pour ne rien dire le sont consciemment; c’est l’échange qui importe. […] On a parfois moqué méchamment les ›brèves de comptoir‹ comme un symbole de bêtise heureuse et de banalité satisfaite, mais c’est leur assigner une prétention qu’elles n’ont pas, se tromper sur la nature de l’échange. Quand nous parlons de profondeur, nous usons d’une métaphore. Des propos profonds, une pensée profonde invitent à la réflexion […]. Attitude qui n’est pas impensable dans l’environnement du bistrot, mais qui n’est ni la plus habituelle, ni la plus attendue. On s’attend plutôt à des propos ›superficiels‹, pour conserver la même métaphore, des propos légers qui ne tirent pas à conséquence, des bavardages qui ne correspondent ni à la gravité éventuelle de l’actualité, ni au caractère tragique de la condition humaine. (EBP 51f.) Augé analysiert an dieser Stelle den verwendeten Sprachgebrauch und reflektiert auch die Gesprächsqualität. Er macht deutlich, dass es sich stets um Metaphorisierungen handelt, wenn über tiefgründige oder oberflächliche Unterredungen gesprochen werde. Augés Analyse der metaphorischen ›Tiefe‹ eines Gesprächs kann mit der Vorstellung von Wasser assoziiert werden, also dem Vergleich eines ernsthaften, gehaltvollen Gesprächs mit dem tiefen, aufgewühlten Wasser eines Ozeans, wohingegen eine Plauderei an der Oberfläche eines seichten Wassers verbleibt und nicht tiefer zu gehen vermag.
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Bezugnehmend auf den Begriff des ›Third Place‹393 , den der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg Ende der achtziger Jahre prägte, könnte ein gemäß Augé beschriebenes Bistro und die Vorgänge darin wie folgt definiert werden: The third place will hereafter be used to signify what we have called ›the core settings of informal public life.‹ The third place is a generic designation for a great variety of public places that host the regular, voluntary, informal, and happily anticipated gatherings of individuals beyond the realms of home and work.394 Gemeint sind mit ›Third Places‹ Orte wie Cafés oder Kneipen, in denen ein regelmäßiges, informelles und freiwilliges Zusammentreffen von verschiedensten Menschen stattfindet, unabhängig von ihrer Nationalität, Religion, familiären und beruflichen Situation oder der momentanen Laune.395 Dabei stelle der ›Third Place‹ den dritten wichtigen Ort des Menschen neben dem Zuhause (›First Place‹) und der Arbeitsstelle (›Second Place‹) dar und biete ihm ein »home away from home«396 , das durch einfache Erreichbarkeit für jeden, abwechslungsreiche, scherzhafte Gespräche ohne allzu viel Ernsthaftigkeit und eine ›Wohlfühlatmosphäre‹ und Offenheit charakterisiert sei, wie Richard Futrell schreibt; dabei unterstreicht er auch die wichtige Rolle der Angestellten eines Lokals für die Aufrechterhaltung dieser Atmosphäre.397 Verschiedene soziologische Studien fokussieren daher das Potential des Cafés als »›Substruktur der Interak-
393 Vgl. dazu auch den Begriff des ›Thirdspace‹, der unter anderem von Homi K. Bhabha und Edward W. Soja geprägt wurde. Soja definiert den ›Thirdspace‹ als »Treffpunkt«, als »Ort der Hybridität«, an denen man sich »jenseits altvertrauter Grenzziehungen bewegen kann; er ist auch ein Ort des Marginalen oder der Ränder, an dem alte Verknüpfungen durchtrennt und neue geflochten werden können. Man kann ihn vielleicht kartieren, aber niemals wirklich einfangen […]; und auch wenn man ihn sich mit noch so viel Kreativität vorstellt, seine Bedeutung entfaltet er erst, wenn er erlebt und gelebt wird.«, Edward W. Soja: »Thirdspace: Die Erweiterung des Geographischen Blicks«, in: Hans Gebhardt/Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer (Hg.): Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen, Berlin 2003, S. 269-288, S. 286. Vgl. auch: Edward W. Soja: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Malden 1996. Vgl. »But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ›third space‹ which enables other positions to emerge.«, Homi K. Bhabha: »The Third Space. Interview with Homi Bhabha«, in: Jonathan Rutherford (Hg.): Identity. Community, Culture, Difference, London 1990, S. 207-221, S. 209. 394 Ray Oldenburg: The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart of a Community, Cambridge 1999, S. 16. 395 Vgl. »Whatever the mood, occasion, or social position, the institution is adequate to it.«, in: Oldenburg: The Great Good Place, S. 198. 396 Oldenburg: The Great Good Place, S. 40. 397 Vgl. »I have always marveled at the connection created between individuals through short, goodnatured, daily, informal contact. […] This natural social chain of events continues at the customers pick up from the employees […] a certain casual socialness that manifests itself in a greeting, nod, wink, or even light conversation with the people around them. Whereas we are used to keeping our social blinders on in modern retail situations, the atmosphere of a third place, both physical and social, fosters a convivial openness. This openness, however, should not be confused with a contact or therapy group, since people are not required to be social, only invited to be so. […] The important aspect of these relationships is that they occur outside of any commitment and exist solely in the realm of basic human respect.«, in: Futrell: »The Third Place Coffeehouse«, S. 30f.
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tion‹, die Motivation sowie wirtschaftliche und emotionale Unterstützung bietet«398 , und es vermag, fremde Menschen in einer verpflichtungsfreien Zone zu einem familienähnlichem Gespräch zusammenzubringen; so schreiben Aksel Tjora und Graham Scambler, das Café sei ein Ort für »familiar strangers«399 , und für Paul Manning stellt es ein ›Laboratorium‹ dar, in dem neue Formen von ›Fremden-Geselligkeit‹ und Subjektivität ausgelotet würden.400 Ein weiterer wichtiger Aspekt im Sinne eines ›Third Place‹ liegt darin begründet, dass Menschen im Café sich gegenübersitzen beziehungsweise nebeneinanderstehen, sich unmittelbar zuhören und Blickkontakt haben. Sie begegnen einander also ›face to face‹ und können den leibhaftigen Körper, die Stimme und die Gesten ihres Gegenübers direkt erleben, wie Augé schreibt: Les relations de surface sont des relations de vis-à-vis; la surface concernée n’est pas d’abord celle des choses ou des propos, mais celle des visages ou, […] des corps […] : des sentiments, des craintes, des espoirs, privilégiant l’échange des regards et des gestes, au point de transformer les quelques sous-titres qui prétendaient l’expliciter en simples pléonasmes. (EBP 53) Auch hier wird ersichtlich, dass es nicht auf den geäußerten Inhalt ankommt, sondern darauf, dass Menschen miteinander direkt kommunizieren, ohne dass ein Abstand zum Beispiel per Telefon überbrückt werden muss. Da das Bistro sich im Alltag der Menschen auf der Schwelle zwischen dem Unterwegssein und der Ankunft im eigenen Zuhause befindet, kommt ihm daneben eine besondere Rolle als ›Ort des Dazwischen‹ zu, zwischen dem ›häuslichen‹ und dem ›öffentlichen Raum‹: »Le bistrot parisien est une sorte d’entresol hors des murs. […] Je ne suis plus tout à fait chez moi, mais pas encore ailleurs.« (EBP 61) Es kann als Puffer fungieren, so dass Frustrationen des Arbeitstages nicht mit nach Hause gebracht werden. So fügt es sich in das alltägliche Leben der Menschen ein und bedeutet für jeden einzelnen Gast etwas anderes, aber dennoch bilden diese unterschiedlichen Gäste während der Zeit ihrer Anwesenheit eine zufällige, temporäre Gruppe, lokalisiert an diesem vielschichtigen Ort: Mais il est aussi un lieu en soi, avec son décor et ses acteurs, avec son histoire. Il est un morceau de vie, fiché dans la mienne comme dans celle de quelques autres […] ils
398 Fitch: Künstlercafés in Europa, S. 23. 399 Vgl. »No less intriguing than such ›big‹ questions are those focusing on the café as a living, organic sociocultural institution. Cafés are now inevitably about networks and connectedness. […] The café is for ›familiar strangers.‹ It specializes in ›familiarity bonds‹ that can not only give succour but also enhance well-being quality of life, and maybe even, at a pinch, health and longevity […].«, in: Aksel Tjora/Graham Scambler: »Introduction«, in: dies. (Hg.): Café Society, New York 2013, S. 1-6, S. 2. 400 Vgl. »[…] such places for commensal drinking […] are emblematic of the tenor of interaction characteristic of modern public life in general: stranger sociability, a free egalitarian form of association pursued for its own sake without respect to status, interests, or consequences. […] Architectures of infrastructures of sociability like coffeehouses become the laboratories of new modes of sociability and subjectivity […].«, in: Paul Manning: »The Theory of the Café Central and the Practice of the Café Peripheral: Aspirational and Abject Infrastructures of Sociability on the European Periphery«, in: Aksel Tjora/Graham Scambler (Hg.): Café Society, New York 2013, S. 43-65, S. 44f.
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peuvent tenter d’imaginer, chacun pour leur part, tout comme moi, ce qui signifie leur présence en ce lieu. Le bistrot, c’est un lieu entre les lieux. (EBP 62) Augé unterstreicht hier erneut die positive Konnotation einer Mehrdeutigkeit, der Flexibilität und zweckdienlichen Wandelbarkeit innerhalb der räumlichen Anordnung des Bistros, welche gleichzeitig auf die unterschiedlichsten menschlichen Anforderungen zu reagieren imstande sei. Genau dieses Vermögen, in Foucault’scher Manier Räume zusammenzubringen, die eigentlich unvereinbar sind und dabei den unterschiedlichsten Gästen zu vermitteln, dass sie in diesem Moment im einzig ›wahren‹, nämlich in ›ihrem‹ Raum seien, macht nach Augé den atmosphärischen Charme des Bistros aus: Là encore, la qualité de la vie et des relations entre les uns et les autres passe par une gestion souple et efficace du temps et de l’espace. Celui ou celle qui quitte un moment la table pour y revenir souligne l’ambivalence du dispositif d’ensemble, ambivalence spatiale (intérieur – extérieur) et temporelle (pause – mouvement) au travers de laquelle s’exerce, au sens fort du terme, le charme du bistrot. (EBP 46) Les humains sont eux-mêmes ambivalents; ils veulent le même et son contraire, le porte et le grand large, le foyer et la vadrouille, Hestia et Hermès. Bien sûr, et c’est heureux, ils ne sont pas tous identiques : il y a des sédentaires et des nomades, par exemple. Le miracle des bistrots, quand ils sont miraculeux, c’est de répondre indifféremment aux besoins en apparence les plus opposés. (EBP 87) Er nennt dieses Phänomen das ›Wunder der Bistros‹ und hebt diese Lokale damit auf eine transzendente Ebene, vergleichbar mit einem religiös-spirituellen Ort, an dem nicht alle Abläufe völlig rational erklärbar sind. Sprachlich benutzt er an dieser Stelle aufzählend Stilfiguren wie Metaphern und Metonymien, welche die Gegensätze zwischen den Menschen beziehungsweise ihre innere Zerrissenheit darstellen: Für die Kontinuität eines sicheren Hafens, die Heim- und Herdstätte des Sesshaften, steht metonymisch die griechische Göttin Hestia, wohingegen der umtriebige Weltenbummler, welcher die unaufhörliche Bewegung des offenen Meeres und das Unterwegssein präferiert, Hermes, dem Gott der Reisenden und des Verkehrs zugeordnet wird. Zwischen diesen beiden extremen Polen changiert der Schwerpunkt der Menschen und damit der Gäste des Bistros. Die am Beispiel von Augés Text vorgestellte soziologische Reflexion über den Ort des Cafés oder Bistros, welche sprachlich durch Metaphorisierungen realisiert wird, soll als Kennzeichen der ›Kaffeehausliteratur‹ gewertet werden. Die gleichen Phänomene – die Ambivalenz der Menschen, die räumliche und funktionelle Wandelbarkeit eines Lokals sowie die von Außenstehenden kaum nachzuvollziehenden irrationalen, bisweilen übersinnlich erscheinenden Vorgänge darin werden acht Jahrzehnte vor der Veröffentlichung von Augés Éloge bereits in Siegfried Kracauers Feuilleton »Café im Berliner Westen« beschrieben – jedoch mit ungleich negativerer Konnotation und in einem höchst ironischen Ton, der dem Café nicht als Empfehlung gereicht. Das Café in diesem Feuilleton, welches am 17.04.1932 in der Frankfurter Zeitung erschienen ist, wird aus der Ich-Perspektive heraus beschrieben, wobei der Erzähler in einer distanzierten Beobachterposition verbleibt, aus der heraus er nur implizit Bewertungen vornimmt. Dabei betont der Erzähler vorgeblich verlegen, dass er den Lokalna-
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men nicht nenne, um keine Feindseligkeiten oder Schamgefühle zu erzeugen oder ein bestimmtes Café an den Pranger zu stellen. Gleichzeitig verteidigt er die Vorgehensweise von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die Welt als Inspiration zu verwenden: Schon die Notwendigkeit, den Ort des Cafés, das ich zu schildern mir vorgenommen habe, näher zu bestimmen, versetzt mich in eine gewisse Verlegenheit. […] Als ob ein Schriftsteller seine Modelle je porträtähnlich gestaltete und sie nicht vielmehr so lange ummontierte und überblendete, bis sie sich den mit dem Werk verbundenen Absichten vollkommen fügen! […] Aber man muß heute alle möglichen Rücksichten nehmen, und so beschränke ich mich auf die Angabe, daß das Café irgendwo im Berliner Westen liegt. Der Westen ist groß und umfasst zahlreiche Cafés.401 In Kracauers Feuilleton wird eine zweifache Transformation im betreffenden Berliner Café dargestellt, welche abhängig ist von der Tageszeit und den Gästen: Zunächst wird das Café personifiziert und als ein Gefühle empfindendes Wesen beschrieben, dem es »peinlich sein [könnte], wiedererkannt zu werden«, wie Personen, die sich verletzt fühlen, »wenn sie dahinter gekommen zu sein glauben, daß sie in einem Roman dargestellt worden sind« (CBW 49). Wenig später verwandelt es sich in einen passiven, dem Menschen dienenden Raum, welcher genau wie das Personal von den Launen der Gäste beherrscht wird. Es handele es sich hier auf den ersten Blick um ein ›alltägliches‹ Café, das einen »durchaus normalen Eindruck« mache (CBW 49) und die ›harmlosen‹ Besucher und Besucherinnen nichtsahnend eintreten lasse. Diese merkten jedoch recht schnell, dass es im Inneren des Cafés nicht mit rechten Dingen zugehe, so dass sie nur noch hoffen könnten, unversehrt den Ausgang zu erreichen: So alltäglich aber auch das Café anmutet, es ist inwendig verhext. Oder wie sonst sollte man sich die Tatsache erklären, daß jeder, der hier ahnungslos eintritt, um seinen Kaffee in Frieden zu trinken, binnen kurzem in einen Strudel ablenkender Ereignisse gerissen wird, die ihn zuletzt völlig verwirren? […] Wehe dem Gast, der zwischen ihre Schwärme gerät! Er ist vom Ersticken bedroht und kann sich noch glücklich schätzen, wenn er, dem dünnen Bimbim des Telephonglöckchens folgend, mit heiler Haut den Ausgang erreicht. (CBW 50; 52) Das von außen betrachtet durchschnittlich anmutende Café verwandelt sich also im Inneren in einen nicht zu kontrollierenden, ›verhexten‹ Ort, in dem die ›gewöhnlichen‹ Besucherinnen und Besucher den von bestimmten Gästen ausgelösten Vorgängen machtlos ausgeliefert sind. Sobald diese besonderen Gäste das Café am frühen Abend jedoch für kurze Zeit verlassen haben, findet im Innern eine rückwärtsgewandte Bewegung statt, die es in ein alltägliches Café zurückverwandelt, welches dem Gast die normalen Annehmlichkeiten eines ruhigen Kaffeehausbetriebs bietet, wie die Möglichkeit Zeitungen zu lesen oder bewirtet zu werden: »eine sanfte Stille tritt ein. Harmlose Gäste durchblättern die Zeitschriften, die Pagen kichern hinter einer Balustrade, und in den Ecken flüstern verliebte Pärchen.« (CBW 51). Folglich ist das Café veränderlich in 401 Siegfried Kracauer: »Café im Berliner Westen«, in: ders.: Aufsätze 1932-1965, Schriften Bd. 5.3, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M. 1990, S. 49-52, S. 49. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »CBW« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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seiner Funktion und verwandelt sich, je nach Erfordernis, von einem personifizierten Wesen, dem die Beschreibung unangenehm sein könnte, zu einem passiven Lokal ohne eigene Charakterzüge. Des Weiteren bildet sich innerhalb des Cafés eine weitere Dynamik aus, wenn sich die anwesenden, für den erwähnten ›Strudel ablenkender Ereignisse‹ verantwortlichen Gäste unentwegt Bewegung verschaffen. An dieser Stelle tritt der Erzähler wieder mit einer scheinbar zu wahrenden Diskretion hervor, dass er keine näheren Informationen zu den Gästen nennen dürfe, um »gegenseitige[] nationale[] Vorurteile« nicht zu schüren – und erreicht damit genau das Gegenteil, weil er die Aufmerksamkeit genau darauf lenkt, was er vorgeblich nicht erzählen möchte: Diese ›besonderen‹ Gäste werden vom Ich-Erzähler nämlich als Stammpublikum mit »ausländischer Herkunft« bezeichnet, welche »in der Operetten- und Filmbranche tätig« seien und denen das Café als »Börse«, »Zuhause« (CBW 50) und Landschaft für »Wanderungen« (CBW 51) diene. Das Café changiert zwischen diesen Positionen hin und her, so wie die Gäste es wünschen. Daher benötigen sie keinen anderen Ort, um Geschäfte zu machen, oder eine gemütliche Wohnung, da sie sich das Café ganz so einrichten, wie sie es für ihre Bequemlichkeit brauchen: Aber nicht die Börsengeschäfte selber rufen jenen Strudel hervor, der alle Unbeteiligten verschlingt. Er brodelt und zischt vielmehr erst in den Feierstunden, in denen die richtige Börse erstorben ist. Dann verlassen die Stammgäste nämlich nicht wie andere Börsenbesucher den Versammlungsort, um ins Café oder nach Hause zu gehen, sondern verwandeln einfach die Börse in ein Café und machen aus ihm ihr Zuhause. So kommt es, daß sie sich eigentlich Tag und Nacht zu ständig wechselnden Zwecken im selben Raum aufhalten. Bald treffen sie Vereinbarungen über Schlager und Engagements, bald sind sie gewöhnliche Gäste und bald wohnen sie hier. (CBW 50) Auffällig ist hier der deutlich ironische Erzählton, welcher sich über das nicht vorhandene Benehmen der beschriebenen Gäste mokiert, weil diese das Café zum einen ganz für ihre Zwecke einnehmen, so dass kein Raum für die restlichen Gäste bleibt, von denen sie sich abheben wollen. Zum anderen wollen sie auch das Personal im Griff haben, welches keinen Gewinn mit ihnen macht, aber sich von ihnen herumkommandieren lässt: Ich weiß nicht, ob sie noch irgendwo eine eigene Unterkunft haben, aber jedenfalls benehmen sie sich in dem Café so ungezwungen wie in ihren privaten vier Wänden. Es ist, als wollten sie dem Zufallsgast von vornherein zeigen, wie behaglich sie sich fühlen. Da man bei sich zuhause nichts essen und trinken muß, wenn man nicht unbedingt will, verzichten sie meistens darauf, eine Bestellung zu machen; es sei denn, daß sie sich zwei Glas Wasser bringen lassen, um dem Kellner eine kleine Gefälligkeit verweisen. Der Kellner wäre sonst überflüssig und könnte unter Umständen abgebaut werden. Den Pagen droht in dieser Hinsicht keine Gefahr, weil sie voll ausgenutzt sind. Sie dürfen nicht nur in einemfort das Glöckchen schwingen, sondern auch all jene Zeitung hin- und herschleppen, die denselben Nationen wie das Stammpublikum angehören. (CBW 50f.)
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Kracauers Beschreibung der »Beschäftigung des Wohnens«, welche den beschriebenen Stammgast »ganz aus[füllt]« (CBW 50), konterkariert und bekräftigt gleichzeitig auf ironische Weise Graf K. von Dürckheims402 , Hermann Schmitzʼ und Otto Friedrich Bollnows Ausführungen zum ›gelebten Raum‹ und zum ›Wohnen‹ – freilich unbewusst und im Falle der beiden letztgenannten Autoren viele Jahre vor dem Erscheinen ihrer Studien, in denen diese einerseits die flexible Wandelbarkeit eines Aufenthaltsortes in Relation zum jeweilig darin lebenden Menschen reflektieren und andererseits betonen, dass es eines besonderen Kraftaufwands bedürfe403 , um sich einen Raum zu eigen, das heißt zur Wohnstätte zu machen, indem man diese den eigenen Bedürfnissen anpasse und eingrenze, um die Privatsphäre zu schützen.404 Daneben müsse diese bestimmten Anforderungen genügen, damit der Mensch sich darin frei bewegen könne: Damit der Mensch auf der Erde an einem festen Ort wohnen kann, genügt es nicht, sich flüchtig nur irgendwo niederzulassen, sondern es bedarf erst einer besonderen Anstrengung. Der Mensch muß sich an diesen Punkt im Boden gründen, er muß sich hier gewissermaßen festkrallen, um sich gegen den Ansturm der Welt, die ihn dort wieder verdrängen will, behaupten zu können. […] Wohnen heißt also: eine feste Stelle im Raum haben, an diese Stelle hingehören und in ihr verwurzelt sein. […] Um dort in Muße wohnen zu können, bedarf diese Stelle einer gewissen Ausdehnung. Der Mensch muß sich dort in einem gewissen Bereich bewegen können. Das Wohnen erfordert einen bestimmten Wohnraum.405 Allerdings herrscht in dem von Kracauer beschriebenen Café ein Ungleichgewicht vor, weil nur bestimmte Gäste sich dort wohlfühlen. Alle anderen können sich Schmitz zu-
402 Vgl.: »Der gelebte Raum […] ist für das Selbst Medium der leibhaftigen Verwirklichung, Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer, Durchgang oder Bleibe, Fremde oder Heimat, Material, Erfüllungsort und Entfaltungsmöglichkeit, Widerstand und Grenze, Organ und Gegenspieler dieses Selbstes in seiner augenblicklichen Seins- und Lebenswirklichkeit.«, in: Graf K. von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, hg. v. Volker Albrecht/Jürgen Hasse/Ellen Sulger, Frankfurt a.M. 2005, S. 16; vgl. auch: »Der konkrete Raum ist ein anderer je nach dem Wesen, dessen Raum er ist, und je nach dem Leben, das sich in ihm vollzieht. Er verändert sich mit dem Menschen, der sich in ihm verhält, verändert sich mit der Aktualität bestimmter Einstellungen und Gerichtetheiten, die […] das ganze Selbst beherrschen. […] So sind der Mensch und sein Raum im aktuellen und im strukturellen Sinn aufeinander gestellt, und der gelebte Raum weist in all seinen Bestimmtheiten zurück auf Richtungen, in denen bestimmtes menschliches Leben und Wesen sich erweist und erfüllt, sich bewahrt und verwirklicht, Form hat oder gewinnt.«, in: ebd. S. 17. 403 Vgl. »Wie stark dieser Raum als Korrelat an den in ihm lebenden Menschen gebunden ist, geht wiederum daraus hervor, daß er nicht nur für die verschiedenen Menschen ein verschiedener ist, sondern sich auch für den einzelnen verändert je nach seiner jeweiligen Verfassung und Bestimmtheit. Jede Veränderung ›im‹ Menschen bedingt eine Änderung seines gelebten Raums.«, in: Bollnow: Mensch und Raum, S. 20. 404 Vgl. »Wohnen ist ein Verfügen über Atmosphärisches, sofern dem Verfügen durch die Umfriedung ein Spielraum gewährt wird; daher ist die Wohnung ein geschützter Raum, in dem der Mensch dank der filternden Umfriedung im gewissen Maß Gelegenheit hat, sich mit den reinen Stimmungen und den abgründigen Erregungen zu arrangieren, indem er sie in einer Hinsicht züchtet, in einer anderen dämpft und so im günstigen Fall für ein schonendes, aber auch intensives und nuancenreiches Klima des Gefühls sorgt.«, in: Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 77. 405 Bollnow: Mensch und Raum, S. 128.
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folge »mit den abgründigen Atmosphären«, die den Raum beherrschen, nur insoweit arrangieren, dass sie »zu ihnen ein Verhältnis finde[n]«, in dem sie »mit einem gewissen Maß an Harmonie und Ausgeglichenheit leben« können.406 Das heißt, dass sie das Café nur – wie oben erwähnt – am frühen Abend betreten, wenn die besonderen Gäste fort sind, so dass eine simultane, gleichberechtigte Teilung des Raumes nicht möglich scheint. Nachdem sich das Stammpublikum mittels der ausländischen Zeitungen, die von den Pagen kontinuierlich herbeigebracht werden, »über Vorgänge in den Cafés der Heimat« (CBW 51) informiert hat, beginnt es, im Café, also in seinem ›Wohnraum‹, hinund herzulaufen, so dass eine unaufhörliche Bewegung zwischen den Tischen zu verzeichnen ist: Daß sie schön ist und zu Wanderungen ermuntert, die Heimat, schließe ich aus dem Drang der Gäste, sich in ihrem Caféhaus ununterbrochen zu bewegen. Noch nie habe ich eine ähnlich starke Bewegung erlebt, und alle literarischen Bewegungen, die kenne, stehen an Triebkraft weit hinter dieser zurück. (CBW 51) Im Anschluss folgt eine detaillierte Beschreibung der Umgruppierung der Gäste407 , in der nicht nur Verben der Bewegung enthalten sind, sondern Metaphern aus drei anderen Wortfeldern verwendet werden. So berühren sich die Semantik des Krieges, des Tierreiches sowie eines Labors oder einer Küche, wo verschiedene Materialien und Zutaten verarbeitet werden. So heißt es beispielsweise, dass das Stammpublikum andere Gäste zunächst mit »magnetischer Gewalt« anlocke, sodann balle sich ein Menschenhaufe […] zusammen, der die freien und besetzten Stühle in der Nachbarschaft mit sich reist und zuletzt einen undurchdringlichen Klumpen bildet, dessen Bestandteile nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Zu bedauern ist nur der Tisch in der Mitte des Klumpens. Plötzlich und grundlos zerstreut sich die Gesellschaft
406 Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 75. 407 Vgl. auch die beschriebenen Wanderungen und Umgruppierungen der Gäste eines ›großen Cafés‹ bei Franz Werfel, die sich aber im Kontrast zu Kracauers Gästen sehr träge, angewidert und lethargisch bewegen, ohne jede Form der Dynamik, was der generell vorherrschenden Atmosphäre entspricht, die mittels der Nennung von Gerüchen und Geräuschen geschildert wird: »Zu Ort, Licht und Luft paßten die Gäste nicht übel. Es waren zwar nur sechs oder sieben Tische besetzt, zwischen denen aber ein reger Verkehr herrschte. Immer wieder stand jemand auf, schlurfte müde ein paar Schritte und setzte sich ohne Umstände zu der Gesellschaft eines anderen Tisches, wo er, meist gar nicht an der Unterhaltung teilnehmend, gelangweilt verharrte. Unnachahmlich schlaff bewegten sich einige dieser Gestalten, ebenso wie die Vernachlässigung ihres gutbürgerlichen Anzugs unnachahmlich schlaff war. Zwischen angeekelten Lippen hingen erloschene Zigarren und Zigaretten, an denen zu saugen die Raucher viel zu gleichgültig schienen. Die Gesichter waren fast alle blaß, verfallen oder aufgedunsen. Sie seufzten vor unentrinnbarer Öde. Nur manchmal durchbrach ein erschreckendes Temperament die stieren Masken. Wortschwärme prasselten feindselig auf, die faulen Arme ruderten erregt, Witzigkeit spitzte die Sätze. Schnell aber war solch ein Feuer wieder zusammengesunken. Kellner lehnten verächtlich an den Säulen des Saales. Sie glichen weniger dienstbaren Geistern als milden Gefangenenaufsehern, die gutmütig den Unfug von Sträflingen dulden, jederzeit aber bereit sind, mit voller Strenge einzuschreiten.«, in: Franz Werfel: Barbara oder Die Frömmigkeit, Frankfurt a.M. 1996, S. 364f.
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wieder, und übrig bleiben Zigarettenreste und zahlreiche leere Stühle, die unordentlich im Raum herumfahren. (CBW 51) Die einzelnen Menschen werden hier also zu einer gleichförmigen Masse ohne spezifische Eigenheiten, die von einem Magneten angezogen werden und in einem undefinierbaren Kloß verschmelzen. Dabei hat diese Masse so viel Kraft, dass sie fast den betreffenden Tisch »zerquetscht« und ihm »sein schmuckes Aussehen« genommen hat. Nachdem sich der ›Menschenklumpen‹ aufgelöst und viel Unordnung und Schmutz hinterlassen hat und die Gäste nun wieder einzeln in Erscheinung treten, werden die »Mitglieder des Klüngels« (CBW 51) mit Bewegungsabläufen und Tätigkeiten in Verbindung gebracht, die an einen Insektenschwarm oder an eine militärische Einsatztruppe erinnern, die sich im Kriegszustand befindet: So befindet sich der ahnungslose Gast, wenn er in »ihre Schwärme gerät«, in Lebensgefahr, ihm droht der Erstickungstod, als wäre er in ein Wespennest getreten (CBW 52). Die Truppenmitglieder hingegen beherrschen ihre Umgebung‹ vollkommen, während sie fremde Stühle und Tische plötzlich und grundlos ›beschlagnahmen‹. Dabei streifen sie einzeln durchs Lokal, um bald an irgendeiner neuen Stelle unvermutet zusammenzuschießen. Manche setzen sich überhaupt nicht, aus Angst, sie könnten etwas versäumen […] und sind wie fliegende Truppen immer zum Aufbruch bereit. (CBW 51) Weiterhin fällt wie bei Kuh und Augé auch bei Kracauer eine Metaphorik auf, bei der Wörter aus dem Bereich ›Kraft und Bewegung‹ in Zusammenhang mit Wasser und Wetter genannt werden. So zum Beispiel wenn der Erzähler von einem »Strudel« spricht, welcher »brodelt und zischt«, alle »Unbeteiligten verschlingt« und nach dem Abflauen am Abend in der Nacht wieder aufbraust, als wäre ein Sturm über dem Meer aufgezogen: »Denn kaum ist man der Pause halb inne geworden, so tost der Strudel schon wieder und heftiger als zuvor.« (CBW 52) Neben den Geräuschen, die das Auf- oder Abflauen des Wassers verursacht, welches ›Flut‹ und ›Ebbe‹ der Menschen darstellen soll, werden auch die anderen im Kaffeehaus erzeugten Geräusche sehr eingehend beschrieben, wobei hier große Gegensätze aufeinanderprallen: Einerseits heißt es im Text, dass das Café zwar »eine ziemliche Ausdehnung« habe und »mit Menschen und Zeitungen gefüllt« sei (CBW 49f.). Andererseits seien keine Geräusche oder Musik zu hören, so dass bis auf das leise Bimmeln eines kleinen Glöckchens, das einen Telefonanruf ankündigt, »sanfte Stille« (CBW 51) herrsche, sofern die ›besonderen‹ Gäste nicht anwesend seien. Jedoch prophezeie dieses ›Sanfte‹ nur die bevorstehende, drohende Rückkehr des lauten, unruhigen Stammpublikums408 : Die einzige Musik, die man in ihm hören kann, wird durch ein feines Glöckchen erzeugt, das oberhalb einer handlichen Schiefertafel hängt, auf der sich der Name des jeweils zum Telephon gewünschten Gastes eingetragen findet. Immer, wenn der Page die Tafel
408 Vgl. »[…] das Sanfte: Sanfte Musik, sanfte oder milde Wärme, sanfte Müdigkeit stimmen überein in einem synästhetischen Charakter, dessen leibliche Dynamik als Dämpfung, aber nicht Stilllegung des Antagonismus von Spannung und Schwellung im vitalen Antrieb charakterisiert werden kann«, in: Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 34f.
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mit dem Glöckchen darüber spazieren führt, ertönt ein Bimbim, und wäre der Rauch nicht so dicht, man glaubte auf einer Alm unter klingenden Kühen zu ruhen. (CBW 50) Durch die Gleichsetzung eines verrauchten, lärmigen Gasthauses mit einer Alm, auf der im taunassen, grünen Gras und in frischer Luft die Kühe weiden und dabei mit ihren Glocken läuten, wird der schroffe Gegensatz zwischen den ›unauffälligen‹ und den ›besonderen‹ Gäste klar, welche dieses eigentlich unscheinbare Café in eine qualmige, geräuschvolle Hölle verwandeln, in der sie ohne Rücksicht auf andere Gäste lautstark singen und miteinander über Tischgrenzen hinweg ohrenbetäubende Unterhaltungen führen: Solche Umgruppierungen erhöhen nicht nur die Bequemlichkeit, sondern gewähren auch einen besseren Überblick über die im Lokal verteilten Gefährten. Nicht selten kommen vertrauliche Unterhaltungen zwischen Partnern zustande, die sich an entgegengesetzten Enden befinden. Die Hauptsache ist, daß die Stimme weit genug reicht. Gegen Abend stockt der Wohnbetrieb […]. Ich habe Grund zur Annahme, daß es [i.e. das Stammpublikum] sich in der Zwischenzeit erholt, um für den Abend neue Kräfte zu sammeln. […] Sie alle sind vollzählig eingezogen und bemühen sich jetzt darum, ihre Leistungen zu verdoppeln. Unbekümmert besetzen sie die Gänge, summen Bruchstücke sinnloser Melodien, schlagen über Abgründe hinweg Gesprächsbrücken und kreischen. (CBW 51f.) Sehr deutlich werden im letzten Zitat der ununterbrochene Wechsel zwischen starker Lautstärke und völliger Stille sowie die Kontrastierung von Dynamik und Bewegungslosigkeit. Immer wieder werden diese starken Gegensätze thematisiert, um die Absurdität der Situation zu verdeutlichen; zum Beispiel, wenn ein vertrauliches Gespräch von räumlich weit auseinanderliegenden Positionen geführt wird oder dieselben Menschen auf der einen Seite harmonische ›Melodien‹ singen und auf der anderen Seite dissonantes, schrilles Gekreische von sich geben. Zusammenfassend lassen sich für Kracauers und Kuhs Texte drei Hauptelemente festhalten: Erstens werden die Atmosphäre und die sinnlichen Qualitäten des Kaffeehauses sprachlich assoziativ, metaphorisch und höchst plastisch dargestellt, zum Beispiel die Wahrnehmung der Geräusche, Gerüche, optischen und haptischen Eindrücke, wobei bestimmte Wortfelder, wie die des Wassers oder des Militärs, vorherrschen. Zweitens spielen wie bei Augé die Reflektionen über unterschiedliche Funktionen des Cafés und der verschiedenen Gäste eine wichtige Rolle, so dass das Kaffeehaus je nach Tageszeit und Art der Gäste zwischen den möglichen ›Räumen‹ changiert. Drittens fällt die ironisch-distanzierte Erzählperspektive auf, die eigene Erfahrungen und Beobachtungen in einem bestimmten Café vorgeblich neutral zu schildern versucht und dabei gleichzeitig eine persönliche Bewertung beziehungsweise Kritik vornimmt. Im Hinblick auf die Gattung der ›Kaffeehausliteratur‹ lässt sich aufgrund der genannten Aspekte und ihrer Zugehörigkeit zur ›Kleinen Prosa‹ konstatieren, dass die in diesem Unterkapitel untersuchten Texte von Kuh und Kracauer dem ›Idealtypus‹ sehr nahekommen, weshalb sie der ersten Kategorie der ›Kaffeehausliteratur‹ zugeordnet werden. Augés Text hingegen soll aufgrund seiner Länge der zweiten Kategorie zugeordnet werden. Wegen der literarischen Qualität des Textes und der gleichzeitig enthalte-
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
nen soziokulturellen Reflexionen stellt er einen für das Korpus dieser Arbeit typischen Zwittertext dar. Zudem ist Augés Studie auf einer Metaebene angesiedelt, von der aus sachliche Beobachtungen über das Bistro angestellt werden, ergänzt von persönlichen Äußerungen des Erzählers. Somit bedeutet es einen Mehrwert, Augés Text sowohl als literarische Quelle zu analysieren als auch seine raumtheoretischen und soziologischen Implikationen in den Blick zu nehmen.409
V.2.4.
Das Café als Abweichungsheterotopie
Il s’agit d’une fuite existentielle, ou psychique, programmée par le personnage qui décide de rompre les amarres, voire de changer d’identité, par lassitude, parce qu’il est incapable de continuer à jouer le rôle que la société lui impose.410 Die Flucht – vor der herrschenden Norm, vor der Gesellschaft mit ihren starren Konventionen oder einer gefährlichen Ideologie – ist für den von der Mehrheit nicht akzeptierten Menschen nur möglich, wenn für ihn ein Raum als Zufluchtsstätte existiert, in dem er sich trotz all seiner Sorgen geborgen, akzeptiert und wahrgenommen fühlt, um einen Moment lang Ruhe zu finden und Atem zu schöpfen. In diesem Kapitel soll das Café Le Condé aus Patrick Modianos 2007 erschienenem Roman411 Dans le café de la jeunesse perdue als ein solcher Fluchtort, als wichtiger Aufenthaltsort während menschlicher Krisensituationen analysiert werden, der den Figuren einen Fixpunkt voller Beständigkeit und Trost bietet. Der Roman erzählt die Geschichte einer geheimnisvollen jungen Frau aus vier unterschiedlichen Perspektiven, aus ihrer eigenen und denen der anderen drei Protagonisten, welche sich auf Spurensuche begeben, um der Frage nach der ›verlorenen Jugend‹ nachzugehen, die sie jedoch nicht beantworten können, weil sie ausschließlich in der puren Gegenwart zu leben scheinen und die Vergangenheit nicht zurückholen können. Die spätere Schließung des Cafés wird daher gleichgesetzt mit der für immer verschwundenen Jugend in der Stadt Paris. Das im Umkreis des Carrefour de l’Odéon gelegene Café ist dabei nicht nur Schauplatz und räumlich-intellektuelles Zentrum der Erzählung, mit dessen Atmosphäre alle anderen erwähnten Pariser Cafés und Bars, wie zum Beispiel das Le Canter, verglichen werden412 , sondern firmiert neben den Personen als am Geschehen Beteiligter, der mit ihnen in Interaktion tritt und dessen Fehlen eine Krise auslösen wird. In Anlehnung an Otto Friedrich Bollnow lässt sich für diesen Roman daher die These aufstellen, dass ›das menschliche Dasein‹ einen »wirkliche[n] konkrete[n] Raum« braucht, in dem sich das Leben abspielt, weil jenes nur in Relation zu diesem einen Raum seine ureigene Persönlichkeit entwickeln kann, da es »den Raum braucht, um sich darin entfalten zu 409 Vgl. Kapitel V.3. 410 Nelly Wolf: »Figures de la fuite chez Patrick Modiano«, in: John E. Flower (Hg.): Patrick Modiano, Amsterdam/New York 2007, S. 211-222, S. 212f. 411 Obwohl der Umfang des Romans offensichtlich nicht dem hier definierten Format der kurzen Prosa entspricht, wurde Modianos Text mit in die Auswahl der zu analysierenden Texte aufgenommen, da er aus vier kürzeren Teilen zusammengesetzt ist, in denen das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. 412 Vgl. Patrick Modiano : Dans le café de la jeunesse perdue, Paris 2009, S. 84; 88. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »JP« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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können.«413 Bollnow begründet die starke Verbindung des Menschen mit dem ihn umgebenden Raum durch die Verknüpfung desselben »mit der Gefühls- und Willensseite, überhaupt mit der gesamten seelischen Verfassung des Menschen«414 und der Wechselwirkung zwischen der Stimmung des Raumes und derjenigen des sich darin befindenden Menschen.415 Bollnow zufolge würden Menschen insbesondere in Krisensituationen einen bestimmten Raum »als etwas Ruhendes«416 betrachten, was ihnen ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit verleihen kann. So soll das Café in Modianos Roman im Folgenden nicht nur als Rahmen des Geschehens, sondern als Akteur und Katalysator der Handlung analysiert werden, mit dem die Romanfiguren kommunizieren, interagieren und ›verschmelzen‹.417 Das Café Le Condé ist für die jungen Stammgäste von Modianos Roman im Paris der 1960er Jahre ein Refugium, das ihnen sowohl Unterschlupf bei Regen und Kälte (vgl. JP 17f.) als auch ein Stück weit Kontinuität in ihrem Leben bietet. Denn besonders dreien der Erzählenden des Textes, dem Schriftsteller Roland, einer jungen Frau, Jacqueline, und einem namenlosen Studenten, mangelt es an Orientierung und einer in ihren Augen sinnvollen Tätigkeit, so dass das Café, seine Gäste und das Personal für sie zu einer familienähnlichen Gemeinschaft werden, in die sie flüchten und die sie für das fehlende Zuhause entschädigt. Madame Chadley, der fast mütterlich auftretenden Wirtin des Cafés, scheint schon früh bewusst zu sein, dass ihren jungen Gästen als ›jeunesse perdue‹ eine harte Zukunft in der Gesellschaft bevorstehen würde. So sind es Madame Chadleys Anwesenheit und ihr Grundvertrauen in die Welt, die das Café zu einem Ort der Geborgenheit für seine Gäste machen (vgl. JP 15). Obwohl sich der Ich-Erzähler des ersten Teils, der eher introvertierte Student der nahe gelegenen Pariser Bergbauhochschule, aufgrund seines ernsthaften Studentenstatusʼ vor den anderen schämt (vgl. JP 13), sucht er das Café regelmäßig auf, da auch er sein Leben als eintönig und unbefriedigend empfindet und die Atmosphäre des Condé ihn trotz seiner Reserviertheit aufleben lässt. So wird das Café ein Teil von ihm, den er nie wieder verlieren möchte: J’étais un client très discret du Condé et je me tenais un peu à l’écart, me contenant de les écouter tous. Et cela me suffisait. Je me sentais bien avec eux. Le Condé était pour moi un refuge contre tout ce que je prévoyais de la grisaille de la vie. Il y aurait une part de moi-même – la meilleure – que je serais contraint, un jour, de laisser là-bas. (JP 29f.)
413 Bollnow: Mensch und Raum, S. 19; 22. 414 Bollnow: Mensch und Raum, S. 229. 415 Vgl. »Insbesondere sind es die atmosphärischen Verhältnisse, die als heiter, strahlend, drückend usw. auf den Menschen einwirken. Und ebenso ist der Mensch selber von innen her von einer bestimmten Stimmung durchwaltet, und ist geneigt, diese dann auch auf den umgebenden Raum zu übertragen […].«, in: Bollnow: Mensch und Raum, S. 231. 416 Vgl. »Der Mensch befindet sich ›irgendwo‹, an einer bestimmten Stelle im Raum, wobei der Raum, insbesondere ganz konkret die Erdoberfläche, als feststehend und alles menschliche Stehen begründend empfunden wird.«, in: Bollnow: Mensch und Raum, S. 273. 417 Vgl. »[…] elle se fondait dans le décor […].« (JP 12)
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Einer der Stammgäste, Bowing, notiert im Sinne einer »théorie des points fixes« (JP 26) stets die Namen und die Ankunftszeit aller Anwesenden in ein Heft, um innerhalb der Anonymität der Großstadt das private Ambiente des Cafés hervorzuheben, in dem die Individualität jedes Gastes einen Erinnerungswert besitzt (vgl. JP 17-19). Weil das Condé für Bowing einen unveränderlichen Ort darstellt, welcher immer treu für seine Gäste da ist, ist es ihm wichtig, dieses Café und die Menschen darin im allgemeinen Gedächtnis zu bewahren: »Oui, selon Bowing, il fallait au milieu du maelström des grandes villes trouver quelques points fixes.« (JP 17f.) Da die zentralen Figuren des Romans zum Teil durch ihre Abweichung von der normierten Mehrheitsgesellschaft charakterisiert sind und viel Lebenszeit im Kaffeehaus mit ihresgleichen verbringen, weil sie beispielsweise keiner regelmäßigen Arbeit nachgehen, kann das Le Condé im Anschluss an Foucault als Abweichungsheterotopie418 interpretiert werden. Das Café bietet den krisengeschüttelten Protagonisten und Protagonistinnen des Romans damit einen Zufluchtsort, weil es ihnen einen realen Raum zur Verfügung stellt, in dem in Kontrast zur Außenwelt eine bestimmte Ordnung vorherrscht, die Kontinuität und Gemeinschaft mit Gleichgesinnten verspricht. Wenn Foucault Sanatorien, psychiatrische Anstalten, Altersheime und Gefängnisse als Beispiele für Abweichungsheterotopien nennt419 , stellt sich die Frage, ob es begründbar ist, das Kaffeehaus, welches er als ›zeitweiligen, offenen Ruheplatz‹ bezeichnet420 , mit unfreiwillig bewohnten Krisenorten wie dem Gefängnis oder der Psychiatrie gleichzustellen, denn das Anliegen der Gäste ist es ja gerade, im Café einen Ersatz für ein ›normales‹ Zuhause zu finden. Wenn man allerdings betrachtet, dass die geballte Zusammenkunft vieler Personen mit ähnlichen Problemen nicht nur Trost, sondern auch Überdruss, Niedergeschlagenheit und Beklemmung hervorrufen kann, weil die Menschen in der Umgebung plötzlich fremd und gleichgültig erscheinen und die Einzelperson bedrängen, wird es nachvollziehbar, dass der Wunsch nach Freiheit entsteht wie in einer Haftanstalt. Im ersten Teil von Modianos Roman fragt sich der Student, ob sie alle durch Zufall im Condé gestrandet sein könnten oder eine höhere Macht des Schicksals sie zu einer bestimmten Zeit dorthin geführt habe. Er kommt zu dem Schluss, dass das Condé ein Ort ist, dem man nicht entkommen könne, wenn man sich in einer krisenhaften Phase seines Lebens befinde, weil es die Menschen wie ein Magnet anziehe: J’ai toujours cru que certains endroits sont des aimants et que vous êtes attiré vers eux si vous marchez dans leurs parages. […] Il me semble que Le Condé, par son emplacement, avait ce pouvoir magnétique et que si l’on faisait un calcul des probabilités le résultat l’aurait confirmé : dans un périmètre assez étendu, il était inévitable de dériver vers lui. (JP 17)
418 Vgl. »[…] c’est-à-dire que les lieux que la société ménage dans ses marges […] sont plutôt réservés aux individus dont le comportement est déviant par rapport à la moyenne ou à la norme exigée.«, in : Foucault : »Les hétérotopies«, S. 42. 419 Vgl. Foucault : »Les hétérotopies«, S. 42f. 420 Vgl. »[…] il y a les regions ouvertes de la halte transitoire, les cafés, les cinémas, les plages, les hôtels […]«, in : Foucault : »Les hétérotopies«, S. 40.
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Im Café können die Erzählenden sie selbst sein, junge Menschen, die den gemeinsamen Augenblick genießen können, ohne dass sie ihre Herkunft preisgeben oder ihre Vergangenheit und Zukunftspläne rechtfertigen müssten: Sie leben in der puren Gegenwart: »Au Condé, nous ne nous posions jamais des questions les uns aux autres concernant nos origines. Nous étions trop jeunes, nous n’avions pas de passé à dévoiler, nous vivions au présent.« (JP 20) Jacqueline Delanque, die 22-jährige Ich-Erzählerin des dritten Teils, flüchtet sich oft während einsamer Abendstunden ins Condé (vgl. JP 113f.). Als eigentliche Heldin des Romans und ephemer bleibende Gestalt wird ihr Leben von den anderen Erzählern facettenreich porträtiert, wobei besonders ihre unglückliche, einsame Kindheit, das daraus resultierende Ausreißen von Zuhause sowie ihre Flucht aus ihrer freudlosen Ehe mit Jean-Pierre Choureau zur Sprache kommen; sie schreibt über sich, dass ihre einzigen guten Erinnerungen an ihr bisheriges Leben mit Flucht verbunden sind (vgl. JP 102). Sie kommt ins Café, weil sie einer ›Gefahr entrinnen‹ will (vgl. JP 11), eine Zufluchtsstätte braucht und Menschen treffen möchte, die sie verstehen. Vor allem jedoch ist sie auf der Suche nach einem Sinn in ihrem Leben, den sie bisher noch nicht erkennen konnte. Weil sie sich unfrei und eingesperrt fühlt, spürt sie das dringende Bedürfnis, aus ihrem bisherigen Leben auszubrechen und hofft, nie wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden: »Elle voulait s’évader, fuir toujours plus loin, rompre de manière brutale avec la vie courante, pour respirer à l’air libre.« (JP 127) Als Jacqueline zum ersten Mal das Condé betritt, wird sie von den anwesenden Gästen spontan und grundlos auf den Namen »Louki« getauft, was sie zunächst erschreckt (vgl. JP 10f.). Wenig später jedoch erleichtert es sie sehr, einen anderen Namen als zuvor zu tragen, weil sie glaubt, dass ihr dies symbolisch dabei hilft, durch den ›Eintritt‹ ins Condé ein neues Leben beginnen und ein anderer Mensch werden zu können: Et à mesure que l’heure passait et que chacun d’eux l’appelait Louki, je crois bien qu’elle se sentait soulagée de porter ce nouveau prénom. Oui, soulagée. En effet, plus j’y réfléchis, plus je retrouve mon impression du début : elle se réfugiait ici au Condé, comme si elle voulait fuir quelque chose, échapper à un danger. (JP 11). Diese Taufe, die für sie eine Wiedergeburt bedeutet, und die Unterstützung der anderen im Café geben »Louki« die Kraft, ihr früheres Leben wie eine zweite Haut abzustreifen, einen Neubeginn zu wagen und sich völlig von den Menschen aus ihrem vergangenen Lebensweg zu lösen: Alors, si elle est venue au Condé en octobre, c’est qu’elle avait rompu avec toute une partie de sa vie et qu’elle voulait faire ce qu’on appelle dans les romans : PEAU NEUVE. D’ailleurs, un indice me prouve que je ne dois pas avoir tort. Au Condé, on lui a donné un nouveau prénom. Et Zacharias, ce jour-là, a même parlé de baptême. Une seconde naissance en quelque sorte. (JP 24) Diesen Neuanfang im Condé beginnt sie, indem sie das Café erstmals durch den schmaleren der beiden Eingänge, »la porte de l’ombre« (JP 9), betritt und sich unauffällig an einen Tisch setzt. Dieses Eingangsritual, was auf der ersten Seite des Romans erzählt und auf einer der letzten Seiten wiederholt wird (vgl. JP 140), erinnert erneut an Fou-
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
caults ›System der Öffnung und Abschließung‹421 , genauso wie bestimmte Rituale eines Gruppenzwangs im Café, bei denen man mitmachen muss, da man ansonsten nicht zur Gruppe gehört. Beispielsweise fühlt sich der Student gezwungen, die im Café durch Alkohol und Rauschgift herbeigeführten Reisen ins Paradies im Sinne Baudelaires mitzumachen, um zu der Gruppe lässiger Müßiggänger und Künstlerinnen zu gehören: Mais là, à l’une des tables du Condé, c’était plus difficile. Ils vous forçaient à les suivre dans leurs beuveries. Ils se montraient, là-dessus, d’une extrême susceptibilité et vous considéraient comme indignes de leur groupe si vous ne les accompagniez pas jusqu’au bout de ce qu’ils appelaient leurs ›voyages‹.« (JP 16) So ist das Café in gewisser Hinsicht doch kein völlig freier Ort, sondern so wie das Leben außerhalb gleichsam von Bedingungen und einer Gruppendynamik geprägt, der man nicht entkommen kann, wenn man dazugehören möchte. Dies wird in Modianos Roman offenbar, wenn sich die Illusion einer glücklichen Gemeinschaft in völlige Trostlosigkeit wandelt422 : Obgleich Jacquelines Versuch, neu zu beginnen, zunächst erfolgreich zu sein scheint, empfindet sie ihn als gescheitert und stürzt sich in der Folge von allen unerwartet aus dem Fenster, ohne, dass jemand etwas geahnt hätte. Roland, der vierte Erzähler des Romans, der Jacqueline geliebt hat, empfindet große Traurigkeit und eine unglaubliche Leere in sich aufsteigen, als er im Café von ihrem Tod erfährt: »À partir de cet instant-là, il y a eu une absence dans ma vie, un blanc, qui ne me causait pas simplement une sensation de vide, mais que je ne pouvais pas soutenir du regard.« (JP 159). Als wenig später nach Jacquelines Selbstmord auch noch das Condé seine Pforten schließt, um als Lederwarengeschäft wiedereröffnet zu werden (vgl. JP 140), verliert Roland endgültig alle Fixpunkte, die seinem Leben Halt gegeben haben. Er ist so verzweifelt, dass er nicht aufhört, in ganz Paris und besonders vor dem Geschäft Au Prince de Condé nach übriggebliebenen Spuren des Cafés zu suchen (JP 146). Die hier dargestellten Eindrücke von Orientierungslosigkeit, Leere und Melancholie, welche den gesamten Text beherrschen, können nur vorübergehend durch die kurzweilige Fröhlichkeit im Café überbrückt werden. Jacqueline wählt den Ausweg des Selbstmordes, als ihr der illusorische Charakter ihres Lebens im Café bewusst wird. An dieser Stelle wird deutlich, warum Foucault es auch als das Wesen der Heterotopien bezeichnet hat, dass sie eine Illusion kreieren, welche die gesamte übrige Realität als illusorisch offenlegt423 : Denn das Café ist in Modianos Roman deshalb eine Abweichungsheterotopie, da es den Figuren ermöglicht, sich die Illusion einer heilen Welt zu schaffen, in der sie vorübergehend alle Nöte verdrängen können. Gerade weil es sich um von ›der Norm‹ abweichende Menschen handelt, erleben sie dort nicht nur sorglose Momente, sondern machen erstmals die Erfahrung, persönlich von anderen geschätzt und beachtet zu werden. Auch treffen sie dort Gleichgesinnte, die ihrem Leben scheinbar wieder einen Sinn zu geben vermögen. Sobald sie jedoch durch Jacquelines Suizid begreifen, dass es sich nur um eine Illusion handelt und ihre
421 Vgl. Foucault : »Les hétérotopies«, S. 47. 422 Vgl. »Tout le monde peut y entrer, mais, à vrai dire, une fois qu’on y est entré, on s’aperҫoit que c’est une illusion et qu’on n’est entré nulle part.«, in : Foucault : »Les hétérotopies«, S. 48. 423 Vgl. Foucault : »Les hétérotopies«, S. 49.
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Probleme nicht gelöst, sondern nur verdrängt worden sind, holt sie die Erinnerung an die Wirklichkeit außerhalb des Cafés wieder ein. Im Sinne der in dieser Arbeit angestellten gattungstypologischen Überlegungen kann der hier analysierte Roman aufgrund seiner Textlänge und seinem inhaltlichen Fokus auf den Personen, ihren persönlichen Erinnerungen und der Stadt Paris nicht im idealtypischen Sinn als ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden. Das Café spielt jedoch eine wichtige Rolle als räumlicher Akteur und titelgebender Schauplatz, in dem wichtige Teile der Handlung stattfinden und welcher die Erinnerung der Protagonistinnen und Protagonisten freisetzt und mit ihnen interagiert. Es handelt sich um einen autofiktionalen Roman, der im Café spielt sowie verschiedene Formen des Erinnerns ins Zentrum rückt und die Atmosphäre – und damit die eher diffuse, nicht-lineare Handlung – in einem Café im Paris der 1960er schildert. Trotzdem beeinflusst der Ort des Cafés nicht die Themensetzung, so dass im Gegensatz zu den Texten der vorangegangenen Kapitel keine spezifischen Bildfelder oder Metaphern im Text auszumachen sind. So soll der Roman im dritten Ring der unter IV.4. angedachten Genre-Formulierung eingeordnet werden.
V.3.
Das Café in der Großstadt
Das Literaturcafé ist eine großstädtische Einrichtung. Wie ein Logenrang hineingebaut ins laute Schauspiel des Lebens, birgt es seine Zellen der Einsamkeit und stummen Leidensfähigkeit wie seine unbegrenzten Möglichkeiten engerer und weiterer Zirkelbildung. Es ist öffentliche Heimstätte, Ort der hingegebenen oder zurückhaltenden Fühlungnahme mit anderen Menschen, der Assimilation und Eingliederung in eine Kulturgemeinschaft, wie des individualistischen Absonderungsbedürfnisses.424 Wie der Journalist René Prévot 1922 in seinem Text über die Bohème schreibt, ist das Café in der Großstadt425 ein Ort der Gegensätze, der unerschöpfliche Optionen und Perspektiven bereitzuhalten scheint. Er fungiert als halböffentlicher Rahmen menschlicher Geselligkeit, in dem man sich in eine Gemeinschaft integriert und daheim fühlen kann, bei gleichzeitig empfundener Einsamkeit beziehungsweise ausgelebtem Bedürfnis nach Individualität und Persönlichkeit. Diese Widersprüchlichkeit ist sowohl der urbanen Umgebung als auch dem Café inhärent, welches als Mikrokosmos der Stadt angesehen werden kann und sich spiegelbildlich zu jener verhält. Diese Konstellation stellt die Voraussetzung dar für die Verschiedenheit der Kaffeehausgäste, die dortige spezielle Atmosphäre sowie die Mehrdeutigkeit und Multifunktionalität dieses Raumes. Zudem begründet sich in dieser Ambivalenz die Daseinsberechtigung für das Café als 424 René Prévot : Bohème, München 1922, S. 91. 425 In diesem Kapitel werden europäische Großstädte sowie einschlägige Konzepte im Zeithorizont der Jahrhundertwende bis in die Zwischenkriegszeit betrachtet, weil die Referenzautoren und autorinnen in dieser Zeit veröffentlicht haben. Jedoch sind die Aussagen über die Wirkung der Großstädte auf den Menschen allgemeingültig zu verstehen und auch heute noch aktuell, weshalb im Folgenden keine genauen Jahreszahlen genannt werden. Vielmehr soll die ›Großstadt‹ als ein Aspekt und Konfiguration von Moderne angesehen werden.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
ein Raum mit hoher soziologischer Bedeutung, welcher es vermag, die persönlichsten und höchst disparaten Bedürfnisse der Menschen – wie den Wunsch nach Ruhe, Zerstreuung, Gemeinschaft, Heimatgefühl, Aufmerksamkeit oder Trost – an ein und demselben Ort zu befriedigen. Diese sehr heterogenen und tief emotionalen Empfindungen der Menschen sowie ihre Sehnsucht nach der Befriedigung dieser Bedürfnisse entstehen wiederum aus dem Kontext der Großstadt heraus. Georg Simmel beschreibt die Großstadt in seiner Schrift Die Großstädte und das Geistesleben (1903) als Schauplatz einer »über alles persönliche hinauswachsenden Kultur«, wo sich »eine so überwältigende Fülle krystallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes [bietet], daß die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann.«426 Damit kann das Café aufgrund seiner Eignung, innerhalb dieser ›fixierten Örtlichkeit‹ verschiedenartige ›Inhalte‹ im Raum festzuhalten, in Anlehnung an Simmel als ›Drehpunkt‹ gefasst werden, »wo die Berührung oder Vereinigung sonst voneinander unabhängiger Elemente nur an einem bestimmten Platze geschehen kann.«427 Ferner kann durch die Zusammenführung eines bestimmten städtischen Raumes mit unterschiedlichen Menschen und ihren Anliegen eine Charakterisierung sowohl der Gruppe der für das Café ›typischen‹ Gäste als auch des Raumes selbst bewirkt werden, denn »die räumliche Festgelegtheit eines Interessengegenstandes bewirkt bestimmte Beziehungsformen, die sich um ihn gruppieren.«428 So besteht eine reziproke Wechselwirkung zwischen dem Café und der es umgebenden städtischen Landschaft: Das Café wird von der Stadt geprägt, während parallel dazu deren Erscheinungsbild von den Lokalen abhängt, in denen die Menschen sich regelmäßig aufhalten. Daher scheint es geboten, in den folgenden Kapiteln sowohl Großstadtkonzepte zu untersuchen als auch zu analysieren, welche Auffassungen von ›Persönlichkeit‹ und ›Individualität‹ in der Literatur dargestellt werden und wie diese mit dem Kaffeehaus in Verbindung stehen. Da das Kaffeehaus als modern und gleichzeitig traditionell auftritt, kann es als »transitional space«429 bezeichnet werden, das heißt als Ort, welcher neben anderen den Übergang von der frühen Moderne Ende des 18. Jahrhunderts zum 21. Jahrhundert markiert. Das Café floriert in der Großstadt in diesem Zeithorizont inmitten einer schnell vollzogenen, infrastrukturellen und technischen Entwicklung und ermöglicht dort W. Scott Haine zufolge eine unmittelbare zwischenmenschliche Kommunikation, die sonst nur in kleinen Dörfern zu finden gewesen sei.430 Denn im Gegensatz zur großstädtischen sei die kleinstädtische Gesellschaft der Moderne laut Hartmut Rosa durch ihre verlangsamte Beweglichkeit und fehlende Dynamik charakterisiert431 , da ihr ›sinnlich-geistiges Lebensbild‹ in einem gemächlicheren und gleichmäßigeren Rhythmus fließe. Daraus ergibt sich gemäß Simmel »der intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens«, wohingegen das kleinstädtische Seelenleben »vielmehr
426 427 428 429 430 431
Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt a.M. 2006, S. 40. Simmel: »Soziologie des Raumes«, S. 148. Simmel: »Soziologie des Raumes«, S. 146. Haine: The World of the Paris Café, S. 236. Vgl. Haine: The World of the Paris Café, S. ix. Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2008, S. 99.
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auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt« sei.432 Philippe Ariès untersucht in seinem Artikel »The Family and the City« den Zusammenhang zwischen dem Bedeutungsverlust der städtischen beziehungsweise ländlichen Gemeinschaft und der Überhöhung von allmächtigen, privaten Familienbanden.433 Weiterhin erklärt er die grundsätzliche Unvertrautheit ländlicher Gegenden mit der Institution des Cafés mit dem Vorhandensein traditioneller, gut gepflegter sozialer Netzwerke434 , wie derjenigen der Nachbarschaft oder der Dorfgemeinschaft, die nur auf dem Land vorhanden seien. In der Stadt hingegen gebe es solche Orte öffentlicher und nicht nach gesellschaftlichen Klassen separierter Kommunikation infolge einer strikten Trennung vom (männlich konnotierten) Arbeitsplatz als öffentlichem Bereich und der Familie als privatem (weiblich dominierten) Bereich seit dem 18. Jahrhundert435 nicht mehr, so dass
432 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 10. 433 Vgl. Cafes, on the other hand, were something completely new and different. They were strictly an urban phenomenon, unknown in rural areas. The cafes were meeting places in cities, which were growing very rapidly and where people did not know one another, as they had before. […] In Paris the opening of the cafes was probably the reason behind the shift of public life from closed places, like the famous gallery at the Palais Royal, to the linear, open space of the boulevard, the center of the city’s night life.«, in: Philippe Ariès: »The Family and the City«, in: Daedalus 106:2 (1977), S. 227-235, S. 231. 434 Vgl. »[…] die Kürze und Seltenheit der Begegnung, die jedem Einzelnen mit dem anderen – verglichen mit dem Verkehr der kleinen Stadt – gegönnt sind.«, in: Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 38. 435 Vgl. zum Café als einer begründenden Institution der bürgerlichen Öffentlichkeit: Sennett: The Fall of Public Man, S. 73-87; Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 42-87; Westerfrölke: Englische Kaffeehäuser als Sammelpunkte der literarischen Welt; Routh: »Chapter II: Steele and Addison«, Vgl. zur geschlechterspezifischen Öffentlichkeit im Kaffeehaus: Beatrix Beneder: Männerort Gasthaus? Öffentlichkeit als sexualisierter Raum, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 65ff. Während bis ins 18. Jahrhundert hinein immer eine scharfe Trennlinie zwischen der aristokratischen Gesellschaft und dem Lebensbereich der Bürger gezogen worden war, begannen sich die Nachkommen der adeligen Oberschicht in den früh entwickelten europäischen Metropolen wie London und Paris allmählich der Sphäre der kultivierten und humanistisch gebildeten Bürger zuzuwenden und »eine Parität der Gebildeten herzustellen« (Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 48). So formte sich in der vormodernen Großstadt nicht nur ein intellektueller Ausgleich zu dem mächtigen höfischen Umfeld des Monarchen, sondern vielmehr konnte eine neue, bürgerliche Öffentlichkeit im Sinne eines Konzeptes von ›Ebenbürtigkeit‹ geschaffen werden. So sollte man im Kaffeehaus mit jedermann ein Gespräch über alle möglichen Fragestellungen anknüpfen können, unabhängig von der sozialen Herkunft des Diskussionspartners, um den freien Fluss der Rede nicht zu stören und die Vollständigkeit der übermittelten Informationen nicht zu limitieren. Zudem konnte sich durch den Wegfall der Vorzensur ein autonomes Pressewesen als Werkzeug der freien Meinungsäußerung ausbilden und ›Kultur‹ einer breiten Masse zugänglich gemacht werden, da man im Kaffeehaus immer die aktuellsten Nachrichten erfahren und weitergeben konnte. Um diese vorbildliche Konstellation einer ebenbürtigen und von materiellen Abhängigkeiten emanzipierte Kaffeehausgesellschaft zu schaffen, musste eine Fiktion vermeintlicher Klassenlosigkeit mit Hilfe von besonderen sprachlichen und für jeden Besucher gültigen Ausdrucksformen kreiert werden: »Coffeehouse speech is the extreme case of an expression with a sign system of meaning divorced from – indeed, in defiance of – symbols of meaning like rank, origins, taste, all visibly at hand.« (Sennett: The Fall of Public Man, S. 82). Im Kaffeehaus konnte man also im Idealfall die Extremform eines Gesprächs beobachten, in dem ausschließlich der vermittelte Inhalt zählte, nicht jedoch das soziale Umfeld des Sprechenden außerhalb des Cafés. Diese Vorgehensweise ließ die
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
sich die großstädtischen Cafés entwickelten zu »public meeting places where conversation flowed as abundantly as food and drink – the cafe was a place for discussion […] served as message center.«436 Ausgehend von der sozialen Notwendigkeit des Vorhandenseins eines ›dritten Ortes‹ neben der Arbeit und dem Zuhause437 bildete sich die Institution des großstädtischen Cafés heraus, welche ihre Bedeutung bis heute nicht verloren hat, wie sich anhand der hier untersuchten Literatur zeigen wird. Wenn nun als Prämisse festgehalten werden kann, dass der ›natürliche‹ Ort für das in dieser Arbeit beschriebene Kaffeehaus zweifelsohne die Großstadt ist, ist es nicht erstaunlich, dass das Kaffeehaus in den österreichischen Feuilletons der 1920er Jahre, in denen die Städte Wien und Berlin sehr häufig thematisiert und einander gegenübergestellt werden438 , als differierender kultureller Faktor betrachtet wird, der die Städte auszeichnet und anhand dessen sich auch Wesensmerkmale der Gäste herausstellen lassen. Wie sehr die Autorinnen und Autoren dieser feuilletonistischen Texte mit ihrer urbanen Umgebung verbunden sind, zeigt sich auch in Anbetracht der in vielen Texten enthaltenen Reflektionen darüber, auf welche Weise Städte porträtiert werden können, um ihr ›ureigenes Wesen‹ zu Geltung zu bringen beziehungsweise die ›Qualität‹ einer Stadt abzubilden, welche sich laut Christian Jäger und Erhard Schütz nicht durch quantitative, statistische Methoden erfassen lässt. Vielmehr bedeute Qualität »die Vergangenheit durchtränkte Atmosphäre der Stadt, ihr an traditioneller Kultur reiches Ambiente«.439 So empfindet es Joseph Roth als »große Vermessenheit, Städte beschreiben zu wollen«440 , obwohl er gerade sich selbst und anderen jüdischen Feuilletonisten ein besonderes Talent beim Beschreiben von Städten attestiert. Dies erklärt er in seinem 1933 verfassten Text »Das Autodafé des Geistes« durch die besondere Empfindsamkeit und Weltbürgerlichkeit der Juden und Jüdinnen, welche sie aufgrund der häufigen Vertreibungen entwickeln mussten: Das unbestreitbare Verdienst der jüdischen Schriftsteller für die deutsche Literatur besteht in der Entdeckung und literarischen Auswertung des Urbanismus. […] Sie haben die ganze Vielschichtigkeit der städtischen Zivilisation entschleiert. Sie haben das Kaffeehaus und die Fabrik entdeckt, die Bar und das Hotel, die Bank und das Kleinbürgertum der Hauptstadt, die Treffpunkte der Reichen und die Elendsviertel […]. Diese Richtung war den jüdischen Talenten vorgegeben durch das städtische Milieu, woher
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Kunst der Konversation zu einer festen Konvention werden, die es ermöglichte, dass die unterschiedlichsten, einander fremden Menschen miteinander Geselligkeit erlebten, ohne jemandem ihre persönliche Situation zu offenbaren. So konnte vor allem die englische Mittelschicht für den niedrigen Eintrittspreis von einem Penny ihre Allgemeinbildung schulen, ihre Rhetorik verbessern sowie den Kodex eines sittlichen Verhaltens erlernen, indem sie den anwesenden ›Gentlemen‹ der Oberklasse zuhörte. Ariès: »The Family and the City«, S. 231. Vgl. Oldenburg: The Great Good Place; siehe Kapitel V.2.3. Z. B. Arthur Kahane: »Die beiden Städte«, in: Berliner Börsen-Courier, 13.05.1926, S. 5f. Vgl. dazu Kapitel V.3.3. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »DbS« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Jäger/Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, S. 218. Joseph Roth: »Lemberg, die Stadt«, in: ders.: Werke II. Das journalistische Werk 1924-1928, Bd. 2, hg. von Klaus Westermann, Köln 1990, S. 285-289, S. 285.
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die meisten von ihnen stammten, wohin ihre Eltern aus gesellschaftlichen Gründen getrieben worden waren, und auch durch ihre besser entwickelte Sensibilität und die den Juden eigene kosmopolitische Begabung.441 Dabei werden, wenn von einer gelungenen Darstellung von Urbanität im Feuilleton die Rede ist, meist der Begriff der ›Atmosphäre‹ verwandt sowie die Cafés als halböffentliche Räume erwähnt, die gemäß Zitzlsperger »urbane, regionale und nationale Punkte der Konzentration«442 markieren. So beschreibt Roth 1924 in »Lemberg, die Stadt« seine Idealvorstellung von einer guten Stadtdarstellung, die es vermöge, die individuellen Merkmale einer Stadt zu erfassen: Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausend Richtungen, bunte Ziele, düstere Geheimnisse, heitere Geheimnisse. Städte verbergen viel und offenbaren viel, jede ist eine Einheit, jede eine Vielheit […] Ich könnte Häuser beschreiben, Straßenzüge, Plätze, Kirchen, Fassaden, Portale, Parkanlagen, Familien, Baustile, Einwohnergruppen, Behörden und Denkmaler. Das ergäbe ebensowenig das Wesen einer Stadt, wie die Angabe einer bestimmten Anzahl von Celsiusgraden die Temperatur eines Landstriches vorstellbar macht. […] Man müßte die Fähigkeit haben, die Farbe, den Duft, die Dichtigkeit, die Freundlichkeit der Luft mit Worten auszudrücken; das, was man aus Mangel einer treffenden Bezeichnung mit dem wissenschaftlichen Begriff ›Atmosphäre‹ ausdrücken muß.443 Deutlich wird in diesem Zitat, dass der Begriff der ›Atmosphäre‹ zwar für die vollständige und umfassende Beschreibung von Städten und Kaffeehäusern gleichermaßen als nötig empfunden wird, die Verwendung desselben allerdings aufgrund seiner Unbestimmtheit ein Unbehagen auslöst oder sogar – wie bei Joseph Roth – als »Mangel« aufgefasst wird. Daher werden die Begrifflichkeiten rund um die ›Atmosphäre‹ in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher behandelt. Es scheint offenkundig, dass das Café und die Großstadt beziehungsweise Metropole444 so sehr miteinander verknüpft sind, dass mittels der Beschreibung eines Cafés beziehungsweise einer Kaffeehauskultur auch die Gepflogenheiten einer bestimmten Stadt und das Zeitempfinden ihrer Bewohner und Bewohnerinnen beschrieben werden können: »Man sieht einen Ausschnitt der Gesellschaft, Sitten und Bräuche des Landes. […] Man hört die Sprache des Landes, wie man sie selten besser hören könnte.«445 Anhand dessen, wie Hermann Kesten die Frage danach beantwortet, welche Bedeutung das Kaffeehaus für ihn als Schriftsteller hat, wird ersichtlich, dass sich das Lokal, die Gäste und die urbane Umgebung nicht voneinander trennen lassen beziehungsweise dass diese Konstellation auf die Schreibenden befruchtend zu wirken vermag. Noch
441 Joseph Roth: »Das Autodafé des Geistes«, in: ders.: Werke III. Das journalistische Werk 1929-1939, Bd. 3, hg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 494-503, S. 501. 442 Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 29. Vgl. auch S. 37. 443 Roth: »Lemberg, die Stadt«, S. 285. 444 In der vorliegenden Arbeit sollen ›Metropole‹ und ›Großstadt‹ synonym und als Antonyme zu Land beziehungsweise Kleinstadt verwendet werden. 445 Kesten: Dichter im Café, S. 71.
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zeigen wird sich auch, dass das Café auf die mannigfaltigen Reize, die besondere Atmosphäre und den Kontrastreichtum der Großstadt angewiesen ist, um einerseits als Rückzugsort zu fungieren. Andererseits wird das Café von den Bürgern und Bürgerinnen sowie der Stadt beeinflusst, in der es verortet und mit der es durch die Architektur beziehungsweise den Außenbereich verbunden ist. Aufgrund dieser Verbindung sollen im Folgenden verschiedene Großstadtkonzepte näher betrachtet werden, um sie für diese Arbeit fruchtbar zu machen.
V.3.1.
Großstadt – Ort der Gegensätze
Die Metropole wird von Christian Moser als derjenige Ort definiert, »an dem die Verkehrswege zusammenlaufen, die Institutionen politischer und ökonomischer Macht sich konzentrieren, das kulturelle Leben einen Brennpunkt findet«446 und stellt terminologisch den »politischen, ökonomischen und/oder kulturellen Mittelpunkt eines Landes, ein überregionales urbanes Zentrum« dar.447 Die sich daraus ergebene besondere Atmosphäre der niemals neutral, sondern stets kontrovers diskutierten Metropole hat die Menschen seit jeher fasziniert, ihre Wahrnehmung geprägt und zu Studien angeregt.448 Die Stadt trägt unaufhebbare Widersprüche in sich […], die sie zu einem Ort unhintergehbarer Ambivalenz prägen. Die Großstadt ist so über sich wechselseitig dementierende Oppositionen strukturiert, die, je nach Erfahrungssituation gewichtet, zugunsten eines Pols vereindeutigt oder in ihrer grundlegenden Ambiguität erhalten werden können.449 Daher ist die Metropole nicht nur durch den zuvor bereits erwähnten Kontrast zwischen Stadt und ländlicher Kleinstadt charakterisiert. Vielmehr ist ihr Inneres selbst antagonistisch organisiert, durch Dynamik und Peripetie gekennzeichnet und aus widersprüchlichen Eigenschaften geformt, welche aus sich heraus signifikant sind450 , da sie die Großstadt charakterisieren und somit als konstitutive Merkmale gelten können. Daher wird die Metropole von den Herausgebenden des 2005 erschienenen Sammelbandes Zwischen Zentrum und Peripherie als zwiegespaltener Ort bezeichnet, »ein alle kulturellen und politischen Kräfte bündelndes Zentrum, das aber zugleich auch dezentrierend« anmuten mag. So entwickele die Großstadt eine intensive Sogwirkung, welche all diejenigen in ihren Bann ziehe, »die nach Fortkommen streben, die Einfluß ausüben, am Ideenverkehr teilnehmen oder einfach nur ihren Lebensunterhalt sichern 446 Christian Moser: »Einleitung: Metropole – azentrisches Zentrum«, in: ders./Frauke Bolln/Susanne Elpers/Sabine Scheid/Rüdiger von Tiedemann (Hg.): Zwischen Zentrum und Peripherie. Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum, Bielefeld 2005, S. 11-22, S. 13. 447 Moser: »Einleitung: Metropole – azentrisches Zentrum«, S. 11. 448 Vgl. »Moderne Großstädte sind nicht nur Bauwerke, sondern auch komplexe Gebilde sozialer Strukturen. […] Was in einer Stadt passiert, ist aufgrund ihrer Komplexität nie vollständig zu fassen. Das Interesse an dieser Komplexität ist jedoch so groß, dass unentwegt und auf verschiedenste Arten versucht wird, die Vielschichtigkeit von Großstädten zu fassen.«, in: Cornelia Ehmayer: Das Wesen von Wien. Stadtpsychologisches Forschungsprojekt, Wien 2003, S. 5. 449 Horst Weich: »Prototypische und mythische Stadtdarstellung. Zum ›Image‹ von Paris«, in: Andres Mahler (Hg.): Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg 1999, S. 36-56, S. 39. 450 Vgl. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 374.
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wollen.«451 Besonders betont werden in dieser Beschreibung die Fokussierung und Anziehungskraft der Metropole auf die Menschen, die wechselseitig aufeinander bezogen sind. Daneben wird die Großstadt ganz im Sinne von Baudelaires »Peintre de la vie moderne«452 in der Literatur als Ort der Moderne, der Flüchtigkeit und der Grenzerfahrung dargestellt, welcher sich sowohl durch Fortschrittsdenken und eine große kulturelle Vielfalt als auch durch einen unpersönlichen Umgang und eine beschleunigte Lebensweise auszeichnet.453 In der Folge entwickelten sich die bekannten Phänomene der Moderne, wie dasjenige des durch die Stadt schlendernden Flaneurs oder des reizüberfluteten Individuums, das in der anonymen urbanen Masse untertaucht und verschwindet. Sehr präsent sind auch die Darstellung der Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Zukunft sowie das durch die Beschleunigung und Eile der Großstadt verursachte neue Zeitempfinden. Diese Themen sowie die Art und Weise der Darstellung spiegeln sich nicht nur in den in diesem Kapitel untersuchten Großstadtkonzepten von Georg Simmel und anderen um 1900 schreibenden Autoren und Autorinnen, sondern wirkten sich auch auf die Produktion und Ausgestaltung von soziologischen und literarischen Texten sowie musikalischen und filmischen Genres aus. So bezeichnet Hartmut Rosa den Duktus der Arbeiten Georg Simmels beispielsweise als ›fragmentarisch‹ und ›impressionistisch‹, wodurch die Texte methodisch ihrem Gegenstandsbereich angeglichen seien und »jene paradoxalen Prozesse der sich wandelnden Persönlichkeitsstruktur beziehungsweise der Individualisierung«454 ins Zentrum rückten. Auch das hier analysierte Genre der ›Kaffeehausliteratur‹ ist explizit von der Großstadt geprägt, da es inhaltlich die bereits genannten Konzepte der Großstadt und der Moderne thematisiert und mittels kleiner literarischer Formen, in denen Elemente des Augenblickhaften, der Flüchtigkeit und Fragmenthaftigkeit enthalten sind, die Hektik und Kurzlebigkeit der Großstadt abbildet. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie die Ambivalenzen der Großstadt konkret ausgestaltet und wie diese mit dem Kaffeehaus verknüpft sind, um im weiteren Verlauf anhand der Textanalyse nachzuvollziehen, wie aus einem »Ort entfesselter Kommunikation«, an dem sich »die kulturellen Wechselwirkungen potenzieren«, ein »Ort der Anonymität« werden kann, »wo der einzelne in der Masse unterzugehen und die individuelle Kunstleistung gegenüber der Dominanz ephemerer Moden zu verschwinden droht.«455 Augenfällig ist, dass dieser Grad zwischen einem positiv konnotierten, inspirierenden und kommunikativen Ort und einem negativ konnotierten, anonymen
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Christian Moser/Frauke Bolln/Susanne Elpers/Sabine Scheid/Rüdiger von Tiedemann: »Vorwort«, in: dies. (Hg.): Zwischen Zentrum und Peripherie. Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum, Bielefeld 2005, S. 9-10, S. 9. Vgl. »La modernité, c’est le fugitif, le transitoire, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable«, in : Charles Baudelaire : Le peintre de la vie moderne, hg. v. Silvia Acierno/Julio Baquero Cruz, Paris 2009, S. 20. Vgl. Klaus R. Scherpe: »Berlin als Ort der Moderne«, in: Roland Galle/Johannes Klingen-Protti (Hg.): Städte der Literatur, Heidelberg 2005, S. 195-210, S. 196. Rosa: Beschleunigung, S. 101. Moser/Bolln/Elpers/Scheid/von Tiedemann: »Vorwort«, S. 9.
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Ort der Menschenmenge recht schmal ist und sehr schnell überschritten werden kann, je nach individueller Situation und persönlicher Wahrnehmung eines Menschen: Die Vielfalt von Angeboten kann als Stimulanz oder als Lähmung angesehen werden. Auf Reizüberflutung und Flüchtigkeit der Wahrnehmung bei raschem Bewegungsfortschritt wird mit rationaler Distanz, Abstumpfung oder mit ästhetischer Gestaltung reagiert. Das ständige In-Bewegung-Sein erscheint als Rastlosigkeit oder als Symbol für Aufgeschlossenheit und Fortschritt, und die Folgen der Lockerung moralischer Standards in der Großstadt bewegen sich zwischen Selbstverwirklichung und Sittenverfall. Für das Individuum bedeutet die Großstadt gleichermaßen Bedrohung und Chance.456 So soll nachverfolgt werden, wie dieser von Gegensätzen bestimmte Ort vom gleichen Ausgangspunkt aus für das Individuum entweder eine Chance zur Selbstverwirklichung bedeuten oder aber seine Persönlichkeit bedrohen kann und wie sich diese Umschlagsbewegung in den Texten niederschlägt. Im Folgenden werden daher zunächst die freiheitlichen Chancen und die motivierenden Reize in der Großstadt beleuchtet, bevor unter V.3.1.2 die Bedrohungen skizziert werden, welche die auf den Menschen einwirkende Reizfülle durch Menschenmassen, großstädtischen Lärm und Verkehr sowie eine Vielzahl von beständig wechselnden, grellbunten Bildern und einem kulturellen Überangebot verursachen kann. Daraus ergibt sich dann im darauffolgenden Kapitel die Voraussetzung für die literarische Betrachtung des Kaffeehauses als urbanen Rückzugsort des Individuums sowie als besonderen Ort des Kulturtransfers zwischen Wien und Berlin in den 1920er Jahren.
V.3.1.1 Chancen und Reize in der Großstadt Bei Philippe Ariès ist schon angeklungen, dass traditionelle dörfliche Bindungen im 18. Jahrhunderts nicht mehr intakt oder, ganz im Gegenteil, von den Menschen als Gesellschaftsform zunehmend gemieden werden, da sie sich aufgrund veralteter Moralvorstellungen und »vergewaltigenden, sinnlos gewordenen Bindungen politischer und agrarischer, zünftiger und religiöser Art«457 auf dem Land eingeengt fühlen. Sie hoffen, ihren Wunsch nach einer freiheitlichen, persönlichen Entfaltung in der Stadt verwirklichen zu können, wo aufgrund der Vielzahl der Menschen nicht jeder Schritt von der Nachbarschaft überwacht und beurteilt werde. So entwickelt sich Georg Simmel zufolge seit dem 18. Jahrhundert »der Glaube an die volle Bewegungsfreiheit des Individuums in allen sozialen und geistigen Verhältnissen«, welcher die Menschen in die als freiheitlich empfundene Großstadt lockt, um aus den »Beengungen« zu fliehen, »die den Menschen gleichsam eine unnatürliche Form und längst ungerechte Ungleichheiten« aufzwingen.458 Dabei animiert dieser urbane »Schauplatz einer kulturellen Hegemonie«459 besonders Intellektuelle sowie Künstlerinnen und Künstler in die Großstadt zu kommen, welche der gedanklichen und räumlichen Enge ihrer provinziellen Kleinstädte entfliehen
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Würzbach: Raumerfahrung in der klassischen Moderne, S. 16f. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 42. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 42. Moser: »Einleitung: Metropole – azentrisches Zentrum«, S. 9.
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wollen, um starren Konventionen zu entgehen und sich aus ideologischen Tabus zu befreien. Aufgrund dieser größeren Offenheit neuen Ideen gegenüber sowie des fortschrittlicheren Umgangs der Städter und Städterinnen mit traditionell rigiden moralischen Prinzipien, wird die Großstadt gemäß Angelika Corbineau-Hoffmann »zum privilegierten Ort der Künste«460 , der eine kulturfreundliche Atmosphäre, vielseitige Möglichkeiten und neue Kontakte bietet. So erhalten Kunstschaffende sowohl die Gelegenheit, ihre Individualität zu entfalten, ihren Horizont zu erweitern als auch eigene Ideen zu verwirklichen. Daneben können sie die zahlreichen Absatzmärkte, wie Verlage, Tages- und Wochenzeitungen oder Theater- und Schauspielhäuser, zur Veröffentlichung beziehungsweise Bekanntmachung und damit zum Verkauf ihrer künstlerischen Produkte nutzen. Neben dieser freiheitlicheren Grundstimmung sind die grenzenlosen Impulse und Stimulanzien der Großstadt als zweiter Grund zu nennen, welcher die Menschen vom Land in die Stadt lockt. Hier bieten sich nahezu unendliche kommunikative Möglichkeiten der Inspiration, der kontroversen Diskussion und des konzentrierten Zusammenwirkens vieler verschiedener Kräfte. Dabei wirken die großstädtischen Impressionen unerwartet sowie in großer Zahl, Schnelligkeit und in einem Facettenreichtum auf die Stadtbewohner und -bewohnerinnen ein, so dass sich laut Simmel infolge der »rasche[n] Zusammendrängung wechselnder Bilder« und des »schroffe[n] Abstand[s] innerhalb dessen, was man mit einem Blick erfasst«461 das Bewusstsein erhöhe. So könne die Leistung des künstlerisch-intellektuellen Typusʼ aufgrund der »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht«462 ungeheuer beflügelt werden und die Aufnahmefähigkeit sich intensivieren und schärfen. In der Folge könne das Genie seine künstlerische Produktion wie von selbst steigern, da sich ihm »Anregungen, Interessen, Ausfüllungen von Zeit und Bewußtsein […] von allen Seiten anbieten« und es »wie in einem Strome« durch das großstädtische Leben getragen werde, »in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf«463 , weil »der Rhythmus der Stadt, der Menschenmassen und des Verkehrs […] alle menschlichen Sinne optisch wie akustisch« überlagere.464 Aus dieser Gemengelage ergeben sich gemäß Hartmut Rosa, dessen Studie sich wiederum auf Simmel bezieht, die Zunahme und »Beschleunigung gesellschaftlicher Austauschprozesse«, die mit einer »unaufhörlichen Dynamisierung aller sozialen Verhältnisse« einhergingen, welche eng mit der Erfahrung der Moderne verknüpft seien.465 Aus dem Vorangegangenen lässt sich schlussfolgern, dass die Großstadt in ihrer Wirkung auf den Menschen als sehr ambivalent angesehen werden muss und aufgrund
460 Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: »Die Verschlingung der Städte: ein Großstadt-Requiem«, in: Christian Moser/Frauke Bolln/Susanne Elpers/Sabine Scheid/Rüdiger von Tiedemann (Hg.): Zwischen Zentrum und Peripherie. Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum, Bielefeld 2005, S. 49-72, S. 49. 461 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 9. 462 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 9. 463 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 41. 464 Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt a.M. 2004, S. 163. 465 Rosa: Beschleunigung, S. 97.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
der Beschleunigung und der Überforderung in Bezug auf die Reizfülle gesundheitliche Gefahren für den Menschen entstehen können, wie im Folgenden dargestellt wird.
V.3.1.2.
Gefahren der Reizüberflutung in der Großstadt
Da eine große Vielzahl von Künstlern und Künstlerinnen von den Inspirationsquellen der Großstadt befruchtet werden und von ihr profitieren, wird es schwieriger, sich aus der Masse hervorzuheben, da hier laut Simmel »die eigentlich persönlichen Färbungen und Unvergleichlichkeiten« verdrängt würden, so dass »sich das Leben doch mehr und mehr aus diesen unpersönlichen Inhalten und Darbietungen« zusammensetze.466 Daraus ergibt sich ein hemmungsloser, beliebiger Umgang miteinander und eine große Konkurrenz unter den Menschen, weshalb der wirtschaftliche Überlebenskampf in der Stadt aufgrund ursprünglich verbindlich geltender, aber nun außer Kraft gesetzter moralischer Widerstände und gesellschaftlicher Regeln um ein Vielfaches härter sein kann.467 Wenn also zuvor anerkannte sittliche Maßstäbe zu fakultativen Geboten verfallen und die Einzelnen den geordneten Überblick über ihre Aufgaben und Kontakte verlieren, drohe die Gefahr einer völligen Desorganisation der menschlichen Beziehungen, Interessen und Orientierungen: [D]urch die Anhäufung so vieler Menschen mit so differenzierten Interessen greifen ihre Beziehungen und Bethätigungen zu einem so vielgliedrigen Organismus ineinander, daß ohne die genaueste Pünktlichkeit in Versprechungen und Leistungen das Ganze zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen würde.468 Damit bedeuten die moralische Freiheit, vielfältige Aufstiegsmöglichkeiten und eine überdurchschnittlich große Quelle an Inspirationen auf der Kehrseite der ›StadtMedaille‹ eine mögliche Reizüberflutung, unbarmherzige Anonymisierung und eigennützige Rücksichtslosigkeit, auf die die Menschen sich gemäß Simmel einstellen sollten, indem sie »ein Äußerstes an Eigenart und Besonderung aufbieten«469 , um ihre Persönlichkeit auch in der Großstadt zu bewahren. Neben der beständigen Auseinandersetzung mit der anonymen Masse sieht sich das Individuum wie zuvor beschrieben auch permanent mit einer »Myriade von Eindrücken« konfrontiert, weshalb die Menschen David Frisby zufolge »eine ausgeprägte Nervosität« entwickeln würden, die »des Rückzugs nach innen und der sozialen Distanz bedarf und schließlich einen Zustand völliger Gleichgültigkeit erzeugen kann.«470 Daraus ergäben sich die Oberflächlichkeit menschlicher Beziehungen, die auf kurze Dauer angelegt seien, sowie die gesellschaftliche Isolation und die »Neubewertung des Augenblicklichen«471 . Aufgrund dieses »grenzenlosen ›Reiz des Moments‹«472 würden es die in
Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 41. Vgl. Kreuzer: Die Bohème, S. 219f. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 16. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 41. David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin, RhedaWiedenbrück 1989, S. 265. 471 Frisby: Fragmente der Moderne, S. 90. 472 Frisby: Fragmente der Moderne, S. 90. 466 467 468 469 470
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der Großstadt Lebenden nicht wagen, in die ferne Zukunft zu blicken, sondern konzentrierten sich eher auf die Gegenwart und auf diese seltenen wichtigen Zeitpunkte, an denen man andere Menschen trifft, die persönlich oder beruflich für das Individuum eine Bedeutung haben. So kann ein Überangebot an Perspektiven eine kaum zu bewältigende Flut von äußeren Eindrücken bewirken, die zu einer gänzlichen Blockierung der geistig-intellektuellen Fähigkeiten führen und die völlige Abkehr von der Öffentlichkeit zur Folge haben kann.473 Alfred Döblin beschreibt dies in seinem Artikel Großstadt und Großstädter von 1953, in dem er ständige Erregtheit, Ruhelosigkeit und sogar Schmerz als Auswirkungen dieser Reizüberflutung in der Stadt nennt. Dort bilde sich eine neue Empfindlichkeit, die Skala der Gefühle wird reicher, die Reizbarkeit und Ansprechbarkeit wächst. Die Menschen werden zu raschen Reaktionen gedrängt, – und natürlich ist die innere Unruhe groß und wird zur Pein.474 Nach Georg Simmel sind es die generellen Eigenschaften des ›Städters‹ um 1900, dass jener sich emotional von seiner Umgebung distanziert, sich ins Private zurückzieht und auf die vielen aufwühlenden Nervenreize seiner chaotischen Umwelt ausschließlich mit seiner »Verstandesmäßigkeit« reagiert, welche als »Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigung der Großstadt«475 gesehen werden kann. Auf diesem Wege könne sich das Individuum einen inneren Schutzraum einrichten: So schafft der Typus des Großstädters […] sich ein Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen: statt mit dem Gemüte reagiert er auf diese im wesentlichen mit dem Verstande […].476 Zu dem proportionalen Übergewicht des Intellekts gegenüber emotionalen Gefühlsregungen komme eine blasierte und gleichgültige Haltung hinzu, die der Großstadtbewohner aus einem Selbsterhaltungsreflex annehme, um von der Rücksichtslosigkeit der übrigen Stadtbewohner nicht verletzt zu werden.477 So könne er sich mit Hilfe einer zur Schau gestellten Reserviertheit der allgemein akzeptierten urbanen Lebensweise anpassen, ohne seine Unabhängigkeit und individuelle Selbstbestimmung einschränken zu müssen, denn die Reserviertheit »gewährt dem Individuum eine Art […] persönlicher Freiheit«.478 Die negativen Effekte dieses Sozialverhaltens des Rückzugs, der Reserviertheit und Blasiertheit sind jedoch laut Simmel und Alfred Döblin479 mangelndes Einfühlungsver-
473 Vgl. Würzbach: Raumerfahrung in der klassischen Moderne, S. 3; 16. 474 Alfred Döblin: »Großstadt und Großstädte«, in: ders. (Hg.): Minotaurus. Dichtung unter den Hufen von Staat und Industrie, Wiesbaden 1953, S. 221-241, S. 237f. 475 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 11. 476 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 11. 477 Vgl. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 19-22. 478 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 25. 479 Vgl. »Die Menschen, differenzierter geworden, sind auf der Suche nach neuen ›Gemeinschaftsgefühlen‹, die in politischen Gruppen ihren Niederschlag finden. Viel individueller, viel privater und persönlicher wird man in der Großstadt. Ein dummes und schändliches Wort, ›die Masse!‹ Wirkliche Einsamkeit, die Vereinsamung lernt keiner mehr als der Großstädter kennen. Der Großstädter
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mögen und Isolation der Einzelnen, die sich inmitten anderer Menschen alleingelassen fühlen: Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, daß die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele.480 Von dieser Kehrseite aus betrachtet stellt die Großstadt einen Ort dar, an dem sich positive Impulse in negative Reizüberflutung, wechselseitige Befruchtung in rücksichtslose Konkurrenz und unbeschränkte Selbstverwirklichung in grenzenlose Lähmung verwandeln können, und so weder Chance noch musische Bereicherung beispielsweise für Schriftsteller, Malerinnen sowie Musiker und Journalistinnen sein kann. Vielmehr deutet es auf eine Gefährdung der kulturellen Errungenschaften und Leistungen hin, wenn die Großstadt zum künstlerischen und »literarischen Un-Ort« erwächst, »der vor allem eines zerstört: Ruhe und Konzentration.«481 Um diesem bedrohlichen Zustand zu entkommen, kann es für die Bewohnenden der Großstadt im Allgemeinen und die Kunstschaffenden im Besonderen existentiell wichtig sein, sich neben einem psychischen, verstandesmäßigen Zufluchtsort einen physischen Unterschlupf wie das Kaffeehaus zu suchen, in das man sich zurückzieht, um die städtische Geschwindigkeit zu bremsen, die Reizüberflutung zu dämpfen, Inspiration wiederzuerlangen482 und als Individuum beachtet zu werden. Interessant in diesem Zusammenhang sind die Überlegungen Wolfgang Schivelbuschs, der sich seiner Geschichte der Eisenbahnreise (1977) mit den Möglichkeiten der Selbsterhaltung beziehungsweise des ›Reizschutzes‹ beschäftigt hat. Dies tut er in Anlehnung an Sigmund Freuds Reizschutz-Theorie, die Freud 1920 in Jenseits des Lustprinzips im Rahmen der Analyse des Wiederholungszwangs, der Verdrängung und des Triebes in Zusammenhang mit einer traumatischen Neurose entwickelt hat. Schivelbusch diskutiert diese Theorie nun als potentielles Heilmittel für die psychische Verarbeitung von Reizen, die durch die Veränderung der Raum- und Zeitwahrnehmung entstanden sind: Als Folge der Institutionalisierung der Eisenbahnfahrt im 19. Jahrhundert, mithilfe derer man in ungewohnt schneller Weise große Strecken zurücklegen konnte, wurde das soziale Leben von Reisenden enorm beschleunigt und ihr geographische Horizont außerordentlich erweitert. Schivelbusch beschreibt, wie die Menschen »neue Verhaltens- und Wahrnehmungsformen«, wie beispielsweise das ›panoramatische Sehen‹, entwickelten, um sich mit deren Hilfe auf die »Zerschlagung überlieferter
wird durch die moderne Arbeitsteilung zum Fragment.«, in: Döblin: »Großstadt und Großstädte«, S. 237f. 480 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 31. 481 Corbineau-Hoffmann:»Die Verschlingung der Städte«, S. 56. 482 Vgl. Würzbach: Raumerfahrung in der klassischen Moderne, S. 3.
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Raum-Zeit-Verhältnisse« und die empfundene »Verflüchtigung der Wirklichkeit« einzustellen.483 Da sich im Zusammenhang mit der Beschleunigung allerdings auch nie zuvor dagewesene Unfälle ereigneten, wurden die Menschen überfallartig mit vielen ungewohnten, irritierenden und aggressiven Reizen konfrontiert, mit denen sie sich auseinander setzen mussten. Daher seien sie ab dieser Zeit gezwungen gewesen, einen verstärkten ›Reizschutzmechanismus‹ aufzubauen, um die eigene Psyche vor verstörenden äußeren Einwirkungen zu schützen: Denn der Begriff des Reizschutzes erweist sich als ein geeignetes Modell, um das zu fassen, was man zivilisatorische Rindenbildung nennen könnte. An der Stärke oder Dichte des Reizschutzes läßt sich ablesen, welche Stärke oder Dichte die Reize haben, mit denen er es aufnimmt, und die Stärke oder Dichte dieser Reize wiederum ist ein Indikator für den jeweiligen historischen Stand der Zivilisation. […] Der Reizschutz ist sowohl Subjekt wie Außenwelt, indem er ins Subjekt hereingenommene, vom Subjekt absorbierte, verinnerlichte […] Außenwelt (d.h. Reize der Außenwelt) ist.484 Damit nimmt Schivelbusch Bezug auf Freuds ›Reizschutz‹- und ›Bläschen‹-Modell, das er für zweckdienlich hält, um den »psychischen Prozeß der Zivilisation« zu veranschaulichen. So heißt es bei Freud: Dieses Stückchen lebender Substanz schwebt inmitten einer mit den stärksten Energien geladenen Außenwelt und würde von den Reizwirkungen derselben erschlagen werden, wenn es nicht mit einem Reizschutz versehen wäre. Es bekommt ihn dadurch, daß seine äußerste Oberfläche die dem Lebenden zukommende Struktur aufgibt, gewissermaßen anorganisch wird und nun als eine besondere Hülle oder Membran reizabhaltend wirkt, das heißt, veranlaßt, daß die Energien der Außenwelt sich nun mit einem Bruchteil ihrer Intensität auf die nächsten lebend gebliebenen Schichten fortsetzen können. Diese können nun hinter dem Reizschutz sich der Aufnahme der durchgelassenen Reizmengen widmen.485 Dabei ist der Aufbau des ›Reizschutzes‹ und die genaue Kategorisierung der Art der Reize für Freud viel essentieller als die Reizaufnahme, da Reize in zu großer Menge einen »zerstörende[n] Einfluß« auf den Menschen hätten und nur in kleinen ›Kostproben‹ verarbeitet werden könnten. Eine besondere Rolle bei der Reizaufnahme spielen laut Freud die Sinnesorgane, auf die die Reize unmittelbar einwirken würden und die daher »besondere Vorrichtungen zu neuerlichem Schutz gegen übergroße Reizmengen und zur Abhaltung unangemessener Reizarten« bereithalten müssen.486 Übertragen auf diese Arbeit kann nun gefragt werden, ob das Kaffeehaus eine Art ›Reizschutzstruktur‹ darstellen kann, welche ›überreizte‹ Großstädter und -städterinnen von der Beschleunigung, dem Lärm und der Menschenmasse in ihrer Umgebung abschirmen kann, oder ob den Menschen inmitten der Stadt keine Alternative bleibt, als sich gänzlich in ihr 483 Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industriealisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 143. 484 Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 148. 485 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und Ich-Analyse. Das Ich und das Es, Gesammelte Werke Bd. 13, Frankfurt a.M. 1999, S. 26f. 486 Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 27.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
›Zuhause‹ zurückzuziehen, weil das Kaffeehaus die Gegensätze der Stadt mikroskopisch abbildet und den Menschen somit keinen Reizschutz bieten kann. Daher soll in den folgenden Kapiteln anhand unterschiedlicher Texte untersucht werden, ob und inwiefern das großstädtische Kaffeehaus in der Literatur als ›Reizschutzmechanismus‹, Insel der Entschleunigung und individueller Kompensationsort fungieren kann, welches den Gästen dabei hilft, sich als Individuum inmitten der Masse wertgeschätzt zu fühlen.
V.3.2.
Das Kaffeehaus – urbaner Rückzugsort und Ort des »individuellsten persönlichen Dasein[s]«
In den bisherigen Ausführungen wurde offenbar, dass der Mensch Einsamkeit und Reizüberflutung in der Masse der Großstadtmenschen schmerzlich spürt, wenn er kein gefestigtes Netzwerk aus Familie, Bekannten und Kollegen hat, das ihn trägt und ihm Rückhalt gibt.487 In diesem Fall ist das Individuum einerseits auf der Suche nach Gemeinschaft außerhalb des engeren Freundeskreises; andererseits muss es aus der großen Angebots- und Chancenvielfalt seine subjektiven Bedürfnisse herausfiltern, um seine individuellen Ziele verfolgen zu können sowie die eigene Persönlichkeit hervorzuheben, damit sie von der Außenwelt als existent wahrgenommen und in vorhandene Strukturen integriert werden kann. Dies beschreibt Georg Simmel aufgrund der schieren Größe der Stadt und der Einwohnerzahl als schwierigen Prozess, der den Einzelnen abverlangt, dass sie beispielsweise mit Hilfe eines auffälligen Kleidungsstils oder extravaganter Wünsche auf sich aufmerksam machen: Was dann schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten verführt, zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solches Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt – für viele Naturen schließlich noch das einzige Mittel, auf dem Umweg über das Bewußtsein der anderen irgend eine Selbstschätzung und das Bewußtsein, einen Platz auszufüllen, für sich zu retten.488 Die Ausbildung dieses starken Geltungsbedürfnisses liegt begründet in der Verdichtung der Reize und der Rolle der Großstadt als »Kristallisationspunkt für die Relation von Individuum und Gesellschaft«.489 Deshalb kann die Großstadt mit Hartmut Rosa und Georg Simmel als der »Ort der extremsten Individualisierung«490 bezeichnet werden, wo Arbeitsteilung auf höchstem Niveau stattfindet, da in der Großstadt sehr viele Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten, Talenten, Ansprüchen und Bedürfnissen auf engstem Raum leben, arbeiten und sich verwirklichen wollen. Dabei liegt der 487 Zitat in der Überschrift aus Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 38. 488 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 37. 489 Wolfgang Matzat: »Stadtdarstellung im Roman: Gattungstheoretische Überlegungen«, in: Christian Moser/Frauke Bolln/Susanne Elpers/Sabine Scheid/Rüdiger von Tiedemann (Hg.): Zwischen Zentrum und Peripherie. Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum, Bielefeld 2005, S. 73-89, S. 73. 490 Rosa: Beschleunigung, S. 97.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Ausgangspunkt für die Arbeitsteilung Rosa zufolge in der protestantischen Ethik, die den Menschen dazu verpflichte, die Zeit ernsthaft und nachhaltig zu nutzen sowie Müßiggang konsequent zu vermeiden. So werden diese »Rast- und Ruhelosigkeit und die Beschleunigung des Lebenstempos durch systematische Eliminierung von Pausen und Fehlzeiten sowie die kategorische Ökonomisierung der Zeit in der Lebensführung«491 von Max Weber als Folge einer protestantischen Geisteshaltung beschrieben, nach der »Zeitvergeudung […] die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden« ist.492 Das Individuum muss also sowohl einen Kampf mit sich selber als auch mit den übrigen Menschen austragen, um sich innerhalb der städtischen Gesellschaft zu positionieren und nicht als ›allgemeiner Mensch‹ in der Masse des städtischen Alltags unterzugehen, sondern sich von den anderen qualitativ zu unterscheiden.493 Diese »höchst mannigfaltige Vielheit von Leistungen« stellt laut Simmel die Bedingung für die Arbeitsteilung dar; jedoch könne – bedingt durch »die Zusammendrängung der Individuen und ihr Kampf um den Abnehmer« – das Angebot an Arbeitskräften die Nachfrage überschreiten, so dass die Einzelnen »zu einer Spezialisierung der Leistung« gezwungen würden, in der sie »nicht so leicht durch einen anderen verdrängt werden« könnten.494 Indem man sich also voneinander unterscheide, seine Interessen und Kompetenzen innerhalb eines weiteren Rahmens auf ein konzentriertes Spezialgebiet zuschneide und auf »Differenzierung, Verfeinerung, Bereicherung der Bedürfnisse des Publikums« setze495 , könne man sich bedeutsam und unentbehrlich machen und sich damit die Möglichkeit erhalten, »eine noch nicht ausgeschöpfte Erwerbsquelle, eine nicht leicht ersetzbare Funktion zu finden«.496 Daher würden nun gerade die Großstädte eine bedeutsame Rolle in dieser »Entwicklung des seelischen Daseins« spielen, da sie als »Platz für den Streit und für die Einungsversuche« fungierten, »indem ihre eigentümlichen Bedingungen sich uns als Gelegenheiten und Reize für die Entwicklung« offenbart hätten.497 In diesen Momenten gelte es, gemäß Simmel, »sich pointiert, zusammengedrängt, möglichst charakteristisch zu geben«, weil man in der Großstadt vielleicht keine zweite Chance bekomme, um sich ›unzweideutig‹ zu präsentieren.498 Um sowohl diesem Geltungsbedürfnis gerecht zu werden als auch der Reizüberflutung und Isolation zu entkommen, benötigen die Individuen einen Rückzugsort, der als ›Reizabwehr‹ dient und an dem die Einzelnen sich präsentieren und in ihrer Individualität profilieren können. In diesem Zusammenhang kann das Café insbesondere für freischaffende Künst491 Rosa: Beschleunigung, S. 93. 492 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus/Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904-1920, Gesamtausgabe Bd. 18, hg. v. Wolfgang J. Schluchter, Tübingen 2016, S. 417f. 493 Vgl. »Die Verlorenheit, Orientierungslosigkeit und Isoliertheit des Einzelnen im Labyrinth Großstadt ist ein rekurrentes Thema […]. Gleichzeitig wird dies jedoch auch als Herausforderung an das Individuum zur Identitätsbildung und -wahrung begriffen.«, in: Würzbach: Raumerfahrung in der klassischen Moderne, S. 10. 494 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 35. 495 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 36. 496 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 36. 497 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 43. 498 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 38.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
ler, Schriftstellerinnen sowie Journalisten Arbeitsplatz und Podium zugleich sein, da sie als Anreiz für ihre künstlerische Produktion und um der persönlichen Bestätigung willen auf der Suche nach Publikum, also nach »sozialer ›Reibung‹«499 sind, um der Anonymität zu entkommen und sich der Illusion einer gleichgesinnten Gemeinschaft hinzugeben: Conversation with like-minded characters sharpens their wits and inspires their creativity. It is a place where communication is possible. It gives one support in the frightening loneliness of the metropolis. It is the only place where one’s absence is noticed, where one is known by name, which counteracts the anonymity of modern life. […] In short, for alienated bohemians and artists estranged from society the coffee house provides comfort and security, it gives an illusion of community.500 So kann geschlussfolgert werden, dass eine Lokalität wie das Kaffeehaus in der gesellschaftlichen Wahrnehmung besonders in der Großstadt ein unverzichtbarer Ort ist, der das Individuum sichtbar macht und dessen Persönlichkeit zur Geltung bringt, indem es die Verschiedenartigkeit der einzelnen Menschen wie auf einer Bühne hervorhebt.501 Insbesondere dem Wiener Café wird sowohl in älteren Texten als auch in neueren Publikationen502 trotz seines klischeebehafteten Rufes meistens eine gemütliche Atmosphäre sowie eine entschleunigende und identitätsstiftende Wirkung auf den Gast zugeschrieben und fungiert damit nach Alfred Polgar als eine »Art der Organisation der Desorganisierten« (TCC 256). Dabei wird in den Texten immer auch implizit oder explizit auf ironische Weise das Thema ›Schein und Sein‹ zur Beantwortung der Frage diskutiert, ob der Gast wirklich als Individuum mit eigenen Wünschen wahr- und ernst genommen wird oder ob das Personal in der Realität vielmehr alle Kunden und Kundinnen gleich behandelt und nur vorgibt, dass jeder und jede einzelne etwas Besonderes ist, um damit eine Bindung des Gastes an das Lokal zu schaffen und den Gewinn zu erhöhen. Dieser Thematik sowie der Frage danach, auf welche Weise »in diesem gesegneten Raum […] jedem halbwegs unbestimmten Menschen Persönlichkeit kreditiert« (TCC 256) wird, soll im Folgenden nachgegangen und dabei gefragt werden, ob das Kaffeehaus ein ›reizabwehrender Rückzugsort‹ sein kann und worin in dieser Hinsicht seine Qualitäten bestehen. Dafür werden Texte von Marc Augé, Alfred Polgar, Anton Kuh, Hans Weigel und Soma Morgenstern analysiert werden, in denen jeweils 499 Kreuzer: Die Bohème, S. 204. 500 Egon Schwarz: »The End of a False Summer: Aspects of Viennese Literary Culture around 1900«, in: Leona Rittner/W. Scott Haine/Jeffrey H. Jackson (Hrsg.): The Thinking Space: The Café as a Cultural Institution in Paris, Italy and Vienna, Farnham 2013, S. 33-49, S. 49. 501 Vgl. »Jemand sein heißt sichtbar sein, die eigene Existenz gekonnt und unverwechselbar in Szene setzen und sie demonstrativ gegen andere behaupten.«, in: Helmut Berkin/Sighard Neckel: »Stadtmarathon. Die Inszenierung von Individualität als urbanes Ereignis«, in: Klaus R. Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 262-278, S. 263. 502 So heißt es beispielsweise in Cornelia Ehmayers qualitativer Studie (2003) über Wien: »Die postulierte Gemütlichkeit und Langsamkeit ist Klischee und Wahrheit zugleich, die sich in der Wiener Kaffeehauskultur manifestiert. Das Kaffeehaus steht für einen entschleunigten Lifestyle und wirkt identitätsstiftend, sowohl nach Innen als auch nach Außen.«, in: Ehmayer: Das Wesen von Wien, S. 39.
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die Beziehung ›der Wiener‹ beziehungsweise ›der Pariser‹ Gäste zu ›ihrem‹ Kaffeehaus oder Bistro ergründet wird. Im nächstfolgenden Unterkapitel werden mit Texten von Friedrich Torberg, Hilde Spiel und Karl Kraus weitere Perspektiven auf die besondere Beziehung des Gastes zum Kaffeehauspersonal hinzugezogen und die in diesem Zusammenhang wichtigen Aspekte ›Entschleunigung‹ und ›Gemütlichkeit‹ untersucht. Dabei zeichnen sich die meisten dieser Texte trotz eines eher beobachtenden Erzählmodus durch die Verknüpfung autobiographischer Komponenten mit poetologischen Überlegungen aus, da in ihnen viele persönliche Erinnerungen der Schreibenden an ihr Café geschildert und in diesem Zusammenhang auch eigene Genreüberlegungen angestellt werden. So verbanden sie ihr schriftstellerisches Arbeiten aufs engste mit dem Kaffeehaus, denn es »lieferte ihnen die Stoffe, es zwang ihnen die Formen auf, es bestimmte ihr Leben und ihre literarischen Produktionen«, so dass das Kaffeehaus laut Bachmaier in ihren Texten »als geistiger Raum, als Institution oder Mythos und seine exzentrischen Bewohner das vorherrschende Thema bilden«.503 Torberg beschreibt das Kaffeehaus daher im ersten seiner beiden Erinnerungsbände, Die Tante Jolesch von 1975, als Voraussetzung der Literatur, weil der Ort und die Menschen einander gegenseitig beeinflussen: Vom Kaffeehaus war schon so oft und ausgiebig die Rede, daß es sich fast erübrigt, ihm ein eigenes Kapitel zu widmen. Im Grunde ist ja dieses ganze Buch ein Buch vom Kaffeehaus. Kaum eine der auftretenden Personen wäre ohne das Kaffeehaus denkbar. Kaum eine der von ihnen handelnden Geschichten, auch wenn sie anderswo spielen, wäre ohne das Kaffeehaus entstanden. […] Den von ihnen handelnden Geschichten lieferte es die Atmosphäre […], lieferte es Rückendeckung und Resonanz und, kurzum, den geistigen Raum. Und ihre Aussprüche waren von einer im Kaffeehaus entwickelten Diktion und Denkungsart geprägt.504 Torberg nimmt im zweiten Band, Die Erben der Tante Jolesch von 1978, auf die im früheren Text angesprochene Thematik Bezug, äußert sich zum Genre der ›KaffeehausGeschichten‹ und zur Struktur seiner Erinnerungen, wenn er darauf eingeht, dass es ihm nicht gelungen sei, »ein halbwegs sinnvolles Ordnungsprinzip«505 einzurichten. Dies erklärt er mit dem Kaffeehaus, in dem auch alles gleichzeitig und nicht nacheinander passiere und welches das verbindende Element darstelle: Weshalb, so könnte gefragt werden, gehört die eine Anekdote in die Sparte ›Theater‹ und die andre zur ›Literatur‹ […]? Die Antwort habe ich bereits gegeben: weil es im Grunde lauter Kaffeehaus-Geschichten sind. Sie müssen deshalb nicht unbedingt im Kaffeehaus entstanden sein (obwohl das bei den meisten von ihnen der Fall war) – es genügt, daß sie ohne den geistigen Hintergrund des Kaffeehauses nicht entstanden wären. Sie tragen, auch wenn man’s ihrem Äußeren nicht anmerkt, das Kaffeehaus in sich. Oder zumindest haben sie es irgendwo auf ihrem Weg gekreuzt, mögen sie von noch so weit herkommen. Ich wage die Behauptung, daß sogar die Geschichten, die der 503 Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 260f. 504 Torberg: »Kaffeehaus ist überall«, S. 183. 505 Friedrich Torberg: »Ergänzungen zum Kaffeehaus«, in: ders.: Die Erben der Tante Jolesch, Gesammelte Werke in Einzelausgaben Bd. 9, München 1975, S. 109-124, S. 109.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Schauspieler Alfred Neugebauer aus der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg zum besten gab, vom Kaffeehausgeist infiltriert waren – nicht nur weil er, selbst ein Kaffeehausbesucher von Geblüt, sie mit Vorliebe im Kaffeehaus (wo denn sonst) erzählt hat, sondern weil sie bei ihren Zuhörern einen Sinn für die Kunst der Pointe, eine Empfänglichkeit für Nuancen und, kurzum, eine Aufnahmebereitschaft voraussetzten, die nur am Kaffeehaustisch gedieh.506 Der Ursprung dieses Zusammenhangs zwischen Kaffeehaus und Literatur und der nicht vorhandenen Linearität der Texte liegt in der »Atmosphäre spontaner Gesprächsbereitschaft«507 , die laut Dagmar Lorenz im Kaffeehaus vorherrscht, da hier zu allen Tageszeiten stets wechselnde Gäste in zwangloser Umgebung aufeinandertreffen. Dabei besteht die besondere Kunst des flüchtig-augenblickhaften Kaffeehausdialogs Hermann Bahr und Hermann Kesten zufolge darin, »in losen Gesprächen den geringsten Anlaß, irgendein hingeworfenes Wort, den Doppelsinn irgendeiner Wendung plauschend zu benützen, um daran unmerklich bis zu den letzten Fragen emporzuklettern«508 und auf »kleinstem Raum in einer Weise zu plaudern, die alles Oberste und alles Innerste anrührt und nichts wirklich betrifft«509 . So können Schreibende nicht nur auf angenehme Weise den Tag im Café verbringen um »zwischen dichterischer Arbeit und werbendem Eifern für eine Idee den Geist mit der spielerischen Akrobatik von Witz, Aperçu, Abstraktion, Kritik und schlagfertiger Bosheit elastisch zu halten«510 , sondern auch sogleich eine Rückmeldung der anderen Gäste erhalten, wie Erich Mühsam schreibt. Dabei handelt es sich aber nicht immer nur um literarische Fachsimpeleien, sondern auch um banal-alltägliche Themen, wie Richard Specht berichtet: Das alles war es nicht, was uns zusammenhielt. Sondern: daß einer den andern spürte und daß ihm das wohl tat. Und dann, daß […] einfach wundervolle Gespräche geführt wurden. Gespräche, in denen auch das Alltägliche leuchtend wurde; in denen das auffallendste und das geringfügigste Ereignis […] plötzlich Beziehung und Sinn bekam und zu einem Zeichen des Lebens wurde. […] Dann sprühten Gedanken und Erkenntnisse, Geistigkeiten köstlicher Art wurden verschwenderisch und mit der Machtlosigkeit großen inneren Reichtums verstreut […].511 Diese die Kaffeehaus-Gespräche betreffenden Zitate zeigen zum einen, dass Literatur – beziehungsweise ›Kaffeehausliteratur‹ – keinesfalls aus dem Nichts heraus entsteht, sondern das Gespräch quasi als Vorform der Literatur angesehen werden kann, welche in Gemeinschaftsarbeit entsteht und dann von den einzelnen Schreibenden niedergeschrieben wird. Zum anderen wird deutlich, dass Leben und Arbeiten für diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller nur im Kaffeehaus möglich ist und sie sich kein Leben
506 Torberg: »Ergänzungen zum Kaffeehaus«, S. 109. 507 Lorenz: Wiener Moderne, S. 23. 508 Hermann Bahr: Selbstbildnis. Kritische Schriften in Einzelausgaben, hg. v. Gottfried Schnödl, Weimar 2011, S. 112. 509 Kesten: Dichter im Caf é, S. 362. 510 Ernst Mühsam: Namen und Menschen. Unpolitische Erinnerungen, Berlin 1977, S. 25f. 511 Richard Specht: Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk. Eine Studie, Berlin 1922, S. 38f.
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außerhalb dieses Ortes vorstellen können, der ihnen laut Bachmaier »als Mittelpunkt der Welt, als der einzig möglichen unter allen unmöglichen Welten«512 erscheint. So stellen die Rezeption und Produktion der Literatur ebenso wie der biographische Aspekt eine Einheit dar, deren Bestandteile nicht voneinander zu trennen sind, sondern vom Ort des Kaffeehauses zusammengehalten werden, was sich wiederum auf das Genre auswirkt. Neben der inhaltlichen Thematik des Kaffeehauses sowie der sehr metaphorischen Sprache der Texte, auf die im Folgenden einzugehen sein wird, kann diese Konstellation als spezifisches Merkmal der ›Kaffeehausliteratur‹ gewertet werden.
V.3.2.1.
Persönlichkeit und Individuum
In Polgars Theorie des ›Café Central‹ von 1926 wird das Café für all diejenigen, die es nach Gesellschaft verlangt, aber dennoch keine verpflichtende Verabredung eingehen oder gar Bekanntschaften pflegen wollen, zu einem Ort, der Familie, Bekannte und Kollegen vermeintlich ersetzen kann. Polgar beschreibt in seinem Text in sich widersprüchliche ›Typen‹ von Wiener Kaffeehausgästen, die hin- und hergerissen sind zwischen dem Wunsch, alleine zu sein und dem sporadischen Bedürfnis nach Gemeinschaft. Diese Gäste fühlen sich somit bei gleichzeitig vorhandener ›Menschenfeindlichkeit‹ einsam und möchten in eine andere Welt flüchten, in der sie das alltägliche Familien- und Berufsleben ausblenden können, weil dieses sie entweder stark fordert oder langweilt. Während Polgar diesen komplexen Charakter ebenjener Gäste beschreibt, die sich nur innerhalb des Café Central wohlfühlen, gewinnen die Lesenden den Eindruck, das Café sei eine Insel, eine Höhle oder eine andere, vom üblichen urbanen Verkehr abgetrennte Örtlichkeit, welche sich dadurch auszeichnet, dass sie vermeintlich gegensätzliche Wünsche und Anliegen des Gastes in ein und demselben Ort zu erfüllen vermag: Das Café Central liegt am wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindlichkeit so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen. […] Es ist ein rechtes Asyl für Menschen, die die Zeit totschlagen müssen, um von ihr nicht totgeschlagen zu werden. Es ist der vertraute Herd derer, denen der traute Herd ein Greuel ist, die Zuflucht der Eheleute und Liebespaare vor den Schrecken des ungestörten Beisammenseins, eine Rettungsstation für Zerrissene […]. (TCC 255) In dieser ironischen Zuspitzung wird deutlich, dass es sich hier nicht um einen echten Rückzugsort handelt, sondern nur um die Vorspiegelung desselben, in den sich beispielsweise Paare flüchten, die den direkten Konflikt miteinander scheuen. Dabei ist ihnen das Kaffeehaus nicht unbedingt ›vertrauter‹ als das ›traute‹ Heim, wie Polgars Wortspiel andeutet. Vielmehr ist ihnen das ›traute‹ Heim so sehr ›vertraut‹, dass sie wissen, dass dort zum Beispiel familiäre Spannungen oder finanzielle Sorgen auf sie warten, die sie im Kaffeehaus für eine bestimmte Zeit verdrängen können. Jedoch werden sie dort auch nicht ausschließlich von Gemütlichkeit, Liebenswürdigkeit und Wohlwollen empfangen. Stattdessen übertragen sich die Ambivalenz und Skepsis, die der oder die Einzelne gegenüber der gesamten Gesellschaft empfindet, auf die Beziehungen der einzelnen Gäste zueinander. Damit ist die Atmosphäre im Kaffeehaus einerseits von 512
Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 260f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
der unterschwellig feindlichen, aber dennoch neugierigen Haltung der Gäste geprägt; andererseits sind es gerade diese Widersprüchlichkeit und die Hassliebe, die die Gäste aneinander und an das Café selbst binden. Dies macht sie zu einer verschworenen Gemeinschaft, deren vereinendes Element der Treffpunkt im Kaffeehaus ist: Die Gäste des Café Central kennen, lieben und geringschätzen einander. Auch die, die keinerlei Beziehung verknüpft, empfinden diese Nichtbeziehung als Beziehung, selbst gegenseitiger Widerwille hat im Café Central Bindekraft, anerkennt und übt eine Art freimaurerischer Solidarität. Jeder weiß von jedem. Das Café Central ist ein Provinznest im Schoß der Großstadt, dampfend von Klatsch, Neugier und Médisance. (TCC 256) Nicht zuletzt erwähnt Polgar in diesem Text den Standort des Cafés innerhalb der Großstadt, in der das Café durch seine Bedeutung für die Menschen zum ›Provinznest‹, also zum dörflichen Treffpunkt wird, in dem jeder jeden kennt und alle alles voneinander wissen. Während das Kaffeehaus bei Alfred Polgar als gesellschaftliche Kompensation beziehungsweise ›Ersatztotalität‹ fungiert (TCC 255), welche das ›richtige‹ Leben im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis ersetzt, beschreibt Soma Morgenstern diesen Sachverhalt in seinem am 27.04.1930 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Feuilleton »Wien. Natürlich: das Kaffeehaus«, genau umgekehrt, wenn er betont, dass es in Wien viele Menschen gebe, »für die das sogenannte gesellschaftliche Leben eher ein Ersatz ist für das Kaffeehaus.«513 Morgenstern deutet damit an, dass die meisten Gäste – und »es sind die schlechtesten Wiener nicht, die so empfinden« (WNK 252) – das immer gleiche Café also nicht aus der Verlegenheit heraus betreten würden, keinen anderen für sie passenden Ort zu haben, sondern sie besuchten es bewusst, weil sie sich dort wohlfühlten und ihnen besondere Aufmerksamkeit widerfahre. Damit spricht Morgenstern auch die Aspekte der ›Wiener Gemütlichkeit‹ und des Stammlokals an, in dem der Gast regelmäßig verkehre, seine Ruhe habe und er mit seinen Vorlieben bekannt sei, so dass der Kellner bereits vor der Aufgabe einer Bestellung weiß, wessen der Gast bedarf. Beachtung findet in dieser Konstellation vor allem die Persönlichkeit des Menschen mit seinen speziellen Wünschen, die ihm geduldig und in mußevoller Atmosphäre erfüllt würden, zum Beispiel im Hinblick auf seine Zeitungslektüre: Wie kommt es aber, daß die Wiener für die Mußestunden im Café tatsächlich mehr Zeit übrig haben als sonst ein arbeitender Mensch? Das liegt – in der Folge – sozusagen in der Natur des Wiener Kaffeehauses, das ein ziemlich kompliziertes Gebilde ist. Sehen wir uns den Wiener im Café kurz an: was treibt er da im Stammlokal? […] Er hat da Verschiedenes vor. Je nach dem, was für eine Art Mensch er repräsentiert. […] Er liest seine Zeitungen. Die braucht er gar nicht erst zu bestellen. Der Kellner kennt seinen Gast und weiß schon, was er an geistiger Nahrung verlangt und verträgt. […] Was ein richtiger Stammgast ist, der wünscht, daß seine Zeitungen ihn erwarten, ehe er kommt. (WNK 250f.)
513
Morgenstern: »Wien. Natürlich: das Kaffeehaus«, S. 252. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »WNK« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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Und so erhält der Gast durch die Auszeichnung des Kellners als ›Stammgast‹ seine tägliche Portion gesellschaftlicher Anerkennung, die ihn den Alltag besser ertragen lässt, weil er sich wertgeschätzt fühlt. Betont wird hier also der starke Kontrast zwischen der Welt außerhalb des Kaffeehauses, in der der Gast vielleicht kaum beachtet wird, weil er keine wichtige ›Persönlichkeit‹ ist, und der Innenwelt des Kaffeehauses, in der er sich als solche fühlen darf: Mag es vielleicht nicht ganz stimmen, daß jeder Wiener eine ›Persönlichkeit‹ sei. In seinem Kaffeehaus ist er es kraft seines Selbstbestimmungsrechts als Stammgast! Und die Stammgäste sind es, die dem Lokal das Spezifische aufprägen. (WNK 251) So übt das Kaffeehaus auf den Gast insbesondere eine psychologische Wirkung im Hinblick auf dessen Selbstwertgefühl aus. Dabei wird die Atmosphäre zu einem großen Teil vom Charakter der Gäste und der Kellner sowie deren Beziehung zueinander geprägt. Jedoch spart auch Morgenstern nicht mit Selbstironie, wenn er die Wiener und Wienerinnen als eher arbeitsscheue Müßiggänger beschreibt, deren gesellschaftlicher Lebensmittelpunkt im Kaffeehaus beheimatet ist, in dem man sich mit Bekannten trifft. Anhand der persönlichen Kommentare des Erzählers am Ende wird deutlich, dass er sehr gut nachvollziehen kann, dass das Kaffeehaus kein ›Ersatz‹ für die Wiener ist, sondern deren ›erste Wahl‹ darstellt: Selbst diese Gäste, die scheinbar nur, eben nur so dasitzen, sind noch lange keine Nichtstuer. Im Wiener Kaffeehaus spielt sich nämlich auch – und in erster Reihe! – ein gut Teil des Stadtlebens ab, das man geselliges Leben nennt. Woanders huldigt man mehr dem netten Spiel: Ladest du mich ein, lade ich dich ein. Das tut man natürlich auch in Wien. Aber meistens trifft man sich wo in einem Kaffeehaus. Und es ist kein schlechter Ersatz. (Darüber ließe sich streiten. Ich könnte nur mit Argumenten für das Kaffeehaus dienen.) (WNK 251) So wie bei Morgenstern wird auch in anderen Texten der zwanglose Charakter des Kaffeehauses betont, in dem zwar auch gesellschaftliche Regeln gelten, das aber vor allem die Freiheit der Einzelnen respektiert, oder wie Hans Weigel schreibt: »Was muß man im Café? Nur sein. Man kann fast alles, aber man muß fast nichts. Das Café ist ein Freiheitsraum.«514 In seinem einleitenden Essay zu einem Text- und Bildband über Das Wiener Kaffeehaus (1971) unterstreicht Weigel gerade die Eignung des Kaffeehauses, den Gästen einen eher unkonventionellen Ort zu bieten, in dem man auch unangepasst sein dürfe, solange man die anderen nicht störe. Im besten Fall werde der Gast weder aufgefordert, seinen Platz nach einer bestimmten Zeit wieder zu räumen, noch dazu, regelmäßig etwas nachzubestellen: Das Kaffeehaus dient auch […] dem zeitweiligen Atemholen, der Befreiung von einem Druck. […] immer wieder, sei’s nur für wenige Minuten, [um] Freiheit zu tanken. […] Man kommt im Café besser zueinander und besser zu sich.515
514 515
Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 10. Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 23.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
So, wie das Wiener Kaffeehaus in den zuletzt genannten literarischen Texten beschrieben wird, erinnert es an eine Form von Achtsamkeitstraining, welches die Menschen zur seelischen Regeneration nutzen können. An diesem Training können sie aufgrund des gleichförmigen Rhythmus‹, welcher vom Lokal vorgegeben wird, automatisch teilnehmen. Diese Seite des Cafés beziehungsweise Bistros wird auch von Marc Augé in seiner Éloge du bistrot parisien (2015) thematisiert. In den assoziativen Schilderungen über sein nicht näher benanntes Stammbistro, dessen Personal und Gäste, versucht er, die von den Bistros ausgehende besondere Atmosphäre und den Reiz zu ergründen, da diese Lokale für ihn die Genuss- und Kommunikationsfreude der französischen Lebensart verkörpern. Im Text hebt der Erzähler einerseits die Freiwilligkeit und Zufälligkeit hervor, die für ihn den Besuch seines Bistros ausmachen, und nennt andererseits als Grundlage für die Praktizierung dieser Freiheit das Vorhandensein einer ›impliziten, stillschweigenden Übereinkunft‹, welche unter dem Personal ›seines‹ Bistros und den anderen Gästen gelte und ›Regelverletzungen‹ möglichst verhindere (vgl. EBP45): Mais il est aussi un lieu en soi, avec son décor et ses acteurs, avec son histoire. Il est un morceau de vie fiché dans la mienne comme dans celle de quelques autres, sans que pour autant nous constituions, par le seul fait de le fréquenter, une communauté, ni même une association ou un ›collectif‹. Mes relations avec le patron ou les employés du bistrot sont facultatives et ne découlent pas d’un ordre a prior, en ce sens elles sont aléatoires, mais elles sont vécues consciemment comme relevant d’une convention implicite. (EBP 62) Wenn das Bistro dieses Bedürfnis bedienen kann, wird es nach Augé zu einem nicht leicht zu findenden, ›idealen Ort‹516 in der Stadt Paris, in dem der Stammgast wie in Morgensterns Wiener Kaffeehaus seine Bestellung ohne Worte, beziehungsweise ohne sich selbst bei der Arbeit oder Lektüre zu stören, aufgeben könne. Der Erzähler geht diesem Phänomen auf den Grund, während er einen Mann beobachtet, der täglich im Bistro auftaucht, den gesamten Vormittag über am immer gleichen Platz sitzt und konzentriert an etwas arbeitet. Dieser Mann fasziniert ihn, weil trotz dieser Regelmäßigkeit niemand der übrigen Stammgäste weiß, was genau dieser Mann tut beziehungsweise welchem Beruf er nachgeht. Dies macht ihn geheimnisvoll und interessant, so dass er unbeabsichtigt die Phantasie der anderen anregt: Chercheur? Écrivain inspiré? Rédacteur de rapports techniques et confidentiels? Je ne sais. Toujours est-il que cet homme discret réalise l’idéal d’une forme de vie centrée sur une activité précise dans un lieu bien défini où s’accomplit pleinement la convention sociale implicite du bistrot : un simple signe vers le comptoir et on lui apporte son troisième café de la matinée ou, quand arrive midi, un demi à la mousse exubérante, avec le jambon-beurre dont il détache un morceau qu’il mâche lentement tout en relisant sa prose du matin. (EBP47f.)
516
Vgl. »Cette histoire de préférence spatiale est importante car les occasions de l’exercer dans la vie quotidienne sont rares : quand les circonstances sont favorables, le bistrot représente […] un lieu idéal.« (EBP 47)
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Dieses Zitat ist ein Beispiel für unzählige Stellen in diesem und anderen Texten, die darauf hinweisen, dass das Bistro wie das Kaffeehaus ein Ort des Schreibens, der Inspiration und der neugierigen, distanzierten Beobachtung ist, wo die schriftstellerische, forschende oder journalistische Tätigkeit des Gastes unterstützt wird, indem er auf Wunsch gleichzeitig bedient sowie seine aktuelle Befindlichkeit geachtet wird. Daneben ist auch die Art Augés, das servierte Essen zu beschreiben, erwähnenswert: Zum einen wird der Verzehr der Speisen mit der schreibenden Tätigkeit in Zusammenhang gebracht, wenn der Schriftsteller langsam, Bissen für Bissen, genussvoll den Sandwich kaut, so als wäre dieser eine Belohnung für das gelungene Tageswerk, welches er währenddessen noch einmal liest. Zum anderen werden das Bier und der Schinkensandwich so appetitlich dargestellt, dass die Lesenden beides förmlich schmecken können. Die Verbindung des Schreibprozesses mit einer Sinneswahrnehmung soll als wichtiger Bestandteil der ›Kaffeehausliteratur‹ gelten. In Augés Éloge wird durchgängig das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie das Gefühl der Anonymität inmitten der Gemeinschaft thematisiert und analysiert, wenn der Erzähler beschreibt, wie ein kleiner Teil des eigenen Lebens während der Zeitspanne eines Besuchs im Bistro mit dem Leben der dort anwesenden Menschen verschmilzt. Diese zeitweise Vermengung der unterschiedlichsten Menschen an einem Ort funktioniere aber nur, weil sich im Idealfall alle auf diese Übereinkunft beziehungsweise dieses ›Rollenspiel‹ einließen: Obgleich sich die Stammgäste untereinander ›kennen‹, fordert niemand von den anderen eine weiterreichende, über den Bistrobesuch hinausgehende Bekanntschaft ein, sondern man respektiert sich gegenseitig, verhält sich freundlich, aber eher reserviert – ganz im Sinne Georg Simmels. Ebenso agieren der Wirt François und seine Angestellte Julie wie ›Schauspieler‹ ihrer Rolle gemäß, indem sie bei gleichzeitiger Distanzwahrung zu den Gästen eine fast familiäre Vertrautheit simulieren, die ihren Platz ausschließlich im Bistro hat: Comme au théâtre, la distribution des rôles compte beaucoup dans une brasserie. Estce que François et Julie jouent à être ce qu’ils m’apparaissent, comme le garçon de café qu’observait Sartre au Dôme, à la Coupole, au Flore ou aux Deux Magots jouait à être garçon de café? Oui, bien sûr, et nous tous, tout autour, jouons aussi à être des clients d’un style particulier, nous les habités […] Comme si nous faisions partie nous aussi de la distribution, au moins à titre de figurants. […] le bistrot y apparait bien comme un espace théâtral ou, plus exactement, comme une espace de performance où chacun improvise sa partition avec plus ou moins talent et de conviction. Délicieuse mauvaise foi … (EBP63f.) Diese Beziehung zwischen den Gästen und dem Servicepersonal ist laut Augé von einem ›vertragsartigen‹ Charakter geprägt und beinhalte eine kurzfristig gültige Hierarchie, die nur während des Aufenthaltes im Bistro Bestand habe.517 Augé bedient sich weiter-
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»La relation client-serveur est encore plus complexe puisqu’elle implique réciproquement les deux personnes dans un jeu de rôle dont le caractère contractuel est évident et qu’elle ne se manifeste en principe que durant les heures de service sous uns forme provisoirement hiérarchisée […].« (EBP 65f.)
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
hin der Metapher des Theaters518 , wenn er beschreibt, dass das Bistro selbst nicht nur irgendein Ort unter vielen ist, der den Darstellern und Darstellerinnen zufällig eine Bühne bietet. Vielmehr sei das Bistro ein besonderer Ort, der verschiedene Räume auf sich vereine: »Le bistrot, c’est un lieu entre les lieux.« (EBP62) Dabei sei er nicht nur Schauplatz, sondern Schauspieler 519 , der einen entscheidenden Part, wenn nicht sogar die Hauptrolle in diesem »théâtre de la vie« des Bistros spiele (EBP 95).520 Der Erzähler stellt sich auch vor, dass die Namen des Personals nur Pseudonyme oder Künstlernamen sind, welche sie nach getaner Arbeit wieder ablegen (vgl. EBP 66f.): Ce que conservent en général aussi bien les clients, même les plus fidèles que ceux qui les servent, même les plus bavards, c’est leur quant-à-soi. Le charme du bistrot habituel, c’est le quasi-anonymat réciproque des servants et des servis. […] Malgré l’apparente familiarité qui s’y manifeste parfois, les relations des bistrots restent étroitement circonscrites à son espace, et cela leur donne du ›jeu‹, une liberté particulière. (EBP66) Dieses ›quasi-anonyme‹ Arrangement schenkt den Gästen ein Gefühl von ›Freiheit‹ und bildet den Hintergrund auch für schwierige Gespräche, die laut Augé bestens im Bistro ihren Platz finden. Er begründet dies damit, dass der öffentliche Raum dem Gespräch einerseits einen institutionellen Charakter verleihe, weil durch die Geräuschkulisse des Bistros geschützt leichter etwas Intimes besprochen werden könne, als wenn man sich in einem Raum befinde, wo die Stille und Leere erdrückend wirken könnten. Andererseits zwingt die Öffentlichkeit die Personen dazu, sich mit Schimpfworten und Gestik zurückzuhalten und ihre Lautstärke zu mäßigen, weil sie sonst auffallen könnten. Dies kann beispielsweise dabei helfen, einen Konflikt zu versachlichen beziehungsweise einem Problem die Schärfe und die Dramatik zu nehmen, so dass leichter eine Lösung gefunden werden kann: Dans ces cas-là, le caractère public du lieu impose en général un peu de retenue aux protagonistes et, somme toute, mieux vaut laisser parler sa rancœur ou sa douleur dans uns espace conventionnel et public que dans le tête-à-tête de l’intimité; la violence et l’éclat sont contenus, l’irréparable est peut-être evité […]. (EBP54)
Vgl. auch Ansgar Oberholz: Für hier oder zum Mitnehmen? St. Oberholz – der Roman, Berlin 2012: »Das Café ist eine große Theaterbühne, und wir zwei sind abgehalfterte Schauspieler, die sich zwischen zwei Szenen auf der Rückbühne hinter dem Vorhang erholen und ihren wahren Zustand zeigen dürfen.«, S. 201; »Als wir die Treppe gemeinsam hinuntergehen […], blickt uns eine schöne Gastschlange an. Wenn Milena und ich uns auf dem Treppenabsatz Hand in Hand verbeugen und zu unserem Publikum hinabwinken würden und dieses anfinge zu klatschen, wäre das passend zu der Stimmung, die uns umgibt. Milena klatscht selber beim Hinuntergehen in die Hände, so wie sie es immer tut, kurz bevor sie bedient.«, S. 206: »Jetzt weiß ich auch, warum er immer so merkwürdig ist«, sagt Milena. »Er ist beim Film! Da sind fast alle ein wenig merkwürdig. Das ist meine Chance! Du weißt doch, dass viele Schauspieler einfach aus Bars und Cafés weggecastet werden. Zur rechten Zeit am rechten Ort sein, das ist es!«, S. 58; »Nach ihrem Schichtende am frühen Abend sucht Milena mich im Lüftungsraum auf und verabschiedet sich kurz, aber freudig von mir. Das hat sie noch nie getan. Dabei berührt sie mich einmal am Oberarm. Sie ist beseelt von ihrem Traum und vermutet in jedem Gast einen Regisseur, Produzent oder Schauspielagenten.«, S. 64. 519 »Chaque bistrot est un acteur, un individu […].« (EBP 93f.) 520 Vgl. Mandt: »›It’s the home of ghosts and tourists‹«, S. 111ff.
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So vergleicht der Erzähler seine regelmäßigen Gespräche mit seinem depressiven Kollegen im Bistro ›Balzar‹ mit einer einerseits tiefgehenden ›Quasi-Psychotherapie‹ und einer andererseits unterhaltsamen, zerstreuenden Plauderei, die dieses Bistro für die beiden Gesprächspartner zu ihrem Ort macht, welcher für immer mit ihrer freundschaftlichen Beziehung verbunden sein wird und Augé an den kürzlich verstorbenen Kollegen erinnert: C’était un homme fin et cultivé, mais j’ai tout lieu de croire que nos échanges, auxquels je prenais plaisir et qui, je crois, constituaient pour lui une trêve dans le combat qu’il menait contre le désespoir, s’apparentaient à un épisode rituel et à une thérapie. […] Nous n’aurions pas pu imaginer un autre lieu qu’un bistrot pour bavarder – un lieu qui, en l’occurrence, était un peu le nôtre et s’inscrivait dans une histoire longue à laquelle nous rajoutions un épisode bien modeste, mais dont je me souviens quand je passe devant le Balzar, en même temps que de ce collègue disparu peu après une dernière soutenance. (EBP58f.) Neben den Gesprächen erwähnt Augé auch noch andere Möglichkeiten, mit denen man im Bistro oder in einer Bar einem Menschen Aufmerksamkeit schenken und Anerkennung zuteilwerden lassen kann. Er nennt als Beispiel ein bestimmtes Musikstück, welches der Pianist in der Bar zwar in Wahrheit für alle Anwesenden spielt, weil er sich in einem öffentlichen Raum befindet. Dieses könne aber für einen einzelnen Gast eine so große Bedeutung haben, weil es beispielsweise eine Erinnerung auslöse und sich in der Folge das Gefühl einstelle, das Musikstück würde nur für ihn persönlich gespielt: Et de fait, de feuilles mortes en vie en rose, du temps qui s’en va au refrain qui s’entête, la performance tient du miracle : elle consiste à ne jouer que pour un seul dans un espace public saturé où n’importe qui peut devenir, pendant une fraction de seconde, cet auditeur solitaire et privilégié; à ne jouer que pour ne pas être entendu et ne pas gêner les conversations, mais en offrant à chacun la chance d’une reconnaissance anonyme, singulière et intime – brêve rencontre que sanctionnent parfois l’échange d’un sourire ou le dépôt d’un billet dans la soucoupe laissée à toutes fins utiles sur un côté du piano à queue. (EBP40f.) Damit wird er zu einem privilegierten Zuhörer, der sich aufgrund der vermeintlich nur für ihn ausgewählten Musik in einem geheimen Bunde mit dem Pianisten fühlt, der ihn mitsamt seinen Sorgen und Nöten, Vorlieben und Wünschen kennt und wertschätzt. Der Gast wiederum revanchiert sich dafür mit Beifall, Lob und Trinkgeld. Diesen paradoxen und widersprüchlichen Vorgang, bei dem an einem öffentlichen Ort eine private Begegnung stattfindet, die ohne Worte funktioniert und für die Beteiligten auf unterschiedliche Weise bedeutsam ist, bezeichnet Augé als ›Wunder‹. Aber auch der Gast begrüßt laut Augé diese Widersprüchlichkeit beziehungsweise das changierende Potential des Bistros, sich in verschiedene Richtungen zu entwickeln und damit unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Diese Eigenschaft kommt den Gästen entgegen, die sich nicht für alle Zeiten darauf festlegen wollen, ob sie Gemeinschaft wünschen oder nicht, ob sie Aufmerksamkeit benötigen oder vielmehr bei dem gleichzeitigen Gefühl von Geborgenheit unbeobachtet sein wollen:
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Or, si inconscient, illusoire ou superficiel que puisse être dans ce contexte le désir de relation, c’est lui qui pousse à entrer dans le bistrot et à y rester non seulement ceux ou celles qui se sentent seuls […], et même celui ou celle qui ne souffre pas nécessairement de solitude mais cherche un coin pour travailler ou réfléchir : ils ont tous besoin d’une forme de présence-absence modulable, de se sentir chez eux et ailleurs, accueillis et ignorés. (EBP44) Diese Gäste haben also das Bedürfnis, zwischen An- und Abwesenheit zu oszillieren, um somit ihrem jeweils aktuellen Gemütszustand Ausdruck zu verleihen. Die Betonung liegt bei Augé allerdings auf dem Aspekt der Freiwilligkeit, das heißt, der Gast entscheidet, wie viel Nähe und Beachtung ihm zuteilwird. Dahingegen ist die Atmosphäre in Anton Kuhs »Unsterbliches Kaffeehaus« von einer gewissen Zwangsläufigkeit geprägt, die der für die Gäste zuständige Kellner zu verantworten hat. Kuhs Feuilleton, welches er am 8. Januar 1933 in der Süddeutschen Sonntagspost veröffentlicht, thematisiert ganz ähnlich wie Augés Text, aber deutlich negativer konnotiert, den starken Kontrast zwischen Schein und Sein im Kaffeehaus, also die Diskrepanz zwischen dem persönlichen Gefühl des einzelnen Gastes, beachtet zu werden, und der schnöden Wirklichkeit, in der alle Gäste gleich behandelt werden. Die Vorgeschichte handelt davon, dass fünf Männer einen Milchkaffee mithilfe unterschiedlicher Bezeichnungen bestellen, womit sie ihre Persönlichkeit unterstreichen wollen. Der Kellner gibt die Aufträge zusammenfassend, das heißt mit nur einer Bezeichnung, in die Küche weiter: »Eine Melange mehr licht!« sagt der erste, frei nach Goethe, zum Ober. Der zweite: »Einen Kapuziner!« Der dritte: »Eine Schale Gold ohne!« (Ergänze: Haut.) Der vierte »Einen Nuß mit!« Und der fünfte: »Ein‹ Kaffee verkehrt!« Der Kellner gibt die Aufträge dröhnend durchs Küchenfenster weiter: »Fünf Lauf!« (Summarische Bezeichnung für Milchkaffee.)521 Diese Art, eine Bestellung auf- und entgegenzunehmen, bezeichnet Anton Kuh als »das ganze Wesen des Wiener Kaffeehauses« von Anbeginn bis heute. Dieses Wesen beziehungsweise »der Inbegriff des Wiener Kaffeehauses« bestehe darin, dass der Gast scheinbar als Individuum beachtet wird, obwohl er sich in einem öffentlichen Raum befindet, nach dem Motto: »Bedienung der Individualität in einem Gemeinschaftsraum.« Dabei gelte die Regel, dass der Gast durch seine persönliche Art, einen Milchkaffee zu bestellen, auf seine Individualität pochen kann, während der Kellner so tut, als würde er jedem Wunsch gerecht. Der Gast wiederum gibt vor, nicht zu wissen, dass der Kellner alle Gäste gleichbehandelt. Dies ist Teil der stillen Übereinkunft: Sie enthüllt aber vor allem den eigenartigen, stillschweigenden Vertrag, der zwischen ihm, das heißt: seiner launischen Verwöhntheit und dem Lokal (verkörpert durch den Kellner) obwaltet. Er ahnt irgendwie, daß er nach einer Einheitsregel bedient wird; er will bloß die schöne Vorstellung haben, als ob seine Individualität hier restlose und 521
Anton Kuh: »Unsterbliches Kaffeehaus. Was gibt es Neues in – Wien?«, in: ders.: Werke 1933-1941, Bd. 6, hg. v. Walter Schübler, Göttingen 2016, S. 5-7, S. 5. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »UK« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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diensteifrige Beachtung fände. […] Der Wiener genießt hierdurch zwei Seelenwünsche auf einmal: Seine Sehnsucht nach Geselligkeit und seine Liebe zu Privatheit. (UK 5) So wird hier wie bei Augé und Polgar die Ambivalenz angesprochen, die der Gast empfindet, der privat und in intimer Atmosphäre seinen Kaffee trinken und gleichzeitig distanzierte Geselligkeit erfahren möchte. Dieser Widerstreit wird im Kaffeehaus gelöst, weil hier beides möglich zu sein scheint. Daneben spricht Kuh der Atmosphäre des Kaffeehauses eine wichtige Rolle bei diesem paradoxen, nicht immer rational erklärbaren Vorgang zu, wenn er die Gerüche und die Ausstattung des Lokals beschreibt. Die von bestimmten Düften, Materialien und Farben geprägte, sehr haptische Atmosphäre erweist sich laut Kuh als der Stimmung zuträglich, da diese Atmosphäre sich auf die Sinnesorgane fokussiert und damit Emotionen den Vortritt vor der Verstandesmäßigkeit gewährt: Aus ihren Spezialbezeichnungen steigt das trauliche, aus Tabakqualm und Mokka gemengte Aroma auf, mit dem die Einrichtung dieser Gaststätten – weißgoldener Stuck, rote Plüschbänke, Spiegel im Goldrahmen, bekritzelte Marmorplatten und geflickte Billardtücher – förmlich gebeizt scheint. Sie [die Geschichte] zeigt ferner die empfindlich abgestuften Ansprüche des Gastes, der sein Leibgetränk am liebsten auf einer Palette vorgemischt sehen möchte. (UK 5) Verglichen wird hier das Mischverhältnis von Milch und Kaffee mit den Farben Weiß und Schwarz beziehungsweise Braun auf der Malpalette. Der Milchkaffee gerät damit zu einem Kunstprodukt, das auf einer Palette für jeden Gast vermeintlich extra angemischt wird und dessen Individualität ausdrückt. Zusammenfassend lässt sich für die in diesem Kapitel angesprochenen Texte feststellen, dass die Verhandlung der Thematik von Schein und Sein sowie von Gemeinschaft und Individualität im Kaffeehaus relevante inhaltlich Merkmale des Genres ›Kaffeehausliteratur‹ darstellen. Insbesondere die Texte von Alfred Polgar, Soma Morgenstern und Anton Kuh können aufgrund ihrer charakteristischen Kürze, ihrer metaphorischen Sprachverwendung und ihres ironischen Tonfalls als ›Kaffeehausliteratur‹ im Sinne des Idealtypus bezeichnet werden. Mit Blick auf Polgars »Theorie des Café Central« kommt ein weiteres, schon im Titel deutlich werdendes Kennzeichen hinzu, nämlich die theoretisch-philosophische Reflexion über die Atmosphäre im Café Central und das charakterliche ›Wesen‹ seiner Stammgäste, die einen Mikrokosmos innerhalb der Makrostruktur der Großstadt repräsentieren.
V.3.2.2.
Das Café als Entschleunigungsinsel und die Rolle des Bedienpersonals
Bezugnehmend auf Hartmut Rosa und Brigitta Schmidt-Lauber, die sich zwar nicht explizit mit dem Kaffeehaus522 , sondern eher allgemein kulturwissenschaftlich mit den Themen Gemütlichkeit sowie Be- und Entschleunigung beschäftigt haben, soll in diesem Abschnitt die Eigenschaft des Kaffeehauses als ›Entschleunigungsinsel‹ beziehungsweise ›Entschleunigungsoase‹ untersucht werden, in der das Phänomen
522 Vgl. Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit, S. 182, Fußnote 86.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
der sogenannten ›Wiener Gemütlichkeit‹ gelebt und als Gegenentwurf zu Modernisierungsprozessen und permanenter Beschleunigung verstanden wird. So finden sich gemäß Rosa sowohl territoriale als auch soziale oder kulturelle Nischen oder Entschleunigungsoasen, die von den akzelerierenden Modernisierungsprozessen bisher ganz oder teilweise ausgenommen waren. An diesen Orten, in diesen Gruppen […] scheint dann buchstäblich die Zeit stehen geblieben zu sein.523 Deutlich wird hier, dass stets bestimmte Orte in den Blick genommen werden, wo und mit Hilfe derer ›Entschleunigung‹ oder ›Gemütlichkeit‹ konkret verwirklicht werden. Dabei deuten die Worte ›Oase‹ beziehungsweise ›Insel‹ bereits an, dass es sich bei Cafés und anderen Orten, die mit diesem ›Etikett‹ versehen werden, um herausgestellte räumliche Punkte inmitten einer andersartig gestalteten Landschaft handeln muss – metaphorisch gesehen eben wie eine Oase in der Wüste oder eine Insel im Meer – welche das Potential haben, entschleunigend und identitätsstiftend zu wirken. Bildlich gesehen ist das Kaffeehaus in diesem Sinne also eine Ruhe-Insel in der Stadt, während der Mensch an seinem Tischchen wiederum eine Insel im Kaffeehaus darstellt, was schon bei Polgar anklang. Diese Metaphorik wird von vielen Literatinnen und Literaten bemüht, um die Paradoxie zu beschreiben, nach der es möglich ist, im Café allein und doch unter Menschen zu sein und sich ›angekommen‹ zu fühlen wie in einem Hafen nach langer Reise.524 Daneben fällt generell auf, dass in den Texten der ›Kaffeehausliteratur‹ häufig ein Wortschatz verwendet wird, welcher aus der Nautik entlehnt wurde. So bemüht Heimito von Doderer sowohl in seinem kurzen Essay »Meine Caféhäuser« (1960) als auch im Roman Die Strudlhofstiege (1951)525 die Insel-Metapher, welche bei ihm sowohl für die Menschenfeindlichkeit der Wienerinnen und Wiener stehen soll, die immer ein wenig ›Wasser‹ um sich herum als Abstandhalter zu den anderen Gästen benötigen, als auch für den Umstand, dass sich oft mehrere Inseln gleichzeitig beieinander im Meer befinden, die als Inselgruppe durch das Kaffeehaus wie durch das umgrenzende Meer vereint werden. Deutlich akzentuiert werden auch bei Doderer die Zwanglosigkeit und die Freiheit, die jeder Gast empfindet, wenn er das Café betritt, weil sein Besuch dort keinen unmittelbaren Nutzen haben müsse. Daneben sei es jedoch unumgänglich, dass der Gast stets ein Teil des Gros der anderen Kaffeehausgäste
523 Rosa: Beschleunigung, S. 143. 524 Vgl. den Roman Café du Dôme (1941) von Anna Gmeyner, in dem diese nautische Metaphorik (Insel, Hafen) in Bezug auf das Café an einigen Stellen bemüht wird: »There was only one place which would receive people like herself with open arms at half-past one in the morning. The familiar illuminated sign of the Dôme welcomed her like the lights of a harbour as, reaching the end of her meanderings, she turned into the boulevard Montparnasse. As she crossed the almost empty terrace and entered the interior of the café, she was ready to drop with exhaustion.«, in: Anna Gmeyner: Café du Dôme, hg. v. Birte Werner, Bern 2006, S. 86; »Good old Dôme, the island where there is no crisis.«, in: ebd. S. 230. Vgl. Mandt: »›It’s the home of ghosts and tourists‹«, S. 113f. 525 Vgl. »In Wien geht man ins Café, um sich zurückzuziehen, und jeder setzt sich, inselbildend, so weit wie möglich von jedem anderen.«, in: Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, München 2011, S. 336.
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ist, die sich im selben Raum mit ihm befinden, auch wenn er sich isoliert, »als isolierter, inselbildender Gast«, abseits von ihnen zu platzieren versuche. Darum könnten die Gäste insgesamt trotz der Inselbildung als Einheit angesehen werden, die jedem zugänglich sei.526 Auch Augé, der sein Bistro »un havre de paix« (EBP34; 49) nennt527 , wo die Schar der regelmäßig vorbeischauenden Einzelgänger und -gängerinnen morgens ›vor Anker gehe‹ (vgl. EBP34), betont den Freiheitsgedanken und unterstreicht vor allem das respektvolle Verhalten der Gäste untereinander, welches die Grundvoraussetzung darstelle für ein gelebtes, störungsfreies Miteinander: Néanmoins, on se trouve dans un espace où chacun s’exprime à l’occasion et où une conversation est toujours envisageable, un espace public, si l’on veut, alors qu’un ou deux mètres plus loin des attablés, même s’ils risquent quand même un œil de temps en temps sur leurs voisins immédiats, affectent de s’ignorer superbement les uns les autres. (EBP37) W. Scott Haine hat für die Beschreibung dieser Haltung des ›leben und leben lassen‹ den Begriff »intimate anonymity«528 geprägt, welcher ausdrücken soll, dass jeder Gast sich so frei verhalten kann, wie es seinen Neigungen entspricht, solange er die anderen um ihn herum in ihrer Anonymität nicht beeinträchtigt. Dabei ist jeweils unterschiedlich, wodurch diese ungezwungene Atmosphäre sowie die entschleunigende und identitätsstiftende Wirkung der ›Kaffeehaus-Insel‹ erzeugt werden; wichtige Faktoren können beispielsweise die Innenausstattung sowie die Anwesenheit bestimmter Gäste sein. Die Autorinnen und Autoren der hier behandelten Texte sind sich jedoch darin einig, dass das Personal, je nach Art und Nationalität des Lokals meist bestehend aus Wirt, Thekenpersonal, Kellner oder Servierdame, die Stimmung und den Wohlfühlfaktor des Gastes erheblich mitbestimmt, wenn nicht sogar in Gänze zu verantworten hat. Deutlich wurde diese wichtige Rolle des Personals bei Augé ja bereits zuvor, als die Bestellung der Stammgäste erwähnt wurde, bei der es keiner Worte bedarf. So stellt François, der Wirt seines Stammbistros, für den Erzähler den Inbegriff eines »vrai patron de bistrot« dar (EBP44), weil er blind die Wünsche – seien es seelische oder physische – seiner Gäste erkennt, sie bereits erahnt, bevor diese etwas gesagt haben. Dies ist vor allem für die Älteren unter seinen Gästen wichtig, die sich alleine fühlen und mehr Gesellschaft wünschen, als sie in ihrer alltäglichen Umgebung bekommen können, da ihre Familie vielleicht zu weit entfernt wohnt oder Bekannte schon verstorben sind. Daher suchen sie Gemeinschaftsersatz im Bistro und besonders an dessen Theke, in der Nähe des Wirtes. François kennt jeden einzelnen Gast mit seinen Vorlieben und Schwächen, versucht ein gutes ›Klima‹529 zu vermitteln und sieht 526 Vgl. Heimito von Doderer: »Meine Caféhäuser«, in: Magnum. Zeitschrift für das moderne Leben 28 (1960), S. 28. Von Doderers Essay in Gänze wird in Kapitel V.4.3 noch einmal thematisiert. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »MC« nachgewiesen. 527 Vgl. die deutsche Übersetzung: Marc Augé: »Insel des Friedens«, in: ders.: Das Pariser Bistro. Eine Liebeserklärung, Berlin 2016, S. 52. 528 Haine : The World of the Paris Café, S. 19. 529 Vgl. »[…] la bonne entente de ceux qui travaillent à un titre ou à un autre dans l’établissement est le garant du plaisir que prennent les clients à le fréquenter, et inversement le moindre éclat de voix
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
auch darüber hinweg, dass manche ihren Kummer bereits morgens mit einem Glas Rotwein ertränken wollen. Er serviert ihnen kommentarlos den Wein, gibt aber auch auf sie Acht und stellt sich auf sie ein: Le bistrot répond souvent à un besoin éminemment urgent et présent de contact. Le risque de l’âge, c’est l’isolement de plus en plus prononcé, et il suffit de fréquenter le matin quelque brasserie parisienne pour se rendre compte que ce que viennent y chercher dès potron-minet ceux qui s’attardent au comptoir, c’est d’abord un peu de compagnie. Le garçon le sait, qui s’affaire avec une bonne humeur peut-être un peu forcée et une virtuosité sans défaut auprès de la machine à café, amis sert aussi sans sourciller un ballon de Côtes-du-Rhône au petit vieux qui l’a demandé en murmurant, presque à voix basse, conscient en cette heure matinale de transgresser un interdit […]. François connaît son monde et adapte son langage et ses plaisanteries. (EBP33) Dem Tresen und dessen Standort im Gastraum kommt deshalb nach Augé auch eine besondere Rolle zu als Herzstück und ›Nervenzentrum‹ (vgl. EBP 36), wo alles zusammenfließt, weil sich hier sowohl die berufstätigen, gestressten Durchgangskunden und -kundinnen als auch die alten Stammgäste aufhalten und der Wirt Gäste, Angestellte und die Küche im Blick hat sowie Kaffeemaschine und Zapfhahn bedient: Qu’est-ce qui fait le bistrot? Le comptoir d’abord et surtout : le zinc auquel s’accoudent les vieux habitués et devant lequel se tiennent, un peu plus raides, moins décontractés, des clients de passage trop pressés pour s’asseoir en salle ou en terrasse. Lieu névralgique unique du simple troquet, le comptoir reste le centre de gravité des établissements plus importants […]. (EBP 36) Wenn Augé den Wirt als »prêtre«530 , »capitaine« oder »chef d’orchestre« (EBP 48) bezeichnet, bedient er sich hier mit diesem theologischen, nautischen und der Musik entnommenen Vokabular erneut einer sehr bildlichen Sprache, mit der er die wichtige Funktion des Wirtes unterstreicht. So beschreibt er das Bistro, welches wie eine Schiffsmannschaft oder ein Orchester aus vielen verschiedenen ›Einzelteilen‹, also Menschen mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen und Funktionen zusammengesetzt ist, als Einheit, die nur dann als harmonisches Gesamtbild angesehen werden kann, wenn alle ›Teile‹ fruchtbar zusammenarbeiten beziehungsweise -spielen und dabei durch den Kapitän oder Dirigenten angeleitet und geführt werden. Dadurch entwickelt sich bei den Gästen ein Gefühl von Geborgenheit und es herrscht eine gute Stimmung, welche die Atmosphäre prägt und jeden Gast empfängt, der das Bistro betritt: Le navire a son capitaine, le bistrot a son patron, chef d’orchestre plus ou moins visible, mais dont le savoir-faire essentiel à l’harmonie de l’ensemble, source éventuelle du sentiment de bien-être et de paix qui s’empare soudain du client venu en coup de vent
entre serveurs ou de la part du patron suscite un profond malaise chez ceux qui voient d’abord dans le bistrot un havre de paix.« (EBP49) 530 Vgl. »François […] est une sorte de prêtre qui officie le dos tourné aux fidèles, côté percolateur, et ne se retourne vers eux, côté tireuse à bière, qu’au moment de les inviter à communier sous les deux espèces.« (EBP 36)
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et qui se surprend à s’attarder, sans autre raison que de faire durer le plaisir d’une trêve imprévue. (EBP 48f) Ein Augenmerk liegt in diesem Zusammenhang auch auf dem Vertrauen, das die Gäste François entgegenbringen, wie es die Mannschaft auf See ihrem Kapitän oder die Ensemblemitglieder ihrem Dirigenten gegenüber empfinden, weil sie das Gefühl haben, dass sie sich in diesem Bistro für kurze Zeit zurücklehnen können, da jemand anderes vorübergehend die Kontrolle übernommen hat und sie nach Weigel »nur sein« müssen.531 Aufgrund dieser Zwanglosigkeit hat Augé die Cafés und Bistros von Paris während seiner ganzen Jugendzeit als zweites Zuhause empfunden, in dem er gleichzeitig Geborgenheit erfahren hat sowie sich aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Erlebnisse und Art der Gäste als ›Abenteurer‹ sieht, der nicht weiß, was ihn erwartet.532 In dem Teil des Buches, welches die Überschrift ›Erinnerungen‹ trägt und in dem er seine Jugend beschreibt, wird ein Vokabular verwendet, das aus dem Bereich der Schifffahrt und des Meeres stammt: So wurde ein ganzes Kapitel darin mit »Cabotage«, also ›Küstenschifffahrt‹, betitelt, weil seine Jugendjahre einer unbeständigen Schifffahrt auf umtostem Meer geglichen hätten, die ihn von einer ›Ausbildungsinsel‹ zur nächsten geführt habe: »Ma jeunesse […] a ressemblée à une navigation prudente et ambitieuse entre des îles coupées les uns des autres, à un cabotage dans l’archipel de la postadolescence […].« (EBP 25) Dabei hätten die Bistros die Ankerplätze und Verbindungslinien dargestellt, an denen er rasten und die nächste Station des Lebens anpeilen konnte und wo er geerdet worden sei. Da das Bistro schon viele menschliche ›Schiffbrüche‹ miterlebt habe, könne es die Atmosphäre einer natürlichen Gleichgültigkeit vermitteln, welche die Menschen nach einem Gefühlsausbruch besänftige. Dabei würde das menschliche Stimmengewirr von der Geräuschkulisse, dem gleichmäßigen ›Meeresrauschen‹ des Bistros, verschluckt: Sous le calme plat du train-train quotidien se dissimulent les hauts-fonds de la vie, la tragédie des ruptures, la menace des naufrages. En ce sens, le bistrot a l’indifférence lointaine de la nature, mais c’est une indifférence peuplée de présences humaines; le brouhaha de l’ensemble, comme le ressac de la mer, autorise des plaintes et des colères discrètes qui s’y essoufflent parfois avant de s’apaiser progressivement. (EBP 55) Andererseits wisse man als Gast, der ein Bistro betritt, nie, was einen genau erwartete, was für Augé einen Nervenkitzel bedeutet: Quiconque fréquente régulièrement ou occasionnellement un bistrot possède, en ce sens, une âme d’aventurier, et la force d’attraction des bistrots le plus attirants tient au fait qu’ils savent susciter ou, à tout le moins, ne pas décourager le sentiment d’attente qui meut, et parfois émeut, leurs clients. (EBP 86)
531 Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 10. 532 Vgl. »L’aventurier est tout en supposition, en suspense, en induction. Il pousse la porte du bistrot à tout hasard, attend à tout hasard que quelqu’autre pousse la porte à son tour, et il repart, reprend le cours normal de son existence en attendant, à tout hasard, une autre occasion d’attente et de surprise.« (EBP 86)
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Betont wird hier der Gegensatz zwischen der Gleichförmigkeit beziehungsweise dem Ritual533 , welches Tag für Tag im Bistro gelebt wird, und dem potentiellen Abenteuer, das dem Gast möglicherweise widerfährt, weil Unbekannte das Bistro betreten oder etwas Unvorhergesehenes passiert. Genau diese Konstellation macht die Spannung aus, die das Bistro zu einem reizvollen Ort für das Individuum werden lässt. An dieser Stelle soll festgehalten werden, dass die nautische Metaphorik einen wichtigen Bestandteil der ›Kaffeehausliteratur‹ und ihrer Sprache darstellt, wie sich in den folgenden Kapiteln noch zeigen wird. Bei Augé wird auch das besondere Gedächtnis des Personals betont, welches sich an jeden einzelnen Gast zu erinnern scheint. So entsinnt sich François des Ich-Erzählers, nachdem er längere Zeit nicht im Bistro gewesen ist, und begrüßt ihn herzlich wie einen alten Bekannten, der nur kurz im Urlaub war. Offen bleibt jedoch, ob sich François wirklich an jeden einzelnen seiner Gäste zurückerinnert, oder ob auch diese Art der Kommunikation zum typischen Verhalten eines Bistro-Wirtes gehört, welches zur Kundenbindung beiträgt und sich erneut zwischen Schein und Sein bewegt: […] mais François me lancera peut-être encore une fois avec un sourire un peu hésitant une de ces formules passepartout dont il a le secret (›Alors … Rentré de vacances?‹), à moins qu’il ne me surprenne, comme la dernière fois où je lui ai serré la main. (EBP 108) Der Gast fühlt sich nach kurzer Verlegenheit zwar schnell wieder so heimisch, als wäre er nie weg gewesen, bemerkt aber auch etwas peinlich berührt die philosophische Weisheit und Menschenkenntnis des Wirtes, der mit seiner Bemerkung ausdrückt, dass er jeden Tag sehr viele Menschen an seinem Tresen vorbeiziehen sieht, die er alle genau beobachtet und sehr gut kennenlernt, wohingegen die Gäste nur zu glauben scheinen, dass sie mit dem Wirt bekannt sind. Dabei bemerken sie nicht, dass sie durch die Art und Weise, wie sie sich im Bistro verhalten, mehr von sich selbst, ihren Wünschen und Träumen preisgeben, als der Wirt es bei seinen immer gleichen Aufgaben hinter dem Tresen und mit seiner zurückhaltenden Art je könnte: A peine avais-je précisé, poussé par une sorte de scrupule : ›je suis seulement de passage‹, qu’il m’a rétorqué après une seconde de réflexion : ›Ils sont tous de passage‹ – remarque qui m’a laissée songeur parce que son ton conclusif évoquait quelque chose comme une fin de partie et aussi parce qu’elle me remettait à ma place, avec bonhommie, en évoquant le point de vue de celui qui, fidèle au poste, de l’autre côté de comptoir, de l’autre côté du zinc, observe tous les jours ceux qui s’imaginent le connaître parce qu’ils le regardent sans le voir. (EBP 108) Auffällig ist dabei, wie der Wirt seine verwunderten Gäste sehr höflich und ohne viele Worte, aber sehr bestimmt, an ihren angestammten Platz zurückverweist. So gibt er ihnen zu verstehen, dass er sehr genau weiß, was der Gast zu denken scheint, und erkennt, dass jener zunächst nur unverbindlich hereinschauen möchte, bevor er sich
533
Vgl. »Mais qu’en est-il, alors, de l’autre face du rite de la force de l’habitude, du refuge douillet, du confort de la répétition que représenterait aussi le bistrot?« (EBP 87)
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entschließt, länger zu bleiben. Der Ich-Erzähler dagegen hatte angenommen, er sei der Einzige mit dieser Idee, weshalb er auch etwas verschämt ist. Ganz ähnlich verhält es sich in »Urbis Conditor – Der Stadtzuckerbäcker« (1958) von Friedrich Torberg, in dem der Erzähler beschreibt, wie er 1951 nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil in Wien sofort sein Stammcafé, das Demel, betritt und ganz aufgeregt darauf wartet, dass ›seine‹ Servierdame, ›die Frau Paula‹ erscheint. Er erklärt dann, wie man ein »richtiger Demel-Besucher« wird, dessen Laufbahn man bereits als »Kind eines richtigen Demel-Besuchers« beginne.534 Daneben erläutert er auch das komplexe und traditionelle System der Bedienung im Café Demel, welchem sich der Gast unterwerfen müsse und das dazu führe, dass die Atmosphäre im Café außer vom exquisiten und vielseitigen kulinarischen Angebot535 und der gemütlichen Einrichtung in großem Ausmaß von den Servierdamen abhängig sei. Ab dem Eintritt in den Gastraum fühlten sich die Angestellten für einen bestimmten Gast zuständig, so dass sich jener in deren umsorgendes ›Regiment‹ überlassen könne: Denn auch die Atmosphäre wird beim Demel nach einem sorgsam gehüteten Rezept erzeugt. Zu dieser Atmosphäre gehört die sanfte, unauffällige Schwesterntracht des Personals und das altmodische Arrangement der Tische […]. Bekanntlich wird in öffentliche Gaststätten jedweder Prägung das Personal auf bestimmte Tische verteilt […]. Beim Demel verteilt sich das Personal auf bestimmte Gäste. Noch besser: es teilt die Gäste unter sich auf, und zwar ein für allemal. Man gehört – gleichgültig, an welchem Tisch man sitzt – einer bestimmten Servierdame und nur ihr. Dieses Zugehörigkeitsverhältnis wird desto unerbittlicher beobachtet, je richtiger man ein Demel-Besucher ist. Wenn ein Gast der Frau Paula gehört, wagt kein Fräulein Grete und keine Frau Berta, ihn zu bedienen – es sei denn die Frau Paula hätte heute ihren freien Tag. Davon macht man ihm dann auch allsogleich Mitteilung, damit er nicht erschrickt und sich getrost einer andern überläßt. Für ganz besonders richtige Demel-Besucher steht eine Ersatzhierarchie bis ins dritte Glied bereit. (UC 306) Auffällig ist, dass diese spezielle strikte Rangordnung und die Konkurrenz der Angestellten untereinander augenscheinlich neutral erwähnt und als völlig gegeben hingenommen wird, obwohl man hier eine ironische Kommentierung erwarten würde. Das Verhältnis des Stammgastes zu seinem Kaffeehaus besteht also laut Torberg eigentlich in einer Zweierbeziehung zwischen ihm und seiner Bedienung, welche mit dem Vertrauensverhältnis vergleichbar ist, welches Patientinnen und Patienten beispielsweise zu ihrem Arzt unterhalten: Man fühlt sich in der dritten Person umsorgt, aber nicht bedrängt. Man weiß sich in sachlicher Hut, ohne ihre Gewährung als Gnade empfinden zu müssen. Wünschen mehr darüber zu erfahren? Dann gehen bitte zum Demel. (UC 305)
534 Friedrich Torberg: »Urbis Conditor – Der Stadtzuckerbäcker«, in: ders.: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, Gesammelte Werke in Einzelausgaben Bd. 8, München 1975, S. 303-310, S. 303. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »UC« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 535 Vgl. UC 304f. Siehe auch Kapitel V.4.6.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Angesprochen wird der Gast vom Personal wie hier im Zitat auf besondere, indirekte Weise, ohne dass ein Personalpronomen benutzt wird, mit einer »Mischung aus Majestätsplural und kühler Distanz«; zudem könne die Servierdame dem Gast das ruhmvolle »Demelsche Adelsprädikat« ›von‹ verleihen, denn im Demel seien alle Gäste »Aristokraten« – entweder »von Hause aus« oder ›geworden‹ (UC 305): An dem Tag der Rückkehr und seines ersten Demel-Besuchs nach dem Krieg und dem Exil befürchtet Torbergs Ich-Erzähler nun, dass Frau Paula ihn vergessen haben könnte und nicht mehr erkennen würde. Der Anlass begab sich bei meiner Rückkehr aus der Emigration, ein paar Jahre nach Kriegsschluß überflüssig zu sagen, daß der Weg zum Demel sich unter meinen ersten Wegen befand. Ich setzte mich an einen nahe beim Eingang gelegenen Tisch und wartete, nicht gänzlich ohne Herzklopfen, bis die Frau Paula sich zeigen würde […] und jetzt, so dachte ich, würde geschehen, was unter ähnlichen Umständen damals schon mehrfach geschehen war: die Wiedersehensfreude, echt oder vorgetäuscht, pflegte ihre herkömmlichen Formeln zu finden, ging in allerlei Fragen und Antworten über, mischte sich mit allerlei Seufzern und Reminiszenzen […]. Nichts Derartiges schien sich anbahnen zu wollen. Sondern die Frau Paula war wieder in die Küche verschwunden, und ich begann mich mit der trüben Möglichkeit abzufinden, daß sie mich nicht erkannt hätte. (UC 308f.) Doch plötzlich wird ihm – wie Augés Erzähler – beschämt klar, dass er sich getäuscht hat und Frau Paula sich nicht nur an ihn selbst, sondern auch an seine Vorlieben erinnert. Sie weiß auch noch, welche Speisen er bereits im Demel gekostet hat und welche er noch nicht kennt. Letztere serviert sie ihm sogleich: Aber da stand die Frau Paula an meinem Tisch, stellte einen hohen, mit unverkennbar Köstlichem gefüllten Kelch vor mich hin […] und sagte: ›Ich glaub, das haben noch nicht gehabt.‹ Das war alles, was sie sagte. Und es genügte vollauf, um das Jahrzehnt meines Fernseins wegzuwischen. (UC 308f.) Ohne viele Worte zu verschwenden, hat Frau Paula dem Erzähler bewusst gemacht, was ihm in seiner Abwesenheit gefehlt hat, nämlich das Gefühl von Geborgenheit und stillem Verständnis. Nun fühlt er sich gleich wieder so heimisch, als wäre er nie weg gewesen – auch dies eine unverkennbare Parallele zu Augés Bistro und dessen Wirt François. Torbergs Text »Urbis Conditor« soll hier aus seiner Sammlung Die Tante Jolesch beispielhaft herausgegriffen werden, da dieser Text aufgrund seiner Themensetzung, der Sprachverwendung und der feuilletonistischen Kürze als ›Kaffeehausliteratur‹ im Sinne des ersten Ringes bezeichnet werden kann. Der Erzähler veranschaulicht die besonderen Qualitäten seines Stammcafés Demel, beschreibt anschaulich die Atmosphäre darin und verbindet diese mit der Persönlichkeit seiner Servierdame. Dieser Text beleuchtet auch die Verbindung eines Stammcafés mit dem Leben der Gäste, da das Café sie in unterschiedlichen Lebensabschnitten begleitet, damit einen kontinuierlichen Fixpunkt bietet und während des Aufenthalts zu einem Raum des Stillstands innerhalb der Großstadt wird, in dem die Zeit nicht zu vergehen scheint. Torberg hebt aber nicht nur Frau Paulas Qualitäten hervor, sondern erwähnt in seinem »Requiem für einen Oberkellner« (1958) auch die Figur des Oberkellners Franz Hn-
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atek aus dem Café Herrenhof, der laut Torberg »wirklich ein Herr« gewesen sei, sogar »in ungleich höherem Maße als mancher von denen, die er bediente.«536 Beispielsweise habe jener seine Stammgäste nur sehr diskret darauf aufmerksam gemacht, wenn sie mal vergaßen, ihre ›Zeche‹ zu begleichen. So personifizieren die Oberkellner und Servierdamen eines Wiener Cafés als »liebenswürdiger Anachronismus«537 für viele Stammgäste vergangene Wertvorstellungen und seien damit ein Beleg dafür, dass die Welt, der man nachtrauere, einmal existiert habe und vielleicht noch existent sei. Daher lobpreisen Literaten und Literatinnen wie Torberg ihren Oberkellner und widmen ihm eigene Kapitel in ihren Werken, in denen er stets als höflich-diskrete Figur und Menschenkenner beschrieben wird, der die mittellosen Künstlerinnen und Künstler auf seine Weise unterstützt, indem er beispielsweise die ›Zeche‹ ohne Limit anschreibt. Zudem spornt er die ›Kaffeehausliteraten und -literatinnen‹ auf seine Weise in ihrem Tun an und verleiht ihnen Selbstbewusstsein, wenn er sie zu Stammgästen macht, wie Otto Friedländer schreibt: Die rechte Freude am Kaffeehaus hat nur der Stammgast. Der Wiener ist stolz darauf, ein Stammgast zu sein, und führt es gerne seinen Freunden vor, welche Vorzüge er als solcher genießt. Zum Stammgast wird man vom Kellner ernannt. Der Kellner ist wie ein Lehrer in der Schule: er teilt gute und schlechte Noten aus. Nicht immer kriegt der, der am meisten konsumiert oder die größten Trinkgelder gibt, die besten Noten. Der Kellner weiß, wer ein feiner Herr ist. Er ist aber nicht nur gerecht, er ist auch gütig; er sorgt für die Liebes- und Geldbedürfnisse seiner Stammgäste. Er ist ein Mäzen: Studenten und Künstlern schreibt er endlos die Zeche auf […].538 Während Otto Friedländer konstatiert, dass die regelmäßigen Besucher stolz auf ihr Dasein als Stammgast seien, betont Friedrich Torberg, dass es zu den »beinahe untrüglichen Merkmalen eines Stammgastes« gehöre, diesen Status zu ignorieren, weil dieser den Anschein erwecke, dass man sich ständig im Kaffeehaus aufhalte anstatt zu arbeiten: Ernst Polak […] versäumte es nie, sein allnachmittägliches Erscheinen am Stammtisch mit der Mitteilung einzuleiten, daß er nur ausnahmsweise gekommen sei und gleich wieder gehen müsse, weil er seine Zeit nicht mit unnützem Herumsitzen und Herumreden vergeuden wolle. Er blieb dann meistens bis zur Sperrstunde, deren Ankündigung durch den Oberkellner Albert ihm ein entsetztes ›Was – was schon?!‹ entlockte.539 Auch in diesen Zitaten werden der Kontrast zwischen Schein und Sein und die unterschiedliche Wahrnehmung des Kaffeehauses durch die einzelnen Gäste deutlich. Der Oberkellner besitzt dabei wie die Servierdame oder der Wirt einen gesunden Menschenverstand und weiß, wer von seinen Gästen nur ein Hochstapler, also der Kategorie ›Schein‹ zuzuordnen, und wer ein ehrlicher Gast ist, dem vielleicht einmal das 536 Friedrich Torberg: »Requiem für einen Oberkellner«, in: ders.: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten, Gesammelte Werke in Einzelausgaben Bd. 8, München 1975, S. 331334, S. 331. 537 Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 249. 538 Friedlaender: Letzter Glanz der Märchenstadt, S. 253. 539 Torberg: »Kaffeehaus ist überall«, S. 184.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Kleingeld ausgegangen ist. Letzterer wird dann vom Kellner solange unterstützt, bis er seine Rechnung wieder selbst zahlen kann. Weiterhin ist der Kellner laut Karl Kraus eine ›Persönlichkeit‹, sehr gebildet und auch an literarischen Inhalten interessiert, so dass er sich harmonisch in die Umgebung eines ›Literatencafés‹ einfügen könne: Dass in einem so exceptionellen Café auch die Kellnernatur einen Stich ins Literarische aufweisen musste, leuchtet ein. Hier haben sich die Marqueure in ihrer Entwicklung dem Milieu angepasst. Schon in ihrer Physiognomie drückte sich eine gewisse Zugehörigkeit zu den künstlerischen Bestrebungen der Gäste, ja das stolze Bewusstsein aus, an einer literarischen Bewegung nach Kräften mitzuarbeiten. Das Vermögen, in der Individualität eines jeden Gastes aufzugehen, ohne die eigene Individualität preiszugeben, hat diese Marqueure hoch über alle ihre Berufscollegen emporgehoben, und man mochte nicht an eine Kaffeesiedergenossenschaft glauben, die ihnen die Posten vermittle, sondern stellte sich vor, die Schriftstellergenossenschaft habe sie berufen.540 Obwohl in den zitierten Texten viele Klischees vor allem über das Wiener Kaffeehaus bedient werden, scheint es den Schriftstellern wichtig zu sein, dieses positive Bild von Kellner und Wirt in ihren Texten zu übermitteln und ihnen damit ein literarisches Denkmal zu setzen. Auch dies kann als Merkmal der ›Kaffeehausliteratur‹ angesehen werden. Neben dem Personal spielt es auch eine Rolle, dass diese ›Inseln‹ oder ›Oasen‹ flüchtig sind, also nicht dauerhaft Bestand haben und abhängig sind von der Umgebung, den Gästen und ihren spezifischen Bedürfnissen. So kann sich ein behagliches Café zum Beispiel ins Gegenteil verkehren, indem es sich zu einer Coffee-to-go-Kette verändert, in der es wiederum um Schnelligkeit und nicht um Gemütlichkeit geht, oder indem das ›Image‹ mit den Betreibern wechselt wie im Fall des berühmten Café Kranzler in Berlin. Lokale können sich aber auch komplett auflösen, wenn sie nicht mehr wirtschaftlich zu führen sind oder der Wirt beziehungsweise die Wirtin verstirbt: Solche ›Entschleunigungsoasen‹ geraten in der Spätmoderne territorial, kulturell und ökonomisch verstärkt unter Erosionsdruck; der zeitliche Abstand zu ihren beschleunigungsfähigen und -willigen Umwelten wird immer größer und damit kostspieliger, zugleich steigt ihre ›Bremswirkung‹ an den Schnittstellen zur akzelerierten Sozialwelt.541
540 Kraus: »Die demolirte Literatur«, S. 277f. Vgl. auch Hilde Spiels Beschreibung der Kellner des Café Herrenhof: »Einzigartig war es darin, daß seine Kellner dazu ermuntert wurden, sich ebenso schrullig zu gebärden wie viele seiner Gäste. Geschult in der raschen, pointierten Rede und Widerrede, den zahllosen Wortwitzen der Habitués, hatten diese Leute häufig ebenso viel Geist entwickelt wie eine Neigung zur Affektation. Ihr Tagesablauf war mit dem der Schriftsteller und Künstler, die sie bedienten, eng verbunden: fraglos zogen sie das Café ihrem eigenen uninteressanten Familienleben vor. Keine Einzelheit in den Privataffären der Besucher blieb ihnen verborgen; sie sahen ihre Zuneigung und Ablehnung, ihre Liebe und ihren Haß auf den roten Plüschbänken und geschwungenen Stühlen vor ihren Augen entstehen, und alle Erfolge oder Mißerfolge spiegelten sich in den Nickeltabletts, auf denen sie ihnen den Mokka servierten.«, Hilde Spiel: Rückkehr nach Wien. Tagebuch 1946, München 1968, S. 76. 541 Rosa: Beschleunigung, S. 143.
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Diese Tatsache wiederum macht verbliebene Lokale zu einer Legende, steigert ihre Beliebtheit und ihren gesellschaftlichen Wert noch einmal, da »solche beschleunigungsimmunen Phänomene an gleichsam ›nostalgischem‹ Wert oder an Verheißungsqualität [gewinnen], je seltener sie werden.«542 So beschreibt beispielsweise Anton Kuh in seinem Text »Unsterbliches Kaffeehaus«, wie der Krieg die Kaffeehäuser verändert habe und wie verbittert die Stammgäste dies wahrnähmen: Es läßt sich leicht denken, daß der Krieg und seine Folgen solchen Trieben nicht hold war; das Individuum wurde damals nach allen Regeln der Kunst abgebaut. Eine schmerzliche Zeit für den Wiener Stammgast: er mußte sehen, wie aus Kaffeehäusern Wohlfahrtsämter wurden; wie man an der einstigen Stätte des Plausches und der Nachmittagspartie Sockenhalter, Konserven, Stearinkerzen, gedörrte Pflaumen nach Marken austeilte; und er sah sogar das ›Europe‹ vom Stefansplatz [!] verschwinden, jenes denkwürdige Kaffeehaus, das fast von sich sagen konnte, daß es den Fremden auf der Suche nach dem Stefansdom [!] als geographischer Stützpunkt diene. (UK 5) Kuh betont hier recht ironisch die schroffe Gegensätzlichkeit zwischen der hohen ›Kunst‹ und dem Banalen und Nützlichen, wie Sockenhaltern, Konserven, Stearinkerzen und gedörrten Pflaumen, die am ehemaligen Ort des Intellekts, des Gesprächs und des Individuums ausgeteilt werden. So werde das Café de l’Europe seiner eigentlichen traditionellen Bestimmung als »Stätte des Plausches und der Nachmittagspartie« enthoben und zum ›Wohlfahrtsamt‹ degradiert, was dem Stammgast als schmerzlicherer Verlust erscheint als ein Mangel an Lebensnotwendigem, wie Nahrung, Kleidung oder Haushaltsartikel. Hilde Spiel erklärt in ihrem Text »Kaffeehaus als Weltanschauung« (1971) das Sterben der Kaffeehäuser nach dem Krieg damit, dass die Menschen »allzuviel Arbeit und allzuwenig Geld« gehabt hätten, »um ihre Stunden müßig zu verbringen […]. Ein Café nach dem anderen starb dahin oder wurde durch die Schnelltrinkstuben der Espressi ersetzt.«543 In ihrem Text, in dem sie die Geschichte des Wiener Kaffeehauses nachzeichnet, leuchtet sie die unverbindliche Beziehung zwischen Gast und Gastgeber aus, wie sie sich im Kaffeehaus vor dem Krieg darstellt: man war nicht zu Hause und dennoch nicht an der frischen Luft. Man war erreichbar und durfte sich doch nach Belieben entfernen. […] Man hatte alle Rechte des Hausherrn und des Gastes, aber nur die einzige Pflicht, seinen Mokka zu bezahlen. Das Kaffeehaus war kein Endziel: man kam von irgendwoher und ging wieder irgendwohin.544 Sie beschreibt die Wiener und Wienerinnen dabei als wirklichkeitsscheue und von Daseinsangst geplagte Kaffeehausgäste, denen der »Schwebe- und Zwischenzustand« in der »dunstigen Atmosphäre« des Kaffeehauses angemessen sei. Dort führten jene eine »Scheinexistenz«, welche wiederum von Vergänglichkeit gekennzeichnet sei. So begreift Hilde Spiel das Kaffeehaus als Äquivalent des Lebens, in dem man jedoch keine Verpflichtungen habe:
542 Rosa: Beschleunigung, S. 143. 543 Spiel: »Kaffeehaus als Weltanschauung«, S. 139. 544 Spiel: »Kaffeehaus als Weltanschauung«, S. 125.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Ja, es entsprach weit mehr als die Wohnung oder Arbeitsstätte jenem tiefinneren Empfinden der irdischen Unsicherheit und Vergänglichkeit, jenem Barockgefühl, das die Wiener von jeher erfüllt hat […]. Hier befand man sich in einem gemütlichen Provisorium, aus dem ins Jenseits versetzt zu werden weniger erschreckend schien als in den eigenen, so täuschend permanenten vier Wänden. Hier war man besitzlos, ohne Anhang, unbehaust und ohne Schuld.545 Spiel schreibt in ihrem Tagebucheintrag vom 29. Januar 1946, wie sie am Abend nach Wien fährt und versucht, verlorene Freunde und Freundinnen im Kaffeehaus wiederzufinden.546 Beim Anblick der Leere im Café Herrenhof, das vor dem Krieg um diese Zeit sehr voll gewesen sei547 , und des Herrn Hnatek, dem »König aller Oberkellner«, der »mit einem Mal ohne Glorienschein« vor ihr steht, meint sie zu erkennen, dass die Wiener Kaffeehäuser ihre Bedeutung nach dem Krieg verloren haben, die Wiener und Wienerinnen dies aber nicht wahrhaben wollen: Groß und gravitätisch ist er immer noch, doch sein Gesicht ist ausgehöhlt und seine Stimme zu ermattet, um mit der gewohnten sonoren Tiefe zu erklingen. […] Ob seine Tage im Herrenhof, ob die des Cafés nicht längst gezählt sind? Es läßt sich kaum denken, daß es je wieder zu seiner alten Bedeutung aufersteht.548 Dagegen glaubt Hans Weigel in seinem Essay aus den 1970ern nicht an ein »Rückzugsgefecht« der Kaffeehäuser, weil der »Fortbestand« gesichert und die »Substanz intakt« seien.549 Daher hält er den Glauben an die Bedeutsamkeit und Wichtigkeit der Wiener Kaffeehäuser aufrecht und rät dazu, nicht zurück, sondern nach vorne zu blicken, um den Wert des Moments, des jetzigen Augenblicks zu genießen und nicht in rückwärtsgewandte Melancholie zu verfallen.550 Mit der Wertigkeit dieser ›Oasen‹, die in einer bestimmten Form von Achtsamkeit besteht, in der das jetzige Leben in der absoluten Gegenwart Priorität hat, gehen Überlegungen zur Konzeption von ›Gemütlichkeit‹ einher, die in Verbindung steht mit der subjektiven Wahrnehmung der Atmosphäre durch einen Gast im Kaffeehaus. Beispielsweise definiert Brigitta Schmidt-Lauber Gemütlichkeit auch als »subjektive Zuschreibung im Moment des Erlebens […], eine situative subjektive Zuschreibung als einen qua Äußerlichkeiten definierbaren Lebensstil.«551 Diese Definition, die das Ergebnis einer qualitativen empirischen Studie ist, in der Schmidt-Lauber zahlreiche Interviews ausgewertet hat, kann als weitere Annäherung an die Atmosphäre des Kaffeehauses betrachtet werden, da sich diese auch durch den Augenblick des persönlichen Erlebens sowie die subjektive Empfindung auszeichnet. Daneben beinhaltet Schmidt-Laubers Beschreibung von Gemütlichkeit viele weitere Facetten, die jeweils mit dem einzelnen Menschen in Verbindung stehen, der die Gemütlichkeit erlebt. So sind der Gemütlichkeit wie dem Kaffeehaus zwei spiegelbildliche Perspektiven inhärent, in denen sich ge545 546 547 548 549 550 551
Spiel: »Kaffeehaus als Weltanschauung«, S. 125. Vgl. Spiel: Rückkehr nach Wien, S. 75. Vgl. Spiel: Rückkehr nach Wien, S. 77. Spiel: Rückkehr nach Wien, S. 78f. Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 7. Vgl. Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 7. Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit, S. 227.
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sellschaftliche Gegensätze in Form von Konventionen mikroskopisch abbilden. Einerseits sei Gemütlichkeit positiv konnotiert, weil sie den Menschen erlaube, ihr Leben freiheitlich zu gestalten und dabei eine Balance schenke, ohne gesellschaftliche Regeln außer Kraft zu setzen: Gemütlichkeit trifft als Kompensationsphänomenen oder als Protestform in Erscheinung, bietet Spielräume und Freiräume in Hinblick auf alltägliches Rollenverhalten und geforderte Selbstdisziplin. Sie verspricht Autonomie und Authentizität. […] Gemütlichkeit hilft allfällige Probleme des Alltags zu bewältigen und führt zu innerem Gleichgewicht, indem sie die Anerkennung der eigenen Person gegenüber fremden Zwängen anklagt und sich gültiger Verhaltensnormen situativ entledigt. Sogleich spiegelt und bekräftigt sie gesellschaftliche Werte, indem sie Verhaltensmuster und Lebenspraxen aufgreift und stützt.552 Andererseits könne Gemütlichkeit auch negativ konnotiert sein, wenn damit fehlende Dynamik und Flexibilität sowie mangelnde Motivation verbunden seien. In diesem Fall zeichne sich Gemütlichkeit nicht mehr durch den einen besonderen persönlich erlebten Moment aus, sondern werde zu einer Art ›Dauererlebnis‹, welches durch »Kommunikationsleere« und fehlende Kontroverse charakterisiert sei: Die Kehrseite ihres progressiven Elements ist unübersehbar: Die Entspannung, die sie hervorruft, kann ohne weiteres umschlagen in Passivität und Behäbigkeit. Gemütlichkeit dient nicht nur der sozialen Integration und Bekräftigung von Bindungen, gleichzeitig führt sie unverblümt zum Ausschluss, schottet vor ungewollten Menschen ebenso wie vor unliebsamen Realitäten ab.553 Damit könne Gemütlichkeit Schmidt-Lauber zufolge »sowohl als Ausdruck der Verweigerung gegenüber gesellschaftlichen Normen und Zwängen als auch ihrer Anerkennung« gesehen und deshalb »als Produkt der Leistungsgesellschaft« begriffen werden.554 In den folgenden Kapiteln sollen Schmidt-Laubers Definition und Thesen auf das Kaffeehaus übertragen und eruiert werden, worin die besondere ›KaffeehausGemütlichkeit‹ besteht und was sie für die Gäste bedeutet. Daneben wird überprüft werden, ob das spezifische Phänomen der sogenannten ›Wiener Gemütlichkeit‹ einerseits noch gelebt und andererseits transferierbar ist auf Cafés außerhalb von Wien.
V.3.3.
Zerrissenheit zwischen dynamisch-rationaler Zukunft und glorreichgemütlicher Vergangenheit: Das Wiener Kaffeehaus im Berliner Feuilleton der 1920er Jahre
Jeder weiß, welche ich meine. Es gibt keine zwei anderen, die so oft miteinander verglichen, so oft gegeneinander ausgespielt werden, wie diese beiden. Und doch sind sie
552 Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit, S. 227 553 Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit, S. 227. 554 Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit, S. 227.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
so verschieden wie Dur und Moll, wie Nord und Süd, wie Grunewald und Wienerwald, wie Spree und Donau. (DbS 5) Wie sich in diesem Zitat aus dem Feuilleton Die beiden Städte des Berliner Dramaturgen Arthur Kahane von 1926 andeutet, treffen in Berlin – bedingt durch die Auswanderungswelle zahlreicher Wiener Intellektueller und Kunstschaffender nach dem ersten Weltkrieg – zwei Kulturen aufeinander, wie sie in der Wahrnehmung der Zeitgenossen und -genossinnen nicht unterschiedlicher sein könnten. Das daraus resultierende Phänomen der auffällig oft betriebenen Gegenüberstellung der beiden vorgeblich diametral entgegengesetzten Metropolen im Feuilleton hat Stereotypen des Eigenen und des Fremden geschaffen, welche insbesondere Schriftsteller, Künstlerinnen und Journalisten beeinflussten, da diese Städtepolarität sie zu den zahlreichen Feuilletontexten inspirierte. Dabei kann im Sinne Peter Sprengels davon ausgegangen werden, dass die Spannungen, die die beiden urbanen Regionen in der Kultur der Weimarer Republik auslösen, ein »wesentliches Antriebselement in der Gesamtentwicklung der literarischen Moderne« darstellen und durch die Schilderungen im Feuilleton gleichzeitig »die psychischen Dispositionen« freigelegt werden, für die diese Stereotypen mustergültig stehen, nämlich für »Ängste und Hoffnungen gegenüber der Moderne, soziale und politische Ängste, bestimmte Vorstellungen des Männlichen und Weiblichen, des Gesunden und Kranken«.555 Die an Kahanes Text vorgeführte Art und Weise, die beiden nicht näher bezeichneten Metropolen metaphorisch und verschwörerisch gegenüberzustellen und dabei bestimmte Aspekte immer im Kontrast zu behandeln, war eine beliebte Methode, Wien und Berlin ›charakterlich‹ darzustellen. So veranschaulicht Kahane hier das spannungsgeladene, von einer vermeintlichen Hassliebe erfüllte Verhältnis der Städte, indem er stets von der »anderen« Stadt redet und bekannte Gegensatzpaare aufzählt, um Unterschiede in Bezug auf Weltoffenheit, Arbeitsmoral, Fortschritts- und Effizienzdenken im Gegensatz zu Kleinbürgerlichkeit, Behaglichkeit und Genuss darzustellen. Zudem werden die Städte meist personifiziert und als Eheleute oder »ungleiche Geschwister« charakterisiert, um ihre Unterschiede und gleichzeitig ihre Zusammengehörigkeit zu betonen: Offiziell und bei festlichen Gelegenheiten lieben sie einander sehr. Zu der intimen Wirklichkeit des wochentäglichen Familienlebens zeigt sich die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere so deutlich, daß ein gegenseitiges Verständnis kaum möglich erscheint. Der ältere Bruder ist der leichtfertige, der Windhund der Familie. Der jüngere ist über seine Jahre stockernst. Darum gehts ihm auch verdientermaßen viel besser als dem andern, der auf keinen grünen Zweig mehr kommen will. Dem fehlt eben die solide Basis einer lebenstüchtigen Weltanschauung; mit der Liebenswürdigkeit allein und dem feschen Talent zu allen brotlosen Künsten des Amüsements ists nicht getan. […] Aber der Ernste hat den heiteren Jungen trotzdem gern, wie die verlorenen Söhne meist die beliebtesten Familienmitglieder sind; man kann sich über sie wütend ärgern, aber man kann ihnen nicht böse werden. (DbS 5) 555
Peter Sprengel/Gregor Streim: Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik, Wien 1998, S. 20.
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Hier zeigt sich bereits die stereotypische Darstellung der fleißigen, nüchternen Berliner und Berlinerinnen und der armen, vergnügungsaffinen Wiener und Wienerinnen. Da sich besonders den Wiener Künstlern und Journalistinnen in Berlin mehr Perspektiven und »genügend Bewegungsfreiheit«556 bieten, wie es in einem Feuilleton von 1925 heißt, ergibt sich während der Weimarer Zeit eine Abwanderung der österreichischen Avantgarde nach Berlin. Anton Kuh nennt Berlin noch am 1. März 1930 in einem Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung die »in jeder Beziehung […] freieste Stadt der Welt«.557 Dies lässt sich unter anderem auch durch die glänzende journalistische Auftragslage erklären, denn in keiner anderen europäischen Stadt wurden vergleichsweise so viele Tages-, Wochen- und Monatszeitungen herausgebracht wie im Berlin der 1920er Jahre.558 In der Literatur gilt Berlin als dynamische Großstadt und Ort der Moderne par excellence, ein Ort, an dem sich laut Lutz Musner »die Moderne von Tag zu Tag selbst erfindet und einen dynamischen Prozess der Zeichenproduktion und allegorischen Einschreibungen anstößt«.559 Damit wird Berlin im Sinne der Großstadt-Definition Georg Simmels zu einer mustergültigen Metropole des gesteigerten Bewusstseins, die von dem »Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens« und einem »raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke«560 geprägt ist. Dies zeigt sich besonders eindrucksvoll in Joseph Roths Feuilleton Der Mann aus dem Altersheim von 1922, in dem die neue Technik und die Rasanz der infrastrukturellen Veränderungen in Berlin thematisiert werden.561 Der alte Mann, der über fünf Jahrzehnte nicht in Berlin war, hat keine Chance, sich zurechtzufinden, da sein Bewusstsein immer noch im 19. Jahrhundert verortet ist, in dem es diese technischen Neuerungen noch nicht gab und sich die Welt um ein Vielfaches langsamer bewegte. Der Verkehr im Berlin der 1920er Jahre hingegen ist modern und 556 -zz-: »Wien am Kurfürstendamm. Der österreichische Einfluß auf Magen, Mode und Muse«, in: Berliner Tageblatt, 06.10.1925. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »WaK« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 557 Interview Anton Kuhs in der Wiener Allgemeine Zeitung, hier zitiert nach: Walter Schübler: »Von G’schaftlhubern und Betriebsamkeitsfritzen. Anton Kuh über Wien-Berlin«, in: Anton Kuh: Jetzt können wir schlafen gehen! Zwischen Wien und Berlin, hg. v. Walter Schübler, Wien 2012, S. 7-23, S. 9. Das Interview wurde erstmals unter dem Titel »Anton Kuh über Wien-Berlin. Der feudale Roßknödel« in der Wiener Allgemeine Zeitung veröffentlicht (Wiener Allgemeine Zeitung, 01.03.1930, S. 3). 558 Vgl. Scharnowski: »›Berlin ist schön, Berlin ist groß.‹«, S. 68. 559 Lutz Musner: Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt, Frankfurt a.M. 2009, S. 91. 560 Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 9. 561 »Und vor etwa drei Wochen kam er zum erstenmal nach einundfünfzig Jahren wieder in die Weltstadt Berlin. […] Georg Burckhard kannte die Stadt Berlin, wie sie vor fünfzig Jahren ausgesehen hatte. Gedachte er während seines langen dunklen Lebens dieser Stadt, so sah er eine von Fuhrwerken befahrene Straße, sah er das Ende der Stadt am Potsdamer Platz, erschien ihm Wagenrasseln wie großstädtisches Getöse. Fünfzig Jahre trug Burckhard das Bild, das ganz bestimmte Bild dieser Stadt im Bewußtsein. […] Plötzlich entstieg Burckhard der Stadtbahn und stand mitten im zwanzigsten Jahrhundert. Im zwanzigsten? Es müßte das vierzigste sein. Mindestens das vierzigste. Wie pfeilschnell, als wären sie abgeschossen worden, lebendige Geschosse, flitzten junge Menschen mit Zeitungen auf seltsam beflügelten Rädern aus blinkendem Stahl die Straßen kreuz und quer.«, in: Joseph Roth: »Der Mann aus dem Altersheim«, in: ders.: Werke I. Das journalistische Werk 1915-1923, Bd. 1, hg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 843-846, S. 844.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
zeitsparend organisiert; nirgendwo herrscht etwas anderes als Eile und Betriebsamkeit, wie Kahane feststellt: Hier ist alles genau eingeteilt: der Tag gehört der Arbeit, die Nacht dem Vergnügen. […] Es ist die Stadt, die keine Zeit hat. Sie hat nicht einmal die Zeit, höflich zu sein. Jeder hat immer etwas zu tun, ist eiligst unterwegs, scheint laufen zu müssen, um nicht irgendeinen Zug zu verpassen. (DbS 5) Hier wird deutlich, dass Berlin als vorbildliche, preußisch-pflichtbewusste Stadt schlechthin gilt: Alle Bürger und Bürgerinnen gehen pünktlich und diszipliniert zur Arbeit und gönnen sich kaum Pausen. Jedoch sieht Kahane dies kritisch, weil seiner Meinung nach die Menschlichkeit verloren gegangen ist, was nicht nur für die Umgangsformen der Bewohnerinnen und Bewohner Berlins gilt, sondern auch für den eigentlichen Zweck der Arbeit, welche nicht nur dem Broterwerb diene. Vielmehr scheint sie für die Berliner eine Art Identität darzustellen, ganz im Gegensatz zu den Menschen in Wien, die im Kaffeehaus oder einem anderen Lokal verweilen, wie Alfred Polgar 1927 schreibt: Besonders in Berlin. Hier kann man es mit freiem Auge sehen, daß der Beruf den Menschen ausübt, nicht umgekehrt. […] Auch in des feiernden Brust taktet ohne Aufhören der Motor des Berufs: mit hörbarem Gesumm. […] Und der entspannte Mensch kommt nur ganz sporadisch vor, etwa im Dickicht des Schwannecke oder im fruchtbaren Tal des Mutzbauer, wo die Wiener weiden. Dieser Volksstamm hat nämlich, vielleicht sogar in übertriebenen Maß, die Fähigkeit der Entspannung. In Wien unterbricht der Mensch […] den Stromkreis der Berufsinteressen, in denen er sonst eingeschaltet ist […].562 Der Körper des Berliners ist also laut Christian Jäger »durchzogen von technischen Apparaturen, ein Maschinenmensch, der auch außerhalb des Produktionszusammenhanges sinnlos weiterläuft.«563 Dagegen zeichne es den Wiener aus, pragmatisch zu sein und Reproduktionsphasen zu erkennen und zu nutzen. Dem Berliner dagegen fehlt laut Polgar die »Fähigkeit der Entspannung und inneren Lockerung«, die er als Voraussetzung für »das Phänomen der Wiener Gemütlichkeit«564 begreift. Auch Anton Kuh zufolge handeln die Berliner stets mit ›strengem Ernst‹ und »Zugeknöpfheit«565 und sind auch in der Freizeit fleißig, anstatt sich zu amüsieren. Wien dagegen wird im Feuilleton der Zwischenkriegszeit stets als die gefühlsbetonte, aber auch behäbige Stadt beschrieben, die wenig fortschrittlich sei und deren träge Einwohner nicht der neuesten Mode hinterher hetzten und wenig arbeiteten, denn Arbeit wird hier laut Hermann Bahr »fast als eine Störung der öffentlichen Sicherheit empfunden«566 . Besonders dem Kaffeehaus wird in Wien ein weitreichender Stellenwert eingeräumt, mit dem die Wiener keinen Spaß verstünden, wie Kahane schreibt: Alfred Polgar: »Beruf«, in: Berliner Tageblatt, 01.12.1927. Jäger/Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, S. 209. Polgar: »Beruf«. Anton Kuh: »Die graue Krawatte«, in: ders.: Werke 1923-1926, Bd. 3, hg. v. Walter Schübler, Göttingen 2016, S. 499-501, S. 500.Dieser Prosatext wurde erstmals am 24. April 1926 (Das Tage-Buch 7:17, S. 571-572) veröffentlicht. 566 Bahr: Selbstbildnis, S. 112. 562 563 564 565
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Die andere Stadt […] hat immer Zeit. […] Das wäre ja noch schöner, wenn man sich nicht einmal die Zeit nehmen sollte, den Nachmittag im Kaffeehaus, den Abend im Kaffeehaus und die langen Stunden nach dem Nachtmahl im Kaffeehaus zu verbringen. Da macht einem die ganze Arbeit keine Freude. Da verzichtet man schon lieber auf die Arbeit. (DbS 5)567 So hat das Feuilleton dazu beigetragen, das Bild Wiens als Stadt der Gelassenheit, Langsamkeit und genussorientierten Gemütlichkeit zu formen und bis in die Gegenwart hinein zu erhalten. In diesem Zusammenhang fungiert das Kaffeehaus als der zentrale Kern der ›Wiener Gemütlichkeit‹: »Das Kaffeehaus dient […] dem zeitweiligen Atemholen, der Befreiung von einem Druck«568 , wie Hans Weigel schreibt. Man könne dort bei einer Melange stundenlang sitzen bleiben, lesen, schreiben oder nur dem Geschehen zusehen und wird zu keiner weiteren Bestellung genötigt, jedoch stets mit frischem Wasser versorgt. Diesen Brauch empfindet Weigel als »erhabenes […] Symbol österreichischer Liberalität« und es erinnert ihn »an das selbstverständliche Recht jedes Anwohners und Durchreisenden, den Brunnen des Dorfs zu benützen.«569 Laut Weigel ist auch der Kaffee nicht der zentrale inhaltliche Grund, sondern vielmehr eine Rechtfertigung, ein Kaffeehaus aufzusuchen, obgleich dieses Getränk ja im Namen dieser Lokalität enthalten ist, und somit wesentlich erscheint. In Wien sei jedoch in Bezug auf das ›Kaffeehaus‹ »das Haus tausendmal wichtiger als der Kaffee«, da es einen begehrten »Freiheitsraum« biete, zu dem die einmalige Bestellung eines Kaffees wie ein Billett Einlass gewähre: »Was muß man im Café? Nur sein. Man kann fast alles, aber man muß fast nichts.«570 Deutlich hervorgehoben wird die Bedeutung des ›Hauses an sich‹ auch im Bewerbungsformular der UNESCO: »Die Kaffeehäuser sind ein Ort [!] in dem Raum und Zeit konsumiert werden, aber nur der Kaffee auf der Rechnung steht.«571 Das heißt, der Gast erhält für den Preis eines Kaffees auch die anderen komfortablen Annehmlichkeiten, die das Kaffeehaus zu bieten hat, wie zum Beispiel verschiedene Zeitungen. Das regelrechte Zelebrieren der Gemütlichkeit im Kaffeehaus als Ort einer »legeren Lebensführung«572 sei jedoch nicht negativ konnotiert, sondern werte Brigitta SchmidtLauber zufolge besonders um die Jahrhundertwende herum die Qualität des Alltagslebens im großstädtischen Wien enorm auf und wirke dabei kompensierend auf den Leistungsdruck und die beschleunigte Lebensweise der modernen, urbanen Gesellschaft: Gemütlichkeit steht in diesem Verständnis der wachsenden Anonymisierung und Undurchschaubarkeit der Lebenswelt fast zwangsläufig und logisch entgegen, bietet ei567 Vgl. Kahane: »Die beiden Städte«, S. 5. Vgl. auch: »Ich selbst war durchaus nicht unempfindlich gegen die Anziehungskraft der Institution und habe auch manche Stunde dort zugebracht, aber die ›Idee‹ blieb mir fremd, und ich weiß nicht, ob ich so unrecht hatte, wenn ich Nachlässigkeit und Hang zur Bequemlichkeit bei meinen Mitarbeitern, Intrigen und übles Geschwätz dem ›Kaffeehausgeist‹ zuschrieb.«, in: Walter: Thema und Variationen, S. 203f. 568 Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 23. 569 Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 20 570 Weigel: »Das Kaffeehaus als Wille und Vorstellung«, S. 10 571 Maximilian K. Platzer: Wiener Kaffeehauskultur. Eingereichtes Element zur Aufnahme in das Nationale Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes, Wien 2011, S. 7. 572 Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit, S. 183.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
nen legitimen kompensatorischen Gegenpol zur ›Welt draußen‹. Sie hilft, dem Außendruck zu begegnen und ihn zu bewältigen.573 So erscheint Wien als Stadt der Traditionsbewahrung und sehnsuchtsvollen Nostalgie, wo sich die Multikulturalität der Donaumonarchie, künstlerische Kreativität sowie überholt erscheinende, konservative Wertvorstellungen mit Genuss und Muße vereinen. Weil Wien als »imposante Kulisse mit großer Geschichte vorgeführt«574 wird, erhält man den Eindruck, dass die ›wirkliche‹ Welt auf der Opernbühne stattfindet und man laut Anton Kuh nichts weiter zu tun habe, als sich freudig für die nächste Theaterpremiere herauszuputzen.575 Obgleich die Lebensqualität also gut zu sein scheint, jammerten die Wienerinnen und Wiener gerne und verlören sich in der Sehnsucht nach der ruhmreichen Vergangenheit des Habsburger Reiches, ohne daran etwas ändern zu wollen, wie Kahane schreibt: Uebrigens ist auch das Raunzen sehr schön und gehört dazu. Man raunzt über alle, nicht zum wenigsten über sich selbst, sehr freimütig und offenherzig, und man raunzt über alles. Natürlich denkt man nicht daran, die Uebelstände abzuschaffen, über die man raunzt, was die anderen in ihrer Reformwut wahrscheinlich täten, sondern man läßt alles beim Alten. Weil man ja sonst nichts hätte, worüber man raunzen könnte. (DbS 5) Im letzten Zitat geht Kahane ironisch auf die vermeintlich wehleidige Mentalität der Wienerinnen und Wiener ein, die in Hinblick auf ihre Mußestunden andere Prioritäten setzten als die Berlinerinnen und Berliner. Neben der Beziehung zu Zeit und Arbeit kristallisiert sich im Besuch eines Kaffeehauses und im Umgang mit Essen und Trinken ein weiterer Gegensatz zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern der beiden Städte heraus. So heißt es im Feuilleton »Wien am Kurfürstendamm« (1925), der Berliner lerne von Wiener Köchen zum ersten Mal, richtig zu genießen und zwischen Speisen zu differenzieren: Auf dem Speisezettel eines Volkes kann man jedenfalls viel von seiner kulturellen Wesensart ablesen. […] Und wie der Wiener Koch aus einem Stück Rindfleisch mit Phantasie und Kunst fünf oder sechs verschiedene Braten bereitet, so steht auch die Backkunst des Wieners im Zeichen jener Vielfältigkeit, Abwechslung und Erfindungsfreude, die dem Gaumen des Berliners mehr und mehr behagt. (WaK) Die besondere Phantasie der Wiener Lebensart zeige sich besonders in Form der Namen für die Milchabstufungen, welche die Mannigfaltigkeiten der österreichischen Kaffeezubereitung kennzeichnen: Hier gibt es nicht einfach ›Kaffee‹, sondern die ›Schale Haut‹, den fast schwarzen ›Kapuziner‹, die hellere ›Schale Gold‹ und eine ganze Skala der Mischungen von Schwarz und Weiß. Das empfindsame Wien analysiert mit subtiler Einfühlung nicht nur die Psyche,
573 Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit, S. 63. 574 Musner: Der Geschmack von Wien, S. 92. 575 Kuh: »Die graue Krawatte«, S. 500.
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sondern auch die Küche. Im ganzen Farbenreichtum von Schokolade, Ei, Zucker, Gelee und Früchten ziehen die Spezialitäten auf. (WaK) Hier wird den Lesenden durch die Aufzählung von Farbabstufungen und Backzutaten sehr anschaulich vermittelt, wie viel Zeit, Sorgfalt und Empfindsamkeit die Wiener und Wienerinnen für Speisen und Kaffee erübrigen, weil es ihnen nicht nur darauf ankomme, satt zu werden, sondern sie Wert darauf legten, dass das Auge mitisst. Besonders deutlich wird hier, dass eine die Sinne ansprechende Atmosphäre im Café vorherrscht, die »als Konfiguration[] von Farben, Gerüchen, Formen, Klängen« und als »Schicht konkreter Sinnlichkeit« erscheint, wodurch sich die Lesenden, wie Hans Ulrich Gumbrecht schreibt, »von der in der Fiktion evozierten Materialität« »eingehüllt und beinahe physisch angerührt« fühlten.576 Auch in Emil Faktors Feuilleton »Drei Tage Wien« von 1924 wird die Diskrepanz zwischen den Prioritäten, die in Wien in Bezug auf das Café vorherrschend sind, deutlich: Unbesiegbar von der Zeiten Wandel bleibt aber das Wiener Kaffeehaus. Während die Straße in ihren Trieb zur Lebendigkeit sich einschränkt, kommt die Drehtür nicht zu Ruhe. Sektquellen sind versiegt, der Mokka sprudelt. […] Melange und Schlagobers triumphieren über die Lücke der Stabilisierung, der Zahlkellner zerreißt sich – in aller Gemütlichkeit natürlich. Mancher Gast flitzt hastig herein […] und bleibt dann stundenlang sitzen. Andere haben tatsächlich nur ein halbes Stündchen Zeit […]. Sie sind noch in ein anderes Kaffeehaus verabredet. Die meisten bleiben sitzen und debattieren bis in den späten Abend. Dabei wir[d] das Lokal immer voller.577 So spielt der Aspekt ›Zeit‹ eine große Rolle in denjenigen Feuilletons, die sich mit dem Städtevergleich Wien – Berlin sowie dem Wiener Kaffeehaus beschäftigen. Anhand der bereits zitierten Texte zeigt sich aber auch, dass die Autoren mit sehr viel Ironie schreiben und sich über ihre Landsleute und sich selbst lustig machen, wenn Gegensätzlichkeiten in absurder Weise zusammen genannt werden: So ›zerreißt‹ es den Kellner in aller Gemütlichkeit oder es platzt ein Gast hastig herein, Eile und Geschäftigkeit vortäuschend, um nicht untüchtig zu erscheinen. Nachdem ihn die Atmosphäre des Cafés umfangen hat, bleibt er in aller Ruhe weltvergessen sitzen. Dieser leicht entschuldigende Gestus tritt auch in Oskar Fontanas Feuilleton »Die Straße als Gesellschaft« von 1932 zutage. Darin erklärt er das Phänomen des Wiener Kaffeehauses und dessen Beliebtheit mit dem Wiener Klima, das zu rau sei, als dass man es länger auf der Straße aushielte. Zudem, betont Fontana, seien die Wiener und Wienerinnen gemächlicher und zuversichtlicher in Bezug auf die Zukunft; daher sei ihr Drang, ›modern‹ zu sein, nicht so stark wie bei den Berlinern und Berlinerinnen: Daß die Wiener Straße vom Caféhaus beherrscht wird, hat seinen Grund nicht in der Türkenbelagerung, die den Wienern das Caféhaus zurückgelassen haben soll. Vielmehr glaube ich, das Wiener Klima […] hat das Caféhaus notwendig gemacht. Man
576 Hans Ulrich Gumbrecht: »Strom ohne Ursprung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.06.2007, S. N3. 577 Emil Faktor: »Drei Tage Wien«, in: Berliner Börsen Courier, 18.04.1924, 1. Beilage, S. 5.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
kann nicht lange in Wien spazieren gehen. Man wird leicht und bald müde, man möchte sich niedersetzen, ein wenig ruhen und, da an der Ecke ist ein Caféhaus. […] Die Straße in Wien ist konservativ, nicht immer neuaufgebügelt wie in Berlin. […] Man läuft der Zeit eben nicht nach, man hat Zeit, man wird die Zeit schon einmal einholen, sie muss ja auch müde werden.578 In Soma Morgensterns Feuilletons der Frankfurter Zeitung findet sich indessen nichts Entschuldigendes; er betont gerade die selbstbewusste Mentalität der Wienerinnen und Wiener, im Sinne der Lebensqualität zu der Pause im Kaffeehaus zu stehen und schreibt – auch recht ironisch –, dass niemand in Wien weniger arbeite als in Berlin; dass man aber eben »weniger von Arbeit und Tempo« rede, weil man sich nicht darüber definiere: »Weil sie auf einer Stufe der […] Lebenskultur stehen geblieben sind, wo es nicht als sehr nobel gilt, seines Nächsten und die eigene Ruhepause mit Groß- und Wichtigtuerei zu zerstören…« (WNK 249). Dagegen werden die Berlinerinnen und Berliner als nervöse und kaum in sich ruhende Zeitgenossinnen und -genossen beschrieben, die weniger Neigung verspürten, sich länger im Kaffeehaus aufzuhalten.579 Dennoch gibt es auch in Deutschlands Hauptstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele florierende Kaffeehäuser, die häufig von Kunstschaffenden, Journalistinnen und Journalisten sowie Theater- und Filmleuten frequentiert werden und zum Teil von Österreicherinnen und Österreichern eröffnet worden sind. Ein Beispiel dafür sind das in Polgars Feuilleton »Beruf« erwähnte Künstlerlokal Mutzbauer in der Marburger Straße oder das luxuriös gestaltete Café Bauer auf dem Boulevard Unter den Linden. Die Bewertung dieser Versuche, das österreichische Kulturgut nach Berlin zu importieren, fällt in den Feuilletons ganz unterschiedlich aus: Einige betrachten diese Grenzüberschreitung als gelungenen Kulturtransfer, andere, wie der Journalist Cheskel Klötzel in seinem Feuilleton »Wienerisches. Ein Vorschlag zur Güte« (1925), sehen das Experiment als gescheitert an: Es sei eine erstaunliche Verkennung der Sachlage […] zu glauben, daß man in Berlin jemals mit vollem Erfolg das Wiener Kaffeehaus imitieren könne. […] Also, daß [!] ist ja hinlänglich bekannt, daß der Wiener im Kaffeehaus geboren wird, lebt und stirbt. Freilich ist es darin auch auszuhalten.580 In einem Kaffeehaus nach Berliner Gepflogenheit hingegen ist es seiner Meinung nach nicht auszuhalten, weil das wichtigste Element des Wiener Kaffeehauses nicht in die fremde Stadt hinübergerettet worden sei. Dieses bestehe in der besonderen Atmosphäre, welche nicht nur dadurch entstehe, dass man den Gast mit Kaffeespezialitäten und Essbarem bewirte, sondern indem man ihm das Gefühl gebe, er könne nur für den Preis
578 Oskar Maurus Fontana: »Die Straße als Gesellschaft«, in: Berliner Börsen Courier, 01.01.1932, 2. Beilage, S. 10. 579 Vgl. im Gegensatz dazu die Beobachtungen zum Essverhalten der Berliner und Berlinerinnen in Robert Walsers Text »Aschinger«, Kapitel V.4.5. 580 C.K.: »Wienerisches. Ein Vorschlag zur Güte«, in: Berliner Tageblatt, 23.08.1925, Morgenausgabe 1. Beiblatt. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »WVG« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
eines Kaffees unendlich lange sitzen bleiben und sich wie zuhause fühlen. In Berlin sei dies anders: Freilich scheint man hier mit solchen Mitteln den Speisen- und Getränkekonsum fördern zu wollen, aber es liegt einem wenig an Gästen, die längere Zeit zu sitzen wünschen. Deswegen werden auch keine Zeitungen gebracht und diesbezügliche Wünsche großzügig nonchaliert. Wer etwa das Café Greilinger in Wien auf der Josefstädter Straße kennt, […] wird mit Wehmut daran denken müssen, wenn er mit der Langeweile in den hiesigen Kaffeehäusern erfolglos sich herumschlägt. (WVG) Demgegenüber sitze man in Wien im Kaffeehaus laut Morgenstern ›nicht einfach so da‹, sondern habe zu tun: Die Besucher und Besucherinnen spielen Schach und Karten, genießen das gesellige Stadtleben oder lesen die vom Kellner gebrachten Zeitungen. »Der Gast ist anspruchsvoll: er trinkt für einen Schilling = 60 Pfennig, und die Presse der Welt steht ihm zur Verfügung!« (WNK 250). Daneben bestehe die Atmosphäre im Wiener Kaffeehaus auch darin, dass die Gäste einen großen Gastraum zur Verfügung hätten, in dem sie sich frei fühlen könnten, wohingegen in Berlin wenig Platz sei. Diesen Umstand der Enge beziehungsweise des »beschränkten Raumes« (WVG) in Berliner Vergnügungslokalen greifen verschiedene Feuilletonisten auf, wie Morgenstern beispielsweise, wenn er die Berliner Unerschrockenheit beschreibt: »Wo gar kein Plätzchen mehr ist, da lassen sich noch fünf, noch zehn, noch fünfzehn und noch und noch Berliner gemütlich nieder.«581 Die Wienerinnen und Wiener dagegen zögen es vor, sich auch mal zurückziehen zu können. (vgl. MC) Auch wenn die Berlinerinnen und Berliner also aufgrund der Verhaftung in ihrer eigenen Kultur die Wiener Kaffeehauskultur nicht vollkommen nachempfinden können, werden die von Wiener Cafetiers eröffneten Kaffeehäuser laut einem Feuilletonisten »nicht nur von zugewanderten Österreichern, sondern auch von den ›Eingeborenen‹ benutzt« (WaK), weil sie immer auch von der anderen Kultur des ›Savoir-vivre‹ träumten, die für sie den Inbegriff eines lebenswerten Daseins darstelle.582 An dieser Stelle wird deutlich, dass diese Städtepolarität nicht nur von Gegensätzlichkeiten, sondern auch von Sehnsüchten nach dem jeweils anderen geprägt ist. Die Stadt Berlin mit ihren Lokalen und die im zeitgenössischen Feuilleton vorgenommene Gestaltung und sprachliche Darstellung der wahrgenommenen Wirklichkeit bilden dabei den Kontakt- und Schwellenraum, der diesen Kulturtransfer überhaupt erst ermöglicht. Dieser Schwellenraum kann im Sinne Simmels als ›ideeller Drehpunkt‹ bezeichnet werden, welcher »ein System von Elementen in einer bestimmten Distanz, Wechselwirkung, gegenseitigen Abhängigkeit festhält.«583 Jenen Drehpunkt stellt in diesem Fall das Kaffeehaus in einer Region des Urbanen, also in der Großstadt, dar, welche nach Wolfgang Kaschuba »als Ort von Vielfalt und Unterschied, nicht von Homogenität und Konsens« darauf abziele, »eine soziale Einheit der Widersprüche« zu schaffen, denn ihr »Ziel ist nicht Integration ins gleiche, sondern Integration in die
Soma Morgenstern: »Berlin – Wien. Expreß«, in: ders.: Dramen, Feuilletons, Fragmente, hg. v. Ingolf Schulte, Lüneburg 2000, S. 142-143, S. 142. 582 Vgl. Jäger/Schütz: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus, S. 209. 583 Simmel: »Soziologie des Raumes«, S. 148. 581
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Verschiedenheit, von deren Spannung sie lebt.«584 So können also die beiden einander so entgegengesetzten Städte Wien und Berlin trotz der beschriebenen, stereotypischen Differenzen in den feuilletonistischen Darstellungen als zwei Seiten derselben Medaille begriffen werden, weil erst die Spannungen zwischen den beiden Kulturen im Berlin der zwanziger Jahre diesen Reichtum an feuilletonistischen Texten hervorgebracht haben, die den Städtevergleich zu einem herausragenden Thema der Moderne gemacht haben. Blickt man zusammenfassend auf die Funktion und das Genre der untersuchten Texte, lässt sich feststellen, dass diesen Feuilletons keineswegs die ausschließliche Rolle eines banalen Unterhaltungsmediums zukommt. Ganz im Gegenteil – Sabina Becker zufolge ist die Kultur der Berliner Nachkriegsjahre, welche sich im Feuilleton manifestiert hat, »als ein erstes umfassendes Paradigma von Modernität und Moderne zu bezeichnen«585 , weil sich die Literatur in den 1920er Jahren mit anderen Medien und Genres, wie der Reportage oder der musikalischen Revue, vermengt und sich dadurch in die kulturellen Diskurse der Zeit eingeschrieben habe. Damit werden diese Feuilletontexte Ulrike Zitzlsperger gemäß zu Texten, »die die Wahrnehmungsmuster einer Epoche erkennbar werden lassen« und den ›halböffentlichen Raum‹ des Cafés »als Mikrokosmos kulturpolitischer Dispositionen berücksichtigen«586 , indem sie durch die kommunikative und örtliche Bündelung von »Entwicklungen und Atmosphären, die andernfalls schwer greifbar wären«587 , ihre Funktion als Träger des kulturellen und zeitgeschichtlichen Gedächtnisses ausübten: Die halböffentlichen Räume gewähren auch insofern verbindliche Momente, als sie die Erfahrungen verschiedener Generationen an einem Punkt zusammenführen. Die literarische […] Behandlung ausgewählter Räume trägt zur Wahrnehmung von Bedeutungen, die einem konkreten Ort zugeordnet werden können, bei. […] Die Beschreibungen der halböffentlichen Räume dienen der Rückversicherung kultureller Zusammenhänge […].588 Somit können die feuilletonistischen Texte durch ihre Verbindung zum Kaffeehaus nicht nur von gesellschaftlichen Entwicklungen berichten, sondern gerade durch ihre Zeitbezogenheit am politisch-historischen Prozess teilhaben. Im Hinblick auf die Gattung der ›Kaffeehausliteratur‹ lässt sich konstatieren, dass die in diesem Unterkapitel untersuchten Feuilletontexte von C.K., Arthur Kahane, Soma Morgenstern und -zz- dem ›Idealtypus‹ sehr nahe kommen: Sie gehören der ›Kleinen Prosa‹ an, berichten aus meist autobiographischer Perspektive über die Cafés in Wien und Berlin und thematisieren die Aspekte ›Stadt‹ und ›Zeitempfinden‹ sowie die Wechselwirkung zwischen dem jeweiligen Lokal und der persönlichen Einstellung der Menschen, die es besuchen. Sie vermögen es darüber hinaus, ein einzelnes, scheinbar 584 Kaschuba: Die Überwindung der Distanz, S. 165. 585 Sabina Becker: »Topografien der Moderne: Berlin und Wien in den zwanziger Jahren«, in: PrimusHeinz Kucher/Julia Bertschik (Hg.): ›baustelle kultur‹. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918-1933/38, Bielefeld 2011, S. 29. 586 Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 10. 587 Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 172. 588 Zitzlsperger: Topografien des Transits, S. 30.
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unbedeutendes Ereignis als herausragendes kulturpolitisches und zeithistorisches Moment zu schildern und verhandeln die Wahrnehmung von Aromen und Farben durch eine anschauliche und mitunter ironische Darstellung von Synästhesien. Die in diesem Abschnitt untersuchten Feuilletontexte können daher dem ersten Ring der ›Kaffeehausliteratur‹ zugeordnet werden.
V.4.
Atmosphäre, Aura und Stimmung: Wahrnehmung im Café
[…] bei einigen fügte es sich, daß wir auf einem andern, neutralen Boden, in einer uns gemäßeren Atmosphäre uns wieder begegneten. Der neutrale Boden war meist irgendein Kaffeehaus, damals das ›Central‹, wo ich gar viele Stunden mit Zeitungslektüre, Billard, Domino, seltener mit Schachspielen […] hinzubringen pflegte, – die gemäßere Atmosphäre, in der mir leichter und wohler war, war die künstlerische oder was ich mir eben darunter vorstellte, – besonders, wenn ein etwas zigeunerlicher Hauch sie durchwehte. So bildeten sich um mich Menschenkreise der verschiedensten Art, flossen ineinander, zerflossen wieder […].589 Arthur Schnitzler beschreibt in seiner zwischen 1915 und 1918 verfassten Autobiographie Jugend in Wien die Empfindungen, welche seine Beziehung zum Café Central zwischen 1879-1882 kennzeichnen – eine Zeit, in der er mit seinen Studienkollegen häufig Zeit außerhalb der Universität und innerhalb des Kaffeehauses verbracht hat. In diesem Zusammenhang bezeichnet er die dortige, eher unkonventionelle Stimmung recht unpräzise als die ihm »gemäßere«, »künstlerische« Atmosphäre, während derer ihm ›leicht‹ und ›wohl‹ zumute gewesen sei, da sie die Menschen wie Wasser oder Luft ›ineinanderfließen‹ oder von einem ›zigeunerlichen Hauch durchwehen‹ lasse. Schnitzler knüpft hier an Wortfelder aus dem naturwissenschaftlich-chemischen Bereich an und beschreibt die Atmosphäre sowie die Menschen aus einem Mangel an passend erscheinenden Begriffen behelfsweise mit Rückgriff auf Aggregatszustände. Schnitzlers undeutliche Beschreibungen ähneln anderen Texten dieser Art, die wiederholt über das Kaffeehaus zu lesen sind. Wie in den bisherigen Kapiteln gezeigt worden ist, werden zur Beschreibung des Ortes ›Kaffeehaus‹ oft eher vage Begriffe wie ›Atmosphäre‹, ›Aura‹, ›Zauber‹ ›Fluidum‹, ›Klima‹ oder ›Ambiente‹ verwendet, welche eine diffuse Emotionalität bezeichnen, dabei aber sehr unscharf bleiben, weil die Wahrnehmenden diese spezifische Atmosphäre zwar mit all ihren Sinnen erfahren, aber rational nicht erklären können. Obgleich ›Atmosphäre‹ als sehr verschwommen empfunden wird und schwierig in Worte zu fassen ist, ist sie meist nicht neutral, sondern entweder positiv oder negativ konnotiert. Dabei erweckt die häufige Nennung der vagen Begriffe in den Texten den Anschein, als würde gerade diese Atmosphäre den charakterlichen Kern des urbanen Kaffeehauses ausmachen, so dass sich die Frage stellt, worin diese besteht und mit welchen sprachlichen Mitteln die Atmosphäre beziehungsweise Stimmung in literarischen Texten erzeugt werden kann.
589 Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Eine Autobiographie, Wien/München/Zürich 1968, S. 102.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Seinen selbstgesteckten Anspruch, urbane Atmosphäre adäquat zu vermitteln, versucht beispielsweise Joseph Roth zu erfüllen, indem er aus unterschiedlichen Perspektiven auf eine Stadt, ihre Bewohnerinnen und Bewohner, Lokale und Institutionen schaut und so festgefügte Stereotypen ins Wanken bringt. Dies erreicht er, indem er nicht die Stadt als Ganzes zu betrachten und zu beschreiben sucht, sondern nur Teile derselben auswählt, die für die urbane Gesamtheit stehen können. Zum Beispiel beobachtet sein Erzähler im Feuilleton »Spaziergang« von 1921 als Flaneur Szenen auf dem Kurfürstendamm, die nicht im »Baedecker« stünden; das heißt, er verwendet die »Fiktion des Spaziergangs«, um ein »Zusammentreten von Weltbeobachtung und moralischer Reflexion« zu realisieren.590 So betrachtet das erzählende Ich zum Beispiel einen Bettler, der sich auf der Caféterrasse mit einer Feile die Nägel feilt, welche von einer Dame vergessen wurde, oder einen enttäuschten Kellner, dem es nicht gelingt, eine Fliege zu fangen. Auf diese Weise versucht Roth zu zeigen, dass es die kleinen Dinge sind, die das urbane Leben ausmachen: Was ich sehe, ist der lächerlich unscheinbare Zug im Antlitz der Straße und des Tages. […] Nur die Kleinigkeiten des Lebens sind wichtig. Was kümmert mich, den Spaziergänger, der die Diagonale eines späten Frühlingstages durchmarschiert, die große Tragödie der Weltgeschichte, die in den Leitartikeln der Blätter niedergelegt ist? […] Jedes Pathos ist im Angesicht der mikroskopischen Ereignisse verfehlt, zwecklos verpufft. Das Diminutiv der Teile ist eindrucksvoller als die Monumentalität des Ganzen. Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden. Ich bin ein Spaziergänger.591 So wird Atmosphäre bei Roth sprachlich realisiert, indem Sinnesreize geschildert werden, das Momentane, Ausschnitthafte betont und die Einmaligkeit des Augenblicks für die Betrachtenden hervorgehoben wird.592 Dies entspricht auch der Schreibweise der ›Kaffeehausliteratur‹, in der das Kaffeehaus als Mikrokosmos das Leben in der Großstadt abbildet. Zudem umfasst diese vor allem kleinere Formen, welche sich durch die Aspekte Mündlichkeit, Fragmenthaftigkeit und Flüchtigkeit auszeichnen und die aus der im Kaffeehaus herrschenden Zeitbezogenheit ihren Effekt erzielen. Der Ursprung dieser Zeitbezogenheit liegt in der Vergänglichkeit der Gesprächssituation im Mikrokosmos Kaffeehaus, weshalb die beliebten Textformen der ›Kaffeehausliteraten und literatinnen‹, wie die Anekdote oder das Feuilleton, als Verschriftlichung des gegen-
590 Gabriella Pelloni: »Spazieren in Nachkriegswirren. Joseph Roth als Chronist des Wiener Lebens 1919/20 (in vergleichender Perspektive zu Francis Wolf-Cirian)«, in: Primus-Heinz Kucher/Julia Bertschik (Hg.): ›Baustelle Kultur‹. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918-1933/38, Bielefeld 2011, S. 103-122, S. 106; 112. 591 Joseph Roth: »Spaziergang«, in: ders.: Werke I. Das journalistische Werk 1915-1923, Bd. 1, hg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 564-567, S. 564f. 592 Vgl. »Noch deutlicher ist die ästhetische Erfahrung des inmitten des Gewühls der Straße sich bewegenden Flaneurs durch Verlust der Ganzheitlichkeit geprägt, da die Komplexität der Umgebung und die Beschleunigungszunahme eine stärkere Dissoziation der Perspektive bedingen. Die Fragmentierung der Wahrnehmung wird zur Chiffre einer Narration, die, vorzugsweise das Ergebnis des Augenblicks zum Ausdruck bringend, keine kausale Struktur mehr aufweist und ihre Einheit nur noch im Blick der Erzählfigur findet.«, in: Pelloni: »Spazieren in Nachkriegswirren«, S. 106.
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wärtigen Erlebens im Café betrachtet werden können, mit dem Ziel, den flüchtigen Augenblick zu überdauern.593 Nicht nur für das persönliche Befinden der Gäste ist die Atmosphäre im Café ausschlaggebend, sondern aus Marketinggründen auch für das Café selbst, weshalb man auch im 21. Jahrhundert versucht, an die frühere, vermeintlich typische Atmosphäre eines Cafés anzuknüpfen. So will beispielsweise das Berliner Café Einstein »jene spezielle ›Kaffeehaus-Atmosphäre‹ vermitteln, die eher mit der vorletzten Jahrhundertwende als mit der jüngsten Jahrtausendwende verbunden wird.«594 Ein weiteres Beispiel ist das Café The Elephant House in Edinburgh, wo J. K. Rowling einer Wandinschrift zufolge die Harry Potter-Bände geschrieben haben soll. Das Lokal profitiert seitdem von dem Ruhm der Autorin, die von der ›zauberhaften Atmosphäre‹ dort befruchtet worden sein soll, und vermarktet sich nun als »Birthplace of Harry Potter«: Magisch! Das ist die einzige Art, das Elephant House zu beschreiben. Erlebe die gleiche Atmosphäre wie J.K. Rowling, als sie über einem Kaffee grübelte und ihren ersten Harry-Potter-Roman schrieb.595 Insbesondere aber in Wien ist man sich der jahrhundertealten Bedeutung der Kaffeehaustradition bewusst, weshalb die Wiener Kaffeehauskultur im November 2011 in das immaterielle Kulturerbe der UNESCO596 aufgenommen worden ist. Im Bewerbungsformular, in dem der Klub der Wiener Kaffeehausbesitzer und -besitzerinnen um die Aufnahme in das Verzeichnis des österreichischen Kulturerbes bittet, heißt es dazu: Viele der Wiener Traditionsbetriebe bestehen seit weit über 100 Jahren und legen stets großen Wert auf die Erhaltung des familiären Flairs früherer Zeiten. Dies macht das Wiener Kaffeehaus zu einem Treffpunkt mit Seele und Herz für Jung und Alt. Charakteristisch zeichnet das Wiener Kaffeehaus nicht nur die besondere Atmosphäre [!] sondern auch sein ganz spezielles Ambiente.597 So besitze das Wiener Kaffeehaus eine ganz spezifische ›Aura‹, aus der sich eine besondere ›Atmosphäre‹ für die Gäste ergebe, welche die Menschen absorbieren und in der sie sich wohlfühlen. Dort werde das zwanglos-persönliche Flair früherer Zeiten erhalten und durch kostenlosen Zugang zu WLAN gelinge gleichzeitig der »Spagat zwischen
593 Vgl. Bachmaier: »Kaffeehausliteraten«, S. 242. 594 Johannes Leithäuser: »Auf einen Kaiserschmarrn ins Rampenlicht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.08.2014, S 4. 595 Leonie Feuerbach: »Edinburghs tropfender Kessel«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.06.2014, URL: www.faz.net/aktuell/gesellschaft/elephant-house-edinburghs-tropfender-kessel-13000895 . html (07.05.2018). 596 »Neben dem materiellen Welterbe der UNESCO […] gibt es seit 2003 auch das immaterielle Kulturerbe. Diese Konvention beinhaltet ›identitätsstiftende Praktiken‹, darunter mündliche Überlieferungen, darstellende Künste, gesellschaftliche Praktiken, Wissen in Bezug auf die Natur und traditionelle Handwerkstechniken.«, in: Erwin Kadlik: »Wiener Kaffeehauskultur ist immaterielles Kulturerbe der UNESCO« (Pressenotiz Stadt Wien vom 11.11.2011), URL: www.ots.at/presseaussendung/OTS_20111111_OTS0075/wiener-kaffeehauskulturist-immaterielles-kulturerbe-der-unesco (11.09.2019). 597 Platzer: Wiener Kaffeehauskultur, S. 5.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Tradition und Moderne«598 . Zudem wird in der Bewerbung die enge Verwobenheit der Lokalität mit ihrem geographischen Standort sowie der Historie des Landes betont: Blickt man auf die lange Geschichte der Wiener Kaffeehäuser zurück, steht ganz außer Frage, dass diese eng mit der österreichischen Geschichte verbunden ist und unser Land ohne sie nicht das selbe wäre.599 In keinem der zitierten Beispiele scheint deutlich zu werden, was ›Atmosphäre‹ an der jeweiligen Stelle bedeutet oder was sie von ›Ambiente‹ unterscheidet, vielmehr werden die Begriffe völlig willkürlich benutzt. Christophe Klimmer bezeichnet die Kaffeehäuser, die dieses besondere ›Ambiente‹ ihr Eigen nennen, im 2009 erschienenen Bildband Historische Cafés in Europa zum Beispiel als eine vom flüchtigen Zeitgeist und den modernen ›Coffee-to-go‹-Ketten unbeeindruckte »Gegenkultur«: Obwohl sich zahlreiche historische Kaffeehäuser der Modernisierung im 20. Jahrhundert nicht entziehen konnten, gibt es doch immer noch viele unter ihnen, die den Geist dieser Tradition bewahrt haben. Als Gast kann man häufig noch etwas von der Atmosphäre erahnen, die zu ihren Hochzeiten geherrscht haben muss […]. Jenseits von den auf Modernität und schnellen Konsum getrimmten Kaffeebars findet sich noch heute in manchen Häusern jene nostalgische Aura […]. Das vorliegende Buch versammelt Eindrücke von diesen historischen Städten und lässt ein Ambiente erkennen, das nach wie vor in den großen und traditionellen Häusern existiert.600 In Klimmers Essay sowie in den hier zitierten literarischen Texten fallen an vielen Stellen eher vage, phänomenologische Begriffe wie ›Geist‹, ›Atmosphäre‹, ›Aura‹ oder ›Ambiente‹ auf, wenn die Autorinnen und Autoren Reflektionen darüber anstellen, wie die angenehme Stimmung im Kaffeehaus zustande kommt. Dies gilt für ältere Texte, aber auch für jüngere, wie den Bericht über das niederländische Café »Millinger Theetuin« im Bonner General Anzeiger vom 24.07.2017: Etwas an diesem besonderen Ort, ob man es nun Aura nennen will oder Atmosphäre, überträgt sich sofort auf den Gast, lässt ihn ruhiger werden, abschalten, entspannen. Vielleicht liegt es am ästhetischen Miteinander von Kunst und Natur oder am asiatisch inspirierten Ambiente, das etwas Meditatives vermittelt […].601 Bedeutet ›Atmosphäre‹ also, dass man sich in bestimmten Kaffeehäusern mit ›meditativer Aura‹ gut entspannen kann? Oder, dass in jenen Kaffeehäusern ein historisches ›Ambiente‹ herrscht, welches das Café von der jeweiligen, modernen Außenwelt abspaltet und die Vergangenheit wachrüttelt, weil man im Inneren »von einer so mächtigen mythologischen Aura umgeben« ist?602 Die in den Texten benutzten Bezeichnungen erwecken den Anschein, als würde im Kaffeehaus etwas ›Atmosphärisches‹ und eigentlich Widersprüchliches vorherrschen, welches die Gäste zwar auf der Gefühlsebene und mit 598 Platzer: Wiener Kaffeehauskultur, S. 7. 599 Platzer: Wiener Kaffeehauskultur, S. 6. 600 Christophe Klimmer: »Europäische Kaffeehauskultur«, in: Adonis Malamos: Historische Cafés in Europa, Mannheim 2009, S. 144-149, S. 149 [Hervorhebungen I. M.]. 601 Jörg Isringhaus: »Auf eine Tasse Tee ins Paradies«, in: General-Anzeiger Bonn, 24.07.2017, S. 21. 602 Fitch: Künstlercafés in Europa, S. 26.
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all ihren Sinnen wahrnehmen, aber rational nicht nachvollziehen können. Heimito von Doderer bezeichnet es sogar als absolut »unmöglich«, die ›Aura‹ des Kaffeehauses »erklärend zu fassen« (MC) und Jörg Mauthe erklärt die ›Atmosphäre‹, die das Café Hawelka erfüllt, für gänzlich »unbeschreibbar«: Sehr groß ist es nicht, das Hawelka, bei weitem nicht so groß wie einst das Café Central. Aber wenn es auch nicht mehr als fünfhundert Kubikmeter umfaßt, enthält es doch alles, was der Kaffeehausmensch braucht […]. Der verbleibende Rest der 500 Kubikmeter ist teils von Atmosphäre, teils von Gästen erfüllt. Über die Atmosphäre im Hawelka kann wenig gesagt werden, denn sie ist unbeschreibbar. […] denn bei einem Minimum an Dekoration ist es erfüllt von einem Maximum an undeutlicher Bedeutung und ungewisser Hintergründigkeit. Schein und Sein fließen hier nicht unterscheidbar ineinander […], denn dieses Kaffeehaus ist sozusagen ein wertfreier Raum inmitten eines künstlerischen Mikrokosmos, der von Wert- und Unwertvorstellungen besessen ist, das bewegungslose Zentrum inmitten des Wirbelsturms, der Nullpunkt im Koordinatensystem der Träume, Hoffnungen, Pläne und Ängste.603 Trotz der Beteuerungen der letztgenannten Schriftsteller, das Café nicht erfassen oder beschreiben zu können, tun sie es dennoch – so formuliert Mauthe hier im gleichen Atemzug, in dem er die Beschreibbarkeit der Atmosphäre negiert, die Antwort auf die Frage, worin die Atmosphäre des Kaffeehauses für ihn besteht: Nämlich in dessen Ambivalenz zwischen Wirklichkeit und Scheinwelt, in der eigene Regeln gelten, welche sich von der Außenwelt abheben, so dass in diesem Ort des ›Dazwischen‹ alles möglich scheint. Auffällig ist auch, wie Mauthe im Text selbst auf paradoxe Weise die Gegensätze des Hawelka betont: So zeige sich das Café als »wertfreier Raum«, dessen Gäste von »Wert- und Unwertvorstellungen« besessen seien, und als ›bewegungsloses Zentrum‹ inmitten eines »Wirbelsturms«. Auch Wolfgang Hutter illustriert diese Ambivalenz des Café Hawelka, in dem die Atmosphäre gleichermaßen durch die »Stille des Grantes, die Flucht aus der Häuslichkeit oder dem Büro, das Alleinsein unter Menschen« gekennzeichnet sei.604 In seinem Text über das Hawelka zählt er im weiteren Verlauf in der Manier eines Gedichtes recht genau auf, wie ein Kaffeehaus seiner Meinung nach beschaffen sein sollte.605 Diese sich hier abbildende Diskrepanz in den literarischen Schilderungen zwischen der vorgeblich nicht möglichen Veranschaulichung der Kaffeehausatmosphäre und dem tatsächlich dennoch stattfindenden Beschreiben derselben soll als Merkmal festgelegt werden,
603 Jörg Mauthe: »Das Café Hawelka«, in: Franz Hubmann (Hg.): Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien 1982, S. 90-91, S. 90. 604 Wolfgang Hutter: »Hawelka – ein Caféhaus (1981)«, in: Franz Hubmann (Hg.): Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien 1982, S. 84-87, S. 84. 605 Vgl. »Zurückdenkend, was ein Caféhaus sein soll: Bekannt, aber nicht berühmt, beruhigend, aber nicht erregend, besucht, aber nicht bummvoll. Nicht gut gelüftet, aber nicht stinkend. Angenehm beleuchtet, aber in keinem Fall sonnig. Kellner, die ihre Gäste ein klein wenig überschätzen, aber nie verachten. Ein Gespräch führen können, aber niemals müssen. Einen guten Bekannten am Nebentisch haben, aber ohne Beleidigung mit diesem stundenlang kein Wort wechseln.«, in: Hutter: »Hawelka – ein Caféhaus (1981)«, S. 85.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
welches die ›Kaffeehausliteratur‹ auszeichnet. Ein weiteres Kennzeichen ist die Ambivalenz, die sprachlich-stilistisch im Text abgebildet wird und mittels derer die Gegensätzlichkeiten im Café dargestellt werden. Auch Marc Augé widmet das erste Kapitel seiner Éloge der Frage nach den Begrifflichkeiten das Bistro und das Café betreffend (vgl. z.B. EBP 11; 104). Augé fragt auch danach, was genau das Wort Bistro ›ausmache‹, das für ihn eine unmittelbare Form von Sympathie transportiert (vgl. EBP 15), und eruiert, welche Bedürfnisse und Wünsche es in den Gästen wachruft.606 Für die große Popularität und anziehend wirkende Atmosphäre des Bistros findet er im weiteren Verlauf mögliche Gründe und Erklärungen, die er insofern für objektiv hält, als er über Jahre hinweg Beobachtungen dazu angestellt habe. Zu den Anziehungspunkten gehören seiner Meinung nach insbesondere der Tresen des Wirts als Fixpunkt des Lokals (vgl. EBP 36), seine flexible Verfügbarkeit zu unterschiedliche Zeiten ohne Unterbrechung von morgens bis spät abends (vgl. EBP 13) sowie die ruhige, apolitische, zwanglose Art der menschlichen Zusammenkunft.607 Augé nennt als Gegenbeispiel das »bureau de tabac«, in dem zu Stoßzeiten ein hektisches Getöse vorherrsche, so dass ein ruhiges Gespräch oder konzentriertes Nachdenken unmöglich sei (vgl. EBP 39). Trotzdem lehnt Augé das vom französischen Verband der Gaststättenbetreiber GNI-Synhorcat und dessen Sprecher Jean-Pierre Chedal nach den Terroranschlägen im November 2015 initiierte Vorhaben ab, die französische Bistrokultur in das immaterielle Weltkulturerbe der UNESCO aufzunehmen608 , da dies den ›wirklichen‹ Bistros den Gnadenstoß versetzen würde, denn diese bestünden weder aus nostalgischen Ideen, noch seien sie totgeweiht, sondern reale Lokale, welche vom alltäglich stattfindenden Betrieb am Leben gehalten würden:
606 Vgl. »Quelle est donc la vertu de ce mot? Quels désirs éveille-t-il en nous […]? Comme si l’emploi du mot, à lui seul, garantissait le caractère fraternel, aimable et vivifiant […].« (EBP 15f) 607 Vgl. »On ›se charrie‹ paresseusement dans une atmosphère détendue et résolument apolitique.« (EBP 37) 608 Vgl. »Le bistrot parisien est un monument à part dans la capitale faisant partie du décor et des vies animées de celles et ceux qui veulent s’échapper du ›métro-boulot-dodo‹. Une association, orchestrée notamment par des pros du zinc, rêve d’une reconnaissance planétaire pour ces temples de la convivialité. Elle s’est lancé un défi ambitieux […] : inscrire les bistrots et les terrasses de Paris incarnant un ›art de vivre‹ au patrimoine culturel immatériel de l’humanité.«, in : Vincent Mongaillard : »Les bistrots parisiens bientôt au patrimoine mondial de l’humanité?«, in : Le Parisien, 07.06.2018, URL : www.leparisien.fr/societe/les-bistrots-parisiens-bientot-aupatrimoine-mondial-de-l-humanite-07-06-2018-7758456.php (15.06.2018). Vgl. auch Michaela Wiegel: »Ein Ort des vielsagenden Schweigens«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.2018, URL: https://www.faz.net/aktuell/stil/essen-trinken/pariser-bistros-sollen-unesco-kulturerbewerden-15634255.html (10.07.2019). Die Aufnahme des Bistros in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO soll insbesondere den Rückgang der Besucherzahlen nach den Terroranschlägen im November 2015 aufhalten; dieser Rückgang wird in den Zeitungsberichten insbesondere darauf zurückgeführt, dass die Menschen nach der Arbeit schneller als früher in ihre eigene Wohnung zurückkehren, ohne einen Zwischenstopp im Bistro einzulegen, weil sie Zeit vor ihrem Computer verbringen wollen und eine eigene gute Kaffeemaschine besitzen; vgl. Birgit Holzer: »Das Bistro als aussterbende Art. Pariser Initiative will Cafékultur auf Unesco-Liste setzen lassen«, in: General-Anzeiger Bonn, 12.6.2018, S. 32.
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Le bistrot n’est pas seulement une idée : il a une histoire, une géographie, de la matière à ne savoir qu’en faire, des tables de bois, des comptoirs de zinc, des miroirs, des lustres et de la vaisselle, sans compter ce que l’on y mange et ce que l’on y boit. […] Alors non, décidément non : pas d’inscription au patrimoine, ›immatériel‹ de surcroît, pour le bistrot parisien! Le bistrot n’est ni mort ni moribond. Il n’a pas besoin de figurer au champ d’honneur un tantinet funèbre de l’Unesco. Il est capable survivre non seulement aux assauts de la globalisation alimentaire, mais aussi aux faux succès que lui vaut parfois le prestige mondial de son nom. Sa vitalité dépend de ceux et celles qui le fréquentent ou y travaillent […]. (EBP 93f.) Franz Hessel dagegen spielt in Spazieren in Berlin (1929) darauf an, dass die Atmosphäre eines Cafés durch die Erinnerung an seine ›glorreiche‹ Vergangenheit mit berühmten Gästen entstehe, ein Café also vor allem aus Gründen der Nostalgie eine besondere Atmosphäre und einen »trägen Zauber« ausstrahle.609 Léon-Paul Fargue wiederum betont in seinem 1939 erschienenen Flaneurtext Le Piéton de Paris, dass bestimmte Pariser Cafés aus sich heraus eine so starke Ausstrahlung hätten, dass ihre besondere Atmosphäre unabhängig von der Zeit zu spüren und selbst dann präsent sei, wenn keine Gäste zugegen seien.610 So gingen von Lokalen wie dem Les Deux Magots, dem Café de Flore und der Brasserie Lipp eine ungeheure Kraft und Lebensfreude aus, welche die umliegenden Plätze und Boulevards am Leben erhielten, äquivalent zu staatlichen Ämtern und Behörden, die das gesellschaftliche Leben steuerten.611 Der Grund dafür sei die enge Verbindung der Metropole zu den Cafés, die sich wechselseitig befruchteten: Während die Stadt die zahlende Kundschaft ins Café spült, bietet das Café den Menschen einen Platz innerhalb der urbanen Menschenmassen, wo sie sich zurückziehen und dennoch am Puls des städtischen Lebens sitzen können und zudem von der Terrasse oder einem großen Fenster aus eine gute Aussicht auf die Stadt haben. Diese Textbeispiele zeigen, dass sich Schriftsteller und Schriftstellerinnen wiederholt mit der Atmosphäre in Kaffeehäusern und ähnlichen Lokalen auseinandergesetzt haben und die Meinungen und
609 Vgl. »Man hat mich mitgenommen in das berühmte alte Kaffeehaus. Es soll bei der jüngeren Literatur und Kunst nicht mehr en vogue, soll abgelöst sein von dem helleren, säuberlicher aussehenden ein paar Häuser weiter in dieser selben Herrengasse und von andern. Aber meine Freunde haben hier noch einen Spätnachmittagstisch, von dem sie in die bräunliche Dämmerung rings um wie in eigne Vergangenheit schauen können. […] In der Luft liegt noch etwas von dem trägen Zauber, der einst die Lebenskraft der Insassen betäubte. Man ist immer noch wie in einem Bassin. Oben über den Rauchwolken könnten Luftblasen sein. Und einige Gestalten glaube ich zu sehen, die aus dem tragischen Zeitalter des Cafés stammen.«, in: Franz Hessel: »Spazieren in Berlin«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3, hg. v. Hartmut Vollmer/Bernd Witte, Oldenburg 1999, S. 7-192. S. 252f. 610 Vgl. »Il y a des cafés qui éclatent d’atmosphère, même quand ils sont vides. Des cafés qui sont, par eux-mêmes, de bons rabicoins, et qui se satisfont d’une confortable célébrité de statue ou de paysage. Tel est encore le café Lipp, tout chaud d’âme et d’intimité.«, in : Fargue : Le Piéton de Paris, S. 43. 611 Vgl. »La place en effet vit, respire, palpite et dort par le vertu de trois cafés aussi célèbres aujourd’hui que des institutions d’État : les Deux Magots, le Café de Flore et la Brasserie Lipp, qui ont chacun leurs hauts fonctionnaires, leurs chefs de service et leurs gratte-papier, lesquels peuvent être des romanciers traduits en vingt-six langues, des peintres sans atelier, des critiques sans rubrique ou des ministres sans portefeuille.«, in : Fargue : Le Piéton de Paris, S. 118.
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persönlichen Wahrnehmungen im Hinblick darauf, was die Atmosphäre eines solchen Lokals ausmacht, sehr weit auseinandergehen. Im Folgenden werden drei Cafés vorgestellt, die sich augenscheinlich sehr voneinander unterscheiden: Erstens das Café St. Oberholz, ein sehr modern geführtes und eingerichtetes Berliner Lokal, eröffnet im 21. Jahrhundert, zweitens das schon erwähnte Hawelka, ein altehrwürdiges, noch ursprünglich erhaltenes Kaffeehaus im ersten Wiener Bezirk, eröffnet kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das, was diese beiden nach ihren Inhabern benannten Cafés eint, ist ihre besondere Atmosphäre, die sie inmitten der vielen gleichförmigen Cafés in einer Stadt herausstechen lässt und zu unterschiedlichen Formen medialer Verhandlung inspiriert hat, welche im folgenden Kapitel untersucht werden sollen. Das dritte Café, das Pariser Café Certa, wird durch den phantastischen Blick eines Surrealisten geschildert.
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Atmosphäre der Betriebsamkeit und Nostalgie: Café St. Oberholz, Berlin
Bis unters Dach reihen sich die Notebooks und ihre User. Das gesittete Toben der Berliner Kreativwirtschaft. O du ewiges Online, du ewige Flucht vor der Angestelltenknechtschaft!612 Die in dem zitierten ZEIT-Artikel von Jan Böttcher verwendeten Oxymora (›gesittetes Toben‹, ›ewiges Online‹) deuten bereits auf das dem Berliner Café St. Oberholz inhärente Paradox hin: Man ›tobt‹ sich virtuell in schnelllebigen Netzwerken und Blogs aus, sitzt aber äußerlich ›gesittet‹ im einem modern scheinenden und doch historisch bedeutenden Lokal, welches das ›Ewige‹ bewahrt und das während des dortigen Aufenthalts anstelle des Arbeitgebers gewisse Regeln diktiert. Auch wenn nicht alle Feuilletonartikel über dieses Café so feierlich-poetisch und doch ironisch klingen, wird in den meisten Berichten und Interviews dennoch deutlich, dass es sich hier um ein modernes und gleichzeitig an die Historie anknüpfendes, stets aber polarisierendes Café handelt, welches 2005 von Ansgar Oberholz am Ort der ehemaligen Gastwirtschaft von Carl und
612
Jan Böttcher: »Wir nennen es Jobcenter. Freiheit oder lieber Knechtschaft? Der Audiowalk ›Brave New Work‹ am Rosenthaler Platz in Berlin ist ein Spaziergang in die Tiefenschichten unserer Arbeitswelt.«, in: ZEIT online, 06.07.2014, URL: www.zeit.de/kultur/2014-07/audiowalk-oberholz-berlin-boheme (29.05.2018). Vgl. die Ähnlichkeit zu einem Ausspruch des expressionistischen Malers und Dichters Ludwig Meidner, der das Kaffeehaus 1918 als Paradies bezeichnet und es in seiner Zeit als Frontsoldat, in der es ihm an Malutensilien fehlte, in einer feierlichen Prosahymne laut Helmut Kreuzer als das »emanierende Zentrum weltimmanenter Schöpfungskraft« und »Ort der Erleuchtung« preist, vgl. Kreuzer: Die Boheme, S. 209f. Ludwig Meidner feiert das Café voller Pathos: »Du Café voll Wonne – o zaubrische Helle – du Paradies der Lebendigen. Du Seele der Zeit. Du schwingende Glocke des Diesseits. Du Schule hoher Geister. […] Du Halle, Dom, Luftschiff, Vulkan, Käfig, Gruft und Kluft, Dungloch und Stunde der Beter… Ich flamme auf in deiner tosenden Gluthelle. […] Doch du Lebendiges, du Caféhaus, zuckend, juckend und seltener Freuden gerammelt voll, jagst aus meinem irdischen Gehäus, – diesem grellen kunterbunten Schädel, dieser ozeanischen, mondhellen Gruft – treibst aus meinem kupferroten Dasein die Gebärden des Spleens, Winde der Weltluft, Katafalke der Sehnsucht heraus zu schmetternder Luft. […] Nun sitz ich mitten drin, Pascha der Ewigkeit. Um mich das Tirili der Ewigkeit. Um mich des Mondes Gebrumm; im Nacken das Sternenmeer.«, in: Ludwig Meidner: Im Nacken das Sternenmeer, Leipzig 1918, S. 29f.
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August Aschinger am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte eröffnet wurde und sich seitdem als »Klischee des Medien-Prekariats«613 etabliert hat. In seinem 2012 erschienenen Roman Für hier oder zum Mitnehmen? beschreibt Oberholz die Atmosphäre und Anziehungskraft des alten Lokals, das 1898 eingeweiht wurde und als ›9. Bierquelle‹ zu der Gastronomiekette der aus dem süddeutschen Württemberg nach Berlin eingewanderten Gebrüder Aschinger gehörte. Daneben stellt es einen berühmten Schauplatz in Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) dar. Aufgrund seiner geschichtsträchtigen Bedeutung und geographischen Lage an einem belebten Platz erschien es Oberholz, wie er schreibt, zunächst geradezu prädestiniert zu sein, als Café wiedereröffnet und mühelos in einen angesagten ›Szene-Treff‹ verwandelt zu werden, welcher mit einem zeitgemäßem Konzept ausgestattet sowohl die ›digital natives‹ der Gegenwart als auch ältere Generationen mit Leichtigkeit ansprechen würde. Im Verlauf des Romans wird deutlich, dass dieses Unterfangen nicht so unproblematisch werden würde, wie anfangs gedacht (»Dit alte Aschinger. Der Laden ist Chef hier am Platz. Dit ist immer geloofen und wird immer loofen.«614 ) – denn ein nostalgischer Blick auf ein prominentes und ehemals wirtschaftlich arbeitendes, aber nun nicht mehr existentes Lokal genügt nicht, um im Berlin des 21. Jahrhunderts ein gewinnbringendes Café zu betreiben (vgl. STO 17). Als der Erzähler des Romans, im Folgenden ›Oberholz‹ genannt, die zuvor eine FastFood-Kette beherbergende und nun leer stehende gastronomische Einrichtung am Rosenthaler Platz zum ersten Mal vor sich sieht und begreift, welcher Art von historischem Lokal er gegenübersteht, fühlt er sich von diesem Ort »geküsst« (STO 23) und wie von einem Magneten angezogen; er wird dabei von literarischen Assoziationen überflutet, ohne etwas dagegen unternehmen zu können: ASCHINGER steht dort in alter Schriftart, ASCHINGER 9te BIERQUELLE. In diesem Moment fällt mir alles ein: Franz Biberkopf, Berlin Alexanderplatz, Rosenthaler Platz, Aschinger, Döblin, alles, was meine Deutschlehrerin mir vor Jahren mühevoll eingetrichtert hat. Genau an diesem Ort befinde ich mich! Das Haus ruft mich. […] Meine Tram naht, ich trete schnell an das Haus heran und umarme einen Mauervorsprung am Eckeingang, drücke meine nasse Backe an die nasse Wand. Ich kann nicht sagen warum, es passiert einfach. Und es fühlt sich merkwürdig warm an – Beton, der trocknet, erzeugt Wärme. (STO 9) Im Text wird das Haus personalisiert und erscheint wie ein lebendes Wesen, das ihn anlockt und mit ihm kommuniziert. Die Geschichte rund um Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz sei den Räumen inhärent, berichtet Oberholz 2012 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; so würden die noch vorhandenen originalen Aschinger-Spuren eine Fülle von emotional geleiteten Erinnerungen wachrufen und historische Anknüpfungspunkte bieten: 613
Anne Haeming: »Das Haus war wie eine Konservendose. Das Café St. Oberholz in BerlinMitte«, Interview mit Ansgar Oberholz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2012, URL: www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/st-oberholz-in-berlin-das-haus-war-wie-einekonservendose-11964120.html (02.06.2018). 614 Oberholz: Für hier oder zum Mitnehmen?, S. 228. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »STO« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Das klingt vielleicht etwas pathetisch, aber uns wurde bewusst, was das hier für ein Ort ist. Dass ›St. Oberholz‹ so nach Heimat klingt, ist übrigens eine Reminiszenz an Aschinger. […] Das Erdgeschoss und der erste Stock waren baulich total vergewaltigt. Aber beim Rest sieht man, wie viel Wert die Aschingers auf Repräsentation gelegt haben, angefangen beim hochherrschaftlichen Wendeltreppenhaus. Und in den Räumen, in denen unsere Mietbüros sind, gibt es auf den Böden Intarsien mit Sternen. Alles noch Original, selbst das geschliffene Glas mit den Blumen in den Türen, die Türgriffe und die Kacheln in der Küche. Es berührt mich, wenn ich mir überlege, wer das schon angefasst hat – das alles hat vom Kaiserreich bis heute fünf politische Systeme überlebt. Das Haus war wie eine Konservendose, die man nur öffnen musste.615 Bemerkbar macht sich die dem Lokal innewohnende Atmosphäre für Oberholz vor allem in der historischen, originalgetreuen Einrichtung des Lokals und dem hölzernen Treppenhaus mit »Döblingeländer« (STO 156, vgl. STO 11; 152.) sowie vielen anderen kleinen Details, wie den kunstvollen Intarsien und Bleiglasarbeiten. Dadurch könne eine direkte städtebauliche Verbindung zwischen den gegenwärtigen Gästen und den Menschen, die beispielsweise im Kaiserreich, in der Weimarer Republik oder während der NS-Zeit in Berlin lebten, gezogen werden. Auch im Roman wird der Blick immer wieder auf frühere gastronomische Konzepte der Aschinger-Brüder, an die auf moderne Art angeknüpft wird616 , oder historische Überbleibsel früherer Zeiten gelenkt, die erstaunlicherweise die beiden Weltkriege überlebt hätten, wie zum Beispiel eine »schmale, alte Versorgungstreppe« (STO 43) oder auch »eine Zeitung von 1928«, die bei den Renovierungsarbeiten im Schacht des alten Speisefahrstuhls gefunden wurde (STO 69). Weiterhin vergleicht der Erzähler heutige Einrichtungsdetails mit denen früherer Zeiten und begründet auch die vorgenommenen Veränderungen mit dem historischen Erbe des Hauses, dem er sich als geschichtsbewusster Inhaber verpflichtet fühle: Dort, wo sich das bayerische Rautenmuster befunden hatte, hängen nun schwarze Tafeln. […] Das sieht mehr nach Bioladen als nach Café der Boheme der zwanziger Jahre aus. Tausende Menschen sehen diese Tafeln tagtäglich und werden nicht davon angezogen. Hier muss ein Bruch her, etwas Ungewöhnliches! Etwas, das Döblin im Alexanderplatz erwähnt hätte, so wie er die ewigen Baustellen am Platz erwähnte […]. Franz Biberkopf ist hier mehrmals untergegangen, und Burger King hat es nicht geschafft. Diesen Fluch werde ich auflösen. Ich fühle mich dem Erbe des Hauses verpflichtet, als schuldete ich ihm etwas, als schuldete ich dem Rosenthaler Platz etwas. (STO 26) Besonders betont er die unregelmäßige Eigentümlichkeit der verschiedenen Epochen auf sich vereinenden Hausfassade, die Passanten und Passantinnen aufmerken lasse, weil sich das Ecklokal seit jeher von den anderen Berliner Gebäuden abgehoben habe. Daher könne die Fassade des St. Oberholz nicht nur äußerlich für ein neues gastrono-
615 Haeming: »Das Haus war wie eine Konservendose«. 616 Vgl. »Wie Aschingers das Brot, stelle ich den Gästen drahtloses Internet und Stromversorgung kostenlos zur Verfügung.« (STO 34)
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misches Konzept werben, sondern auch die Atmosphäre im Inneren beeinflussen.617 Oberholz will daher versuchen, die Fassade als Besuchermagnet zu verwenden, und macht bei seinen Überlegungen immer wieder intertextuelle Anleihen bei Döblins Alexanderplatz: Wie könnte ich an den alten Erfolg anknüpfen? Wie ließe sich diese prominente, gut sichtbare Fassade nutzen, damit die Menschen magisch angezogen würden – wie vor über hundert Jahren vom bayerischen Rautenmuster? Wie könnte ich Franz Biberkopf überzeugen, den Platz zu überqueren, um beim Bier in meiner Kneipe auf Mieze zu warten? (STO 24) Zusammenfassend besteht die besondere Atmosphäre im Café St. Oberholz dem Roman zufolge darin, dass in diesem Café Tradition und Geschichte auf ein völlig modernes gastronomisches Konzept treffen, in dem sich die Kundinnen und Kunden im Sinne der »Selbstbestimmung des Gastes« eigenständig bedienen (STO 23), ein »eigenwilliges Speisenkonzept« (STO 41) und nachhaltige Getränke angeboten werden618 und die Gäste genügend Steckdosen vorfinden, um ihren Laptop aufladen zu können.619 Gleichzeitig ist die Vergangenheit einerseits durch die historische Architektur und die Anknüpfungspunkte an Döblins Berlin und seine Zeitgenossen und -genossinnen permanent spürbar: Genauso wie Döblin und sein Kumpel George Grosz. Die Tatsache, dass deren Hände das gleiche Treppengeländer berührten, an dem ich täglich hoch und runter laufe, finde ich geradezu magisch. […] Es war für mich reizvoll, an die alte Geschichte des Hauses anzuknüpfen und was Neues zu machen, ohne das Alte zu verraten. […] Als meine Geschäftspartnerin und ich das Haus gesehen haben, war es tatsächlich wie ein Ruf, wie ein Rausch. Je mehr wir über die Geschichte erfuhren, umso mehr merkten wir, was
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Vgl. »Auf den ersten Blick ist das Eckgebäude keine Schönheit, aber ungewöhnlich. Vor dem Zweiten Weltkrieg war es sicherlich das auffälligste Haus am Platz. Auf jeder Etage sind die Balkone und Fenster anders angeordnet. Die Fenster im oberen Stockwerk laufen spitz nach oben zu, sie könnten problemlos in einer Moschee verbaut werden. Damals besaß die Fassade überbordende Stuckarbeiten, auf der Ecke ein Türmchen. Auf dem Dach neben dem Türmchen befand sich ein Glasaufsatz, in dem ein Fotoatelier betrieben wurde. Heute fehlen sämtliche Stuckverzierungen, das Türmchen und das Fotoatelier, aber die ungewöhnliche Rhythmik der Fassade ist noch zu spüren. Die Außenwände des gesamten Erdgeschosses waren ursprünglich mit weiß-blauen Rauten geschmückt. Die Gebrüder Aschinger kamen aus dem Württembergischen und brachten ein neues Bierkonzept mit nach Berlin. Sie waren die ersten, die mehrere Biersorten in einer Lokalität anboten.« (STO 24) 618 Vgl. Oberholz hat sich dagegen entschieden, die Produkte eines großen Erfrischungsgetränkeherstellers zu verkaufen. (STO 27) 619 Vgl. »Das macht kein anderer Gastronom in Berlin. Vielleicht aus gutem Grund, denke ich mir mittlerweile. Während der Renovierung fragte der Elektriker mehrmals nach, ob ich mir sicher sei, im Gastraum im Abstand weniger Meter jeweils eine Steckdose setzen zu wollen. Als ich ihm erklärte, dass die Steckdosen für tragbare Computer sein, deren Akkus aufgeladen werden müssten, fragt er ungläubig nach, ob ich ein Büro oder ein Café eröffnen wolle.« (STO 34)
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
für ein abgefahrener Ort das ist. Man sollte die Erinnerungen dieses Ortes unbedingt respektieren und nutzen.620 So bezeichnet Jan Böttcher dieses Café als ›lebendes Paradox‹, in dem man »sich mittendrin […] fühlen und gleichzeitig historisiert, ja mythisiert« werden könne: »es rührt einen an, dass der Rosenthaler Platz schon das geheime Zentrum in Döblins Berlin Alexanderplatz war, weil sich die Gleichzeitigkeit in Berlin bis heute nirgendwo schöner collagieren lässt als hier.«621 Die Metapher der Collage, in der viele unterschiedliche Bilder und Schnipsel übereinander kleben und nebeneinander existieren, verdeutlicht die Gegensätzlichkeit und Parallelität von historischer Fassade und modernem Innendesign, hungrigen, eilig essenden Arbeitern und Angestellten der 1920er Jahre sowie versunken tippenden Webdesignern und Bloggerinnen des virtuellen 21. Jahrhunderts, Aschingers Erbsensuppe mit kostenloser ›Schrippe‹ und Ziegenkäse-Milchfladenbrot mit Chai Latte. Diese Gleichzeitigkeit von Geschichte und Zukunft, Tradition und Moderne stellt die Quintessenz der Atmosphäre im St. Oberholz dar. Gerade dieses sichtbare Konglomerat der verschiedenen Zeiten und Generationen und der phantasievolle, aber bewusste Umgang damit sei es, was das St. Oberholz ausmache, berichtet der Inhaber 2012 im Interview. Als er danach gefragt wird, ob er nostalgisch sei, weil er im Roman zuweilen antiquierte Wörter wie ›Ferngespräch‹ oder ›die Elektrische‹ benutze und auf der Speisekarte auch den Berliner Dialekt einbringe, antwortet er, dass Vergangenheit und Gegenwart für ihn immer nur gleichzeitig funktionieren würden: Aber ich finde es wichtig zu wissen, was war und wo was herkommt, um verantwortungsvoll und kreativ damit umgehen zu können. Im Café nutzen wir auch eher altmodische Begriffe. ›Gaststätte St. Oberholz‹ ist die hochoffizielle Bezeichnung, und auf der Karte haben wir Molle mit Kompott, eines unserer Sandwiches heißt Laubenpieperstulle. Und inmitten von all dem sitzt die digitale Boheme und die gerade angesagteste Start-Up-Szene der Welt.622 Andererseits bahnt sich die Vergangenheit auch ihren Weg in die Gegenwart in einigen ›transzendenten‹ Zwischenfällen, die durch die verwinkelte architektonische Anlage des Gebäudes ausgelöst und von älteren Gästen angefeuert werden. So erzählt Oberholz im Roman beispielsweise die Anekdote, wie seine spanische Reinigungskraft aufgeregt von der Geistererscheinung berichtet, die ihr im Keller des Cafés begegnet sei. Dieser Geist soll zurückgehen auf eine Putzhilfe, die zur Zeit des NS-Regimes im Keller des Cafés umgekommen sei: ›Ich putzen Keller und ich denken, irgendwas sein komisch. Gleich so ein Gefühl von Phantasma, Gefühl von meine Oma! […] Ich gucke hier, und da steht Frau mit Haut blanco, Kittel blanco, und eine Kerze in Hand und gucken so von unten.‹ (STO 67)
620 Barbara Bollwahn: »Berlin und ich sind langsam quitt«, in: Spiegel Online, 12.11.2012, URL: www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/interview-mit-dem-chef-des-cafes-st-oberholz-ansgaroberholz-a-866182.html (29.05.2018). 621 Böttcher: »Wir nennen es Jobcenter«. 622 Bollwahn: »Berlin und ich sind langsam quitt«.
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In der Folge ist seine chaotische Belegschaft nicht nur davon überzeugt, dass es im Café spuke623 , sondern auch davon, dass eine Geisteraustreibung stattfinden müsse, um den eindeutigen »Beweise[n] für paranormale Aktivitäten« nachzugehen und das Haus seinen Frieden finden zu lassen: »Ich kann dir nur mit allem nötigen Nachdruck empfehlen, den Geist der Naziputzfrau schnellstmöglich zu erlösen und endgültig ins Jenseits zu schicken.«, teilt das Medium Aurinia dem Chef mit (STO 117). Weil Oberholz erst zögert, erklärt ihm seine Berliner Stammkundschaft, was es mit dem Spuk auf sich habe und dass es dringend nötig sei, »dieses Gebäude von einem uralten Multi-Fluch zu befreien« (STO 168).624 Nach der erfolgreichen Durchführung der ›Geisteraustreibung‹ und der ›Auflösung des Fluchs‹ (STO 232) sowie anderen im Rahmen der Café-Eröffnung bestandenen ›Abenteuern‹ gewinnt Oberholz im weiteren Verlauf des Romans das Gefühl, mit steigender Gastronomie-Erfahrung wirklich zum Chef des Cafés, des Personals und des Hauses selbst geworden zu sein. Dieses Unterfangen droht ihm zuvor zuweilen zu entgleiten, so dass er sich wie eine ›Flipperkugel‹ fühlt, mit der im ›Flipperautomaten‹ des Cafés willenlos gespielt wird (vgl. STO 109, 153, 200, 204). Nun scheint sich dieses Gefühl umgekehrt zu haben: Ich umarme den Mauervorsprung des barrierefreien Eckeingangs. Ich kann nicht sagen, warum, es passiert einfach. Das alte Aschinger! Ist immer gelaufen und wird immer laufen. Ich werde nicht mehr die polierte Stahlkugel sein, ich will der große Spieler sein. Im alten, grauen DDR-Spritzputz spüre ich zwei Flipperknöpfe unter meinen Fingern. (STO 236) So endet der Roman mit dem erneuten Verweis auf mehrere Generationen und Berliner Epochen: Während die Kaiserzeit und die Weimarer Republik durch die Erwähnung von Aschingers Lokal zum Leben erweckt werden, ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und während der Deutschen Demokratischen Republik durch den Putz der Fassade präsent; zuletzt wird durch die Barrierefreiheit des Eckeingangs die Gegenwart symbolisiert. All diese Elemente sind gleichzeitig im Café St. Oberholz enthalten und stehen für seinen Charakter. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Oberholzʼ Roman zwar aufgrund seiner Länge und den in Kapitel IV. festgelegten, hier aber nicht vorhandenen Merkmalen kaum als ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden kann. Jedoch spiegelt der Roman in Kombination mit verschiedenen einschlägigen Zeitungsartikeln die typische Atmosphäre des St. Oberholz wider und kann so eine Antwort auf die Frage geben, was die Atmosphäre laut der Texte in diesem Café ausmacht. Der Roman versucht die Renaissance einer vielleicht verloren geglaubten Kaffeehauskultur im 21. Jahrhundert zu beschreiben, welche durch die Digitalisierung der Arbeitswelt vor allem für freiberuflich arbeitende Menschen wieder eine größere Bedeutung gewinnt, beispielsweise durch soge623 Vgl. »Also, es ist eindeutig, dass hier eine alte Seele nicht zur Ruhe kommt.« (STO 101) 624 Vgl. »›Der weiß wohl nicht, was hier schon alles passiert ist […].‹ Unwillkürlich weckt das meine Neugierde, gleichzeitig überfällt mich ein leichtes Gruseln. […] ›Also pass mal uff, Kleener. Dieset Haus hier, deine Bude, dein Kaffeeboot, oder wie auch immer. Das hat eine lange und aufregende Geschichte hinter sich. Hier hat sich so einiges abgespielt. […] Zu Nazizeiten ist hier mal eine Putzfrau während der Nachtschicht im Keller verstorben.‹« (STO 72)
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
nannte ›Coworking-Spaces‹625 , wie es sie im Obergeschoss über dem Café St. Oberholz gibt.626 Dies liegt nicht ausschließlich daran, dass heute viele Menschen als freie Mitarbeitende ohne feste Anstellung und Arbeitszeiten ihr Geld verdienen, sondern auch daran, dass zwischenmenschliche Kommunikation vielfach über soziale Netzwerke erfolgt. Weil man somit oft nur noch virtuell miteinander verbunden ist und keine ›direkten‹ Kollegen und Kolleginnen oder Vorgesetzte hat, sehnen sich viele nach einem zwar distanzierten, doch freundlichen Kontakt zu ›wirklichen‹ Menschen und etwas Konstantem wie einem festen Platz zum Arbeiten. Diese Bedürfnisse der Digitalen Bohème, wie Sascha Lobo und Holm Friebe die heutige junge Generation im Untertitel ihres 2006 erschienen Buchs Wir nennen es Arbeit nennen, können in einem Café realisiert werden, wo die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr zerfließen. Lobo und Friebe, die sich in ihrem Buch zum Sprachrohr der Digitalen Bohème ernannt und ihren eigenen Arbeitsplatz im Berliner Café Liebling eingerichtet haben627 , erklären eine unbefristete Anstellung zum nicht mehr zeitgemäßen Umgang mit Arbeit628 , das freie Arbeiten im Café dagegen zur einzig zukunftsträchtigen Möglichkeit, sein Glück auf dem heutigen Arbeitsmarkt zu machen: Die digitale Bohème macht jeden Ort zum ›Third Place‹, indem sie die Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit grundsätzlich verwischt. Dennoch sind es auch heute wieder die Cafés und Clubs, die als Neuauflage der Kaffeehäuser und Salons aus den Anfangstagen der europäischen Bohème zu den bevorzugten Arbeitsstätten der digitalen Bohème werden. Was gelegentlich bereits abfällig als ›Cappuccino-Kapitalismus‹ geschmäht wird, ist zu einem Gesellschaftsphänomen geworden: Menschen sitzen mit ihren Laptops ganztägig im Café und nennen es Arbeit.629 Auffällig ist hier, auf welche Weise Lobo und Friebe den Begriff des ›Third Place‹ verwenden, da sie anders als Ray Oldenburg davon ausgehen, dass dort Arbeit und Freizeit vermengt werden, wohingegen Oldenburg einen solchen Ort als Schwelle zwischen der Arbeit und der Ankunft im Zuhause begreift.630 Grundsätzlich halten die Autoren junge Menschen heute trotz Krisenzeiten für glücklicher und vor allem freier als frühere Generationen, weil eigentlich alles möglich sei und man die Chance habe, sein Schicksal selbst zu bestimmen und so zu »arbeiten, wie man leben will«631 . In dieser Situation ermögliche das Kaffeehaus seinen Stammgästen nicht nur Zerstreuung vom Büro oder heimischen Arbeitsplatz, sondern vermittle ihnen auch ein Gefühl von Sicherheit, Gemeinsamkeit und das Vorhanden-
625 Vgl. das Interview mit Tobias Kremkau, in: Hunke: »Es kommt Dynamik in die Arbeitswelt«. 626 Vgl. die Homepage des Cafés und ›Coworking-Spaces‹ des St. Oberholz: URL: http://sanktoberholz.de/coworking/ (12.09.2019). 627 Philipp Oehmke/Mathieu von Rohr/Sandra Schulz: »Die Krisenprofis«, in: Der Spiegel 25 (2009), S. 48-59, S. 58. 628 Vgl. Holm Friebe/Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, München 2006, S. 14. 629 Friebe/Lobo: Wir nennen es Arbeit, S. 150. 630 Vgl. Oldenburg: The Great Good Place, S. 16. 631 Friebe/Lobo: Wir nennen es Arbeit, S. 15.
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sein einer Identität, denn dieser Ort ›erde‹ die Menschen und verbinde sie über ihre bloße Anwesenheit hinaus im Sinne eines »Ad-hoc-Netzwerkes«632 : Zwischen den Arbeitenden ist eine unsichtbare Verbindung zu spüren, eine gemeinsame, supranationale, globale Zugehörigkeit, die sich zum Beispiel darin äußert, dass man sich oft zunächst auf Englisch anspricht. […] Wie den Ansprachekode und die iTunes-Playlist gibt es eine Vielzahl von kleinen, sichtbaren und unsichtbaren, technischen und nichttechnischen Verbindungen zwischen Menschen an Orten wie dem St. Oberholz.633 Auch in dieser Beschreibung des Cafés klingt die bereits bei Colin Ellard erwähnte ›mystische Einheit‹634 an, die fremde Menschen zusammenbringt. Daneben wirke auch die lang zurückreichende Vergangenheit des Café St. Oberholz als Verbindungsglied zwischen den Menschen, wie Lobo und Friebe im Kapitel Place does matter ausführen, weil die »Magie des Ortes« sowohl für die heutige ›digitale‹ als auch die vergangene ›analoge‹ Bohème bedeutsam und Teil der Atmosphäre sei: Man könnte auf den Gedanken verfallen, die inspirierende Atmosphäre werde nicht allein von den Anwesenden erzeugt, sondern speise sich aus dem Ort selbst und seiner Geschichte. Als hätte der Ort ein Gedächtnis, das ihn für diese Nutzung prädestiniert. […] In den 1920er Jahren aber war hier eines der Aschinger-Lokale – und zwar genau das, in dem der Bohème-Schriftsteller Alfred Döblin sich häufiger aufhielt und zum Teil auch Berlin Alexanderplatz schrieb […]. Obwohl die wenigsten Besucher heute um diese Geschichte wissen, scheint es, als sei hier der Ort ein geheimes Bindeglied, das die analoge Boheme der Vorkriegszeit mit der digitalen verbindet.635 Wolfgang Büscher dagegen empfindet das Café St. Oberholz in seinem Essay »Der Schaum der Tage« (2009), in dem er der ›Kaffeehauskultur des 21. Jahrhunderts‹ nachgeht und den er vorgeblich im St. Oberholz schreibt, trotz seines historischen Erbes nicht als seriöses Kaffeehaus, das sich von altehrwürdigen Kaffeehäusern durch seine moderne, ungemütliche Einrichtung und der damit einhergehenden ›kühlen, sauberen‹ Atmosphäre ohne ›Ecken und Kanten‹ unterscheide: Ein ernst zu nehmendes Kaffeehaus ist stolz darauf, älter und schäbiger zu sein als man selbst. Es hat rissige Lederbezüge und Flecken im Marmor, und das Silber weist jene angenehme Oberflächenmürbe auf, die langer Gebrauch verleiht. Es gibt also […] in Berlin kein im Sinne dieser Definition ernst zu nehmendes Kaffeehaus. Nach diesen drei Sätzen könnte ich den Laptop zuklappen. Hier ist kein Leder, kein Marmor, kein Silber, hier ist es weder schäbig noch alt. Hier könnte der Bericht über Berliner Kaffeehäuser enden. Könnte er, gäbe es nicht jene eigenartige Subspezies großstädtischer Evolution – das Berliner Szenecafé. (SdT 16)
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Friebe/Lobo: Wir nennen es Arbeit, S. 152. Friebe/Lobo: Wir nennen es Arbeit, S. 150f. Vgl. Ellard: Places of the Heart, S. 155f. Friebe/Lobo: Wir nennen es Arbeit, S. 151.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Das Oberholz sei insgesamt eine der »sympathischeren Mutationen der Gattung Berliner Szene-Café«. Diese ›Gattung‹ besteht Büscher zufolge aus einer ›szenigen Adresse‹, einer Mischung aus »Stehimbisskühle mit der Wärme von blankem Holz«; dazu müsse man »die momentan üblichen Stullen (Ziegenkäse-Focaccia), die unvermeidliche Latte, freien WLAN-Zugang für alle« anbieten und »das Ganze mit einer (aber nur schwach!) ironisierten Prise Heimat« würzen – dann habe man das Café St. Oberholz »in seiner ganzen Berlin-Mitte-Pracht.« (SdT 16) Die von Büscher mit spöttischem Unterton aufgezählten Bestandteile der ›Szenecafé‹-Atmosphäre sowie seine Beschreibung des ›Idealgastes‹ eines solchen Lokals verweisen darauf, dass er diese Cafés für austauschbar und wenig originell hält: Ein junger Herr nimmt nebenan Platz, gut gekleidet, modischer Vollbart, Brille mit zentimeterdicken schwarzen Bügeln, weißer Apple in weißer Laptoptasche. Er ist es. Er ist der Idealgast des St. Oberholz, ich kenne ihn von den Webseiten, die das Café umschwirren wie Gerüchte eine schöne Frau. (SdT 16) Er setzt diese Lokale damit in Kontrast zu Cafés und Lokalen, die seiner Meinung nach mit ›echter‹ Atmosphäre aufwarten und nicht nur eine bestimmte ›Szene‹ willkommen heißen, sondern die ganze Gesellschaft einer Stadt, wie die Cafébar in der römischen Via delle Grazie.636 Sein Vorwurf der Austauschbarkeit und Uniformität der Berliner Cafés wiegt umso schwerer, wenn man die Aussagen Ansgar Oberholzʼ zu den Plänen seiner Inneneinrichtung und seines Speisenkonzeptes betrachtet (vgl. STO 19ff.), die er nicht nur bewusst, sondern auch gerade im Hinblick auf die Unterscheidbarkeit seines Cafés realisiert hat. Auch der Name St. Oberholz soll eine Heimatassoziation hervorrufen sowie die Einförmigkeit durchbrechen und sei darüber hinaus eine beabsichtigte »Reminiszenz an Aschinger«.637 In Büschers Text sind die hier definierten Merkmale der ›Kaffeehausliteratur‹ deutlich zu verzeichnen. Beispielsweise verwendet er einen höchst ironischen, poetischen Schreibstil, der zwischen Literatur und Journalismus changiert. Er nimmt das Café St. Oberholz in seinem Text zum Gegenstand, beschreibt die Atmosphäre darin und vergleicht es mit anderen Kaffeehäusern beziehungsweise anderen Kaffeehaus-Konzepten. Dabei macht er deutlich, dass er sich im Moment des Schreibens im Café St. Oberholz befindet – er inszeniert sich also als Schreibender im Kaffeehaus, der wiederum die Inszenierung der Anderen beobachtet und kommentiert. Insbesondere analysiert er aber die im Café beheimateten Sinneswahrnehmungen, die vor allem die visuellen und auditiven Reize betreffen: So erwähnt er die neugierigen Blicke der Gäste, die man am 636 Vgl. »Auch das heutige Berlin kennt solche Kaffeehaus-Grenzen, aber sie verlaufen anders. Man könnte es generationelle Apartheid nennen. In anderen Städten trifft man auf eine natürliche Mischung aus Jung und Alt, es mischen sich Milieus und Klassen. In der Cafébar in der Via delle Grazie in Rom etwa, ein paar Schritte vom Vatikan, ist es allein eine Frage der Tageszeit, wann römische Müllmänner und wann römische Kardinäle am Tresen stehen. Dergleichen ist in Berlin undenkbar, nicht nur wegen fehlender Kardinäle. Man ist hier unter sich, will unter sich sein und achtet darauf, dass es so bleibt. Szenebewusste Kellner und ihre Gäste betrachten es als Verfallssignal, wenn die Segregation aufweicht, dann zieht die Szene weiter.« (SdT 18) Vgl. auch das Kapitel V.2.1 dieser Arbeit. 637 Haeming: »Das Haus war wie eine Konservendose«.
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eigenen Körper spüre und die Ambivalenz, in der man sich befinde, die zwischen Neugierde, Öffentlichkeit, Inszenierung und privater Abgeschiedenheit schwankt. Verstärkt wird dieser Kontrast noch durch das Oszillieren zwischen der leiblichen Anwesenheit eines Gastes im Café und dessen virtuellem Arbeiten und Kommunizieren am Laptop. Der Autor verdeutlicht diese Situation durch einen mündlichen Duktus im Text, der die folgende Stelle wie einen Monolog wirken lässt: Ich will nicht hinglotzen. Ich verabscheue es, andere Leute zu begaffen oder begafft zu werden. Aber nun sitze ich hier seit gut einer Stunde und spüre, wie die Moral sinkt. Was, zum Teufel, tut der kreative Herr am Nebentisch? Das wüsste ich gern. Feilt er am Entwurf eines neuen Berlin-Logos? Am Sound eines Kurzfilms? Am ersten Satz seines ersten Romans? Etwas dieser Art wird es wohl sein, zwitschert der Mythos von St. Oberholz. […] Ich habe hingeschielt. Mehrmals. Über alle erreichbaren Schultern, ich weiß jetzt Bescheid. (SdT 16) Büscher erwähnt auch die Geräusche, die man im Café St. Oberholz im Inneren und von der Straße kommend wahrnimmt und verbindet dies mit einer Metaphorik von Luft und Wasser: So brausen die Motorengeräusche der Espressomaschine und die Menschen wie an- und abschwellende Wellen durch das Café, die ›Sphären‹ von Online und Offline ›fließen‹ grenzenlos ineinander: Geredet wird kaum. Menschen um die 30 treten ein, bedienten sich selbst, schlagen ihre Laptops auf, schauen lange hinein, schlagen sie wieder zu, gehen. Was tun sie? Und wenn ja – was ist Arbeit, was privat? Das ist eine Frage von gestern. Die Sphären fließen im Café St. WLAN. Das Private ist öffentlich. Arbeit ist öffentlich. Es ist ein bisschen wie FKK-Strand. Alle sind nackt, aber man schaut nicht hin. Alle sind privat online, aber man schielt nicht auf den Schirm nebenan. (SdT 16) Die Intentionen, Tätigkeiten und Bedürfnisse der Menschen sind unbeständig und flatterhaft, bewegen sich wie eine Fahne im Wind. Dies bildet Büscher sprachlich durch die stakkatohafte Aneinanderreihung der Sätze ab, welche eine einander ähnliche Struktur aufweisen und jeweils mit dem Verb beginnen, um die Betonung auf die Aktivität und Bewegung zu legen, im Gegensatz zu Ruhe und Stillstand: Ein Brausen ist in der Luft, das Aufbrausen der Espressomaschine, in immer neuen Wellen braust es durch das Café. Und in den großen Fenstern läuft der Berlin-MitteDauerclip. Jault einer Ambulanz vorüber. Ziehen Berlin-Mitte-Touristen vorbei. Cruist der Wagen einer Spedition durchs Bild […] Alles flattert hier. Flattert zwischen Ernst und Zerstreuung hin und her: Tabellen, Webseiten, Texte – Facebook, Mails, Fotos. (SdT 16) Dabei fragt Büscher sich zweifelnd, ob das Arbeiten im Café eine Form von postmoderner Kunst sei, die nur er selbst nicht ganz verstehe: »Ist denn alles Kunst geworden? Sind wir alle gefangen im Traum von St. Joseph Beuys? Und war dessen richtiger Name nicht Professor Beuys-Oberholz?« (SdT 16) Der ironische Tonfall führt das Konzept des Arbeitens im Café ad absurdum und zeigt auf, dass die Produktion von Kunst, Inspiration und Kommunikation im Kaffeehaus nur wirklich geschehen kann, wenn es nicht darum geht, sich als ernsthaft arbeitender Gast im Café zu inszenieren, sondern
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
darum, unterschiedliche Menschen zufällig zu treffen oder zu beobachten; dabei helfen vermutlich weder Laptop und Kopfhörer noch die Anwesenheit einer ›Szene‹, die keine gesellschaftliche Mischung zulässt und somit das ›Leben‹ ausschließt.
V.4.2.
Atmosphäre der Behaglichkeit: Sinnesreize im Café Hawelka, Wien
Ganz anders als im modern-digitalen Ambiente des St. Oberholz zeigt sich die gemischte Gesellschaft in einem traditionellen, alteingesessenen französischen Lokal638 wie dem Pariser Bouillon Julien, in dem es laut der Stadtführerin Claudia Semmel noch heute als höchst deplaciert und unerwünscht gilt, zur Mittagszeit essend vor einem Laptop zu sitzen.639 Ein weiteres Beispiel ist das altmodisch-gemütliche Café Hawelka in Wien, welches 1945 direkt nach dem Krieg von Leopold Hawelka und seiner Frau Josefine wiedereröffnet wurde und in dem der Chef selbst, der »Dirigent des Ortes«640 , die Gäste lange Jahre persönlich an den Tischen platzierte: Das Wirtsehepaar wusste mit traumwandlerischer Sicherheit, wer zu wem passte und welchen Gast man wie zu behandeln hatte. Und sie wussten, dass Stammgäste Veränderungen nicht lieben, weswegen der Raum mit seinem Inventar, zu dem noch echte Thonet-Stühle gehören, im Lauf der Zeit zum Denkmal Wiener Kaffeehauskultur wurde. Der malende Kunstliebhaber Hawelka hat auch Bilder seiner Künstler-Gäste an der Wand hängen.641 Die unverkennbaren Charakteristika dieses Cafés, das mittlerweile in dritter Generation geführt wird, werden in zahlreichen Zeitungsartikeln, Essays und Gedichten sowie
638 Vgl. »On l’aime pour son jambon-beurre, son patron et ses serveurs gouailleurs, ses clients en tenue d’éboueur ou de manager… […] C’est le symbole d’un creuset social, d’un melting-pot à la française qui existe depuis des siècles. Dans cet univers ouvert, empreint de culture et de sympathie, tout le monde se réunit au comptoir, l’ouvrier comme le chef d’entreprise, le Parisien comme le nonParisien«, in : Mongaillard : »Les bistrots parisiens bientôt au patrimoine mondial de l’humanité?«. 639 Vgl. Claudia Semmel: »Claudia’s Secret Paris«, URL: http://claudiassecretparis.fr/?lang=de (12.09.2019); vgl. auch Holzer: »Das Bistro als aussterbende Art«, S. 32. 640 Vgl. »Früher war er der Dirigent des Ortes, wies die Plätze zu, setzte schon einmal in der drangvollen Enge des kleinen Gastraumes Gäste an schon besetzten Tischen zusammen, was normalerweise in Wien als ganz unmöglich gilt. Autoritäten wie Hawelka durften das, haben so Zufallsbekanntschaften von einiger Tragfähigkeit gestiftet.«, in: Michael Frank: »Monument mit Melange«, in: Süddeutsche Zeitung, 30.12.2011, URL: www.sueddeutsche.de/leben/zum-tod-von-leopoldhawelka-monument-mit-melange-1.1247459 (17.06.2018). Vgl. auch »Mit großem Überblick wies der gebürtige Niederösterreicher den Besuchern Sitzplätze zu, setzte sie auch zu anderen an den Tisch und sorgte damit für so manche interessante Begegnung, manches nette Gespräch. Ob das nun Künstler waren, die in den 60ern und 70ern das Hawelka als Refugium entdeckt hatten, oder Touristen, die Mitte der 80er die Künstler als Gäste ablösten. Für den Mann mit Fliege, Sakko und einem Tuch über den Ärmel geworfen machte all das keinen Unterschied.« in: Erich Kocina: »Wiens berühmtester Cafetier ist tot«, in: Die Presse, 30.12.2011, URL: https://diepresse.com/home/leben/ mensch/720257/Wiens-beruehmtester-Cafetier-ist-tot (04.06.2018). 641 Martin Thoemmes: »Leopold Hawelka. Buchteln für das bunte Völkchen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.04.2011, S. 32.
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Text- und Bildbänden642 beschrieben, gerühmt und vor allem nach dem Tod Leopold Hawelkas nostalgisch verklärt – letzteres betrifft insbesondere die vorherrschende Meinung, dass sich im Hawelka niemals etwas verändere, nichts je modernisiert oder ausgebessert worden sei, was das Hawelka Heimito von Doderer zufolge auch im Ausland bekannt gemacht habe: Er ist bereits in London bekannt und es treffen auch Leute aus Paris und den Niederlanden im ›Café Hawelka‹ ein. Letzten Endes eigentlich nur deshalb, weil Herr Hawelka nicht renoviert. Chromnickel und nierenförmige Tische würden die Gäste des ›Café Hawelka‹ nach allen Richtungen auseinander fliehen lassen. (MC) Dieser positiv konnotierte ›Verfall‹ des Lokals und sein scheinbar immer gleichbleibendes Erscheinungsbild bedeutet für viele Gäste die »Identität mit dem eigenen Lebensgefühl«, wie Herbert Fux in einem Essay über das Hawelka schreibt. So wurde das Café insbesondere in der Nachkriegszeit zu einer »Insel des Unkonventionellen, Treffpunkt der Lebenskünstler, inmitten eines bürgerlichen, ja spießbürgerlichen Wiens«: Keine Renovierung des Lokals, Vertrautheit mit den abgenützten Möbeln und Vorhängen, man kann sich fallen lassen, das Aussehen des Cafés verpflichtet zu nichts, übt keinen Druck, keinen Zwang aus. […] Das Café heute: noch genauso wie vor fünfundzwanzig Jahren, es braucht keine Renovierung und Wiedereröffnungen wie andere Lokale, es ist zeitlos und zieht immer wieder Menschen mit ähnlicher Lebenseinstellung an.643 In den Texten über das Kaffeehaus wird beschrieben, wie der verwahrlost erscheinende, zerschlissene Zustand des Mobiliars für ein Gefühl von Vertrautheit, Gemütlichkeit und Kontinuität gesorgt habe. Dieser Eindruck trüge aber, da auch das Hawelka de facto nicht umhin gekommen sei, im Inneren gelegentlich sehr dezent und auf kaum merkliche Weise zu restaurieren – denn allein das nicht zu umgehende Rauchverbot habe in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass Sanierungen sowie Umbauten fällig wurden und althergebrachte Traditionen sich ändern mussten.644 Jedoch habe man die treuen Gäste in dem Glauben belassen, dass man nicht renoviere, weil dies zur »rauchgebeizten Atmosphäre« des Hawelka dazugehöre.645 Das Hawelka als »selbstverständliche Basti642 Vgl. Franz Hubmann (Hg.): Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien 1982. 643 Herbert Fux: »Hawelka 1953-1965«, S. 93. 644 Vgl. »Doch seit dem Dezember 1945 lief das Hawelka ganz selbstverständlich Tag für Tag. Und Hawelka war immer dabei. Erst in den letzten Jahren musste dann doch die eine oder andere Tradition weichen: Etwa die Rauchschwaden, die viel vom Flair des Lokals ausmachten. Die Gesetze zum Nichtraucherschutz sorgten dafür, dass im Café heute klare Sicht herrscht. […] Aber auch dafür, dass eine weitere Tradition geopfert werden musste: Weil die rauchenden Gäste ausblieben, wird der Dienstag nicht mehr als Ruhetag gehalten, ist das Café sieben Tage die Woche geöffnet.«, in: Kocina: »Wiens berühmtester Cafetier ist tot«. 645 Vgl. »Die neue Rauchergesetzgebung suchte man – vergeblich – mit dem Trick zu umgehen, das Hawelka unter Denkmalschutz zu stellen, samt der Qualmerei. Das Café verdankte seinen Charme auch der rauchgebeizten Atmosphäre. Eine Herausforderung für die Wirtsleute bestand darin, das Haus immer mal wieder zu renovieren, ohne ihm die verqualmte Kaschemmen-Aura zu rauben.«, in: Frank: »Monument mit Melange«.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
on«646 in der Wiener Innenstadt hat sich daher optisch bis heute kaum verändert, so dass der Gast auch nach langer Abwesenheit den Eindruck hat, an einen vertrauten Ort zurückzukehren, der ihm einen kontinuierlich existierenden, ruhigen Punkt innerhalb der schnelllebigen Großstadt bietet. Deutlich wird diese Facette in Hubert Aratyms lyrischem Text »Ein zweites Zuhause« von 1977, in dem das Hawelka geradezu angebetet und auch der Aspekt der Großstadt-Einsamkeit angesprochen wird: Sobald du auch in langer Abwesenheit an diese deine Heimatstadt denkst, mit Angst und Furcht und kritischer Sehnsucht, etwas Heimweh, ist es nicht das Hawelka, dieser in der Welt unvergleichliche Ort, der das Zurückkommen erleichtert? – denn ob du drei Wochen oder drei Jahre weg warst, hier bleibt alles (fast) unverändert, immobil, es ist ein zweites Zuhause auch der Einsamen. (EzZ) Neben der Unveränderlichkeit der Einrichtung sind laut Aratym auch die typischen gedämpften Geräusche und der »Geruch von Buchteln, Melange und rauchendem Zeitungswald« sowie die schummrige Beleuchtung verantwortlich für die Vertrautheit und die behagliche, dämmrig-melancholische Atmosphäre, die sich in »späten Momente[n] der nahenden Sperrstunde« zeige, »wenn die Lichter bis auf ein Minimum abgeschaltet sind und die Sessel unwirklich verzaubert auf den Marmortischen stehen«. (EzZ) So besteht die besondere Atmosphäre des Hawelka aus verschiedenen, sinnlich erfassbaren Komponenten, wie der Geräuschkulisse647 , den Düften, Lichtverhältnissen, der kulinarischen Erfahrung und der haptischen Wahrnehmung der Sitzmöbel, Tische und Zeitungen; daneben spielt auch ein psychologisches Moment eine wichtige Rolle, welches den Gästen das Gefühl vermittelt, sich an einem vertrauten Ort zu befinden und nicht allein zu sein. Neben den bisher genannten Aspekten werden in den Texten und Berichten über das Café Hawelka insbesondere das Wirtsehepaar Hawelka sowie dessen Sohn und Enkel erwähnt, da auf jene die besondere und über Wien hinaus bekannte Atmosphäre zurückgehe. Diese Gastgeber hätten die Gabe, eine Umgebung zu schaffen, in der alle Gäste gleichermaßen geschätzt und ernst genommen werden und die es Arnold Keyser-
646 Hubert Aratym: »Ein zweites Zuhause«, in: Franz Hubmann (Hg.): Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien 1982, S. 100. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »EzZ« nachgewiesen. 647 Vgl. auch: »Sasz man dann auf zerschliessenem Polstersessel oder im knirschend-zirpendenden atembeklemmenden (weil zu tiefen) Lederfauteuil, war man im Grunde nicht wirklich: nicht auschlieszlich für sein Gegenüber da; sondern trieb es momentweise – heimlich mit ausgestülptem Ohr und ruhelosem Auge, um allen nahen und entfernteren Geräuschen, bewegten Formen und Farben, fortwährend nachspüren zu können: das räumliche Hören übend, die rundherum Plaudernden beobachtend, mehrere Stimmen gleichzeitig einsaugend, das Gesprächsgewirr der zu beiden Seiten Sitzenden vereinzelnd, ihre Stimmstränge voneinander lösend.«, in: Friederike Mayröcker: »für Josefine Hawelka, oder ›Konrad Bayer geht auf dem Kopf vorbei und hängt aus der Welt (1982)‹«, in: Franz Hubmann (Hg.): Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien 1982, S. 82-83, S. 82.
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ling zufolge »jedem ermöglicht, zu sich selbst zu finden und die banale Gesprächsebene zu verlassen«: Die in diesem Falle ist es aber die fast persönliche Zuwendung des Ehepaars Hawelka, in ihrem Wechsel von Tag und Nacht, die einerseits jeden Gast als Freund und Persönlichkeit wertet, und andererseits in den Werken, die an der Wand hängen, auch den Niederschlag der künstlerischen Bemühungen mit einbezieht und so einen persönlichen und sachlichen Hintergrund dafür gibt, daß Menschen in dieser Atmosphäre wieder zu ihrem Mut, ihrer Aufgabe, ihrer Bestimmung finden können. Leopold Hawelka ist in nimmermüder Aufmerksamkeit darum besorgt, daß keinerlei schrille Töne oder Unachtsamkeiten die geistige Wachheit stören, und das damit allen jenen, die den Weg zu einer geistigen Richtung finden wollen, die praktischen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. […] So verwirklicht dieser Ort die Gastfreundschaft im griechischen Sinne, wo der Gastfreund der Repräsentant des Göttlichen ist – der kreativen Teilnahme an der Freude der Welt.648 Neben den Hawelkas ist das Merkmal der ›Einheit in Vielfalt‹ eines, welches das Café im Besonderen auszeichnet: So heißt es in einer bebilderten Geschichte von H. C. Artmann und Franz Hubmann (1960), das Café Hawelka sei »eine magische Botanisiertrommel, in der man die seltsamste Flora unserer Stadt finden kann«, und in der das Wunder geschehe, dass diejenigen, die sich außerhalb des Cafés streiten, sich innerhalb des Cafés »in arkadischer Eintracht vertragen, nicht mehr und nicht weniger sind als Hawelkagäste.«649 In dieser Bildergeschichte wird die zu Beginn dieses Kapitels erwähnte ›mystische Einheit‹ spürbar, die sich zwischen zuvor fremden Menschen aufgrund der gemeinsamen Anwesenheit an einem speziellen Ort einstellen kann. Dieser Prozess wird im Text von H. C. Artmann darauf zurückgeführt, dass man im Café nur einer unter vielen sei, zwar einerseits als Persönlichkeit wertgeschätzt werde, aber andererseits auch einen Teil der übrigen Gäste darstelle, welcher nicht hervorsteche oder bevorzugt werde. Man habe keinen Anspruch auf eine außergewöhnliche Bedienung oder eine persönliche Servierdame, wie es weiter oben für das Café Demel beschrieben wurde. Vielmehr akzeptiere man denjenigen Ober, der vor einem steht: Stammgast im Hawelka zu sein, heißt jedoch nicht, dass man deshalb seinen Stammplatz besitzt. So etwas gibt es nicht, hat es wahrscheinlich nie gegeben. Betritt man das Lokal, so macht man seinen Rekognoszierungsumgang, schaut sich bescheiden um einen freien Stuhl um, und hat man den, dann setzt man sich eben drauf. Und erwartet ohne Murren den Herrn Ali oder den Herrn Franz, wer halt Grad Dienst hat… Hat man seine Bestellung hinter sich, so ist man für den übrigen Tag wie zu Hause. […] Herr Ali segelt tatsächlich wie ein abgeschossener Pfeil durch das fast immer bis auf den letzten Platz besetzte Café. Seine Geschicklichkeit grenzt an das Unglaubliche. Bestellung und Service sind nur durch kurze Augenblicke getrennt, er wirkt wie 648 Arnold Keyserling: »Café Hawelka«, in: Franz Hubmann (Hg.): Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien 1982, S. 92. 649 H. C. Artmann/Franz Hubmann: »Eine Stadt lebt im Kaffeehaus. Eine Bildergeschichte von Franz Hubmann/Den Text schrieb H. C. Artmann«, in: Magnum. Zeitschrift für das moderne Leben 28 (1960), S. 29-40, S. 29.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
der zarte Schatten einer vorbeifliegenden Schwalbe, der durch den zitternden Rauch der Austria-3-Zigaretten schwirrt.650 Insbesondere wird deutlich, dass die Gäste sich fallen lassen und wie zuhause fühlen können, da sie in vielerlei Hinsicht im Hawelka keine große Wahl haben und ihnen beispielsweise in Bezug auf die Tisch- oder Speisenwahl viele Entscheidungen abgenommen werden. Nahezu physisch greifbar und olfaktorisch wahrnehmbar für die Lesenden wird in diesem Zitat auch die Atmosphäre im Café, welches stets voll besetzt und von Rauchschwaden durchzogen ist. Die Bewegung im Raum wird metaphorisch durch die Ober dargestellt, die in Gestalt eines ›Pfeils‹ oder einer ›Schwalbe‹ den eng bemessenen Raum durchqueren, dabei in großer Geschwindigkeit oder schattenhafter Zurückhaltung die Gäste bedienen. Die Darstellung der besonderen Atmosphäre eines alteingesessenen Wiener Kaffeehauses wie dem Hawelka und die Erwähnung der Leistung der Ober sollen als Kennzeichen der ›Kaffeehausliteratur‹ festgehalten werden. Anders stellt sich dies in den übrigen, eher touristisch geprägten Wiener Cafés wie dem Café Sacher oder Café Demel dar, wie Sven Weniger im Artikel »Erlösung beim Einspänner« zeigt, der 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist: Er setzt den Charme des »Mythos« Hawelka in Kontrast zu anderen Wiener Kaffeehäusern, die dem Autor gemäß nicht mehr die Atmosphäre der typischen Wiener Kaffeehauskultur transportieren, weil diese ihr Geschäft auf touristische Bedürfnisse ausrichten und ein eher kommerzielles als traditionelles Konzept im Café verfolgen, worüber die althergebrachten Getränke- und Speisekarten, die Inneneinrichtung sowie die klassische Tracht der Servierdamen hinwegtäuschen sollen.651 Im Hawelka dagegen herrsche ein weniger strahlendes, eher ›düsteres Ambiente‹ vor, das die ortsfremden Gäste nicht sofort anziehe, da das Café mit der »hundertmal übermalte[n] Decke, [den] abgewetzten, rot-weiß-rot gestreiften Polster[n], [den] trüben Deckenlampen« aussehe »wie ein Anschlag auf den guten Geschmack.« (EbE) Im Folgenden personifiziert der Autor das Interieur des Cafés, welches eigene Emotionen zu transportieren scheint: »Auswärtige stehen konsterniert vor dem Panoptikum aus traurig dunklem Mobiliar, wackligen Hutständern und schief hängenden Bildern, die die seltsame Tristesse hämisch unterstreichen.« (EbE) Die Wahrnehmung der Touristinnen und Touristen unterscheide sich in dieser Hinsicht vollkommen von derjenigen der einheimischen Kaffeehausbesucherinnen und besucher. Dies liegt laut Weniger daran, dass die Wienerinnen und Wiener »nun mal eher lichtscheu, empfänglich fürs Morbide« seien, »an der Welt« litten und ihr »mise-
650 Artmann/Hubmann: »Eine Stadt lebt im Kaffeehaus«, S. 30; 32. 651 Vgl. »Das Café Mozart gegenüber dem Albertina-Museum ist Tag für Tag gerammelt voll mit Touristen aus aller Welt. Im berüchtigten Café Sacher und dem ihm in leidenschaftlicher Abneigung verbundenen Demel stehen Japaner Schlange, um sich mit dankbaren Verbeugungen für Melange und Torte kräftig über den Tisch ziehen zu lassen in der Hoffnung, den Charme zu spüren, von dem im Ausland hartnäckig behauptet wird, die Stadt sei quasi mit ihm imprägniert.«, in: Sven Weniger: »Erlösung beim Einspänner. Das Wiener Kaffeehaus ist ein Biotop des Berechenbaren, eine Gegenwelt zur Atemlosigkeit vor der Tür«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.2017, S. R3. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »EbE« nachgewiesen.
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rables Schicksal« zelebrierten. Dies gelinge im Café Hawelka vorzüglich, denn es biete ›dem Wiener‹ dafür den »idealen Resonanzboden«: Seine Zeitung wie auf dem Präsentierteller hinter den Panoramascheiben des Mozart zu lesen käme ihm nie in den Sinn. Am liebsten sitzt er, wie im wahren Leben, mit dem Rücken zur Wand, die »Kronen Zeitung« wie einen Schutzschild vor sich haltend, um sich an den neuesten Katastrophen zu delektieren. […] Die türmen sich im Hawelka gleich am Eingang. Wer früh kommt, findet auch noch einen freien Tisch. Vielleicht gleich beim Sofa am massiven Stützpfeiler des Gastraums. Denn von dort lässt sich aufs trefflichste das Treiben im Café beobachten. Der Ober, natürlich in schwarzer Weste und Fliege, eilt routiniert von Tisch zu Tisch. Zu den Stammgästen – denen hinter den Zeitungen – gesellen sich bei Regen allerlei Passanten. Die stehen erst mal unschlüssig in der Tür, sei es, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, einen freien Platz zu suchen oder sich zu fragen, ob sie lieber wieder umkehren sollten. Dies war früher der Moment, in dem zügig ein alter Herr herbeitrappelte. Mit flinken Augen machte er leere Stühle aus, um die Neuankömmlinge ohne Federlesen zu den anderen Gästen zu setzen. Gefragt wurde man nie. (EbE) Nach der Bezugnahme auf den schon verstorbenen Leopold Hawelka und dessen Methode, die Gäste zu vereinigen, erwähnt Sven Weniger im Folgenden auch das abgenutzte Mobiliar und den altersschwach erscheinenden Gesamteindruck des seiner Meinung nach ebenso charismatischen Café Bräunerhof mit seinen »fadenscheinigen, braun gemusterten Bänken über grauem Linoleum«. Dessen Ungepflegtheit unterstreicht er noch durch die Erwähnung der »Wasserflecken an der Decke«, die sich in den »Wandspiegeln vervielfältigen«, sowie der »uringelben Kacheln«. Die damit hervorgerufenen Assoziationen vermitteln keine einladende Vorstellung, sondern lassen einen unangenehmen Geruch und ein feuchtes Raumklima vermuten. Gleich darauf berichtet der Autor aber vom köstlichen Gulaschduft, der keineswegs unangenehm sei und ihn zusammen mit dem »gedehnte[n] Singsang des Wiener Idioms« einlulle. Der Autor selbst ist überrascht von diesem Kontrast, so als ob er diesen Duft in einem solch verwahrlost erscheinenden Ambiente nicht erwartet hätte. Genau dieser Gegensatz scheint eines der atmosphärischen Geheimnisse dieser ehrwürdigen Cafés zu sein, in denen die unterschiedlichsten Komponenten nebeneinander existieren und sich ergänzen anstatt sich abzustoßen. Besonders wahrgenommene Gerüche sind ein bedeutsames Element in Bezug auf die Atmosphäre, laut Böhme sogar das wesentlichste, denn Gerüche sind wie kaum ein anderes Sinnesphänomen atmosphärisch: ›Unbestimmt in die Weite ergossen‹ hüllen sie ein, sind unausweichlich, sie sind jene Qualität der Umgebung, die am tiefgreifendsten durch das Befinden spüren lässt, wo man sich befindet. Gerüche machen es möglich, Orte zu identifizieren und sich mit Orten zu identifizieren.652
652 Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 128.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Die enge Verknüpfung von Geruch und Atmosphäre653 liegt darin begründet, dass Duft im limbischen System verarbeitet wird und damit den einzigen Sinnesreiz darstellt, der 653 Einige Romane und weitere literarische Texte gehen auf Geräusche, Gerüche und Düfte im Kaffeehaus ein; ein weiteres Kapitel hierzu würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, zumal zumindest die Romane aufgrund ihrer Länge und der darin enthaltenen Betrachtung des Kaffeehauses als bloßen Schauplatz nicht als ›Idealtypus‹ der ›Kaffeehausliteratur‹ gelten können. Im Folgenden sollen daher nur einige Beispiele genannt werden, die im Rahmen einer späteren Untersuchung noch analysiert werden könnten: So heißt es etwa in Eduard Pötzls Feuilleton »Das Kaffeehaus im Sommer« (1946): »Vor allem sind seine hohen und oft ganz verständig gelüfteten Räume kühler als die Außenluft. Die geringe Zahl von Besuchern läßt den Tabakrauch fast verschwinden, so daß nur der angenehme, würzige Duft nach gebranntem Kaffee übrig bleibt, der sofort einen Strom von Behagen durch die Nase in den inneren Menschen leitet.«, in: Eduard Pötzl: »Das Kaffeehaus im Sommer«, in: Alfred Zohner (Hg.): Kunst des Tages. Eine Sammlung Wiener Meisterfeuilletons, Wien, S. 151-156. Auch in Joseph Roths Zipper und sein Vater (1928) wird auf typische Geräusche hingewiesen, wie dem ewigen Ticken der zeigerlosen Wanduhr (S. 28) sowie: »Fliegen summten, Karten klatschten, Dominosteine klapperten, Zeitungen rauschten, Schachfiguren fielen mit hartem Schlag auf Bretter, Billardkugeln rollten dumpf über gepolstertes Holz, Gläser klirrten, Löffel klangen, Schuhe schlurften, Stimmen murmelten, Wasser tropfte sentimental aus einem fernen, wie geträumten Hahn, der sich niemals schloß – und über allem sangen die Karbidlampen.«, in: Joseph Roth: Zipper und sein Vater, Köln 2003, 58f. Im historischen Roman Der Duft von Schokolade von Ewald Arenz (2007) wird das Café Demel vor allem durch die Düfte seines Interieurs und durch die vielfältigen Gerüche der dort servierten Speisen und Getränke für den Protagonisten August Liebeskind zu einem Heimatort, an dem er sich von den Sorgen des alltäglichen Lebens frei fühlt. Auch hier wird die Atmosphäre mit Hilfe von Synästhesien beschrieben: »Er ging gern ins Kaffeehaus, weil er die Düfte dort liebte. Wie er die Gerüche draußen liebte, so liebte er auch die Aromen im Demel, die in Schleiern in der Luft lagen, sich gemächlich umeinander drehten und alle zusammen die Atmosphäre des Kaffeehauses ausmachten. Als Erstes und am stärksten kam einem, wie als Begrüßung, schon an der Tür der Geruch des frisch röstenden und aufgebrühten Kaffees entgegen. […] Überall, wieder wie Farben, die unterschiedlichen Gerüche des Honigs: rosigsüß im Rachat-Lougoum, blütensüß im Halwa, walddunkel in den Nonnenkrapferln, durchsichtig fein im Akazienblütenkonfekt. Wunderbar und gefährlich schön der Bittermandelgeruch vom Rehrücken, dieser langen, glänzend schokolierten Torte. Einen Geruch gab es, den erkannte August nicht gleich. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um, bis er entdeckte, woher er kam. Ja. Das war der schwache, aber unverkennbare Heimatgeruch von warmer Milch, bevor sie in den Kaffee gegossen wurde. Und alles zusammen mischte sich zum Duft von Freiheit, denn wenn man im Kaffeehaus war, war man ja dort, weil man sich freigemacht hatte. Alles andere blieb außen vor.«, in: Arenz: Der Duft von Schokolade, S. 11f. Auch bei Franz-Ferdinand von Trotta, Hauptperson in Joseph Roths Roman Die Kapuzinergruft (1938), werden einerseits mit dem ›jungfräulichen und würzigen‹ Duft von frisch gebrühten Kaffee, der »wie ein zweiter Morgen« roch (S. 230), Erinnerungen an seine heiteren Jugendtage wachgerufen sowie die Assoziation an Reinheit und Neubeginn erzeugt (S. 298). Andererseits wird deutlich, dass Gerüche subjektive Empfindungen sind und das Maß des Wohlbefindens im Kaffeehaus von der jeweiligen Stimmung des Empfindenden abhängig ist. Als von Trotta abends im Café Museum »stumpf und ohne die geringste Lust« (S. 309) auf seine ihm fremd gewordene Frau wartet, nimmt das Café einen unangenehmen Geruch an, vor dem er sich ekelt: »Das Kaffeehaus stank nach Karbid, das heißt nach faulenden Zwiebeln und Kadavern. Es gab kein elektrisches Licht. Es fällt mir äußerst schwer, mich bei penetranten Gerüchen zu sammeln. Geruch ist stärker als Geräusch.« (S. 308f.), in: Joseph Roth: »Die Kapuzinergruft«, in: ders.: Werke, Romane und Erzählungen 1936-1940, Bd. 6, hg. v. Fritz Hackert, Köln 1991. Vgl. auch die Wahrnehmung Hildes, die Protagonistin des Romans Café Engel (2018): »Bei dem leisen Geklapper des Geschirrs, dem Klirren der Löffelchen und Kuchengabeln, dem Reden, Murmeln und Lachen der Gäste, fühlt sie sich unendlich wohl und zu Hause. Und erst die Gerüche, die das Café erfüllen! Der frisch aufgebrühte Bohnenkaffee, der Geruch nach Vanille, Bittermandel und Schokolade, der
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unmittelbar mit dem menschlichen Gehirn verbunden ist.654 Düfte sind damit in der Lage, in der Sekunde des Wahrnehmens Assoziationen und Emotionen beim Menschen auszulösen sowie Erinnerungen wachzurufen.655 Neben den Gerüchen stellt die altmodische, schlichte Art eines traditionellen Cafés wie dem Hawelka auch den Versuch dar, sich von modernen, hektischen Cafés abzusetzen, in denen man beispielsweise mit dem Laptop arbeiten, mobil telefonieren und verschiedene Sorten fair gehandelten Kaffees erhalten kann. An dieser Stelle ist im Text ein deutlicher Bezug zum Café St. Oberholz in Berlin zu verzeichnen, welches auf die zuvor beschriebenen Konzepte setzt, die Weniger als »Albtraum« bezeichnet: Im Hawelka wie im Bräunerhof gedeiht ein Biotop des Berechenbaren, eine Gegenwelt zur Atemlosigkeit draußen vor der Tür. Wiens Kaffeehäuser widersetzen sich stur dem Zeitgeist. Sie offerieren Schwarzen statt Espresso, Buchteln statt Bagels; keinen lächerlichen Zimt-Latte, keinen Coffee to go im Pappbecher. Niemand muss sich auf Schautafeln über Kaffeeanbau und Bohnenherkunft belehren lassen. All das bleibt ein ferner Albtraum. »Ober, bitte noch eine Melange!« […] In vielen Kaffeehäusern ist die Handybenutzung verpönt. Im Bräunerhof möge man sich dazu, bittschön, in der Telefonzelle neben der Kassa wegschließen. Im feinen Jugendstil-Café Sperl nahe dem Naschmarkt ist das Gebrabbel gänzlich untersagt. Stundenlanges Sitzen, ohne nachzubestellen, stört dagegen niemanden. (EbE) Als weiteres Beispiel eines Wiener Cafés, in dem die Gegensätze vereint werden, nennt Weniger das Café Griensteidl, welches »aufs beste Tradition und Moderne« zusammenbringe und damit die »Quersumme aller Qualitätsmerkmale eines guten Wiener Cafés« in sich vereinigen könne. Dabei werde durch »Messingleuchter, Palisandermöbel und weiße Marmortische, rote Samtvorhänge und Klimt-Drucke […] ein Gefühl von gemütlicher Eleganz« verbreitet, in der sich die unterschiedlichsten Gäste wohlfühlten. Der Rundgang durch die Kaffeehäuser endet schließlich im Café Central, dessen Inneneinrichtung er in kurzen, stakkatohaft aneinandergereihten sowie von Metaphern und starken Farbakzenten geprägten Sätzen beschreibt: Von außen ist das Café Central wenig spektakulär. […] Drinnen allerdings bleibt der Besucher erst einmal mit offenem Mund stehen. Eine Kreuzung aus Maurenpalast und Orient-Express erwartet ihn. Zwischen sakral anmutenden Säulen verteilen sich rote Polstermöbel. Irgendwo spielt ein Pianist. Licht aus Deckenleuchtern und Tischlampen wird von den gelackten Wänden reflektiert. Der Saal schimmert in Gold. (EbE)
Hauch von Kirschwasser oder Cognac, ja, sogar der Zigarrenrauch und die Zeitungen… Das alles mischt sich zu jenem wundervollen, lebendigen Duft, der das Café Engel ausmacht.«, in: Lamballe: Café Engel, S. 9. 654 Vgl. Tim Pritlove: »FG050 Duft und Riechen. Über die Welt der Düfte und die Wahrnehmung der Welt über den Geruch«, in: Forschergeist, 6.11.2017, URL: https://forschergeist.de/podcast/fg050duft-und-riechen/(10.07.2019). Pritlove führt in diesem Podcast ein Interview mit dem Biologen und Mediziner Hanns Hatt, der im Jahr 2019 die Stiftungsprofessur Die Macht der Düfte an der Universität Mainz innehatte. 655 Vgl. Howard Ehrlichman/Linda Bastone: »Olfaction and Emotion«, in: Michael J. Serby/Karen L. Chobor (Hg.): Science of Olfaction, New York 1992, S. 410-438.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Neben der Innenarchitektur, die den Gast ins Staunen versetzen könne, erwähnt Weniger auch die Bedienung, die ihn bezüglich seiner Getränke- und Speisenwahl so gut berät, dass er sich keine Gedanken mehr machen und nur noch dem Klavier lauschen muss, dessen Klänge ihn erneut einlullen und die Zeit vergessen lassen. Die gemütliche, warme Atmosphäre wird kontrastiert mit dem nassen, stürmischen Klima außerhalb des Kaffeehauses, das man im Inneren nur erahnen kann: Der Ober im weinroten Dinnerjackett steht bereit, um die Bestellung aufzunehmen. Das Wiener Schnitzel sei heut sehr zu empfehlen. Also das. Auch bei der Wahl eines heimischen Weines weiß er Rat. Das Klavier plätschert Evergreens. Wie ein Schleier legt sich das leise Geklimper über die Szene. Draußen verhüllt die Nacht gnädig die graue Stadt. Wen kümmern da noch Wind und Wetter? Eigentlich könnte es immer so bleiben. Der Pianist lächelt noch einmal herüber und erhebt sich. (EbE) In Bezug auf die Genrezuordnung erscheint der Artikel von Sven Weniger auf den ersten Blick wie ein Reisebericht, der die Wiener Kaffeehauslandschaft beschreibt. Die Art der Darstellung und die Einbindung des Berichtes in den persönlichen Tagesablauf des Autors, der zunächst nur ein alternatives »Schlechtwetter-Programm« zu »Museen, Hofburg und Stephansdom« (EbE) sucht und im Folgenden in die Atmosphäre des Hawelka, Bräunerhof, Sperl und Central eintaucht, bewirkt die Literarisierung des Artikels. Dabei beschreibt Weniger nicht nur sehr bildreich die Einrichtung der Lokale und ihre historische Bedeutung, sondern geht auch auf alle Sinnesreize der besuchten Kaffeehäuser ein und erwähnt ihre jeweiligen atmosphärischen Besonderheiten, unter anderem das Vermögen, die Zeit unmerklich zerfließen zu lassen: »Und der mächtig sättigende Milchrahmstrudel macht die Beine noch schwerer. Aber Gott, es ist schon Nachmittag. ›Ober, zahlen!‹« (EbE) Er lässt auch das Personal des Hotels und des Kaffeehauses in typischen Dialogen zu Wort kommen, in denen nicht nur der Wiener Dialekt herausgestellt, sondern auch noch einmal die Kaffeehausatmosphäre unterstrichen wird, die von wertschätzendem Servicegedanken und gleichzeitigem distanziertem Befehlston zwischen Gast und Personal geprägt ist: Nur kurz blickt der Rezeptionist der Pension Pertschy auf. Dann kommt, im ortsüblich genervten Tonfall: ›Gehn S‹ halt ins Kaffeehaus!‹ […] Das Hawelka ist gleich ums Eck, murmelt uns der Pertschy-Mann noch hinterher. (EbE) ›Ober, bitte noch eine Melange!‹ […] Da weckt der Ober die Träumer unsanft mit kühler Anweisung: ›Zahlen S‹ bittschön, wir schließen gleich!‹ (EbE) Alle Merkmale zusammennehmend soll dieser Text in die erste Kategorie der ›Kaffeehausliteratur‹ eingeordnet werden, weil hier in einem Kurzprosatext die Elemente von journalistischem Feuilleton und Literatur vereinigt und die Kaffeehausatmosphäre sehr anschaulich und metaphorisch dargestellt werden. Das »zweckfreie Vergehenlassen der Zeit« (MC) nennt auch Heimito von Doderer in »Meine Caféhäuser« (1960) als wichtige Komponente, die ein Wiener Kaffeehaus seinen Gästen ermöglichen müsse, neben dem Vermögen, für die Besucherinnen und Besucher eine ›Insel der Freiheit‹ bereitzustellen, innerhalb derer sie sich während des Aufenthalts im Kaffeehaus sämtlicher Pflichten des Alltagslebens entledigt fühlen und
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von niemandem belästigt werden. In seinem Essay begründet er halb ernst, halb ironisch die langen Kaffeehaussitzungen mit dem Kampf um die ›richtige‹ Sprache656 und reflektiert über die »Aura« des Wiener Kaffeehauses, die seiner Ansicht nach nur mit größerer Anstrengung und durch einen Sprung zurück in die Geschichte fassbar ist: Man bedarf einer Zange mit längeren Hebelarmen, um das Wiener Café erklärend zu erfassen; wenn schon nicht seine Aura (das ist unmöglich), so doch etwas von seiner Essenz: durch die konkrete doppelte Herkunft, die hier zur Synthese gekommen ist, der Orient und das klassische Altertum – wir sind eine zum Mittelmeer gewendete, ursprünglich römische Stadt! (MC) So müsse man laut von Doderer immer auch die osmanische Herkunft des Kaffees und der Kaffeestuben mitbedenken, um die »Essenz« des Wiener Cafés zu begreifen, dessen Atmosphäre auf die in orientalischen Cafés beheimatete Muße zurückzuführen sei, in dem jeder Gast mit anderen in Kontakt treten könne und zugleich die Freiheit habe, sich von den anderen Gästen abzusondern: Ein Wiener Café hat jene meditative Stille und das zweckfreie Vergehenlassen der Zeit in sich aufgenommen, die jeder kennt, der ein orientalisches, ein türkisches Café besucht hat, und nicht nur aus Neugierde; sondern, wie die Anderen, als isolierter, inselbildender Gast, der sich möglichst weit weg setzt von allen übrigen Gästen (das kann man in Wien heute noch sehen). Zugleich doch ist es, das Café, unsere eigentliche Öffentlichkeit, ein in hunderte von kleinen Teilen zersprungenes Forum, aber überall und für jedermann betretbar. (MC) Auffällig ist, dass von Doderer die ›Aura‹ des Kaffeehauses für ›nicht erfassbar‹ erklärt, um sie im nächsten Satz näher zu beschreiben; vorgeblich unterscheidet er hierbei zwischen ›Aura‹ und ›Essenz‹ des Cafés, wobei die Verwendung der Begriffe synonym zu sein scheint. Er attestiert dem Kaffeehaus also eine ›Aura‹, die deutlich spürbar, jedoch nicht definierbar sei, aber alle Anwesenden unverkennbar umgäbe und unterbewusst auf sie einwirken würde: Damit sitzen wir schon knietief im Caféhaus. Wie alle Erscheinungen von Bedeutung – die also nicht selbst etwas sein wollen, sondern nur auf etwas hindeuten – hat es eine Aura, ist es auratisch, und ist also nicht nur physikalisch, sondern auf eine weit edlere Art sichtbar und wahrnehmbar. Kann eine Aura abgeleitet werden? Natürlich nicht. Sie ist ein transrationaler Sachverhalt, wie eben jede Aura: sie ist das eigentlich Sichtbar-Machende und das sichtbar Gemachte zugleich, sie ist – wenn sie uns berührt
656 Vgl. »Jene Leute, die zwischen den zwei Weltkriegen im »Café Herrenhof« saßen und sich um die Weglassung eines Hilfszeitwortes oder die Setzung eines Kommas stritten: sie haben weder den ersten noch den zweiten Krieg herbeigeführt; weil sie nicht irgendwelchen Ideologien dienten, sondern der genauen Sprache und der Grammatik. […] Daß beide Weltkriege zum guten Teil herbeigeführt wurden durch sprachliche Katastrophen, steht für jeden Wissenden wohl außer Zweifel: das Platzen gleichsam einer ungesund aufgeblähten Sprache, die dann alle Schrecken ergoß, welche sie konzentriert schon vordem enthalten hatte und schon lange umschloß. […] Es war wichtig, daß manche einander schlecht verstanden. Es war sprachdienlich. Die uns nicht verstehen, sind unsere besten Lehrer: sie zwingen uns zu einer Definition unserer selbst.« (MC)
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
– der glückliche Augenaufschlag unserer tiefsten Apperzeption. Es lassen sich einzelne Strähne [!] herauslösen aus einer Aura, aber das Ganze ist etwas anderes und mehr als jede seiner Komponenten. (MC) So kann man sich zwar gemäß von Doderer auf die Beschreibung der einzelnen Aspekte der ›Aura‹ beschränken; jedoch würde dabei etwas verloren gehen, da die Gesamtheit nicht durch die Aufsummierung ihrer Einzelteile erfasst werden könne. Daher müsse die ›Aura‹ des Kaffeehauses immer in Gänze auf den Menschen wirken – dabei macht von Doderer deutlich, dass es sich bei der Aura im Kaffeehaus um etwas Irrationales, Transzendentes handelt, welches die Gäste zwar wahrnehmen, aber nicht erklären können. Als weitere Merkmale eines ›echten Wiener Cafés‹ nennt von Doderer noch die unspektakuläre Ruhe, die Unaufgeregtheit und den ›spirituellen Komfort‹, welcher sich aus einer Kombination von wenigen Gästen und einem großem Platzangebot ergibt. Das Konglomerat dieser Aspekte rege den Gast zum Loslassen an und löse ihn von seinem Alltagsgeschehen.657 Auch von Doderers Text kann in das den ersten Ring des Genres der ›Kaffeehausliteratur‹ wie unter IV.4 beschrieben eingeordnet werden, weil er sich journalistisch-literarisch in einem kurzen Prosabeitrag mit dem Wiener Kaffeehaus im Allgemeinen und der Atmosphäre des Hawelka im Besonderen beschäftigt und sich vor allem auf einer Metaebene mit dem Begriff der ›Aura‹ in Bezug auf ein Kaffeehaus auseinandersetzt. Er hebt die Besonderheit dieser ›Aura‹ im Text hervor, welche, wie zu Beginn des Kapitels erläutert, nicht rational fassbar, aber für einen wesentlichen Teil der Faszination der Kaffeehäuser verantwortlich ist und daher immer wieder aufs Neue die Phantasie und die journalistisch-künstlerische Textproduktion inspiriert, nicht zuletzt durch die angesprochene halb-ironische, halb-philosophische Reflektion über Sprache.
V.4.3.
Atmosphäre einer zauberhaften Zwischenwelt: Magie im Café Certa, Paris
Im Folgenden soll auf das literarische Zeugnis des Pariser Café Certa eingegangen werden, welches in Louis Aragons autobiographisch geprägtem Text Le Paysan de Paris (1926) zu finden ist.658 Darin wird vom Besuch des Ich-Erzählers in der Passage de l’Opéra sowie im Café Certa erzählt, wo sich der Autor zusammen mit André Breton und anderen
657 Vgl. »Es gäbe einen möglichen ›Test‹ für ein Lokal, der anzeigen würde, ob das ein echtes Wiener Café sei. Es müsste nämlich einer unserer vielen und lieben deutschen Gäste, hintnach gefragt, die Auskunft erteilen: ›Hier ist nischt los.‹ Eben das ist’s, was wir alle wollen! Aber ganz verläßlich ist auch dieser Test nicht (verläßlich ist nur die Aura). Ich kenne mehrere deutsche Herren, die dem Wiener Café längst auf seine Schliche gekommen sind, es als eine Art höheren, weil spirituellen Komforts durchschaut und erkannt haben. Manche verschwinden sehr bald nach ihrer Ankunft am Westbahnhof im Café, wo nichts los ist: eben drum; und weil sie dort vieles los sind.« (MC) 658 Dieser »Schlüsseltext des Surrealismus« ist von 1924-25 als Fortsetzungsserie in der Zeitschrift Revue Européenne erschienen, bevor die Texte 1926 gesammelt als Buch herausgegeben wurden. Vgl. Mechthild Albert: »Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur. Die Pariser Passagen in Louis Aragons Paysan de Paris«, in: Moritz Leitgeb/Christoph Csáky (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem ›Spatial Turn‹, Bielefeld 2009, S. 93-111, S. 96.
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Surrealisten nach dem Ersten Weltkrieg zu den Dada-Tagungen traf – ein ›zweideutiger‹ Standort, der dem Erzähler zufolge mit Bedacht gewählt wurde und von vielen Emotionen behaftet ist.659 Der Text dreht sich geographisch und inhaltlich um die gesamte Passage de l’Opéra und ist zeitlich vor deren drohender Zerstörung durch den 1925 kurz vor dem Durchbruch stehenden Boulevard Haussmann entstanden.660 Weil der Ich-Erzähler als Flaneur zu charakterisieren ist und die visuellen Reize, die er im Text wiedergibt, mit der Bewegung des Gehens verschmelzen, illustriert dieser Text Mechthild Albert zufolge »ein flanierendes Denken, ein Schreiben in Bewegung. Die in diesem hybriden Genre thematisierten Räume sind teils real, teils inszeniert, teils imaginär.«661 Der düstere, zuweilen unheimlich erscheinende Schwellenraum der Passage, »la taupinière« (PdP 118), verbindet im Text antagonistische Tendenzen zwischen Innen und Außen, bürgerlicher Normalität und halbseidener Zwielichtigkeit und überwindet damit eine dichotomische Raumordnung. Für den Erzähler des Textes ist die Passage ein konventionsloser Zufluchtsort, ein Mikrokosmos, der in die Stadt eingebettet ist. Als Ort mit speziellen Öffnungs- und Schließzeiten ist er gleichzeitig von derselben abgeschottet und existiert damit als eigener Raum für sich. Dabei schwankt der Erzähler, dessen »spezifisch männliche Raumerfahrung«662 im Text deutlich wird, während seines Besuchs in der Passage zwischen der Faszination und Motivation, dort länger zu verweilen, um sich in den Geschäften und Cafés aufzuhalten, und dem Gefühl eines gewissen Unbehagens. Dieses wird durch das schummerige Licht sowie die zuweilen zwielichtigen Gestalten ausgelöst und animiert Passierende hindurchzuhasten, um Geschäfte und Besorgungen rasch zu erledigen. Das gesellschaftlich Unerwünschte in Form von Prostitution in Bordellen und Stundenhotels wird durch die Fassaden und Schaufenster vermeintlich ›anständiger‹ Läden, in denen beispielsweise Taschentücher verkauft werden, getarnt (vgl. PdP 141ff.). Dabei sind die Übergänge zwischen den beiden Sphären fließend, weil die Passage gemäß Albert ein Ort ist, »wo die Vernunft ins Schwanken gerät und sich die Schranken des Bewusstseins öffnen, um das Hinübergleiten in die
659 Vgl. »Voici que j’atteins le seuil de, café célèbre duquel je n’ai pas fini de parler. Une devise m’y accueille sur la porte au-dessus d’un pavois qui groupe des drapeaux : ›AMON NOS AUTES‹ C’est ce lieu où vers la fin de 1919, un après-midi, André Breton et moi décidâmes de réunir désormais nos amis, par haine de Montparnasse et de Montmartre, par gout aussi de l’équivoque des passages, et séduits sans doute par un décor inaccoutumé qui devait nous devenir si familier; c’est ce lieu qui fut le siège principal des assises de Dada, que cette redoutable association complotât l’une de ces manifestations dérisoires et légendaires qui firent sa grandeur et sa pourriture […]. Il faut bien que j’apporte à en parler une sentimentalité incertaine.«, in : Louis Aragon : Le Paysan de Paris, Paris 2004, S. 133. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »PdP« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 660 Vgl. »Le grand instinct américain […] qui tend à recouper au cordeau le plan de Paris, va bientôt rendre impossible de ces aquariums humains déjà morts à leur vie primitive, et qui méritent pourtant d’être regardés comme les recéleurs de plusieurs mythes modernes, car c’est aujourd’hui seulement que la pioche les menace, qu’ils sont effectivement devenues les sanctuaires d’un culte de l’éphémère, qu’ils sont devenus le paysage fantomatique des plaisirs et des professions maudites, incompréhensibles hier et que demain ne connaîtra jamais.« (PdP 51); vgl. auch Johann Friedrich Geist: Passagen: ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, München 1969, S. 268-271. 661 Vgl. Albert: »Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur«, S. 96. 662 Albert: »Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur«, S. 104.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Traumwelt des Unbewussten und Surrealen zu ermöglichen.«663 Aufgrund dieser Definition der Passage als nur für bestimmte Zwecke geschaffener Durchgangsort664 und als ›real existierender Ort jenseits aller Orte‹, der ›an ein und demselben Ort mehrere unvereinbare Räume zusammenbringt‹665 , kann die Passage mit Foucaults Heterotopieund Augés Nicht-Ort-Konzept in Verbindung gebracht werden.666 Der Erzähler selbst vergleicht die Glaskonstruktion der Passage als ›menschliches Aquarium‹, in dem ein geheimnisvolles, meergrünes Licht vorherrscht. In der Trübe des Wassers scheinen immer dann plötzliche Lichtschimmer in Form menschlicher Gestalten auf, wenn der Betrachter in eine Traumwelt abdriftet: Elle [la lumière] règne bizarrement dans ces sortes de galeries couvertes qui sont nombreuses à Paris aux alentours des grands boulevards et que l’on nomme d’une façon troublante des passages, comme si dans ces couloirs dérobés au jour, il n’était permis à personne de s’arrêter plus d’un instant. Lueur glauque, en quelque manière abyssale, qui tient de la clarté soudaine sous une jupe qu’on relève d’une jambe qui se découvre. (PdP 50) Beispielsweise verwandelt sich für den Erzähler das normal erscheinende Schaufenster eines Spazierstockhändlers in eine Meereslandschaft, in der sich die Stöcke wie Seegras hin- und herwiegen, wo das Rauschen des Windes und der Muscheln zu hören ist und ihm eine sirenenhafte Meerjungfrau erscheint, die plötzlich wieder verschwindet (PdP 58ff.). So werden die Passagen als »changierende Räume des Betrugs, der Illusion und Sinnestäuschung, Spiegelkabinette und Theaterkulissen«667 dargestellt, von denen das erzählende Ich durch die vielen optischen Reize wie gebannt ist. Sowohl vor dem Schaufenster als auch im Café Certa besteht immer die Möglichkeit des wechselseitigen Beobachtens, da die gläsernen Fronten und das Dach einen Blick von außen nach innen und umgekehrt ermöglichen. In diesem Zusammenhang nennt der Erzähler die Passage auch »cercueil de verre« (PdP 70), einen gläsernen Sarg, in dem die Passierenden den Blicken nicht entkommen können. So wird ein permanentes Spiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit betrieben und die Gleichzeitigkeit von Transparenz und Rückzug vollzieht sich durch den Wechsel von Glas und verdeckter Sicht. Beispielsweise können die gelbseidenen Gardinen im Café Certa den Blick nach außen in die Passage hinein verschleiern oder freigeben, je nachdem, ob der Gast sich zurückziehen oder das Treiben beobachten möchte: Délicieux endroit au reste, où règne une lumière de douceur, et le calme, et la fraiche paix, derrière l’écran des mobiles rideaux jaunes qui dérobent tour à tour et dévoilent au consommateur assis près des grandes vitres descendant jusqu’à terre, qui dévoilent
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Albert: »Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur«, S. 109. Vgl. Marc Augé : Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1992. Vgl. Foucault : »Les hétérotopies«, S. 40ff. Vgl. Albert: »Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur«, S. 95ff. Vgl. auch Verena Simon: Paris – das Mysterium der Surrealisten. Die Modellierung der Stadt Paris in ausgewählten Erzähltexten französischer Surrealisten, Duisburg 2006, S. 89ff. 667 Albert: »Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur«, S. 97.
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et dérobent tour à tour la vue du passage, suivant que la main énerve d’attente tire ou tend leur soie plissée. (PdP 134) Das Café Certa wird recht exakt und kleinteilig als sehr behaglich eingerichteten Raum beschrieben, in dem es sich wohlfühlen und ›träumen‹ lasse, weil alles für die eigene Bequemlichkeit Benötigte vorhanden sei: La décoration y est brune comme le bois, et le bois y est partout prodigué. Un grand comptoir occupe la majeure partie du fond du café. Il est surplombé par des fûts de grande taille avec leurs robinets. À droite, au fond, la porte du téléphone et du lavabo. À gauche, un petit retrait sur lequel je reviendrai, s’ouvre à la partie moyenne de la pièce. Celle-ci, l’essentiel de son mobilier est que les tables n’y sont pas des tables, mais des tonneaux. Il y a dans la grande pièce deux tables, l’une petite, l’autre grande, et onze tonneaux. Autour des tonneaux sont groupés des tabourets cannés et des fauteuils de paille : vingt-quatre de chaque espèce environ. Encore faut-il distinguer : presque chaque fauteuil de paille est différent de son voisin. Confortables, au reste, toujours, quoique inégalement. Je préfère les plus bas, ceux qui ont une partie à claire-voie dans le haut du dossier. On est bien assis chez Certa, et cela vaut qu’on le souligne. Quand nous entrons, nous voyons à notre gauche un paravent de bois, et à notre droite un porte-manteau. Après celui-ci un tonneau et ses sièges. Contre le mur de droite quatre tonneaux et leurs sièges. Pui vers le lavabo, un nouveau paravent de bois. Entre celuici et le comptoir, un radiateur, le meuble où se trouvent les annuaires, la grande table et se sièges. (PdP 134) In seiner Beschreibung verwendet der Erzähler einen feierlichen Ton, der das Café als sakral verehrten Raum erscheinen lässt, beispielsweise wenn er das Getränkeangebot im Certa beschreibt und den Lesern und Leserinnen den Portwein und andere Spezialitäten empfiehlt.668 Insgesamt beschreibt er das Café als vollkommenen Ort, in dem es niemals überfüllt und weder zu kalt noch zu warm sei. Auch der Service sei vorzüglich669 , so dass es einem an nichts fehle und man bei zugezogenen Gardinen zum Träumen angeregt werde: Il est agréable, il est réconfortant de sentir autour de soi, grâce à la discrète intelligence d’un tel homme, une atmosphère de cordialité et de douceur comme celle qui
668 Vgl. »Je veux consacrer un long paragraphe reconnaissant aux consommations de ce café. Et tout d’abord à son porto. Le porto Certa se prend chaud ou froid, il en existe diverses variétés, que les amateurs apprécieront. […] Et le porto n’est pas ici la seule spécialité. Il y a peu d’endroits en France où l’on possède une gamme pareille de bières anglaises, stout et al.es, qui vont du noir au blond par l’acajou, avec toutes les variations de l’amertume et de la violence. […] Je recommanderai encore le Mousse Moka, toujours léger et bien lié, le Théatra Flip et le Théatra Cocktail, pour des usages divers […].« (PdP 136) 669 Vgl. »Sans quoi tout n’y est-il pas parfait? Il n’y fait jamais trop froid, la maison est bien chauffée; jamais trop chaud, l’été c’est comme une grotte et les ventilateurs sont bons. Sauf le samedi soir ce lieu n’est guère envahi. On y est complaisant, indulgent même. Et encore que depuis cinq années j’y aie vu passer bien des garçons, presque tous étaient la politesse et la discrétion mêmes […].« (PdP 139)
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
est soigneusement entretenue chez Certa. […] Et dans cette paix enviable, que la rêverie est facile. Qu’elle se pousse d’elle-même. C’est ici que le surréalisme reprend tous ses droits. On vous donne un encrier de verre qui se ferme avec un bouchon de champagne, et vous voilà en train. Images, descendez comme des confetti. Images, images, partout des images. Au plafond. Dans la paille des fauteuils. Dans les pailles des boissons. Dans le tableau du standard téléphonique. Dans l’air brillant. Dans les lanternes de fer qui éclairent la pièce. Neigez, images, c’est Noël. Neigez sur les tonneaux et sur les mains des gens. Mais si, en proie à cette faible agitation de l’attente, car quelqu’un va venir, et je me suis peigné trois fois en y songeant, je soulève les rideaux des vitres, me voici repris par le spectacle di passage, ses allées et venues, ses passants. Étrange chassé-croisé de pensées que j’ignore, et que pourtant le mouvement manifeste. Que veulent-ils ainsi, ceux qui reviennent sur leurs pas? (PdP 140f.) Die surrealistischen Bilder, die wie Konfetti auf den Erzähler hinabfallen, werden in dieser Beschreibung auch selbst metaphorisch dargestellt, nämlich als Schnee, der von oben herabrieselt.Wenn der Erzähler im Folgenden die Vorhänge wieder zurückschlägt, kann dieser Vorgang gemäß Verena Simon gleichgesetzt werden mit dem Öffnen seiner Augen, wodurch er aus seinem Traum erwacht und sich wieder mit dem realen Raum der Passage verbindet.670 Der Text von Louis Aragon kann in Bezug auf die Genrezuordnung in die zweite Kategorie der ›Kaffeehausliteratur‹ eingeordnet werden, weil es sich hier um einen längeren Prosatext handelt, der teilweise im Kaffeehaus spielt beziehungsweise von einem bestimmten Café handelt. Es wird sowohl die Atmosphäre als auch die Einrichtung des Café Certa sowie die Wirkung derselben auf die Besucherinnen und Besucher beschrieben. Dabei wird eine sehr bildreiche Sprache verwendet, welche die Atmosphäre und die synästhetischen und phantasieanregenden Reize der Passage, die über das rational zu Erfassende herausgehen, sehr gut wiedergibt und für die Lesenden spürbar macht.
V.4.4.
Metaphorik und Atmosphäre I: Das Café als Arche Noah
Oft drängt sich im Leben der Wunsch nach einer kurzen Alltagsflucht oder einer längeren wirklichen Flucht in eine andere Welt auf. Die Autoren der im Folgenden untersuchten Texte thematisieren diesen Wunsch und setzen ihn in Bezug zum Kaffeehaus, welches dabei zuweilen mit einem Schiff gleichgesetzt wird, in dem sich das Individuum seinen Platz suchen muss und mal in stillen, mal in unruhigen, vielleicht sogar gefährlichen Gewässern fährt. Damit wird es zu einem Abbild des Lebens, das so unwägbar verläuft wie eine Schifffahrt auf hoher See. Evident wurde diese Schifffahrtsmetaphorik beispielsweise bei Marc Augé und Heimito von Doderer durch Vokabeln wie ›Insel‹ oder ›cabotage‹, mit Hilfe derer die Autoren die Atmosphäre im Café beziehungsweise die Bedeutung desselben oder ihre persönliche Wahrnehmung diesbezüglich ausgedrückt haben. Im Folgenden soll diese Metaphorik, die zum Teil in Verbindung mit einer religiös geprägten Sprache beziehungsweise biblischen Inhalten verwendet wird, sowie deren Bedeutung als Merkmal
670 Vgl. Simon : Paris – das Mysterium der Surrealisten, S. 94.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
für die ›Kaffeehausliteratur‹ anhand dreier kurzer Prosatexte näher analysiert werden, welche jeweils in ein größeres Textkonvolut des jeweiligen Autors oder in einen Sammelband mit fremden Texten eingebettet sind: Armin T. Wegners »Unser Kaffeehaus oder Die Arche« von 1969, in dem er von seiner Zeit im Berliner Café des Westens erzählt, Wolfgang Koeppens »Ein Kaffeehaus« von 1965, der das Romanische Café in Berlin zum Thema hat, und das Kapitel »Caffè San Marco« aus Claudio Magrisʼ Textsammlung Microcosmi von 1997, welches von dem gleichnamigen und heute noch existierenden Café in Triest und dessen Historie handelt. Am Rande betrachtet und vergleichend herangezogen wird des Weiteren der 1987 als Buch veröffentlichte Feuilletonartikel I luoghi del disincanto von Magris. In den ausgewählten Texten wird zum einen die Lebenswirklichkeit im Café metaphorisch mit einer unkalkulierbaren Schifffahrt gleichgesetzt, zum anderen geht es auch um den Raum, den ein Schiff den Reisenden bietet. Denn vor allem große Schiffe gelten auch als Mikrokosmos, als ›Städte im Kleinen‹, die unterschiedlich gestaltete Räume in sich vereinen. Michel Foucault bezeichnet das Schiff daher als Heterotopie schlechthin, weil es ein völlig autark funktionierender, in sich abgeschlossener ›Ort ohne Ort‹ ist, welcher dennoch abhängig ist von der Beschaffenheit des Gewässers, auf dem das Schiff unterwegs ist: Et si l’on songe que le bateau […] est un morceau d’espace flottant, un lieu sans lieu vivant par lui-même, fermé sur soi, libre en un sens, mais livré fatalement à l’infini de la mer […], on comprend pourquoi le bateau a été pour notre civilisation […] à la fois le plus grand instrument économique et notre plus grande réserve d’imagination. Le navire est l’hétérotopie par excellence. Les civilisations sans bateaux sont comme les enfants dont les parents n’auraient pas un grand lit sur lequel on puisse jouer; leurs rêves alors se tarissent, l’espionnage y remplace l’aventure […].671 Da das Schiff verschieden genutzte Bereiche in sich birgt und die unterschiedlichsten Güter in die entferntesten Gegenden liefern kann, ist es nicht nur ein wichtiges wirtschaftliches Verkehrsmittel, sondern laut Foucault auch ein ›Sammelbecken der Phantasie‹: Der Anblick eines gerade abfahrenden Container- oder Kreuzfahrtschiffs bewirkt bei Zurückgebliebenen etwa die Assoziation von Abenteuern, Piratentum und Entdeckungsfahrten sowie eine mehr oder minder große Vorstellung davon, wohin die Reise wohl gehen wird und welches Universum sich in dem Schiffsbauch befindet. Dabei werden Träume und die Phantasie umso mehr angeregt, wenn die Betrachtenden wissen, dass ein Schiff ferne, unbekannte Gegenden ansteuern und vielleicht mit exotischen Waren oder kriminellen Gütern wie Rauschgift zurückkehren wird. Solche Phantasievorstellungen sind Foucault zufolge jedoch nur möglich in einem demokratischen, freiheitlichen Lebensraum, welcher Träume und Ideen Andersdenkender unterstützt, anstatt diese zu überwachen und zu verfolgen.672 Übertragen auf dieses Kapitel sollen die in den Texten beschriebenen Kaffeehäuser gemäß Foucault als ›Orte ohne Ort‹ analysiert werden, die ›ganz auf sich selbst ange-
671 Foucault : »Les hétérotopies«, S. 51f. 672 Foucault : »Les hétérotopies«, S. 51f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
wiesen, in sich geschlossen und zugleich dem Meer ausgeliefert‹673 sind. Es soll jeweils danach gefragt werden, inwieweit sich die Realität im Kaffeehaus widerspiegelt und die Flucht somit eine Illusion ist, oder ob das Kaffeehaus vielmehr ein Traumort ist, an den man sich wahrhaft flüchten und die Wirklichkeit vergessen kann. Untersucht werden soll auch, wie diese Kontraste sprachlich-metaphorisch dargestellt werden, welche Bedeutung das Kaffeehaus nach Ansicht der Autoren als Ort des Schreibens hat und welche Themen als wiederkehrende Bestandteile der ›Kaffeehausliteratur‹ angesehen werden können. Magrisʼ Text »Caffè San Marco« ist eingebettet in Microcosmi, eine Textsammlung, die laut Klappentext der deutschen Ausgabe »Biographien von Landschaften (oder eine geographische Autobiographie) entwirft«674 und darin ein ganzes Leben beziehungsweise die ganze Welt darstellt. Es ist die von Assoziationen geleitete Erzählung eines in der dritten Person genannten Reisenden, der ausgehend von einem heutigen Aufenthalt im Triester Caffè San Marco verschiedene Orte besucht, ausgedehnte Zeiträume durchquert und die unterschiedlichsten Vorgänge der Weltgeschichte reflektiert, die der Autor willkürlich nach historisch-gesellschaftlicher Bedeutung oder persönlicher Interessenlage ausgewählt zu haben scheint und kommentierend wiedergibt.675 Für Elke Schmitter ist dieses Buch daher als sehr »ehrgeizig« zu bezeichnen, da Magris den Anspruch erhebe, dass alles, was er schreibe, die Leser interessieren möge – aus keinem anderen Grund als dem, daß Claudio Magris es beschreibt. Sein Buch gibt auf keine Frage eine Antwort, es erfüllt keinerlei Notwendigkeit, es muß sich ganz aus sich selbst behaupten. Darin ist es der Lyrik ähnlicher als früheren Büchern von ihm […].676 Schmitter vergleicht den Text aber nicht nur mit der Gattung der Lyrik, sondern stellt weitere Überlegungen zum changierenden Genre des Textes an, welches sich für sie bewegt zwischen »Autobiographie, […] Heimatkunde, Geschichtsessay, Anekdotische[m], durchsetzt mit lebensphilosophischen Bemerkungen.«677 Auch der Journalist Wieland Freund macht sich in seiner Rezension des Textes Gedanken über Genre und Stil von Microcosmi, da Magris nicht nur Wissenschaftler und Professor für deutsche Literatur, sondern auch Erzähler sei, »ein chronischer Grenzüberschreiter, dessen Schreiben es nicht beim Realis belässt, sondern immer wieder den Potentialis ausprobiert, die konkrete Möglichkeit. Was dann entsteht, sind ›Fiktionen‹.«678 Offenkundig wird anhand dieser Rezensionen, dass Magrisʼ Microcosmi zu kontroversen Debatten rund um die 673 Foucault : »Les hétérotopies«, S. 51. 674 Vgl. Klappentext der deutschen Ausgabe: Claudio Magris: Die Welt en gros und en détail, München/Wien 1999, S. 2. 675 Vgl. auch die Rezensionen übernehmen die metaphorische Sprache des Buches: »Menschen, Dinge, Orte, Sprachen und vergangene Zeiten – was Spuren hinterlassen hat im San Marco, hat Claudio Magris gesammelt und gemischt und schließlich ausgelegt wie ein Kartenspiel.«, in: Wieland Freund: »Das Leben ist ein Seehafen«, in: Die Welt, 22.03.2001, URL: https://www.welt.de/printwelt/article 441382/Das-Leben-ist-ein-Seehafen.html (04.07.2019). 676 Elke Schmitter: »Grundschuledes Abschieds. Claudio Magris und seine Welt ›en gros und en détail‹«, in: DIE ZEIT, 06.05.1999, URL: www.zeit.de/1999/19/199919.l-magris_.xml (05.01.2018). 677 Schmitter: »Grundschuledes Abschieds«. 678 Freund: »Das Leben ist ein Seehafen«.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Funktion und Bedeutung des Textes und Genres führt, da er aufgrund des Oszillierens sowohl zwischen verschiedenen Formaten als auch zwischen Fiktion und faktenbasierter historischer Darstellung nicht leicht in ein Genre einzuordnen ist. So zerfließen in vielen von Magrisʼ Texten die Grenzen zwischen dem Leben des Autors, demjenigen seiner fiktiven und historischen Figuren sowie zwischen der Darstellung realer Städte, Landschaften und andere Örtlichkeiten wie einem Kaffeehaus mit fiktiven Welten. Neben dieser Grenzverwischung tragen die bei Magris sehr oft verwendeten Wasserund Flussmetaphern dazu bei, seine literarischen Texte nicht als statisches Produkt zu betrachten, sondern als etwas, das immerwährend ›im Fluss‹ zu sein scheint: Wer Claudio Magris zuhört, dem fallen die vielen Wasser-, Fluss- und Meeresbilder auf, die er einflicht. Die besten Kenner von Magrisʼ Büchern haben darauf hingewiesen: Das Leben, das Schreiben, aber auch das Lesen als Fluss oder sich endlos bewegende Wassermasse, ein Feld, das ständig beackert werden muss und doch nie endgültig bestellt sein kann.679 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie diese niemals abgeschlossene Konstellation Magrisʼ »Caffè San Marco«, das erste Kapitel aus Microcosmi, in dem die Geschichte ihren Ausgangspunkt nimmt, in die Nähe des hier beschriebenen Genres der ›Kaffeehausliteratur‹ rückt. Daneben soll mit Blick auf das Genre und die Wasser- und Schiffsmetaphorik auch detailliert auf Armin T. Wegners »Unser Kaffeehaus oder Die Arche« eingegangen werden. Für Magris und auch Wegner bedeuten ihre Stammcafés nichts weniger als Refugien für ›Notleidende des Herzens‹, welche ihrer Ansicht nach mit ihrer ›Besatzung‹ Trost spenden und all denjenigen Menschen zumindest vorübergehend bedingungslos Asyl gewähren, die dieses aus physischen oder psychischen Gründen bedürfen. Dabei kommt den Wirten in Magrisʼ Augen, wie schon zuvor bei Augé, eine besondere Rolle als Wohltäter zu; so auch Marco Lovrinovich, dem ersten Besitzer des Caffè San Marco: I caffè sono anche una specie di ospizio per gli indigenti del cuore, e i caffettieri come Lovrinovich sono pure dei benefattori che offrono loro un provvisorio ricovero dalle intemperie, come i fondatori di asili per i senza tetto; è anche giusto che ci guadagnino, e magari che ci guadagnino anche gloria patriottica […].680 Für Claudio Magris stellt das Kaffeehaus einen wahrhaft irdischen Ersatz zum biblischen Paradies dar, aus dem die Menschen vertrieben worden seien, um nun im Café Zuflucht zu suchen, wo die Engel des Personals sie behüten und vor den Verführungen der Schlange beschützen würden: Il direttore, il signor Gino, e i camerieri […] sono una gerarchia angelica minore ma affidabile, quel che basta per sorvegliare affinché gli esuli dal paradiso terrestre si trovino
679 Gregor Hoppe: »Radio-Porträt über Claudio Magris«, ausgestrahlt am 15.10.09 bei WDR 5 in der Sendung Scala, anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2009 an Magris. 680 Magris: Microcosmi, S. 20f. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »M« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
a loro agio in quell’Eden surrettizio e nessun serpente li alletti ad uscire con qualche falsa promessa. (M 18) Magris vergleicht das Caffè San Marco in diesem Text und bei anderen Gelegenheiten, wie zum Beispiel in Interviews, mit der Arche, die es Noah nach biblischer Überlieferung681 ermöglichte, mit seiner Familie und zahlreichen Tierpaaren die Sintflut zu überleben. Einerseits war es Noah so möglich, vor der von Gott heraufbeschworenen Flut zu flüchten und die Welt vor dem ewigen Untergang der Arten zu bewahren, andererseits bildete er im Schiff durch das das Vorhandensein von Mann und Frau und jeweils einem Tiermännchen und -weibchen jegliche Lebewesen ab, die auf der Welt lebten. Damit ist die Arche ein Mikrokosmos und eine Welt im Kleinen, die zwar nach ihren eigenen Regeln funktioniert, aber auch stets auf die Außenwelt Bezug nimmt, beispielsweise wenn Noah eine Taube hinausfliegen lässt, um herauszufinden, ob die Flut sich abschwächt, und sie mit einem Olivenzweig zurückkommt. Noah darf jedoch auf Gottes Befehl hin nur seine Frau, seine Söhne und Schwiegertöchter sowie jeweils zwei Tiere jeder Art mit auf die Arche nehmen, weil nur er und seine Familie vor Gott Gnade gefunden haben und ihm gerecht erschienen sind, wohingegen in der Arche des Caffè San Marco gemäß Magris unterschiedslos Platz für jeden ist, der Zuflucht suche. Niemand werde ausgeschlossen oder besonders auserwählt, ungeachtet, welche Vorgeschichte er mitbringe oder ob man als Paar oder Einzelperson erscheine: »Il San Marco è un’arca di Noè, dove c’è posto, senza precedenze né esclusioni, per tutti, per ogni coppia che cerchi rifugio quando fuori piove forte e anche per gli spaiati.« (M 11) Magris berichtet im weiteren Verlauf des Textes von einer Diskussion im Café mit Herrn Schönhut, dem Schammes der nahegelegenen Synagoge, in die Magris eine philosophische Reflektion über die biblische Geschichte der Sintflut einflicht. In dieser vielleicht fiktiven Diskussion fragt sich Herr Schönhut, warum Gott die Erde wohl erst durch die Sintflut zerstört, danach wieder habe aufbauen lassen und wieso das Leben anschließend weitergehen konnte, obwohl die Sünden der Welt nicht aufgehört hätten – ganz im Gegenteil. Auch hier lassen sich Verbindungslinien zwischen dem Café und der biblischen Erzählung ziehen: So wie die geflutete Erde und mit ihr die in der Arche verbliebenen Menschen und Tiere nach dem Hochwasser wieder gedeihen sollten, wurde auch das Café, nachdem es 1914 eröffnet und während des Ersten Weltkriegs verwüstet wurde, direkt nach dem Krieg wiedereröffnet. Doch weder waren die Menschen nach der Sintflut geläutert noch war das traditionsreiche Café gut besucht; wirkliche Beachtung fand es erst nach seiner Renovierung und der anschließenden Neueröffnung im Juni 1997. Ob es Herrn Schönhut und dessen Überlegungen wirklich im Café gegeben hat oder Magris ihn nur als Kunstgriff, Inszenierungs- oder Verfremdungstaktik verwendet hat, um seine eigene Meinung auszuführen, bleibt offen; hier zeigt sich die potentiell fiktive Seite des Textes. Abschließend verweist Magris an dieser Stelle auf die Zeit des Nationalsozialismus, wenn er einwirft, dass nur ein Jude diese Reflektionen habe anstellen können, denn nur er und niemand anderes dürfe aufgrund der Geschich-
681 Vgl. Genesis 6,1-8,22, in: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Altes und Neues Testament, Augsburg 1993.
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te über den Gott Israels lästern.682 Es scheint jedoch durch, dass auch Magris selbst der gleichen Meinung ist wie der Schammes. Im weiteren Verlauf geht er auch noch einmal darauf ein, inwieweit sich der Nationalsozialismus und die damit einhergehende Verfolgung der Juden in Europa auf das Café selbst, seine Atmosphäre und Gäste ausgewirkt haben. Darauf wird im Folgenden im Vergleich zu Koeppen noch einmal einzugehen sein. Auch Armin T. Wegners Text »Unser Kaffeehaus oder Die Arche« nimmt Bezug auf biblische Motive und bezeichnet das Café des Westens, in dem der 1886 geborene Autor zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Zeit zusammen mit Else Lasker-Schüler, dem ›Prinzen von Theben‹, verbracht hat, im Rückblick als ›Arche‹, ›Oase‹, ›geweihter Ort‹ und gleichzeitig als ›Fegefeuer‹, in dem Schriftstellerinnen und Künstler ihren Platz finden: Nur wenn man weiß, in wie wenig anheimelnden, mit von Motten zerfressenen Plüschsesseln und veraltetem Hausrat eingerichteten Mietzimmern die Mehrzahl all dieser Schriftsteller, Dichter und Maler ihre Arbeitsstunden verbrachten, kann ermessen, wie viel Wärme und Licht von den Zeitungen, den Gesprächen und der Gesellschaft in diesen Kaffeehäusern, ja das geradezu ein Hauch von Weihe davon auf sie überging. Der Prinz von Theben nannte das Kaffeehaus des Westens deshalb seine Oase oder Zigeunerwagen, in dem Seiltänzer und Zirkuskünstler den Ort ihres Auftretens wechseln. Noch treffender verglichen wir es einer Arche, die mit ihren Dichtern allnächtlich im Meere der weiten Stadt umhertrieb. Unaufhörlich bewegte sich in den Nachmittagsund Abendstunden die gläserne Drehtür hinter welcher der bucklige Richard mit seinem roten Haarschopf, ein armes Berliner Kind, die Wache hielt. Er war der oft lautlos knurrende Höllenhund dieses Fegefeuers, das zu durchlaufen keinem Künstler Berlin jener Zeit erspart blieb.683 Wegners Erzähler thematisiert damit den starken Kontrast, der sowohl biblischen Texten als auch dem Kaffeehaus inhärent zu sein scheint: Einerseits figuriert das Kaffeehaus hier – ohne wie Magris explizit Bezug auf die Bibel zu nehmen – als positiv konnotierte ›Arche‹ oder ›Oase‹, in die man sich vor der Flut der großstädtischen Reize und aus Abneigung gegen die kalten, ungemütlich eingerichteten kleinen Mietswohnungen der 1920er Jahre flüchten, sich bei guter Finanzlage Erfrischungen bestellen und sich durch das bunte, zirkushafte Treiben inspirieren lassen kann. Andererseits ist es die Hölle, in der sich die Künstlerinnen und Künstler wie die von Gott auserwählten Menschen und Tiere auf der engen Arche beweisen, ihren Platz erkämpfen und Verbündete finden müssen, um in ihrer ›Art‹ als Kunstschaffende wirtschaftlich zu überleben und in der Außenwelt zu publizieren. Daneben beschreibt der Erzähler mit der ›gläsernen Drehtür‹ des ›Fegefeuers‹, hinter welcher der Kellner Richard jedes Ein- und Austreten
682 Vgl. »E il signor Schönhut si beveva la birra, sicuro che la cose finisse lì, perché lui poteva dire quello che voleva del Dio d’Israele, anche peste e corno, tutto restava in famiglia, ma da parte degli altri sarebbe stata un’indelicatezza e, in certi periodi, una bella vigliaccata.« (M 12) 683 Wegner: »Unser Kaffeehaus oder Die Arche«, S. 88. Wegners Beitrag wurde für diesen Sammelband verfasst und darin erstmals veröffentlicht. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »UKDA« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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überwacht, ein ›System der Öffnung und Schließung‹, welches gemäß Foucault Heterotopien zukommt, um sie von der Außenwelt abzuschotten und dem Gast zuweilen nur vortäuscht, dass er Zutritt habe. So sitzt der Gast einer Illusion auf, weil er ›in Wirklichkeit nirgendwo eingetreten‹ ist, da Innen- und Außenwelt sich nicht voneinander unterscheiden, oder nur die bereits ›Eingeweihten‹ Zutritt zum geheimen inneren Zirkel des Cafés haben.684 Dabei unterstreicht der Fakt, dass es sich in Wegners Text um eine drehende, aus Glas bestehende Tür handelt, die Durchlässigkeit und stetige Beweglichkeit des Portals und damit des dahinterliegenden Raumes. Dies deutet darauf hin, dass die Zusammensetzung der Gäste nicht festgelegt ist und der Wechsel zwischen dem Status der Eingeweihten zu dem der Ausgeschlossenen sehr schnell vollzogen werden kann. So kann man rasch vom Himmel in die Hölle kommen, je nachdem, ob man ausreichend Witz und Charisma hat, um im freien Vortrag zu bestehen oder ob man Mäzene oder Mäzeninnen von den eigenen Werken überzeugen und erfolgreich auf die Suche nach einem Verlag gehen kann. Aber die Künstlerinnen und Künstler halten sich dem Erzähler zufolge nicht nur im Kaffeehaus auf, weil sie dort Absatzmärkte oder Inspiration zu finden hoffen. Vielmehr sei das Kaffeehaus ein dauerhaftes Zuhause vor allem für all diejenigen, die kein wirkliches Zuhause und keine Familie haben, sondern nur ›Mietzimmer‹ mit ›von Motten zerfressenen Möbeln‹ und anderem ›veralteten Hausrat‹. Insbesondere unterstreicht Wegner die gemütliche und gemeinschaftliche Atmosphäre, die im Kaffeehaus herrsche und auf alle übergehe, die den Raum betreten, obwohl »das Halbdunkel dieser Schattengewölbe« (UKDA 95) des Café des Westens selbst eher heruntergekommen wirke und die Bezeichnung ›Gewölbe‹ auf einen dunklen, eher unheimlichen und nicht einladenden Sakralraum hindeute: Mit ihren Tischen auf gußeisernen Füßen, den runden Marmorplatten, auf denen berühmte und weniger berühmte Künstler mit Buntstift oder Ölfarbe ihre Malereien hinterlassen hatten, seiner Ausstattung im Kaiserstil des napoleonischen Frankreich machte das Kaffeehaus des Westens einen verwahrlosten Eindruck. Aber kaum erschienen seine sonderbaren, verlotterten Besucher mit ihren Mädchen und Geliebten darin, als der ganze Raum sich verwandelte, als erblühten Rosenhecken darin oder der Mond ginge über den kalten Tischplatten auf. Denn die seltsame Stimmung rührte von den Besuchern und Gesprächen her. (UKDA 87) Diese Atmosphäre, die Wegner hier metaphorisch mit einer ›aufgeblühten Rose‹ oder einem ›aufgehenden Mond‹ vergleicht, die den Gast aufheitern, wird insbesondere durch Sinneseindrücke und menschliche Gemeinschaft geschaffen, also durch Wärme, Geräusche und Töne, die von leisen Gesprächen und Musik ausgehen. Aber auch
684 Vgl. Foucault dreifach abgestuftes Konzept : »[…] les hétérotopies ont toujours un système d’ouverture et de fermeture qui les isole par rapport à l’espace environnant. […] Il y a d’autres hétérotopies, au contraire, qui ne sont pas fermées sur le monde extérieur, mais qui sont pure et simple ouverture. Tout le monde peut y entrer, mais, à vrai dire, une fois qu’on y est entré, on s’aperçoit que c’est une illusion et qu’on n’est entré nulle part. […] Enfin, il y a des hétérotopies qui semblent ouvertes, mais où seuls entrent véritablement ceux qui sont déjà initiés.«, in : Foucault : »Les hétérotopies«, S. 47ff.
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die gemeinsam erlebte, arbeitsame Stille zieht die Gäste an und lässt sie zur Ruhe kommen, weil sie sich nicht mehr alleine fühlen: Aus eigenem Schicksal um diese Vorgänge wissend, habe ich mich zuweilen gefragt, was in Wahrheit in der Halle unseres Kaffeehauses vor sich ging? Gedämpfte Stille herrschte im Raum. Die Mehrzahl der Gäste saß lesend über Zeitungen gebückt, die an ihren Haltern aufgerollt in vielen Fächern eines abgegriffenen weißen Kastens lagen. Andere Gäste unterhielten sich leise miteinander. Einige saßen alleine an ihren runden Tisch und schrieben. An einer Stelle stand nachts ein Geiger mit einem Cellisten oder einer anderen Begleitung und spielte. Von dem süßen Schmelz der Töne ging seltsam beruhigender Wohllaut aus. Es war schon gegen Mitternacht, aber niemand schien Lust zu spüren, fortzugehen. Wohin? Nach Hause? Gab es ein Zuhause für uns? (UKDA 94) Mit dem »üblichen Imbiß der Kaffeehäuser jener Zeit«, nämlich »zwei Eier[n] im Glase«, sei für die preiswerte kulinarische Versorgung der Künstlerinnen und Künstler gesorgt. Selbst die Drehtür kann als Personifizierung des Kaffeehauspersonals angesehen werden, da sie die Gäste freundschaftlich ins Lokal ›hineinschubse‹, während sie begleitend leise Laute von sich gebe: Zu den Schriftstellern gesellten sich junge Schauspieler und Schauspielerinnen, Theater- und Vortragsbesucher, die nach den Vorstellungen in der Friedrichsstadt noch einmal einkehrten, um eine Tasse Kaffee oder ein Gläschen Branntwein zu sich zu nehmen […]. Unaufhörlich drängten neue Paare durch die gläserne, leise seufzende Rolltür. […] Nirgends fanden sie Ruhe. In den dürftigen Mietzimmern oder Gasthauskammern, in denen sie ihre Tage schreibend, malend oder nichtstuend verbrachten, überfiel sie oft qualvolle Verlassenheit. Hier dagegen fanden sie Gesellschaft, Wärme und Licht. (UKDA 95) Wenn Wegners Erzähler sich fragt, warum das Kaffeehaus trotz seiner Verwahrlosung so anziehend wirkt, oder er den »süßen Schmelz« der Musik als »seltsam beruhigende[n] Wohllaut« (UKDA 94) bezeichnet, macht er deutlich, dass ihm die Art der Anziehungskraft nicht ganz erklärlich ist. Jedoch scheint es, dass neben der menschlichen Gemeinschaft gerade diese herabgewirtschaftete Ausstattung des Cafés der Grund für die Sogwirkung ist, welche verloren gehen würde, wenn man das Kaffeehaus renoviere, weil es sich dann nicht mehr wie ein ›Zuhause‹ anfühlen würde.685 Andreas Streibel und Stelio Vinci führen diese Diskrepanz zwischen der starken Anziehungskraft und gleichzeitiger optischer Abstoßung, zwischen anonymer Individualität und heimeliger Gemeinschaft in ihrem Artikel »Das Kaffeehaus in Triest« auf den Charakter des Cafés als »Durchgangs- und Beobachtungsstation« zurück. Von hier aus könne das Individuum oder eine Gruppe von Gästen an den genannten Informationsflüssen partizipieren und gleichzeitig gegenüber der Außenwelt jede Distanz wahren […], die zwischen dem durch den Konsum eines Genußmittels definierten Lokal und dem offenen Platz liegt. Das Kaffeehaus schließt
685 Vgl. Kapitel V.1.6.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
das Leben nicht aus, aber es zieht virtuelle Grenzen selbst zwischen den Tischen, von denen jeder einzelne im beständigen Strom sich ablösender Gäste für eine bestimmte Zeit einen ganz subjektiv erlebbaren Raum bildet.686 Man kann also teilhaben an der wechselnden Gemeinschaft, an den Vorteilen eines öffentlichen Lokals, wie Zeitungen und einer Bedienung, die den Gast mit Speisen und Getränken versorgt. Gleichzeitig kann man sich zurückziehen an seinen Tisch, wo man sowohl ein Gespräch führen als auch die anderen Gäste unbeteiligt beobachten kann und vereint so, gemäß Foucault, an einem einzigen Ort verschiedene Räume, die eigentlich nicht in Einklang zu bringen sind.687 Demnach können Cafés als Heterotopien bezeichnet werden, die jeweils ›andere Räume‹ hervorbringen, die mit einer niedrigen Eintrittshemmschwelle versehen sind und daher vielen offenstehen. Neben dem Zufluchtsgedanken veranlasst also eine weitere Eigenschaft die Autoren zu einem metaphorischen Vergleich des Cafés mit der Arche Noah, nämlich dessen Fähigkeit, in ihm die Vielschichtigkeit und Pluralität der Menschen zu bewahren und an einem Ort zu vereinen. So vermag es das Caffè San Marco, wie Magris in einem RadioPorträt sagt, diejenigen Menschen in sich zu versammeln, aus denen das ›wahrhafte‹ Triest bestehe: Ich liebe dieses Café, weil ich habe das Gefühl, dieses Café ist ein bisschen wie eine Arche Noah. Nicht nur von Mitteleuropa. Hier habe ich einige Leute getroffen, die wirklich ein kleines Konzentrat von dem waren oder sind, was einmal Triest war. Ein bisschen so ein Hafen – ich meine im metaphorischen Sinne – wo Leute aus verschiedenen Teilen Europas kamen. Es ist wie ein altes Schiff, das irgendwie geblieben ist nach einem Schiffbruch.688 Deshalb besteht das wesentliche Merkmal eines guten Kaffeehauses laut Magris nicht allein darin, dass man dort schreiben könne und die Atmosphäre die Wirklichkeit sanft verschleiere689 , um zwischen den Autorinnen und Autoren und der Außenwelt eine beruhigende und doch inspirierende Distanz zu bewirken. Vielmehr sei die außerordentlich große Vielfalt seiner Besucher und Besucherinnen das Kriterium, welches das Caffè San Marco zu einem besonderen und ›wahren‹ Kaffeehaus werden lasse, im Gegensatz zu ›Pseudocafés‹, in denen sich die Menschen laut dem Text nach bestimmten gesellschaftlichen Gruppen aufteilen, um sich abzusondern690 :
686 Andreas Streibel/Stelio Vinci: »Das Kaffeehaus in Triest«, in: Michael Rössner (Hg.): Literarische Kaffeehäuser. Kaffeehausliteraten, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 210-225, S. 214. 687 Vgl. Foucault:»Les hétérotopies«, S. 44. 688 Hoppe: »Radio-Porträt über Claudio Magris«. 689 Vgl. »Nel Caffè l’aria è velata, protegge dalle lontananze; nessuna folata spalanca l’orizzonte e il rosso della sera è il vino nel bicchiere.« (M 23) 690 Vgl. Magrisʼ ähnliche Äußerung in seinem Text I luoghi del disincanto: »Il vero caffè, periferia della Storia, è contrassegnato dalla fedeltà conservatrice e dal pluralismo liberale dei suoi frequentatori. Pseudocaffè sono invece i locali nei quali fa compattamente gruppo un’unica tribù: in uno le signore eleganti, in un altro i giovanotti di belle speranze per l’aperitivo, in un altro ancora la gioventù emancipata che esibisce aggressivamente uno stile casual.«, in: Claudio Magris: I luoghi del disincanto, Triest 1987, S. 9f. Dieser Text wurde am 25. Januar 1984 im Zusammenhang mit der Schließung und darauffolgenden Renovierung des Caffè Tommaseo in Triest im Corriere della Sera
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Il San Marco è un vero Caffè, periferia della Storia contrassegnata dalla fedeltà conservatrice e dal pluralismo liberale dei suoi frequentatori. […] Ogni endogamia è asfittica; anche i college, i campus universitari, i club esclusivi, le classi pilota, le riunioni politiche e i simposi culturali sono la negazione della vita, che è un porto di mare. Al San Marco trionfa, vitale e sanguine, la varietà. Vecchi capitani di lungo corso, studenti che preparano esami e studiano manovre amorose, scacchisti insensibili a ciò che succede loro intorno, turisti tedeschi […], silenziosi lettori di giornali, combriccole festose […], anziani grintosi che deprecano la nequizia dei tempi, saccenti contestatori, geni incompresi, qualche yuppie imbecille […]. (M 15) Durch diese Pluralität wird Magrisʼ Triester Café als europäischer Schmelztiegel, in dem italienische, slowenische und österreichische Einflüsse dominieren, zum Vorbild für ein zukünftiges Europa, in dem sowohl die Gemeinschaft als auch das Individuum Beachtung finden.691 So beschreibt Wieland Freund das Konzept vom »Individuum als immer einmalige[n] Mischung« – im Gegensatz zu einer ›reinen Mischung‹ – als »zentrale Vorstellung im Schreiben und Denken des Claudio Magris«.692 Diese Vorstellung ist sowohl inhaltlich als auch in der Form von Magrisʼ Text präsent, der immer wieder das Thema wechselt, assoziativ vorgeht und en passant einzelne Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Herrn Schönhut, den Maler Vito Timmel, die Schriftsteller Giorgio Voghera oder Juan Octavio Prenz, detailliert vorstellt, dabei aber immer ihre Beziehung zum Café und damit zur Gemeinschaft und ihrer Geschichte darlegt. So hilft ihm im Text der Ort des Cafés, den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft aufzulösen in ein ›Nebeneinander‹ der unterschiedlichen Akteure: Allgemein spiegelt das Kaffeehaus die Verbreitung und Verinnerlichung eines städtischen individualistischen Lebensstils wider, es bildet die Kulisse einer Vielfalt von Selbstinszenierungen, des von Magris in seinen Skizzen immer wieder beschworenen hartnäckigen individuellen Widerstands gegen die Anonymität des Einzelnen innerhalb differenzierter sozialer Systeme und angesichts der unmenschlichen Dynamik historische Abläufe.693 Streibel und Vinci gehen hier sowohl auf die Rolle des Cafés als ›Kulisse‹ und ›Spiegel‹ als auch auf die bevorzugte Textform Claudio Magrisʼ ein, nämlich auf die ›Skizze‹, in der er kurze Momente schildert und sie in Bezug setzt zum großen Ganzen, eben die ›Welt en gros und en détail‹. Die freiheitliche Heterogenität der Gäste des San Marco, die von Menschen der unterschiedlichsten Nationalitäten, Altersgruppen und Berufen herrührt, schafft ein Abbild des wirklichen, gesellschaftlichen Lebens. In den letzten beiden Zitaten von Magris
veröffentlicht. Im Jahr 1987 wurde er in Buchform wieder abgedruckt und ist in seinen Aussagen sehr ähnlich beziehungsweise identisch zu dem hier analysierten Text über das Caffè San Marco. In den folgenden Fußnoten wird daher immer wieder auf übereinstimmende Aussagen hingewiesen werden. 691 Vgl. Angelo Ara/Claudio Magris: Triest. Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa, Wien/Köln/Weimar 1999, S. 300. 692 Freund: »Das Leben ist ein Seehafen«. 693 Streibel/Vinci: »Das Kaffeehaus in Triest«, S. 214.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
fällt erneut überdeutlich die Schiffsmetaphorik auf, die im Zusammenhang mit dem Café verwendet wird: Egal, was passiert und in welche Richtung die Weltgeschichte sich dreht, das Kaffeehaus-Schiff bleibt an seinem Platz, beherbergt die Menschen und stellt damit eine Form von Kontinuität bereit, die vor allem in unruhigen Zeiten wichtig ist, weil sich die Menschen darauf verlassen können. Gleichzeitig erwähnt Magris auch die sich permanent in Bewegung befindliche Tür des Cafés694 , so dass das Lokal zwischen Beständigkeit und Aufbruch hin- und herpendelt. Magris vergleicht auch das menschliche Leben mit einem Seehafen, der eine Vielzahl verschiedener Schiffe beheimatet, sie ins offene Meer entlässt und wieder empfängt, so wie ein Mensch in seinem Leben viele Erfahrungen sammelt, sich Erinnerungen bewahrt, immer wieder andere Menschen kennenlernt, bestimmte Lebensabschnitte abschließt und sich darauf Neuem zuwendet. Um zu verdeutlichen, wie sehr ein Kaffeehausbesuch dem Leben selbst ähnelt, verwendet Magris wie schon Augé die Metapher des ›Spiels‹ beziehungsweise ›Schauspiels‹, wenn er das Caffè San Marco mit einem Schachbrett respektive dem ›Gänsespiel‹695 und die Gäste mit Spielfiguren vergleicht, die sich im Café wie im Leben nicht direkt und geradlinig bewegen, sondern ›zickzack‹ im rechten Winkel oder im Kreis laufen, je nach Lebenssituation: Zum Beispiel lernen Studierende im Café oder korrigieren ihre Examensarbeit, wohingegen ein Schriftsteller wie Magris dort schreibt und Interviews gibt (vgl. M 13). So veranschaulicht er die Unwägbarkeiten und die Flüchtigkeit des Lebens, die sich im Café abbilden und in ihm eine Konstante finden. Durch diese Verbindung des Cafés zum Leben sei das San Marco laut Magris kein Ort, an dem man Höhenflüge bekommen könnte. Vielmehr betont er die bodenständige Verortung des Cafés innerhalb der wirklichen Welt, welche durch die ständige gleichförmige Bewegung kommender und gehender Gäste und die typischen monotonen Geräusche verursacht werde. Diese Geräusche könnten den Dichter beruhigen und dessen Hang zu einem ›Allmachtsdelirium‹ berichtigen, wie er über sich selbst in einem Interview sagt: Ich schreibe sehr gerne im Café aus vielen Gründen, nicht nur weil man hier nicht telefonisch erreichen kann [!] und so habe ich das Gefühl, wirklich ruhig zu sein. Erstens schreibe ich gerne mitten unter den Leuten, denn im Schreiben gibt es immer die Gefahr, die Tendenz, zu einem kleinen Allmachtsdelirium, Wahnsinn, irgendwie glaubt man, die Welt mit den Armen, Feder, Kuli, oder Computer, je nachdem, in Ordnung zu
694 Vgl. »La genta entra ed esce dal Caffè, alle sue spalle i battenti della porta continuano ad oscillare, un lieve soffio d’aria fa ondeggiare il fumo stagnante.« (M 13) 695 Vgl. »Il percorso attraverso il Caffè […] Amato dagli scacchisti, il Caffè assomiglia a una scacchiera e fra i suoi tavolini ci si muove come il cavallo, girando di continuo ad angolo retto e ritrovandosi spesso, come in un gioco dell’Oca, al punto di partenza […].« (M 13). In der deutschen Übersetzung heißt es statt ›Gänsespiel‹ »Mensch-ärgere-dich-nicht«. Diese Übersetzung erscheint im inhaltlichen Zusammenhang jedoch weniger passend: Obgleich es in beiden Gesellschaftsspielen darum geht, mithilfe von Glück und dem richtigen Würfelzahlen ans Ziel zu gelangen, wird im Gänsespiel noch deutlicher, dass das Leben ein schicksalhafter Weg ist, der von vielen Facetten abhängt und sich sehr schnell verändern kann. Vgl. Magris: Die Welt en gros und en détail, S. 12.
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bringen. Es ist sehr gut zu sehen, dass Leute, die zwei Meter entfernt [!], sich darum gar nicht kümmern. Es gibt diese unmittelbare Ironisierung.696 Für Magris, der an seinem Stammplatz im Caffè San Marco das »Hintergrundgemurmel einer gleichgültig vorbeiziehenden Welt als anheimelnd genießt«697 , ist ein Kaffeehaus ein Ort des Schreibens und der Literatur par excellence, weil die meist heitere, aber passiv-gleichgültige Atmosphäre des Cafés Schriftstellerinnen und Schriftsteller vom Irrglauben abbringe, sie könnten mit ihren Texten und Reden die Welt verändern oder bekehren. So werde jede Form von künstlerischer Hybris im Ansatz unterdrückt, indem man sich durch die Anwesenheit anderer Gäste und das Mithören ihrer Gespräche und alltäglichen Probleme der eigenen ebenbürtigen Stellung bewusst werde. Dies liegt insbesondere in der Geräuschkulisse des Cafés begründet, die zu großen Teilen mitbestimmend bei der Schaffung und Wahrnehmung der Atmosphäre sei: Il Caffè è un brusio di voci, un coro sconnesso e uniforme, tranne qualche esclamazione a un tavolo di scacchisti o, la sera, il pianoforte del signor Plinio […]. Voci si levano, si confondondo, si spengono, le si sente alle proprie spalle, avvianddosi in fondo alla sala, un rumore di risacca. Le onde sonore si allontanano come i cherchi di fumo, ma da qualche parte ci sono ancora. Ci sono sempre, il mondo è pieno di voci, un nuovo Marconi potrebbe inventare un apparecchio capace di captarle tutte, infinito vocìo su cui la morte non ha potere; le anime immortali e immateriali sono ultrasuoni vaganti nell’universo. (M 15) Für Magris besteht der Reiz der Stimmen und Klänge im Caffè San Marco aber nicht nur in der wohligen Konzentration, die sie vermitteln. Sie symbolisierten darüber hinaus die Lebendigkeit der Welt und die Hoffnung, dass das Leben immer weitergehen wird, weil der einzelne Mensch – und damit auch der Schriftsteller oder die Schriftstellerin – nur ein Zahnrad im Gesamtgetriebe sei. Daran würden alle, die sich für herausgehoben hielten, laut Magris im Café erinnert, denn es sei zwar ein freundlicher Ort, an dem man seinen Mitmenschen so nahekomme, dass man ihre Emotionen spüren könne und sich nicht einsam fühle. Jedoch könne man niemanden in dozierendem Ton zu etwas überreden, weil in diesem ›Ort der Desillusionierung‹ immer eine gewisse Distanz gewahrt bleibe698 : Il caffè è un’accademia platonica, diceva agli inizi del secolo Hermann Bahr […]. […] In quest’accademia non si insegna niente, ma si imparano la socievolezza e il disincanto. Si può chiacchierare, raccontare, ma non è possibile predicare, tenere comizi, far
696 Hoppe: »Radio-Porträt über Claudio Magris«. 697 Hoppe: »Radio-Porträt über Claudio Magris«. 698 Vgl. auch: »Il caffè rende giustizia alla nostra doppia natura. È il luogo epico dell’incontro, della socievolezza, dell’amicizia, del dialogo, della bottiglia stappata per rendere onore al tempo che passa […]. Per entrambe le ragioni, il caffè – quest’accademia platonica, come la chiamava Hermann Bahr – è un luogo in cui i maestri non hanno presa. Ognuno è solo, prossimo e distante rispetto a chi gli sta accanto; non è possibile far scuola, creare schieramenti, mobilitare seguaci, persuadere discepoli. In quel luogo del disincanto non può prosperare un maestro che seduca con false promesse di redenzione chi ha un ansioso e vago bisogno di redenzione facile e immediata.«, in: Magris: I luoghi del disincanto, S. 11f.
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lezione. Ognuno, al suo tavolo, è prossimo e distante rispetto a chi gli sta accanto. […] In questo luogo del disincanto […] non c’è posto per i falsi maestri, che seducono con false promesse di redenzione chi ha un ansioso e vago bisogno di redenzione facile e immediata.(M 18f.) So entsteht Magris zufolge eine Situation voller Ironie und Komik, in der die Ernsthaftigkeit weniger hervortritt und die Bedeutung der Schreibenden sich relativiert699 : Non è male riempire i fogli sotto le maschere che ridacchiano e tra l’indifferenza della gente seduta intorno. Quel bonario disinteresse corregge il delirio d’onnipotenza latente nella scrittura, che pretende di sistemare il mondo con alcuni pezzi di carta e di sdottorare sulla vita e sulla morte. Così la penna s’intinge, volente o nolente, in un inchiostro temperato con umiltà e ironia. Il caffè è luogo della scrittura. Si è soli, con carta e penna e tutt’al più due o tre libri, aggrappati al tavolo come un naufrago sbattuto dalle onde. (M 17) Hier verwendet Magris wieder den nautischen Wortschatz, wenn er die im Café schreibenden Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit Schiffbrüchigen vergleicht, die von ihren Ideen und Ansprüchen hin- und hergeworfen werden wie von den Wellen auf hoher See. So habe man beim Schreiben im Caffè San Marco das Gefühl, ein Seemann zu sein, der in der ständigen Gefahr lebe, mit dem ›Café-Boot‹ im tosenden Meer seiner durcheinander wirbelnden Gedanken unterzugehen: Pochi centimetri di legno separano il marinaio dall’abisso che può inghiottirlo, basta una piccola falla e le grandi acque nere irrompono rovinose, tirano giù. La penna è una lancia che ferisce e guarisce; trafigge il legno fluttuante e lo mette in balia delle onde, ma anche lo rattoppa e lo rende di nuovo capace di navigare e di tenere la rotta. Afferrarsi al legno, senza paura, perché il naufragio può essere pure salvezza. (M 17f.) Jedoch sei dieser ›schreibende Seefahrer‹ durch seine ›Ausrüstung‹, also seinen die Tischplatte berührenden Stift, fest mit dem Boden des Cafés und der Gemeinschaft der Gäste verbunden – ein Umstand, der ihm in stürmischen Zeiten nicht nur Beruhigung, Stabilität und Sicherheit verleihe, sondern auch bei etwaigem Schiffbruch neue Wege aufzeige. Magrisʼ metaphorische Sprache, die sehr plastisch die geistige Tätigkeit der Schreibenden mit derjenigen eines Seemanns vergleicht und damit stets auf der Metaebene den Schreibprozess selbst reflektiert und beschreibt, kann als typisches Beispiel für die sprachliche Realisierung und Themensetzung der ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden. Das Kaffeehaus selbst spielt dabei eine wichtige Rolle als Ort, an dem diese Metaphorik ihren Platz hat, und als Quelle der Inspiration, die Schriftsteller und Schriftstellerinnen dazu anregt, sich mit dem Schreiben auf einer Metaebene auseinanderzusetzen. 699 Vgl. auch »Il caffè è l’unico luogo in cui si può veramente scrivere: si è soli, con carta e penna e tutt’al più i due o tre libri di cui si ha bisogno in quel momento, abbandonati a se stessi e costretti a far conto soltanto su se stessi, a raccogliere le proprie energie e a dosarle con misura; il tavolino su cui si poggia il foglio diviene la tavola di naufrago, cui ci si aggrappa, mentre la familiare armonia che ci circonda si svuota, diviene l’incerta cavità del mondo, nel quale la scrittura si addentra, perplessa e ostinata.«, in: Magris: I luoghi del disincanto, S. 10f.
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Neben der Nautik rekurriert Magris im Folgenden erneut auf die Bibel, wenn er die durch den Sündenfall Adams und Evas entstandene Erbsünde der Menschheit erwähnt und schreibt, dass sich Schriftsteller und Schriftstellerinnen im Caffè San Marco keine Illusionen über ihren Aufenthalt dort machten und nicht damit rechneten, ins Paradies, ins ›gelobte Land‹, zu kommen: Weder würden sie hier ›erleuchtet‹, so dass sich ihre Texte von selbst schrieben, noch könnten sie anderen ohne Begründung ihre Wahrheiten verkünden. Vielmehr sei ihre Arbeit eine handfeste, irdische Tätigkeit, die viel Mühe koste und nicht immer zum Ziel führe. Daher vergleicht er diese Arbeit mit dem entbehrungsreichen Gang Moses und der Israeliten durch die Wüste700 : Al San Marco non ci si allude che il peccato originale non sia stato commesso e che la vita sia vergine e innocente; per questo è più difficile rifilare ai suoi clienti qualche patacca, un biglietto d’ingresso per la Terra Promessa. Scrivere significa sapere di non essere nella Terra Promessa e di non potervi arrivare mai, ma continuare tenacemente il cammino nella sua direzione, attraverso il deserto. Seduti al caffè, si è in viaggio; come in treno, in albergo o per la strada, si hanno con sé pochissime cose, non si può apporre a nulla una vanitosa impronta personale, non si è nessuno. In quel familiare anonimato ci si può dissimulare, sbarazzarsi dell’io come di una buccia. (M 19f.) Der Rahmen des Cafés helfe den freiberuflichen, auf sich gestellten Kunstschaffenden aber dabei, sich auf ihre eigentliche Aufgabe, hier das Schreiben, zu konzentrieren, weil sie im Café nicht abgelenkt und keine ›Persönlichkeiten‹ mit privaten Problemen seien, sondern ein ›Niemand‹, der sich glücklich in den Augenblick entlassen dürfe, ohne an Vergangenheit und Zukunft zu denken: Il mondo è una cavità incerta, nella quale la scrittura si addentra perplessa e ostinata. Scrivere, interrompersi, chiacchierare, giocare a carte; il riso a un tavolo vicino, un profilo di donna, indiscutibile come il destino, il vino nel bicchiere, colore dorato del tempo. Le ore fluiscono amabili, noncuranti, quasi felici. (M 20) Auch hier sticht eine sehr metaphorische, synästhetische Sprache hervor, welche die Verschmelzung mehrerer Sinneseindrücke, hier Geschmack und Farben, mit dem im Augenblick empfundenen Gefühl der Glückseligkeit ausdrückt, verbunden mit dem Wissen um die Vergänglichkeit des Moments und einem ironischen Unterton, welcher diesen ›traumhaften Fluchtort‹ im Spiegel der Wirklichkeit betrachtet. In Zusammenhang mit biblischem und nautischem Vokabular soll diese Ausdrucksweise als Merkmal der ›Kaffeehausliteratur‹ festgehalten werden. Wenn man »Caffè San Marco« isoliert als einzelnen Prosatext (anstatt als Teil des Buches Microcosmi) betrachtet, so kann dieser in den ersten Ring der ›Kaffeehausliteratur‹ eingeordnet werden.
700 Vgl. Exodus 15,22-17,16.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Diese Merkmale finden sich auch in Wolfgang Koeppens Text »Ein Kaffeehaus«701 , welcher das Romanische Café zum Thema hat, das 1916 in Berlin gegenüber der KaiserWilhelm-Gedächtniskirche eröffnet wurde, bevor es nach dem Ersten Weltkrieg und der Schließung des Café des Westens zum bevorzugten Treffpunkt der Berliner Künstlerinnen und Künstler wurde. Das neue Café wird in den Texten verschiedener Autorinnen und Autoren jedoch immer wieder mit dem beliebten Café des Westens verglichen, das in der Rückschau nostalgisch verklärt wird. So sind sich die meisten Zeitzeugen und -zeuginnen weitgehend einig, dass das Romanische Café in den 1920er Jahren mit Blick auf seine Atmosphäre und Funktion nicht mehr dem geschätzten Café des Westens entspricht, da sich in jenem laut Paul Marcus die »Boheme der Praxis und nicht der Ideale«702 wiederfinde. Damit ist es kein »Ort dauerhaften Aufenthalts, nicht mehr Refugium, sondern nur mehr Umschlagplatz«, ein Ort des kurzen Verweilens, wo nicht mehr geschrieben oder diskutiert wird: »Kaum jemand kam ins Romanische, um zu arbeiten, Joseph Roth, Joachim Ringelnatz oder Erich Kästner mieden die Hektik und suchten sich kleinere Cafés und Cafékonditoreien.«703 Als Koeppen das Café Ende der 1920er Jahre zum ersten Mal betritt, gehört er selbst noch nicht zu den ›Arrivierten‹, sondern muss sich noch Förderer wie Bruno Cassirer und Max Tau suchen, die seine Texte veröffentlichen. Dabei nützt ihm der Aufenthalt im Romanischen Café, um diese zahlreichen ›Kaffeehausbekanntschaften‹ mit Verlegern und auch Autoren wie Egon Erwin Kisch zu schließen, die ihn beruflich voranbringen und unterstützen. So wird er mit Hilfe Herbert Iherings zunächst Mitarbeiter und später Redakteur im Feuilleton des Berliner Börsen-Couriers.704 Daher ist das Romanische Café, von dessen intellektuellem Publikum er schon viel gehört hat, für ihn die erste Anlaufstelle in Berlin, welche er ansteuert, um ein Teil des Berliner Künstlerzirkels zu werden. Da er jedoch laut eigener Aussage im Interview mit Heinz Ludwig Arnold »kein 701 Wolfgang Koeppen: »Ein Kaffeehaus«, in: ders.: Erzählende Prosa, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 3, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a.M. 1986, S. 165-168, S. 167. Dieser Text wurde 1965 unter dem Titel »Ein Kaffeehaus« zum ersten Mal veröffentlicht; 1972 erschien er mit der Überschrift »Romanisches Café« in der gleichnamigen Prosasammlung von Wolfgang Koeppen, bevor er 1986 in den Gesammelten Werken wieder mit »Ein Kaffeehaus« betitelt wurde. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »EK« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 702 Paul Marcus: »Romanisches Café. Der Berliner Olymp der brotlosen Künste«, in: Münchner Illustrierte Presse, 14.04.1929; hier zitiert nach Jürgen Schebera: Damals im Romanischen Café. Künstler und ihre Lokale im Berlin der zwanziger Jahre, Berlin 2005, S. 45. Vgl. z.B. auch Mühsam: Namen und Menschen, S. 25f.: »[…] denn die Meinungsbörse im Romanischen Café wird im Ernst wohl niemand als den Sammelplatz freier Geister, aus Protest Entwurzelter und freiwillig Abseitiger ansehen, der das alte Café des Westens […] gekannt hat […]. Ich meide, seit ich mir meine Gesellschaft wieder selber aussuchen darf, ängstlich jedes Literatencafé; ehemals suchte ich es auf, um zwischen dichterischer Arbeit und werbendem Eifern für eine Idee den Geist mit der spielerischen Akrobatik von Witz, Aperҫu, Abstraktion, Kritik und schlagfertiger Bosheit elastisch zu halten, ihn mit anderen Gedanken zu beschäftigen und zu kneten […], heute, kommt mir vor, ist das Foyer zur Szene geworden, das Café zur Brutstätte eines katechisierten Radikalismus, dem es an jeder schöpferischer Radikalität gebricht.« 703 Rath: »Berliner Caféhäuser (1890-1933)«, S. 116. Vgl. der ähnliche Wortlaut bei Jürgen Schebera: Damals im Romanischen Café. Künstler und ihre Lokale im Berlin der zwanziger Jahre, Berlin 2005, S. 43. 704 Vgl. Wolfgang Koeppen: Ohne Absicht. Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki in der Reihe »Zeugen des Jahrhunderts«, hg. v. Ingo Hermann. Göttingen 1994, S. 50f. und 72.
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Gemeinschaftsmensch« oder »Teamarbeiter« sei705 , sondern eher ein Einzelgänger und aus Zurückhaltung nur selten fremde Menschen anspreche706 , betrachtet er das Leben im Café vornehmlich und bewusst aus der Distanz, auch wenn es ihm finanzielle Nachteile bringt, weil man ihn nicht als Autor wahrnehme: Na ja, wissen Sie, auch im Romanischen Café war ich aber eigentlich ein Außenseiter. Ich habe mich nicht mit den anderen Gästen verbrüdert. […] Ich saß allein dort. Das genügte mir. Ich wollte sozusagen das Café in der Einsamkeit genießen. […]. Nein, ich wollte nur keine Menschen kennen lernen. Ich war mir selbst genug.707 So erklärt er seinen Drang zur Einsamkeit in Interviews mit Marcel Reich-Ranicki und Christian Linder mit Selbstgenügsamkeit und dem starken Bedürfnis nach persönlicher Freiheit708 , die er im Café habe befriedigen können, weil man ihn dort mit seinen Eigenheiten akzeptiert habe. Daher ist das Café nicht nur eine Börse, wo ihm andere Kontakt ›aufzwingen‹, sondern vielmehr könne er das Café und mit ihm die Stadt Berlin zu Beginn der 1930er Jahre als wahrhafte »Heimat« und »unvergleichlichen Ort der Träume« bezeichnen. Dies habe für ihn eine große Bedeutung, da er niemals davor oder danach einen anderen Ort als Heimat habe empfinden können, weil Berlin und das Café nach dem Zweiten Weltkrieg für ihn physisch und geistig zerstört gewesen seien.709 Obwohl Koeppen die journalistische Arbeit beim Börsen-Courier ab 1931 und bis zu dessen Einstellung 1934 als seine »fleißige Zeit« beschreibt, in der er ein sicheres Einkommen gehabt habe, sei es sein eigentliches Bestreben gewesen, sich dem »wirklichen Schreiben, dem Schreiben von Büchern«, zu widmen.710 Deutlich wird hier, dass Koeppen seine Ziele und die Qualität seiner Arbeit sowie das Schreiben selbst in seinen Texten und Interviews immer wieder sehr stark reflektiert; dazu gehört auch, dass er permanent das Verhältnis von Fiktion und Realität auslotet sowie auch das Moment der
705 Heinz Ludwig Arnold: »Gespräch mit Wolfgang Koeppen«, in: ders. Gespräche mit Schriftstellern, München 1975, S. 109-141, S. 121. 706 Vgl. Koeppen: Ohne Absicht, S. 55. 707 Koeppen: Ohne Absicht, S. 53f. 708 Vgl. Christian Linder: »Schreiben als Zustand. Ein Gespräch mit Wolfgang Koeppen«, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, 34 (1972), S. 14-32, S. 27f. 709 Vgl. »Ich antwortete, ich habe keine Heimat. […] wählte ich als meine Landschaft das Romanische Café in Berlin. Tatsächlich habe ich an diesem unvergleichlichen Ort der Träume viele Stunden verbracht und Tage, an denen ich fehlte, als verloren betrachtet. Meine endlich akzeptierte Heimat war Berlin. Das Café, das Kurfürstendammviertel, die Berliner Verkehrsbetriebe […], dies alles war eine schöne Heimat, ich liebte sie sehr. 1933 fing Hitler an, Berlin zu zerstören und brauchte dazu zwölf Jahre. Nachher stellten sich die alten Heimatgefühle nicht wieder ein.«, in: Wolfgang Koeppen: »Nach der Heimat gefragt…«, in: ders.: Berichte und Skizzen II, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 5, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a.M. 1986, S. 302-303, S. 302f. 710 Wolfgang Koeppen: »Eine schöne Zeit der Not«, in: ders.: Berichte und Skizzen II, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 5, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a.M. 1986, S. 310-321, S. 314; vgl. ebd. S. 312: »Ich schrieb über alles und viel, ich machte das Literaturblatt, ich kam […] zur Theater- und Filmkritik. Befriedigte es mich? Es machte mir Spaß! Zuweilen sah ich meine Tage als verloren an und blieb im Bett. Ich wollte Bücher schreiben, ich sagte, sehr dicke Bücher, neunhundert Seiten schwer, es war mein Aufstand gegen das Feuilleton.«
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Erinnerung als »Drehpunkt« diskutiert, »in dem beide verbunden sind«.711 Insbesondere sein spätes, stark fragmentiertes Prosawerk, zu dem »Ein Kaffeehaus« gehört, ist Matthias Kußmann zufolge davon dominiert, dass es das »personale Ich von Koeppen selbst, […] seine literarische Existenz, seine Erinnerungen, sein Verhältnis zu sich und zur Welt«712 thematisiert, weshalb diese Prosastücke immer zugleich Metatexte seien, die in einem performativen Schreibprozess das Schreiben selbst zum Thema machten. Sie handelten somit vom Schreiben mit seinen Möglichkeiten und Grenzen – als Selbstbefragung und analyse, als Stiftung von Identität, Rettung von Individualität im gesichtslosen Kollektiv wie auch als Reaktion auf individuelle Verlusterfahrungen.713 In den Interviews mit Linder und Reich-Ranicki aus den 1970er und 1980er Jahren, in denen Koeppen auf zum Teil recht suggestive und blamierende Weise zu seiner »erniedrigende[n] finanzielle[n] Not« aufgrund seiner vermeintlichen »Schreibhemmung«714 befragt und ihm sein verantwortungsloser Umgang mit frühen nationalsozialistischen Schriften vorgeworfen wird715 , bezeichnet Koeppen seine literarischen Werke auch als »eine Art fortlaufende[] Biographie ihres Autors«, in der jener ein »düsteres Selbstgespräch« führe716 und sich erhoffe, das »verlorene, vielleicht nie zu findende Ich«717 aufzuspüren. Er spielt zwar bei der Verwendung dieses literarischen Ichs mit dem Oszillieren zwischen dem fiktiven Text und dem realen Leben, spricht sich aber klar gegen die Verschmelzung des ›literarischen Koeppen‹ mit dem ›Autor Koeppen‹ aus, weil er sich davor verwahrt, sich von Kritikerinnen und Kritikern auf eine »romanversetzte[] Autobiographie«718 festlegen zu lassen.719 So betont er immer wieder, dass er das Le711 712 713 714 715
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Heinz-Ludwig Arnold: »Einleitung« zu: Wolfgang Koeppen: »Vom Tisch«, in: Text + Kritik 34 (1972), S. 1-13, S. 1. Matthias Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Wolfgang Koeppens Spätwerk, Würzburg 2001, S. 19. Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich, S. 98. Linder: »Schreiben als Zustand«, S. 15f. Vgl. Koeppen: Ohne Absicht, S. 69. Vgl. auch »Mit dem Nimbus des Cafés als Hort geistiger Freiheit, dichterischer Inspiration und künstlerischen Austauschs war es 1933 vorbei. […] Jetzt war die vordringlichste Frage: Würde sich seine [Hitlers] Herrschaft halten? Viele bezweifeln dies, denn sie fühlten sich dem Hassprediger und seiner Gesinnung intellektuell haushoch überlegen, der Inhalt von Mein Kampf stand hier nie zur Diskussion. Ausgerechnet Hitler sollte es schaffen, ganz Deutschland zu unterwerfen? Vielleicht war der ›Spuk‹ schon bald wieder vorbei, sollte man nicht abwarten, auch wenn jetzt täglich SA-Leute im Café zu sehen waren?«, in: Edgar Haider: Verlorene Pracht. Geschichte von zerstörten Bauten, Hildesheim 2006, S. 163. Linder: »Schreiben als Zustand«, S. 16f. Wolfgang Koeppen: »Was ist neu am Neuen Roman«, in: ders.: Essays und Rezensionen, Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 6, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a.M. 1986, S. 363-367, S. 365. Linder: »Schreiben als Zustand«, S. 20. Vgl. das Interview mit Heinz Ludwig Arnold: »Es gibt natürlich den Koeppen, der irgendwann geboren ist, irgendwo zur Schule gegangen ist, einmal Redakteur war und den man erkennungsdienstlich festhalten und festlegen könnte. Aber es gibt auch den surrealistischen Koeppen, eine literarische Figur, wo das alles nicht so sicher ist, der, um es im Extrem auszudrücken, wenn er gefragt wird, wann sind Sie geboren, vielleicht antworten möchte: Es ist gar nicht so sicher, daß ich jemals geboren wurde. […] Es gehen bei mir auf die natürlichste Weise Dichtung und Wahrheit durcheinander.«, in: Arnold: Gespräche mit Schriftstellern, S. 128.
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ben seiner Romanfiguren führe und die Figuren das seine, um zu unterstreichen, dass man das Leben der Autorinnen und Autoren weder gänzlich von dem Inhalt ihrer Texte trennen noch mit ihnen gleichsetzen könne. Vielmehr führten die Texte ein komplexes Eigenleben: Ja, es ist mein Leben, ob ich nun schreibe oder nicht schreibe, es ist mein Leben… Ich lebe literarisch […]. Und dann lebe ich auch etwas wie eine Romanfigur. Ich könnte es mir einfach machen, wenn ich andauernd mein Leben erzählen würde und aus meinem Leben Bücher entstehen ließe; bis zu einem gewissen Grade tut das ja jeder Schriftsteller […]. Aber bei mir ist es so, daß wahrscheinlich mehr als bei anderen der normale Kontakt zum Leben, zur bürgerlichen Existenz geschwächt ist.720 So ist die Distanz zur Außenwelt gleichzeitig Fluch und Segen: Einerseits können Schreibende mit ihren Texten gesellschaftspolitisch etwas bewirken; andererseits kann sich ohne einen erdenden Rückhalt die von Magris so benannte ›Tendenz zu einem Allmachtsdelirium‹ entwickeln, wobei Koeppen an vielen Stellen sehr strikt, aber nicht ganz glaubhaft verneint, dass er jemals mit seinen Texten die Welt habe verändern wollen.721 Der Unterschied zwischen Magris und Koeppen besteht auch darin, dass Letztgenannter aufgrund seines Daseins als Außenseiter durch Kontakte im Café die Distanz ›zur bürgerlichen Existenz‹ nicht auflösen möchte. Die Texte der beiden eint aber, dass sie dieses Changieren zwischen den Welten des einsamen Autors und der Außenwelt öffentlich reflektieren und das beschriebene Café jeweils eine wichtige Rolle bei dem Prozess spielt, eine für sich persönlich passende Lösung zu finden. In seinem aus einem einzigen Satz bestehenden Kurzprosastück »Ein Kaffeehaus« von 1965 verwebt Wolfgang Koeppen sehr kunstvoll Fiktion und Wirklichkeit, allgemeine Zeitgeschichte und seine ganz persönliche Geschichte miteinander. So werden die Historie und mit ihr das reale Café, seine Atmosphäre und Gäste in die Literatur überführt, wo das Romanische Café im kollektiven Gedächtnis konserviert wird und dessen ›Ruinen‹ als textuelles Mahnmal an zukünftige Generationen weitergegeben werden: Dem Vergessen und Verdrängen der Katastrophen und dem perpetuierten Unrecht der Geschichte wird Literatur entgegengesetzt – als Ort, das Geschehene in der Schrift aufzubewahren. Damit erhält der Schluß peripetalen Charakter. Wenn es eben noch hieß, der Sohn des Rabbis und die Ich-Figur hätten das Kaffeehaus verschwinden sehen, als sei es nie da gewesen, so ist dessen Existenz im Kaffeehaus-Text selbst aufgehoben, bezeugt.722 Deutlich wird die Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit, Erinnerung und Gegenwart auch im Interview mit Marcel-Reich-Ranicki, der das Romanische Café als »ungeheure Legende« bezeichnet, die Koeppen mit seinem berühmten Text befeuert habe, »ein poetisches Prosastück, eine Vision«. Er fragt Koeppen nachfolgend nach der Wirklichkeit des Cafés, worauf dieser antwortet: »Die Realität des Romanischen Cafés war im
720 Linder: »Schreiben als Zustand«, S. 17. 721 Vgl. Koeppen: Ohne Absicht, S. 46, Linder: »Schreiben als Zustand«, S. 18f. und Arnold: Gespräche mit Schriftstellern, S. 115; 122. 722 Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich, S. 104f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Grunde […] ganz unrealistisch.«723 Diese changierende Formulierung Koeppens gilt für das Kaffeehaus als Ort der Literatur ebenso wie für den damals real existierenden Ort, welcher von Zeitgenossen und -genossinnen sehr unterschiedlich und verschwommen wahrgenommen wird und entsprechend dieser Wahrnehmung Eingang in die Literatur gefunden hat. Der Text »Ein Kaffeehaus« setzt chronologisch im Kaiserreich ein und kulminiert mit der Zerstörung Berlins sowie der Kirche durch die alliierten Bombenangriffe 1943 in einer »Untergangsvision«724 , welche mit einem entschlossenen Eintreten für ein fortwährendes erinnerndes Schreiben endet. Koeppen beschreibt im Text den verhängnisvollen und folgenschweren Verlauf der preußischen Geschichte des militärischen Nationalismus‹, der über die Wirtschaftskrise und Säkularisierung in den Nationalsozialismus geführt hat. Dadurch, dass Koeppens Text auf vier Textseiten und innerhalb eines Satzes »in einer Flucht von Assoziationen, einer Art literarischem Zeitrafferverfahren«725 die Historie von über sechzig Jahren deutscher Geschichte beschreibt, wird eine enorme thematische Dichte und eine »Spannung zwischen kürzester Erzählzeit und extendierter erzählter Zeit«726 erreicht. Diese inhaltliche Konzentriertheit und die Aspekte der Zeitlichkeit können als weitere Merkmale der ›Kaffeehausliteratur‹ angesehen werden im Sinne einer Konzentration bedeutsamer, vielfältiger Elemente an einem einzigen Ort beziehungsweise ›Kaffeehaustisch‹, an dem sich ein Panorama der Ereignisse entfaltet. Der Text berichtet zunächst von der Errichtung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von 1891-95 und des gegenüberliegenden zweiten romanischen Hauses, in dem sich auch das Romanische Café befand, bevor die Rede davon ist, wie sich das erzählende Ich in der Mitte der 1920er Jahre von der dörflich geprägten Provinz auf den Weg nach Berlin macht, wo ihm das Romanische Café als Paradies und strahlendes Heiligtum des ›Geistes‹ erscheint. Der Erzähler nimmt Berlin als vermeintlich ›gelobtes Land‹ wahr und als Sehnsuchtsort all derjenigen, die sich in ihrer ländlichen Umgebung eingeengt fühlen. So zieht es auch das erzählende Ich in die glorifizierte Hauptstadt der Weimarer Republik, den ›Garten Eden‹ der Künstlerinnen, Geisteswissenschaftler und Journalistinnen: […] und als ich mich zugesellte, das gelobte Land erreichte vom pommerschen Acker her, vierter Klasse, mit Milchkannen und Kartoffelsäcken, und vom Stettiner Bahnhof nach dem Stadtplan zu Fuß, auf dem Weg nach Eden, da schien mir der Tempel zu strahlen, wie mein Verlangen es mir verkündet hatte, ich lauschte den Dichtern und Philosophen, hörte den Malern und Schauspielern zu, begegnete den klugen Herren der großen und mächtigen Zeitungen, den zuversichtlichen Abgeordneten der großen und mächtigen Volksparteien, ich liebte die Anarchisten und die anarchischen Mädchen, die bei ihnen saßen, und die Träumer vom ewigen Frieden und die Schwärmer von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit […] (EK 167)
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Koeppen: Ohne Absicht, S. 52. Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich, S. 98. Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich, S. 99f. Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich, S. 99.
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Sehr augenfällig wird in diesem Zitat, wie der Gegensatz zwischen dem rückständigen, kleinbürgerlichen Land in ›Pommern‹ und der fortschrittlichen Stadt Berlin heraufbeschworen wird, indem die für das Land stehenden ›banalen‹ landwirtschaftlichen Alltagsgegenstände, wie Milchkannen und Kartoffelsäcke, kontrastiert werden mit scheinbar vollkommenen Orten und freiheitlichen Institutionen, die es nur in der urbanen Umgebung gibt, wie Künstler-Cafés, große Zeitungs- und Verlagshäuser. Zudem ist die Bevölkerung in der Stadt offener und freier, es ergibt sich ein vielfältiges Meinungsbild durch demokratisch gewählte Abgeordnete, die über Politik debattieren, oder Menschen, die sich abweichend von der im Dorf vielleicht üblichen ›Norm‹ verhalten, indem sie einen künstlerischen Beruf ausüben oder sich als ›Anarchisten‹ nicht an die Ordnung halten. Daneben wird das Prosastück an dieser Stelle mit der erstmaligen Erwähnung des erzählenden Ichs zu einer persönlichen, individuellen Geschichte, die mit der Biographie Koeppens als äußerst freiheitsliebenden Autors korrespondiert, der im Kaffeehaus schreibend die anderen Gäste beobachtet und gute Menschenkenntnis entwickelt. Er habe sich auf dem Land immer sehr eingeengt gefühlt, wie er in einem 1974 im WDR ausgestrahlten Beitrag »Eine schöne Zeit der Not« sagt, daher sei ihm die liberale, zwanglose und kreative Atmosphäre in der urbanen Umgebung der 1920er Jahre und im Romanischen Café sehr entgegengekommen, da sie seine Inspiration angeregt und sein Schreiben gefördert habe.727 Das Café selbst befindet sich im Erdgeschoss des zweiten romanischen Hauses und ist eingebettet in die Stadtlandschaft rund um den ehemaligen Auguste-Viktoria-Platz, so dass die Gäste einen guten Blick aus dem Café in Richtung der Kirche beziehungsweise des jüdischen Bethauses haben, welche vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft von der Gesellschaft als gleichwertig akzeptiert werden: Die einen gehen am Sonntag in die Kirche, die anderen am Sabbat in das Bethaus; beide Gruppen kleiden sich der Zeit gemäß, fühlen sich als Untertanen des selben Kaisers und besuchen nach dem Gottesdienst dasselbe Café: […] und sie alle blickten zu den romanischen Fenstern hinaus oder konnten zu den säulchenumrahmten Fenstern hinausblicken, wenn sie es wollten, und sahen am Sonntag die Gemeinde in die Kirche gehen, unterm Zylinderhut oder Kaiserin-AugusteViktoria-Hut oder unter der Pickelhaube des Reserveoffiziers […] und am Sabbat wanderten die anderen Herren, nur unterm Zylinderhut, doch hier und dort einer in stolzer Uniform […] den Weg etwas weiter hin, zum Bethaus hin, und auch da die Fürbitte für die Majestät, nicht weniger dankbar, nicht minder untertan […] (EK 166) Dennoch entwickelt sich die Lage im Folgenden für die beiden Bevölkerungsgruppen unterschiedlichen Glaubens in getrennte Richtungen: Koeppen beschreibt das Café als altes Schiff, das seine Passagiere und Passagierinnen während des Kaiserreichs und der 727 Vgl. »Es war eine schwere Zeit; besonders schwer für junge Menschen. Der Krieg war verloren […] die Provinz muffte, sie blickte zurück und wartete auf den Retter, nur in der Hauptstadt, allein in Berlin waren Geist und Gesellschaft von alten Fesseln befreit, die Künste nützten ihre Chance, neue Ideen wurden produziert, neue Technik entwickelt, die Literatur korrespondierte mit der Welt […]. Ich lebte in den Hörsälen der Universität, den Lesesälen der Bibliotheken, im Romanischen Café, Tag und Nacht, es war die Versammlung der Literaten, der Journalisten, der Schauspieler, der Maler, der Philosophen, der Mädchen […].«, in: Koeppen: »Eine schöne Zeit der Not«, S. 311f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Weimarer Zeit stets sicher durch alle politischen und wirtschaftlichen ›Unwetter‹ gebracht habe, bis zu dem Moment, als die Macht der Nationalsozialisten wie ein Wirbelsturm über Berlin fegt, das Café-Schiff samt Fahrgästen zu kentern beginnt und sich angesichts des Sturms nicht mehr verteidigen kann, weil es im Inneren durchhöhlt ist von Spitzeln und Duckmäusern. So erscheint es den ehemaligen Stammgästen, als hätte es das freiheitliche Künstlerleben im Kaffeehaus nie gegeben, als sei es wie eine Sandburg von einem einzigen Windstoß weggefegt worden und das Café mitsamt seinen Gästen nichts als ein Geisterschiff gewesen, das man sich eingebildet habe: […] im Schatten der dem Gedächtnis des alten und schon vergessenen Kaisers geweihten Kirche und im Schatten des romanischen Hauses lag das Romanische Café mit seiner Sommerterrasse wie ein Schiff, verankert oder auf freier Fahrt, flott oder schon gestrandet, ein Leib aus Beton und die Maste aus Eisen, Ebbe und Flut des Geldes kam, Sturmflut der Not kam, die Armada der Automobile zog vorüber, ein Hurrikan zog auf und wuchs, Mond und Sterne der Kinoreklame gingen auf und unter, die Passagiere auf dem Schiff drängten in die spärliche Sonne, die Fahrenden, die gekommen und nicht geladen waren […] und ich lernte den Sohn eines Wunderrabbi aus Miropolje in Galizien kennen, […] sagte ein jiddisches oder hebräisches Wort, ich habe es vergessen und nicht vergessen, es klang wie hävter, und es bedeutete Sand oder Wind oder Sand im Wind, und er und ich, wir sahen die Terrasse und das Kaffeehaus wegwehen, verschwinden mit seiner Geistesfracht, sich in Nichts auflösen, als sei es nie gewesen […] (EK 166f.) Wie oben schon angedeutet wurde, thematisiert Koeppen im Text auch, wie sich Kultureinrichtungen, Religion und Kirche bereitwillig von der Politik instrumentalisieren lassen, so dass sich die nationalsozialistische Bewegung »zur Kirche oder in die Kirche oder in die Kinos [bewegte], es war kein Unterschied, die Bewegung wurde in der Kirche empfangen und gesegnet und im Kino gefeiert« (EK 167). Dieses heuchlerische und obrigkeitshörige Verhalten der meisten Menschen wird im Text unterschwellig kritisiert: […] das Bethaus wurde entflammt, ein erstes Licht, das aufging bevor die Stadt in Lichtern strahlte, und die Gäste des Cafés zerstreuten sich in alle Welt oder wurden gefangen oder wurden getötet oder brachten sich um oder duckten sich und saßen noch im Café bei mäßiger Lektüre und schämten sich der geduldeten Presse und des großen Verrates, und wenn sie miteinander sprachen, flüsterten sie, und wenn sie gingen, bereuten sie, daß sie selbst nur geflüstert hatten […] (EK 167f.) An dieser Stelle findet sich eine deutliche Parallele zu Magrisʼ Text, der auch die Situation vor dem Zweiten Weltkrieg anspricht und insbesondere auf die stillschweigende Duldung der Gräueltaten durch die Bevölkerung hinweist. In dieser Zeit des Nationalsozialismus konnten ehemalige jüdische Stammgäste das Caffè San Marco nicht mehr besuchen. Magris spricht nicht wortwörtlich von Juden und Jüdinnen, sondern bezeichnet sie als ehemalige ›eifrige Kaffeehausbesucher‹, die auch regelmäßig in der danebenliegenden Synagoge gebetet hätten. Als jene plötzlich nicht mehr gekommen seien, hätten die anderen Gäste nicht nach den Gründen ihrer Abwesenheit gefragt, obwohl alle wussten, dass sie nicht freiwillig wegblieben seien. Magris spricht damit die
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Angst, die Gleichgültigkeit, aber auch die Scham der Zeitgenossen und -genossinnen an, die sich im Café manifestiert.728 Als das Romanische Café nach dem Bombenangriff im November 1943 bereits in Flammen steht und das erzählende Ich durch einen personifizierten ›Stadt-Körper‹ vor dem Bombenhagel flieht, fühlt es sich wie im Fegefeuer oder ›Hades‹, als sei es schon gestorben, die ehemals mächtigen Verleger und Politiker begegnen ihm nunmehr ohnmächtig und stumm: […] ich floh in einer Nacht im November durch die Kanäle der Stadt, durch die dunklen Adern ihrer unterirdischen Kommunikation, über die stromlosen Schienen der Untergrundbahn, ich traf Hadesgespenster, die kleinen Herren der kleinen ohnmächtigen Zeitung, geprügelte verfolgte Politiker, verstummte Dichter, gefesselte Künstler und Bekanntschaften, die sich den Stern der Schande abgerissen hatten, die nicht ihre Schande war, wir waren in Schlafdecken gehüllt oder in Säcke, wir schützten das Gesicht mit feuchten Tüchern vor dem beißenden Rauch, wir waren im Purgatorium zwischen Wittenbergplatz und Zoologischer Garten […] (EK 168) Dessen ungeachtet beschreibt Koeppen das Café weiterhin als glühenden, eine bessere Zukunft verheißenden Hoffnungsträger, der aus der Ferne ein Leuchtfeuer an alle ehemaligen Gäste sendet und ihnen Kraft spendet. So fordert der eben noch einflusslose, über die Ruinen der Stadt und des Kaffeehauses strauchelnde Verleger das erzählende Ich auf, alles Erlebte für die Nachwelt aufzuschreiben, um es zu bewahren: […] ein Verleger stolperte über Schotter und Schwellen und sagte, Sie werden das schreiben, und ich dachte, ich werde es schreiben, und wußte, daß ich starb, in dieser Zeit, in diesen Jahren, auch wenn ich nicht gehenkt würde oder erschlagen oder verbrannt, über uns loderte die Stadt, brauste der Feuersturm, ich stieg aus dem Schacht, der Turm der Kirche war zerschmettert, und das romanische Haus mit dem Romanischen Café glühte, als leuchtete im Sieg die Oriflamme eines geheimen Vaterlandes. (EK 168) Hier erlebt das erzählende Ich zusammen mit anderen Schriftstellern, Künstlerinnen, Verlegern und Journalistinnen im Bombenangriff die phönixhafte Auferstehung aus den Trümmern, um den barbarischen Taten der Nationalsozialisten die Wahrheit und die Kunst entgegenzuhalten. Koeppen, der sich als Schriftsteller »der Sache der Erinnerung moralisch verpflichtet« fühlt, formuliert damit ein »Bekenntnis zum Geist, zum Schreiben, zur Zeugenschaft«729 , das alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der inneren oder äußeren Emigration in einem imaginären, ›geheimen Vaterland‹ vereine – betont wird letzteres um so mehr, da es sich um die letzten Worte des Textes und damit um das Ende des einzigen Satzes handelt, aus dem Koeppens Prosastück besteht. 728 Vgl. »Sui volti semisommersi nelle acque scure del vetro riverbera una nostalgia di chiarità marina, l’insidioso richiamo della vita vera. Ma si fa presto a farlo tacere, se è troppo insistente. Quando, in un certo periodo, alcuni assidui frequentatori che frequentano pure l’adiacente sinagoga non si fanno più vedere e spariscono uno dopo l’atro dai loro tavoli abituali, quasi nessuno, neanche chi fino a poco prima amava chiacchierare con la gente che usciva dal Tempio e veniva a rifocillarsi al Caffè, fa domande indiscrete sulla loro assenza.« (M 22f.) 729 Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich, S. 105f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Dieser Glaube an eine neue freiheitliche ›Heimat‹ trägt auch über die schweren Phasen hinweg, als das Romanische Café noch nicht zerstört, aber dennoch nicht mehr dasselbe ist, weil die ehemaligen Stammgäste und die Atmosphäre fehlen, weshalb sich viele, die nicht ins Exil gingen, ein neues Kaffeehaus suchen.730 Aber auch für die Autoren und Autorinnen im Exil stellt der Kaffeehaustisch eine Art Kontinuum dar, wo sie arbeiten und Kolleginnen und Kollegen treffen können, wie Hermann Kesten schreibt, dem ausländische Cafés während der NS-Herrschaft »zu Haus und Heimat, Kirche und Parlament, Wüste und Walstatt, zur Wiege der Illusionen und zum Friedhof« wurden, kurz gesagt »zum einzigen kontinuierlichen Ort.«731 So wird der kleine marmorne Cafétisch damals zu einem »international verfügbare[n] Schreibtisch«732 und bietet einen Raum, in dem Schreiben auch in Krisensituationen möglich ist.733 Damit kann Koeppens »Kaffeehaus«-Text selbst Matthias Kußmann zufolge »als Produkt jener Überlebens- und Überdauernsform von Schreiben und Erinnern« verstanden werden, welche in den letzten Zeilen formuliert wird – »und damit als Erfüllung seines selbst verordneten Programmes.«734 Insgesamt können die Texte »Ein Kaffeehaus« von Wolfgang Koeppen und »Caffè San Marco« von Claudio Magris gemäß den bisherigen Ausführungen und Analysen als ›Kaffeehausliteratur‹ im Sinne des Idealtypus, also des ersten Ringes, bezeichnet werden. Die beschriebenen Cafés können in Anlehnung an Foucaults Heterotopie-Konzept als ›Ort ohne Ort‹ definiert werden, da sie sich stets zwischen zwei Welten bewegen, zwischen der Welt der Literatur und der Außenwelt und damit zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Beide Autoren verwenden eine sehr bildliche, ironisierende Sprache und reflektieren den Moment beziehungsweise den Prozess des Schreibens und die sich je nach Perspektive verändernde Motivation des Schriftstellers. Immer wieder stellt das Kaffeehaus in dieser Dynamik aber einen Fixpunkt oder Rettungsanker dar, mit dessen Hilfe die Erinnerung bewahrt und die Reflektion angeregt werden kann. Insbesondere Koeppens Kurzprosastück kann als Idealtypus der ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden, da der Autor sehr assoziativ und ironisch verschiedene Themen streift und das autobiographische Schreiben an sich thematisiert, um zu verdeutlichen, dass Schreiben auch immer ein Hadern des Autors oder der Autorin mit sich selbst bedeutet und eine
730 Vgl. »Ich mußte nach Berlin zurück, zurück in das Dritte Reich, dem ich mich hatte entziehen wollen. […] Es war Mai in Berlin. Obwohl die Nazis herrschten, war Berlin wieder sehr schön, und vielleicht trat seine Schönheit besonders ins Licht des Frühlings und des Sommers, weil sie krank und bedroht war. Ich ging noch einmal ins Romanische Café und fand die alten Gäste nicht mehr. Mit den neuen sprach ich nicht. Ich bin nicht wieder hingegangen. […] Ich ging zu einem Café am oberen Kurfürstendamm. In dem Café saß Erich Kästner, und ich wunderte mich, daß er das saß und daß er lebte, und ich bewunderte sehr seinen Mut.«, in: Koeppen: »Eine schöne Zeit der Not«, S. 315. 731 Kesten: Dichter im Cafe, S. 12f. 732 Werner: Illusionslos. Hoffnungsvoll, S. 260. 733 Vgl. »Ich wußte, als ich mein erstes Buch schrieb, daß es aus war, daß das Leben, das ich hatte führen wollen, ein Schriftsteller in Berlin, schon vergangen war, eine Epoche war vorbei, und die sie getragen hatten in Berlin, Hermann Kesten, Arnold Zweig, Alfred Döblin, Joseph Roth, Heinrich Mann, Tucholsky, um einige zu nennen, saßen verjagt in den Kaffeehäusern in aller Welt, Kästner im deutschen Café mit Schreibverbot und bedroht […].«, in: Koeppen: »Eine schöne Zeit der Not«, S. 318. 734 Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich, S. 106.
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intensive Auseinandersetzung mit der Außenwelt erfordert. Zudem berichtet er in diesem fragmenthaften Text metaphorisch über das Café als Schiff, welches nicht nur den Schauplatz darstellt, sondern vielmehr als Akteur selbst mit der erzählten Geschichte verknüpft ist. Wegners etwas längerer Prosatext Unser Kaffeehaus oder Die Arche hingegen ist eher im Bereich des zweiten Ringes einzuordnen. Die Atmosphäre im Café wird sehr metaphorisch beschrieben und durch Sinneseindrücke wie die Empfindung von Geräuschen, Farben und Gerüchen vermittelt. Im Vergleich zu den anderen Texten dieses Kapitels fungiert das Café bei Wegner dennoch eher als Schauplatz denn als Akteur, wenn der Erzähler des Textes chronologisch autobiographische Eindrücke schildert und auf seine Erinnerungen eingeht, die im Café beheimatet sind.
V.4.5.
Metaphorik, Ironie und Atmosphäre II: Klima, Sinnesreize, Flora und Fauna
In einigen Texten wird die Kaffeehaus-Atmosphäre mit Hilfe von Metaphern und Vergleichen aus dem Bereich der Flora und Fauna, der Klima- und Wetterkunde sowie durch die appetitliche Schilderung von konsumierten Speisen und Getränken veranschaulicht. Damit werden nicht nur »optisch-klimatische Atmosphären«735 erzeugt, sondern bei den Leserinnen und Lesern Assoziationen geweckt und die synästhetischen Reize der Lokale besonders betont. So beschreibt Friedrich Torberg beispielsweise die tieferliegende Bedeutung der Kaffeehäuser für Schriftsteller und Künstlerinnen mit Metaphern aus dem Bereich der Flora und Fauna, indem er das Café mit ›Mutter Erde‹ vergleicht, die ihre Sprösslinge mit dem Lebenswichtigen versorgt, so dass den Stammgästen ohne ihr Kaffeehaus der »Humus« gefehlt hätte, »ohne den sie verdorren würden, ohne den sie nicht gedeihen könnten und nichts hervorbringen.«736 Daher sei dieses Lokal der »Nährboden, aus dem sie ihre geheimen Lebenssäfte sogen«737 , ohne die sie nicht überleben könnten. Betont wird der Ort des Kaffeehauses im folgenden Zitat noch mal durch den anaphorischen Satzanfang: Dort schrieben und dichteten sie. Dort empfingen und beantworteten sie ihre Post. Dort wurden sie telefonisch angerufen, und wenn sie zufällig nicht da waren, nahm der Ober die Nachricht für sie entgegen. Dort trafen sie ihre Freunde und ihre Feinde […], dort lasen sie ihre Zeitungen, dort diskutierten sie, dort lebten sie […].738 Auch in der von Alfred Polgar geschilderten Kaffeehaus-Atmosphäre im Café Central klingt die Nähe zur Pflanzenwelt an: Er vergleicht das Café metaphorisch mit einem Gewächshaus, welches die in ihm beheimateten Pflanzen und heranreifenden Früchte, also im übertragenen Sinne die Gäste und ihre Schreibprodukte, mit der richtigen Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 23. Schmitz nennt hier als Beispiel die Abend-, November- oder Gewitterstimmung; diese kontrastiert er mit ›kollektiv zugänglichen Atmosphären‹, wie die Feierlichkeit eines Festes oder die Angespanntheit in einer Gruppe von Menschen. 736 Torberg: »Traktat über das Wiener Kaffeehaus (1959)«, S. 328. 737 Torberg: »Kaffeehaus ist überall«, S. 183. 738 Torberg: »Traktat über das Wiener Kaffeehaus (1959)«, S. 327. 735
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Temperatur umgibt und gleichzeitig eine widrige Witterung von ihnen fernhält, um das Wachstum nicht zu gefährden. Auf diese Weise verschaffe das Café seinen realitätsfernen und mittellosen Literaten und Literatinnen einen ›Lebensraum‹, in dem für sie günstige ›klimatische‹ Bedingungen herrschen, welche in dieser Zusammensetzung laut Polgar an keinem anderen Ort existieren. So können die literarischen ›Erträge‹ gedeihen und später geerntet werden, obgleich sie scheinbar aus dem Nichts entstanden sind: Wenn man alle Anekdoten, die von diesem Kaffeehaus erzählt werden, zerstampft, in die Retorte gibt und vergast, wird sich ein trübes, irisierendes, leicht nach Ammoniak riechendes Gas entwickeln: die so genannte Luft des Café Central. Sie bestimmt das geistige Klima dieses Raumes, ein ganz besonderes Klima, in dem das Lebensunfähige, und nur dieses, bei voller Wahrung seiner Lebensunfähigkeit gedeiht. Hier entwickelt die Ohnmacht die ihr eigentümlichsten Kräfte, Früchte der Unfruchtbarkeit reifen, und jeder Nichtbesitz verzinst sich. (TCC 254) Durch Polgars metaphorische Sprache und die Verwendung eines chemischen Vokabulars scheint es, als gliche das Café Central einem Labor, in dem ein bestimmtes, einzigartiges Klima vorherrscht, welches nur hier und nicht natürlich in der Außenwelt vorkommt und dafür sorgt, dass die Gäste mit ihren besonderen Bedürfnissen versorgt sind, ohne sich jedoch an Normen anpassen zu müssen. Im weiteren Verlauf des Textes setzt Polgar das Central nicht mehr mit einem Treibhaus, sondern mit einem gläsernen Aquarium und die Stammgäste mit Fischen gleich, die sich, während sie umherschwimmen, argwöhnisch beobachten, stets darauf wartend, dass etwas Aufregendes oder Unvorhergesehenes passieren könnte, das eine Abwechslung für ihr ansonsten gleichförmiges Dasein bedeuten würde: immer in engsten Kreisen umeinander, immer ohne Ziel geschäftig, die schiefe Lichtbrechung ihres Mediums zu mancherlei Kurzweil nützend, immer voll Erwartung, aber auch voll Sorge, daß einmal was Neues in den gläsernen Bottich fallen könnte, auf ihrem künstlichen Miniaturmeeresgrund mit ernster Miene ›Meer‹ spielend […]. (TCC 256) So vergleicht Polgar hier in diesem aufzählenden, stakkatohaften Satz den Mikrokosmos des Kaffeehauses mit dem Meeresboden, in dem sich die verschiedensten Tierund Pflanzenarten ›tummeln‹, die sich entweder vor ihren ›Fressfeinden‹, also ihren eigenen Konkurrenten und Konkurrentinnen, verstecken oder im Kontrast dazu gerade nach ›Opfern‹ suchen, denen sie zum Beispiel einen Artikel verkaufen können. Die Stammgäste führen ihr Privatleben in der Öffentlichkeit und wissen über dasjenige der anderen Bescheid; sie sperren sich nicht, ihr Innerstes nach außen zu kehren: Irgendwelche Scheu oder Heimlichkeit haben die Centralfische, die so viele Stunden ihres Lebens die gleichen paar Kubikmeter Atemraum teilen, natürlich nicht mehr. Der richtige Centralist führt das Privatleben der andern und treibt mit dem eigenen keine Hehlerei. Das schafft […] eine Sphäre verschwebender Gemütlichkeit, in der jederlei Prüderie welkt und abstirbt. Es gibt Centralgäste, die psychisch nackt gehen […]. (TCC 257)
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In seiner sehr bildreichen Sprache bringt Polgar Vokabeln aus unterschiedlichen Kontexten, wie beispielsweise aus dem Gesellschaftsleben (»Prüderie«) und der Fisch- und Pflanzenwelt (»welkt«; »abstirbt«), zusammen, die ursprünglich nicht zusammengehören. So habe diese Café-Atmosphäre einen »paradiesische[n] Einschlag« (TCC 257), welche von einer Ambivalenz gekennzeichnet sei, da sich die Gäste auf der einen Seite wohl- und wie zuhause – oder um mit Polgar zu sprechen‹ wie ein ›Fisch im Wasser‹ – fühlen, und auf der anderen Seite in einem Raum mit anderen Schriftstellern und Schriftstellerinnen befinden, die ihnen in ›Raubfisch-Manier‹ die Themen ›wegschnappen‹ oder die Aufmerksamkeit bei Verlegern ›abjagen‹. Die Kaffeehaus-Atmosphäre vermag es jedoch, diese beiden Pole auszugleichen und in eine Balance zu führen, weil der Fokus auf der Wahrnehmung des Augenblicks liege: Dieses rätselvolle Caféhaus beschwichtigt in den friedlosen Menschen, die es besuchen, etwas das ich: das kosmische Unbehagen nennen möchte. An dieser Stätte der lockeren Beziehungen lockert sich auch die Beziehung zu Gott und den Sternen, die Kreatur entschlüpft ihrem Zwangsverhältnis zum All in ein pflichtenloses, sinnliches Gelegenheits-Verhältnis zum Nichts, die Drohungen der Ewigkeit dringen nicht durch die Wände des Café Central, und zwischen diesen genießest du der holden Wurschtigkeit des Augenblicks. (TCC 258) Polgars Text kann in jedem Falle dem Idealtypus der ›Kaffeehausliteratur‹ zugeordnet werden, weil er nicht nur das Café und die Atmosphäre zum Thema gewählt hat, sondern auch eine typische, metaphernreiche Sprache verwendet. Zudem hat Polgar sich an einer eigenen Theorie des Cafés versucht, die dem Café in seiner Rolle als ›Ersatztotalität‹ die einheitsstiftende Funktion eines Kollektivs zugesteht, weshalb seine Theorie in Anlehnung an Friedrich Nietzsche im Sinne einer lebensphilosophischen Reflektion analysiert werden kann (siehe Kapitel IV.2). Auch in Joseph Roths journalistischem Werk, in dem sich auf virtuose Weise das ironisch-metaphorische Schreiben mit objektiv berichtenden Elementen vermischt, steht eine sehr ausdrucksstarke, bildhafte Sprache im Mittelpunkt, mit Hilfe derer er die gesellschaftliche und zeitgeschichtliche ›Wahrheit‹ nach dem Ersten Weltkrieg beschreiben konnte, ohne zensiert zu werden.739 Wie Torberg und Polgar verwendet er in einigen Texten eine Metaphorik aus dem Bereich der Pflanzenwelt, so zum Beispiel im Feuilleton »Vernichtung eines Kaffeehauses«, das am 21.10.1927 in der Frankfurter Zeitung erschienen ist und in dem das Interieur eines Berliner Cafés mit einem Wald gleichsetzt wird: Dunkelbraun waren die Säulen, eine polierte Rinde umgab sie, Bäume waren sie wieder geworden. In Manneshöhe trieben sie eiserne Haken, von eisernem Laub umrankt. In ihrem Schatten standen Tische. Zwar kannte man das Maß der Säule, wußte, wo sie anfängt, wußte, wo sie aufhört, aber, gemessen mit jenem Maß, das keine Bezeichnung hat, dennoch vorhanden und unheimlich richtig ist, waren die Säulen unendlich, und wer an ihnen lehnte, war allein […]. Überdies dämpften den Schall der Gespräche
739 Vgl. Deborah Holmes: »Joseph Roth’s Feuilleton Journalism as Social History in Vienna, 1919-20«, in: Austrian History Yearbook 48 (2017), S. 255-265, S. 265.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
die Kleider, die an den Haken hingen, und fingen Geheimnisse in ihren Falten auf. So konnte man in der Mitte des Kaffeehauses sitzen und dennoch verborgen bleiben wie in der Mitte eines Waldes.740 Roth inszeniert hier die urbane Umgebung des Kaffeehauses metaphorisch als Naturlandschaft, in der die als Garderobe fungierenden Drahtornamente pflanzenähnliche Formen und Verschlingungen aufweisen. Der Aufenthalt in diesem viel frequentierten, öffentlichen Ort in der Großstadt wird somit gemäß Telse Hartmann »zum Naturerlebnis, zum Aufenthalt im Wald stilisiert.«741 Neben den Pflanzenmetaphern und Vokabeln wie Rinde, Bäume, trieben oder umrankt werden auch Wörter aus dem Bereich der Inneneinrichtung und Kleidung benutzt, um die gedämpfte, mit einem bestimmten Geruch ausgestattete Atmosphäre zu verdeutlichen. Die vorherrschende Farbgebung besteht insgesamt in Grün-, Braun- und Grautönen: Das Kaffeehaus war alt wie eine Kirche. Es hatte starke Säulen, sie stützten die Decke. Im Dämmer oben verschwand sie. Sie war flach und mit Gemälden ausgestattet. Aber weil die Säulen sie trugen, grauer Zigarrenrauch sie bewölkte, fühlte man sie als ein Gewölbe über sich, das nicht nur bedeckt, sondern auch umhüllt, ein Dach und gleichzeitig ein Gewand. […] Um in das Kaffeehaus zu gelangen, mußte man eine schwere, dunkelgrüne, von Leder eingesäumte Portiere auseinanderschlagen. Sie war dichter, sie schloß besser als jede Tür aus Eisen oder Eichenholz. Sie hing um die Schultern des Eingangs, sein guter, warmer Wettermantel. Man schlug ihn auf, trat in das Innere, er fiel sofort wieder zu, man war geborgen – draußen mochte es Herbst sein oder Februar oder gar Weihnachten… (VeK 768) Auffällig ist die Personifizierung des Interieurs und des Kaffeehauses im Ganzen, dessen Schultern einen Wintermantel benötigen, den sie in Form einer schweren Eingangstür erhalten; die Gäste hingegen werden von den Wänden, den Kleiderfalten und der Kaffeehausdecke fürsorglich eingeschlossen und finden sich in einer wohnlichen Atmosphäre wieder. Diese Behaglichkeit wird durch den Geruch nach Leder, Zigarrenrauch und Holz, durch Accessoires wie Gemälde und Vorhänge sowie mittels der Raumteilung durch Säulen erreicht. Der Erzähler nennt auch detailliert die vorhandenen Gegenstände und deren Materialien, wie »unzählige Flaschen verschiedener Größe und Gestalt, bunte, goldgeränderte Etiketten« und »ein Regiment glänzender Gläser, opalen schimmernder Tassen« (VeK 768), deren Erwähnung neben den ledernen und hölzernen Naturtönen die Gemütlichkeit des Cafés unterstreicht.
740 Joseph Roth: »Vernichtung eines Kaffeehauses«, in: ders.: Werke II, Das journalistische Werk 19241928, Bd. 2, hg. v. Klaus Westermann, Köln 1990, S. 768-771, S. 768. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »VeK« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 741 Telse Hartmann: »Szenarien der Deplatzierung in Joseph Roths Berlin-Diskurs«, in: Stéphane Pesnel/Erika Tunner/Heinz Lunzer/Victoria Lunzer-Talos (Hg.): Joseph Roth – Städtebilder. Zur Poetik, Philologie und Interpretation von Stadtdarstellungen aus den 1920er und 1930er Jahren, Berlin 2016, S. 101117, S. 114. Vgl. auch »Die Übertragung der Eigenschaften des Waldes auf das Kaffeehaus lässt letzteres als Ort deutlich werden, in dem der Gegensatz zwischen Einsamkeit und Gesellschaft, Öffentlichkeit und Privatsphäre aufgehoben ist, in dem die Erfahrung von Einsamkeit mitten in der Gesellschaft möglich ist.«, in: ebd.
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Nach der Renovierung des Kaffeehauses ist selbiges jedoch nicht mehr gemütlich, sondern laut dem Ich-Erzähler, der sich an einer Stelle durch das Possessivpronomen »mein« (VeK 769) zu erkennen gibt, durch die klinische Kühle der Farbe Weiß beherrscht, die mit eher negativen Aspekten in Verbindung gebracht wird: Die Säulen sind weiß, die Decke ist weiß. Fort mit den Gemälden! sagt der Geist der Zeit – der Rauch verhüllt sie ja ohnehin! Weiß ist diese Zeit wie ein Laboratorium, […], weiß wie eine Küche, weiß wie ein Badezimmer, weiß wie ein Seziersaal, weiß wie Stahl und weiß wie Kalk, weiß wie Hygiene, weiß wie die Schürze eines Schlächters, weiß wie ein Operationstisch, weiß wie der Tod […]. Weiß ist die Farbe der Zeit! (VeK 770) Die durchgängig negativ konnotierte Renovierung, sprachlich unterstrichen durch die Anapher »weiß wie«, verwandelt das Café in ein hygienisch sauberes »Spital« und das Büfett zu einer »Apotheke«, wo nicht mehr die ›tief wurzelnde‹ und ›empor gewachsene‹ Dame von zuvor Kuchen verkauft, sondern der Kellner »Rezepte« ausstellt über »Zigaretten ohne Nikotin« und koffeinlosen, schlafmittelähnlichen »Kaffee, der Herzbeutelkranke gesund macht«, welcher dann nicht mehr von dem freundlichen alten Kellner, sondern von einem »Messenger-Boy« serviert wird (VeK 770). So bereitet der Besuch des Kaffeehauses dem Erzähler kein Vergnügen mehr wie ehedem, sondern gleicht einem unfreiwilligen Aufenthalt im Krankenhaus, in dem die »Menschen […] fröhlich wie Patienten« sind (VeK 770). Die im Folgenden analysierten Texte Roths sind im Jahr 1919 in der Zeitung Der Neue Tag erschienen, in der die Kommentare und Feuilletontexte nicht wie sonst üblich ›unter dem Strich‹, also getrennt von den politischen und wirtschaftlichen Nachrichten, sondern vielmehr vermischt abgedruckt wurden.742 Die in dieser Zeit verfassten Texte schildern die von Not- und Mangelerfahrungen geprägten Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg und die modernen Errungenschaften in der Infrastruktur Wiens auf leicht spöttische Weise, so dass die vermeintlich ›guten‹ Dinge wie in einer verkehrten Welt in einem schlechten Licht erscheinen. Dominierende Themenfelder sind dabei die Knappheit an Nahrungsmitteln und die mangelnde Versorgung der Bevölkerung mit Kohle, Gas und Streichhölzern. Dabei wird das Kaffeehaus in den ausgewählten Texten zum Schauplatz des Geschehens und gleichzeitig zu einem beobachteten Ort, der die Welt im Kleinen repräsentiert. Der Erzähler inszeniert sich bei Roth oft als Spaziergänger, mit dem er gemäß Gabriella Pelloni nicht nur eine »Instanz für eine kritische Sicht auf die Alltagswirklichkeit« geschaffen hat, welche die Nachkriegsverhältnisse reflektiert und dechiffriert, sondern den Lesenden neben der neutralen Berichterstattung auch »eine subjektiv auswählende, somit wertende Art der Mitteilung zur Verfügung stellt« und mittels der Flanerie sowohl »einen Gang durch die Räume« als auch »eine Bewegung zwischen den Zeiten« ermögliche.743 Deborah Holmes, die in ihrem Artikel danach fragt, inwiefern Roths Feuilletons und die von ihm verwendeten literarischen Techniken zu einem bes-
742 Vgl. Holmes: »Joseph Roth’s Feuilleton Journalism«, S. 259. Vgl. auch Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 31. 743 Pelloni: »Spazieren in Nachkriegswirren«, S. 105; 114; 120.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
seren soziohistorischen Verständnis der beschriebenen Periode beitragen können744 , betont besonders die auffällige Ambivalenz in Roths Sprache, mit Hilfe derer das alltägliche Wiener Leben in den Nachkriegsjahren dokumentiert und gleichzeitig eine besondere Atmosphäre geschaffen werde, welche vor allem durch einen mehr erzählenden als analytisch berichtenden Journalismus erreicht werde.745 Holmes hebt zudem die persönliche Perspektive in Roths Feuilletontexten hervor, welche durch die Fokussierung des Blicks beziehungsweise des selektiven Sehens deutlich werde, was sich in den Texten durch Formulierungen wie ich sah oder ich sehe zeige. So forme die Sprache seine ›Seh-‹ und Sichtweise, wie umgekehrt auch die Sprache selbst von den zeitlichen Ereignissen und seinen Beobachtungen geprägt sei.746 In Roths Feuilleton »Kaffeehausfrühling« aus der Reihe der »Wiener Symptome«, zuerst veröffentlicht am 25.05.1919747 in der Tageszeitung Der Neue Tag, wird mit Metaphern aus dem Bereich der Pflanzenwelt und Meteorologie beschrieben, wie die Kaffeehausbesitzer versuchen, durch die Einrichtung von Caféterrassen und das Angebot minderwertigen Kaffees Profit zu schlagen: Der ›Wiener Kaffeehausfrühling‹ offenbarte sich bisher bloß darin, daß die Kaffeesieder Preise trieben, die tägliche Ausgabe für Frühstück und Jause in die Höhe schoß, im ›Schwarzen‹ lenzlichgeheime Säfte goren, die Ausbeutung des Publikums ungeahnte Blüten trieb und das Geschäft überhaupt florierte. So sieht der Wiener Kaffeehausfrühling aus. In der letzten Woche kam noch ein Neues hinzu: Schani trug den Garten hinaus. Der ›Garten‹ besteht aus ein paar Latten und Dielenbrettern, die wohlverwahrt auf dem Dachboden Winterschlaf hielten, und einem Gitter aus Drahtgeflecht oder Eisen.748 Obwohl die Bereitstellung des ›Gartens‹ ein »besonderes Zuvorkommen dem Mai und den Gästen gegenüber« bedeuten sollte, können sich die Gäste aufgrund des »abnorm kalten Frühjahrs« (Khf 32) und der ausbleibenden Sonne nicht darüber freuen, zumal die Einrichtung des ›Schanigartens‹ eine horrende Preiserhöhung in den Cafés zur Folge hat. Neben der Metaphorik aus dem Bereich des Gartens, welche im vorherigen Zitat deutlich wurde, in dem Verben aus dem Wortfeld des Pflanzenwachstums, wie Blüten treiben, in die Höhe schießen oder florieren, verwendet werden, um im übertragenen
744 Vgl. Holmes: »Joseph Roth’s Feuilleton Journalism«, S. 255. 745 Vgl. »And the same time, from the very beginning, daily life in Vienna is chronicled and described in a rich series of reportages that show the newspaper experimenting with existing strands of the new journalism in its search for new ›terms and words‹ to express the state of the stricken capital. […] On the one hand, they are always socially aware and often socially critical; on the other, they seek to create atmosphere, they adopt the descriptive and narrative rather than analytical stance. […] the language he uses simultaneously invokes and debunks the rhetoric of the war years with its murky mixture of appeals to high culture, by Biblical imagery, and institutional normalcy […].«, in: Holmes: »Joseph Roth’s Feuilleton Journalism«, S. 259f. 746 Vgl. Holmes: »Joseph Roth’s Feuilleton Journalism«, S. 265. 747 Irmgard Wirtz weist darauf hin, dass das Feuilleton »Kaffeehausfrühling« erst am 25.5.1919 im Neuen Tag erschienen ist und nicht am 23.5.1919, wie in der von Klaus Westermann herausgegebenen Gesamtausgabe angegeben. Vgl. Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 38, Fußnote 77. 748 Joseph Roth: »Kaffeehausfrühling«, in: ders.: Werke I, Das journalistische Werk 1915-1923, Bd. 1, hg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 32-34, S. 32. Kursive Hervorhebungen im Original. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »Khf« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen.
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Sinn auf die erfolgten Preiserhöhungen hinzuweisen, benutzt Roth auch eine Wettermetaphorik, in der die hinter den Wolken versteckte Sonne für positive Nachrichten steht, die aufgrund der Weltlage nicht verkündet werden können. Zwar sei alles für die Sonne gerüstet, die leider ›infolge Ausbleibens wichtiger meteorologischer Nachrichten‹ von der Sternwarte nicht angekündigt werden kann und sich ohne zuverlässige Prognose nicht recht aus den Wolken hervortraut… (Khf 32f.) Nach Gernot Böhme ist es ganz »selbstverständlich, dass bestimmte Wetterlagen auch bestimmte Gefühle mit sich bringen, dass sie nicht nur das Befinden, sondern auch die Stimmung beeinflussen.«749 Daher konstatiert er, dass das »Wetter schon mehr oder weniger metaphorisch für das Gefühl selbst« stehe. Das Wetter erscheine stets als ein »Korrelat unseres leiblich-sinnlichen Spürens« und könne »als eine Modifikation des Raumes der leiblichen Anwesenheit« begriffen werden.750 Auch Regine Heß verbindet die Wetterlage mit dem Raum, da sich je nach architektonischer Gestaltung eines Gebäudes auch die Stimmung im Inneren anpassen oder verändern könne, wenn beispielsweise das helle Sonnenlicht durch ein großes Fenster in ein Zimmer falle oder es im Inneren eines Hauses plötzlich dunkel werde, weil sich ein Gewitter zusammenbraut: Wetterstimmungen tragen zu gesteigerter Diversität der Raumerscheinung bei. Diesen Naturverhältnissen ist gemeinsam, dass sie bewegliche Elemente besitzen und demnach in der Lage sind, den Raum zu beleben und die in ihm herrschende Stimmung zu wandeln.751 In seinem Text schafft Roth durch die Beschreibung der ›Wetterlage‹ nach dem Ersten Weltkrieg eine Atmosphäre, in der alles ironisch ins Gegenteil verkehrt und Gegensätzliches zusammengebracht wird: So bleibt dem Kaffeehausgast das eigentlich schmackhafte Eis förmlich im Halse stecken, weil es mit negativ konnotierten Dingen wie der nicht vorhandenen ›Herzenswärme‹ verknüpft wird und »leider immer noch die Herzen der Menschen krampfhaft umschlossen« hält. Der gemütliche ›Schanigarten‹ wird zum »Verkehrshindernis«, die frische Luft ist nicht mehr gesund, sondern »erfüllt mit Kriegsberichten, die von den Friedenskonferenzen kommen« (Khf 33). Im Abschnitt »Nachtleben« beschreibt Roth die Wiener Pathologie, in welche die Leichen im »Straßenbahnwagen« gebracht und wo sie später seziert werden, sowie die Reparatur der Straßenbahn durch die Elektrizitätszentrale. Er bringt diese beiden Bereiche zusammen, indem er das für die S-Bahn gegrabene Loch mit einem Grab vergleicht und damit die Hoffnungslosigkeit der Nachkriegszeit deutlich macht, weil die Bürgerinnen und Bürger immer das Gefühl hätten, totgeweiht zu sein. Mit diesem Selbstverständnis kontrastiert der Erzähler den quicklebendigen Straßenverkäufer, der »Speck, Sodawasser und Backwerk« verkauft und »die einzige Erscheinung im Wiener 749 Gernot Böhme: »Das Wetter und die Gefühle. Für eine Phänomenologie des Wetters«, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 29, Berlin 2011, S. 153-166, S. 153. 750 Böhme: »Das Wetter und die Gefühle«, S. 153f.; 164. 751 Heß: »Stimmung, Atmosphäre, Präsenz«, S. 58.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Nachtleben [sei], die mit ihrem flackernden Gasolinlicht in eine frohe Zukunft« weise (Khf 34): Denn so ist unser ›Nachtleben‹: Unsere Mitbürger sterben und werden eingesargt wie unsere Vergangenheit, ihre Leichen seziert wie unser Vaterland, die Auferstehung unseres Straßenverkehrs sieht einem Begräbnis verzweifelt ähnlich, und das Licht unserer Hoffnung ist ein irrlichterlierendes Gasolinflämmchen, das über gesalzenem Amerikaspeck und unerschwinglichen Ersatzmehlspeisen im Nachtwinde taumelt… (Khf 34) Um die negative Stimmung der Zeit herauszustellen, vergleicht Roths Erzähler auch die verregneten und »gottverlassenen Caféveranden« der ›Schanigärten‹ mit »nie erfüllten Friedensträumen, verregneten Aussichten und verschnupften Weltlagen« (Khf 33): Diese umgekehrten Tische mit den umgestülpten Korbstühlen, die von Nässe weinen, sehen einer verkehrten Welt verzweifelt ähnlich, in der alles auf den Kopf stünde, wenn auch nur etwas einen Kopf hätte. (Khf 33) Mit der Erwähnung der umgedrehten, tropfnassen Korbstühle veranschaulicht er nicht nur die ›verkehrte‹ Welt der Nachkriegszeit, die von einem Mangel an Ordnung geprägt ist, sondern eine geradezu aus den Fugen geratene, ›kopflose‹ Welt, in der die »Dinge […] über die Menschen [herrschen] und nicht umgekehrt. In der Vertauschung von Subjekt und Objekt von Handlungen manifestiert sich das Zeiterlebnis als Erfahrung einer verkehrten Welt.«752 Irmgard Wirz zufolge erscheint dieser traditionelle, außerhalb der Cafés aufgebaute Gastbereich in Roths Text als »Requisit aus der vergangenen Welt«, welcher »nur mehr auf die besseren Zeiten zurück« verweise. Wirtz erkennt daher in den Feuilletons »die bewußte Inszenierung der Weltverlorenheit, des Identitätskonflikts in der Grenzsituation.«753 Deutlich wird zudem, dass Roth hier durch die gleichzeitige Nennung von eigentlich getrennten Sachverhalten eine höchst vielschichtige, urbane »Panoramalandschaft«754 erschafft, in der laut Pelloni das Gegenwärtige »das Vergangene [überlagert], das jedoch bisweilen an die Oberfläche der Stadt gelangt und sich als epiphanisches Fragment wiederfinden lässt.«755 Damit generiert Roth gemäß Holmes durch die Verwendung von Metaphern, Assoziationen sowie einer Mischung von fiktiven und faktischen Elementen ein dicht verwobenes Netz von sich erhellenden und sich widersprechenden Bedeutungen.756 Auch in Roths Feuilleton »Wiener Hoffnungslichter. Die Nachtbeleuchtung der Wiener Cafés«, zuerst veröffentlicht in Der Neue Tag am 13.08.1919, überlagern sich die Bedeutungsebenen, indem die Einführung einer schlichten technischen Neuerung, nämlich der Azetylenlampe, der »neueste[n] Kaffeehauserrungenschaft«, mit Pathos als großes gesellschaftliches Ereignis beschrieben und gleichzeitig ironisch-distanziert bewertet wird. Das Azetylenlicht wird dabei personifiziert, empfindet Gefühle und erscheint als trotziges, eigensinniges Wesen, das die Gäste mit seinen Launen beherrscht: 752 753 754 755 756
Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 53. Wirtz: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen, S. 58. Pelloni: »Spazieren in Nachkriegswirren«, S. 106. Pelloni: »Spazieren in Nachkriegswirren«, S. 119. Vgl. Holmes: »Joseph Roth’s Feuilleton Journalism«, S. 259f.
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Um 10 Uhr stellte einen Mann ein Gefäß auf einen Tisch. Ein Gefäß, das man ebenso gut für eine Handgranate wie für eine vorsintflutliche Lampe aus dem Tempel der Astarte von Sidon aus dem Jahre 700 v. Chr. halten konnte. Dazu kam eine Leiter, wie sie Zimmermaler zu benützen pflegen. Die Musik brach ab. Eistassen blieben unausgelöffelt. Schwarze wurden kalt. […] Beim zweihundertzweiunddreißigsten [Streichholz] fing jenes Etwas, von dem ein offenbar phantasiebegabter Kellner gesagt hatte, es wäre ein Docht, zu brennen an. Ein blaues Flämmchen flackerte. […] Es drohte jedesmal auszulöschen. Es war beleidigt. Konnte die noch brennenden protzigen elektrischen Lichter nicht vertragen. […] Und eh‹ man sich’s versah, war’s finster.757 Die kurzen, stakkatohaften Sätze, mit denen die Ereignisse aufgezählt werden, verdeutlichen die feierliche Spannung, mit der im Kaffeehaus auf die ›Erleuchtung‹ der Lampen gewartet wird und welche auf ironische Weise im Gegensatz zu dem tatsächlich stattfindenden Ereignis steht, bei dem es sich de facto ›nur‹ um die Beleuchtung des Cafés und damit um einen Vorgang von eigentlich geringer Bedeutung handelt. Die Azetylenlampe sei zwar »Wiens Nacht- und Hoffnungslicht«, das die »herrlichste Silvesterstimmung« (WH 119) verbreite und die Menschen in »andächtige[r] Aufmerksamkeit« (WH 118) versetze; jedoch gebe die Lampe einen üblen Geruch ab und funktioniere nicht richtig, so dass diese noch nicht praxistaugliche Revolution immer wieder auszulöschen drohe, woraufhin Finsternis sich breit mache: »Als ich zahlen wollte, fand ich im Lichte der Azetylenlampen den Ober nicht. Er seinerseits war damit beschäftigt, Gäste zu suchen, deren Verschwinden der erste Segen der neuen Lichtquellen war…« (WH 119). Auch hier wird auf ironische Weise wieder eigentlich Negatives, nämlich das unbemerkte Verschwinden von nicht zahlenden Gästen, positiv konnotiert als »Segen« dargestellt. Roth spielt hier zudem auf ein typisches Kennzeichen des Wiener Stadtbilds an, nämlich auf dessen Lichtlosigkeit, die Pelloni zufolge »die Hoffnungslosigkeit der Zeit versinnbildlicht«758 , und bei Roth mit der Atmosphäre in einem »Bergwerk« oder »Kino« gleichgesetzt wird, die schriftstellerischer Arbeit entgegensteht. Deshalb spaziert der Erzähler nach der Beobachtung des Schauspiels des ›LampenAnzündens‹ in ein anderes Kaffeehaus, nämlich ins Café Central, in dem die Atmosphäre des anwesenden Künstler- und Intellektuellentums so intensiv auf ihn einwirkt, dass kein weiteres ›Licht‹ nötig ist, um zu schreiben: »Im Café Zentral [!] leuchteten die Geistesblitze zur Genüge… Im Scheine dieser schrieb ich das Obige…« (WH 119). So schlägt Roth wieder die Brücke zurück von dem über die neue Beleuchtung berichtenden, journalistischen Text hin zum Beruf des Schriftstellers, der sich im Kaffeehaus, sei es noch so düster und verraucht, seine Ideen holt. Diese Art, positive und negative Aspekte zu verquicken und sie jeweils ironisch ins Gegenteil zu verdrehen, stellt nach Claudio Magris den österreichischen Humor dar, welcher gekennzeichnet sei von einer »gewollten Betonung der Widersprüche und Gegensätzlichkeiten«, wobei dieser Humor eine
Joseph Roth: »Wiener Hoffnungslichter. Die Nachtbeleuchtung der Wiener Cafés«, in: ders.: Werke I, Das journalistische Werk 1915-1923, Bd. 1, hg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 118-119, S. 119. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »WH« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 758 Pelloni: »Spazieren in Nachkriegswirren«, S. 118. 757
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
»Selbstironie« darstelle, der es »an der Absicht der Besserung und auch an jener Art von Doppelbödigkeit, auf der der englische Humor beruht, mangelt.«759 Vor allem Roths Texte »Kaffeehausfrühling« und »Vernichtung eines Kaffeehauses« können als Idealtypen der ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden, weil sie nicht nur kleinformatige, über ein Kaffeehaus berichtende Feuilletons darstellen, sondern jeweils auch ein großer Variantenreichtum an Metaphern aus vielen verschiedenen Feldern verwendet wird, Gesellschaftskritik und Missstände feuilletonistisch-ironisch angesprochen werden und durch sprachliche Mittel und die Beschreibung von Sinnesreizen eine sehr dichte Atmosphäre geschaffen wird. Auch in Robert Walsers kurzem Prosatext »Aschinger«, welcher im Dezember 1907 in der Neuen Rundschau veröffentlicht wurde, wird eine große Bandbreite von Metaphern verwendet. So schildert der Ich-Erzähler sehr detailliert und ironisch-distanziert, wie er zwar nicht in einem Kaffeehaus, sondern im Berliner Gasthaus Aschinger seinen Hunger stillt. Der Erzähler beschreibt die angebotenen Speisen derart, dass der Eindruck erweckt wird, bei Aschinger befinde man sich im Paradies oder im Schlaraffenland: So labt man sich an einem »Wurstturm« und trinkt von der »Bierquelle«, eine feine Dame neben ihm verspeist eine »Kaviarherrlichkeit« und im »runden Turm in der Mitte des Gemaches thront eine junge Königin, es ist die Beherrscherin der Würste und des Kartoffelsalates«760 . Darauf heißt es: Übrigens lasse ich mir in diesem Augenblick selber ein neues Eßzauberstück geben, es ist dies ein Brotbett mit einer schlafenden Sardine darauf, sie liegt auf einem Butterlaken, dies gewährt einen so reizenden Anblick, daß ich das ganze Schauspiel beinahe auf einen Ruck in den offenen Drehbühnen-Rachen hinunterwerfe. (A 291) Hier wird die zubereitete Speise, also die Sardine auf Butterbrot, personifiziert und zu einem ästhetischen Kunstwerk oder Gemälde stilisiert, bevor der Erzähler es fast im Ganzen hinunterschluckt, um es nicht kauend zu zerstören. Unterstrichen wird der Aspekt des Künstlerischen und Szeneriehaften durch Vokabeln wie »Schauspiel« oder ›Drehbühne‹ sowie durch die Betonung des Anblicks: Zum einen wird der vergängliche Augenblick fokussiert, zum anderen der Blick des Publikums, denen hier im Lokal wie in einem Theatersaal eine Aufführung geboten wird. Während der Erzähler weiter über die Würde und Lächerlichkeit der Menschen beim Essen philosophiert, arbeitet er gleichzeitig am »ruckweisen Untergang [s]eines Sardinennachtlagers« (A 291), so dass das Essen und die Beobachtungen synchron stattfinden und einander untermauern. Laut Iris Denneler ist daher mit dem »kulinarischen Thema zugleich die Poetologie Walsers aufgetischt«761 : Walser betreibe eine »unvergleichliche Wortverschwendung«, wenn es um Essensdinge gehe, »die durchaus etwas von barockem Überfluß und Gier,
759 Magris: Der habsburgische Mythos, S. 186f. 760 Robert Walser: »Aschinger«, in: ders.: Fritz Kochers Aufsätze, hg. v. Jochen Greven, Gesamtwerk Bd. I, Genf/Hamburg 2004, S. 289-292, S. 290. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle »A« und Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. 761 Iris Denneler: »›Erzähle ich eine Geschichte, so denke ich ans Essen.‹ Zur kulinarischen Poetologie Robert Walsers«, in: Wirkendes Wort 49 (1999), S. 46-62, S. 48.
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von Wortlust und ungezügelter Phantasie« verrate. Der Künstler zeichne sich also dadurch aus, dass »Befriedigung nicht im Essen«, sondern im Imaginären, genauer noch, im Sprachlichen« gefunden werde.762 Der Erzähler schildert im weiteren Verlauf des Textes verschiedene optische Sinnesreize sowie den Geschmack unterschiedlicher Speisen, die Geräusche innerhalb und außerhalb des Lokals, die hervorstechenden Farben des Essens und der Arbeitskleidung der Angestellten sowie die Haptik eines »nässende[n] Glases« (A 289) und des ›knusprigen Brotes‹ (vgl. A 291). All diese Reize nehmen die Menschen im Lokal mit ihren »Augen« und »Zubeißesinne[n]« (A 290) wahr und betrachten sich gegenseitig, während sie »mit den Zähnen arbeiten.« (A 291). Dabei beschreibt er nicht nur sehr anschaulich und metaphorisch die von ihm bestellten Speisen und Getränke, sondern beobachtet auch das Interieur des Restaurants selbst sowie die anderen speisenden Gäste um ihn herum, so dass die Leserinnen und Leser trotz der Distanzierung des Erzählers vom Geschehen, welche durch das Pronomen »man« kenntlich gemacht wird, an seinen Überlegungen teilnehmen können. Christian Angerer verweist in diesem Zusammenhang besonders auf den Rollencharakter von Walsers Ich-Erzähler, der die Lesenden mit einer unerhörten »Unverbindlichkeit« konfrontiere, wodurch er seine »soziale Umwelt auf Distanz« halte.763 Dieses distanzierte und gleichzeitig situationskonforme Verhalten sei ein ganz und gar »großstädtisches Phänomen«: Angesichts der aufwendigen Organisation des bürgerlichen Lebens wird vom Großstädter nicht verlangt, dass er im öffentlichen Leben seine Individualität unter Beweis stellt, sondern dass er über ein Repertoire immer einsatzbereiter situativer Verhaltensweisen verfügt. Die großstädtische Lebensweise hemmt die Ausformung markanter Charaktere und ersetzt sie durch die reibungslose Anpassung an rasch wechselnde Szenen. […] Walsers Großstädter ist auf diese banalen Rollen angewiesen, weil er sich erst in ihnen die soziale Hülle erspielt, in der sein Identitätsvakuum existieren darf. Deshalb kosten Walsers Ich-Erzähler die Rolle des Passanten aus. Sie gerät ihnen zur ästhetischen Rolle, die es verdient, dass man je nach Schauplatz […] ihre unterschiedlichen Nuancen bestimmt und mit kühler schauspielerischer Rollenbewusstheit die zu erzielenden Effekte – z.B. gelassene Versiertheit – reflektiert.764 Besonders letztere Eigenschaft – die der ›gelassenen Versiertheit‹ – trifft auf den hier beschriebenen Erzähler zu. In seinen Reflexionen werden neben Speisen nämlich auch allgemeine ›Weisheiten‹ und Vorurteile über die Stadt Berlin und ihre Bewohnerinnen und Bewohner erwähnt und diskutiert, die im Gegensatz zur landläufigen Meinung nicht stets gehetzt seien, sondern sich auch durchaus Zeit zum Essen nähmen: Mit dem zweiten oder dritten Glas Hellem in der Faust treibt’s einen dann gewöhnlich an, allerlei Beobachtungen zu machen. Man will gern recht exakt notiert haben, wie die Berliner essen. Sie stehen dabei, aber sie nehmen sich ganz nett Zeit dazu. Es ist ein Märchen, zu glauben, in Berlin haste, zische oder trabe man nur. Man versteht 762 Denneler: »›Erzähle ich eine Geschichte, so denke ich ans Essen.‹«, S. 57f. 763 Christian Angerer: »Kleine Rollen, souverän gespielt. Über Identitätsverweigerung bei Robert Walser«, in: Eduard Beutner (Hg.): Literatur als Geschichte des Ich, Würzburg 2000, 205-222, S. 205. 764 Angerer: »Kleine Rollen, souverän gespielt«, S. 212.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
hier geradezu drollig, Zeit dahinfließen zu lassen, man ist eben auch Mensch. Es ist eine innige Freude, zu sehen, wie hier nach Wurstbrötchen und italienischen Salaten geangelt wird. (A 289f.) Deutlich wird hier nicht nur der Kontrast zwischen dem angeblich permanenten, lautmalerisch ausgedrückten ›Hasten, Zischen oder Traben‹ der Berliner und Berlinerinnen, die die Zeit auch gern einmal ›dahinfließen lassen‹, sondern auch zwischen dem gewöhnlichen deutschen »Wurstbrötchen« und den hier auch erhältlichen, eher exotischeren »italienischen Salaten«. So bietet Aschinger ein breites Warenangebot, das ihm ein Alleinstellungsmerkmal verleiht. Ausgedrückt wird auch eine besondere Form von Achtsamkeit, wenn der Erzähler »das gefüllte Glas einen Moment an[schaut]« und daraufhin überlegt, ob er sich »etwas zu essen holen soll, oder nicht« – als dies entschieden ist, lässt er sich vom »blau-weiß gestreiften Schnittwaren-Fräulein« »eine Auswahl Belegtes auf einem Teller verabreichen«, mit dem er »ordentlich träge an [s]einen Platz zurück[trabt]«. Seine Unentschiedenheit zeigt sich auch in dem Paradox des zuletzt genannten Zitates, in dem der Erzähler vermeintlich rasch an seinen Platz ›zurücktrabt‹, dies jedoch eher langsam, nämlich ›ordentlich träge‹, tut. Im Folgenden beschreibt er ausführlich, wie er sich mit einem »Senflöffelchen« seine »Schnitten braun anstreich[t]«, als wäre es ein Kunstwerk. Dieses verspeist er daraufhin, indem er sich die belegte und mit Senf bestrichene Schnitte »gemütvoll in den Mund hineinschieb[t], daß es die Seelenruhe selber ist, die mir jetzt unter Umständen zuschauen darf.« (alle Zitate A 289). So beschreibt er nicht nur sein Mahl sehr genau, sondern auch seine Emotionen, die er während des Vorbereitens der Speisen bei sich selbst wahrnimmt. Nachdem alles aufgegessen ist, bleibt der Erzähler weiterhin in seiner Ruhe und sinniert darüber, wie lange er »eigentlich denn […] im Sinn [habe], dazubleiben?« (A 291). Er empfindet die Atmosphäre als äußerst behaglich, insbesondere weil der Lärm und die Hektik des großstädtischen Verkehrs auf dem Rosenthaler Platz nicht ins Innere des Lokals dringen, so dass der Gast nichts davon mitbekomme: Draußen auf dem Platz ist ein Lärm, den man eigentlich gar nicht hört, ein Durcheinander von Wagen, Menschen, Autos, Zeitungsverkäufern, Elektrischen, Handwagen und Fahrrädern, das man eigentlich auch gar nicht mal sieht. (A 290f.) Der Ich-Erzähler unterstreicht vor allem auch die emotionale Vertraulichkeit, die in »unsern Aschingerhäusern, wo die Menschen zu gleicher Zeit trinken, essen, reden und denken« (A 292), herrsche: So kenne der Biereingießer ihn »schon seit geraumer Zeit«, man gewöhne sich bei Aschinger »rasch einen Eß- und Trink-Vertraulichkeitston an« (A 289); besonders er als Stammkunde kenne sich aus: »Jetzt habe ich mir eine Zigarette gedreht und nehme am Selbstbrenner, der unter grünem Glas steckt, Feuer. Wie gut ich dieses Glas kenne und die Messingkette zum Anziehen.« (A 290). Der Erzähler betont hier nicht nur seine persönliche Verbundenheit mit dem Lokal, sondern stellt auch das Selbstverständnis von Aschinger heraus, jedem Gast mit Respekt zu begegnen, seine persönlichen Vorlieben zu bedienen – ohne allerdings exklusive Wünsche zu erfüllen oder eine besonders herzliche Bedienung zu garantieren:
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Und das Schönste ist: man kann stundenlang am Fleck stehen, das verletzt niemanden, das findet kein einziger von all denen, die kommen und gehen, auffällig. Wer hier an der Bescheidenheit Geschmack findet, der kann auskommen, er kann leben, es hindert ihn niemand. Wer keine gar so besondere Herzlichkeit beansprucht, der darf ein Herz haben, man erlaubt ihm das. (A 292) So ist die Atmosphäre bei Aschinger laut Tanja Rudtke durch eine »Kultivierung des Einfachen, Zwanglosen und de[n] Anschein sozialer Gleichheit« gekennzeichnet: »Neben einem gewissen Niedergang der Esskultur ist also auch eine neue Art individueller Freiheit zu verzeichnen, es gibt Facetten des Essens in der Öffentlichkeit, die erst hier entstehen können.«765 Deutlich wird an dieser Stelle die Ambivalenz zwischen Öffentlichkeit sowie einem für alle zubereiteten Mahl ohne Extrawünsche und der Möglichkeit, seine persönliche Freiheit auszuleben, indem man sich das jeweils Bevorzugte aus dem Speisen- und Getränkeangebot auswählt und so lange im Lokal verbleibt, wie es einem beliebt. Walsers Prosatext »Aschinger« kann aufgrund seines kleinen Formates, des ironisch-metaphorischen Schreibstils, der Betonung des Augenblicks sowie der Schaffung einer dichten, von Synästhesien geprägten Atmosphäre dem in dieser Arbeit beschriebenen Idealtypus der ›Kaffeehausliteratur‹ zugeordnet werden. Allerdings ergibt sich die Einschränkung, dass in »Aschinger« kein Kaffeehaus im eigentlichen Sinne, sondern ein Berliner Gasthaus beschrieben wird, in dem eine andere Klientel zugegen ist als im Kaffeehaus, welche auch andere Erwartungen an das Lokal hat, beispielsweise in Bezug auf das bei Aschinger vorgehaltene Speisenangebot, welches auf schnelle und preiswerte Sättigung abzielt, wobei aber auch Wert auf eine appetitliche Darbietung der Speisen gelegt wird. Walser betont jedoch, dass auch im Gasthaus Aschinger eine Ambivalenz vorherrscht, die sich zwischen rascher kulinarischer Befriedigung und einer ausgedehnten, mußevollen Pause bewege. Derartige Ambivalenzen konnten zuvor schon bei anderen Texten, in denen das Kaffeehaus eine Rolle spielt, beobachtet werden. Im folgenden Kapitel soll die Betrachtung von literarischen Speisen- und Getränkebeschreibungen fortgesetzt werden; diesmal weniger aus der Perspektive des ästhetischen Präsentierens von Speisen, als vielmehr als Schilderung einer Kulinarik, welche in der Ambivalenz zwischen Appetit und Geldknappheit und zwischen künstlerischer Beeinträchtigung und Schreibinspiration verortet werden kann.
V.4.6.
Kulinarische ›Kaffeehausliteratur‹
In den Texten der ›Kaffeehausliteratur‹ ist vielfach die Rede von den im Café servierten und konsumierten Speisen und Getränken, weil die angebotene Auswahl derselben auch einen Teil der Atmosphäre ausmacht. Besonders in den Texten über französische Cafés werden sehr detailliert die französische Lebensweise sowie die verschiedenen Speisen und Getränke beschrieben, die man dort genießen kann. So betont Marc Augé, dass sich der ›typische Franzose‹ oft viel Zeit zum Essen nehme, welches ihm am Platz serviert
765 Tanja Rudtke: Kulinarische Lektüren. Vom Essen und Trinken in der Literatur. Bielefeld 2014, S. 182.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
werde, so dass die Bistros auch in der Mittagspause stets gut gefüllt seien (vgl. EBP 92; 96; 101). Eine wichtige Rolle spielt auch der ›Café crème‹, der als Nahrungsmittelersatz bei Geldmangel gepriesen wird, da die Bestellung desselben es den Gästen erlaubt, im Café zu verweilen.766 Hingegen kann in österreichischen Texten eine starke Ambivalenz verzeichnet werden, weil einerseits die Meinung vorherrscht, dass man ein traditionelles Wiener Kaffeehaus eigentlich nicht zum Essen und Trinken besuche, sondern aufgrund des Kaffees, der Kommunikation und der Zeitungslektüre. So verweist Friedrich Torberg in seinen rückblickenden Texten auf die Bedeutungslosigkeit des Essens im Café, denn zur »klassischen Kaffeehausatmosphäre« gehöre es, dass man »nichts ›Richtiges‹ zu essen« bekomme: Es gab belegte Brote und, wenn es unbedingt etwas Warmes sein mußte, ein paar Würstel oder eine Eierspeise: Notlösungen, als solche gemeint und beabsichtigt. Denn ins Kaffeehaus kam man ja nicht zum, sondern nach dem Essen, nicht um der fleischlichen, sondern um der geistigen Nahrung willen.767 Auch in Heimito von Doderers Strudlhofstiege wird das knappe Speisenangebot als besonderes, positiv konnotiertes Merkmal eines traditionellen Wiener Kaffeehauses erwähnt, dessen Atmosphäre nicht von Essensdüften, sondern vielmehr von einem Geruchsgemisch aus geröstetem Kaffee und Tabakqualm gesättigt sei. Dies bewirke eine Konzentration auf die intellektuelle, geistige Tätigkeit des Gastes im Gegensatz zu einer Befriedigung des Leibes, da vorhandener Hunger woanders gestillt werden müsse: Um die dunklen Marmorsäulen schwebte die traditionelle Atmosphäre eines Wiener Cafés, Mokkaduft und Zigarettenrauch, jene absolute Reinheit von jedem Essensgeruch und fettigem Odeur, denn hier nahm man, außer Kaffee in den sechs verschiedenen Formen der Bereitung und des Services, höchstens ein Schinkenbrot zu sich oder Eier. Es gab immer genügend leere Tische und jedermann, der sich niederlassen wollte, suchte den größtmöglichen Abstand von den bereits besetzten, worin allein schon die zurückgezogene und gewissermaßen meditative Haltung eines Wiener Caféhausgastes sich ausdrückt.768 Betont wird in von Doderers Text auch der kontemplative Aspekt der Kaffeehausatmosphäre, der es erlaube, inmitten von Gesellschaft für sich alleine zu sein und von nichts abgelenkt zu werden, nicht einmal von Gerüchen.
766 So schreibt zum Beispiel Léon-Paul Fargue, dass die vielen verschiedenen Gäste des Select ›überlebt‹ hätten »grâce à de savants dosages de cafés-crème«: »Le café-crème l’emportait nettement sur les vermouths, picons, vins sucrés ou alcools. C’était dans ce lieu une véritable nourriture.« Weiter heißt es : »[…] on entre tout vivant dans un cauchemar de cafés-crème, d’annuaires téléphoniques, de projets, on croit à ce qu’on dit, on ne dit pas ce qu’on croit, on se satisfait de mots, de promesses, on re-commande des cafés-crème, on câble à des êtres imaginaires, qui acquièrent de ce fait une espèce d’existence […].«, in : Fargue : Le Piéton de Paris, S. 45f. 767 Torberg: »Traktat über das Wiener Kaffeehaus (1959)«, S. 324. Hervorhebungen im Original. 768 von Doderer: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, S. 74.
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Andererseits werden Kaffeehäuser explizit wegen ihrer Speisen gerühmt: So preisen André Heller und Wolfgang Hutter das Café Hawelka, ihren »Buchtelolymp«769 , nicht nur für dessen besondere Atmosphäre und das Wirtsehepaar, sondern für die Mehlspeisen, die ›köstlichen‹ Buchteln von Frau Hawelka, die nicht »im Bocuse vorkommen«, erst am späten Abend serviert werden und ein wahres Kunststück darstellen, da sie in einer Küche hergestellt würden, »welche selbst dem Smutje eines U-Bootes klein vorkommen würde.«770 Ebenso widerspricht Torberg sich selbst, wenn er das Café Demel in seinem Text »Urbis Conditor – Der Stadtzuckerbäcker« gerade für die dort angebotenen, sehr erlesenen Speisen preist – jedoch nicht ohne ironischen Unterton. In Bezug auf das kulinarische Angebot der Wiener Kaffeehauslandschaft unterscheidet Torberg also zwischen einem ›echten‹ Kaffeehaus und einem Café mit angeschlossener Konditorei, wie es das Café Demel ist: Denn der Demel ist mehr als eine Institution. Er ist […] eine Legende. Sowohl die Zuckerbäckerei, die nur noch vom kalten Buffet übertroffen wird, als auch das kalte Buffet, das nur noch von der Zuckerbäckerei übertroffen wird, warten mit immer neuen Köstlichkeiten auf, mit unvergleichlichen und unnachahmlichen Spezialitäten, von denen jede einzelne genügen würde, um eine Konditorei berühmt zu machen. Eine unsichtbare Schar von Fachleuten – Heinzelmännchen vielleicht, mit spitzen Zuckerhüten auf dem Kopf und Bärten aus eigenem Schlagobers – arbeiten unablässig an neuen Rezepten, lassen sich die raffiniertesten Kombinationen einfallen, die sich aus der Skala sämtlicher Geschmacksnuancen von bittersüß bis mildpikant ergeben mögen. Der Demel-Besucher, der nach mehrmonatiger Abwesenheit von Wien und damit vom Demel wieder nach Wien und damit zum Demel zurückkehrt, darf sicher sein, mindestens je zwei Pasteten und Salate vorzufinden, die er noch nie verkostet hat, mindestens ebenso viele ungeahnte Kreationen unter den Torten und Patisserien, und möglicherweise serviert man ihm gerade an diesem Tag eine neue ›Crème du jour‹. Wenn er ein richtiger Demel-Besucher ist, wird ihn das alles nicht weiter überraschen. Das heißt aber keineswegs, daß es ihn kalt lässt. Er findet es nur natürlich – so natürlich wie den ewigen Wechsel der Jahreszeiten. Es durchpulst ihn mit dem gleichen Wohlgefühl, das ihn etwa beim Anblick eines knospenden Grüns überkommt. Beim Demel ist immer Frühling. (UC 304f.) So bestimmen nicht nur die erlesenden Speisen die Empfindungen des Gastes im Demel, sondern vielmehr machen die Vorfreude auf die appetitlichen Neuheiten, die ihm angeboten werden, sowie die angenehme Überraschung, wenn ihm etwas noch nie Dagewesenes zu Verkostung gereicht wird, die Atmosphäre aus. Torberg kreiert hier mit Adjektiven, welche den Geschmack und das Aussehen der Speisen beschreiben, und der Nennung der Speisen selbst eine kulinarische Landschaft, in der sich der Stammgast sehr wohlfühlt, ohne jedoch diese spezielle Umgebung als etwas Besonderes anzusehen.
769 André Heller: »Ein Ort der selbstverständlichen Täuschungen«, in: Franz Hubmann (Hg.): Café Hawelka. Ein Wiener Mythos. Literaten, Künstler und Lebenskünstler im Kaffeehaus, Wien 1982, S. 102-103, S. 102. 770 Hutter: »Hawelka – ein Caféhaus (1981)«, S. 84.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Auch Ernest Hemingway hatte eine Vorliebe für ausgedehnte Mahlzeiten mit vorzüglichen Speisen und ausgesuchten Weinen. Daher durchzieht das kulinarische Themenfeld seinen bereits erwähnten Text A Moveable Feast, den man Nicole Stamant zufolge als »culinary memoir«771 lesen kann. Während Hemingways Ich-Erzähler durch Paris flaniert, beschreibt er die Atmosphäre der vielen Restaurants, Cafés und Brasserien, in denen er essen geht, sowie die Genüsse, die er mit allen Sinnen erlebt772 : Food and drink are omnipresent in A Moveable Feast. Young Hemingway inhales the odor of baking bread as he walks the streets of Paris, sips at café au lait or kirsch as he writes, and indulges in oysters and white wine to offset the emptiness he feels on completing his story. […] Virtually every page of A Moveable Feast contains at least one instance of characters drinking spirits or superb French wines, while eating delicious examples of the world’s most celebrated cuisine. […] Page after page of A Moveable Feastreveals his familiarity with such French regional specialities as the goujon en manchon of Paris […]. […] Hemingway mentions over thirty varieties of aperitifs, wines, spirits and liqueurs from countries as diverse as France, Italy, Switzerland, Spain, Germany, and even Algeria.773 Trotz des fiktionalen Charakters von Hemingways autobiographischem Text scheint es wahrscheinlich, dass der Autor Hemingway alle Speisen und Getränke, die er den Erzähler im Text erwähnen lässt, selbst ausgiebig gekostet hat, so dass das gastronomische Element im Text auch als Form der Selbstrepräsentation interpretiert werden kann.774 Der Herausgeber seiner im Toronto Star Weekly veröffentlichten Artikel, William White, betont daher auch, dass es Hemingways besonderes Talent sei, die Dinge, die er gesehen und erlebt habe, in Fiktion zu übertragen, ohne dabei die Authentizität außer Acht zu lassen. So ist es aufgrund seiner ausführlichen Schilderungen nicht nur möglich, seinem Weg durch Paris in die Bistros und Cafés zu folgen, sondern sogar die erwähnten Mahlzeiten nachzukochen.775 White unterstreicht insbesondere, dass Hemingway seine augenblicklichen Empfindungen in das Panorama, welches er sich erschreibt, einfließen lässt: But his craft was the craft of fiction, not factual reporting. And though he wrote as he saw things, his writing shows most vividly how he felt about what he saw. If the details were sometimes slighted, the picture as a whole – full of the emotional impact of the
771 Stamant: »Hemingway’s Hospitality in A Moveable Feast«, S. 73. 772 Vgl. »Beim Schmecken wirken immer mehrere Sinnessysteme zusammen, außer dem Geschmack auch der Geruchs-, der Sehsinn und der Tastsinn; ohne ein Aroma schmeckt den meisten Menschen kaum etwas. […] Auf den ersten Blick vereinzelt kein Sinn den Menschen so sehr wie der Geschmackssinn. Doch wie alle Sinne, ist auch dieser in ein Sinnen-Netz eingebunden; der Umstand, dass Menschen mit demselben Organ reden, schmecken und essen, verweist darauf, dass sich der Geschmack in einem größeren Zusammenhang realisiert und in ihm zu diskutieren ist.«, in: Alois Wierlacher: »Kultur und Geschmack«, in: Andrea Bogner/ders. (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik, Stuttgart 2003, S. 165-175, S. 169. 773 Susan Beegel: »Hemingway’s Gastronomique: A Guide to Food and Drink in A Moveable Feast (with Glossary)«, in: Hemingway Review 4:1 (1984), S. 14-25, S. 14f. 774 Vgl. Stamant: »Hemingway’s Hospitality in A Moveable Feast«, S. 73. 775 Vgl. Craig Boreth: The Hemingway Cookbook, Chicago 1998.
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events on the people – was clear, lucid and full. For the picture as a whole was what Hemingway the artist cared about.776 Die sehr akkurate und detaillierte Schilderung von Essen und Trinken sind Hemingway laut Linda Underhill und Jeanne Nakjavani jedoch nicht nur wichtig, um ein nicht-stereotypes, authentisches und ›wahres‹ Bild von Paris zu kreieren, sondern vielmehr sei es ihm ein Bedürfnis gewesen, jeden Tag etwas Neues zu probieren und damit in fremde Kulturen eintauchen zu können. Eine fremdländische Küche zu kosten bedeute für ihn, sich als ›expatriate hero‹ von seinen amerikanischen Landsleuten zu unterscheiden, die sich in Paris wie Touristen verhielten und ihren amerikanischen Lebensstil fortführten. Dadurch verleihe er dem Thema Essen und Trinken in seinen Texten die Bedeutung eines ›Codes‹, welcher nicht nur Gefühle und krisenhafte Momente kennzeichne, sondern auch ein ›wahres Abenteuer‹ repräsentiere.777 Der Ich-Erzähler aus A Moveable Feast, im Folgenden »Hemingway« genannt, versteht es ausgezeichnet, ein erstklassiges Essen auszuwählen und dieses zu genießen. Auffällig ist, dass er oft auch alleine beim Essen sitzt und sich gänzlich dem Genuss seines Mahles hingibt, ähnlich dem Erzähler von Walsers »Aschinger«. Er zeigt sich dabei als »self-proclaimed gourmet«778 und ausgesprochener Kenner vieler internationaler wie regionaler französischer Spezialitäten und alkoholischer Getränke. So ist Hemingways Gaumen fähig, den feinen geschmacklichen Unterschied zwischen preiswerten Portugaises-Austern und den teuren Marennes zu schmecken (vgl. MF 97), wobei er jedoch beide Austernarten je nach Situation schätzt. Dies wird in seinen ausführlichen, genießerischen Schilderungen deutlich, bei deren Lektüre man den Geschmack der Austern und des Weines auf der Zunge zu spüren glaubt: I closed up the story in the notebook and put it in my inside pocket and I asked the waiter for a dozen portugaises and a half-carafe of the dry white wine they had there. After writing a story I was always empty and both sad and happy, as though I had made love, and I was sure this was a very good story although I would not know truly how good until I read it over the next day. As I ate the oysters with their strong taste of the sea and their faint metallic taste that the cold white wine washed away, leaving only the sea taste and the succulent texture, and as I drank their cold liquid from each shell and washed it down with the crisp taste of the wine, I lost the empty feeling and began to be happy and make plans. (MF 18) Hemingway, der sich hier nach beendeter Arbeit an seiner Kurzgeschichte »Up in Michigan« in einem Café auf der Place St-Michel Austern und Wein gegönnt hat, verflicht den kulinarischen Genuss mit seinen Empfindungen, die er beim Schreiben entwickelt. Wenn er durch die freudige Erwartung auf spätere Gaumenfreuden und die Atmosphäre des Cafés zuvor zum kreativen Arbeiten angeregt worden ist, verschafft ihm der tatsächliche Verzehr der Austern erst die vollkommene Zufriedenheit und glückliche Ausgeglichenheit, an der es ihm direkt nach Abschluss der Geschichte gemangelt hat (vgl. Kapitel V.1.3); zudem versetzt ihn das Essen wieder zurück aus der Welt der 776 White: »Hemingway needs no introduction…«, S. xii. 777 Underhill/Nakjavani: »Food for Fiction«, S. 90. 778 Underhill/Nakjavani: »Food for Fiction«, S. 87.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
Phantasie und Fiktion in die Wirklichkeit, nachdem er zuvor in einem Zustand des Dazwischen gefangen gewesen ist. Dieser Fokus auf Essen und Trinken ist somit stets mit seinem Schreiben verknüpft, sei es um sich nach getaner Arbeit zu belohnen und sich vom gerade verdienten Geld ein gutes Essen zu gönnen, sei es um sich abzulenken oder inspirieren zu lassen. Wolfgang Schneider schreibt in seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeine Zeitung zur Neuauflage des Werkes, dass Hemingways Stil »auratisch« sei, was sich an der häufigen Erwähnung des Wortes »wonderful« zeige. Dieses im Grunde wenig aussagekräftige Wort sei sehr relevant für den Schreibstil Hemingways, da es dessen Perspektive auf das Leben veranschauliche: ›Die Forellen waren einfach wunderbar‹, Miss Stein leiht ihm ›diese wunderbare Geschichte von Jack the Ripper‹, und über Dostojewski heißt es: ›Seine Heiligen sind wunderbar.‹ Das eigentlich nichtssagende Wort hat etwas mit der Essenz des Lebens zu tun, mit einfachen, unverfälschten Genüssen, mit den wahren und guten Dingen. Bei Hemingway, und nur bei ihm, lässt man sich diese Manier gefallen.779 Wenn der Erzähler sich nach stundenlangem Spazierengehen und Hungern mit einem guten Essen belohnt, genießt er dies ausgiebig und beschreibt jede Einzelheit seines Mahls, so dass aus einem schlichten Kartoffelsalat etwas Außergewöhnliches und die »einfache Sinnlichkeit des Vorgangs« laut Scheider »zum literarischen Ereignis« wird: Eating is wonderful too and do you know where you are going to eat right now? Lipp’s is where you are going to eat and drink too. It was a quick walk to Lipp’s and every place I passed that my stomach noticed as quickly as my eyes or my nose made the walk and added pleasure. There were few people in the brasserie and when I sat down on the bench against the wall with the mirror in back and the table in front and the waiter asked if I wanted beer I asked for a distingué, the big glass mug that held a liter, and for potato salad. The beer was very cold and wonderful to drink. The pommes à l’huile were firm and marinated and the olive oil delicious. I ground black pepper over the potatoes and moistened the bread in the olive oil. After the first heavy draft of beer I drank and ate very slowly. When the pommes à l’huile where gone I ordered another serving and a cervelas. This was a sausage like a heavy, wide frankfurter split in two and covered with a special mustard sauce. I mopped up all the oil and all of the sauce with bread and drank the beer slowly until it began to lose its coldness and then I finished it and ordered a demi and watched it drawn. It seemed colder than the distingué and I drank half of it. (MF 68f.) So erhält er sich nicht nur die Wertschätzung des Essens, sondern lernt immer wieder die große Bedeutung der Pariser Cafés und Brasserien zu würdigen, die für ihn Orte darstellen, an denen er sich wohlfühlt, sein Appetit befriedigt wird und er über seine bereits verfassten und die noch zu schreibenden Werke nachdenken kann (vgl. MF 69ff.). Auffällig sind die großen Mengen Alkohol, die er beim Mittagessen zu sich nimmt; obwohl Hemingway an einer Stelle im Buch betont, dass seine Disziplin darin bestehe, 779 Schneider: »Die wahren und guten Dinge«.
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dass er niemals nach dem Abendessen oder während des Schreibens Alkohol trinke (vgl. MF 149), ist er in diesem Zusammenhang inkonsistent und betont an anderer Stelle, dass es in der 1920er Jahren für alle normal und gesund gewesen sei, zu jeder Tagesstunde und Mahlzeit Alkohol zu trinken: In Europe then we thought of wine as something as healthy and normal as food and also as a great giver of happiness and well being and delight. Drinking wine was not a snobbism nor a sign of sophistication nor a cult; it was as natural as eating and to me as necessary, and I would not have thought of eating a meal without drinking either wine or cider or beer. (MF 142) Als er von dem irischen Dichter Ernest Walsh zum Lunch in das beste Restaurant des Viertels eingeladen wird, bemerkt Hemingway die außerordentliche Qualität des Weißweines, einem Pouilly-Fuissé, und besonders der teuren Marennes-Austern, die er und seine Schriftsteller-Kollegen sich sonst nicht leisten können. Hemingway mag Walsh nicht gut leiden780 und weiß, dass dieser ihn nur zum Essen in das teure Lokal eingeladen hat, um ihn zur Mitarbeit bei einer Zeitschrift zu bewegen; Hemingway, der seine eigenen journalistischen Texte für nicht gelungen hält781 , nimmt die Einladung dennoch an, da er den vorzüglichen Speisen und dem Wein nicht widerstehen kann, die er mit Hingabe und großer Achtsamkeit zu sich nimmt: I began my second dozen of the flat oysters, picking them from their bed of crushed ice on the silver plate, watching their unbelievably delicate brown edges react and cringe as I squeezed lemon juice on them and separated the holding muscle from the shell and lifted them to chew them carefully. […] I missed Ezra and wished he were there. He could not afford marennes either. […] He [Walsh] wanted a good steak, rare, and I ordered two tournedos with sauce Béarnaise. I figured the butter would be good for him. […] The sommelier came and I ordered a Châteauneuf du Pape. I would walk it off afterwards along the quais. (MF 98f.) Er will sich jedoch weder von Essenseinladungen und regelmäßigen Mahlzeiten noch von dem verlockenden kulinarischen Überangebot der Pariser Geschäfte und Restaurants abhängig machen. Da er sich um seinen Lebensunterhalt zu sichern nicht von ungeliebten, journalistischen Aufträgen verführen lassen will, die ihm die Zeit für seine eigentliche schriftstellerische Tätigkeit rauben und seine Kreativität einschränken782 ,
780 Vgl. Matthew J. Bruccoli: Fitzgerald and Hemingway. A Dangerous Friendship, London 1995, S. 73. 781 Vgl. Ernst Schnabel: »Vorwort«, in: Ernest Hemingway: 49 Depeschen. Ausgewählte Zeitungsberichte und Reportagen aus den Jahren 1920-1956, hg. v. Ernst Schnabel, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 7-11, S. 9. 782 Vgl. »Hemingway deliberately selects and shapes references to food and drinks to serve his thematic ends. […] A Moveable Feast is a book about the writer’s problem of sustenance, about Hemingway’s early struggle to sustain himself as an artist, to make a living from writing without allowing himself to be corrupted by hunger. […] For the struggling artist, food and drink are seductive enemies, luring him from his work, and stealing away the small savings that enables him to support his family while he writes. In Paris, the abundance of food and drink are all but overpowering […].«, in: Beegel: »Hemingway’s Gastronomique«, S. 15f.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
erfindet er die Theorie des ›disziplinierten Hungerns‹, die seine Wahrnehmung schärfen soll: You got very hungry when you did not eat enough in Paris because all the bakery shops had such good things in the windows and people ate outside at tables on the sidewalk so that you saw and smelled the food. When you were skipping meals […], the best place to go was the Luxembourg gardens where you saw and smelled nothing to eat all the way from the Place de l’Observatoire to the rue de Vaugirard. There you could always go to the Luxembourg museum and all the paintings were sharpened and clearer and more beautiful if you were belly-empty, hollow-hungry. I learned to understand Cézanne much better and to see truly how he made landscapes when I was hungry. […] By the time you reached 12 rue de l’Odéon your hunger was contained but all of your perceptions were heightened again. The photographs looked different and you saw books that you had never seen before. (MF 65f.) Neben der Intention, Kunst intensiver wahrnehmen zu wollen, ist es sein Anliegen, ein wenig Geld für seine Familie einzusparen, indem er das Mittagessen auslässt und stattdessen spazieren geht. Er will trainieren, ›niedrige‹ körperliche Bedürfnisse wie Hunger zu kontrollieren, um höhere, geistige Leistungen nicht dadurch zu beeinflussen. Wenn er beispielsweise während des Schreibens im Café aus Kostengründen nur einen Kaffee getrunken hat, freut er sich darauf, zuhause mit seiner Frau Mittag zu essen: ›I’m very hungry,‹ I said. ›I worked at the café on a café crème.‹ ›How did it go, Tatie?‹ ›I think all right. I hope so. What do we have for lunch?‹ ›Little radishes, and good foie de veau with mashed potatoes and endive salad. Apple tart.‹ (MF 33) Dass Hemingway sich in seiner Pariser Zeit sehr ausführlich mit dem Thema Hunger und Hungern beschäftigt – so reflektiert er über verschiedene Arten von Hunger, welcher auch noch fortbestehen könne, wenn man ihn augenscheinlich gestillt habe – (vgl. MF 48f.), wirkt sich sehr nachhaltig auf seine Werke783 beziehungsweise die Empfin-
783 Beispielsweise beschreibt er in der Geschichte »Big Two-Hearted River: Part I« wie glücklich sein Protagonist Nick ist, als er nach einem langem Fußmarsch endlich seinen großen Hunger mit einem selbstgekochten Mahl stillen kann, und widmet der Speisen- und Kaffeezubereitung gleich mehrere Seiten. Vgl. Ernest Hemingway: »Big Two-Hearted River: Part I«, in: Ernest Hemingway: The Short Stories, New York 1953, S. 209-218; hier besonders S. 214-218. Auch in seinem Roman Fiesta (1927) werden meist alle Mahlzeiten, welche Jake und seine Freunde einnehmen, und die Atmosphäre, in der sie stattfinden, nicht nur erwähnt, sondern explizit geschildert: »It is always cool in the downstairs dining-room and we had a very good lunch. The first meal in Spain was always a shock with the hors d’œuvres, an egg course, two meat courses, vegetables, salad, and dessert and fruit. You have to drink plenty of wine to get it all down.«, S. 83; »We ate dinner at Madame Lecomte’s restaurant on the far side of the island. It was crowded with Americans and we had to stand up and wait for a place. Someone had put it in the American Women’s Club list as a quaint restaurant on the Paris quais as yet untouched by Americans, so we had to wait forty-five minutes for a table. […] We had a good meal, a roast chicken, new green beans, mashed potatoes, a salad,
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
dungen seiner Figuren aus, die oft diejenigen Neigungen ausleben, die er bei sich selbst zu zügeln versucht: By any standards we were still poor and I still made such small economies as saying that I had been asked out for lunch and then spending two hours walking in the Luxembourg gardens and coming back to describe the marvelous lunch to my wife. […] it also sharpens all of your perceptions, and I found that many of the people I wrote about had very strong appetites and a great taste and desire for food, and most of them are looking forward to having a drink. (MF 82) Als Negativbeispiel für einen Schriftsteller, welcher Hunger und Durst nicht zu zügeln weiß, führt Hemingway immer wieder Scott Fitzgerald an, der sowohl stark alkoholabhängig ist als auch verschwenderisch mit Essen umgeht.784 Deshalb ist er auf viel Geld angewiesen, welches er verdient, indem er ›marktfähige‹ Kurzgeschichten für die Saturday Evening Post verfasst, was Hemingway als ›Prostituierung‹ seines Talents begreift (vgl. MF 131). Als sie auf ihrer Reise von Lyon nach Paris beim Dinner im Hotel Schnecken, Hühnchen und Wein bestellen, beschreibt er den achtlosen Umgang Fitzgeralds mit kulinarischen Genüssen, wenn dieser die feinen Speisen nach der Bestellung kaum anrührt, während des Essens telefoniert und zwischendurch den Tisch verlässt, so dass es kalt wird: We had very good snails, with a carafe of Fleurie to start with and while we were about halfway through them Scott’s call came. He was gone about an hour and I ate his snails finally, dipping up the butter, garlic and parsley sauce with broken bits of bread, and drank the carafe of Fleurie. When he came back I said I would get him some more snails but he said he did not want any. He wanted something simple. He did not want a steak, nor liver and bacon, nor an omelette. He would take chicken. We had eaten very good cold chicken at noon but this was still famous chicken country, so we had poularde de Bresse and a bottle of Montagny, a light, pleasant white wine of the neighborhood. Scott ate very little and sipped at one glass of the wine. He passed out at the table with his head on his hands. (MF 148f.) Wie bereits im ersten Kapitel deutlich wurde, kann Hemingways autobiographischer Text nicht als Idealtypus der ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden, da er zu lang ist und der Fokus mehr auf die Handlung sowie das Café als Schauplatz des Geschehens und weniger auf das Café als Akteur gerichtet ist. Jedoch konnte im letzten Abschnitt gezeigt werden, dass Hemingway durch die ausführliche und genauere Schilderung der Speisen und Getränke jene besondere Atmosphäre der Pariser Cafés in den 1920er Jahre zu vermitteln imstande ist, um die sich seine Erinnerungen drehen. So wird deutlich, dass jedes kleine Café oder Bistro etwas Besonderes und qualitativ Hochwertiges anzubieten hat, welches sich zu erleben lohnt. Insbesondere liegt der Fokus auf der Sinneswahrnehmung: Unentwegt wird etwas verkostet oder erspürt, visuell und olfaktorisch wahrgenommen. Auffällig ist wie bei Robert Walsers »Aschinger« die Konzentration auf and some apple pie and cheese.«, in: Ernest Hemingway: Fiesta: The Sun also rises, London 2004, S. 67. 784 Vgl. Beegel: »Hemingway’s Gastronomique«, S. 16.
V. ›Kaffeehausliteratur‹: Analyse der Texte
den Augenblick des Genießens sowie die Beobachtung der Umgebung, welche Hemingway dann in seine Geschichte integriert. So enthält sein Text viele Merkmale des hier formulierten Genres ›Kaffeehausliteratur‹ und soll in die zweite Kategorie eingeordnet werden.
393
VI. Fazit und Ausblick
Ausgangspunkt dieser Dissertation über das europäische Kaffeehaus war die Frage nach der Existenz eines Genres ›Kaffeehausliteratur‹. Wie im Forschungsbericht unter Kapitel IV.2. nachgezeichnet wurde, haben einige Studien bereits den Versuch unternommen, eine Definition für dieses Genre zu finden beziehungsweise darzulegen, ob diese Textsorte existiert. Trotz dieser bisherigen Forschungsansätze ist die Frage, ob es ein Genre gibt, das als ›Kaffeehausliteratur‹ bezeichnet werden kann und eigene, distinkte Merkmale aufweist, noch nicht eingehend beantwortet worden. Die vorliegende Arbeit hat eben diese Problemstellung aufgegriffen und es sich zum Ziel gesetzt, konkretere Merkmale und Kennzeichen dieses potentiellen Genres zu definieren und diese anschließend im Rahmen einer Analyse verschiedener literarischer und journalistischer Texte zu überprüfen. Nachdem unter Kapitel IV.5. zunächst Hypothesen zu den Kennzeichen eines Genres ›Kaffeehausliteratur‹ aufgestellt wurden, sind im Anschluss eine Vielzahl an Texten jeweils unter inhaltlich-thematischen Schwerpunkten analysiert und eine Genrezuordnung angestellt worden. Dabei hat sich gezeigt, dass innerhalb des Genres ›Kaffeehausliteratur‹ das dialogische Verhältnis zwischen Literatur und Kultur sehr intensiv ausgelotet wird, da mit den Einzeltexten als kulturelle Überlieferungsinstanz und dem Kaffeehaus als Ort der gesellschaftlichen Kommunikation unterschiedliche Diskurse gebündelt werden können, insbesondere weil die Autoren und Autorinnen ihr eigenes Leben, ihre schriftstellerische Tätigkeit und ihre Erinnerungen an frühere Zeiten mit dem Umfeld des Cafés verweben. Dabei kann das Genre nicht nur Einblicke in eine vergangene und gegenwärtige Kaffeehauskultur gewähren und diese damit wieder lebendig machen, sondern auch die Atmosphäre traditioneller und moderner Kaffeehäuser sichtbar machen. Die Themen der hier analysierten Texte, welche im Schaubild (Abb. 1 und 2) als ›Merkmalsgruppe‹ bezeichnet und durch die Kapiteleinteilung sichtbar werden, betreffen neben dem Kaffeehaus selbst, das im Text als Schauplatz dient und in vielen Fällen als personifizierter Akteur dargestellt wird, autobiographische und raumtheoretische Aspekte sowie die Themen Urbanität, Erinnerung und Atmosphäre. Dabei beschäftigen sich die Texte mit den Städten Wien, Berlin und Paris, daneben auch mit Madrid und Triest, mit dem Café als urbanem Mikrokosmos und Schreibort und mit dem Konflikt zwischen Individuum und Masse, zwischen Reizüberflutung, Abgrenzung, Gemein-
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
schaft und Rückzug. Zudem werden von den Schriftstellern und Schriftstellerinnen Überlegungen zu ihrem eigenen Leben und der Inszenierung im Café sowie zu ihren literarischen und künstlerischen Produkten und der Art des Schreibens angestellt, wobei sie sowohl ihre Texte als auch ihre Schreibtätigkeit selbst in einen gesellschaftlichen Bewertungskontext einbetten. Sie befinden sich dabei in einer ambivalenten Zwitterposition, welche sich einerseits durch eine distanzierte Außenperspektive auszeichnet, von der aus sie das Geschehen in einem Café beobachten und darauf mit der textuellen Kontextualisierung dieser Metaebene reagieren, indem sie beispielsweise den Schreibprozess selbst reflektieren und sich mit dem Begriff der ›Aura‹ oder ›Atmosphäre‹ in Bezug auf ihr Stammcafé auseinandersetzen. Andererseits befinden sie sich auch ›mittendrin‹, das heißt, sie selbst sind diejenigen, die beispielsweise während eines performativen Schreibprozesses die Hauptakteure und -akteurinnen innerhalb einer Aufführung sind, welche sich vor der Kulisse des Cafés abspielt. Die dabei im Text zum Ausdruck gebrachte Selbstreferentialität und Wirklichkeitskonstituierung sowie die bildreiche Sprache bewirken eine Authentizität und Literarizität ihrer Texte, welche diese besonders von anderen journalistischen Texten abgrenzen. Ein sehr prominentes Merkmal der Texte ist auch die Verknüpfung von Raum und Erinnerung, mithilfe derer die individuelle Vergangenheit durch den Ort des Cafés kreativ (re-)konstruiert wird und neu auflebt. Dabei wird sehr oft die Veränderung des urbanen Raumes thematisiert, welche den Zerfall einer zuvor zusammengehörigen sozialen Gruppe zur Folge haben kann. Einher geht dieser Fokus mit der nostalgischen Verklärung des ›Alten‹ und ›Gewohnten‹, wohingegen das ›Neue‹ und ›Unerwartete‹ negativ bewertet wird. Ein weiteres wichtiges Merkmal besteht darin, dass die Atmosphäre und Stimmung im Kaffeehaus, bestehend aus Sinnesreizen, dem Zusammenspiel der Menschen und der Wirkung des Innenraums an sich, sehr anschaulich beschrieben und die besondere Betonung auf das subjektive Zeitempfinden, das Empfinden eines einzelnen Augenblicks und die Vergänglichkeit des Moments gelegt wird. In vielen Texten spielen dabei beispielsweise die Haptik, mithilfe derer ein Schreibprozess dargestellt wird, oder die auditive, visuelle, verkostende und olfaktorische Wahrnehmung eine besondere Rolle. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Atmosphäre der Umgebung mit ihren Reizen, Gerüchen und Geräuschen eine unmittelbare Auswirkung auf den Schreibprozess hat und das Café in Form dieser atmosphärischen Reize im Text abgebildet wird. Es konnte gezeigt werden, dass ein raumtheoretisches Genre-Modell geeignet ist, um die hier untersuchten Texte zu ordnen. Dabei kann die Gattung als eigener Raum aufgefasst werden, in dem sich die Texte dynamisch bewegen und sich die Merkmale kreuzen, überlappen, einander überdecken oder miteinander verschmelzen. Diese fließenden Grenzen des offenen Systems sind konstituierend für das Genre-Modell, da sich herausgestellt hat, dass viele der ausgewählten Texte die im Zwischenfazit aufgestellten Merkmale sowohl mit Blick auf inhaltlich-thematische Aspekte als auch auf formale Kriterien aufweisen und die Grenzen zwischen diesen einzelnen Merkmalsgruppen nicht trennscharf verlaufen. Daher ist das unter Kapitel IV.5. eingeführte Zwei-EbenenModell, bestehend aus drei Ringen und vier überlappenden Kreisen, welche die Merkmalsgruppen abbilden (Abb. 1), modifiziert worden, um die Überschneidungen sichtbar zu machen. Diese verschwimmenden Grenzen zwischen einzelnen Merkmalen der
VI. Fazit und Ausblick
›Kaffeehausliteratur‹ werden durch die Kombination der Ebenen des im Folgenden abgebildeten Genremodells (Abb. 2) dargestellt, wobei die Texte je nach Länge und inhaltlicher Ausprägung in den Schnittmengen verortet werden, die sich aus Ringen und einer oder mehreren Merkmalsgruppen bilden.1 Von den insgesamt 44 ausgewählten und analysierten Texten können 35 Texte dem ersten Ring, dem Idealtypus, also der ›Kleinen Prosa‹ zugeordnet werden; weitere sechs Texte dem zweiten Ring, da es sich um längere Texte handelt, aus denen kürzere Ausschnitte betrachtet werden können. Drei ausgewählte Texte können in den dritten Ring eingeordnet werden, da sie eine einzige und längere kontinuierliche Handlung verfolgen. Nach Eintragung der Texte zeigt sich zum einen, dass 16 Texte aus dem Bereich des Idealtypus alle Merkmalsgruppen umfassen und daher im Mittelpunkt (›a‹) verordnet werden können. Die restlichen 19 Texte gehören von ihrem Format her dem Idealtypus an, vereinen aber nicht alle Merkmalsgruppen auf sich. Des Weiteren wird deutlich, dass schwerpunktmäßig die Merkmalsgruppen III. und IV., also Großstadt und Atmosphäre, vertreten sind. Zudem zeigt sich eine häufige Überlappung der Gruppen I. und IV., also Leben, Schreiben & Erinnern im Café und Atmosphäre. Limitiert ist diese Arbeit durch die Ausklammerung weiterer autobiographischer Texte2 , Kurzgeschichten3 , Romane4 und Gedichte5 , in denen das Kaffeehaus insbesondere einen Schauplatz darstellt. Es wäre ein vielversprechender Ansatz für zukünftige 1
2 3
4
5
Das entworfene Genremodell bietet eine Systematisierung von Texten der ›Kaffeehausliteratur‹ an. Dennoch hat es nicht den Anspruch, sämtliche Texte allumfassend und trennscharf voneinander einzuordnen. Vielmehr soll das Schaubild als Orientierungsrahmen für den literaturwissenschaftlichen Diskurs dienen. Marie-Luise Kaschnitz: Das Haus der Kindheit (1956), München 1995; Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (1942), Frankfurt a.M. 2005. Vgl. z.B. Hans-Jürgen Balmes: »Playlist. Vier Songs für Schlaflose«, in: Jetlag Café. Geschichten für schlaflose Träumer und rastlose Reisende, hg. v. den Auszubildenden der S. Fischer-Verlage, Frankfurt a.M. 2011, S. 110-119; Carla Guelfenbein: »Die verkehrte Nacht«, in: ebd. S. 19-24; Ernest Hemingway: »A Clean, Well-Lighted Place« (1933), in: ders.: The First Forty-Nine Stories, London 1972, S. 310-314; Undine Gruenter: »Das gläserne Café« (1991), in: dies.: Das gläserne Café. Erzählungen, Berlin 2008, S. 115-136. Vgl. z.B. Ewald Arenz: Der Duft von Schokolade (2007), München 2009; Anna Gmeyner: Café du Dôme (1941), hg. v. Birte Werner, Bern 2006; Leonhard Frank: Links, wo das Herz ist (1952), Frankfurt a.M./Berlin 1991; Anna Seghers: Transit (1944), Werkausgabe Bd. I/5, hg. v. Helen Fehervary/Berhard Spies, Berlin 2001; Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen (1932), Berlin 2005; Joseph Roth: Zipper und sein Vater (1928), Köln 2003; Joan Weng: Das Café unter den Linden, Berlin 2017; Paula McLain: The Paris Wife, New York 2011; Marie Lamballe: Café Engel. Eine neue Zeit, Köln 2018; Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951). Werke Bd. 4, hg. v. Hans-Ulrich Treichel, Frankfurt a.M. 2006; Heimito von Doderer: Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff, München 1956; Franz Werfel: Barbara oder Die Frömmigkeit (1929), Frankfurt a.M. 1996; Leo Perutz: Zwischen neun und neun (1918), Wien/Hamburg 1978. Vgl. z.B. Gottfried Benn: »Nachtcafé« (1912), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte, hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, S. 19; Mascha Kaléko: »Angebrochener Abend«, in: dies.: Das lyrische Stenogrammheft. Verse vom Alltag, Berlin 1937, S. 28f.; Erich Kästner: »Trottoircafés bei Nacht« (1928), in: ders: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte, Werke Bd. 1, hg. v. Harald Hartung, München 1998, S. 39f.; Erich Kästner: »Sachliche Romanze« (1928), in: ebd. S. 65; Erich Kästner: »Ein gutes Mädchen träumt« (1929), in: ebd. S. 123f.; Robert Gernhardt: »Körper in Cafés« (1987), in: ders.: Körper in Cafés. Gedichte, Frankfurt a.M. 2006, S. 21.
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Das Genre der Kaffeehausliteratur im 20. und 21. Jahrhundert
Forschungsarbeiten, diese Texte im Rahmen der Merkmale des hier eingeführten ZweiEbenen-Models in den Blick zu nehmen. Zusammenfassend soll das Genre ›Kaffeehausliteratur‹ mit Blick auf die in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse folgendermaßen definiert werden: Ein Text, der in das Genre ›Kaffeehausliteratur‹ eingeordnet werden kann, ist ein kurzer literarischer oder feuilletonistischer Prosatext, in dem die Grenzen zwischen fiktiv und nicht-fiktiv changieren und der sich durch seine literarisch-ästhetische Qualität, den mündlichen, zuweilen ironisch-emotionalen Stil und die sehr ausgeprägte Metaphorik von herkömmlichen journalistischen Texten abgrenzt und sich mit den in den Merkmalsgruppen abgebildeten Themen befasst. So setzt sich das Genre ›Kaffeehausliteratur‹ als hybride Textsorte aus verschiedenen literarischen und feuilletonistischen Textsorten zusammen und bezeichnet damit eine Art untergeordnetes Genre. Dieses ist nicht mit Blick auf den Ort des Kaffeehauses zu definieren, an dem die Texte vermeintlich entstanden sind, sondern hinsichtlich des Formats der Texte und deren ästhetischer Qualitäten und inhaltlicher Merkmale.
VI. Fazit und Ausblick
Abbildung 2: Einordnung untersuchter Texte der ›Kaffeehausliteratur‹ in das Zwei-Ebenen-Modell.
399
Epilog
Es war kaum Zeit vergangen, als Stefan Zweig überstürzt ins Café International zurückkehrte. Das Café hatte sich inzwischen etwas geleert, viele Tische waren nun, kurz vor dem Ansturm des Abends, unbesetzt, und die Atmosphäre war angenehm ruhig. Während das Personal bereits die ersten Aperitifs servierte, hatten sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller an ihre Einzeltische zurückgezogen, um in Ruhe über die am Nachmittag geführte Diskussion nachdenken oder weiter an ihren Texten arbeiten zu können. Zweig, der zu Recherchen in die Universitätsbibliothek gegangen war, erregte durch sein hastiges Zurückkommen allgemeine Aufmerksamkeit: »Wissen Sie, was ich gerade entdeckt habe?«, rief er ungestüm. »Sie werden es nicht glauben, so ein Zufall! Eigentlich wollte ich ja nur für mein nächstes Buch in der Bibliothek recherchieren, und da fällt mir eine Studie in die Hände, die sich auch mit dem Genre der Kaffeehausliteratur beschäftigt! Die Verfasserin schlägt ein Modell vor, in das die Texte eingeordnet werden können, die mit dem Kaffeehaus in Verbindung stehen. Möchten Sie vielleicht mal schauen?« Die anderen waren verblüfft. Das war ja wirklich ein außerordentlicher Zufall, da sie heute gerade über dieses Thema diskutiert hatten. Sie drängten sich um Stefan Zweig herum, um etwas sehen zu können. »Na dann hoffe ich, dass diese Arbeit neue Impulse für unsere Diskussion geben wird, die wir nun schneller als gedacht vertiefen können«, murmelte Hermann Kesten. »Hoffentlich hat die Untersuchung auch Texte von Autorinnen berücksichtigt?!«, rief Else Lasker-Schüler von hinten. »Ja, beruhigen Sie sich«, sagte Stefan Zweig. »Da können Sie ganz sicher sein!« »Gut, dass die Damen und Herren wieder mal eine willkommene Ablenkung gefunden haben, damit sie nicht arbeiten müssen!«, schnaubte Edmund Wengraf. »Hier lässt es sich ja nicht aushalten bei dem Gekreische, geschweige denn, in Ruhe schreiben… Ich gehe!« Er knallte das Geld für seinen Kaffee auf den Tisch und machte auf dem Absatz kehrt. Alle anderen schauten ihm verwundert nach. Sie hingegen freuten sich auf einen geselligen und inspirierenden Abend im Café International, an dem sie ihre Diskussion fortsetzen konnten.
Alphabethisches Verzeichnis der analysierten Quellen und Siglen
Autor/Autorin
Titel
Erstveröffentlichung
Sigle
Verortung im Schaubild
Altenberg, Peter
»So wurde ich«
1921
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Le Paysan de Paris
1926
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»Wittgensteins Neffe«
1982
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1928
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»Ein letztes Glas im Gehen«
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»Straße ohne Erinnerung«
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Erläuterungen: * Neben den Merkmalen des Feldes dd. wird in Augés Text Éloge du bistrot parisien eine auffallende Metaphorik aus dem Bereich der Nautik verwendet. ** Neben den Merkmalen des Feldes hh. verhandelt Bernhards Text »Wittgensteins Neffe« einen starken Raumkontrast. *** Neben den Merkmalen des Feldes ggg. wird in Oberholzʼ Text Für hier oder zum Mitnehmen?St. Oberholz – der Roman die Erinnerung an frühere Zeiten thematisiert.
405
Literaturverzeichnis
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Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
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