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German Pages XVI, 184 [195] Year 2020
Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung
Lisa Schwendemann
Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus Eine qualitative Studie zur Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert
Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung Reihe herausgegeben von Anja Ballis, Institut für Deutsche Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland Michele Barricelli, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland Markus Gloe, Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
Die Reihe „Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung“ verbindet inter- und transdisziplinär die beiden Ansätze von Holocaust Education und Menschenrechtsbildung, die sowohl im Bereich der Gesellschaftswissenschaften, der Sprachwissenschaften als auch im erziehungswissenschaftlichen Gesamtkontext der Vermittlung von demokratischen Werten in bildungspolitischen Zusammenhängen adressieren. Ausgewiesene Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen, aber auch der wissenschaftliche Nachwuchs präsentieren in dieser Reihe neueste Forschungsergebnisse, theoretische Grundlagen und dokumentieren die aktuelle inter- und transdisziplinäre Diskussion. Der wissenschaftliche Beirat der Reihe setzt sich zusammen aus Prof. Dr. Sascha Feuchert (Justus-Liebig-Universität Gießen), Prof. Dr. Jeanette Hoffmann (Technische Universität Dresden), Prof. Dr. Martin Lücke (Freie Universität Berlin), Prof. Dr. Tonio Oeftering (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg), Prof. Dr. Martin Rothgangel (Universität Wien) und Dr. Noah Schenker PhD (Monash University, Melbourne). Die Reihe „Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung“ wendet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit Fragen der Vermittlung des Holocausts und Fragen der Menschenrechtsbildung beschäftigen, sowie historisch-politische Bildnerinnen und Bildner in Schule und außerschulischen Kontexten.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16330
Lisa Schwendemann
Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus Eine qualitative Studie zur Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert
Lisa Schwendemann München, Deutschland
ISSN 2662-1878 ISSN 2662-1886 (electronic) Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung ISBN 978-3-658-31323-4 ISBN 978-3-658-31324-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Die Doktorarbeit wurde im Wintersemester 2019/20 an der LMU München angenommen und verteidigt. Erstgutachterin war Prof. Dr. Anja Ballis (LMU München), Zweitgutachter war Prof. Dr. Markus Gloe (LMU München). Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Für alle Amateurtheaterprojekte, die auch in Zukunft das Gedenken an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus wachhalten werden.
Danksagung
Zum Entstehen dieser Arbeit haben viele Menschen beigetragen, die mich während dieser Zeit begleitet und unterstützt haben. Zuallererst möchte ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Anja Ballis danken, die meine Arbeit in den letzten Jahren so hervorragend betreut hat. Von den ersten Schritten bis zur Veröffentlichung dieser Arbeit hat sie mich stets begleitet und mir während dieser Zeit immer wieder wertvolle Hinweise gegeben, die mein Projekt voranbrachten und mein wissenschaftliches Verständnis förderten und erweiterten. Sie sorgte dafür, dass ich mich mit Expert(inn)en über meine Arbeit austauschen konnte, indem sie beständig Fachwissenschaftler(innen) der unterschiedlichsten Disziplinen an die Universität einlud, sodass ich mein methodisches und methodologisches Wissen ausbauen konnte. Mit ihrer professionellen Art hat sie mir stets Raum für eigenständiges Forschen gelassen, gleichzeitig aber auch Rückhalt gegeben und durch ihr Wissen und ihre Erfahrung notwendige Korrekturen und Erweiterungen ermöglicht. Für diese intensive Begleitung, die mit Geduld, Vertrauen und Bestärkung verbunden war, möchte ich mich von ganzem Herzen bei ihr bedanken. Ebenso gilt mein ausdrücklicher Dank Prof. Dr. Markus Gloe, der die Zweitbegutachtung übernommen hat. Neben seinen wertvollen Hinweisen zur thematischen Erweiterung dieser Arbeit, hat er mich in seinem Tun zu eigenverantwortlicher und selbstbewusster Forschung ermutigt. Meinen großen Dank spreche ich auch Prof. Dr. Kurt Hahn aus, der mich im Rahmen der Graduiertenschule ‚Sprache & Literatur: Klasse für Didaktik der Sprachen‘ stets auf wichtige Aspekte hinsichtlich meiner Arbeit aufmerksam gemacht hat und sich darüber hinaus bereit erklärt hat, als Drittprüfer zu agieren. Auch für seine Impulse hinsichtlich der Veröffentlichung dieser Arbeit möchte ich mich ganz herzlich bei ihm bedanken. Ich habe davon sehr profitiert.
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Danksagung
Die Basis der hier vorliegenden Arbeit stellen die Projekte der Amateurtheatergruppen dar, sodass es ohne das vorbehaltlose Vertrauen der Projektbeteiligten diese Arbeit nicht gegeben hätte. Ganz herzlich möchte ich mich deshalb bei Thomas Ritter, Farina Simbeck, der Spielleitung des Theaterprojektes ‚Nicht vergessen!‘, Jürgen Geiger sowie den Darsteller(inne)n der in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte bedanken. Ohne viel Aufsehens waren sie bereit, mich an ihren Projekten teilhaben zu lassen und mir Material in Form von Theaterskripten, Fotos und Videomitschnitten zur Verfügung zu stellen. Auch wenn ich Rückfragen zur Entwicklung der Theaterstücke oder der eingesetzten theatralen Praktiken hatte, waren sie für ein Gespräch stets offen. Auch die bereitwillige Mithilfe der Theaterbesucher(innen) hat zum Gelingen dieser Arbeit erheblich beigetragen. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei den 16 Zuschauer(inne)n bedanken, deren Wahrnehmungen ich in dieser Arbeit auswerten durfte. Obwohl sie mich nicht kannten, waren sie sofort bereit, mich in meinem Dissertationsprojekt zu unterstützen und ihre privaten Eindrücke mit mir zu teilen. Bei der Graduiertenschule ‚Sprache & Literatur: Klasse für Didaktik der Sprachen‘, welche von Prof. Dr. Markus Janka und Prof. Dr. Kurt Hahn geleitet wird, möchte ich mich ebenfalls bedanken. Nicht nur in finanzieller, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht. In diesem Rahmen durfte ich die unterschiedlichsten Projekte und Arbeitsweisen kennenlernen, die mich sowohl als Forscherin als auch in meinem Projekt weiter voranbrachten. So haben mir die teilnehmenden Professor(inn)en und Doktorand(inn)en immer wieder nützliche Tipps gegeben und mich durch konstruktive Kritik dazu ermuntert, meine Vorhaben, Thesen oder Formulierungen gegebenenfalls neu zu bewerten und dementsprechend zu gestalten. Auch bei der Forschungsgruppe des Projektes ‚Nähe und Distanz: Holocaust Education Revisited‘ und den Kolleg(inn)en des Oberseminars unter der Leitung von Prof. Dr. Anja Ballis bedanke ich mich recht herzlich für die Möglichkeit, meine Ergebnisse immer wieder vorstellen und diskutieren zu dürfen. Die produktiven Sitzungen, in denen wir mein Material unter die Lupe genommen haben, haben mir viele Anregungen zur Weiterarbeit gegeben. Vor allem Ernst Hüttl möchte ich an dieser Stelle erwähnen, der über mehrere Monate hinweg meine Daten mit mir zusammen ausgewertet und mir stets mit Rat und Tat hilfreich zur Seite gestanden hat. Ich denke sehr gerne an unsere morgendlichen Sitzungen, in denen wir uns über unterschiedliche Lesarten des Materials ausgetauscht haben. Thomas Nibler hat die äußerst professionelle Arbeit für die Fotographien geleistet, die nun die Theaterprojekte für die Leser(innen) veranschaulichen. Dafür, und auch dass er das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ für mich aufgezeichnet hat, danke ich ihm ganz herzlich.
Danksagung
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Zum Schluss danke ich meinen Eltern für ihre stets großzügige Unterstützung meiner wissenschaftlichen Laufbahn. Mein besonderer Dank gilt auch meinem Freund Ralph Krafczyk, der immer wieder meine Texte gegengelesen hat und bei der Erstellung der Graphiken eine große Hilfe war. Letzteres gilt auch für Anja Gebauer, wofür ich ihr an dieser Stelle herzlich danke. Darüber hinaus sei meine gute Freundin Anna Lachmann erwähnt, die mich während meiner Arbeit mental unterstützt hat. Für ihren Zuspruch und ihre Anteilnahme am Werden meiner Dissertationsschrift danke ich ihr von Herzen. München im Mai 2020
Lisa Schwendemann
Zusammenfassung/Summary
Zusammenfassung Amateurtheaterprojekte stellen einen wichtigen Bestandteil unserer Erinnerungskultur dar. Während bereits erste Erkenntnisse zu den Erfahrungs- und Lernprozessen von Menschen, die sich theatral mit NS-Geschichte auseinandersetzen, bekannt sind, bleibt die Rezeption der daraus resultierenden ‚Produkte‘ meist außen vor. Doch da die Beteiligten dieser Theaterstücke ihre Projekte entweder selbst als eine Form der Erinnerung verstehen oder ihnen diese Funktion von außen zugesprochen wird, ist die Wirkung solcher Konzepte auf die Rezipient(inn)en von besonderem Interesse. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit das Rezeptionsverhalten auf Amateurtheaterprojekte als ein Medium in unserer Erinnerungskultur sichtbar gemacht. Hierzu wurden zu drei Amateurtheaterprojekten 16 Theaterbesucher(innen) mittels leitfadengestützter Interviews befragt, die mit dem Kodierkasten der Grounded Theory Methodologie nach Strauss und Corbin (1996) ausgewertet wurden. Es konnte herausgestellt werden, dass die in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte die Erinnerung an die jeweiligen Opfergruppen in einer vornehmlich ästhetisch überformten Weise theatral verarbeiten, die von den Theaterbesucher(inne)n eine überwiegend intellektuelle Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen erfordert. Damit werden mit den Theaterprojekten vor allem ‚bildungsnahe‘ Theaterbesucher(innen) angesprochen, die in der Lage sind, die verfremdeten Sequenzen mit ihrem bereits vorhandenen Wissen abzugleichen und diese individuell für sich zu deuten. Sie müssen also bereit sein, sich während und nach dem Theaterbesuch aktiv mit der Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinanderzusetzen. Das Zusammenwirken von Theaterentwurf, Spieler(inne)n und Theaterbesucher(inne)n formt daraus ein individuelles und nicht
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Zusammenfassung/Summary
wiederholbares Erlebnis, das bei allen Beteiligten einen bleibenden Eindruck zu ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ erzeugen kann. Damit erweist sich die Methodik der Amateurtheaterprojekte als eine zukunftsweisende Möglichkeit, um auch ohne noch lebende Zeitzeug(inn)en das Gedenken an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus wachzuhalten und zu bewahren. Summary Amateur theatre projects are an essential part of the German culture of remembrance. But while we already possess initial insights into the experiences and learning processes of people who develop and stage plays in order to deal with Nazi history, the reception of these conceptions has rarely been looked into. Since such projects are often considered a form of remembrance – sometimes by the creators themselves, sometimes by people from the outside – the effects of these amateur theatre projects on the recipients are particularly interesting. For that reason, this thesis investigates how amateur theatre projects are perceived as a medium of the German culture of remembrance. 16 theatre visitors of three amateur theatre projects were questioned about their experiences in guideline-based individual interviews which were then evaluated utilizing Strauss and Corbin’s approach to grounded theory (1996). It could be shown that the amateur theater projects examined in this thesis commemorated the respective victim groups primarily in aestheticised ways, which required the theater visitors to deal with the Nazi crimes addressed in the plays on a predominantly intellectual level. The theatre projects were thus primarily aimed at educated theatre visitors who are able to match the alienated sequences with their existing knowledge and interpret them individually for themselves. They must therefore be willing to actively deal with the topics of the Holocaust and National Socialism during and after their visit of the play. The synergy of the theatre project design, the actors and the visitors forms an individual and non-repeatable experience that can create a lasting impression of the Holocaust and National Socialism for everyone involved. The approach of amateur theatre projects thus proves to be a future-oriented way of commermorating victims of the Holocaust and National Socialism even without the support of contemporary witnesses.
Inhaltsverzeichnis
1 Prolog: Amateurtheater in der Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Amateurtheaterprojekte der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 ‚Nicht vergessen!‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 ‚Spurensuche – Was für ein Mensch willst du sein?‘ . . . . . . . . . . . .
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3 Amateurtheaterprojekte als Gedächtnismöglichkeit in der Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Soziales Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute . . . . . . . . 4.1 Ästhetik der Bewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Ästhetik der Sentimentalisierung und Idealisierung . . . . . . . . . . . . . 4.3 Ästhetik des dokumentarischen Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Ästhetik der Verfremdung und Postdramatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ästhetik des Experimentellen und Fraktalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Konzeption der Amateurtheaterprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Umsetzung von Amateur(inn)en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Theatrale Darstellungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Ortsspezifik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Zeitgenössisches Dokumentartheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Techniken der Verfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Entstehung und Aufführung der Projekte als Prozess . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
5.4 Zwischenfazit: Theatrale Darstellungsformen in den Amateurtheaterprojekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Forschungsstand und Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Methodologische und methodische Anlage der Arbeit . . . . . . . . . . . . . 7.1 Qualitatives Forschungsdesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Datenerhebung und -auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Datenerhebung – Leitfadengestützte Interviews . . . . . . . . . 7.2.2 Datenauswertung – Grounded Theory . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8 Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Vor dem Theaterbesuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Während des Theaterbesuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Möglichkeit der Selbstjustierung von Nähe und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Aktive Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Nach dem Theaterbesuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Zurückweisung der Erinnerungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Interpretation der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Fazit: Intellektuelle Auseinandersetzung mit ‚schwieriger‘ Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9 Epilog: Zur Zukunft von Amateurtheaterprojekten . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 2.1 Abb. 2.2 Abb. 2.3 Abb. 2.4 Abb. 2.5 Abb. 2.6 Abb. 2.7 Abb. 2.8 Abb. 2.9 Abb. 2.10 Abb. 2.11 Abb. 2.12 Abb. 2.13 Abb. 2.14 Abb. 2.15 Abb. 2.16 Abb. 2.17 Abb. 2.18 Abb. 2.19 Abb. 2.20 Abb. 2.21 Abb. 2.22 Abb. 2.23
Bronze-Relief von Lothar Dietz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstreutes Bodendenkmal von Robert Schmidt-Matt . . . . . . . Bronzebüste von Nikolai Treger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lichthof LMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räumlicher Aufbau des ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzertes‘ . . . . Student(inn)en am Fuß der mittleren Treppe . . . . . . . . . . . . . . . Vortragen der Zitate auf den gegenüberliegenden Balkonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz von leichtem Raumlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz von blauem Licht im Gedenkkonzert . . . . . . . . . . . . . . Einsatz von blauem Licht in der DenkStätte . . . . . . . . . . . . . . . Musikalische Begleitung der theatralen Lesung . . . . . . . . . . . . Markierung des ehemaligen Lagereingangs . . . . . . . . . . . . . . . Spielorte von ‚Nicht vergessen!‘ mit Übersichtsplan des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark . . . . . . . . Markierung der ehemaligen Lagerstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Maschas‘ (Puppen aus Maschendraht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelände des heutigen kbo-Isar-Amper-Klinikums München Ost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mahnmal an die Opfer der Euthanasie in Haar . . . . . . . . . . . . . Bühnenkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterteilung des Publikums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeigegeste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überquerung der Brücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abtrennung des Publikums mit Seilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Was für ein Mensch willst du sein?‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 10 10 11 12 13 15 16 16 17 18 20 22 24 26 30 31 32 33 33 35 37 37
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Abb. 2.24 Abb. 2.25 Abb. 5.1 Abb. 5.2 Abb. 5.3 Abb. 7.1 Abb. 8.1 Abb. 8.2 Abb. 8.3 Abb. 9.1 Abb. 9.2
Abbildungsverzeichnis
Einsatz von warmen Weißlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz von blauem Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsverständnis ‚Amateurtheaterprojekte‘ . . . . . . . . . . . . . Kleidung im ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ . . . . . . . . . . . . . . . Kleidung in ‚Spurensuche‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befragte Zuschauer(innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plakat für das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ 2017 . . . . . . . . . . Übersicht der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeptionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bühnenelement im Publikumsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbindung von Bühnen- und Publikumsraum . . . . . . . . . . . . .
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Prolog: Amateurtheater in der Erinnerungskultur
Die Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus ist ein wichtiger Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur. Schon während des Zweiten Weltkrieges begannen die Zeitgenoss(inn)en an vielen Stellen, die Geschichten der im Völkermord getöteten Menschen systematisch zu sammeln. Die erfolgreichsten Untergrundarchive waren die des Warschauer Ghettos. Um die dortigen Lebensbedingungen zu dokumentieren wurden beispielsweise Dekrete der Nationalsozialisten, Aufzeichnungen von Sitzungen der Judenräte, aber auch Essenskarten oder Poster von Theateraufführungen archiviert (vgl. Wieviorka 2006: 1–7). Darüber hinaus hielten die Menschen selbst fest, was sie zur Zeit des Zweiten Weltkrieges erlebten: Chaim Kaplan, Abraham Lewin, Mary Berg oder Janusz Korczak verfassten beispielsweise im Warschauer Ghetto Tagebücher. Adam Czerniakow, Leiter des Warschauer Ghettos, trug kleine Notizbücher mit sich herum, in die er verschiedene Fakten notierte, die er mit persönlichen Gedanken und Zitaten anreicherte (vgl. Wieviorka 2006: 19–22). Auch die Befreiung des europäischen Kontinents von den Nationalsozialisten beendete diese erste Welle an Zeitzeugnissen nicht, denn schon kurz nach der Kapitulation des NS-Staates bildeten sich in den Vertriebenenlagern historische Komitees, die die Zeugnisse der Überlebenden aufzeichneten (vgl. Wieviorka 2006: 24). Doch alle diese Erinnerungen waren zunächst nicht Teil der öffentlichen Erinnerungskultur und hatten nur wenig Bedeutung für die Gesellschaft. Dies sollte sich erst mit dem Eichmann-Prozess im Jahr 1961 ändern, der für Annette Wieviorka die „Ankunft des Zeugen“ (Wieviorka 2006: 60) in der Gesellschaft markiert. Der Prozess richtete sich gegen den ehemaligen deutschen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der für den millionenfachen Mord an Juden verantwortlich gemacht wurde. In diesem Zusammenhang schilderten die Opfer ihre persönlichen Geschichten und erstmals wurde ihnen großes © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_1
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Prolog: Amateurtheater in der Erinnerungskultur
Gewicht zugeschrieben. Dies hing damit zusammen, dass der israelische Staat das Zeugnis der Holocaustüberlebenden unterschrieb und ihnen damit die Legitimität des Staates verlieh. Darüber hinaus wurden die Schicksale der Zeitzeug(inn)en vor Richtern geäußert, deren Aufgabe es war, die in ihnen enthaltene Wahrheit zu prüfen und anzuerkennen. Auch mag die Weitergabe der Zeitzeugnisse an die Weltmedien dazu beigetragen haben, dass die Erzählungen der Augenzeug(inn)en erstmals Teil der öffentlichen Erinnerungskultur wurden (vgl. Wieviorka 2006: 84.). In den nächsten Jahren sollte die Ausstrahlung der Fernsehserie ‚Holocaust‘ ebenfalls dazu beisteuern, dass dieser Abschnitt der deutschen Vergangenheit endgültig Teil unserer Erinnerungskultur wurde. Die im Fernsehen übertragene Serie wurde zunächst 1978 in den Vereinigten Staaten ausgestrahlt. Ein Jahr später wurde sie auch in Deutschland gezeigt, wo sich eine breite Öffentlichkeit erstmals bereitwillig mit dem Leid der Opfer des Holocaust und des nationalsozialistischen Terrors auseinandersetzte (vgl. Wieviorka 2006: 96–98). Seitdem hat sich in Deutschland eine dauerhafte und vielfältige Erinnerungskultur etabliert, die an diese Menschen erinnert (vgl. Giesecke et al. 2012: 7). Die Dokumentation der NS-Verbrechen begann also schon während des Zweiten Weltkrieges, aber erst Ende der 1970er Jahre sollte dieser Teil der deutschen Vergangenheit auch breitflächig Eingang in die öffentliche Erinnerungskultur finden (vgl. Giesecke et al. 2012: 7). Die Erinnerung an die Opfer des Holocaust und des Nationalsozialismus wird jedoch in naher Zukunft wegen des hohen Alters der Zeitzeug(inn)en ohne die mündlichen Überlieferungen der Holocaustüberlebenden auskommen müssen und ausschließlich auf Medien angewiesen sein, die die Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Diese Medien in der deutschen Erinnerungskultur gestalten sich äußerst vielfältig: Allein in den Künsten wird dieser Teil der deutschen Vergangenheit in Literatur, Film, Musik, Malerei, Denkmälern oder Comics aufgearbeitet (vgl. Martínez 2004a). Die gegenwärtige Theaterlandschaft betrachtet, finden sich darüber hinaus viele Theaterprojekte zu ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘, nicht nur im professionellen, sondern auch im Amateurtheater. Allein in dem Zeitraum, in dem diese Arbeit verfasst wurde (2017 bis 2019) wurden von Amateur(inn)en wie beispielsweise Schüler(inne)n oder Student(inn)en in Deutschland eine nicht unbedeutende Anzahl von Theaterprojekten ins Leben gerufen, die den Themenbereich ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ aufarbeiten bzw. an die Opfer des Genozids erinnern wollen. So haben beispielsweise Schüler(innen) in Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum München und dem Institut für Zeitgeschichte im Münchner Volkstheater Dokumente von Kindern und Jugendlichen theatral aufgearbeitet, die jene während des Holocaust
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Prolog: Amateurtheater in der Erinnerungskultur
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verfasst haben (vgl. ARD-alpha 2017). Student(inn)en der Ludwig-MaximiliansUniversität (LMU) München rezitieren im Lichthof der Universität Texte der Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘, die sie mit theatralen Elementen unterstützten (vgl. Uni-Kunst-Team 2017). Mit dem Themenbereich ‚Euthanasie im Nationalsozialismus‘ haben sich Student(inn)en der Technischen Universität Dortmund auseinandergesetzt. Sie besuchten Gedenkstätten in ganz Deutschland und haben ‚Das Konzept bin ich‘ zur Aufführung gebracht, in dem sie performative Ansätze, filmische Dokumente und musikalische Elemente miteinander verbanden (vgl. i can be your translator o. J.). In Göttingen kam das Theaterprojekt ‚Zeit bezeugen. Kindheit in der NS-Zeit‘ auf die Bühne, in dem 28 Sechstklässler(innen) der Paul-Gerhardt-Schule in Dassel Zeitzeug(inn)en zu ihrer Kindheit während des Zweiten Weltkrieges befragten. Die Antworten der Überlebenden stellen die Jugendlichen anschließend auf der Bühne nach (vgl. Schäfer 2017). Darüber hinaus haben sich zwei angehende Theaterpädagoginnen der Universität der Künste Berlin mit jungen Menschen auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark mit den inhaftierten Mädchen und Frauen auseinandergesetzt (vgl. Universität der Künste Berlin 2017). Schüler(innen) der Antirassismus AG in Wallenhorst machten Theater gegen die Diskriminierung von Roma und Sinti. Darin zeigten sie, dass die Abwertung der Minderheitengruppe bereits im Mittelalter ihren Anfang nahm, informierten, wie diese Menschen im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden und wie sie auch heute noch mit Vorurteilen zu kämpfen haben (vgl. Liedtke 2017). Überdies setzten sich Schüler(innen) des ErnstMach-Gymnasiums und der Mittelschule Haar mit den Euthanasie-Verbrechen in der Gemeinde Haar während der NS-Zeit auseinander (vgl. Reithmann 2017). In ‚Der zerbrochene Kelch‘ haben Schüler(innen) zusammen mit professionellen Künstler(inne)n eine Theatercollage einstudiert, die sich mit der Enteignung eines Augsburger Unternehmens während des Nationalsozialismus beschäftigt (vgl. tim o. J.). Des Weiteren führte eine zehnte Klasse des Gymnasiums Allee auf der Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Neuengamme ihr Theaterstück ‚Blickwechsel‘ auf. In diesem beschäftigten sich die Schüler(innen) nicht nur mit Häftlingsbiographien verschiedener Konzentrationslager. Auch ihre eigene Familiengeschichte stellten sie mit Fragen wie ‚Was hat meine Familie im ‚Dritten Reich‘ gemacht? Und was hat das mit mir zu tun¿ in den Fokus des Projektes (vgl. KZ-Gedenkstätte Neuengamme 2018). Schließlich sei noch das deutsch-israelische Theaterprojekt ‚Schöne Schuld‘ genannt, in dem junge Menschen zwischen 18 und 26 Jahren die Möglichkeit hatten, sich dramaturgisch mit Themen wie ‚Schuld‘, ‚Sühne‘, ‚Versöhnung‘ oder ‚Wandel‘ auseinanderzusetzen (vgl. Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung 2018).
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Prolog: Amateurtheater in der Erinnerungskultur
Diese exemplarische Auflistung verschiedener Theaterprojekte aus den Jahren 2017 bis 2019 zeigt, dass das Amateurtheater einen nicht unbeträchtlichen Teil unserer Erinnerungskultur einnimmt. Im ersten Kapitel dieser Arbeit werden daher drei dieser aktuellen Amateurtheaterprojekte von der ersten Idee, über deren Entwicklung bis zur Aufführung näher betrachtet und vorgestellt. Dabei handelt es sich um das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘, ‚Nicht vergessen!‘ sowie ‚Spurensuche – Was für ein Mensch willst du sein¿. Die Anzahl und Auswahl der Theaterprojekte werden im methodischen Teil dieser Arbeit begründet. Im zweiten Kapitel werden die Amateurtheaterprojekte in den aktuellen kulturund geisteswissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs eingebettet. Unter Rückbezug auf Theoretiker wie Maurice Halbwachs oder Jan Assmann, die das Gedächtnis als soziales (vgl. Halbwachs 1985; 1991) bzw. kulturelles (vgl. Assmann 2013) Phänomen erklären, wird dargestellt, inwiefern das jeweilige Theaterkollektiv als soziales Gedächtnis bzw. die Amateurtheaterprojekte als Medium des kulturellen Gedächtnisses verstanden werden können. Auch Pierre Noras Konzept der Gedächtnisorte (vgl. Nora 1990) wird hierbei auf die Theaterstücke bezogen. Es wird dargestellt, was unter dem Begriff der ‚Erinnerungskultur‘ zu verstehen ist (vgl. Hockerts 2002; Cornelißen 2012; Assmann 2016) und wie sich diese im Hinblick auf das Themenfeld ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ in Deutschland gestaltet (vgl. Assmann 1998; vgl. Sabrow 2017). Das dritte Kapitel ist als Exkurs zu sehen, welches eine wichtige Vergleichsbasis für die daran anschließende Darstellung der konzeptionellen Ausgestaltung der Amateurtheaterprojekte leistet. In diesem Kapitel wird dargestellt, welche theatralen Darstellungsformen die Dramatiker(innen) von 1945 bis heute verwendeten bzw. verwenden, um den ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auf der Bühne zu verarbeiten. Anhand der Dramentexte ‚Draußen vor der Tür‘ von Wolfgang Bochert (vgl. Borchert 1984), ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ von Frances Goodrich und Albert Hackett (vgl. Goodrich et al. 1958), ‚Korczak und die Kinder‘ von Erwin Sylvanus (vgl. Sylvanus 1959), ‚Der Stellvertreter‘ von Rolf Hochhuth (vgl. Hochhuth 1968: 13–224), ‚Die Ermittlung‘ von Peter Weiss (vgl. Weiss 1991), ‚Die Kannibalen‘ (vgl. Tabori 1994a: 4–74) und ‚Mein Kampf‘ (vgl. Tabori 1994b: 143–203) von George Tabori sowie fünf aktuellen deutschsprachigen Inszenierungen (vgl. Benthien 2016) wird exemplarisch aufgezeigt, welche Charakteristika die Stücke in den einzelnen Jahrzehnten prägen. Dem voran geht jeweils eine kurze Darstellung der wichtigen Ereignisse hinsichtlich der Vergangenheitsbewältigung in Politik und Gesellschaft, die auch die theatrale Verarbeitung der Thematik maßgeblich beeinflusste. Dabei wird vor allem auf die Entwicklung der Holocaust-Dramen in der Bundesrepublik Deutschland eingegangen, da auf den Bühnen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor allem der Sozialismus als per se antifaschistische Gesellschafts- und
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Staatsideologie ideologisch dargestellt werden sollte. Dennoch wird immer wieder auf die Entwicklung in der DDR hingewiesen, da eines der in dieser Arbeit näher untersuchten Amateurtheaterprojekte in der Uckermark entwickelt und aufgeführt wurde. An diesen Diskurs, der sich mit Theaterpraktiken professioneller Dramatiker(innen) von 1945 bis heute befasst, schließt sich die konzeptionelle Darstellung der drei Amateurtheaterprojekte an, welche im ersten Kapitel näher vorgestellt wurden. In diesem Kapitel wird dargelegt, warum für das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘, ‚Nicht vergessen!‘ sowie ‚Spurensuche‘ die Bezeichnung ‚Amateurtheaterprojekte‘ gewählt wurde. Hierzu wird zum einen beleuchtet, was unter der Bezeichnung ‚Amateur(inn)en‘ bzw. ‚Projekt‘ verstanden wird. Zum anderen wird ausgeführt, welcher theatralen Mittel sich diese bedienen, um die Verbrechen der Nationalsozialisten heute auf der ‚Bühne‘ darzustellen. Im vierten Kapitel dieser Arbeit wird darauf eingegangen, welche Erkenntnisse zu Amateurtheaterprojekten im Themenfeld von ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ bereits existieren. Darauf aufbauend wird aufgezeigt, welches Forschungsdesiderat besteht und welche Forschungsfragen daher mit dieser Arbeit beantwortet werden sollen. Es wird näher begründet, warum sich diese Studie vor allem mit den Wirkungen des Amateurtheaters auf die Theaterbesucher(innen) und dem Rezeptionsverhalten des Publikums auf solche Projekte auseinandersetzt. Im methodischen Teil wird auf das qualitative Forschungsdesign dieser Arbeit eingegangen. Neben einer Verortung der Forscherin im Feld wird näher begründet, warum die Wahl auf die in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte und auf die interviewten Zuschauer(innen) fiel. Auch die Datenerhebung mit leitfadengestützten Interviews (vgl. Strübing 2018b: 102–106) sowie die Datenauswertung mit dem Kodierkasten der Grounded Theory Methodologie (vgl. Strauss et al. 1996) werden dargelegt. Daran anschließend folgt die Darstellung der Ergebnisse, mit denen die Forschungsfragen beantwortet werden sollen. Es wird herausgestellt, welcher Personenkreis von den Amateurtheaterprojekten angesprochen und wie diese Erinnerungsform von den Rezipient(inn)en aufgenommen wird. Darauf aufbauend folgt unter Beachtung des aktuellen Forschungsstandes eine Interpretation der Ergebnisse, die sich in einem Rezeptionsmodell zu Amateurtheaterprojekten manifestiert. Abschließend wird näher auf die Zukunft von Amateurtheaterprojekten eingegangen. Auf Grundlage der in dieser Studie dargestellten Ergebnisse werden Anregungen für die Bildungsarbeit formuliert, die diese Erinnerungsform folglich impliziert. Anbei ein paar Hinweise zur formalen Gestaltung der Arbeit: Alle Hervorhebungen in direkten Zitaten entsprechen – wenn nicht anders gekennzeichnet –
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Prolog: Amateurtheater in der Erinnerungskultur
den Hervorhebungen im Original. Die Transkripte der Interviews mit den Zuschauer(inne)n wurden mitunter zur besseren Lesbarkeit angeglichen. Die Pausen in den Interviews werden durch Auslassungspunkte ‚(…)‘ markiert. Die Anzahl der Punkte steht dabei für die Länge der Pausen. Für eine Sekunde ein Punkt, für zwei Sekunden zwei Punkte und eine darüber hinaus gehende Pause wird mit drei Punkten gekennzeichnet. Von den Zuschauer(inne)n besonders betonte Wörter werden entsprechend der verwendeten Transkriptionsregeln durch Unterstreichungen gekennzeichnet (vgl. Kuckartz et al. 2008: 27). Zur Wahrung der Anonymität der Befragten werden die transkribierten Interviews nicht im Anhang dieser Arbeit abgedruckt. Diese können jedoch bei Bedarf und in Rücksprache mit der Verfasserin eingesehen werden. Auch der E-Mailverkehr mit der Stabstelle Öffentlichkeitsarbeit und Interne Kommunikation kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost, die Videomitschnitte sowie die Theaterskripte liegen der Verfasserin vor und können nach Rücksprache mit dieser eingesehen werden. Im eBook (Ausgabe u. a. im ‚SpringerLink‘ erhältlich) sind alle Abbildungen in Farbe enthalten. Die Abbildungen, welche mit ‚Ritter (2017–2020)‘ ausgewiesen sind, durfte die Verfasserin mit freundlicher Genehmigung von Thomas Ritter aus dessen fotographischem und filmischen Archiv exzerpieren und verwenden. Sämtliche Abbildungen, Tabellen oder Graphiken ohne entsprechenden Verweis stammen von der Verfasserin selbst. Es wurden nach bestem Wissen und Gewissen alle Bildrechte für die Abbildungen in diesem Buch eingeholt. Dies schließt die auf den Bildern abgebildeten Personen mit ein. Sollten Sie sich trotz aller Sorgfalt in einem Bildrecht verletzt fühlen, setzen Sie sich bitte mit der Verfasserin über die im Springer Verlag herausgegebene Reihe ‚Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung‘ oder den Lehrstuhl Didaktik der deutschen Sprache und Literatur sowie Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der LMU in Verbindung.
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
Im Folgenden werden drei Amateurtheaterprojekte der Gegenwart näher in den Blick genommen (zur Begründung der getroffenen Auswahl vgl. in Abschnitt 7.2.1 ‚Wahl der Theaterprojekte‘). Hierzu werden Theaterstücke von der ersten Idee, über die Entwicklung bis zur schlussendlichen Aufführung näher vorgestellt. Dabei werden auch Aspekte wie der Licht- und Projektionseinsatz bzw. die Einbindung musikalischer Elemente miteinbezogen. Auch auf den historischen Ort, an dem die Theaterprojekte aufgeführt werden, wird näher eingegangen.
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‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘
Projektidee Am 22. Februar wird im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München jährlich an die Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘ erinnert. An diesem Tag wurden die Mitglieder Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst 1943 hingerichtet. 2017 wurde dieses Gedenken von Student(inn)en eines universitären Seminars an der LMU mitgestaltet.1 Hierzu sollte eine theatrale Lesung erarbeitet werden, die das Gedenkkonzert begleitet2 und an den 74. Todestag der Geschwister Scholl und Christoph Probst erinnert. Erste Überlegungen zu diesem Amateurtheaterprojekt finden sich auch in ‚Die Darstellung von Widerstand gegen das NS-Regime im zeitgenössischen Amateurtheater‘ (vgl. Schwendemann 2019). 1 Geleitet
wurde das Projekt von Thomas Ritter, einem Theaterlehrer im Raum München (Haar). 2 Der vielfach ausgezeichnete Organist Jürgen Geiger spielte auf der Weiße-Rose-Orgel. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_2
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
Historischer Ort Mit dem Lichthof der LMU wurde ein Widerstandsort ausgewählt, der in Form von Platzbenennungen, Denkmälern und jährlich stattfindenden Gedenkfeiern an die Widerstandskämpfer(innen) der ‚Weißen Rose‘ erinnert. Die ‚Weiße Rose‘ ist eine der bekanntesten deutschen Widerstandsgruppen gegen die Diktatur des Nationalsozialismus. Zu ihrem inneren Kern gehörten Willi Graf, Prof. Kurt Huber, Christoph Probst, die Geschwister Hans und Sophie Scholl sowie Alexander Schmorell. In den Jahren 1942 und 1943 verbreitete die ‚Weiße Rose‘ Flugblätter gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime. In den ersten vier Flugblättern (vgl. Scholl 2001: 80–83), die Alexander Schmorell und Hans Scholl zwischen dem 27. Juni und dem 12. Juli 1942 innerhalb von 16 Tagen verfassten, riefen sie zum passiven Widerstand gegen das NS-Regime auf. Heimlich fertigten sie jeweils um die 100 Stück dieser Flugblätter an und versendeten sie überwiegend an die geistige Elite Deutschlands. Der Erfolg gestaltete sich nicht besonders groß, da über ein Drittel der Empfänger(innen) die verbotenen regimefeindlichen Flugblätter der Gestapo meldete (vgl. Gebhardt 2017: 196–198). Mit dem fünften Flugblatt ändere sich die Taktik der Widerstandsgruppe. Der Text wollte die Menschen wachrufen und zum aktiven Widerstand gegen das nationalistische System mobilisieren. Dabei wurden nicht mehr nur Akademiker(innen) angesprochen, sondern alle Deutschen weit über München hinaus. Auch die Auflage hatte sich im Vergleich zu den ersten vier Flugblättern von 100 auf 10.000 Exemplare erhöht (vgl. Gebhardt 2017: 225–229). Zudem sah sich die Gruppe zu gewagteren Unternehmungen ermutigt. Parolen wie ‚Nieder mit Hitler‘, ‚Freiheit‘ sowie ein durchgestrichenes Hakenkreuz wurden an öffentlichen Gebäuden angebracht (vgl. Schüler 2000: 157). Die immer provokanteren Aktionen der ‚Weißen Rose‘ waren für die Gestapo der Anlass, mit einer Sonderkommision verschärft nach den Verfasser(inne)n der Flugblätter und den Verantwortlichen für die nächtlichen Malaktionen zu fahnden (vgl. Gebhardt 2017: 261–263). Prof. Kurt Huber verfasste das sechste und letzte Flugblatt, in dem er die Münchner Student(inn)en dazu aufrief, für ihre Freiheit zu kämpfen. Am 12. Februar begannen Alexander Schmorell und Hans Scholl das letzte Flugblatt zu vervielfältigen. Sechs Tage später waren Sophie Scholl und ihr Bruder auch in der Münchner Universität, um die Schrift unter den Student(inn)en zu verbreiten. Als die Geschwister um kurz vor elf das Gebäude verlassen hatten, entschieden sie sich jedoch um und kehrten aus nicht bekannten Gründen wieder in das Gebäude zurück. Sie stiegen die Treppen in den zweiten Stock des Lichthofes hinauf und warfen etwa 100 der Flugblätter von der Empore. Der Hausmeister Jakob Schmid verständigt daraufhin sofort die Gestapo, die die Geschwister abführte (vgl. Gebhardt 2017: 249–253). Nachdem Hans Scholl in der Nacht zum 19. Februar ein Geständnis abgelegt hatte, gestand auch seine Schwester. Christoph Probst wurde
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zum Verhängnis, dass Hans Scholl bei seiner Verhaftung einen von Probst verfassten Entwurf eines weiteren Flugblattes bei sich trug. Am 22. Februar 1943 fiel das Urteil des Volksgerichtshofes, das noch am gleichen Tag im Gefängnis MünchenStadelheim vollstreckt wurde: Christoph Probst und die Geschwister Scholl wurden wegen ‚landesverräterischer Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat und Wehrkraftzersetzung‘ mit dem Fallbeil hingerichtet. Am 13. Juli sprach der Volksgerichtshof auch die Todesurteile gegen Alexander Schmorell, Willi Graf sowie Prof. Kurt Huber aus (vgl. Weiße Rose Stiftung e. V. 2017b). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die neuen und noch namenslosen Plätze vor dem Hauptgebäude der LMU München und dem gegenüberliegenden Priesterseminar nach den Geschwistern Scholl bzw. Professor Huber benannt (vgl. Hikel 2013: 158–160). Bereits im November 1945 wurde dem Bildhauer Theodor Georgii der Auftrag erteilt, eine Gedenktafel für die hingerichteten Mitglieder der Widerstandsgruppe anzufertigen, die sich heute in der nördlichen oberen Galerie des Lichthofes befindet. Ein weiteres Denkmal fertigte der Künstler Lothar Dietz in Form eines Bronze-Reliefs an (vgl. Abb. 2.1), das aus Sicht der Ludwigstraße am linken hinteren Pfeilerfeld des Lichthofes der Universität angebracht ist (vgl. Benzenberg 1993: 34–44).
Abb. 2.1 Bronze-Relief von Lothar Dietz. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Nibler [2018]. All Rights Reserved)
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
1961 wurde die Weiße-Rose-Orgel, die zum Gedenken an die Widerstandsgruppe auf der Ostseite des Lichthofes über dem Treppenhaus angebracht wurde, eingeweiht (vgl. Stein 2014). Zwischen dem Scholl-Brunnen und dem Haupteingang des Universitätsgebäudes befindet sich ein verstreutes Bodendenkmal (vgl. Abb. 2.2), das von dem Berliner Bildhauer Robert Schmidt-Matt geschaffen und am 11. Oktober 1988 im Rahmen der Willi-Graf-Gedächtnisfeier durch den Bürgermeister Dr. Klaus Hahnzog offiziell eingeweiht wurde (vgl. Benzenberg 1993: 45–53). Am 28. Juni 1997 wurde die DenkStätte Weiße Rose vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eröffnet. Diese wurde in Kooperation mit der Universität und der Weißen Rose Stiftung e. V. am Lichthof eingerichtet (vgl. Weiße Rose Stiftung e. V. 2017a). Am 22. Februar 2005 enthüllte die Hauptdarstellerin Julia Jentsch des Kinofilms ‚Sophie Scholl – Die letzten Tage‘ (2005) die Bronzebüste des Bildhauers Nikolai Tergor (vgl. Abb. 2.3), die den Kopf von Sophie Scholl darstellt und sich gleich neben der DenkStätte Weiße Rose befindet (vgl. Graven 2005: 27). Abb. 2.2 Verstreutes Bodendenkmal von Robert Schmidt-Matt. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Nibler [2018]. All Rights Reserved)
Abb. 2.3 Bronzebüste von Nikolai Treger. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Nibler [2018]. All Rights Reserved)
Projektentwicklung Im Wintersemester 2016/17 besuchten 16 Student(inn)en der LMU München im Rahmen ihres Lehramtstudium ein universitäres Seminar, in dessen Rahmen
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die theatrale Begleitung des Orgelkonzertes zur Erinnerung an die Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘ erarbeitet werden sollte. Über mehrere Wochen erhielten die Lehramtsstudent(inn)en einen allgemeinen theoretischen sowie praktischen Input. Theatrale Gestaltungsmittel wie der Einsatz von Körper und Stimme, Rollen- und Szenengestaltung, musikalische Mittel sowie die Rolle der Spielleitung wurden erarbeitet und diskutiert. Auch befassten sich die Student(inn)en in diesem Rahmen mit der Frage, wie geschichtliche Ereignisse unter Einbezug des historischen Ortes theatral aufgearbeitet werden können. Auf diesen allgemeinen Input folgte die Projektentwicklung der theatralen Lesung. In kleinen Gruppen erhielten die Student(inn)en die Aufgabe, aufgrund der zur Verfügung gestellten Literatur, Filme oder Webseiten eine mögliche Szene für die theatrale Lesung auszuarbeiten. Bevorzugt wurde hier kein Nachspielen der ausgewählten Stellen, sondern eine stilisierte und abstrakt-verfremdete szenische Darstellung. Auch sollten die Student(inn)en die Musik, die architektonische Beschaffenheit des historischen Ortes sowie den angestrebten Lesungscharakter des Projektes bei ihren Überlegungen mitbedenken.
Abb. 2.4 Lichthof LMU. (Adaptiert nach Nibler 2018; mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Nibler [2018]. All Rights Reserved)
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
Auf Grundlage dieser ersten Ideen und in Absprache mit dem Organisten fertigte die Spielleitung ein vorläufiges Skript an, welches zusammen mit den Student(inn)en auf einem gemeinsamen Arbeitswochenende optimiert und geprobt wurde. Die finalen Proben fanden zusammen mit dem Organisten vor Ort im Lichthof statt (vgl. Abb. 2.4). Aufführung Die Aufführung des ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzertes‘ fand im Lichthof der LMU München statt. Insgesamt dauerte das von etwa 300 Personen besuchte Konzert eine knappe Stunde und war in sechs Szenen aufgeteilt. In der ersten Szene tritt eine in schwarz gekleidete Akteurin auf und zitiert auf der mittleren Treppe sitzend (vgl. Abb. 2.5) einen Briefauszug an Fritz Hartnagel, den Sophie Scholl am 29. Mai 1940 an ihren Verlobten adressiert hatte. In diesem Ausschnitt wird Sophies Verständnis von Recht und Unrecht in einem politischen System und ihr Bestreben, gegen Ungerechtigkeiten aufzubegehren, rezipiert.
Abb. 2.5 Räumlicher Aufbau des ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzertes‘. (Adaptiert nach Ritter 2017–2020; mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved) ➀ mittlere Treppe ➁ Seitentreppen ➂ gegenüberliegende Balkone ➃ Zwischenpodest ➄ Organist ➅ Publikum
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Auf diesen Textauszug folgt bereits die zweite Szene, die sich thematisch mit denjenigen Menschen auseinandersetzt, die während des Nationalsozialismus in Angst vor dem NS-Regime lebten. In dieser Szene finden sich alle Darsteller(innen) auf der mittleren Treppe (vgl. Abb. 2.5) ein und tragen sowohl im Kollektiv als auch einzeln verschiedene Auszüge aus dem dritten Flugblatt vor. In diesem plädiert die Widerstandsgruppe für einen „brauchbaren und gerechten Staat“ (Ritter 2017: 4) und ruft zum passiven Widerstand gegen das System auf. Daraufhin setzt die Orgel mit einer Sonate von Victor Ullmann ein und die Student(inn)en gehen in Standbilder der Angst, der Verzweiflung und des Entsetzens über. In der dritten Szene stehen sich jeweils drei Student(inn)en am Fuß der mittleren Treppe (vgl. Abb. 2.6) bzw. auf den Balkonen im ersten und zweiten Obergeschoss gegenüber.
Abb. 2.6 Student(inn)en am Fuß der mittleren Treppe. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
In dieser Sequenz wird die Ausweitung des Widerstandes aufgezeigt. Die Darsteller(innen) am Fuß der mittleren Treppe tragen Zitatausschnitte aus dem Film ‚Die weiße Rose‘ (1982) vor. Diese handeln von der Erweiterung des Personenkreises, an den die Flugblätter adressiert werden sollten, sowie dem angestrebten
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
Übergang vom passiven zum aktiven Widerstand. Auch die auf den Balkonen stehenden Student(inn)en tragen Auszüge aus dem Film vor. Allerdings haben diese nicht den Ausbau des Widerstandes, sondern die Suche nach den Autor(inn)en der Flugblätter sowie den Verantwortlichen für die nächtlichen Malaktionen zum Thema. Die Gestapo sucht nach den Personen, die Parolen wie ‚Nieder mit Hitler‘ oder ‚Freiheit‘ an öffentlichen Plätzen angebrachten. Nachdem diese Zitate wechselseitig vorgetragen wurden, setzt der Organist mit einer offenen Improvisation ein. Die Darsteller(innen) bewegen sich schnell durch den Lichthof und rufen in der Bewegung einzelne Sätze oder Satzfragmente aus den vorherigen Dialogen in den Raum. Daran anschließend werden in der vierten Szene Äußerungen der ‚Weißen Rose‘ vorgetragen, in denen ihre Sehnsucht nach einem Rechtsstaat sowie dem gemeinsamen Widerstand gegen das bestehende System deutlich wird. Dem letzten Zitat folgt eine Sonate von Victor Ullmann. Während des Sonatenspiels verteilen sich die Darsteller(innen) auf den beiden gegenüberliegenden Balkonen im ersten Obergeschoss des Lichthofes (vgl. Abb. 2.7). Begleitet von der nun leiser werdenden Musik lesen die Student(inn)en jeweils abwechselnd von den beiden Balkonseiten Auszüge aus dem vierten Flugblatt vor, die die Unaufhaltsamkeit der ‚Weißen Rose‘ zum Gegenstand haben. Danach werfen sie die Flugblätter von den Balkonen herunter. In der vorletzten Szene setzten sich drei Student(inn)en wieder auf die mittlere Treppe des Lichthofes (vgl. Abb. 2.5) und lesen jeweils einen Briefausschnitt von Sophie Scholl an Fritz Hartnagel vor. In diesen berichtet Sophie ihrem Freund in den Jahren 1938 und 1940 von ihrer seelischen Verfassung und der Last, mit der sie zu kämpfen hat. Nachdem die dritte Akteurin geendet hat, versammeln sich alle Darsteller(innen) auf dem Zwischenpodest (vgl. Abb. 2.5). Während ‚In Paradiso‘ von Théodor Dubois gespielt wird, bleiben sie zunächst eine Weile still stehen, verfallen aber bald in eine leichte Wippbewegung nach vorne und hinten, die mit einem Ausfallschritt nach vorne aufgelöst wird. Mit Beginn der daran anschließenden Toccata begeben sich die Student(inn)en eilig auf die mittlere Treppe zurück und zeichnen dort mit ihren Fingern deutend immer wieder den Fall der Flugblätter nach, die imaginär vom Obergeschoss des Lichthofes herunterfliegen. Mit dem Ende der Toccata kehren alle Darsteller(innen) auf das Zwischenpodest zurück und stellen sich in einer Reihe auf. Dem Publikum haben sie dabei den Rücken zugewandt. Ein Akteur bleibt jedoch auf der mittleren Treppe zurück und liest dort stehend einen Briefauszug von Sophie Scholls Mutter an Fritz Hartnagel vor. In diesem Brief, den die Mutter einen Tag nach der Hinrichtung ihrer Tochter verfasst hatte, berichtet sie ihm von der Gefasstheit Sophies kurz vor ihrer Hinrichtung. Während der Student den Briefausschnitt vorliest, drehen sich die restlichen Darsteller(innen) langsam zum
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Abb. 2.7 Vortragen der Zitate auf den gegenüberliegenden Balkonen. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
Publikum um. Anschließend setzt die Orgel mit dem Schlusschoral ‚Jesus bleibet meine Freude‘ von Johann Sebastian Bach ein. Die Student(inn)en suchen sich auf den Treppen eine Position, setzen sich hin und lauschen der Musik. In der Schlussszene werden unter anderem Textstellen aus dem letzten Flugblatt sowie Auszüge aus dem Film ‚Sophie Scholl – Die letzten Tage‘ (2005) vorgetragen. Die Geschwister geben zu, dass sie die Flugblätter hergestellt und verteilt haben und bekunden ihren Stolz für ihren Widerstand (vgl. Nibler 2017; vgl. Ritter 2017). Lichteinsatz Um die Geschichte der Widerstandsgruppe zu stilisieren bzw. zu inszenieren und nicht nur in einen Lesungscharakter zu verfallen, wurde der gesamte Lichthof während des ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzertes’ entsprechend ausgeleuchtet. Es wurde überwiegend ein „leichtes Raumlicht“3 (Ritter 2017: 5) eingesetzt (vgl. Abb. 2.8), das gelegentlich mit einem blauen Licht ergänzt bzw. dadurch ersetzt wurde. 3 Im
eBook (Ausgabe u. a. im ‚SpringerLink‘ erhältlich) sind alle Abbildungen in Farbe enthalten.
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
Abb. 2.8 Einsatz von leichtem Raumlicht. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
Bei der Lichtgestaltung waren sowohl die Student(inn)en als auch der Spielleiter in gewissem Maße außen vor. Zwar konnten Wünsche geäußert werden, die schlussendliche Umsetzung übernahmen jedoch die Lichttechniker der Universität. Ob sie bei dem Einsatz von blauem Licht (vgl. Abb. 2.9) von der an den Lichthof angrenzenden DenkStätte Weiße Rose beeinflusst wurden (vgl. Abb. 2.10), bleibt offen. Abb. 2.9 Einsatz von blauem Licht im Gedenkkonzert. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
2.1 ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘
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Abb. 2.10 Einsatz von blauem Licht in der DenkStätte. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Nibler [2018]. All Rights Reserved)
Der Lichteinsatz im ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ hatte drei wichtige Funktionen: Durch eine entsprechende Ausleuchtung sollte der historische Ort in Szene gesetzt werden. So wurden beispielsweise die Student(inn)en in der vierten Szene, als diese die Flugblätter von den Balkonen warfen, von unten mit blauem Licht angestrahlt. Durch das von unten kommende Licht standen infolgedessen nicht die Darsteller(innen), sondern der Raum mit seinen Säulen und dem Deckengewölbe im Fokus der Aufmerksamkeit. Durch diesen Lichteinsatz wurde es möglich, die Architektur des Lichthofes für das Publikum erfahrbar zu machen. Auch sollte die Lichtgestaltung dem Publikum helfen, den Lichthof optisch zu verkleinern. Während des Gedenkkonzertes wurde nicht nur die sich unmittelbar vor dem Publikum befindende mittlere Treppe bespielt, sondern der gesamte Raum mit sämtlichen Seitentreppen und Balkonen (vgl. Abb. 2.5). So befanden sich die Student(inn)en mitunter gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Lichthofes und trugen ihre Zitate vor. Um dem Publikum eine Fokussierung zu erleichtern, wurde durch eine entsprechende Ausleuchtung des Raumes das Blickfeld der Zuschauer(innen) auf einzelne Schauplätze am historischen Ort gelenkt. Neben der Inszenierung des historischen Ortes und der Fokuslenkung auf einzelne Szenen sollte durch einen gezielten Lichteinsatz aber auch das musikalische Gedenken betont werden. So wurde beispielsweise die dramatische Musik mit einem in Blau getauchten Lichthof unterstrichen. Auch der Organist wurde zeitweise mit einem weißen Spotlicht angestrahlt (vgl. Abb. 2.11) und so in den Fokus des Publikums gerückt (vgl. Nibler 2017; Ritter 2017; 2019b). Musikalisches Gedenken Die Gestaltung des Konzertes resultierte aus den gemeinsamen Überlegungen von Organisten und Spielleiter. Die Auswahl bestimmter Stücke fiel beispielsweise aufgrund ihres Entstehungshintergrundes. So haben sich der Organist und der Spielleiter beim musikalischen Gedenken an die Widerstandsgruppe unter anderem für Auszüge aus der fünften und siebten Klaviersonate von Viktor Ullmann entschieden. Der
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
österreichische Komponist, Dirigent und Pianist wurde 1942 ins tschechische Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo er einen großen Teil seiner Werke schuf. Im Oktober 1944 wurde er in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht, wo er kurz nach seiner Ankunft ermordet wurde. Darüber hinaus wurden aber auch musikalische Werke ausgewählt, die die theatrale Lesung inhaltlich und atmosphärisch unterstützten. So wurde beispielsweise ‚In Paradisum‘ des französischen Komponisten Théodor Dubois aufgrund seiner meditativen Wirkung ausgewählt, die das ruhige Vorlesen der Briefe von Sophie Scholl an Fritz Hartnagel unterstreichen sollte (vgl. Abb. 2.11). Die Schlussszene wurde mit ‚Jesus bleibet meine Freude‘ von Johann Sebastian Bach musikalisch untermalt. Dieser Choral wurde zum einen wegen seines Textes, im Glauben Trost zu finden, und zum anderen aufgrund seiner freudigen Melodie ausgewählt. Dieser musikalische Auszug soll dem Publikum somit die Zuversicht und die Überzeugung der Widerstandsgruppe vermitteln, dass ihr Tod nicht sinnlos war und ihr Widerstand nicht ohne Wirkung bleiben wird. Die Originalstücke wurden vom Organisten auf die szenische Lesung zugeschnitten. So mussten teilweise ursprünglich für das Klavier komponierte Stücke auf die
Abb. 2.11 Musikalische Begleitung der theatralen Lesung. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
2.2 ‚Nicht vergessen!‘
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Orgel umgearbeitet werden. Auch wurden die Stücke je nach Bedarf verlängert bzw. verkürzt und das Tempo auf die einzelnen Szenen angepasst. Diese Angleichungen sollten dazu beitragen, dass Musik und Lesung zu einer Einheit verschmelzen. Neben den musikalischen Werken verschiedener Komponisten wurden im Konzert auch sehr viele Improvisationen des Organisten gespielt. Zwar hatte dieser eine ungefähre Idee, was er an den einzelnen Stellen spielen wollte, die konkrete musikalische Umsetzung ergab sich jedoch erst in dem Moment, als er die Darsteller(innen) und die gezeigte Szene vor sich sah. Im jeweiligen Moment versuchte er das Gesehene in Töne umzusetzen (vgl. Geiger 2018).
2.2
‚Nicht vergessen!‘
Projektidee Die Spielleitung4 von ‚Nicht vergessen!‘ wollte mit ihrem Projekt an die Opfer des Jugendkonzentrationslagers Uckermark erinnern. Über die Website der brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung suchten sie hierzu Spieler(innen) zwischen 15 und 99 Jahren, worauf sich sieben Personen zwischen 19 und 79 Jahren meldeten. Es waren überwiegend Student(inn)en aus Berlin und Braunschweig sowie ein Rentner aus Fürstenberg. Zu Beginn des Projektes hatten die beiden Spielleiterinnen nur eine erste Inszenierungsidee, die konkrete Materialgenerierung und Ausarbeitung sollte zusammen mit den Amateur(inn)en in einer Intensivprobenwoche Anfang Juni 2017 ausgearbeitet werden. Historischer Ort Seit 2006 wird das ehemalige Konzentrationslager Uckermark nicht mehr als ‚Mädchenkonzentrationslager‘, sondern als ‚Jugendkonzentrationslager für Mädchen und junge Frauen‘ bezeichnet. Damit soll darauf hingewiesen werden, dass an diesem Ort auch vereinzelt Jungen inhaftiert wurden (vgl. Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. o. J. b). Die Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ wollte auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark ein Theaterprojekt ins Leben rufen, das sich mit der Geschichte und Gegenwart des Gedenkortes beschäftigt. Das Uckermark-Lager wurde ab dem Jahr 1941 geplant und ein Jahr später fertiggestellt. Die ersten Mädchen wurden im Juni 1942 in das Konzentrationslager deportiert, in dem sie Zwangsarbeit verrichten mussten. Dabei handelte es sich vor allem um junge Frauen, die rassistisch verfolgt oder als ‚asozial‘ und ‚sexuell 4 Auf
Wunsch der Spielleitung bleibt diese anonym.
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
verwahrlost‘ diskriminiert wurden. Im Januar 1945 wurde das Lager zu einem Vernichtungsort umgebaut. Etwa 1.000 Mädchen und junge Frauen waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Lager inhaftiert. Hinzu kam, dass ein großes Areal des Jugendkonzentrationslagers abgetrennt und zum Vernichtungsort für Frauen aus dem nahe gelegenen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück wurde. Von den insgesamt 6.000 deportierten Frauen wurden etwa 5.000 durch Giftspritzen oder -gas ermordet bzw. fielen den verheerenden Lebensbedingungen im Lager zum Opfer. Im April 1945 konnten die Überlebenden aus dem Jugendkonzentrationslager Uckermark und dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück durch die Rote Armee befreit werden. Bis Juli 1945 fungierte das Uckermark-Lager noch als Lazarett für die geschwächten Häftlinge. Danach wurde das Gelände bis 1993 durch die Rote Armee bzw. später von Truppen der Sowjetunion militärisch genutzt (vgl. Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. o. J. a).
Abb. 2.12 Markierung des ehemaligen Lagereingangs
Das Jugendkonzentrationslager Uckermark gilt heute als „vergessene[s] Lager“ (Kasten 2017: 5). Dies hat zum einen damit zu tun, dass nur wenig über das ehemalige Lager bekannt ist. Das geschichtliche Wissen um diesen Ort weist viele Lücken auf und es gibt nur wenige Zeugnisse von überlebenden Frauen, die diese schließen könnten. Zum anderen erinnert auf dem Gelände fast nichts mehr an den ehemaligen Vernichtungsort. Die heute noch sichtbaren Betonfelder (vgl. Abb. 2.13) stammen
2.2 ‚Nicht vergessen!‘
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aus der militärischen Nachnutzung durch die Sowjetunion und sind kein Verweis auf Bauten des ursprünglichen Lagers. Für ein Gedenken der Opfer setzt sich unter anderem die Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. ein. Der Verein versucht unter anderem, auf dem Areal markante Punkte des ehemaligen Lagers zu markieren und mit Hinweisschildern an die Häftlinge zu erinnern (vgl. Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. 2009). So wird beispielsweise der vermutete Eingang zum Konzentrationslager mit einem roten Holzpfahl gekennzeichnet. Auch findet sich dort ein Schild, das die Gedanken der Überlebenden Stanka Krajnc Simoneti bei ihrer Ankunft im Lager wiedergibt: „Wir gingen zu Fuß von Ravensbrück nach Uckermark. Wir wünschten, dass es ein so schöner Ort sei, wie er aussah, aber das erwies sich als Illusion“ (Abb. 2.12). Projektentwicklung Im Juni 2017 erarbeitete die Spielleitung zusammen mit sieben Amateur(inn)en in einer Woche das hier beleuchtete Theaterprojekt. Am ersten Tag der Intensivprobenwoche erhielten die Teilnehmer(innen) nach einer ersten Kennenlernphase eine Einführung in die Theaterarbeit sowie eine Führung durch das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Mit diesen ersten Informationen über den historischen Ort hatten die Mitwirkenden an Tag zwei der Probenwoche die Möglichkeit, das Areal selbst zu erkunden. Sie bekamen von der Spielleitung die Aufgabe, einen für sie interessanten Platz auszuwählen und diesen eine Zeit lang mit allen Sinnen wahrzunehmen. Sie konnten überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, mit Teilen des Ortes zu spielen und welche Veränderungen sie mit ihren theatralen Handlungen im ‚vergessenen‘ Lager bewirken wollen. Hierbei entstanden kleine Sequenzen, die teilweise in die spätere Aufführung integriert wurden. Die Entstehung einer dieser Performances beschreibt die Spielleitung: So hat eine Akteurin diesen Draht in dem Boden gefunden und damit getanzt und hat sich, was ich total schön fand, losgelöst von der Geschichte mit der Ästhetik, mit der Bewegung von diesem Ding auseinandergesetzt […] und das war total schön ne? Weil das hatte was mit dem Ort5 , was mit der Materialität des Ortes zu tun. Und das ist auch erlaubt. Natürlich ist das auch erlaubt, dass man den Ort in der Materie so wahrnimmt. (Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ 2019: Z. 161–167)
Neben der Erkundung des Ortes arbeiteten die Projektteilnehmer(innen) an Tag drei auch mit verschiedenen Dokumenten. Sie besuchten die Mahn- und Gedenkstätte
5 Betonungen
werden entsprechend der verwendeten Transkriptionsregeln durch Unterstreichungen gekennzeichnet (vgl. Kuckartz et al. 2008: 27).
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Ravensbrück, in der dem Jugendkonzentrationslager Uckermark ein Raum gewidmet ist. Zudem stellte die Spielleitung Interviewausschnitte von Überlebenden sowie einen Ordner von der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. zur Verfügung. Auf Grundlage dieses Materials entwickelte die Spielleitung zusammen mit den Amateur(inn)en Ideen für die theatrale Verarbeitung der gesichteten Dokumente. Am vierten Probentag wurde das Thema ‚Gedenken‘ in den Mittelpunkt gestellt. Die Mitwirkenden sollten sich mittels verschiedener Übungen mit der Frage auseinandersetzen, warum es Gedenkorte braucht und was einen solchen ausmacht. Auch aus dieser Phase der Projektentwicklung übernahm die Spielleitung Elemente für die spätere Aufführung:
Abb. 2.13 Spielorte von ‚Nicht vergessen!‘ mit Übersichtsplan des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark. (Adaptiert nach Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. 2018 und GoogleMaps 2019; mit freundlicher Genehmigung von © Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. [2018] und Bilder © 2019 Google, Kartendaten © 2019 GeoBasis-DE/BKG (2009), Google. All Rights Reserved) ➀ Einführung ➁ Betreten des Ortes ➂ Draht-Szene ➃ Swing-Szene ➄ Rote Steine ➅ Szene an der Havel ➆ Szene bei den ‚Maschas‘ ➇ Szene mit biographischen Material ➈ Chor im Wald ➉ 11 Entgrenzung des Ortes Siemenstreppe
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[A]us diesem Tag ist die Idee entstanden mit diesen roten Steinen bei der Performance, den Gedenkort einzuzäunen. Und dann aber am Ende der Performance aufzumachen und die Steine mitzugeben, ne? An die Menschen, die sie dann mit in die Welt tragen […]. (Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ 2019: Z. 213–216)
Basierend auf der viertägigen Recherchephase entwickelte die Spielleitung in Zusammenarbeit mit den Amateur(inn)en ein Theaterskript, das in den verbleibenden drei Tagen weiter modifiziert und optimiert wurde. Die gemeinsam überlegten Sequenzen wurden am historischen Ort ausprobiert und mit den Darsteller(inne)n reflektiert (vgl. Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ 2017b; 2019). Aufführung Insgesamt dauerte die Aufführung von ‚Nicht vergessen!‘ ca. eineinhalb Stunden, wurde von etwa 200 Personen besucht und war in elf Szenen unterteilt (vgl. Abb. 2.13). ➀ Einführung: Zu Beginn der Präsentation findet sich das Publikum auf dem Betonfeld oberhalb des ehemaligen Lagereingangs ein, wo eine Spielerin die Rezipient(inn)en kurz über die Geschichte des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark informiert. Sie weist darauf hin, dass das Gelände nach der Befreiung der Häftlinge durch die Rote Armee genutzt wurde und dass der Ort durch diese Nachnutzung in seiner Erscheinung stark verändert wurde. ➁ Betreten des Ortes: Am Lagereingang trifft das Publikum auf eine Darstellerin, die auf dem Boden sitzend hektisch Steine mit roter Farbe bemalt. Nach einiger Zeit fordert sie die Besucher(innen) auf, ebenfalls Steine zu bemalen und so die Außengrenze des Geländes fortzuführen. Nachdem wieder einige Zeit verstrichen ist, übertritt sie zusammen mit den restlichen Akteur(inn)en die gebaute Steingrenze. Die Spieler(innen) beginnen die nicht mehr vorhandene Lagerstraße für das Publikum sichtbar zu machen. Grund hierfür ist, dass die ursprüngliche Straße durch das ehemalige Uckermark-Lager nicht mehr existiert. Zu sehen sind nur die Betonreste der unmittelbaren Nachnutzung durch die sowjetische Besatzungsmacht sowie die roten Steine vorheriger Erinnerungsprojekte, die den vermuteten Verlauf der Straße markieren (vgl. Abb. 2.14). Die Darsteller(innen) laufen den rechten bzw. linken Rand der Straße mit ausgebreiteten Armen ab oder rennen diagonal von der einen Seite zur anderen, um das Publikum auf diese Markierung aufmerksam zu machen. Die Zuschauer(innen) folgen ihnen bei dieser Darstellung.
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Abb. 2.14 Markierung der ehemaligen Lagerstraße
➂ Draht-Szene: In der dritten Sequenz wird die Performance einer Akteurin eingebaut, die an Tag zwei der Probenwoche die Möglichkeit hatte, den Ort für sich zu entdecken. Sie fand – vermutlich von der sowjetischen Nachnutzung – einen dicken Stahldraht im Boden und hat sich in ihrer Vorstellung losgelöst von der Geschichte des Lagers mit der heutigen Beschaffenheit des Ortes auseinandergesetzt. In fließenden Bewegungen bewegt sie sich um das Metallobjekt, bis sie es schlussendlich berührt. ➃ Swing-Szene: In der daran anschließenden vierten Szene tanzen vier Spieler(innen) in der Mitte eines Betonfeldes zu dem Lied ‚Musik! Musik! Musik!‘ von Peter Kreuder und Hans Fritz Beckmann (1939). Nachdem diese in einen Freeze gegangen sind, holt eine weitere Darstellerin ein Notizheft hervor und beginnt die darin aufgeschriebene Geschichte der Lagerinsassin Franziska V. vorzulesen. Mit 15 Jahren kam das Mädchen in ein Heim, da ihre Mutter ihre nächtlichen Vergnügungstouren nicht länger duldete. Doch weil sie sich auch in den wechselnden Erziehungsanstalten nicht unterordnete, wies sie das Gaujugendamt Wien im Juli 1943 in ein Arbeitshaus für sogenannte ‚verwahrloste‘ bzw. ‚asoziale‘ Frauen ein. 1944 erstellte die Anstaltsärztin Katharina Hell ein psychiatrisches Gutachten und empfahl eine Unterbringung im Mädchenkonzentrationslager Uckermark. Im
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August 1944 wurde sie mit 17 Jahren in das Lager gebracht. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. ➄ Rote Steine: In der nächsten Szene wird das Publikum zu einer Stelle unweit der Havel geführt. Der Fußmarsch dorthin dauert einige Minuten. Dort angekommen, hat das Publikum wieder die Möglichkeit, Steine mit roter Farbe zu bemalen und damit die Außengrenze des Lagers zu markieren. Nach einer Weile beginnen die Darsteller(innen) mit einer Geste des Etwas-sagen-wollen-und-nicht-können. Mit dieser Gebärde wollen die Spieler(innen) darauf aufmerksam machen, dass sich die Lagerinsass(inn)en im Uckermark-Lager nicht frei äußern konnten und in Isolation leben mussten. ➅ Szene an der Havel: Ein Projektbeteiligter führt das Publikum zu einer Stelle an der Havel. Dort erzählt er von Stanka Krajnc Simoneti, auf die er in seinen Recherchen aufmerksam geworden ist. Die Slowenin kam mit 16 Jahren in das Jugendkonzentrationslager Uckermark und hat sich trotz der schrecklichen Haftbedingungen immer solidarisch gezeigt und selten an sich selbst gedacht. Diese persönlichen Eindrücke von der Lagerinsassin beschreibt der Darsteller auch dem Publikum: [W]as mich an ihr besonders beeindruckt hat, als ich mich mit ihr beschäftigt habe, ist ihr Mut und ihre soziale Art, sie spricht immer von den anderen, nicht von sich selbst, selten fand ich das Wort ich in ihren Beiträgen und Briefen. (Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ 2017a: 8)
Nach der Schilderung dieser individuellen Erfahrung geht der Darsteller zum Wasser, zieht seine Schuhe aus, hält seine Füße ins Wasser und genießt. Plötzlich springt er auf und rennt zwischen den Leuten hindurch den Weg zurück. Währenddessen spielt ein Audio von Stanka, in dem sie von dem ständigen Hunger, der Kälte und der Isolation im Lager berichtet. Mit dieser Performance möchte der Darsteller auf seinen inneren Konflikt aufmerksam machen: Zwar empfindet er den heutigen Ort am Wasser als schön, aber da er um dessen Geschichte weiß, erlaubt er sich nicht, diese Schönheit zu genießen. Um zur nächsten Sequenz zu gelangen, führt die Gruppe das Publikum zu Puppen aus Maschendraht, den sog. ‚Maschas‘ (vgl. Abb. 2.15). Auf dem Weg dorthin rufen drei Darsteller(innen) im Chor immer wieder, welche Gegenstände in das Lager mitzubringen sind: Kamm, Zahnbürste, Waschlappen, Nagelschere, schwarze Turnhose.
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Abb. 2.15 ‚Maschas‘ (Puppen aus Maschendraht)
➆ Szene bei den ‚Maschas‘: An den ‚Maschas‘ angekommen, wird das Audio einer weiteren Lagerinsassin, Maria P., abgespielt. Sie war 14 Jahre alt, als sie in das Konzentrationslager Uckermark kam. Schnell wurde ihr klar gemacht, dass sie sich nicht wehren durfte, wenn sie überleben wollte. Ihre langen blonden Zöpfe durfte sie nur behalten, um Außenstehenden einen positiven Eindruck von den Lebensbedingungen im Lager zu vermitteln. Wenn sich offizieller Besuch ankündigte, wurden Maria und zwei weitere Mädchen zu Propagandazwecken hübsch zurecht gemacht und vor das Lagertor gestellt. ➇ Szene mit biographischen Material: Nach einiger Zeit der Stille führt die Gruppe das Publikum zur nächsten Station, an der die Besucher(innen) zum dritten Mal die Möglichkeit haben, Steine zu bemalen. Diesmal jedoch nicht nur mit roter, sondern auch mit blauer Farbe. Nach Beendigung der Aktion nimmt eine der Darstellerinnen die blauen Steine, legt mit diesen eine Spur zur nächsten Station und fordert das Publikum auf mitzukommen. An dem nahegelegenen Platz angekommen, zieht sie mit den blauen Steinen eine Grenze und überschreitet diese deutlich mit einem großen Schritt. Diese Überschreitung der blauen Steingrenze kann als Schritt aus dem Lager in die heutige Zeit gedeutet werden. Die Darstellerin liest
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auf Englisch die Familiengeschichte eines Projektteilnehmers vor, die zeigt, dass die Folgen des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart reichen: Als Kind lebte er in Tunesien in einem Haus mit einem großen Garten. Eines Tages war er mit seiner Tante in diesem Garten als sie plötzlich ‚Er wird uns töten!‘ rief und zum Haus rannte. Als sie im Haus angekommen ist, berichtet sie völlig aufgelöst, dass sie einen blutüberströmten deutschen Soldaten mit einer Waffe gesehen habe, der die Mauer des Gartens überwinden und sie töten wollte. Der Projektteilnehmer erinnert sich, dass er in die Richtung sah, in die seine Tante während ihrer Erzählung blickte, doch er konnte nichts sehen. Später verstand er, dass seine Tante in der Vergangenheit ein Trauma erlitten hatte. Als die deutsche und französische Armee während des Zweiten Weltkrieges in Tunesien kämpfte, wurde ihre Großmutter von einem deutschen Soldaten vergewaltigt. In ihrer Familie gibt es daher immer wieder Kinder mit blonden Haaren, doch über dieses Ereignis wird in der Familie nie gesprochen. ➈ Chor im Wald: In der nächsten Szene tragen fünf Spieler(innen) verschiedene Textauszüge von inhaftierten Frauen vor. Dabei wechseln sie in ihrer Lautstärke, sodass jeweils ein Schicksal im Fokus der Zuschauer(innen) steht. Unter anderem wird an dieser Stelle ein Brief vorgelesen, den Stanka zu Weihnachten 1944 an ihre Familie adressiert hatte. In diesem möchte sie ihre Eltern angesichts der Tatsache, dass sie den Feiertag nicht mit ihnen verbringen kann, beruhigen. Sie berichtet ihnen, dass es ihr gut geht und wünscht ihnen viel Kraft für diese schwere Zeit. ➉ Siemenstreppe: Ein Darsteller löst sich für die vorletzte Szene aus dem Chor und geht zu einer noch erhaltenen Treppe, die im ehemaligen Lager zu einer Siemensbaracke geführt hat. Dort angekommen, legt er sich der Länge nach auf diese Treppe. Während er dort liegt, werden von ihm auf einen Tonträger eingesprochene Worte in einer Endlosschleife abgespielt: Er berichtet davon, dass er zunächst nicht gewusst hatte, was es mit dieser Treppe auf sich hat. Erst als er erfuhr, dass diese Treppe zu einer Baracke führte, in der die Frauen Zwangsarbeit leisten mussten, konnte er sich auch vorstellen, wie die Häftlinge über diese Treppe gelaufen sein mussten. Auch diese Sequenz ist während der individuellen Auseinandersetzung mit dem Ort entstanden. Der Darsteller wählte mit der Siemenstreppe die einzige Stelle auf dem Gelände, die vom ehemaligen Lager noch erhalten ist. Während er die Landschaft auf sich wirken ließ, verschriftlichte er seine Gedanken, die ihm in diesem Moment kamen. Diese Gedanken wurden während der Aufführung abgespielt. 11 Entgrenzung des Ortes: In der letzten Szene stehen die Spieler(innen) erneut an
einer aus roten Steinen bestehenden Grenze. Dem Publikum haben sie den Rücken
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zugewandt. Die Grenze wird von den Projektteilnehmer(inne)n mehrmals aufgebaut und überschritten, bevor sich alle Darsteller(innen) herunterbeugen und die aufgesammelten Steine an das Publikum verteilen (vgl. Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ 2017a; 2019).
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‚Spurensuche – Was für ein Mensch willst du sein?‘
Projektidee Die Idee zu ‚Spurensuche – Was für ein Mensch willst du sein?‘ stammt von einer Theaterpädagogin6 , die die Geschichte ihres Heimatortes Haar, einer Gemeinde bei München, theatral aufarbeiten wollte. Es sollte die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar erzählt werden, in der zur NS-Zeit das Euthanasie-Programm umgesetzt wurde. Bei diesem Vorhaben unterstützte sie ein Theaterlehrer des ErnstMach-Gymnasiums Haar7 sowie dessen Schüler(innen). Im September 2015 begann mit Schuljahresbeginn die ‚Spurensuche‘ in der Vergangenheit der bayerischen Gemeinde. Projektentwicklung Für drei bis vier Monate führten die Schüler(innen) an Orten wie Schloss Hartheim oder in der DenkStätte Weiße Rose am Lichthof der LMU Recherchearbeiten durch. Es wurden Ernährungsprotokolle des Bayerischen Staatsarchivs ausgewertet sowie Zeitzeugengespräche mit Max Mannheimer und anderen Holocaustüberlebenden geführt. Auch die eigene Familiengeschichte wurde in das Theaterprojekt miteinbezogen. Aufgrund der vielfältigen und intensiven Nachforschungen konnte sich ein großer Pool an Materialien ansammeln, der die Grundlage für die anschließende szenische Arbeit bildete. Die Schüler(innen) konnten frei wählen, welche Inhalte aus den gesammelten Daten szenisch umgesetzt werden sollten. Auch stand ihnen die Entscheidung frei, welche theatralen Mittel sie hierbei einsetzen wollten. Dazu lernten die Amateur(inn)e(n) von dem Spielleiter bzw. der Spielleiterin drama- und theaterpädagogische Methoden wie beispielsweise verschiedene Möglichkeiten der Verfremdung kennen. Daran anschließend versuchten die Schüler(innen) das recherchierte Material in szenische Einheiten umzuwandeln. Erste Sequenzen entstanden 6 Hierbei
handelt es sich um Farina Simbeck, die eine der beiden Spielleitungen übernehmen sollte. 7 Die zweite Spielleitung übernahm der Theaterlehrer Thomas Ritter.
2.3 ‚Spurensuche – Was für ein Mensch willst du sein?‘
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bereits an historischen Orten. So entsprang beispielsweise die Raumgestaltung der Performance – ein rechteckiger Bühnenraum, der durch das Publikum auf beweglichen Sitzhockern abgegrenzt wird (vgl. Abb. 2.18) – einem Besuch der ehemaligen ‚Tötungsanstalt‘ Schloss Hartheim: [D]ass man so im Viereck steht, da gab es so ein Ursprung in Hartheim in Österreich. […] [D]a gab es diese ‚Tötungsanstalt‘ und die war auch so ähnlich gebaut und irgendwie hat uns das glaube ich da ganz stark inspiriert. Ja, […] das betrifft jetzt sozusagen den Raumaspekt. […] [A]ber der ist ja maßgeblich für das ganze Stück dann geworden. […] Dieses eingesperrt sein. (Ritter 2018: Z. 127–132)
Aufbauend auf der Arbeit der vergangenen Monate fertigten der Spielleiter und die Spielleiterin ein vorläufiges Skript an. Dieses Theaterskript wurde zusammen mit den Schüler(inne)n auf einer fünftägigen Theaterfahrt Anfang April 2016 weiter verfeinert und modifiziert. Entstanden ist eine dokumentarische Performance, die fast ausschließlich aus zueinander in Beziehung gesetzten Zitaten besteht. Darin wird die Geschichte der Haarer Heil- und Pflegeanstalt anhand prägnanter Ereignisse von ihrer Entstehung bis heute erzählt, wobei die Einzelschicksale von Euthanasie-Opfern immer wieder eingeflochten werden. Am 25. April 2016 fand die Premiere von ‚Spurensuche – Was für ein Mensch willst du sein?‘ am Ernst-Mach-Gymnasium Haar statt (vgl. Ritter 2018)8 . Historischer Ort Im Jahr 1905 wurde in Eglfing bei München eine Anstalt für psychisch kranke Menschen eingerichtet, die 1912 aus Platzmangel um eine weitere Anstalt im nahegelegenen Haar erweitert wurde. 1931 wurden die beiden Psychiatrien aus finanziellen Gründen zusammengelegt. In der Heil- und Pflegeanstalt EglfingHaar lebten über 2.300 Patient(inn)en, bevor von den Nationalsozialisten 1933 das ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ verabschiedet wurde. Daraufhin wurden in der Anstalt mindestens 1.700 Menschen sterilisiert. Zwischen 1940 und 1945 wurden im Rahmen des Euthanasie-Programms über 900 Patient(inn)en aus der Psychiatrie in andere ‚Tötungsanstalten‘ gebracht. In Eglfing-Haar selbst starben etwa 760 Menschen – darunter 330 Kinder – durch Nahrungsentzug oder bewusste Falschmedikation. Teilweise versuchten Mitarbeiter(innen) entsprechende Anweisungen zu unterlaufen. Den Hinterbliebenen wurde die tatsächliche Todesursache ihrer Angehörigen verschwiegen (vgl. Richarz 1987: 199–201). 8 Hinweise
zur Projektentwicklung von ‚Spurensuche‘ verdanke ich auch Renata Behrendt, Thomas Ritter und Christina Ulbricht, die in Kürze auch einen Artikel hierzu veröffentlichen wollen.
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Seit 2007 nennt sich die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar ‚kboIsar-Amper-Klinikum München-Ost‘. Während sich die damalige Psychiatrie noch über Haar I und Haar II erstreckte, befinden sich die Bauten des heutigen Klinikums überwiegend in Haar I (vgl. Abb. 2.16). Viele der Gebäude aus der Gründerzeit sind auch heute noch auf dem Gelände zu finden (vgl. Lüttecke 2019). 2005 wurde auf dem Gelände des heutigen Klinikums ein Psychiatrie-Museum eröffnet (vgl. Abb. 2.16), das sich mit der Geschichte der Psychiatrie von deren Gründung bis heute auseinandersetzt. In dieser Einrichtung ist den EuthanasieVerbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus ein Bereich gewidmet (vgl. kbo-IsarAmper-Klinikum München-Ost 2007–2019). Darüber hinaus erinnert auf dem Areal ein Mahnmal an die Opfer der Euthanasie (vgl. Abb. 2.17), das sich neben der evangelischen Kirche befindet (vgl. Abb. 2.16).
Abb. 2.16 Gelände des heutigen kbo-Isar-Amper-Klinikums München Ost. (Adaptiert nach kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost 2019 und GoogleMaps 2019; mit freundlicher Genehmigung von © kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost [2019] und Bilder © 2019 Google, Kartendaten © 2019 Geo Basis-DE/BKG © (2009). All Rigts Reserved)
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Abb. 2.17 Mahnmal an die Opfer der Euthanasie in Haar. (Adaptiert nach kbo-IsarAmper-Klinikum München Ost 2010; mit freundlicher Genehmigung von © kbo-Isar-AmperKlinikum München Ost [2010]. All Rights Reserved)
Die Aufführung von ‚Spurensuche‘ ist nicht an das Gelände des Klinikums gebunden, sondern wird unabhängig von diesem auf einer mobilen und selbst konstruierten Bühne aufgeführt. Seit 2016 kommt das Theaterprojekt an verschiedenen Orten in Deutschland und darüber hinaus zur Aufführung. Aufführung An der ungefähr einstündigen Präsentation nahmen 30 Schüler(innen) des ErnstMach-Gymnasiums Haar bzw. der Mittelschule Haar teil. Insgesamt ist ‚Spurensuche‘ in 23 Sequenzen unterteilt. Zu Beginn der Performance werden die Zuschauer(innen) in die Mitte des Bühnenraums geleitet. Die Schüler(innen) stehen erhöht auf den Stegen, ihre Rücken sind dem Publikum zugewandt. Nach einer Zeit beginnen sie, sich ausgelassen zu bewegen. Daran anschließend ziehen die Darsteller(innen) Seile quer durch den Raum und über dem Publikum aus, wobei sie einen Quadranten demonstrativ von den restlichen Zuschauer(inne)n abgrenzen. Unter dem isolierten Teil des Publikums befinden sich auch einige der Projektbeteiligten. Die außenstehenden
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Abb. 2.18 Bühnenkonstellation. (Adaptiert nach Ritter 2017–2020; mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved) ➀ Bühnenraum ➁ erhöhte Stege ➂ Publikum auf beweglichen Sitzhockern ➃ Wände bestehend aus Sitzhockern
Spieler(innen) versammeln sich zusammen mit den übrigen Zuschauer(inne)n in der gegenüberliegenden Ecke des Bühnenraums und zeigen mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf das abgetrennte Publikum. Nach einer Pause der absoluten Stille fragen die Darsteller(innen) die im Quadranten Eingeschlossenen wo sie herkämen: ‚aus Haar‘ antworten die abgetrennten Spieler(innen). Darauf wird kurz und prägnant die Entwicklung der Gemeinde Haar von 1871 bis 1933 erzählt. Dieser geschichtliche Überblick wird überwiegend referentiell wiedergegeben. Die Schüler(innen) gehen den Bühnenraum im Kreis ab, schildern dabei die wichtigsten Ereignisse und verdeutlichen das Wachstum der Gemeinde mit in den Bühnenraum hineingeworfenen Sitzhockern. Dabei wird auch thematisiert, dass Haar im Juli 1905 eine eigene Kreisirrenanstalt erhält. Die Körpersprache verändert sich im Laufe des Stücks. Zu Beginn noch entspannt und gelassen tanzen die Darsteller(innen) nach der Verkündung des ‚Gesetzes zur Verhütung des erbkrankten Nachwuchses‘ 1933 zu
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Techno-Musik in härteren und eckigen Bewegungen. Das ausgelassene Kind-Sein hat sich in Angst gewandelt. In der daran anschließenden Sequenz spricht zunächst immer ein(e) Schüler(in) einen Befehl aus, bevor die anderen Darsteller(innen) das Gesagte so lange wiederholen, bis das Publikum den Befehlen Folge leistet. So werden die Zuschauer(innen) dreimal nach verschiedenen Kriterien unterteilt: Ob sie mit dem Auto da sind oder nicht, ob sie ein Handy oberhalb eines gewissen Werts besitzen und ob sie in einem Jahr mit einem geraden oder ungeraden Geburtsdatum geboren sind. Nach jeder Unterteilung wird die Situation eine Zeit lang gehalten. Das Publikum steht sich während dieser Zeit gegenüber und hat die Möglichkeit, sich gegenseitig zu betrachten (vgl. Abb. 2.19). Abb. 2.19 Unterteilung des Publikums. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
Die Schüler(innen) animieren die obenstehenden Besucher(innen), gemeinsam mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf die am Boden sitzenden Zuschauer(innen) zu zeigen (vgl. Abb. 2.20).
Abb. 2.20 Zeigegeste. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017– 2020]. All Rights Reserved) Bei der letzten Unterteilung bitten die Darsteller(innen) jene Zuschauer(innen), die in einem Jahr mit einem geraden Geburtsdatum geboren sind, sich auf die erhöhten Stege zu stellen. Das restliche Publikum soll auf dem Boden Platz nehmen.
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Nach dieser Aktion wird die Situation aufgelöst und die Aufführung wechselt wieder in eine eher referentielle Darstellungsweise. Erinnerungen der Großeltern an die Zeit zwischen 1933 und 1939 werden vorgetragen, Briefe von inhaftierten Patient(inn)en vorgelesen, es wird aufgezählt, was die deutschen Bürger(innen) ein ‚Krüppel‘ oder ‚Geisteskranker‘ kostet und dass Hitler 1939 die Euthanasie und damit die Tötung von ‚lebensunwertem Leben‘ anordnet. Diese Passagen werden von der Gruppe großteils im Chor vorgetragen. Auch werden die Erzählungen der Schüler(innen) von performativen Handlungen unterstützt. Eine Darstellerin erzählt beispielsweise von der Erinnerung ihrer Großmutter: Als diese bei einer Freundin zum Essen eingeladen war, hatte der Vater einen Jungen aus der Anstalt mitgebracht, der sein Essen gierig verschlang. Darauf holt eine Darstellerin ein Brot, hält es einem anderen Darsteller hin und dieser isst es hastig auf. Die Jahre 1940 bis 1942 werden in den Blick genommen. Am 18. Januar 1940 werden 25 psychisch erkrankte Männer nach Schloss Grafeneck gebracht, in dem eine zentrale staatliche ‚Tötungsanstalt‘ eingerichtet wurde. Eine aus weißen Sitzhockern bestehende Brücke wird aufgebaut und ein Teil der Darsteller(innen) streift sich rote Shirts über. Parallel wird von der Einrichtung zweier ‚Hungerhäuser‘ in der Anstalt Eglfing-Haar im Januar 1943 berichtet. Dieser Bericht wird um die Verlesung von Dokumenten erweitert, die aus der Heilanstalt stammen. Darunter befindet sich auch eine Gewichtstabelle von Benno, einem identifizierten Insassen, der die Klinik nach seiner Zwangssterilisation nie wieder verlassen hat. Auch ein Mädchen namens Edith wird im Juni 1944 von Schönbrunn nach Eglfing-Haar gebracht. Ihre Eltern erhalten am Weihnachtsmorgen ein Telegramm, dass ihre Tochter verstorben ist. Die Schüler(innen) überschreiten in den roten Shirts die Brücke und verbildlichen so die zum ‚Gnadentod’ verurteilten Menschen (vgl. Abb. 2.21). Dazu spielt die Kantate ‚Mache dich, mein Geist, bereit‘ (1724) von Johann Sebastian Bach. Nach dieser Sequenz malen die Schüler(innen) die Worte ‚leben lassen‘ sowie ‚produktiv sein‘ in roter Farbe auf die aus Sitzhockern bestehenden Wände, die den Zuschauerraum eingrenzen (vgl. Abb. 2.18). Die Schüler(innen) stehen auf den erhöhten Stegen verteilt und haben dem Publikum ihren Rücken zugewandt. Die jeweils Sprechenden drehen sich zum Publikum um und stellen Fragen wie: ‚Was würdest du tun? Wenn du den Gashahn aufdrehen solltest?‘, ‚Kranke töten oder an die Front gehen?‘, ‚Wenn du täglich großen Hunger hättest?‘, ‚Wenn du aus deiner Heimat fliehen musst?‘, ‚Wenn dir deine Kinder weggenommen würden?‘, ‚Was tust du, damit sowas nicht wieder passiert?‘. Auf diese Fragen drehen sich die Schüler(innen) zu den Zuschauer(inne)n um und blicken diese an. Die Szene löst sich daraufhin auf und zwei Schüler(innen) setzen sich Rücken an Rücken in der Mitte des Bühnenraums nieder. Sie verkörpern die beiden Mediziner Dr. Kühnke und Dr. Pfannmüller. Die restlichen Spieler(innen) berichten dem Publikum, dass
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Abb. 2.21 Überquerung der Brücke. (Adaptiert nach Ritter 2017–2020; mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
der junge Dr. Kühnke mindestens zwei Dutzend behinderte Kinder vergiften ließ und von der Richtigkeit seiner Handlungen überzeugt war. Unter der Anstaltsleitung von Dr. Pfannmüller wurden 4.800 Patient(inn)en ermordet. Auch er war sich keiner Schuld bewusst. Es wird aber auch das Einzelschicksal eines Mädchens namens Margarete thematisiert, das als eines der wenigen Kindern aus der Klinik gerettet werden konnte. Die Darsteller(innen) berichten, wie Leiter des Kinderhauses, Köche oder der Anstaltspfarrer Widerstand leisteten, indem sie ihren Dienst quittierten, zusätzlich Fett in das Essen gaben oder zu den Patient(inn)en auf Station gingen. Während die Spieler(innen) dies erzählen, ziehen sie ein Seil um sich herum, sodass sie zum Schluss des Berichts in einem von dem Seil begrenzten Kreis stehen. Auf die Frage hin, ob man nur das Recht zu leben hat, wenn man produktiv ist, lassen sie das Seil fallen. Abschließend wird vom Kriegsende und der ‚Entnazifizierung‘ Deutschlands erzählt. Auch hier wird die überwiegend referentielle Darstellungsweise von performativen Handlungen und chorischem Sprechen unterstützt. Die Schüler(innen) berichten von Dr. Kühnke, der nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eine Kinderarztpraxis eröffnen kann. Als sein Prozess 1963 in Gang kommt, ist die Tat bereits verjährt. Dr. Pfannmüller wird zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, er erhält jedoch
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kein Berufsverbot. Die Schüler(innen) visualisieren diese deutsche ‚Entnazifizierungspolitik‘ mit einer vor dem Gesicht gehaltenen Hand. Die Geschichte der Gemeinde Haar wird bis ins Jahr 2016 weitererzählt. Margarete stirbt 2000 im Alter von 68 Jahren. In den Jahren 2010 bis 2012 kommen die Projektbeteiligten in Haar zur Schule. Zum Schluss thematisieren die Schüler(innen) die aktuelle Flüchtlingsmigration. Sie verteilen ein visitenkartenartiges Papier an die Zuschauer(innen) mit der Aufschrift: ‚Was für ein Mensch willst du sein?‘ Die Wände werden eingerissen und aus jeweils zwei Kartons werden Steelen gebaut. Auf diesen Steelen befinden sich Mappen, die die Geschichten einzelner Patient(inn)en der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar beinhalten. Daraufhin verlassen die Darsteller(innen) den Bühnenraum und geben ihn für das Publikum frei (vgl. Möller 2016; Ritter et al. 2016). Licht- und Projektionseinsatz Tendenziell wird im Theaterprojekt ‚Spurensuche‘ versucht, einen dunklen Raum für das Publikum zu schaffen. Einerseits soll der reduzierte Lichteinsatz den Zuschauer(inne)n helfen, sich bestmöglich in die Performance einzufinden bzw. mit der Handlung auseinandersetzen zu können. Andererseits kann durch die Verdunklung aber auch eine intime Zone für die Rezipient(inn)en geschaffen werden. Denn durch die Bühnenkonstellation sitzen sich die Besucher(innen) in einem Rechteck gegenüber und können stets die Reaktionen der anderen auf das Gezeigte sehen. Ähnlich gestaltet es sich auch bei den Szenen, bei denen das Publikum in die Performance miteinbezogen wird. Doch durch die Verdunklung des Raumes können die Rezipient(inn)en zumindest ansatzweise eine gewisse Privatsphäre für sich behalten (vgl. Abb. 2.22). Nur selten wird der Fokus lichttechnisch auf den Zuschauerraum gelegt. Eine Ausnahme stellt jedoch beispielsweise die Schlussszene der Performance dar, in der die Schüler(innen) an das Publikum kleine Karten mit der Aufschrift ‚Was für ein Mensch willst du sein?‘ verteilen. Durch die Beleuchtung des Zuschauerraums wird das Publikum direkt angesprochen und aus seiner isolierten Beobachterperspektive geholt (vgl. Abb. 2.23). Das Licht wird auch zur atmosphärischen Gestaltung des Theaterprojektes eingesetzt. So wird der Bühnenraum in warmes Weißlicht getaucht, wenn dem Publikum ein Gefühl der Hoffnung vermittelt werden soll. Ein Beispiel stellt die Sequenz dar, in der die verschiedenen Widerstandsaktionen der Anstaltsmitarbeiter(innen) thematisiert werden (vgl. Abb. 2.24). Um dagegen eine kalte Atmosphäre zu generieren, wird bevorzugt blaues Licht eingesetzt. So wird bereits die erste Szene, die eine auf Euthanasie abzielende Handlung erkennen lässt, in blaues Licht getaucht. Die Schüler(innen) bewegen sich aufgrund des in Kraft getretenen ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ von 1933 in harten und eckigen Bewegungen
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Abb. 2.22 Abtrennung des Publikums mit Seilen. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
Abb. 2.23 ‚Was für ein Mensch willst du sein?‘. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
zu einer Techno-Musik (vgl. Abb. 2.25). Zur gleichen Zeit werden Zahnräder auf die weißen Wände projiziert, die die Bewegungen der Darsteller(innen) unterstützen und das Fortlaufen der Zeit verbildlichen. Abb. 2.24 Einsatz von warmen Weißlicht. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
Generell zeigen die in ‚Spurensuche‘ eingesetzten Projektionen keine konkreten historischen Bilder. Vielmehr werden parallel zur Performance abstrakte Bilder abgebildet, die die theatralen Handlungen atmosphärisch untermalen (vgl. Möller 2016; Ritter et al. 2016; Ritter 2019b).
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Amateurtheaterprojekte der Gegenwart
Abb. 2.25 Einsatz von blauem Licht. (Adaptiert nach Ritter 2017–2020; mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
Amateurtheaterprojekte im aktuellen Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs Nachdem die drei Amateurtheaterprojekte ‚Spurensuche‘, ‚Nicht vergessen!‘ sowie das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ näher in den Blick genommen wurden, werden diese nun in den aktuellen kultur- und geisteswissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs eingebettet. Denn die Projektbeteiligten verstehen ihre Theaterstücke entweder selbst als Erinnerungsform oder ihnen wird diese Funktion von außen zugesprochen (vgl. in Kapitel 6 ‚Desiderat und Forschungsfragen‘). Daher wird untersucht, inwiefern die jeweiligen Projektbeteiligten als eine Gruppe des sozialen Gedächtnisses verstanden und inwiefern die Theaterprojekte in das kulturelle Gedächtnis der Nation bzw. in die deutsche Erinnerungskultur eingebettet werden können.
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Amateurtheaterprojekte als Gedächtnismöglichkeit in der Erinnerungskultur
3.1
Soziales Gedächtnis
Gedächtnis als soziales Phänomen Als „Gründungsvater der sozial- und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung“ (Moller 2010) gilt Maurice Halbwachs. Er verfasste drei Schriften, in denen er grundlegende Überlegungen über das Phänomen des Gedächtnisses bzw. der Erinnerung anstellt. 1925 erschien sein erstes Werk ‚Les cadres sociaux de la mémoire‘, in dem er die Theorie des kollektiven Gedächtnisses entwickelt. 1985 wurde diese Schrift auch unter dem Titel ‚Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen‘ ins Deutsche übersetzt (vgl. Halbwachs 1985). Die Weiterführung dieses Konzeptes begann Halbwachs zwar in der Monographie ‚La mémoire collective‘, allerdings konnte er diese nicht mehr fertigstellen, da er im August 1944 von den Nationalsozialisten nach Buchenwald deportiert und dort am 16. März 1945 ermordet wurde. Die unvollständige Schrift erschien erst posthum 1950, in der deutschen Übersetzung 1991 unter dem Titel ‚Das kollektive Gedächtnis‘ (vgl.Halbwachs 1991). Zuvor veröffentlichte Halbwachs noch ‚La topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte‘. In diesem 1941 herausgegebenen Werk erläutert er das kollektive Gedächtnis am Fallbeispiel religiöser Gruppen. 2003 ist dieses auch unter dem Titel ‚Stätten der Verkündigung im Heiligen Land‘ (vgl. Halbwachs 2003) auf Deutsch erschienen (vgl. Erll 2017: 11 f.). Halbwachs sieht von der neuronalen und hirnphysiologischen Basis des Gedächtnisses ab und interpretiert dieses als ein soziales Phänomen. Hierzu führt der Soziologe den Begriff des „Gedächtnisrahmens“ (Halbwachs 1985: 181) ein. Diesem Begriff liegt die Annahme zu Grunde, dass sich ein individuelles Gedächtnis
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_3
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Amateurtheaterprojekte als Gedächtnismöglichkeit …
immer in der Kommunikation mit anderen Gruppen konstituiert und die Erinnerungen eines Individuums somit immer von einem Kollektiv geprägt sind. Ein solches Kollektiv ist dabei nicht als beliebige Masse zu verstehen, sondern als Gemeinschaft, die sich beispielsweise wie ein Sportverein durch seine Pokale, Urkunden und Medaillen auf ein bestimmtes Selbstverständnis stützt (vgl. Assmann 1988: 10; 2013: 47). Aufgrund der Teilhabe des Individuums an den verschiedensten Sozialgedächtnissen, wie Sportvereinen, Nachbarschaften, Berufsgruppen, Parteien oder Verbänden, und der daraus folgenden einzigartigen Zusammenstellung von Kollektivgedächtnissen kann ein Gedächtnis nach Halbwachs als individuell gelten (vgl. Halbwachs 1985: 23). Der Soziologe erklärt die Erinnerung somit zu einem sozialen Phänomen, bei dem individuelle Erinnerungen nur unmittelbare Wahrnehmungen und Empfindungen darstellen, die jedoch bei jedem Verbalisierungsversuch sogleich eine soziokulturelle Prägung annehmen (vgl. Reil 2018: 26). Das soziale Gedächtnis ist in seinem Bestehen an die Träger(innen) gebunden, die es hervorbringen und anschließend bewahren. Erst wenn keine Instanz mehr besteht, die über eine biographische Erinnerung verfügt, schwindet eine Erfahrung aus dem kommunikativen Gedächtnis. Damit reicht das soziale Gedächtnis so weit in die Vergangenheit, wie sich die ältesten Mitglieder zurückerinnern können. Es handelt sich also um ein Zeitintervall von etwa 80 bis 100 Jahren (vgl. Reil 2018: 28 f.). Die Funktion des sozialen Gedächtnisses besteht darin, durch gemeinschaftliche Erinnerungen die jeweilige Gemeinschaft zusammenzuhalten und infolgedessen den Fortbestand dieser zu garantieren (vgl. Halbwachs 1985: 368). Damit vertritt Halbwachs den Satz, dass ein Kollektivgedächtnis die Vergangenheit nicht als solche erinnert, sondern bewusst auswählt, was in dieses aufgenommen und was vergessen wird. Das Gedächtnis kann somit als soziales Konstrukt gelten. Im Gegensatz zu Wissensspeichern wie Archiven werden nur diejenigen Erinnerungen in das kollektive Gedächtnis aufgenommen, die für den Fortbestand einer Gruppe von Bedeutung sind (vgl. Assmann 2006: 36 f.). Durch diese Selektivität oder – um mit Halbwachs’ Worten zu sprechen – durch diese „Umbildungsarbeit an der Vergangenheit“ (Halbwachs 1985: 156) können vergangene Ereignisse nicht nur umgewichtet werden, sondern sogar ins Fiktive übergehen (vgl. Erll 2017: 14). Damit gibt das Gedächtnis eines Kollektivs vergangene Ereignisse nicht unverfälscht wieder, sondern betrachtet diese aus einer bestimmten Perspektive: [D]ie Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mithilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen, vorbereitet. (Halbwachs 1991: 55)
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Doch gerade diese Fähigkeit einer Gemeinschaft, die Vergangenheit aus einem bestimmten Blickwinkel heraus zu betrachten und entscheiden zu können, was erinnert und vergessen wird, macht den Fortbestand der jeweiligen Kollektivgedächtnisse möglich. Indem eine Gruppe zwischen dem für sie Bedeutsamen und Unbedeutsamen auswählen kann, kann sie eine individuelle Identität ausbilden, die sie von anderen Gruppen abgrenzt (vgl. Assmann 2006: 36 f.). Erinnerung ist nach Halbwachs also als dynamischer Prozess zu verstehen, in dem sich die sozialen Rahmen stets an die aktuellen Bedürfnisse der jeweiligen Gruppe anpassen. Das Kollektiv bestimmt somit das Gedächtnis seiner Mitglieder und entscheidet, was erinnert wird. Dementsprechend sieht Halbwachs auch das Vergessen als soziales Phänomen an, das sich durch das Verschwinden der sozialen Rahmen erklärt (vgl. Halbwachs 1985: 368). Das Theaterkollektiv als soziales Gedächtnis Die jeweiligen Theatergruppen der Amateurtheaterprojekte können als Träger eines sozialen Gedächtnisses verstanden werden. Die Amateur(inn)e(n) und Spielleitungen haben sich jeweils zu einem Kollektiv zusammengeschlossen, das mit theatralen Praktiken an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus erinnern möchte. Gemeinsam haben die jeweiligen Gruppen ein Projekt entwickelt, das schlussendlich zur Aufführung kam. An diese Stückentwicklung und Theateraufführung werden sich die Projektbeteiligten mehr oder weniger lang erinnern. Die Erinnerung an die Amateurtheaterprojekte wird dabei jedoch immer von den jeweiligen Theatergruppen geprägt sein. Die individuellen Erinnerungen der Akteure werden von den Wahrnehmungen des Kollektivs geprägt bzw. in andere Gruppen weitergetragen und auch von diesen wiederum beeinflusst. Die Funktion dieser sozialen Gedächtnisse besteht darin, die Erinnerung an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus nicht verblassen zu lassen und das Amateurtheater als eine Form der Erinnerung im Gedächtnis zu behalten. Dabei wird das Theaterkollektiv als soziales Gedächtnis so lange bestehen bleiben, wie es die Projektbeteiligten bewahren. Diese sozialen Gedächtnisse, die sich in der Kommunikation zwischen den jeweiligen Beteiligten der Amateurtheaterprojekte und anderen Gruppen konstituieren, dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Oftmals konstituieren sich diese auch in Abhängigkeit zur offiziellen Erinnerungskultur (vgl. Reil 2018: 41–43). Die Erinnerungen der Akteure können beispielsweise durch Medien wie Literatur, Film oder Internetseiten beeinflusst werden. Wenn die Erinnerungen des Theaterkollektivs nicht mit den von außen herangetragenen Erinnerungen übereinstimmen, kann es sein, dass die Erinnerung der Theatergruppen überarbeitet und neu formuliert werden (vgl. Reil 2018: 41–43).
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Amateurtheaterprojekte als Gedächtnismöglichkeit …
(Aufführungs-)Orte als Medium des sozialen Gedächtnisses Schon während der Renaissance war die Verbindung zwischen Raum und Erinnerung bekannt. So waren sich beispielsweise schon die Salesianer, katholische Missionare in Brasilien, bewusst, dass sich Erinnerungen an bestimmten Merkorten lokalisieren. Um den katholischen Glauben unter den Bororo-Indianer zu verbreiten, siedelten sie die Einheimischen aus ihren kreisförmig angelegten Dörfern in reihenförmige Wohngebiete um. Mit dem Bruch der Tradition in baulicher Hinsicht war der Weg zu Neuem offen, auch für eine neue Religion (vgl. Burke 1998: 293). Halbwachs hat diese Bedeutung des Ortes für Erinnerungen auf das soziale Gedächtnis übertragen: Am Anfang seines Werkes ‚Das kollektive Gedächtnis‘ führt er folgende Episode an: Ich bin zum ersten Mal in London und gehe dort wiederholt bald mit diesem, bald mit jenem Begleiter spazieren. Einmal ist es ein Architekt, der mich auf die Bauten, ihre Proportionen, auf ihre Lage aufmerksam macht; dann ist es ein Historiker: ich erfahre, zu welcher Zeit eine bestimmte Straße angelegt worden ist, daß in jenem Haus ein berühmter Mann geboren wurde, daß hier oder dort bemerkenswerte Ereignisse stattgefunden haben. Gemeinsam mit einem Maler bin ich für die Farbtönung der Parkanlagen empfänglich, für die Linienführung der Paläste, der Kirchen, für das Spiel von Licht und Schatten auf den Mauern und Fassaden von Westminster, der Kathedrale, auf der Themse. Ein Kaufmann ein Geschäftsmann führt mich durch die bevölkerten Straßen der Innenstadt, läßt mich vor den Läden, den Buchhandlungen, den Kaufhäusern innehalten. Aber selbst wenn ich nicht geführt worden bin, genügt es, wenn ich aus all diesen verschiedenen Betrachtungsweisen heraus verfaßte Stadtbeschreibungen gelesen habe, wenn man mir geraten hat, diese oder jene Stadtansicht zu betrachten – einfacher noch, wenn ich den Stadtplan studiert habe. Nehmen wir an, ich gehe allein spazieren. Kann man sagen, daß ich an diesen Spaziergang nur individuelle Erinnerungen, die allein mir gehören, zurückbehalte? Ich bin indessen nur scheinbar allein spazieren gegangen. Vor Westminster habe im daran gedacht, was mir mein Freund, der Historiker, darüber gesagt hatte (oder – was auf dasselbe hinausläuft – daran, was ich darüber in einem Geschichtsbuch gelesen hatte). Auf einer Brücke habe ich die Wirkung der Perspektive betrachtet, auf die mein Freund, der Maler, hingewiesen hatte (oder die mir auf einem Gemälde, auf einem Stich aufgefallen war). Ich habe mich bei meinem Gang in Gedanken von meinem Stadtplan leiten lassen. Als ich zum ersten Mal in London war – vor Saint Paul oder Mansion House, auf dem ‚Strand‘ oder in der Umgebung von Court’s of Law – brachten mir viele Eindrücke die Romane von Dickens in Erinnerung, die ich in meiner Kindheit gelesen hatte: so ging ich dort also mit Dickens spazieren. Von keinem dieser Augenblicke, von keiner dieser Situationen kann ich sagen, daß ich allein war, daß ich allein nachdachte: denn in Gedanken versetzte ich mich in diese oder jene Gruppe – in die, die ich mit dem Architekten und darüber hinaus mit jenen Menschen, deren Interpret er nur für mich war, oder in die, die ich mit dem Maler (und seiner Gruppe) bildete, mit dem Geometer, der den Stadtplan gezeichnet hatte, oder mit einem Romancier. Andere Menschen haben diese Erinnerungen mit mir gemeinsam gehabt. Mehr noch, sie helfen, mir diese ins
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Gedächtnis zurückzurufen: um mich besser zu erinnern, wende ich mich ihnen zu, mache mir zeitweilig ihre Denkungsart zu eigen; ich füge mich von neuem in ihre Gruppe ein, der ich auch weiterhin angehöre, da ich immer noch ihre Einwirkungen erfahre und in mir manche Vorstellungen und Denkweisen wiederfinde, die ich allein nicht hätte entwickeln können und durch die ich mit diesen Menschen in Verbindung bleibe. (Halbwachs 1991: 2 f.)
In diesem Textauszug wird deutlich, dass sich die Erinnerung eines Individuums auch ohne die jeweiligen Bezugspersonen an verschiedenen architektonischen und geographischen Orten manifestieren kann. Als er sich während seines Spaziergangs durch die Stadt bewegt, sind der Architekt, der Maler oder auch der Kaufmann nicht anwesend. Trotzdem kommen ihm an den jeweiligen Bauten ihre Erzählungen in den Sinn. Damit wendet sich Halbwachs von der antiken mnemotechnischen Ansicht ab, nach der sich ein Sachverhalt am besten mithilfe einer „imaginären Verräumlichung“ (Echterhoff et al. 2002: 21) erinnern lässt. Für den Soziologen sind es nicht die Raumbilder, sondern die realen Orte selbst, an denen sich Erinnerung konstituiert. Aufgrund ihrer relativen Stabilität und Überdauerung sind diese Orte dazu geeignet, das kollektive Gedächtnis über einen relativ langen Zeitraum fortbestehen zu lassen. Halbwachs’ Werk ‚Stätten der Verkündigung im Heiligen Land‘ (vgl. Halbwachs 2003) kann als empirische Studie zur Belegung dieser These gelten. Hier führt Halbwachs auf, dass fixierte Orte wie Kapellen oder Kirchen das Gruppengedächtnis einer religiösen Gruppe erst festigen (vgl. Echterhoff et al. 2002: 20 f.). Auch die (historischen) Orte, an denen die Amateurtheaterprojekte zur Aufführung kamen und kommen, können zum Medium des sozialen Gedächtnisses werden. Wenn die Projektbeteiligten von ‚Nicht vergessen!‘ zukünftig das Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark besuchen, werden sie sich vermutlich immer an die intensive Probenwoche im Sommer 2017 erinnern. Sie werden daran zurückdenken, wie sie das Areal selbst erkundet und mit allen Sinnen wahrgenommen haben. Wenn sie an Teile des Ortes wie den Bachlauf an der Havel zurückkehren oder ein Drahtseil am Boden sehen, werden sie sich vermutlich der theatralen Handlungen erinnern, mit denen sie dem Vergessen des historischen Ortes entgegenwirken wollten. Das Gelände wird somit zum „Merkort[]“ (Burke 1998: 293), an dem sich die Spielleitungen und Amateur(inn)e(n) wieder ihrer gemeinsamer Überlegungen hinsichtlich der theatralen Umsetzung des Gedenkens erinnern werden. Es ist anzunehmen, dass sich die Projektbeteiligten bei einem zukünftigen Besuch des Areals gedanklich wieder in die damalige Theatergruppe einfügen werden. Sie werden sich der gemeinsamen Erfahrung erinnern, die sie an diesem Ort gemacht haben, ohne dass die restliche Gruppe dazu anwesend sein muss. Doch nicht nur der Aufführungsort hat das Potential, das soziale Gedächtnis der Theatergruppe über längere Zeit fortbestehen zu lassen. Auch (historische) Orte,
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die die jeweiligen Projektbeteiligten während der Entwicklung der Theaterstücke besuchten, werden diese Funktion voraussichtlich erfüllen. Die Schüler(innen) von ‚Spurensuche‘ werden sich höchstwahrscheinlich wieder an ihre monatelangen Recherchearbeiten erinnern, wenn sie die damals dazu aufgesuchte DenkStätte Weiße Rose im Lichthof der LMU besuchen. Auch wird ihnen bei einer Besichtigung der ehemaligen ‚Tötungsanstalt‘ Schloss Hartheim vermutlich wieder ins Bewusstsein kommen, wie die Architektur und das damit verbundene Gefühl des Eingesperrtseins maßgeblich für die Raumgestaltung der Performance war. Der reale Raum schafft somit die Verbindung zur Erinnerung der Projektbeteiligten und trägt dazu bei, dass das soziale Gedächtnis der Theatergruppe fortbesteht. Exkurs: Konzept der Gedächtnisorte Während Halbwachs in den 1920er und 1930er Jahren noch von der Existenz kollektiver Gedächtnisse ausging, prognostiziert Pierre Nora 60 Jahre später den Verlust des kollektiven Gedächtnisses. Als Beispiel nennt Nora hier die bäuerliche Gedächtnisgemeinschaft, die aufgrund der „Beschleunigung der Geschichte“ (Nora 1990: 11) immer mehr verdrängt wird. Im Zuge des technischen Fortschritts im 19. Jahrhundert wurde es möglich, schneller zu reisen und Nachrichten zu verbreiten. So konnte sich beispielsweise eine Nachricht von der Revolution 1848 mithilfe des Eisenbahnverkehrsnetzes deutlich schneller verbreiten, als dies noch während der Julirevolution von 1830 ohne diese Fortbewegungsmöglichkeit möglich gewesen wäre (vgl. Reil 2018: 37). Aber dadurch, dass „jedes Geschehen Weltgeschehen und Medienereignis wird“ (Nora 1990: 11), gehen die traditionellen Gedächtnisgesellschaften und damit auch die Existenz kollektiver Gedächtnisse verloren. Die eigene Geschichte gerät aufgrund der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Weltgeschehen in den Hintergrund. Als Beispiele nennt Juliane Reil hier den Tsunami vor der indonesischen Insel Java im Jahr 2006, den Krieg in Afghanistan oder die Ernennung des ersten afroamerikanischen US-Präsidenten im Jahr 2009, die im Vergleich zur Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 einen größeren Einfluss auf unsere Gegenwart haben (vgl. Reil 2018: 38). Auf diese Weise geht das Kollektivgedächtnis verloren und hinterlässt als seine einzigen „Überreste“ (Nora 1990: 17) die Gedächtnisorte: „Es gibt lieux de mémoire [Gedächtnisorte], weil es keine milieux de mémoire [Kollektivgedächtnisse] mehr gibt“ (Nora 1990: 11). Demnach müssen Archive immer mehr die Aufgabe des kollektiven Gedächtnisses übernehmen. Einrichtungen wie Bibliotheken oder Museen müssen sich um die Aufbewahrung von Zeugnissen kümmern, die für die eigene Geschichte von
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Bedeutung sind und nicht verloren gehen dürfen. Durch den Verlust des kollektiven Gedächtnisses wird die Vergangenheit auch nicht mehr in Zusammenhang mit gegenwärtigen Ereignissen gebracht und in dessen Folge aus einer viel größeren Distanz wahrgenommen. Dementsprechend werden „die unterschiedlichsten Formen der (sinnlichen) Veranschaulichung“ (Reil 2018: 39) herangezogen werden müssen, um sich der Vergangenheit anzunähern. Reil führt hier das Beispiel der Besichtigung eines Konzentrationslagers an, das die Menschen besuchen, um sich durch die dort erlebten sinnlichen Eindrücke einen Begriff von den damaligen Lebensbedingungen zu machen. Diese Hinwendung zur eigenen Geschichte beschreibt Nora als ‚Pflicht‘ einer Gruppe bzw. eines Landes. Damit die Identität einer Gemeinschaft nicht verloren geht, muss sie sich auf die Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit machen (vgl. Reil 2018: 39 f.). Gedächtnisorte sind für Nora somit die Platzhalter für das nicht mehr vorhandene Kollektivgedächtnis geworden. Sie allein sind nun dafür verantwortlich, dass die Identität und der Fortbestand einer Gemeinschaft nicht verloren geht. Unter solch einem ‚Gedächtnisort‘ können jedoch nicht nur reale Orte gefasst werden: Es kann sich dabei z. B. um einen geographisch lokalisierbaren Ort handeln wie das Kolosseum in Rom, ein Symbol wie die Trikolore Frankreichs, eine mythische Figur wie Odysseus, eine Institution wie das Pentagon oder ein Kunstwerk wie die LaokoonGruppe. (Reil 2018: 40)
Entscheidend ist, dass der jeweilige Gedächtnisort materiell vorliegt und eine symbolische Bedeutung bzw. Funktion für das Fortbestehen einer Gruppe hat (vgl. Reil 2018: 40 f.). Amateurtheaterprojekte als Gedächtnisort Auch die in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte können zu Gedächtnisorten werden. Geht man von Noras These aus, dass die kollektiven Gedächtnisse aufgrund der steten Auseinandersetzung mit dem globalen Weltgeschehen in den Hintergrund treten, können die Theaterprojekte die Erinnerung an diesen Teil der deutschen Geschichte weitertragen. Die Projektbeteiligten sorgen dafür, dass die Erinnerung an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus in den Theaterstücken aufbewahrt und weitergegeben wird und so zur Identitätsbildung des eigenen Landes beiträgt. Gerade die theatrale Umsetzung des Gedenkens birgt das große Potential, die Vergangenheit des eigenen Landes aus einer gewissen Nähe zu betrachten und sich diese (sinnlich) zu veranschaulichen. Dazu trägt sicherlich auch die Aufführung an historischen Orten bei.
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3.2
Amateurtheaterprojekte als Gedächtnismöglichkeit …
Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskultur
Gedächtnis als kulturelles Phänomen Halbwachs’ Theorie vom kollektiv geprägten Gedächtnis wird von Jan Assmann weiter ausdifferenziert. Denn Assmann sieht Halbwachs’ Konzept, an der Grenze der Gruppe haltzumachen und keine Verallgemeinerungen in Richtung Kulturtheorie zu erwägen, als eine Schwäche seiner Theorie an. Daher unterscheidet Assmann innerhalb des kollektiven Gedächtnisses zwischen dem ‚kommunikativen‘ und ‚kulturellen‘ Gedächtnis und damit zwischen „gelebter, kommunizierter Erinnerung“ (Assmann 2013: 46) und „institutionalisierter, kommemorierter Erinnerung“ (Assmann 2013: 46). Das kommunikative Gedächtnis entspricht damit im Wesentlichen dem, was Halbwachs unter dem Kollektivgedächtnis versteht: Es beruht ausschließlich auf Alltagskommunikation, wandert mit fortschreitendem Gegenwartspunkt mit und ist auf einen Zeithorizont von 80 bis maximal 100 Jahre beschränkt (vgl. Assmann 1988: 10 f.). Während Halbwachs’ Theorie an dieser Stelle stoppt, erweitert Assmann dessen Gedächtniskonzept um eine kulturelle Komponente: Halbwachs zufolge geht der Gruppen- und Gegenwartsbezug verloren, wenn lebendige Kommunikation in Formen der objektivierten Kultur (z. B. in Bauwerke, Bilder, Denkmäler, Riten oder Texte) übergeht. Assmann stellt dagegen die These auf, dass sich bei einer organisierten Kommunikation ganz ähnliche Bindungen an Gruppen feststellen lassen (vgl. Assmann 1988: 12–16; 2005: 79–81; 2013: 48–57). Dies ist beispielsweise für Menschen interessant, die ein Erlebnis dauerhaft festhalten wollen. An dieser Stelle greift das kulturelle Gedächtnis, das Assmann in das Zentrum seiner Untersuchungen stellt. Im kulturellen Gedächtnis können Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses in Form von Symbolen oder Riten oder durch Träger(innen) wie Historiker(innen), Lehrer(innen) oder Priester(innen) weitergegeben werden (vgl. Assmann 1988: 12). Aleida Assmann geht noch einen Schritt weiter: Sie unterteilt Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses in ein ‚Speichergedächtnis‘ und in ein ‚Funktionsgedächtnis‘ (vgl. Assmann 1995: 181–185). Ersteres charakterisiert Reil vorsichtig als die „vollständige Datenbank einer Kultur“ (Reil 2018: 31). Letzteres kann dagegen als „selektive[r] Gebrauch“ (Reil 2018) von Erinnerungen einer Gemeinschaft beschrieben werden, die diese für sich als bedeutsam erachtet: Die erste stellt in ihrer Wahl des Vergangenheitsbezugs keine Verbindung zur Gegenwart her, während die letzte den Einfluss vergangener Zeiten auf die Gegenwart betont. In diesem letzten Fall wird die Vergangenheit instrumentalisiert, um das Selbstbild einer Gesellschaft zu formen. (Reil 2018: 31)
3.2 Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskultur
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Gedächtnis und Erinnerung können also als kulturelles Konstrukt gelten. Bereits Ernest Renan führt Ende des 19. Jahrhunderts an, dass sich ein Land nicht über Geographie, Rasse, Religion oder Sprache definiert, sondern über ein gemeinsames nationales Gedächtnis (vgl. Renan 1882: 35). Politiker(innen) wählen einen Teil der Geschichte mit dem Ziel der Identitätsbildung aus, der von den Bürger(inne)n beispielsweise mittels Monumenten oder Denkmälern angeeignet wird (vgl. Assmann 2006: 37–40). Dabei wird ein Ereignis nur aus der Perspektive betrachtet, die für den Fortbestand der eigenen Geschichte von Bedeutung ist (vgl. Novick 2001: 14). In diesem Zusammenhang geht es weniger um die Verfälschung historischer Ereignisse, als vielmehr um die „affektive Aneignung der eigenen Geschichte“ (Assmann 2006: 40). Denn für die Bildung einer in die Zukunft ausgerichteten Nation braucht es eine gemeinsame Vergangenheit. Gerade das rekonstruierte Selbstbild einer Nation ist es, das der Gegenwart Sinn verleiht und sie zu einer „Zwischenstufe“ (Assmann 2006: 42) in der Fortentwicklung eines Volkes macht. Wie lange diese ‚Mythen‘ weitergegeben werden, hängt demnach nicht von der Sterblichkeit der Träger(innen) ab, sondern davon, ob sie dem gewünschten Selbstbild einer Nation entsprechen oder durch andere ‚Mythen‘ ersetzt werden müssen, um den Fortbestand der Gruppe zu sichern (vgl. Assmann 2006: 40–43). Der Unterschied zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis äußert sich somit in der jeweiligen Alltagsferne, d. h. dem Zeithorizont. Beim kulturellen Gedächtnis wandert der Horizont nicht mit fortschreitendem Gegenwartspunkt mit, sondern wird durch Fixpunkte wachgehalten. Diese Fixpunkte äußern sich in schicksalhaften Ereignissen der Vergangenheit, deren Erinnerung sich durch institutionalisierte Kommunikation wie Rezitation, Begehung oder Betrachtung aufrechterhält. Während bei Halbwachs also die objektivierte Kultur außen vor gelassen wird, versucht Assmann in seiner Theorie Gedächtnis, Kultur und Gruppe aufeinander zu beziehen (vgl. Assmann 1988: 9–19; 2005: 79–81; 2013: 48–57). Amateurtheaterprojekte als Medium des kulturellen Gedächtnisses Bereits im Prolog dieser Arbeit wurde gezeigt, dass Amateurtheaterprojekte in der Erinnerung an den Holocaust und Nationalsozialismus einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Im Medium des Theaters wird an Opfergruppen wie Häftlinge von Konzentrationslagern, Opfer der Euthanasie oder Widerstandsgruppen gedacht (vgl. in Kapitel 1 ‚Prolog‘). Ähnlich wie bei anderen Formen der objektivierten Kultur wird durch die Amateurtheaterprojekte versucht, die Erinnerung an die Leiden der Ermordeten und Überlebenden des Holocaust und Nationalsozialismus relativ dauerhaft festzuhalten. Die Weitergabe dieser Erinnerung ist dabei nicht an die Spieler(innen)
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Amateurtheaterprojekte als Gedächtnismöglichkeit …
gebunden, die die Projekte ursprünglich entwickelt haben. Auch ‚neue‘ Amateur(inn)e(n) können in die Theaterstücke eingebunden werden, sich die Inhalte und theatralen Praktiken aneignen und damit den Menschen zugänglich machen. Die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses (vgl. in Abschnitt 3.1 ‚Das Theaterkollektiv als soziales Gedächtnis‘) gehen so in eine Form der objektivierten Kultur über und werden durch den Besuch der Amateurtheaterprojekte aufrechterhalten. Begriff der ‚Erinnerungskultur‘ Dem „recht statisch und überhistorisch angelegten […] Modell des kulturellen Gedächtnisses“ wird seit den 1990er Jahren ein Konzept gegenübergestellt, das sich durch seine Dynamik und Prozesshaftigkeit auszeichnet und die Vielfalt der kulturellen Erinnerung betont (vgl. Erll 2017: 31 f.). Die Rede ist hier vom Begriff der ‚Erinnerungskultur‘, der in den letzten drei Jahrzehnten zu einem „Leitbegriff“ (Cornelißen 2012) innerhalb der Kulturgeschichtsforschung aufgestiegen ist. Für die Wortneuschöpfung besteht in der Wissenschaftssprache keine durchgängige Definition. Einerseits kann er als „lockerer Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke“ (Hockerts 2002: 41) verwendet werden. Bei diesem Begriffsverständnis wird die zeitgeschichtliche Forschung außen vor gelassen und somit eine Trennlinie zwischen Zeitgeschichte als öffentlicher Praxis und wissenschaftlicher Disziplin gezogen (vgl. Hockerts 2002). Andererseits kann der Neologismus auch generell als „Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse gefasst werden, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“ (Cornelißen 2003: 555). Unter diesem Begriffsverständnis werden nicht nur die „ahistorisch[en]“ (Novick 2001: 14) Erinnerungen der Kollektivgedächtnisse gefasst, sondern auch die Geschichtswissenschaft und jede persönliche Erinnerung – sofern sie für die Gesellschaft von Relevanz ist (vgl. Cornelißen 2003: 555). Der Ausdruck ‚Erinnerungskultur‘ kann in der Wissenschaftssprache somit enger als auch weiter gefasst werden. Während erstere Definition unter dem Begriff lediglich die Vergangenheitsbezüge fasst, die für die Identitätsbildung eines Kollektivs von Bedeutung sind, bezeichnet die zweite und weiter gefasste Definition den gesamten geschichtlichen Kulturbetrieb als Erinnerungskultur und setzt den Begriff damit der Geschichtskultur gleich (vgl. Hockerts 2002: 41). Doch im Gegensatz zur Geschichtskultur rückt der Begriff der Erinnerungskultur die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart und die Ausbildung „einer historisch begründeten Identität“ (Cornelißen 2012) stärker in den Vordergrund. Dementsprechend wird mit dem Begriff betont, dass jede Form der
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Erinnerung gleichermaßen von Bedeutung ist, sofern sie zur Identitätsbildung einer Kultur beiträgt (vgl. Cornelißen 2012). Assmann sieht neben den vielfältigen und über die Geschichtswissenschaft hinausgehenden Zugängen zur Vergangenheit sowie der Aneignung der Vergangenheit durch eine Gruppe mit dem Ziel der Identitätsstiftung noch eine dritte Bedeutung des Begriffs ‚Erinnerungskultur‘. Sie erweitert diesen um eine ethische Komponente, der vor allem in Bezug auf ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ eine wichtige Rolle einnimmt. Diesen Aspekt der Erinnerungskultur fasst sie mit den Worten Volkhard Knigges zusammen. Demnach ist unter einer ethischen Erinnerungskultur „die kritische Auseinandersetzung mit Staats- und Gesellschaftsverbrechen – gerade aus der Sicht der Opfer“ (zit. nach Assmann 2016: 33) zu verstehen. Wie genau sich die deutsche Erinnerungskultur in Hinblick auf ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ gestaltet, wird im Folgenden näher beschrieben. ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ in der deutschen Erinnerungskultur Für den Einlass einer vergangenen Erfahrung in das kulturelle Gedächtnis einer Nation ist es wichtig, dass das Ereignis zur Identitätsbildung eines Volkes beiträgt und somit dessen Fortbestand sichert. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern die traumatischen Opfererfahrungen während des Holocaust und Nationalsozialismus Eingang in das kollektive Gedächtnis Deutschlands finden können. Denn die verschiedenen Opfergruppen starben nicht für ein Ideal, sodass sie nachträglich zu Märtyrer(inne)n für ihr Land werden konnten und ihrem Tod so Sinn zugesprochen werden könnte (vgl. Buruma 1994: 103; Assmann 1998: 147). Sie wurden sinnlos ermordet. Aufgrund dieser Sinnlosigkeit, die sich schwer in die Erinnerung einer Nation übertragen lässt (vgl. Koselleck 2005: 23 f.), dauerte es Jahrzehnte, bis Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus Teil der deutschen Erinnerungskultur geworden sind. Erst Ende der 1970er Jahre begannen Politik und Gesellschaft die Leiden der Ermordeten und Überlebenden dieser historischen Epoche immer mehr wahrzunehmen und anzuerkennen, sodass sich im heutigen Deutschland eine „stabile Gedenk- und Erinnerungslandschaft“ (Giesecke et al. 2012: 7) wiederfinden lässt. Wie sich der anfängliche Schweigekonsens in eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit wandelte, darauf wird im folgenden Kapitel näher eingegangen. Die Medien des kulturellen Gedächtnisses, die an den Holocaust und die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnern, gestalten sich heute äußerst vielfältig: konventionelle historische Dokumente wie Memoiren und andere schriftliche Aufzeichnungen, ruhende oder bewegte Bilder wie Denkmäler und Filme sowie Gedenkrituale sind nur ein paar Beispiele (vgl. Burke 1998: 292 f.). Auch Amateurtheaterprojekte spielen hierbei eine wichtige Rolle.
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Assmann beschreibt die deutsche Erinnerungskultur im Hinblick auf den Holocaust und Nationalsozialismus als „opferorientiert, aber nicht opferidentifiziert“ (Assmann 2016: 66): Die normative Haltung der deutschen Erinnerungskultur zum Holocaust ist nicht durch Identifikation, sondern durch eine Form von Empathie bestimmt, die durchaus Platz lässt für das Bewusstsein, selbst nicht dem Volk der Opfer anzugehören. (Assmann 2016: 66)
Assmann unterscheidet damit zwischen der empathischen Haltung eines Menschen gegenüber anderen, dem ‚mitfühlen mit‘ den Opfern, und der Identifizierung mit diesen, dem ‚sich fühlen als‘ Opfer (vgl. Erll 2017): Empathie bedeutet Einfühlung und ermöglicht eine gefühlsmäßige Verbindung mit einem fremden Menschen, an dessen Schicksal man Anteil nimmt, ohne damit ein klares Bewusstsein der Differenz zwischen dem Ich und dem anderen aufzugeben. Identifikation bedeutet die Übernahme von Werten und Einstellungen mit den Opfern, aber diese Übernahme befreit keineswegs von der eigenen Identität, Familie, Nation und Geschichte. (Assmann 2016: 63)
Auch entkräftet sie die Kritik an der deutschen Erinnerungskultur, nach der sich das Land mit dem Holocaust auf einen „negativen Gründungsmythos“ (Assmann 2016: 68) stütze und dadurch eine „vergangenheitsabhängig anhaltend verwirrte Nation“ (zit. nach Assmann 2016: 70) ohne Dynamik und zukunftsweisende Werte sei. In diesem Zusammenhang macht die Autorin darauf aufmerksam, dass sich Zukunftsvisionen durchaus aus ‚negativen Lektionen‘ entwickeln können. So hat sich beispielsweise aus der gewalttätigen Geschichte Europas ein Katalog an Menschenrechten konstituiert, der in der Präambel der Europäischen Verfassung aufgeführt wird (zit. nach Assmann 2016: 74). Hierbei ist anzumerken, dass die Europäische Verfassung zwar 2004 von den angehörigen Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wurde, diese jedoch nicht in Kraft treten konnte, da die französische und niederländische Bevölkerung diese in Volksabstimmungen ablehnte. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten sich daraufhin nach langen Verhandlungen auf den Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat. Dieser enthält die wesentlichen Bestandteile der ursprünglichen Verfassung von 2004 (vgl. Presseund Informationsamt der Bundesregierung 2020). Durchaus kritisch sieht Martin Sabrow jedoch die gegenwärtige Entwicklung der Erinnerungskultur in Deutschland. Zwar hat sich diese vom „Schweigekonsens der Nachkriegszeit“ (Sabrow 2017: 7) zum „Aufarbeitungskonsens der Gegenwart“ (Sabrow 2017) gewandelt. Jedoch ist für ihn das Bestreben, mit der Aufarbeitung der
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Vergangenheit auch mit ihr abzuschließen, immer mehr in den Hintergrund getreten. In der gegenwärtigen Erinnerungskultur steht für ihn vielmehr der „dauerhafte[] ‚Auftrag Erinnerung‘“ (Sabrow 2017: 16) im Vordergrund. Der Gedächtnisboom, in dessen Zuge in den letzten Jahrzehnten unter anderem viele Gedenkstätten, Ausstellungen und Geschichtsverfilmungen entstanden sind und die Zeitzeug(inn)en an Bedeutung gewannen, haben die deutsche Erinnerungskultur verändert. Auf der einen Seite soll durch die Aufklärung über die NS-Zeit zwar mit der Vergangenheit abgeschlossen werden, auf der anderen Seite soll die Erinnerung an die Vergangenheit jedoch auch als Identitätsstiftung bewahrt werden (vgl. Sabrow 2017: 16 f.). Aufgrund dieser Gegebenheit hat für Sabrow die heutige Erinnerungskultur auch „Züge einer säkularen Religiosität“ (Sabrow 2017: 8) angenommen. Gedenkveranstaltungen erinnern Sabrow an katholische Kirchenmessen, historische Orte wie der Obersalzberg oder die ‚Berliner Geschichtsmeile‘ werden zu „heiligen Orten“ (Sabrow 2017: 14) und ‚KZ-Souvenirs‘ zu „sakralen Objekten“ (Sabrow 2017). Auch verbürgt sich für ihn die heutige Erinnerungskultur eines „Heilsversprechen[s]“ (Sabrow 2017), in dessen Zusammenhang die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus durch die Erinnerung für ihre Leiden entschädigt werden sollen. Auch die Verurteilung von NS-Verbrechern wird hierbei zu einem wichtigen Symbol: Nicht im Urteil über die angeklagten Täter/innen liegt der Sinn der noch 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Mordherrschaft anhaltenden Strafverfolgung, sondern im Gang des Verfahrens selbst und seiner Bedeutung für die geschundenen Opfer. (Sabrow 2017: 15)
Durch die Verurteilung der NS-Verbrecher, aber auch durch Gedenkorte und Ausstellungen, in denen das Leid der Opfer dargestellt und so an dieses erinnert wird, sollen die Opfer Genugtuung erfahren und zumindest in Ansätzen für ihr erlebtes Leid entschädigt werden. Doch den Aspekt der ‚säkularen Religiosität‘ sieht auch Assmann als problematisch an. Ihrer Meinung nach müsste es hinsichtlich des Vokabulars zu einer „Spracherneuerung“ (Assmann 2016: 116) kommen. Religiöse Begriffe wie ‚Erlösung‘ oder ‚Versöhnung‘ müssten durch Begriffe wie ‚gemeinsame‘ bzw. ‚empathische Erinnerung‘ oder ‚Vertrauen‘ ersetzt werden, da dieser Sprachschatz in einem „säkularen Sprachraum keine Referenz hat“ (Assmann 2016) und zu hohe Erwartungen an ein solch rituelles Sprechen stellen würde. Ästhetische Gestaltung der Erinnerungskultur Bis heute besteht in der kulturtheoretischen Auseinandersetzung noch kein Konsens darüber, dass der Holocaust bzw. die Verbrechen der Nationalsozialisten künstlerisch dargestellt werden dürfen. Auf zwei wichtige Punkte im Diskurs
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Amateurtheaterprojekte als Gedächtnismöglichkeit …
um die künstlerische (Un-)Darstellbarkeit dieser historischen Epoche weist Karin Dahlke hin. Auf der einen Seite wird immer wieder das ästhetische Genießen, das unweigerlich mit der Kunst verbunden ist, kritisiert. Dies veranlasste bereits Theodor W. Adorno zu seinem Verdikt, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei. Zum anderen wird immer wieder diskutiert, ob die Verbrechen der Nationalsozialisten nachgestellt dargestellt werden dürfen. Hier verweist Dahlke auf Claude Lanzmann, nach dem „jede Darstellung verboten ist“ (zit. nach Dahlke 1997: 131), da „ein bestimmtes, absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist“ (zit. nach Dahlke 1997). Vor allem für das Theater ist diese Problematik besonders ausgeprägt. Neben der tendenziellen Konformität, dass Vernichtungslager und Massentötungen nicht auf einer Bühne dargestellt werden können, sind die Schauspieler(innen) im Theater physisch präsent. Diese müssten im Vergleich zu anderen Medien und abstrakten Darstellungsweisen die Opfer des Holocaust unmittelbar verkörpern, die jedoch „aufgrund ihres herausgehobenen Status per se nicht ‚spielerisch‘ durch andere zu repräsentieren sind“ (Benthien 2016: 19). Auf der anderen Seite stehen jedoch Stimmen, die die mit dem Bilderverbot einhergehende Gefahr sehen, dass die Massenvernichtungen verschleiert und die Opfer mit „einer Aura des Heiligen“ (Dahlke 1997: 131) verbunden werden. So sehen beispielsweise Aharon Appelfeld (vgl. Appelfeld 1994: xiv) oder Imre Kertész gerade in der Kunst das Potential, mit dieser Erfahrung umzugehen: „Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht – und vielleicht sogar dann am wenigsten –, wenn wir es erleben […])“ (Kertész 1993: 253). Ungeachtet dieser Diskussion werden ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ in den verschiedenen Künsten verarbeitet. Am Beispiel von Literatur und Film zeigt Christian Angerer die große Vielfalt an ästhetischen Darstellungen auf, die er grob in eine ‚Ästhetik der ‚realistischen‘ Nähe‘ und eine ‚Ästhetik der Distanz‘ unterteilt (vgl. Angerer 2006: 162–167). Unter Ersterem versteht er die „massentauglichen, mit mimetischen Verfahren operierenden Produktionen“ (Angerer 2006: 152), die seit den 1990er Jahren unter dem Schlagwort „Amerikanisierung des Holocaust“ (Bialystok 1995) zusammengefasst werden. Diese Bezeichnung beschreibt den in den USA vorgenommenen Versuch, mittels Nachstellungen und „Simulationsspielen“ (Angerer 2006: 164) unmittelbar Motive und Einstellungen nachvollziehen zu können, die zum Genozid führten. Amerikanische Bürger(innen) sollen durch dieses ‚reale‘ Nachempfinden eine „moralische Lektion wider den Rassismus“ (Angerer 2006) erhalten. Diese amerikanisierte Ästhetik zeichnet sich durch einem narrativen, kohärenten und identifikatorischen Zugang zur Geschichte aus (vgl. Krankenhagen 2001: 165). Angerer führt hier beispielsweise Steven Spielbergs Spielfilm ‚Schindlers Liste‘ (1993) an, der sich bewährter Mittel des Spannungsaufbaus bedient,
3.2 Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskultur
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um die Zuschauer(innen) zu fesseln (vgl. Angerer 2006: 164). Diesen Darstellungen spricht der Historiker zwar die Möglichkeit einer „autonomen Entwicklung affektiver Bezüge“ (Angerer 2006: 165) ab, trotzdem hat diese Kunstform dazu beigetragen, die Thematik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen (vgl. Angerer 2006). Neben der Ästhetik der ‚realistischen‘ Nähe existieren jedoch auch künstlerische Formen, die vom Holocaust und Nationalsozialismus sprechen, ohne diese direkt abzubilden und so von einer ästhetischen Distanz zeugen. Angerer nennt hier Beispiele wie die Gedichte von Paul Celan oder Claude Lanzmanns Dokumentation ‚Shoah‘ (1985) (vgl. Angerer 2006: 152). Bei dieser Zugangsweise besteht die Möglichkeit, das eigentlich Unbegreifliche mittels „symbolische[r] Andeutung“ (Angerer 2006: 166) ‚erzählbar‘ zu machen. Gemeint ist damit, dass durch die abstrakte Darstellung die Einbildungskraft der Rezipient(inn)en angeregt wird und so das eigentlich Unvorstellbare der Vorstellung zugänglich und mit Bedeutung versehen werden kann. Auf diese Weise kann eine Distanz zu den historischen Ereignissen eingenommen werden (vgl. Angerer 2006: 166 f.). Auch in der Kunstform Theaterexperimentieren die Dramatiker(innen) seit Ende des Zweiten Weltkrieges mit verschiedenen Formen und Genres, wie ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auf der Bühne theatral dargestellt werden können. Im folgenden Exkurs wird daher auf theatrale Praktiken ausgewählter Dramatiker(innen) von 1945 bis heute eingegangen. Die Begründung für diesen ausführlichen Exkurs findet sich in der Vorbemerkung des anschließenden Kapitels.
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Vorbemerkung zum Exkurs Bevor im folgenden Kapitel die Konzeption der Amateurtheaterprojekte in den Blick genommen wird, wird in einem Exkurs auf grundlegende theatrale Darstellungsgenres und -formen von 1945 bis heute eingegangen, mittels derer das Themenfeld ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auf der Bühne verarbeitet wurde bzw. wird. Diese geschichtliche Zusammenschau dient als wichtige Vergleichsbasis für die anschließende Darstellung der Konzeption der Amateurtheaterprojekte. In diesem Exkurs wird daher anhand exemplarischer Dramentexte gezeigt, was die Theaterstücke in den einzelnen Jahrzehnten von 1945 bis heute charakterisiert und welche Intention die Dramatiker(innen) mit ihren Werken verfolgten bzw. verfolgen. Bei dieser Darstellung wird vor allem auf die Entwicklung der Holocaust-Dramen in der Bundesrepublik eingegangen. Dies liegt darin begründet, dass die Bühnen der DDR vor allem dem Sozialismus als Staatsideologie dienen sollten und deshalb auch als Thema den aus Sicht der DDR natürlichen Antifaschismus des Sozialismus in den Vordergrund zu rücken hatten. Als Folge davon fanden sich auf den ostdeutschen Bühnen lange Zeit nur dementsprechende Themen (vgl. Simhandl 2007: 268–287). Da jedoch auch eines der in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte in der Uckermark aufgeführt wurde, wird auch auf die Entwicklung des Theaters in der DDR im Hinblick auf das Themenfeld ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ summarisch eingegangen.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_4
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Ästhetik der Bewältigung
Bewältigungsdramen in der unmittelbaren Nachkriegszeit Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Mehrheit der Deutschen völlig verunsichert. Denn nach dem Schock des Zweiten Weltkrieges stand nur das blanke Überleben und der Wiederaufbau des Landes im Lebensmittelpunkt. Vom Krieg traumatisiert und in zerstörten Städten lebend, mit Millionen wohnungsloser Flüchtlinge und Heimatvertriebener hatten die meisten Deutschen noch keine Kraft für eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den Verbrechen der Nationalsozialisten. Aus diesem Grund war wohl die unmittelbare Vergangenheitsbewältigung auf dem Theaterprogramm noch kein Thema. Um im täglichen Überlebenskampf zumindest in Ansätzen das Leben weiterführen zu können, das sie gewohnt waren, versuchten die Menschen, wo sie nur konnten, ihre bewährten Traditionen weiterzuführen. Im Theater hatten sie die Möglichkeit hierzu (vgl. Simhandl 2007: 260). Nachdem im September 1945 die Theater wiedereröffnet werden konnten, wurden – auch auf Drängen der Alliierten – überwiegend „risikolose ‚Klassiker‘“ (Niefanger 1997: 48) auf die deutschen Bühnen gebracht. Das von den Nationalsozialisten verbotene Toleranzdrama ‚Nathan der Weise‘ (1779) von Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schillers ‚Kabale und Liebe‘ (1784) und ‚Don Carlos‘ (1787) oder Johann Wolfgang von Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘ (1787) sind Beispiele hierfür (vgl. Simhandl 2007: 260 f.). Neben der Förderung von Klassikern unterstützen die Besatzungsmächte entsprechend ihrer politischen Differenzen auch unterschiedliche Theaterkonzeptionen. Die Sowjetunion setzte neben russischen Klassikern und zeitgenössischen sowjetischen Theaterstücken auf eine Ästhetik des sozialistischen Realismus. Die Westalliierten empfahlen dagegen eine zeitgenössische Dramatik, die dem deutschen Volk wieder demokratische und liberale Werten vermitteln und es wieder in den „geistig-moralischen Diskurs des Abendlandes“ (Simhandl 2007: 262) eingliedern sollte. Doch auch die deutsche Dramatik konnte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Fuß fassen. So fanden sich neben den Klassikern und den durch die Alliierten geförderten Theaterstücken auch sehr erfolgreiche zeitgenössische Stücke junger deutscher Dramatiker wie beispielsweise Günther Weisenborns ‚Die Illegalen‘ (1946), Carl Zuckmayers ‚Des Teufels General‘ (1946) oder Wolfgang Borcherts ‚Draußen vor der Tür‘ (1947) (vgl. Strümpel 2000: 36). Diesen Produktionen ist gemein, dass sie sich thematisch mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Dabei wird der Fokus jedoch nicht so sehr auf die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands gelegt, sondern situationsgemäß vielmehr die „Bewältigung der selbst erlittenen Schäden“ (Strümpel 2000: 36) in den Mittelpunkt gerückt. Dementsprechend fasst Andreas Huyssen diese Stücke unter dem Begriff der „Bewältigungsdramen“ (Huyssen 1976: 42) zusammen.
4.1 Ästhetik der Bewältigung
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‚Draußen vor der Tür‘ von Wolfgang Borchert Das Nachkriegsdrama ‚Draußen vor der Tür‘ von Wolfgang Borchert behandelt die Geschichte des deutschen Kriegsheimkehrers Beckmann. Der ehemalige Soldat der deutschen Wehrmacht, der drei Jahre in sibirischer Kriegsgefangenschaft verbringen musste, kehrt körperlich lädiert in seine Heimat Hamburg zurück und sucht seinen Platz in der Nachkriegsgesellschaft. Während seine Mitmenschen die Vergangenheit verdrängen konnten, versucht Beckmann Fragen nach Verantwortung und Moral zu beantworten. Hierzu sucht er verschiedene Personentypen, Gott und den Tod auf. Doch seine Fragen bleiben unbeantwortet und Beckmann kann sich nicht mehr in die Gesellschaft eingliedern (vgl. Borchert 1984). Mit Borcherts Heimkehrer-Drama konnten sich viele Zeitgenoss(inn)en identifizieren. Es spiegelt das Empfinden vieler Deutscher wider, sich auch selbst als Opfer zu sehen. Etwa weil sie während des Krieges selbst in Gefangenschaft gerieten oder weil sie als Kriegsheimkehrer mit der völligen Zerstörung ihrer unmittelbaren Umwelt zu kämpfen hatten und vor einer ungewissen Zukunft standen (vgl. Roth 2003: 36 f.). Auch Beckmann versucht sich im Drama nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft in Sibirien wieder in das alltägliche Leben seiner Heimat Hamburg einzugliedern, was ihm aber misslingt. Nirgends wird der graue, mit einer Gasmaskenbrille ‚maskierte‘ Sonderling Beckmann aufgenommen; er bleibt als vagabundierendes Relikt eines verlorenen Krieges, als wandelndes aber ‚unwandelbares‘ Zeichen einer unzumutbaren Vergangenheit letztendlich immer ‚draußen vor der Tür‘. Die Nachkriegsgesellschaft hat keinen Platz für überzählige Heimkehrer. (Niefanger 1997: 52)
In der dritten Szene des Stationendramas fordert Beckmann Rechenschaft für elf Gefallene. Er fühlt sich für den Tod der elf Soldaten mitverantwortlich, da ihm diese anvertraut wurden. Nun möchte er diese Verantwortung seinem ehemaligen Oberst zurückgeben. Aber im Dialog zwischen Beckmann und dem anonymen Oberst wird deutlich, dass für Letzteren der Begriff der Verantwortung nur eine Floskel ist. Der Oberst hat im Gegensatz zu Beckmann längst mit der Vergangenheit abgeschlossen (vgl. Borchert 1984: 20–28). Während sich Beckmanns Mitmenschen nach dem Zweiten Weltkrieg in der neuen Umwelt einzurichten versuchten, ist der Heimkehrer nicht in der Lage, die Kriegserlebnisse zu vergessen und neu anzufangen. Von der Gesellschaft erntet er dafür nur Spott und Unverständnis und bleibt von dieser schlussendlich ausgeschlossen (vgl. Niefanger 1997: 56). Das Drama weist viele Parallelen zu Borcherts Leben auf. Er war zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 18 Jahre alt und als der Krieg zu Ende ging, hatte er ein Alter von 24 Jahren erreicht. Während dieser Zeit hatte er ähnlich wie die Figur
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Beckmann mit Krankheit, Kriegs- und Hafterfahrungen zu kämpfen. Mit 20 Jahren kam er erstmals in ein Nürnberger Militärgefängnis. Er hatte in Briefen, die als staatsgefährdend eingestuft wurden, seine Meinung über Hitler und den Krieg niedergeschrieben. Zunächst zum Tode verurteilt, wurde er begnadigt und an die Ostfront geschickt, wo er jedoch wegen seiner Gesundheit als untauglich entlassen wurde. Da Borchert nicht davon ablassen konnte, Stellung zu beziehen, kam er mit 24 Jahren noch einmal für neun Monate ins Gefängnis. 1945 kehrte er in die Trümmer Hamburgs zurück. Durch den Krieg, die Gefangenschaft und die Hungersnot der Nachkriegsjahre gesundheitlich angeschlagen, blieben dem Schriftsteller nur zwei Jahre zum Schreiben. Die in diesem Zeitraum verfassten Texte drehten sich vor allem um Heimkehr und Heimatlosigkeit. 1947 starb der Dichter mit 26 Jahren (vgl. Böll 1984: 118–121; Borchert 1984: 2). Die vielfältigen Parallelen zwischen Borcherts Leben und seinen Werken machen den Schriftsteller „zur Symbolfigur der verlorenen Generation“ (Niefanger 1997: 51). Theater in der Deutschen Demokratischen Republik Mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 entwickelte sich das Bühnenwesen in zwei unterschiedliche Richtungen. In der DDR existierten im Vergleich zur Bevölkerungszahl weltweit die meisten Bühnen und Spielstätten. Dies lag an den niedrigen Eintrittspreisen, die das Theater für viele Schichten öffnete, sowie an der guten Organisierung der Kartenverteilung, durch die das Theater der breiten Masse zugänglich wurde. Diese staatliche „Fürsorge für das Theater“ (Simhandl 2007: 268) hatte einen bestimmten Zweck: Das Theater sollte den Aufbau des Sozialismus befördern und damit die Staatsideologie der DDR festigen (vgl. Simhandl 2007: 268). Zunächst duldeten die sowjetische Besatzungsmacht und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) noch die freie Entwicklung des Theaters. So konnte bis 1949 die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und Nationalsozialismus im Mittelpunkt der Theaterarbeit stehen (vgl. Lausberg 2015). Im Zuge der relativ liberalen Entwicklung bis 1949 siedelten auch viele angesehene Dichter in die Zone der sowjetischen Besatzungsmacht über. Darunter war auch Bertolt Brecht, der 1948 nach Ostberlin zurückkehrte (vgl. Simhandl 2007: 269 f.). Er baute zusammen mit seiner Frau das Berliner Ensemble auf und brachte eine neue Form des episch-dialektischen Theaters hervor. Nach dieser Konzeption identifiziert sich ein Schauspieler bzw. eine Schauspielerin nicht länger mit einer Figur, sondern tritt in Distanz zu dieser. Es existieren nur wenige zusammenhängende Schriften, die sein Verständnis eines epischen Theaters in Gänze umfassen. Nur durch die Rezeption
4.2 Ästhetik der Sentimentalisierung und Idealisierung
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seiner Essays, Arbeitsnotizen oder Erläuterungen konnten sich Theorien zu dieser Theaterform entwickeln (vgl. Lausberg 2015). Dennoch sollten sich an Brechts epischem Theater auch westdeutsche Holocaust-Dramen orientieren. Mit der Gründung der DDR ergab sich ein Richtungswechsel, mit dem die sozialistische Kulturpolitik im deutschen Teilstaat durchgesetzt werden sollte. Es sollte eine kommunistische Gesellschaft geschaffen und die Bürger(innen) im Sinne des Marxismus-Leninismus erzogen werden. Der Plan war, das Theater dabei zum „Partner der Politik“ (Simhandl 2007: 268) zu machen. Die Produzent(inn)en waren dazu aufgerufen, das Publikum über die Vorzüge des Sozialismus aufzuklären und gegen den „westlichen Nihilismus“ (Simhandl 2007:268) vorzugehen. Die offizielle Theaterform war der sozialistische Realismus, der sich durch eine Abkehr von ästhetischer Überformung und eine starke Nähe zur Realität auszeichnete. Im Vordergrund standen Themen wie das Arbeitsleben oder die alltäglich eingesetzte Technik der Menschen in der DDR. Die Stilrichtung wurde zur feststehenden Kunstform, die die Ideologie des Staates fördern sollte. Erst mit Amtsantritt Erich Honeckers 1971 wurde die moderne Ästhetik eine offiziell anerkannte Theaterform, die sich von bisher leitenden Themen immer mehr abwandte, abstrakte Elemente in ihre Produktionen einfließen ließ und als neues Motiv das Bestehen des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit in den Vordergrund stellte. Mit dem Ende der DDR endete in Ostdeutschland die staatliche Bevormundung des Theaters (vgl. Lausberg 2015).
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Ästhetik der Sentimentalisierung und Idealisierung
Amnestie und Philosemitismus in den 1950ern Ähnlich wie in der DDR änderte sich auch in der Bundesrepublik mit der Gründung des deutschen Teilstaates 1949 die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Während in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch die Entnazifizierungspolitik der Alliierten im Mittelpunkt stand, war die Revidierung dieser Politik eines der ersten Vorhaben des Deutschen Bundestages. In der ersten Legislaturperiode wurden verschiedene Gesetze erlassen, die Vergehen während der NS-Zeit amnestierten. So wurde beispielsweise ein Gesetz eingeführt, das alle Verbrechen vor dem 15. September 1949 amnestierte, die mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bzw. mit einem Jahr auf Bewährung bestraft worden waren. 1951 wurde das ‚Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen‘ erlassen, in dessen Folge mehrere Tausend ehemalige Gestapobeamte wieder ihren Staatsdienst aufnehmen durften. Drei Jahre
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
später folgte ein weiteres Straffreiheitsgesetz, das die meisten Verbrechen in der Endphase des Krieges amnestierte (vgl. Roth 2003: 36–38). Während mit der Gründung der Bundesrepublik die juristische Ahndung von NS-Verbrechen zurückging, begann sich in der Öffentlichkeit eine wohlwollende Haltung gegenüber dem Judentum auszubreiten. Im Gegensatz zum vorherrschenden Antizionismus in der DDR bekannten sich in Westdeutschland nur wenige Menschen einer antisemitischen Einstellung: „[A]ntisemitische Stereotype der Vergangenheit [wurden] radikal in philosemitische gewendet“ (Roth 2003: 40). Dementsprechend konnte sich Lessings Stück ‚Nathan der Weise‘ einer großen Beliebtheit erfreuen, da es mit Nathan einen idealisierten Juden in den Mittelpunkt seiner Handlung stellt. Aber auch zeitgenössische Theaterstücke, die zu einer Aufarbeitung des Nationalsozialismus beitragen wollten, fanden in den 1950er Jahren ihren Platz auf deutschen Bühnen. Ingeborg Drewitz’ ‚Alle Tore werden bewacht‘ (1951) und Hans Breinlingers ‚Konzert an der Memel‘ (1957) sind Beispiele hierfür. Allerdings konnten sich diese Stücke nicht durchsetzen, da sie nur selten zur Aufführung kamen. ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ von Frances Goodrich und Albert Hackett war eines der ersten Bühnenstücke, dass ein breites Publikum erreichte. 1956 war es erstmals auf deutschen Bühnen zu sehen (vgl. Roth 2003: 40–42). ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ von Frances Goodrich und Albert Hackett Das weltberühmte Tagebuch von Anne Frank war bereits 1955 als Taschenbuch erschienen, als es von den Amerikanern Frances Goodrich und Albert Hackett in eine dramatische Fassung übersetzt wurde (vgl. Goodrich et al. 1958). In der literarischen Vorlage schildert das dreizehnjährige jüdische Mädchen seinen Alltag, den es von Juli 1942 bis August 1944 zusammen mit seiner Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckt verbringen musste, um einer Deportation durch die Nationalsozialisten zu entgehen (vgl. Frank 2015). Nach dem Krieg veröffentlichte Annes Vater Otto Frank, der als einziger der Familie den Holocaust überlebt hatte, die Aufzeichnungen seiner Tochter. Hierfür bearbeitete und verkürzte er die im Tagebuch enthaltenen Hinweise auf die Konzentrationslager und den dort stattfindenden Massenmord. Für die Bühnenfassung wurden die bereits gekürzten Hinweise gänzlich entfernt und die Liebesgeschichte zwischen Anne und Peter, der sich ebenfalls mit seiner Familie im Hinterhaus versteckte, in den Vordergrund gerückt (vgl. Roth 2003: 41 f.). Das Stück fand sowohl beim Publikum als auch bei Kritikern großen Anklang. Ein Großteil dieses Erfolgs führt Gene Plunka darauf zurück, dass in der Bühnenfassung nicht die Verfolgung und Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten betont werden, sondern eine Alltagsgeschichte zum Thema gemacht wird, in der der Charakter und die Dimension des Genozids ausgeblendet werden (vgl. Plunka 2009:
4.2 Ästhetik der Sentimentalisierung und Idealisierung
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6 f.). Edward Isser ordnet solche Theaterstücke den „Ghetto- und Märtyrerdramen“ (vgl. Isser 1997: 23) zu. Diese Dramen spielen an Schauplätzen, die von den Vernichtungslagern räumlich weit entfernt sind. So spielt auch ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ im Hinterhaus, in dem sich Anne versteckt hielt: Ein großer Raum in der Mitte der Bühne, mit je einem kleineren Raum auf beiden Seiten und einer Bodenkammer darüber. […] Auf der linken Seite der Bühne führen drei Stufen zu dem kleinsten der vier Räume. In ihm stehen ein Feldbett, eine kleine Truhe, ein Stuhl. In der schrägen Wand befindet sich ein Dachfenster, hinter dem die Umrisse eines Baumes zu erkennen sind. Unmittelbar vor diesem Raum liegt ein kleiner steiler Treppenabgang mit fünf oder sechs Stufen, an deren Fuß sich eine Tür befindet. Diese Tür ist der einzige Zugang zu den Räumen des »Hinterhauses«. Wenn die Tür offensteht, sieht man, daß sie von außen durch ein hohes Bücherregal getarnt ist. Auf der rechten Seite der Bühne, eine Stufe erhöht, eine Tür zum »Badezimmer«, das unsichtbar bleibt. Davor befindet sich die Tür zum rechten Nebenraum, der ebenfalls eine Stufe höher liegt als der Hauptraum. […] Im Hintergrund der Bühne führt eine Treppe zur Dachkammer. (Goodrich et al. 1958: 7 f.)
Im Vergleich zu den Vernichtungslagern erlaubt dieser in den Regieanweisungen mehr oder weniger beschriebene ‚alltägliche‘ Schauplatz dem Publikum, sich mit der dargestellten Situation zu identifizieren und sich in sie einzufühlen (vgl. Isser 1997: 23). Auch Bruno Bettelheim sieht in dem Wunsch der Rezipient(inn)en, sich vorzustellen, „daß sogar im brutalsten totalitären System noch ein Privatleben und eine Intimsphäre erblühen können“ (Bettelheim 1982: 253), die positive Reaktion auf das Schauspiel begründet. In diesem Stück können die Zuschauer(innen) miterleben, wie es Anne und ihrer Familie gelingt, ihren gewohnten Alltag trotz schwierigster Verhältnisse weiterzuleben. Vor allem das Ende der Bühnenfassung macht Bettelheim für den weltweiten Erfolg des Stückes verantwortlich: Nachdem Otto Frank berichtet hat, wie seine Familie und die restlichen im Hinterhaus versteckten Menschen ermordet wurden, greift er zum Tagebuch seiner Tochter und zitiert ihre Worte: „Trotz allem glaube ich noch an das Gute im Menschen“ (Goodrich et al. 1958: 149). Diese Worte hat Anne zwar tatsächlich in ihr Tagebuch geschrieben, allerdings gibt Bettelheim zu bedenken: [S]ich vorzustellen, daß sie von einer Anne Frank stammen könnten, deren Mutter in Auschwitz umgebracht wurde, während sie selbst und ihre Schwester die Ermordung Tausender Erwachsener und Kinder erlebten, bis sie selbst kurz vor Kriegsende in Bergen-Belsen dem Hunger zum Opfer fielen, diese Vorstellung ist nicht möglich. (Bettelheim 1982: 257)
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Für Bettelheim suggeriert das Zitat, dass selbst die Menschen, die Anne und ihre Familie verfolgten und ermordeten „in ihrem tiefsten Inneren gut“ (Bettelheim 1982: 257) sind. Auch erweckt die Positionierung von Annes Worten am Schluss des Schauspiels den Eindruck, dass Anne überlebt hat. Eine Auseinandersetzung mit dem Genozid scheint somit nicht weiter nötig, da im Stück eine Familie gezeigt wird, die abgeschieden des Terrors ihr ruhiges Familienleben weiterführen konnte. Doch in der Realität wurde Annes Familie wie sie selbst ermordet. Nur der Vater überlebte den Holocaust (vgl. Bettelheim 1982: 257). Auch Plunka greift diesen Gedanken auf: Annes Appell an die Güte der Menschheit sentimentalisiert den Holocaust als Geschichte der Vergebung und lässt Anne wie eine Märtyrerin klingen, die die Botschaft der christlichen Liebe für alle Unterdrückten überbringt. Im Theaterstück findet das Publikum wenig, was seine psychologische oder emotionale Sicherheit gefährden könnte. Niemand stirbt und die Bewohner des Hinterhauses erfahren nur minimales Leid. Für den Massenkonsum bietet dieses Stück somit „an acceptable sugarcoated view of the Holocaust“ (Plunka 2009: 7). Holocaustüberlebende betrachten das Stück dagegen als „sentimental claptrap“ (zit. nach Plunka 2009: 7). ‚Korczak und die Kinder‘ von Erwin Sylvanus Mit Erwin Sylvanus’ Theaterstück ‚Korczak und die Kinder‘ (1957) tritt für Markus Roth ein „Wendepunkt“ (Roth 2003: 44) in der theatralen Verarbeitung des Holocaust und Nationalsozialismus ein. Im Gegensatz zu Theaterstücken wie ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ möchte der Schriftsteller die Juden auf der Bühne nicht idealisieren. Er möchte den Völkermord nicht sentimentalisiert dargestellt wissen, um ihn einer breiten Masse zugänglich und damit für kommerzielle Zwecke nutzbar zu machen. Vielmehr strebt er mit seinem Werk danach, die damalige Tendenz der deutschen Gesellschaft, die eigene NS-Vergangenheit zu verdrängen, aufzudecken und zu kritisieren (vgl. Roth 2003: 44–47). Das Drama basiert auf einer wahren Begebenheit. Es handelt von dem polnischen Arzt, Schriftsteller und Pädagogen Janusz Korczak, der während des Zweiten Weltkrieges im Warschauer Ghetto ein Waisenhaus führte. Er soll für einen reibungslosen Ablauf der Deportation seiner Waisenkinder in das Vernichtungslager Majdanek sorgen, wofür ihm im Gegenzug zugesagt wird, vor der eigenen Deportation bewahrt zu werden. Der Protagonist lehnt jedoch das Angebot ab, woraufhin er am 5. August 1942 zusammen mit den Waisen verhaftet wird. Er sorgt dafür, dass die Kinder gewaschen und ordentlich bekleidet sind und ohne zu weinen in die Güterwagen steigen. Das wahre Ziel der Reise verheimlicht er ihnen und bedient sich hierzu einer Notlüge. In Majdanek begleitet er die Kinder in den Tod (vgl. Sylvanus 1959).
4.2 Ästhetik der Sentimentalisierung und Idealisierung
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Das Stück ist als Spiel-im-Spiel angelegt. Das Publikum wohnt vermeintlich nicht einer Theateraufführung, sondern lediglich einer Probe bei. Es existiert nur ein spärliches Bühnenbild, die Schauspieler(innen) tragen keine besonderen Kostüme und haben keine festen Rollen. Das Stück wird scheinbar lustlos geprobt, da die Darsteller(innen) von diesem nicht wirklich überzeugt sind. So werden die ‚Proben‘ immer wieder unterbrochen, um die idealisierte Darstellung der Juden auf der Bühne zu kritisieren (vgl. Roth 2003: 45). Beispielsweise erzählt der Darsteller, der Doktor Korczak spielt, an einer Stelle des Dramas die Geschichte von einer kleinen vergoldeten Uhr, die Korczaks verstorbenen Vater gehörte: Die Mutter musste die Uhr versetzen, um Essen heranzuschaffen. Als sie das Geld wieder zusammenhatten, sodass sie die Uhr hätten zurückkaufen können, war diese bereits weg. Der Protagonist sucht daraufhin den Rabbi auf, der ihm den Verlust ersetzen und seine Uhr schenken will. Als der junge Korczak die Uhr nicht annehmen möchte, wird der Rabbi wütend und verweist ihn des Raumes (vgl. Sylvanus 1959: 12– 14). Die Schauspieler(innen) verstehen diese Reaktion des Rabbis nicht, doch der Schauspieler alias Korczak meint den Sinn in diesem Handeln zu erkennen: Es mag sein, daß nur ein Jude das Wesentliche dieses Vorfalls erkennt. Ich sage das ohne Überheblichkeit. Es mag sein. Der Rabbi sah einzig die Wahrheit. Wegen der Uhr war ich gekommen. Aber ich saß nun vor dem Gesetz. Ich hatte wieder eine goldene Uhr. Die Uhr meines Vaters war sie nicht – und doch war sie die Uhr meines Vaters. Die Uhr war nicht gering. Sie war die Uhr des Rabbi, der als ein frommer Mann des Gesetzes galt. Er liebte sie gewiß ein wenig. Auch ein Jude liebt ja die Dinge. In dieser Stunde mußte er sich von der Uhr trennen. Er besieht sich noch einmal die Uhr. Sonst hätte er gelogen. Sonst hätte er mich belogen. Wer Gott weiß, lügt nicht. Und er war zornig, weil ich ihn der Lüge zieh. Deshalb mußte er zornig sein. (Sylvanus 1959: 14)
Als der Darsteller daraufhin noch äußert, dass er dem Rabbi nacheifern möchte, indem er über menschliche Schwächen nicht wütend werden wolle, wohl aber, wenn ihn jemand als Lügner bezeichne, erwidert ein anderer Schauspieler: „Das Stück ist mir zu edel. Ich kenne meinen Kollegen … ja nicht wieder. Er redet, als habe er höchstselbst die Wahrheit erfunden“ (Sylvanus 1959: 14). Neben der Idealisierung der Juden wird in den Diskussionen der Schauspieler(innen) auch die bisherige Tendenz, den Holocaust zu sentimentalisieren und zu kommerzialisieren, kritisiert. Als die Darsteller(innen) von dem Inhalt des Stücks erfahren, sind sie von diesem wenig begeistert: SPRECHER. Als Sie noch draußen waren, habe ich bereits gesagt, worum es geht. Um Janusz Korczak geht es, um einen Juden, von dem es heißt, daß er nie gelogen hat. ZWEITER SCHAUSPIELER. Ein Tendenzstück also!
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
SCHAUSPIELERIN. Wahrscheinlich darf nicht einmal geklatscht werden. Vor lauter Getragenheit dürfen wird nicht agieren. ERSTER SCHAUSPIELER. Tränen für die Juden – das ist heute modern. SCHAUSPIELERIN: Und ein Geschäft. (Sylvanus 1959: 10)
Die Darsteller(innen) sprechen sich gegen den kommerziellen Erfolg und die getragene Rezeption von Stücken wie ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ aus, auf die mitunter „minutenlanges Schweigen“ (Loewy 1998: 31) folgte und deren Aufführungen „den Charakter von Gedenkveranstaltungen“ (Loewy 1998: 31) annahmen. Entgegen der Idealisierung der Juden und der Sentimentalisierung des Holocaust möchte Sylvanus mit seinem Werk die Geschichte des Doktors, der für seine Waisenkinder in den Tod ging, möglichst realitätsgetreu nacherzählen. So hat der Dramatiker in seiner Bühnenadaption die geschichtlichen Ereignisse um den Protagonisten im Wesentlichen beibehalten. Die wenigen Abweichungen, die Sylvanus im Stück vorgenommen hat, lassen sich mitunter mit dem in den 1950er Jahren vorherrschenden Philosemitismus erklären (vgl. Roth 2003: 47). So wirkt beispielsweise Korczaks tiefer religiöser Glaube im Stück etwas übertrieben und die Kinder finden ihren Tod nicht im Vernichtungslager Majdanek, sondern in Treblinka. Eine weitere leichte Abweichung von der Realität besteht auch darin, dass der historische Korczak das Eiserne Kreuz nicht erhalten hat. Dieses wird lediglich in das Stück eingeführt, um darauf hinzuweisen, dass Korczak, der während des Ersten Weltkrieges in der russischen Armee gedient hatte, nicht besonders stolz auf eine Auszeichnung ist, die ihm von „such a barbaric nation“ (Plunka 2009: 227) verliehen worden ist. Doch diese Abweichung in einzelnen Teilen spielen für die Intention des Stückes keine große Rolle. Denn die Geschichte des Doktors dient nur als Folie, um den Zuschauer(inne)n den Hang zur Verdrängung der eigenen Vergangenheit vor Augen zu führen. Erreicht wird dies im Stück beispielsweise dadurch, dass das Publikum von den Schauspieler(inne)n immer wieder direkt angesprochen wird (vgl. Roth 2003: 44 f.): SPRECHER. […] in dem Stück, das wir spielen, ist Krieg. […] Sie erschrecken und denken an ihr Eintrittsgeld. Noch können Sie aufstehen und diesen Raum verlassen. Noch geht es Sie nichts an, was wir hier darstellen werden. Blickt intensiv in den Zuschauerraum. […] Noch können Sie gehen. Niemand hat Sie gezwungen, hierherzukommen. Niemand zwingt Sie, zu bleiben. Was kümmert es Sie, was 1940 und 1942 geschah? Zudem in Polen, und das liegt weit weg. Blickt einzelne Zuschauer an. (Sylvanus 1959: 8)
4.2 Ästhetik der Sentimentalisierung und Idealisierung
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Auch die typischen Phrasen, mit denen die eigene nationalsozialistische Vergangenheit gerechtfertigt wird, werden von den Darsteller(inne)n zum Thema gemacht (vgl. Roth 2003: 46). So ist beispielsweise der Schauspieler, der die Rolle des Leiter eines SS-Einsatzkommandos übernehmen soll, nicht gerade begeistert von seinem Part: „Ich will nicht zum Teufel gemacht werden“ (Sylvanus 1959: 16). In diesem Zusammenhang macht sich der Darsteller Luft über seine eigene Vergangenheit: Wie sah es denn vor der Machtergreifung aus, he? Erinnern Sie sich nur an die langen Arbeitslosenschlangen in den Städten, an den Hunger und an all das Elend, an diese unverantwortlichen, entsetzlichen Folgen des Versailler Diktates. Davon spricht heute niemand mehr. Ich wuchs damals auf und niemand konnte mir sagen, was ich einmal werden sollte. […] Mein Vater war kein Nazi, aber ich – du liebe Güte, welche Chance hatte ich schon? Ich bin zu ihnen gegangen: mein Freund war dabei – vielleicht auch wegen der schönen Uniform. Ich war plötzlich etwas, ich konnte befehlen und hatte eine Aufgabe. […] Das Leben wurde schön. Ich hatte keine Sorgen mehr. Ich hatte meinen Dienst und meine Familie. Alles war wunderbar geordnet. Ich hatte mich um nichts anderes zu kümmern als um meinen Dienst und um meine Familie. Den Kameraden ging es wie mir. Es ging uns gut. (Sylvanus 1959: 17)
Neben der Vorführung üblicher Rechtfertigungen oder der direkten Ansprache des Publikums wird im Drama auch immer wieder das Lügen zum Thema gemacht. Korczak muss sich einer Notlüge bedienen, damit ihn die Kinder ohne Angst begleiten. Als ein Schauspieler daraufhin fragt, ob es sich um ein Stück über Lügen handelt, gibt der Erzähler zu, dass es sich um ein Stück „[ü]ber die Lüge in unserer Zeit“ (Sylvanus 1959: 34) handelt. Damit weist er auf die damalige Verdrängungstendenz der deutschen Gesellschaft hin, die eigene nationalsozialistische Vergangenheit aus dem Gedächtnis zu löschen (vgl. Roth 2003: 44). Auch wenn Sylvanus’ Drama noch nicht ganz ohne die Idealisierung der Juden auskommt, nähert es sich bereits dem dokumentarischen Theater an, das in den 1960er Jahren eine Blütezeit erleben sollte (vgl. Roth 2003: 47). So betonen bereits die Eingangsworte zum Stück dessen historische Authentizität: „Der Verfasser hat dieses Stück nicht erfunden. Er hat es nur aufgeschrieben“ (Sylvanus 1959: 5). Im Dokumentartheater der 1960er Jahre wird der Fokus noch stärker auf die Betonung des Authentischen gelegt werden.
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4.3
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Ästhetik des dokumentarischen Realismus
Verstärkte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den 1960ern Während in den 1950er Jahren noch wenig für die juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Zeit getan wurde, sollte sich dies Ende der 1950er bzw. Anfang der 1960er ändern. Befördert durch die ausbleibende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurde die Thematik in Spielfilmen wie ‚Rosen für den Staatsanwalt‘ (1959) und ‚Kirmes‘ (1960) von Wolfgang Staudte oder in dem Dokumentarfilm ‚Mein Kampf‘ (1960) von Erwin Leiser verarbeitet. Auch erschienen zu dieser Zeit Rudolf Höß’ autobiographische Aufzeichnungen sowie Primo Levis Erinnerungen ‚Ist das ein Mensch¿, die die Vergangenheit wieder in Erinnerung rief. Vor allem der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958, die einsetzende Welle antisemitischer Schmierereien ein Jahr später sowie der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem sollten in dem Prozess der Zuwendung zur nationalsozialistischen Vergangenheit zu wichtigen Ankerpunkten werden und infolgedessen auch die Theaterarbeit maßgeblich beeinflussen (vgl. Roth 2003: 48–50). Im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958 standen der ehemalige SS-Offizier Bernhard Fischer-Schweder sowie neun weitere Angehörige des Einsatzkommandos Tilsit vor Gericht, die 1941 über 5.000 Juden im litauisch-deutschen Grenzgebiet ermordet hatten. Dass das Verbrechen überhaupt vor Gericht verhandelt wurde, war jedoch keine Selbstverständlichkeit und geschah „nahezu zufällig“ (Roth 2003: 49). So konnte Fischer-Schweder nach dem Krieg noch unbehelligt unter falschem Namen das Flüchtlingslager Ulm-Wilhelmsburg leiten. Nachdem jedoch seine Identität bekannt geworden war, wurde er entlassen. Als er daraufhin gegen das Land Baden-Württemberg auf Wiedereinstellung klagte, wurde seine Beteiligung an den Morden einer breiten Öffentlichkeit bekannt. 1956 wurde Fischer-Schweder zwar verhaftet und zwei Jahre später durch das Schwurgericht Ulm zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, jedoch führte dieses Gerichtsverfahren der Gesellschaft deutlich vor Augen, dass viele der NS-Verbrechen bisher weder bekannt noch juristisch verfolgt wurden (vgl. Roth 2003: 49). Das Vorkommnis, das auch die Politik zum Handeln zwang, trug sich um Weihnachten im darauffolgenden Jahr 1959 zu. Bereits das gesamte Jahr hindurch waren an Synagogen und auf jüdischen Friedhöfen antisemitische Schmierereien angebracht worden. Als sich jedoch ein derartiger Vorfall am Heiligabend an der Kölner Synagoge ereignete, wurde die Bundesrepublik durch außenpolitischen Druck zum Handeln gezwungen. Es kam zu schärferen juristischen Sanktionen und in der Schule sowie darüber hinaus wurde verstärkt Aufklärungsarbeit zum Thema ‚Rechtsextremismus‘ geleistet. In Literatur und Film erschienen vermehrt Dokumentationen über die deutsche NS-Vergangenheit und es wurde erneut die
4.3 Ästhetik des dokumentarischen Realismus
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Kritik laut, dass die politische, wirtschaftliche und juristische Elite des ehemaligen NS-Staates in großen Teilen nicht ausgetauscht worden war. Auch die DDR lenkte in diesem Zusammenhang ihr Augenmerk auf Personen in Führungspositionen. Vor allem die Vergangenheit Hans Globkes, dem Staatssekretär Konrad Adenauers, sowie der ehemalige Bundespräsident Heinrich Lübke wurden genauer unter die Lupe genommen. Ersterer war vor 1945 im Reichsinnenministerium tätig gewesen und hatte den Kommentar zu den ‚Nürnberger Gesetzen‘ verfasst, während Letzterer die Baupläne für Konzentrationslager gezeichnet haben soll. Globke wurde daraufhin vor dem Obersten Gericht der DDR zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt (vgl. Roth 2003: 50 f.). Das Medienereignis aber, das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und Nationalsozialismus weiter antreiben sollte, war das Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann. Vom 11. April bis 15. Dezember 1961 wurde dem ehemaligen deutschen SS-Obersturmbannführer in Jerusalem ein öffentlicher Prozess gemacht, in dessen Verlauf Eichmann für den millionenfachen Mord an Juden zum Tode verurteilt wurde. Hannah Arendt nahm am Prozess von April bis Juni 1961 als Reporterin der Zeitschrift ‚The New Yorker‘ teil und veröffentlichte ihren Bericht zwei Jahre später zunächst in einer Serie der Zeitschrift sowie daran anschließend in Buchform. 1964 erschien die deutschsprachige Übersetzung des Buches ‚Eichmann in Jerusalem‘ mit dem Untertitel ‚Ein Bericht von der Banalität des Bösen‘ (vgl. Arendt 1964). Mit der ‚Banalität des Bösen‘ schätzt Arendt die Person Eichmanns ein, der das prototypische Bild einer nationalsozialistischen Persönlichkeit verkörpert. Denn Eichmann plädierte im Prozess auf „nicht schuldig im Sinne der Anklage“ (zit. nach Plunka 2009: 21), da er sich zwar vor Gott, jedoch nicht nach dem deutschen Recht für schuldig befand. Seiner Ansicht nach befolgte er lediglich die Gesetze des Landes, ging wie unzählige andere Deutsche gewissenhaft und effektiv seinen bürokratischen Tätigkeiten nach und tat, was ihm befohlen worden war. Die Gefangennahme Eichmanns und Arendts Bericht über seinen Prozess lösten weltweit eine Welle an verschiedensten Verarbeitungen der Thematik aus. So erschien beispielsweise in dem Jahr, in dem Arendt ihren Bericht im New Yorker veröffentlichte, auf den deutschen Bühnen ein Theaterstück eines jungen und noch unbekannten deutschen Künstlers: ‚Der Stellvertreter‘ (vgl. Plunka 2009: 8 f., 20 f.). Rolf Hochhuths Theaterstück ‚Der Stellvertreter‘ wurde erstmals 1963 in Deutschland aufgeführt und sollte weltweit für großes Aufsehen und viel Kritik sorgen. Zusammen mit Ereignissen wie dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess oder dem Gerichtsverfahren gegen Eichmann sollte das Drama jedoch einen Wandel im Umgang mit dem Holocaust und Nationalsozialismus herbeiführen und das
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Schweigen über diesen Teil der deutschen Geschichte brechen (vgl. Novick 2001: 194). ‚Der Stellvertreter‘ von Rolf Hochhuth Während es in den 1950er Jahren noch kein Dramatiker wagte, ein Vernichtungslager auf der Bühne nachzustellen, änderte sich dies ab den 1960er Jahren (vgl. Isser 1997: 25). Rolf Hochhuth unternahm als einer der Ersten den Versuch, den Massenmord direkt auf der Bühne abzubilden, womit sein Stück dem Typus der „Todeslager-Dramen“ (vgl. Isser 1997: 24) zugeordnet werden kann. Das Schauspiel thematisiert die Versuche des fiktiven Jesuitenpaters Riccardo Fontana, die römisch-katholische Kirche über die Vernichtung der Juden in den Konzentrationslagern zu informieren. Doch sein Appell, den Papst zu einem Protest gegen die Vernichtung der europäischen Juden zu bewegen, bleibt erfolglos. Daraufhin heftet sich Riccardo den gelben Judenstern an und nimmt als Stellvertreter des Papstes freiwillig das Schicksal der Juden in Auschwitz auf sich, wo er schließlich ermordet wird (vgl. Hochhuth 1968: 13–224). Hochhuths Werk ist höchst umstritten. Nicht nur die Darstellung des katholischen Oberhauptes wurde scharf kritisiert. Neben sprachlichen Unzulänglichkeiten und klischeehaft dargestellten Figuren wird vor allem der Versuch, Auschwitz im letzten Akt abbilden zu wollen, als höchst problematisch eingestuft (vgl. Roth 2003: 53–56). Dieser Akt setzt neben einem Auszug aus den autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolf Höß mit den Überlegungen Hochhuths ein, wie der Holocaust auf der Bühne theatral umgesetzt werden kann. Zwar wendet sich der Dramatiker in diesen einleitenden Worten zunächst von einer Ästhetik des Theaterrealismus ab und ist der Ansicht, dass der Holocaust auf der Bühne nicht darstellbar ist (vgl. Hochhuth 1968: 176). Aber schon einen Absatz weiter widerspricht sich der Autor selbst: Denn so groß auch die Suggestion ist, die von Wort und Klang ausgeht, Metaphern verstecken nun einmal den höllischen Zynismus dieser Realität, die in sich ja schon maßlos übersteigerte Wirklichkeit ist – so sehr, daß der Eindruck des Unwirklichen, der von ihr ausgeht, schon heute, fünfzehn Jahre nach den Ereignissen, unserer ohnehin starken Neigung entgegenkommt, diese Realität als Legende, als apokalyptisches Märchen unglaubhaft zu finden, eine Gefahr, die durch Verfremdungseffekte noch verstärkt wird. (Hochhuth 1968: 177)
Auch in der daran anschließenden ersten Szene ist von Hochhuths ablehnender Haltung gegenüber dem dokumentarischen Realismus nichts mehr zu spüren. So findet sich nach dieser ersten Szene folgende Regieanweisung:
4.3 Ästhetik des dokumentarischen Realismus
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Nach dem letzten Monolog starke Rangiergeräusche, der Zug hält, und jetzt, mit dem Öffnen der Schiebetüren, beginnt das durch verschiedene Chroniken berühmt gewordene „Geschrei“, mit dem die Kapos die Züge ausladen mußten: Sehr naturalistisch wiederzugebende, sich oft wiederholende Befehle wie „’raus da, los, los“ „Gepäck bleibt hier“ „Schneller, schneller“ „Kranke zurückbleiben“ „Zurückbleiben“ „’raus da, beeil dich, Mensch“ Kinderweinen. Eine Frau schreit: „Rachele – Rachele – wo bist du – Rachele.“ Dazwischen Hundegebell, Trillerpfeifen – und das Dampfablassen der Lokomotive. Die aufgescheuchten Menschen werden von den Kapos sehr schnell und brutal aus dem imaginären Waggon herausgeholt und verschwinden im Dunkel der Bühne. Stille. (Hochhuth 1968: 180)
Derartige Regieanweisungen überstrecken sich teilweise über mehrere Seiten (vgl. Hochhuth 1968: 180–183) und sind schlichtweg nicht umsetzbar. Trotzdem beschreibt Roth Hochhuths Drama als „bedeutendes Stück“ (Roth 2003: 59). Denn durch die daraus resultierenden Debatten um die Darstellbarkeit des Holocaust rief es die nationalsozialistische Vergangenheit wieder in das Gedächtnis der Menschen und löste ein Umdenken in der Aufarbeitung des Holocaust aus. Neues Interesse an der Verurteilung nationalsozialistischer Verbrechen Die großen KZ-Prozesse Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre setzten einen Schlusspunkt hinter die Flucht vor der eigenen Geschichte und ließen in Westdeutschland ein neues Interesse an der juristischen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen entstehen. Das bekannteste und größte Gerichtsverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte ist die ‚Strafsache gegen Mulka und andere‘ oder besser bekannt als die sog. ‚Auschwitz-Prozesse‘, die vom 20. Dezember 1963 bis zum 19. August 1965 in Frankfurt stattfanden (vgl. Plunka 2009: 8 f.). Der Strafprozess, in dem 22 Angehörige der SS-Wachmannschaften von Auschwitz angeklagt wurden, umfasste eine Zeitspanne von 20 Monaten. In dieser Zeit sagten 359 Zeitzeug(inn)en aus, darunter auch 248 Auschwitzüberlebende. Mit ihrer Hilfe und weiteren Gutachten konnte das System des Konzentrationslagers und die dort verübten Verbrechen möglichst genau rekonstruiert werden. Den Prozess begleiteten um
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
die 20.000 Menschen direkt vor Ort. Zudem gab es zu dem Verfahren eine ausführliche Berichterstattung, sodass dieser eine große Öffentlichkeitswirkung erreichte (vgl. Roth 2003: 60). Auch das Theater der 1960er Jahre wurde von den Frankfurter Prozessen beeinflusst. Es entstand eine neue Art von Holocaust-Drama: das Dokumentartheater. Dokumentartheater Das Dokumentartheater entstand aus der Auffassung heraus, dass verschiedene Themen der Realität nicht in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit erfasst werden könnten, würde man versuchen, sie mit fiktiven Figuren oder einer erfundenen Handlung theatral zu verarbeiten. Dementsprechend ist ein Höhepunkt des dokumentarischen Theaters in den 1960er Jahren auszumachen, als die Aufklärung über die eigene nationalsozialistische Vergangenheit als äußerst wichtig angesehen wurde (vgl. Barton 1987: 1 f.). Peter Weiss legt in seinen ‚Notizen zum dokumentarischen Theater‘ (vgl. Weiss 1971: 91–104) dar, was diese Theaterform ausmacht und worin ihre Funktion besteht. Demnach kann dieses als „ein Theater der Berichterstattung“ (Weiss 1971: 91) verstanden werden: Das dokumentarische Theater enthält sich jeder Erfindung, es übernimmt authentisches Material und gibt dies, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, von der Bühne aus wieder. (Weiss 1971: 91 f.)
Unter ‚authentischem Material‘ versteht Weiss verschiedene Dokumente wie Protokolle, Akten, Interviews, statistische Tabellen, Fotos, Regierungserklärungen oder Briefe, aus denen Informationen für die zu bearbeitende Thematik entnommen werden können (vgl. Weiss 1971: 91). Die gesammelten Fakten müssen jedoch nicht eins zu eins übernommen werden, sondern können sprachlich bearbeitet werden. So kann beispielsweise „das Typische hervorgehoben“ (Weiss 1971: 101) oder „Situationen drastisch vereinfacht“ (Weiss 1971: 101) werden. Auch kann in das Material eine Reflexion oder ein Rückblick eingeschoben werden, um den Rezipient(inn)en die Thematik besser verständlich zu machen bzw. um auf einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit hinzuweisen (vgl. Weiss 1971: 102). Im Zuge dessen stellt sich jedoch die Frage, inwieweit ein Dokument als ‚authentisch‘ gelten kann, wenn dieses sogar so weit bearbeitet wird, dass die eigentliche Aussage nicht mehr erkennbar ist. Hierbei ist zu beachten, dass Weiss die Theaterform nicht dazu nutzen will, um ein Ereignis möglichst exakt nachzustellen. Vielmehr möchte er auf der Bühne eine „kritische Neubeurteilung aus der Gegenwartsperspektive“ (Barton 1987: 4) herbeiführen. Durch das neu zusammengesetzte
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Material kann der Autor bzw. die Autorin beispielsweise die facettenreichen Ursachen und Folgen eines Phänomens oder Zusammenhänge zwischen einzelnen Ereignissen herausarbeiten und so einen Sachverhalt aus einem bestimmten Blickwinkel heraus betrachten (vgl. Barton 1987: 4). Damit wird im Dokumentartheater „nicht mehr augenblickliche Wirklichkeit [gezeigt], sondern das Abbild von einem Stück Wirklichkeit, herausgerissen aus der lebendigen Kontinuität“ (Weiss 1971: 95). Für Weiss kann diese Theaterform so eine Plattform für politische Fragestellungen bieten. Mit der Arbeitsweise des Dokumentartheaters ist es beispielsweise möglich, die Zuschauer(innen) auf ein Problem aufmerksam zu machen und darauf aufbauend eine Lösung oder einen Appell zu formulieren (vgl. Weiss 1971: 97). Dramen, die dieser Kunstform zugeordnet werden können, sind beispielsweise Peter Weiss’ ‚Die Ermittlung‘ (1965) oder Heinar Kipphardts ‚Joel Brand‘ (1965) bzw. das von ihm verfasste Stück ‚Bruder Eichmann‘ (1983) (vgl. Plunka 2009: 9). ‚Die Ermittlung‘ von Peter Weiss Peter Weiss’ Theaterstück ‚Die Ermittlung‘ (1965) basiert auf den Prozessaussagen der Angeklagten sowie der Holocaustüberlebenden, die im Frankfurter AusschwitzProzess als Zeug(inn)en zu Wort kamen. Der Dramatiker war bei diesem Verfahren selbst als Zuschauer im Gerichtssaal anwesend. Bei der Verfassung seines Theaterstücks stützte er sich neben den Ausführungen Bernd Naumanns, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen detaillierten Bericht des Prozesses veröffentlichte, auch auf seine eigenen Beobachtungen während des Strafprozesses (vgl. Roth 2003: 61). In den einleitenden Anmerkungen zu seinem Stück bemerkt Weiss: „Dieses Konzentrat soll nichts anderes enthalten als Fakten, wie sie bei der Gerichtsverhandlung zur Sprache kamen“ (Weiss 1991: 9). Im Stück treten die Angeklagten alle namentlich auf, die über 300 Zeugen werden dagegen auf neun reduziert und tragen lediglich eine Nummer. Weiss begründet dies wie folgt: Indem die Zeugen im Drama ihre Namen verlieren, werden sie zu bloßen Sprachrohren. Die 9 Zeugen referieren nur, was hunderte ausdrückten. […] Die 18 Angeklagten dagegen stellen jeder eine bestimmte Figur dar. Sie tragen Namen, die aus dem wirklichen Prozeß übernommen sind. Daß sie ihre eigenen Namen haben ist bedeutungsvoll, da sie ja auch während der Zeit, die zur Verhandlung steht, ihre Namen trugen, während die Häftlinge ihre Namen verloren hatten. (Weiss 1991: 9)
Im Stück wurden somit die vielfältigen Aussagen, die während des Prozesses geäußert wurden, in neun Zeug(inn)en konzentriert. Die Zeugen 1 und 2 repräsentieren diejenigen Menschen, die im ‚Dritten Reich‘ auf der Seite der Lagerverwaltung standen. Hierzu gehören beispielsweise die Fahrer, die die Häftlinge in LKWs zu den
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Gaskammern brachten (vgl. Gesang 5, 10 und 11). Die anderen sieben Zeug(inn)en repräsentieren dagegen die Gruppe der überlebenden Häftlinge, wobei die Zeugen 4 und 5 die einzigen weiblichen Zeuginnen sind. Zeuge 3 stellt hierbei eine Ausnahme dar, denn seine Aussagen entstammen nicht dem Prozess, sondern erläutern die Funktionsweise des Lagers (vgl. Roth 2003: 65). Die Tötungsvorgänge werden in Form eines ‚Oratoriums in 11 Gesängen‘ reproduziert. Der erste Gesang beginnt mit der Ankunft der Transporte auf der Rampe. Die Gesänge 2 bis 10 thematisieren weitere Leidensstationen, bis schließlich der 11. Gesang die ‚Feueröfen‘ zum Gegenstand hat (vgl. Weiss 1991). In diesem letzten Gesang zählt der Zeuge 3 die Zahl der Verschwundenen, Verfolgten und Ermordeten während des Holocaust auf, woraufhin die Gegenseite entschieden einwendet, dass sie nichts von den Vernichtungsaktionen gewusst und nichts damit zu tun gehabt hätte (vgl. Weiss 1991: 195–198). Das Drama endet mit den Worten des Angeklagten Mulka: Heute da unsere Nation sich wieder zu einer führenden Stellung emporgearbeitet hat sollten wir uns mit anderen Dingen befassen als mit Vorwürfen die längst als verjährt angesehen werden müßten Laute Zustimmung von seiten der Angeklagten (Weiss 1991: 198 f.)
Der Schluss des Dramas verdeutlicht die generell in der deutschen Gesellschaft vorherrschende Tendenz, die Zeit des Nationalsozialismus verdrängen zu wollen. Intendiertes Ziel des Stücks war daher die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit (vgl. Roth 2003: 72). Bereits der nüchterne Titel ‚Die Ermittlung‘ verweist darauf, dass im Theaterstück der Versuch unternommen wurde, die NS-Vergangenheit möglichst authentisch und wirklichkeitsnah zu rekonstruieren. Auschwitz sollte nicht nur emotional angeprangert werden, sondern das Publikum sollte durch die Bühnenfassung die Fakten des Genozids kennenlernen und mit diesem Wissen auf mögliche Ursachen des Holocaust schließen können (vgl. Young 1992: 111). Das Drama ist somit „nicht symbolisch, metaphorisch oder parabolisch zu verstehen“ (Strümpel 2000: 39). Vielmehr werden im Stück nüchtern die Abläufe in Auschwitz beschrieben.
4.3 Ästhetik des dokumentarischen Realismus
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Trotz der Beschränkung auf Rationales wird Weiss immer wieder Objektivität aberkannt. James Edward Young kritisiert, dass Weiss’ Absichten „über das rein Dokumentarische entschieden hinausgehen“ (Young 1992: 118) und er damit seinem Konzept widerspricht, das er in seinen ‚Notizen zum dokumentarischen Theater‘ formuliert hat. Young weist hier auf Weiss’ einleitende Anmerkungen im Stück hin: In diesen werden die Zeugen als „Sprachrohre“ (Weiss 1991: 9) bezeichnet, die lediglich die Prozessaussagen während der Gerichtsverhandlung wiedergeben sollen. Doch Weiss’ Aussage, dass das Stück „nichts anderes enthalte[ ] als Fakten“ (Weiss 1991: 9), bezeichnet Young als „im besten Falle absurd und im schlimmsten Falle unverschämt“ (Young 1992: 120). Youngs Kritik richtet sich vor allem auf den politischen Charakter des Stücks. Ihm zufolge will Weiss den Zuschauer(inne)n nicht objektiv vermitteln, was damals geschah, sondern ihnen seine eigene marxistische Interpretation überstülpen. Weiss habe die Fakten dementsprechend zusammengesetzt, dass sie sein „eigenes politisch-ökonomisches Verständnis der Ereignisse“ (Young 1992: 123) erfüllen. Dementsprechend wird von Young auch die Anonymisierung der Opfer kritisiert. Obwohl nahezu die Hälfte der Menschen ihres jüdischen Glaubens wegen ermordet wurden, wird im Stück nie konkret von Juden gesprochen. Stattdessen wird der juristische Ausdruck ‚Verfolgte‘ benutzt. Wären alle Opfer im Stück anonymisiert worden, so Young, hätte dies Weiss’ Anmerkungen entsprochen, nach denen damit darauf hingewiesen werden solle, dass die Gefangenen im Lager ihre Namen verloren. Aber Weiss benennt eine Klasse der ermordeten Menschen: die sowjetischen Kriegsgefangenen (vgl. Young 1992: 123–125): Auf diese Weise werden die namenlosen Opfer nicht nur von den Russen repräsentiert, sondern die Russen sind in dieser Replik nun auch als Juden dargestellt, ihr Elend wird mit spezifisch jüdischen Begriffen ausgedrückt. Offenbar spielt Weiss damit auf die beiden Seiten seiner eigenen gemischten Identität als Jude und Sozialist an, von denen eine jede durch die andere repräsentiert wird. Das Stück offenbart letzten Endes nicht nur das politische Verständnis des Autors von Auschwitz, sondern auch sein politisches Selbstverständnis. (Young 1992: 129)
Auch wenn Weiss’ Theaterstück mitunter scharf kritisiert wurde, leistete es nichtsdestotrotz einen wichtigen Beitrag für die Offenlegung des Massenvernichtungssystems und die Verdrängungsprozesse in der Nachkriegszeit. Mit seinem Theaterstück behauptete sich Weiss gegen die gesellschaftliche Verleugnung des Vernichtungsprogramms, die Ableugnungsstrategien der Angeklagten vor Gericht sowie die mentalen und sozialen Kontinuitäten, die die Täter nach dem Krieg rehabilitierten (vgl. Roth 2003: 69).
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4.4
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Ästhetik der Verfremdung und Postdramatik
Zwischen Verfremdungseffekten und postdramatischen Elementen Neben Peter Weiss gilt George Tabori als einer der bedeutendsten HolocaustDramatiker. Als Stückeschreiber und Regisseur hat er das Theater der 1970er und 1980er Jahre maßgeblich mitgeprägt. Seine Theaterarbeit sollte von den 1960ern bis in die 1990er andauern, wobei sich der Höhepunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Holocaust in dem Theaterstück ‚Mein Kampf‘ (1987) kanalisierten sollte (vgl. Haas 2000: 199). Mit Taboris Stücken entwickelt sich ein neuer Typus an Holocaust-Dramen. Dieser grenzt sich sowohl vom Dokumentartheater als auch vom Identifikationstheater und der Sentimentalisierung des Holocaust ab und wendet sich einer Ästhetik der Verfremdung und Postdramatik zu (vgl. Strümpel 2000: 40). Abkehr von der Sentimentalisierung und Idealisierung der 1950er Jahre George Taboris Theaterstücke richten sich gegen die Sentimentalisierung des Holocaust und die Idealisierung der Juden, die Werke wie ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ in den 1950er Jahren prägten. In Dramen wie ‚Die Kannibalen‘ (Uraufführung 1968 in New York, deutsche Erstaufführung 1969) wird die Abkehr von dieser theatralen Darstellungsweise besonders deutlich. Dieses Theaterstück ist Taboris Vater, Cornelius Tabori, gewidmet, der in Auschwitz ums Leben kam. Das Stück handelt von zwölf Häftlingen im Konzentrationslager Auschwitz, die der Hunger zum Äußersten treibt. Schauplatz ist eine Baracke des Lagers. Als die Häftlinge merken, dass der Lagerinsasse Puffi ein Stück Brot vor ihnen geheim gehalten hat, kommt es zu einem Handgemenge, in dem Puffi stirbt. Der Onkel, ein weiterer Mithäftling, will ihn daraufhin begraben, aber die anderen Insassen wollen den Dicksten unter ihnen aufessen. Sie können sich schließlich durchsetzen und kochen Puffi. Als der SS-Wachmann Schrekinger die Baracke betritt, erkennt er sofort, was die Häftlinge getan haben. Er fordert sie auf, zu essen. Wer sich weigert, wird in den ‚Duschraum‘ und damit in den Tod geschickt. Während die meisten Insassen den Tod vorziehen, beugen sich die beiden Häftlinge Hirschler und Heltai dem Zwang und essen die Suppe. Es sind diese beiden Häftlinge, die Auschwitz überlebt haben und später von diesem Tag in der Baracke berichten können (vgl. Tabori 1994a: 4–74). Das Drama ist als Spiel-im-Spiel angelegt. Die beiden Überlebenden Hirschler und Heltai, der Sohn des Wachmanns Schrekinger sowie die Kinder der ermordeten Häftlinge treffen sich 25 Jahre nach dem Todestag von Puffi. Die beiden Überlebenden möchten bei diesem Treffen sich und anderen ihr Verhalten in Auschwitz erklären, um so mit der ‚Überlebensschuld‘ besser umgehen zu können. Die Söhne der ermordeten Häftlinge wollen dagegen – genauso wie der junge Schrekinger – die
4.4 Ästhetik der Verfremdung und Postdramatik
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‚Jubiläumsfeier‘ nutzen, um etwas über die Geschichte ihrer Väter zu erfahren (vgl. Pott et al. 1997: 164). Im Stück nehmen die Gäste (bis auf Hirschler und Heltai, die sich selbst spielen) mitunter die Rollen ihrer Väter ein, wobei meist deutlich hervorgehoben wird, wann die Gäste im Stück lediglich Gäste sind und wann sie die Häftlinge bzw. den Wachmann verkörpern: Die Dialoge zwischen Vater und Sohn [Schrekinger] gehen im folgenden fließend ineinander über, ohne jede Pause. […] Als der Sohn Vater, was hast du im Krieg gemacht? Vater! Als der Vater Ich habe Befehle befolgt. Alle haben Befehle befolgt. […] Als der Sohn Schön, aber was hast du im Krieg gemacht, Vater? Als der Vater […] Aber diese behaarten, schieläugigen, stinkenden Skelette – da kriegte ich ’ne Gänsehaut. Heute wird gern behauptet, daß sie sich nicht wehrten, daß sie keinen Widerstand leisteten. Du weißt nicht, was Widerstand ist; aber ich weiß, was Widerstand ist. […] Als der Sohn, ungeduldig Vater, du hast meine Frage nicht beantwortet! Als der Vater, zerrüttet […] aber da war […] immer diese Verschiedenheit, diese unvertraute Art, wie sie sich abschlachten ließen, um dadurch das Wesen der Schlächterei genau zu kennzeichnen. Sie erduldeten das Böse nicht, sie deuteten mit dem Finger darauf […] Als der Sohn Vater, hör auf mit dem philosophischen Käse und sag mir schlicht und einfach – Schreiend WAS HAST DU – IM KRIEG – GEMACHT?! Pause. Er steht da, erschöpft und zitternd. Langsam sammelt er sich. […] Pause. Sein Gesicht erstarrt zur Maske. Er strafft sich, zieht die Jacke glatt, geht zur Bank ganz rechts und steigt hinauf Fang an aufzutragen. (Tabori 1994a: 70 f.)
Im Dialog stellt der junge Schrekinger seinem Vater unentwegt die Frage, was er im Krieg getan hat. Der Vater weicht dieser Frage beharrlich aus, bis der Sohn ihn dazu zwingt, sie zu beantworten. Schließlich gesteht der Vater seinem Sohn, dass er die Häftlinge zum Essen der Suppe gezwungen hatte. Wer sich weigerte, wurde ‚ins Gas‘ geschickt. Tabori führt in seinem Essay ‚Kannibalen. Zur europäischen Erstaufführung‘ aus, wie er sich eine Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus vorstellt: Was nach Auschwitz unmöglich geworden ist, das ist weniger das Gedicht als vielmehr Sentimentalität oder auch Pietät. Es wäre eine Beleidigung der Toten, etwa um Sympathie für ihre Leiden zu werben oder die totale Wucht ihrer Ausgesetztheit zu bejammern. Das Ereignis ist jenseits aller Taten, und ich habe meine Häftlinge nur aus der Sicht ihrer Söhne präsentieren können – Söhne, die versuchen, jenseits von Gut und Böse sich das Gewesene zurückzurufen, mit der kühlen Neugier von Leuten, die überzeugt sind, daß ihre Väter vor den Augen der Nachwelt bestehen werden. Da ich ihr Vermächtnis nie angezweifelt habe, durfte ich es mir erlauben, auch den Hohn und Ekel ihrer Menschlichkeit zu zeigen, ehe ich am Ende ihren Widerstand feierte. (Tabori 1981: 38)
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Die Häftlinge im Theaterstück ‚Die Kannibalen‘ werden nicht sentimentalisiert oder idealisiert. Tabori möchte die Häftlinge in ihrer ganzen Menschlichkeit darstellen, da alles andere für ihn einer ‚Beleidigung‘ der Opfer gleichkäme. Menschlichkeit bedeutet für ihn, dass manchmal der Instinkt eines Menschen über der Moral steht (zit. nach Pott et al. 1997: 176). So siegt bei Hirschler und Heltai der Überlebenswille über die Moral. Um dem Tod zu entgehen, sind sie im Gegensatz zum Onkel bereit, zu Kannibalen zu werden. Aber auch der Onkel wird nicht idealisiert emporgehoben, sondern in einer ambivalenten moralischen Haltung gezeigt. Zwar geht der Onkel lieber in den Tod, als sich dem Zwang des SS-Wachmanns Schrekinger zu beugen und dem Kannibalismus zu verfallen. Andererseits duldet er jedoch die Homosexualität der Mithäftlinge Weiss und Haas nicht (vgl. Pott et al. 1997: 176 f.): Onkel hält sich eine Hand scheuklappenartig vors Gesicht, um das Paar nicht zu sehen, setzt sich zu Lang, das Paar im Rücken. Was machen die denn jetzt? Lang starrt gebannt das Paar an, reagiert nicht. Onkel dreht sich um, sieht, daß Weiss und Haas mittlerweile in einem Kuß versunken sind; empört stürzt er auf die beiden los, sie auseinanderreißend. Onkel brüllend Haut ab, ihr Arschgeigen! Er schlägt die Hand vor den Mund. Erstaunlich! Ich habe mein Leben lang kein unanständiges Wort gebraucht. (Tabori 1994a: 27)
Taboris Theaterstücke richten sich jedoch nicht nur gegen die Sentimentalisierung und Idealisierung der 1950er Jahre. Mit seinem Werk ‚Die Kannibalen‘ wendet sich der Dramatiker in der Blütezeit des Dokumentartheaters auch gegen diese theatrale Darstellungsweise von NS-Verbrechen. Abkehr vom Dokumentartheater der 1960er Jahre Tabori verweigert sich geradezu der in den 1960er Jahren etablierten Arbeitsweise des Dokumentartheaters, das auf ‚authentischem‘ Material beruht. Dies steht in Zusammenhang mit der Intention, die der Autor mit seinen Stücken verfolgt. Im Gegensatz zu Weiss zielt Tabori mit seinen Dramen keine Aufklärung des Publikums über die Verbrechen der Nationalsozialisten an. Vielmehr stellt der Dramatiker die „Therapie-Funktion“ (Pott et al. 1997: 180) in den Fokus seiner Werke. So findet sich für Tabori der Auslöser, das Drama ‚Die Kannibalen‘ zu schreiben, im Tod seines Vaters wieder: Cornelius Tabori starb vor 25 Jahren in Auschwitz, mit unantastbarer Würde, wie überlebende Zeugen versichern; und noch heute kann ich seine Mörder nicht hassen, nicht einmal hier in dieser Stadt, wo sie einst brüllten und marschierten. Es ist nicht
4.4 Ästhetik der Verfremdung und Postdramatik
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leicht, es öffentlich auszusprechen, aber sein armer Geist ließ mich keine Ruhe finden, bis dieses Stück geschrieben war; ein Stück, das weder Dokumentation noch Anklage ist, sondern eine Schwarze Messe, bevölkert von den Dämonen meines eigenen Ich, um mich und diejenigen, die diesen Alptraum teilen, davon zu befreien. Es gibt Tabus, die zerstört werden müssen, wenn wir nicht ewig daran würgen sollen. (Tabori 1981: 37)
Doch nicht nur dem Autor soll das Schreiben des Dramas in einer therapeutischen Funktion helfen, die Vergangenheit zu verarbeiten. Dadurch, dass er in seinem Werk die „Überlebenden-Problematik“ (Pott et al. 1997: 178) in den Fokus stellt, hofft er auch für die überlebenden Opfer auf eine „Chance einer Ent-Traumatisierung“ (Pott et al. 1997: 180). Indem Tabori in ‚Die Kannibalen‘ das Schicksal von Hirschler und Heltai zum Thema macht, die noch in der Gegenwart mit der Last kämpfen, Auschwitz überlebt zu haben, stellt der Schriftsteller heraus, welche Bedeutung das Überleben des Holocaust für die Opfer hat. Damit nähert sich Tabori der Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ eher in psychologisierender und therapeutischer als in aufklärerischer Weise an (vgl. Pott et al. 1997: 180). Dass sich Tabori vom dokumentarischen Theater abgrenzen möchte, zeigt sich auch in seiner Arbeitsweise: „An die Stelle einer abstrahierenden Geschichtsdarstellung setzt Tabori das Erzählen privater Schwierigkeiten und Kümmernisse“ (Haas 2000: 202) und zerstört so die „Echtheitsfiktion […] mithilfe vieler kleiner Geschichten“ (Haas 2000: 202). So wird in ‚Die Kannibalen‘ das Lagerleben nicht aus Gutachten oder Ähnlichem zu rekonstruieren versucht, sondern die Kinder der ermordeten Häftlinge bzw. der Sohn des damaligen SS-Wachmanns erfahren aus der Hand der Überlebenden und ihren Eltern von den damaligen Ereignissen. Ob sie den subjektiven Schilderungen vertrauen, müssen sie selbst entscheiden. Auch das 1987 entstandene Theaterstück ‚Mein Kampf‘ liefert keine analytischen Erklärungen für den Genozid (vgl. Haas 2000: 210). Das Drama zeigt Adolf Hitler in seinen frühen Jahren als Bewohner eines Männerwohnheims in Wien vor dem Ersten Weltkrieg. Es wird die Entwicklung Hitlers vom untalentierten Kunststudenten bis hin zum despotisch herrschenden Diktator gezeigt. Eine wichtige Rolle spielt hier der jüdische Buchhändler Schlomo Herzl, der sich mit Hitler anfreundet. Als Hitler von der Kunstakademie abgelehnt wird, tröstet ihn Herzl und bereitet ihn auf ein Leben als Politiker vor. Er überlässt ihm den Titel seines Romans ‚Mein Kampf‘, den Hitler für seine politische Schrift verwenden kann. Schlussendlich macht Herzl Hitler auch äußerlich zu dem Mann, den die Geschichtsschreibung kennt (vgl. Tabori 1994b: 143–203). Bei Herzls Erzählungen, dessen Name auf den Begründer des Zionismus Theodor Herzl zurückgeht, wird immer deutlich, dass er es mit der Geschichtserzählung nicht ganz so genau nimmt. Teilweise bringt er
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Personen und Orte durcheinander oder gibt vergangene Ereignisse in falscher Reihenfolge wieder (vgl. Haas 2000: 210). Die darin bestehende Kritik „gegen allzu glatte Geschichtsmodelle“ (Haas 2000: 210) entspricht einer postmodernen Ästhetik genauso wie Taboris charakteristischer Einsatz von Verfremdungseffekten (vgl. Haas 2000: 203). Einsatz von Verfremdungseffekten und postdramatischen Elementen Tabori knüpft an die Theatertechniken Brechts an und möchte dem Publikum durch den Einsatz von Verfremdungseffekten (V-Effekten) eine Identifikation mit dem Gezeigten erschweren. Karin Dahlke macht deutlich: „Je mehr sich die Geschichte der realen Begegnung mit dem Tod nähert, desto mehr nimmt die Erinnerung Formen einer theatralischen Inszenierung an“ (Dahlke 1997: 126). So wird beispielsweise im Drama ‚Die Kannibalen‘ ständig betont, dass es sich lediglich um eine Aufführung handelt. Die Figuren treten immer wieder aus ihren Rollen heraus und sprechen das Publikum direkt an. Zudem ist keine fortführende Handlung zu erkennen, sondern verschiedene Einzelereignisse werden lediglich lose aneinandergefügt. Der Einsatz dieser V-Effekte ermöglicht es dem Publikum, das Bühnengeschehen aus einer gewissen Distanz zu betrachten (vgl. Pott et al. 1997: 162). Um den Zuschauer(inne)n eine Identifikation mit dem Gezeigten zu erschweren setzt Tabori auch häufig die Technik der Überkodierung ein. Als beispielsweise der Koch in ‚Die Kannibalen‘ die Frage stellt, wer aus den Lagern befreit wurde, antwortet der Onkel: „Ein Haufen Knochen“ (Tabori 1994a: 35). Darauf folgt die Regieanweisung: Die anderen [Häftlinge] nehmen verschiedene Posen im Tode erstarrter Körper ein; Verrenkungen, weit geöffnete Münder, verkrallte Hände usw. Hirschler und Heltai sitzen wie erstarrt am Tisch. (Tabori 1994a: 35)
Gerade diese „ins Groteske übersteigerte[ ] Körpersprache“ (Haas 2000: 83) lässt die Szene auf die Zuschauer(innen) wie eine Parodie wirken, die eine aufkeimende Empathie von vornherein behindert (vgl. Haas 2000: 83). Um Momente der Komik zu erzeugen setzt Tabori jedoch nicht nur auf eine übertriebene körpersprachliche Unterstreichung des Gesagten. Im Sinne der Postmoderne stehen in seinen Dramen auch oft verbale und non-verbale Zeichen in keinerlei Beziehung zueinander bzw. kontrastieren sich auf komische Art und Weise: „Denn in den Kannibalen werden in raschem Wechsel Purzelbäume geschlagen, Fliegen gefangen, Kaffee getrunken, Schlager gesungen, die Notdurft verrichtet, Gedichte rezitiert und Suppen gekocht“ (Haas 2000: 85). Ein Bezug zum Gesagten lässt sich oft nicht erkennen. Auch dieses widersprüchliche Bühnengeschehen löst gerade durch seine
4.5 Ästhetik des Experimentellen und Fraktalen
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Beziehungslosigkeit Komik aus. Den ‚Witz‘ setzt Tabori gerade in den Situationen ein, „wo das unerträglich Reale der Shoah zu nahe zu kommen droht“ (Dahlke 1997: 132). Dadurch, dass Tabori den Zuschauer(inne)n erlaubt, über das Bühnengeschehen zu lachen, ermöglicht er ihnen eine Distanz zum Gezeigten einnehmen zu können und sich emotional nicht zu sehr einnehmen zu lassen. Dementsprechend werden auch in seinem Drama ‚Mein Kampf‘ die historischen Fakten bearbeitet und der Mythos des Diktators ins Lächerliche gezogen. Tabori orientiert sich zwar durchaus an geschichtlichen Quellen, allerdings gleicht der im Stück dargestellte ‚Shitler‘ eher einem „verzogenen Einzelkind[ ]“ (Haas 2000: 208) als einem ‚Führer des Deutschen Reiches‘. Taboris Dramen zeichnen sich durch eine Ästhetik der Verfremdung und Postdramatik aus. Auf der Bühne findet sich eine verzerrte und paradoxe Darstellung der Wirklichkeit wieder, die das Publikum immer wieder irritieren und unterschiedliche Deutungen zulassen soll. Einen moralischen Zugang zur Thematik finden die Rezipient(inn)en hier ebenso wenig wie eine Ursachenbeschreibung für den Holocaust und Nationalsozialismus. Vielmehr nutzt Tabori die (Heils-)Geschichte als „Spielmaterial“ (Haas 2000: 212), um diesen Teil der deutschen Geschichte mit komödiantischen Elementen aufzuarbeiten und somit dem Publikum einen emotionalen Abstand zum Gezeigten zu ermöglichen.
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Ästhetik des Experimentellen und Fraktalen
Wandel in der kulturellen Auseinandersetzung mit dem Holocaust Seit den 1990er Jahren ist in Deutschland sowohl in akademischen Kreisen als auch in der Gesellschaft ein regelrechter „Gedächtnis-Boom“ (Erll 2017: 58) ausgebrochen. Im Zuge der Wiedervereinigung sollte sich aus den beiden getrennten deutschen Teilstaaten wieder eine Nation mit einem gemeinsamen kollektiven Gruppengedächtnis (vgl. in Abschnitt 3.2 ‚Gedächtnis als kulturelles Phänomen‘) entwickeln. In Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit des Landes ging es in erster Linie darum, den Holocaust nicht nur als „negativen Gründungsmythos“ (Assmann 2016: 68) zu betrachten, sondern seine bis in die Gegenwart reichenden Konsequenzen in Politik und Gesellschaft zu untersuchen (vgl. Frieden 2014: 27 f.). Durch die zunehmende historische Distanz zur nationalsozialistischen Vergangenheit, das Sterben der Überlebenden sowie die umfassende Aufarbeitung der Thematik lässt sich seit den 1990er Jahren ein kultureller Wandel in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust erkennen (vgl. Benthien 2016: 28). Im Theater drückt sich dieser Umbruch dahingehend aus, dass neben klassischen Holocaust-Dramen von Weiss oder Tabori auch Stücke aufgeführt werden, die ihren Schwerpunkt auf
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Experimentelles und Fraktales legen. Es werden ‚neue‘ Themen auf die Bühne gebracht, die keine kohärente Handlung haben und den Holocaust mitunter mit anderen Katastrophen verbinden (vgl. Benthien 2016: 52 f.). Theatrale Inszenierungspraktiken in aktuellen Theaterinszenierungen Claudia Benthien hat anhand von fünf aktuellen deutschsprachigen Inszenierungen herausgestellt, dass mit dem Einzug des postdramatischen Theaters Ende der 1990er Jahre experimentelle und fraktale Elemente in größerem Rahmen Einzug in das deutschsprachige Theater gefunden haben. In ihren Ausführungen bezieht sich Benthien auf die ‚Dritte Generation‘ unter der Regie von Yael Ronen & The Company an der Berliner Schaubühne, Elfriede Jelineks ‚Rechnitz (Der Würgeengel)‘ unter der Regie von Jossi Wieler an den Münchner Kammerspielen, Gotthold Ephraim Lessings ‚Nathan der Weise‘ und Elfriede Jelineks ‚Abraumhalde‘ unter der Regie von Nicolas Stemann am Hamburger Thalia Theater, Werner Fritschs ‚Die Sonne auf der Zunge‘ unter der Regie von Jörg Fürst am Kölner A.Tonal.Theater sowie Doron Rabinovicis und Matthias Hartmanns ‚Die letzten Zeugen‘ unter der Regie von Matthias Hartmann am Wiener Burgtheater (vgl. Benthien 2016). Um den ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auf der Bühne präsent zu machen, setzen die Theatermacher(innen) mitunter auf eine offene und mehrdeutige Erzählstruktur. Dies findet seinen Ausdruck in der Verknüpfung mehrerer Theatertexte oder der Einbindung von Narrationen der Schauspieler(innen) in die Performances. Nicolas Stemann bindet beispielsweise in seine ‚Nathan der Weise‘-Inszenierung einzelne Passagen von Elfriede Jelineks ‚Abraumhalde‘ ein, um Lessings Drama durch entsprechende Einschübe auf die Thematik des Nationalsozialismus zu beziehen (vgl. Benthien 2016: 40 f.). In dem Stück ‚Dritte Generation‘ stehen dagegen die privaten Erzählungen der dritten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt der Theaterproduktion. In dieser Aufführung wirken vier deutsche und sechs israelische Schauspieler(innen) mit, von denen drei jüdischer und drei palästinensischer Herkunft sind. Das Stück lebt gerade durch die Darlegung der persönlichen Ansichten und Meinungen der Darsteller(innen), in denen das angespannte Verhältnis zwischen deutscher, israelischer und palästinensischer Geschichte in übersteigerter Weise zum Vorschein gebracht wird. In der Aufführung werden (institutionalisierte) Konzepte der Erinnerung, Schuld und ‚Wiedergutmachung‘ in Frage gestellt und diskutiert. So werden beispielsweise die ritualisierten und unangemessenen Entschuldigungen zum Thema gemacht: Der Großvater eines jüdischen Israeli wurde im Konzentrationslager Buchenwald ermordet, woraufhin sich ein deutscher Darsteller, dessen Vater ein Nationalsozialist gewesen ist, mit einem Schulterklopfen bei diesem entschuldigt. Mit dieser pauschalen Geste ist für ihn die Sache aber auch wieder erledigt (vgl. Benthien 2016: 36 f.). Benthien
4.5 Ästhetik des Experimentellen und Fraktalen
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hält fest: „Die Entschuldigungsgebärden wirken wie eine Litanei, ein neurotisches Ritual, das bei den Zuschauer/innen Peinlichkeit und Lachen auslöst“ (Benthien 2016: 38). Darüber hinaus werden in der Aufführung Grenzen überschritten, die in aggressiven Wortgefechten zwischen den Darsteller(inne)n eskalieren. So wendet sich ein deutscher Darsteller im Sinne rechtsradikaler Polemik an das Publikum und meint, dass es nun endlich mal gut sei und „ein Schlussstrich“ (zit. nach Benthien 2016: 39) unter die Wiedergutmachungsleistungen der Deutschen gezogen werden müsse. Auf diese Aussage hin beginnt ein heftiger Streit zwischen israelischen und deutschen Schauspieler(inne)n. Die Israelis attackieren die Deutschen pauschal mit Phrasen wie „You did not face your past!“ (zit. nach Benthien 2016: 39), während diese von deutscher Seite mit Aussagen wie „We did a Mahnmal for you!“ (zit. nach Benthien 2016: 39) abgewehrt werden. Enorme Provokationen äußern sich auch in Aussagen deutscher Darsteller(innen) wie „I don’t have an Endlösung for everything!“ (zit. nach Benthien 2016: 39). Aber auch das Publikum ist vor solchen Angriffen nicht gefeit. So werden die Zuschauer(innen) an einer Stelle im Stück von einer Jüdin generell als „Nazis“ (zit. nach Benthien 2016: 39) bezeichnet. Ob die Schauspieler(innen) diese kulturellen Stereotype lediglich spielen oder auch in der Realität vertreten, bleibt offen. In den fünf Theaterproduktionen findet sich die generelle Tendenz des Gegenwarttheaters wieder, dass verbale Äußerungen dem non-verbalen übergeordnet werden. Dies äußert sich in den Inszenierungen beispielsweise durch den Einsatz langer Hörspiel-Passagen oder darin, dass die gesamte Inszenierung wie eine theatrale Lesung konzipiert ist. Nach Benthien soll damit „auf die wirklichkeitserzeugende, aber auch ‚vernichtende‘ Macht von Sprache“ (Benthien 2016: 53) hingewiesen werden. So verzichtet beispielsweise Stemanns ‚Nathan der Weise‘Inszenierung in der ersten halben Stunde gänzlich auf theatrale Handlungen. Die Schauspieler(innen) stehen lediglich auf der Bühne, während Nathans Stimme die Ringparabel aus einem Raum hinter der Bühne vorträgt (vgl. Benthien 2016: 41). Um eine Distanz zum Holocaust und zu den Verbrechen der Nationalsozialisten aufbauen zu können, wird in den Inszenierungen mit Tragödienelementen wie dem Botenbericht oder der Teichoskopie gearbeitet. Bei Ersterem wird auf ein Ereignis außerhalb der auf der Bühne dargestellten Szene verwiesen, bei dem der Bote bzw. die Botin anwesend war. Benthien beschreibt die Funktion des Botenberichts wie folgt: Berichte unterbrechen die theatrale Handlung; sie werden traditionell entweder eingesetzt, weil das Geschehen theatral nicht darstellbar ist – Gründe dafür sind erstens die Verletzung der für die klassische Dramaturgie maßgeblichen ‚Einheit des Ortes‘, die Schauplatzwechsel untersagt, zweitens die technische Unmöglichkeit, bestimmte
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Exkurs: Theatrale Darstellungsformen von 1945 bis heute
Ereignisse szenisch darzustellen (zum Beispiel Schlachten oder Naturkatastrophen), und drittens Darstellungstabus, Dinge zu zeigen, die Ästhetik, Moral oder Anstand verletzten (etwa Gewaltverbrechen, Inzest, Hinrichtungen) – oder aber, weil davon ausgegangen wird, dass ein rein sprachlicher Bericht die Imagination der Zuhörenden stärker anregt als eine szenische Gestaltung. (Benthien 2016: 31)
Besonders in Jelineks Theaterstück ‚Rechnitz (Der Würgeengel)‘ wird der Botenbericht immer wieder eingesetzt, um darauf hinzuweisen, dass „niemand in ‚Handlung‘ verwickelt sein möchte“ (Benthien 2016: 31). Im Drama werden die Erschießungen von 180 jüdischen Zwangsarbeitern in der österreichischen Gemeinde Rechnitz theatral verarbeitet. Das Verbrechen in der Endphase des NS-Regimes konnte nie vollständig aufgeklärt und die Gräber der Opfer bis heute nicht gefunden werden (vgl. Jelinek 2012: 53–206). In der Inszenierung treten alle Schauspieler(innen) als Bot(inn)en auf, die nicht miteinander sprechen und lediglich dem Publikum berichten, was sie gesehen haben. Ob diese die Erschießungen tatsächlich nur beobachtet haben oder ob sie an den Erschießungen selbst beteiligt waren, wird im Stück nie deutlich ausgesprochen. Da sie jedoch in der Lage sind, die Gewalttat explizit nachzuerzählen bzw. den bis heute unbekannten Ort des Massengrabes zu kennen scheinen, ist diese Vermutung nicht unwahrscheinlich (vgl. Benthien 2016: 31–33). Neben dem Botenbericht verwendet Jelinek in diesem Theaterstück auch gerne das Tragödienelement der Teichoskopie (vgl. Benthien 2016: 34). Der Mord an den jüdischen Zwangsarbeitern wird lediglich durch einen Mauerschauenden berichtet, der über das außerhalb der Bühne stattfindende Verbrechen berichtet: Die Gewehre schießen mit hellem Schall hinaus aus dem Schloß und machen die Pferde scheu, das ganze Gestüt. Sie hören es ja, Sie hören sie trampeln und brüllen. Sie sehen das Weiße in ihren Augen, nein, Sie sehen es eben nicht, dazu brauchen Sie wiederum mich. (Jelinek 2012: 172 f.)
Dadurch, dass die Massentötungen nicht direkt auf der Bühne nachgestellt werden, wird es dem Publikum überlassen, ob und inwieweit sie sich das Geschehen außerhalb der Bühne vorstellen (vgl. Benthien 2016: 34). In allen fünf von Benthien untersuchten Inszenierungen wird die vierte Wand durchbrochen und die Zuschauer(innen) werden stärker in die Präsentationsformen miteinbezogen. In Jelineks Theaterstück ‚Rechnitz‘ werden einzelne Zuschauer(innen) mit Blicken fixiert, während die Schauspieler(innen) in einer spöttischen und überheblichen Weise von den willkürlichen Tötungen in Rechnitz berichten. Auch werden dem Publikum Gewehre angeboten, damit es an den Massenerschießungen der jüdischen Zwangsarbeiter teilnehmen kann (vgl. Benthien 2016: 32). Nach Benthien werden mit dem Einbezug der Zuschauer(innen) die
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Verbrechen der Nationalsozialisten nicht als vergangenes Ereignis, sondern als eine Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart präsentiert (vgl. Benthien 2016: 53). Auch kann festgestellt werden, dass die untersuchten Theaterpräsentationen die Holocaust-Thematik mit Katastrophen unterschiedlichster Art vergleichen. Indem der Völkermord in Stemanns ‚Nathan der Weise‘-Inszenierung beispielsweise mit dem Inzestskandal von Amstetten oder in der Inszenierung ‚Dritte Generation‘ mit dem bestehenden Konflikt zwischen Juden und Palästinensern auf eine Stufe gestellt wird, wird ihm seine Singularität als beispielloses Massenmorden in der Geschichte abgesprochen. Die teilweise in den Produktionen fehlende Unterscheidung zwischen dem Holocaust und anderen Vergehen bzw. Auseinandersetzungen wird von Benthien als „höchst problematisch“ (Benthien 2016: 54) eingestuft. Aus diesem Grund stellen für sie manche der untersuchten Theaterstücke eine „Gratwanderung“ (Benthien 2016: 54) hinsichtlich ihrer theatralen Auseinandersetzung mit dem Holocaust und Nationalsozialismus dar. Seit den 1990er Jahren wurden zahlreiche Darstellungstabus gebrochen. So wird die Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ beispielsweise nicht mehr nur ernst, sondern auch in einer provozierenden Weise verhandelt. Dies spricht dafür, dass der Holocaust seinen Status als singuläres Ereignis verloren zu haben scheint. Zumindest in den von Benthien untersuchten Stücken des deutschen Gegenwarttheaters wird der Holocaust 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder als „Universalreferenz und – durchaus fragwürdiges – ‚Versatzstück‘“ (Benthien 2016: 54) in die Inszenierungen eingefügt. Zum Amateurtheater in der Erinnerungskultur Die obigen Ausführungen zeigen, dass Dramentexte zu ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ von 1945 bis heute gut erforscht sind. Die Stücke der Dramatiker(innen) wurden in der Wissenschaft hinsichtlich ihrer Intention und theatralen Umsetzung bereits intensiv untersucht und diskutiert. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung und Geschichte des Amateurtheaters bleibt in ihrer Vollständigkeit dagegen hinter der Untersuchung der Dramentexte zurück (vgl. Koch et al. 2003: 22). Im folgenden Kapitel wird daher die Konzeption der drei in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte näher in den Blick genommen. Es wird herausgestellt, welcher theatraler Mittel sich diese aktuellen Projekte bedienen, um die Verbrechen der Nationalsozialisten auf der Bühne szenisch umzusetzen. Dabei wird immer wieder auf die im Exkurs dargestellten Praktiken der professionellen Dramatiker(innen) von 1945 bis heute Bezug genommen und herausgestellt, welche sich davon in den Amateurtheaterprojekten wiederfinden.
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
Zum Begriffsverständnis ‚Amateurtheaterprojekte‘ Bei den drei untersuchten Theaterprojekten ‚Nicht vergessen!‘, ‚Spurensuche‘ sowie dem ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ handelt es sich um Amateurtheaterprojekte. Mit dieser Begriffsbezeichnung soll auf drei wichtige Merkmale der Erinnerungsform aufmerksam gemacht werden: Die Erinnerungsarbeit von (1) Amateur(inn)en mit (2) unterschiedlichen theatralen Darstellungsformen, die (3) während der Entstehung und Aufführung als Prozess zu verstehen ist (vgl. Abb. 5.1):
Abb. 5.1 Begriffsverständnis ‚Amateurtheaterprojekte‘
Im Folgenden werden die drei Teile des Kompositums näher vorgestellt: Es wird darauf eingegangen, was in dieser Arbeit unter Amateur(inn)en verstanden wird, welcher theatraler Mittel sich die Darsteller(innen) bedienen, um an die
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_5
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus zu erinnern und inwiefern sich die Theaterstücke als Projekt fassen lassen.
5.1
Umsetzung von Amateur(inn)en
Unterscheidung von Amateur(inn)en und professionellen Theatergruppen Im Theater wird seit dem 16. Jahrhundert zwischen professionellen Theatergruppen und Amateur(inn)en unterschieden. Als Profi wird dabei jemand bezeichnet, der diese Tätigkeit als Beruf ausübt, während ein(e) Amateur(in) einen Menschen bezeichnet, der sich zwar intensiv, aber nicht beruflich der Schauspielkunst widmet (vgl. Koch et al. 2003: 19). Dementsprechend werden in dieser Arbeit unter Amateur(inn)en Menschen gefasst, die zwar intensiv und mit einer bestimmten Intension – wie beispielsweise der Freude am Spiel oder mit dem Ziel der Erinnerungsarbeit – Theater machen, dies aber im Vergleich zum professionellen Theater nicht berufsmäßig ausüben (in Anlehnung an Koch et al. 2003: 19). Amateur(inn)e(n) in den Theaterprojekten Die drei Theaterprojekte wurden von unterschiedlichen Amateur(inn)en umgesetzt. In ‚Spurensuche‘ brachten Schüler(innen) die Geschichte ihres Heimatortes auf die Bühne, während die theatrale Lesung zum ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ von Lehramtsstudent(inn)en gestaltet wurde. Bei ‚Nicht vergessen!‘ nahmen ebenfalls überwiegend Student(inn)en an dem ortsspezifischen Theaterprojekt teil, im Gegensatz zu den anderen beiden Theaterstücken war dieses Projekt jedoch stärker der Öffentlichkeit zugänglich. Hier konnten nicht nur Schüler(innen) und Student(inn)en mitwirken, sondern für das Vorhaben wurden generell Spieler(innen) zwischen 15 und 99 Jahren gesucht (vgl. Universität der Künste Berlin 2017). So konnte auch ein Rentner bei der Performance mitwirken. Die theatralen Vorerfahrungen der Amateur(inn)e(n) gestalteten sich unterschiedlich: Manche von ihnen hatten bereits in anderen Stücken mitgespielt, andere kamen dagegen im Zuge des Projektes das erste Mal in Kontakt mit dem Theaterspiel. Um dennoch eine gemeinsame Basis zu haben, erhielten die Amateur(inn)e(n) in jedem der drei Projekte zunächst einen allgemeinen theoretischen sowie praktischen Input zu verschiedenen theatralen Gestaltungsmitteln, bevor die eigentliche Projektentwicklung begann.
5.2 Theatrale Darstellungsformen
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Theatrale Darstellungsformen
Die Amateur(inn)e(n) möchten mittels des Theaters an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus erinnern und diese Thematik für die Zuschauer(innen) aufarbeiten. Dabei bedienen sie sich neben dokumentarischem Material auch performativer Elemente, die sie mitunter an einem historischen Ort rezitieren bzw. darbieten. Um den Theaterbesucher(inne)n eine Identifikation mit dem Gezeigten zu erschweren, werden immer wieder auch Verfremdungseffekte eingesetzt.
5.2.1
Performativität
Abgrenzung vom Reenactment und dem ‚traditionell‘ darstellenden Theater Die drei untersuchten Amateurtheaterprojekte grenzen sich in ihrer Konzeption vom Reenactment, also „dem Nachspielen bzw. Wiederholen konkreter Ereignisse“ (Samida 2019: 123), ab. Reenactment hat bei der Dokumentation und Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen der Nationalsozialisten schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine große Rolle gespielt. Schon in den ersten Tagen nach der Befreiung der Konzentrationslager wurden Überlebende gebeten bzw. erklärten sich freiwillig dazu bereit, ihre Erfahrungen, die sie in den Lagern gemacht hatten, nachzuspielen (vgl. Perry 2019). Doch die vornehmliche Intention der Theaterstücke, die dieser Arbeit zugrunde liegen, besteht nicht darin, dass die Darsteller(innen) etwas nachstellen und sich dadurch emotional in die damalige Situation einfühlen können. Es werden nicht einzelne Szenen oder Biographien möglichst detailgetreu nachgespielt, um selbst erfahren zu können, wie sich die damalige Situation angefühlt haben bzw. gewesen sein muss (vgl. Samida 2019: 135–137). Vielmehr arbeiten die Performer(innen) mit dokumentarischem Material, das sie mitunter ästhetisch überformt den Theaterbesucher(inne)n am historischen Ort darbieten möchten. Dementsprechend verzichten die Amateur(inn)e(n) auch auf ‚authentische‘ Kleidung wie beispielsweise Uniformen. Darüber hinaus setzen die Projektbeteiligten auch weniger auf ein ‚traditionell‘ darstellendes Theater, das sich seit Aristoteles dem Paradigma des ‚Als-ob‘ verschreibt: Theater imaginiert, ahmt nach, ist eine Realität des ‚Als-ob‘. Die aristotelische Bestimmung des Theaters als Mimesis, das heißt als nachgeahmte Wirklichkeit, bringt diese ontologische Struktur auf den Begriff. (Brauneck 1989: 17)
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
Ein solch ‚traditionelles‘ Theater findet sich beispielsweise in Goodrichs und Hacketts ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ (vgl. in Abschnitt 4.2 „Das Tagebuch der Anne Frank‘ von Frances Goodrich und Albert Hackett‘). In der Bühnenfassung übernehmen Schauspieler(innen) möglichst überzeugend Rollen wie die des jüdischen Mädchens, ihrer Eltern oder ihres Freundes Peter und spielen die Geschichte der Anne Frank für das Publikum nach. Um die Nachahmung beim Theaterpublikum noch besser wirken zu lassen, werden hierzu auch Requisiten eingesetzt (vgl. Goodrich et al. 1958). Doch in den in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekten wird das Augenmerk in erster Linie nicht auf eine mimetische Darstellung gelegt. So wird beispielsweise nicht die Geschichte der Geschwister Scholl von ihrem zunächst passiven Widerstand, der sich in einen aktiven wandelte und dann zu ihrer Hinrichtung führte, erzählt. Vielmehr setzten die Darsteller(innen) auf performative Elemente. Performanceorientierte Darstellungsweise in den Amateurtheaterprojekten Seit den 1960er Jahren wird die Vorstellung eines darstellenden Theaters immer mehr zugunsten eines performativen abgelöst. Die schauspielerische Leistung besteht demnach nicht mehr darin, dem Publikum möglichst überzeugend vorzuspielen, dass eine andere Person verkörpert werde. Vielmehr stellen die Mitwirkenden sich selbst dar, tragen eigene Narrationen vor oder machen deutlich erkennbar, wenn sie aus fremden Texten zitieren. Im performanceorientierten Theater geht es also „um den Vollzug von […] Sprech- und anderen Handlungen durch reale Personen in einem realen Raum“ (Fischer-Lichte 2011: 280). Dementsprechend decken sich in dieser Theaterform auch Zeit und Ort mit der Wirklichkeit. Auf der Bühne wird keine fiktive Welt erschaffen, sondern reale Räume wie ein Speisesaal oder ein städtischer Raum bespielt. Auch entspricht die aufgeführte Zeit auf der ‚Bühne‘ der tatsächlich vergangenen Zeit während der Aufführung (vgl. Fischer-Lichte 2011: 280). Hans-Thies Lehmann spricht daher auch vom „Theater des Realen“ (Lehmann 2015: 176). Eine wesentliche Funktion des performancenahen Theaters ist es demnach, das ‚Als-ob‘ aufzudecken und „die Distanz zwischen Kunst und sozialer Realität zu befragen, zu verringern, wenn nicht sogar zum Verschwinden zu bringen“ (Hentschel 2005: 136). Alle drei der vorgestellten Amateurtheaterprojekte prägt eine performanceorientierte Darstellungsweise. Das jeweilige historische Ereignis wird nicht im Sinne des ‚Als-ob‘ möglichst ‚authentisch‘ nachgestellt. Die Amateur(inn)e(n) eignen sich eine Identität nicht temporär an, sondern es wird kenntlich gemacht, dass die Sprech(Handlungen) durch reale Personen vollzogen werden. Dies äußert sich bereits in der Kleidung der Teilnehmer(innen). In allen drei Projekten wird auf
5.2 Theatrale Darstellungsformen
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historische Kostüme verzichtet und stattdessen auf schwarze (vgl. Abb. 5.2) bzw. schlichte farbige (vgl. Abb. 5.3) Kleidung gesetzt. Abb. 5.2 Kleidung im ‚Weiße-RoseGedenkkonzert‘. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
Abb. 5.3 Kleidung in ‚Spurensuche‘. (Mit freundlicher Genehmigung von © Thomas Ritter [2017–2020]. All Rights Reserved)
Die Darsteller(innen) machen immer wieder deutlich, dass sie als reale Personen die vergangenen Ereignisse lediglich wiedergeben und nicht selbst verkörpern. So liest beispielsweise eine Akteurin während der Aufführung von ‚Nicht vergessen!‘ die Geschichte einer Lagerinsassin aus einem Notizbuch vor, die sie dort in eigener Recherchearbeit zusammengeschrieben hatte. Im ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ wird die Trennung zwischen theatraler Darstellung und historischer Wirklichkeit dadurch kenntlich gemacht, dass die Student(inn)en während der Aufführung angeben, aus welchem Dokument der zitierte Ausschnitt stammt.
5.2.2
Ortsspezifik
Verlassen der Bühnenhäuser ‚Traditionelle‘ Theaterstücke wie ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ von Goodrich und Hackett bespielen eine klassische Theaterbühne. Damit sich das Publikum mit der
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
dargestellten Situation möglichst gut identifizieren und in sie einfühlen kann, wird in den Regieanweisungen sehr genau festgehalten, wie der Schauplatz auf der Bühne gestaltet werden soll. So wird in ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ beispielsweise das Hinterhaus, in dem die Geschichte um die Protagonisten nachgespielt wird, sehr genau beschrieben (vgl. in Abschnitt 4.2 „Das Tagebuch der Anne Frank‘ von Frances Goodrich und Albert Hackett‘). Im Zuge der performativen Wende gewinnt seit den 1960er Jahren jedoch auch der Aufführungsort eine neue Bedeutung. Für die Theaterpräsentationen werden die Bühnenhäuser verlassen und Orte außerhalb des Theatergebäudes aufgesucht. Dabei kann es sich um historisch oder politisch bedeutsame Stätten handeln, ein Raum kann aufgrund seiner ausgefallenen Architektur ausgewählt werden oder ein Schauplatz weckt durch eine sonstige Besonderheit das Interesse der Theaterschaffenden (vgl. Primavesi 2010: 25). Als ‚Bühne‘ fungiert somit nicht mehr ein „leerer, funktionaler Projektionsraum (black box)“ (Pinkert 2009: 21), sondern ein realer Ort, der durch die Inszenierung „zum Sprechen gebracht“ (Lehmann 2015: 305) und somit zu einem weiteren „Mitspieler“ (Lehmann 2015: 306) wird. Der Fokus der Aufführung wird somit nicht mehr nur auf die Handlungen der Spieler(innen) gelegt, sondern auch die ausgewählte Lokalität wird mit in die Performance einbezogen (vgl. Pinkert 2012). Ein ortsspezifisches Theater ist für einen bestimmten Ort geschaffen und lässt sich nicht ohne Weiteres an einen anderen Schauplatz versetzen. Ausgehend vom englischen Begriff ‚site‘ – der mit Örtlichkeit, Gelände, Stätte oder Landschaft übersetzt werden kann – kann daher auch von einem ‚site specific theatre‘ gesprochen werden (vgl. Primavesi 2010: 25): Gemeint sind Inszenierungen, die keinen Text zum Ausgangspunkt nehmen, sondern einen Ort und seine architektonischen Besonderheiten untersuchen, sich mit dem historischen und sozialen Kontext, den der Ort vorgibt, auseinandersetzen. Damit wird der Ort, an dem die Arbeit entsteht, zum konstituierenden Faktor der Inszenierung. Er ist Ausganspunkt und strukturierendes Merkmal der Inszenierung. (Matzke 2005: 77)
Im Theater wird der Aufführungsort zwar immer mehr oder weniger in die Präsentation miteinbezogen, doch bei ortsspezifischen Arbeiten wird der Ort „zum Drehund Angelpunkt“ (Köster 2001: 34) der Performance. Zugangs- und Arbeitsweisen Die Zugangs- und Arbeitsweisen beim site specific theatre sind sehr vielfältig. Es gibt nicht „den Königsweg“ (Schmidt 2010: 58) ortsspezifischer Arbeiten. Vielmehr geht es darum, sich Möglichkeiten zu überlegen, wie die individuelle Besonderheit eines Ortes hervorgehoben und künstlerisch verarbeitet werden kann. Im
5.2 Theatrale Darstellungsformen
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Fokus stehen somit Beobachtung und Recherche von Alleinstellungsmerkmalen des Schauplatzes und dessen Geschichte (vgl. Schmidt 2010: 55). Dennoch lassen sich grob zwei Arbeitsweisen des site specific theatre unterscheiden: das phänomenologische und das funktionale Prinzip. Bei einem phänomenologischen Konzept wird das Theaterprojekt derart in die konkrete Lokalität eingebunden, dass eine Aufführung an einem anderen Ort nicht möglich ist: „to remove the work is to destroy the work“ (Serra 1994: 194). Bei einem funktionalen Konzept werden zwar auch öffentliche Plätze für die Aufführung aufgesucht, allerdings ist die Aufführung nicht mehr an eine spezielle Räumlichkeit gebunden. Bei dieser Arbeitsweise wird vielmehr der „immaterielle Raum“ (Pinkert 2012) in den Vordergrund gerückt. Das Publikum wird nicht so sehr auf die Besonderheiten einer Örtlichkeit aufmerksam gemacht, sondern vielmehr durch Impulse von den Theatermacher(inne)n angeregt, sich an einem öffentlichen Ort mit bestimmten Themen auseinanderzusetzen (vgl. Pinkert 2012). Als Beispiel hierfür kann das ‚Radioballett‘ gelten. Hier erhalten Passant(inn)en in einem öffentlichen Raum wie einem Hauptbahnhof über ein mobiles Radio Anweisungen. Die Teilnehmer(innen) sollen erlaubte (z. B. sich die Hand reichen) und eigentlich an diesem Platz verbotene Gesten (z. B. die Hand zum Betteln ausstrecken) ausüben. Die unterschiedlichen Handbewegungen entscheiden, ob man an einem öffentlichen Ort wie einem Bahnhof erwünscht ist oder ihn verlassen muss. Intendiertes Ziel der Performance ist es, Verhaltensweisen an einen Ort zurückzubringen, die an einem ursprünglich öffentlichen, nun aber privatisierten Ort nicht mehr existieren (vgl. LIGNA 2009). Ortsspezifisches Arbeiten an Täter- und Widerstandsorten Während der Zeit des Nationalsozialismus fanden in Konzentrationslagern wie Theresienstadt oder Auschwitz-Birkenau viele Theateraufführungen von Häftlingen statt. Doch seit der Befreiung der Lager kommen an diesen Orten der Erinnerung nur noch sehr wenige Theaterstücke zur Aufführung. Samantha Mitschke versucht diesen Umstand wie folgt zu erklären: „to perform within a concentration camp would be to somehow deface Holocaust memory and mock the suffering of those imprisoned there“ (Mitschke 2016). Doch die in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte versuchen diese Annahme zu widerlegen. Gerade mit dem theatralen Mittel der Ortsspezifik versuchen die Schüler(innen) und Student(inn)en die Erinnerung an die jeweiligen Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus am Ort des Geschehens aufrechtzuerhalten. Aus dieser Intention heraus finden Theaterprojekte wie ‚Nicht vergessen!‘ oder das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ an ehemaligen Täter- bzw. Widerstandsorten wie dem ehemaligen Jugendkonzentrationslager Uckermark oder dem Lichthof der LMU statt. Auch innerhalb des Projektes
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
‚Spurensuche‘ wurden im Sinne des ortsspezifischen Arbeitens immer wieder ehemalige Täter- und Widerstandsorte aufgesucht, die das theatrale Erinnern an die Opfer der Euthanasie in Haar positiv beeinflussen sollten. So nutzten die Projektbeteiligten für die Erarbeitung einzelner Sequenzen historische Orte wie die ehemalige ‚Tötungsanstalt‘ Schloss Hartheim. Das beklemmende Gefühl, das sie an diesem historischen Ort empfanden, versuchten sie in theatrale Handlungen umzusetzen und so für die Theaterbesucher(innen) auf die Bühne zu transportieren. Ortsspezifisches Arbeiten in den Amateurtheaterprojekten Das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ sowie ‚Nicht vergessen!‘ können dem phänomenologischen Konzept zugeordnet werden. Beide Projekte sind in unmittelbaren Bezug auf den Lichthof bzw. auf das Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark entstanden und ihre Existenz ist an den jeweiligen Ort gebunden. So wurde die szenische Lesung zum ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ unter Einbezug des gesamten Lichthofes auf den verschiedenen Haupt- und Seitentreppen sowie den Balkonen der unterschiedlichen Stockwerke theatral umgesetzt (vgl. Abb. 2.5). Die in der Recherchephase von den Lehramtsstudent(inn)en gesammelten Ideen zur szenischen Umsetzung einzelner Textstellen von Briefen oder Flugblättern der Widerstandsgruppe konnten vor Ort unter Einbezug der architektonischen Besonderheiten und Akustik des Lichthofes mit theatralen Mitteln und Methoden ausprobiert und aufgearbeitet werden. Auch bei ‚Nicht vergessen!‘ war der historische Ort nicht nur für die Präsentation des Projektes von Bedeutung, sondern stellte auch für dessen Entstehung einen wichtigen Schwerpunkt dar. Dagegen ist ‚Spurensuche‘ mit seiner mobilen Bühne zwar nicht an einen konkreten Ort gebunden, allerdings wurden auch hier in der Projektentwicklung historische Orte besucht, um Ideen zu generieren bzw. erste szenische Umsetzungen des recherchierten Materials auszuprobieren. So haben die Schüler(innen) beispielsweise die Raumgestaltung von Schloss Hartheim in ihre Bühnengestaltung übertragen (vgl. in Abschnitt 2.3 ‚Projektentwicklung‘).
5.2.3
Zeitgenössisches Dokumentartheater
Zeitgenössisches Dokumentartheater Die Theaterform des zeitgenössischen Dokumentartheaters erinnert in Teilen an das dokumentarische Theater der 1960er Jahre. Doch handelt es sich hierbei um einen „komplett neuen, stark erweiterten und vergrößerten Ansatz“ (Schlewitt et al. 2014: 8). Im Gegensatz zum dokumentarischen Theater der 1960er Jahre stehen bei dieser Theaterform nicht Schauspieler(innen), sondern Performer(innen) auf der Bühne,
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die sich selbst und nicht eine andere reale oder fiktive Person repräsentieren (vgl. Nikitin 2014: 12 f.). Dementsprechend kann ein zeitgenössisches Dokumentartheater auch rein auf die Biographien der Projektteilnehmer(innen) ausgerichtet sein (vgl. Köhler 2009: 14). Zeitgenössisches Dokumentartheater in den Amateurtheaterprojekten In den drei Theaterprojekten werden viele historische Dokumente theatral verarbeitet. Damit grenzt sich die Arbeitsweise der Amateur(inn)e(n) beispielsweise von der Taboris ab. Dieser arbeitet in seinen Dramen weniger mit dokumentarischem Material, sondern stellt vielmehr die subjektiven, teils widersprüchlichen Geschichten seiner Protagonisten in den Vordergrund. Dabei überlässt er den Zuschauer(inne)n die Entscheidung, ob sie diesen Äußerungen Glauben schenken oder nicht (vgl. in Abschnitt 4.4 ‚Abkehr vom Dokumentartheater der 1960er Jahre‘). Die Darsteller(innen) der Amateurtheaterprojekte setzen dagegen eher auf eine Arbeitsweise, wie sie auch Sylvanus (vgl. in Abschnitt 4.2 „Korczak und die Kinder‘ von Erwin Sylvanus‘) oder Weiss (vgl. in Abschnitt 4.3 „Die Ermittlung‘ von Peter Weiss‘) in ihren Dramen anwenden: Die geschichtlichen Ereignisse werden im Wesentlichen unverändert wiedergeben bzw. das Material wird so zusammengesetzt, dass es aus einem bestimmten Blickwinkel heraus betrachtet werden kann. Vor allem die Theaterskripte zu ‚Spurensuche‘ sowie dem ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ bestehen überwiegend aus zueinander in Beziehung gesetzten Zitaten, die während der Recherchephase gesammelt wurden: Aus Literatur und Filmen wurden Zitate von Opferbiographien entnommen. Die Projektbeteiligten führten Gespräche mit Zeitzeug(inn)en oder recherchierten in ihrer eigenen Familiengeschichte. An Orten wie Schloss Hartheim oder auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslager Uckermark machten sich die Jugendlichen einen Eindruck von der heutigen Beschaffenheit der historischen Orte. Darüber hinaus wird in ‚Nicht vergessen!‘ im Sinne des zeitgenössischen Theaters auch die Familiengeschichte eines Projektbeteiligen theatral verarbeitet. So berichtet dieser dem Publikum von der traumatischen Erfahrung seiner Tante, deren Mutter während des Zweiten Weltkrieges von einem deutschen Soldaten vergewaltigt wurde (vgl. in Abschnitt 2.2 ‚Aufführung‘). Für Theaterprojekte mit einem Aufklärungs- und Erinnerungsanspruch ist Vertrauen von Seiten der Zuschauer(innen) in die Authentizität der verwendeten Dokumente von großer Relevanz. Doch wie sein Vorläufer kann auch das zeitgenössische Dokumentartheater nicht die ‚wahre‘ Vergangenheit erfassen. Der gezeigte Ausschnitt ist immer abhängig von der jeweiligen Wahrnehmung und Interpretation (vgl. Nikitin 2014: 13 f.). Dementsprechend wird mit ‚Spurensuche‘ auch kein Abbild der Vergangenheit angestrebt, sondern es werden für die Darstellung
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
der Euthanasie in der Heil- und Pflegeanstalt prägnante Ereignisse hervorgehoben und diese zur Veranschaulichung mit Einzelschicksalen ergänzt.1 Auch die Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ machte immer wieder deutlich, dass sie mit ihrem Projekt nicht die historische Wirklichkeit abbilden will. Vielmehr soll anhand der Biographien von fünf Frauen exemplarisch auf unterschiedliche Haftgründe und Einzelschicksale eingegangen werden und so den Theaterbesucher(inne)n ein Einblick in die Lebensbedingungen des Lagers vermittelt werden.
5.2.4
Techniken der Verfremdung
Verfremdungstechniken in den Amateurtheaterprojekten Ähnlich wie Tabori oder Jelinek setzen die Projektbeteiligten in ihren Amateurtheaterprojekten immer wieder Techniken ein, die es den Zuschauer(inne)n erlauben, eine Distanz zum Bühnengeschehen aufzubauen. Dabei bedienen sie sich jedoch nicht wie Jelinek des Botenberichts oder der Teichoskopie (vgl. in Abschnitt 4.5 ‚Theatrale Inszenierungspraktiken in aktuellen Theaterinszenierungen‘). Auch der Einsatz einer übersteigerten Komik, wie sie Tabori gerne in seinen Dramen einsetzt, um die geschichtlichen Ereignisse ins Lächerliche zu ziehen (vgl. in Abschnitt 4.4 ‚Einsatz von Verfremdungseffekten und postdramatischen Elementen‘), bleibt hierbei eher außen vor. Vielmehr zeichnet sich die Konzeption der in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte dadurch aus, dass sie einer Ästhetik des Fraktalen unterliegt und die Theaterstücke Sequenzen enthalten, die die Deutungsfreiheit der Zuschauer(innen) gewährleisten. Die geschichtlichen Ereignisse werden somit nicht immer in einer linearen und zusammenhängenden Abfolge gezeigt. Mitunter werden in den Theaterprojekten einzelne Aspekte herausgegriffen und lose aneinandergereiht. Darüber hinaus enthalten die Stücke auch viele deutungsoffene Sequenzen, die nicht die geschichtlichen Ereignisse an sich zeigen, sondern in ihrer Offenheit der Interpretation der Rezipient(inn)en unterworfen sind. Damit werden von den Projektbeteiligten immer wieder Verfremdungstechniken eingesetzt, die das Eintauchen in das Bühnengeschehen behindern und so eine Identifikation mit diesem erschweren. Infolgedessen wird den Zuschauer(inne)n die Möglichkeit gegeben, eine Distanz zum Dargestellten einnehmen zu können.
1 Diesen
Hinweis verdanke ich Renata Behrendt, Thomas Ritter und Christina Ulbricht, die in Kürze auch einen Artikel hierzu veröffentlichen wollen.
5.2 Theatrale Darstellungsformen
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Deutungsoffenheit In ‚Spurensuche‘ werden die Euthanasie-Verbrechen in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar zwar auch auf eine referentielle und nachstellende Weise verarbeitet. Jedoch werden diese Handlungen immer ästhetisch gebrochen und deutungsoffen dargestellt. Damit stehen sie der Arbeitsweise Hochhuths entgegen, der in seinem Drama ‚Der Stellvertreter‘ versucht, den Holocaust direkt auf der Bühne nachzustellen (vgl. in Abschnitt 4.3 „Der Stellvertreter‘ von Rolf Hochhuth‘). In ‚Spurensuche‘ wird nie eine Euthanasie nachgespielt oder eine sterbende Person gezeigt. Es sind lediglich Schüler(innen) zu sehen, die sich beispielsweise langsam absenken oder eine Brücke in roten Shirts überqueren. Diese körperlichen Aktionen deuten zwar auf den Tod hin, bieten aber auch weitere Bedeutungsfelder an.2 Auch in ‚Nicht vergessen!‘ werden viele mehrdeutige Sequenzen gezeigt: Die Draht-Szene oder das Bemalen der Steine mit roter Farbe (vgl. in Abschnitt 2.2 ‚Aufführung‘) sind nur zwei Beispiele dafür. Erstere Sequenz ist in ihrer Interpretation völlig offengehalten. Ob die Rezipient(inn)en hier eine Verbindung zur Geschichte des Jugendkonzentrationslagers Uckermark ziehen oder eine ganz andere Deutung finden, bleibt ihnen überlassen. Das wiederkehrende Element des gemeinsamen Bemalens der Steine mit roter Farbe mag zwar eine Deutung in Richtung Leid und Tod implizieren, aber auch hier wird durch die ästhetische Überformung die Deutung dem Publikum überlassen. Bei diesen Sequenzen werden nicht die historischen Geschehnisse an sich gezeigt, sondern die theatralen Handlungen stehen für sich. Durch die deutungsoffene Darstellungsweise können die Rezipient(inn)en für sich entscheiden, in welchem Kontext sie diese wahrnehmen. Ästhetik des Fraktalen Das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ zeichnet sich aufgrund seines Lesungscharakters dadurch aus, dass es ähnlich wie Stemanns ‚Nathan der Weise‘-Inszenierung das Verbale dem Nonverbalen überordnet (vgl. in Abschnitt 4.5 ,Theatrale Inszenierungspraktiken in aktuellen Theaterinszenierungen‘). Diese theatrale Lesung ist jedoch nicht als lineare Erzählung der Geschichte der ‚Weißen Rose‘ zu verstehen. Vielmehr werden viele Ereignisse ausgelassen und ähnlich wie bei Taboris Drama ‚Die Kannibalen‘ losgelöst voneinander rezipiert, sodass es den Theaterbesucher(inne)n überlassen wird, diese für sich zusammenzufügen (vgl. in Abschnitt 4.4 ‚Einsatz von Verfremdungseffekten und postdramatischen Elementen‘). Auch in ‚Nicht vergessen!‘ wird nicht linear die Geschichte des Jugendkonzentrationslagers Uckermark erzählt. An verschiedenen Stationen wird auf 2 Diesen
Hinweis verdanke ich Renata Behrendt, Thomas Ritter und Christina Ulbricht, die in Kürze auch einen Artikel hierzu veröffentlichen wollen.
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
unterschiedliche Aspekte des Lagerlebens aufmerksam gemacht. Dabei wird jedoch durch Sequenzen wie die Draht-Szene auch immer wieder auf die gegenwärtige Beschaffenheit des Ortes aufmerksam gemacht. Oder aber es wird ähnlich wie in dem Stück ‚Die Dritte Generation‘ die private Erzählung eines Projektbeteiligten an einer Station in den Mittelpunkt gerückt. Inwiefern die Theaterbesucher(innen) diese Sequenzen zueinander in Beziehung bringen, bleibt ihnen selbst überlassen.
5.3
Entstehung und Aufführung der Projekte als Prozess
Die dritte Komponente des Begriffs ‚Amateurtheaterprojekte‘ – das ‚Projekt‘ – soll auf zwei wichtige Merkmale der Theaterstücke aufmerksam machen: die gemeinsame Stückentwicklung von Spielleiter(inne)n und Amateur(inn)en sowie der Einbezug der Zuschauer(innen). Stückentwicklung In ‚Spurensuche‘, ‚Nicht vergessen!‘ sowie dem ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ verstanden sich die jeweiligen Spielleitungen weniger als Regisseur(inn)e(n) und mehr als Impulsgeber(innen). Zwar hatten die jeweiligen Spielleiter(innen) zu Beginn der Projekte eine Grundidee im Kopf, die das Thema und den Rahmen im Vorfeld festsetzte. Im Gegensatz zu den im Exkurs vorgestellten Dramentexten stellte jedoch keine der Leitungen ein fertiges Theaterskript zur Verfügung. Die Theaterleiter(innen) ermöglichten den Spieler(inne)n vielmehr den Zugang zu unterschiedlichen Materialien: Die Amateur(inn)e(n) konnten aus verschiedenen Dokumenten auswählen, an Mahn- oder Gedenkstätten Informationen sammeln oder den historischen Ort selbst auf sich wirken lassen und so Resonanzerfahrungen sammeln. Anhand dieser Recherchearbeit konnte gemeinsam ein Materialienpool generiert werden, der wiederum als Grundlage für die weitere Arbeit diente. Ideen wurden (vor Ort) weiter ausgearbeitet, zueinander in Beziehung gesetzt und gemeinsam reflektiert. So verdichteten sich zunächst voneinander isolierte Gedanken und Konzepte immer mehr zu einem zusammenhängenden Theaterskript, das von den Spielleiter(inne)n und den Amateur(inn)en sukzessive modifiziert und optimiert wurde. Einbezug der Zuschauer(innen) Doch nicht nur in der Entstehung, sondern auch in der Aufführung selbst sind die Amateurtheaterprojekte von einer Prozesshaftigkeit geprägt. So werden die Theaterbesucher(innen) immer wieder in die Performances eingebunden. Damit sind bestimmte Teile der Aufführungen nicht von vornherein ausgelegt wiederholt zu
5.3 Entstehung und Aufführung der Projekte als Prozess
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werden, sondern durch das mögliche Agieren der Rezipient(inn)en ist der Ausgang bestimmter Sequenzen offen und damit einem vorher nicht festgelegten Prozess unterlegt. Im klassischen Theater existiert eine klare Unterscheidung zwischen denjenigen, die auf einer Bühne stehen und eine Figur nachspielen und denjenigen, die ihnen bei diesem Spiel zusehen. Bei dieser Rollenverteilung können die Zuschauer(innen) als passive Rezipient(inn)en in der Masse verschwinden, das gesamte Bühnengeschehen aus der Distanz beobachten und sich unbemerkt mit diesem identifizieren (vgl. Deck 2008: 9). Mitte des 19. Jahrhunderts fordert Richard Wagner jedoch einen aktiven Zuschauer, der zum „Mitschöpfer des Kunstwerkes“ (Wagner 1887/88: 186) werden soll. Diese Forderung wird von Theaterreformer(inne)n aufgegriffen und weitergeführt. So definiert Vsevolod Emiljewitsch Meyerhold 1907 neben Autor(in), Regisseur(in) und Schauspieler(in) das Publikum als den „vierten Schöpfer“ (Meyerhold 1979: 135), das „mit seiner Vorstellungskraft schöpferisch beendet, was die Bühne nur andeutet“ (Meyerhold 1979: 135). Auch in Brechts epischem Theater wird von den Zuschauer(inne)n zunehmend mehr Aktivität gefordert. Demnach soll ein idealer Zuschauer bzw. eine ideale Zuschauerin das Bühnengeschehen nicht nur beobachtend hinnehmen, sondern sich gedanklich mit diesem auseinandersetzen. Im zeitgenössischen Theater geht man noch einen Schritt weiter: Hier wird die ‚vierte Wand‘ zwischen Zuschauer- und Bühnenraum durchbrochen und das Publikum wird mitunter aktiv in die Performance eingebunden (vgl. Sieburg 2008: 7). Diese neuen Bedingungen für das Zuschauen ergeben sich allein durch die Beschaffenheit des ortsspezifischen Theaters. Im site specific theatre sind Bühne und Zuschauerraum nicht mehr voneinander getrennt und die Distanz zwischen Akteur(inn)en und Zuschauer(inne)n wird durchbrochen. Die Rezipient(inn)en haben nicht mehr die Möglichkeit, das gesamte Geschehen von außen zu betrachten, sondern werden selbst Teil der Performance und wechseln damit zwischen der Rolle des Beobachters und des Beobachteten (vgl. Schmidt 2010: 55). Den Rezipient(inn)en ist es nicht mehr möglich, sich passiv auf einen begrenzten Bühnenraum zu fokussieren, sondern es gilt den gesamten Ort und die dort teilweise gleichzeitig ablaufenden Spielhandlungen zu beobachten bzw. selbst zu vollziehen. Dies stellt die Zuschauer(innen) vor neue Herausforderungen, eröffnet ihnen aber auch größere Freiheiten: Jede(r) einzelne Zuschauer(in) kann für sich entscheiden, worauf er seinen Blickpunkt in der Performance richten will (vgl. Fischer-Lichte 2011: 282). In den Theaterprojekten ‚Nicht vergessen!‘ sowie ‚Spurensuche‘ wird die Barriere zwischen Zuschauer- und Bühnenraum abgeschafft. In diesem Sinne knüpfen die Projektbeteiligten der Amateurtheaterprojekte an die Techniken von Sylvanus oder Jelinek an, in denen das Publikum immer wieder direkt angesprochen oder mit
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
Blicken fixiert wird, um so beim Publikum durch den direkten Einbezug den Bezug zur Gegenwart herzustellen (vgl. in Abschnitt 4.2 „Korczak und die Kinder‘ von Erwin Sylanus‘ und in Abschnitt 4.5 ‚Theatrale Inszenierungspraktiken in aktuellen Theaterinszenierungen‘). In den Amateurtheaterprojekten bedingt sich der Einbezug der Rezipient(inn)en allein durch die Beschaffenheit der ‚Bühnensituation‘. In beiden Theaterprojekten gibt es keine festen Sitzplätze. In ‚Nicht vergessen!‘ werden die Zuschauer(innen) durch das gesamte Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers von Station zu Station geführt. Auch in ‚Spurensuche‘ finden sich keine typischen Theaterplätze. Ausgestattet mit mobilen Sitzhockern werden die Zuschauer(innen) immer wieder aufgefordert, sich zu erheben, aktiv mitzuwirken und an einer anderen Stelle wieder Platz zu nehmen. Die Zentralperspektive, von der aus die Rezipient(inn)en das Geschehen überblicken können, wird durch das Einbeziehen der Zuschauer(innen) in die Performances aufgegeben. Darüber hinaus werden die Besucher(innen) in beiden Theaterprojekten selbst zu Akteur(inn)en. Durch das Bemalen der Steine mit roter Farbe in ‚Nicht vergessen!‘ oder die Unterteilung des Publikums mit Seilen in ‚Spurensuche‘ wird das Publikum immer wieder aktiv miteinbezogen.
5.4
Zwischenfazit: Theatrale Darstellungsformen in den Amateurtheaterprojekten
Die in dieser Arbeit untersuchten Theaterprojekte werden von Amateur(inn)en wie Schüler(inne)n oder Studierenden mit unterschiedlichen theatralen Vorerfahrungen umgesetzt. Dabei ist der Begriff des ‚Amateurs‘ nicht negativ zu besetzen. Die Spieler(innen) setzen sich in den jeweiligen Projekten über einen längeren Zeitraum intensiv mit verschiedenen Theatertechniken sowie der Thematik des Holocaust und Nationalsozialismus auseinander. Der Unterschied zum professionellen Theater besteht vor allem darin, dass dieses von den Amateur(inn)en nicht berufsmäßig ausgeübt wird. Wie sich in den obigen Ausführungen gezeigt hat, haben sich die jeweiligen Spielleitungen und Darsteller(innen) in unterschiedlicher Intensität verschiedener Tendenzen des professionellen Theaters von 1945 bis heute bedient. Im Gegensatz zu Goodrichs und Hacketts ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ verschreibt sich die Konzeption der Amateurtheaterprojekte weniger dem ‚traditionellen‘ Theater, sondern setzt eher auf eine performanceorientierte Darstellungsweise, die auf die Nachstellung als auch die Nachahmung im Sinne eines Reenactments verzichtet. Vielmehr stehen die Darsteller(innen) als reale Personen im Mittelpunkt der Performances,
5.4 Zwischenfazit: Theatrale Darstellungsformen in den Amateurtheaterprojekten
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die aus Dokumenten rezitieren. Dementsprechend bedienen sich die Projektbeteiligten auch gerne einer Ästhetik des zeitgenössischen Dokumentartheaters, das an das Dokumentartheater der 1960er Jahre angelehnt ist, jedoch im Gegensatz zu seinem Vorläufer keine Schauspieler(innen), sondern Performer(innen) einsetzt. Die performanceorientierte Darstellungsweise bringt es beim ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ und ‚Nicht vergessen!‘ auch mit sich, dass im Gegensatz zu Theaterstücken wie Sylvanus ‚Korczak und die Kinder‘ oder Taboris ‚Die Kannibalen‘ die ‚traditionelle‘ Bühne verlassen wird und stattdessen historische Orte zur Entwicklung und Aufführung der Projekte aufgesucht werden. Damit arbeiten die Projektbeteiligten auch mit Zugangs- und Arbeitsweisen eines site specific theatre. Des Weiteren charakterisiert die Amateurtheaterprojekte eine ästhetisch überformte Darstellungsweise, die sich beispielsweise von Hochhuths versuchtem dokumentarischem Realismus in ‚Der Stellvertreter‘ abgrenzt. Ähnlich wie Tabori in ‚Die Kannibalen‘ oder ‚Die Dritte Generation‘ unter der Regie von Yael Ronen & The Company werden dabei auch verschiedene Sequenzen losgelöst voneinander dargeboten. So wird beispielsweise in ‚Nicht vergessen!‘ die biographische Geschichte eines Projektteilnehmers eingeflochten, in dem dieser von einer traumatischen Erfahrung innerhalb seiner Familie berichtet. Dieser Einschub könnte in Ansätzen auch einer Ästhetik der Bewältigung, welche hauptsächlich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren umgesetzt wurde, zugeordnet werden. Auch wenn der Darsteller das Trauma nicht selbst erlebt hat, könnte deren theatrale Verarbeitung doch zur Bewältigung des Schreckens, der seiner Familie zugefügt wurde, beitragen. Im Gegensatz zu den im Exkurs betrachteten Dramentexten handelt es sich bei den Amateurtheaterprojekten jedoch um Stücke, die in gemeinsamer Arbeit zwischen Spielleitung(en) und Spieler(inne)n entwickelt wurden. Doch nicht nur in der Entstehung zeichnen sich die Projekte durch ihre Prozesshaftigkeit aus. Durch den Einbezug der Theaterbesucher(innen) wird auch die Aufführung zu einem unwiederholbaren Ereignis, deren Ausgang zu Beginn nicht vorhergesehen werden kann. Damit verwenden die Amateur(inn)e(n) ähnliche Techniken wie Sylvanus oder Jelinek, die in ihren Theaterstücken ebenfalls das Publikum direkt ansprechen und einbeziehen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass sich die jeweiligen Spielleiter(innen) und Darsteller(innen) wie aus einem ‚Baukasten‘ der theatralen Darstellungsformen des professionellen Theaters bedienen. Dabei werden die verschiedenen
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Konzeption der Amateurtheaterprojekte
Theatertechniken entweder von den jeweiligen Leitungen bereits vor Projektbeginn vorgegeben oder sie kristallisieren sich zusammen in der Arbeit mit den Amateur(inn)en während der Entwicklung des Stückes heraus. Amateurtheaterprojekte in Forschung und Wissenschaft Im folgenden Kapitel wird nun auf die bestehenden Forschungskenntnisse zu Amateurtheaterprojekten im Themenfeld von ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ eingegangen. Darauf aufbauend wird aufgezeigt, welches Desiderat hier noch besteht und welche Forschungsfragen mit dieser Arbeit zu beantworten versucht wird.
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Forschungsstand und Forschungsfragen
Forschungsstand Zu Amateurtheaterprojekten im Themenfeld von ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ existieren bereits erste Forschungserkenntnisse zu den Erfahrungs- und Lernprozessen von Akteur(inn)en. 2012 beschäftigten sich Teilnehmer(innen) der Tagung ‚Geschichte und Geschichten auf der Bühne. Möglichkeiten und Grenzen von kultureller und historischer Bildung‘ mit der Frage, welches Potential dem biographischen Theater in Bezug auf die Auseinandersetzung mit NS-Geschichte zugesprochen werden kann. Als Ergebnis konnte festgehalten werden, dass die theatrale Verarbeitung von Einzelschicksalen eine emotionale Komponente mit sich bringt, die bei einer Vermittlung von abstrakteren Geschichtsdarstellungen eher außen vor bleibt. Gerade die Auseinandersetzung mit der individuellen Geschichte einer bzw. eines Holocaustüberlebenden kann helfen, den häufig jugendlichen Darsteller(inne)n ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ anschaulich zu vermitteln. Hierbei gilt jedoch zu beachten, dass die individuellen Erfahrungen um historische und aktuelle Dokumente angereichert werden, um eine Identifikation der Spieler(innen) mit dem Dargestellten zu erschweren (vgl. Lernen aus der Geschichte 2015). Diese Kombination aus biographischem und dokumentarischem Theater versuchte der Workshop ‚Biografisches Theater – Anita Lasker-Wallfisch‘ umzusetzen. In dem zweieinhalbtägigen Workshop versuchten 15 Jugendliche eine szenische Lesung aus der Biografie der Holocaustüberlebenden Anita Lasker-Wallfisch zu erarbeiten. Auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) findet sich eine Video-Collage, in der die Projektteilnehmer(innen) von ihren Emotionen, Bedenken und Erkenntnisgewinnen während des Workshops berichten (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2012). So wird der theatrale Zugang von einem © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_6
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Forschungsstand und Forschungsfragen
Teilnehmer als eine Form der „intensive[n] Auseinandersetzung“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012: 18’18) mit der NS-Thematik beschrieben. Ein anderer Teilnehmer äußert, dass im Gegensatz zum Schulunterricht bei der theatralen Erarbeitung der Thematik nicht so sehr das „faktische, aktive Lernen“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012: 9’27), sondern vielmehr „ein passives Fühlen“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2012: 9’30) im Fokus steht. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Regine Gabriel. Seit 2002 werden in der Gedenkstätte Hadamar Projekttage für Kinder ab neun Jahren veranstaltet. Während dieser Zeit haben die Kinder die Möglichkeit, die Euthanasie-Verbrechen in der ehemaligen ‚Tötungsanstalt‘ Hadamar theaterpädagogisch und gestalterisch aufzuarbeiten. Ein Beispiel hierzu stellt das szenische Straßentheater ‚Lebendige Bilder – Ein Walk Act‘ dar, welches 2006 von sechs Jugendlichen zwischen zwölf und 15 Jahren und zwei ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte ausgearbeitet wurde. In diesem ‚Walk Act‘ verarbeiteten die Jugendlichen mit Standbildern, Körperarbeit oder Präsenz- und Wahrnehmungsübungen die Collagen des Künstlers John Elsas zu eigenen Bildern und Schüttelversen, die sie auf der Straße vor Publikum präsentierten. Dabei bezogen sie aktuelle politische Ereignisse wie Sterbehilfe, Ausgrenzung oder rechtsextremistische Überfälle auf Ausländer(innen) in ihre Performance mit ein (vgl. Gabriel 2013: 405 f.). Gabriel konnte herausstellen, dass gerade die theatrale Aufarbeitung der NS-Geschichte affektive Lernprozesse begünstigt und Empathiebildung fördern kann. Auch Hartmut von Hentig stellt fest: [D]as Theaterspiel [ist] eines der machtvollsten Bildungsmittel, die wir haben: ein Mittel, die eigene Person zu überschreiten, ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht. […] Mit dem Bemühen, einen anderen Menschen darzustellen, gehen alle, die das Theaterspielen nicht nur als Nachahmung eines Schauspielers verstehen, einen wichtigen Schritt zur Erweiterung und Vermenschlichung des eigenen Ichs. (zit. nach Gabriel 2008)
Durch die unmittelbare Beteiligung der Jugendlichen am Lernprozess können die jungen Menschen leichter abgeholt und Parallelen zwischen damals und heute deutlicher erkannt werden (vgl. Gabriel 2008). Desiderat und Forschungsfragen Während bereits erste Erkenntnisse zu den Erfahrungs- und Lernprozessen von Menschen, die sich theatral mit NS-Geschichte auseinandersetzen, bekannt sind, bleibt die Rezeption der daraus resultierenden ‚Produkte‘ bei einer Untersuchung der Amateurtheaterprojekte meist außen vor. Wie Gerd Koch und Marianne Streisand
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Forschungsstand und Forschungsfragen
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herausstellen, sind die Wirkungen des Amateurtheaters „weitgehend unerforscht“ (Koch et al. 2003: 22). Doch die Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus verstehen sich entweder selbst als Erinnerungsform oder ihnen wird diese Funktion von außen zugesprochen. So findet beispielsweise das gymnasiale Theaterprojekt ‚Blickwechsel‘ im Rahmen der Gedenkveranstaltung an die Befreiung des Konzentrationslagers Neuengamme statt (vgl. KZ-Gedenkstätte Neuengamme 2018). Die theatrale Aufarbeitung von Dokumenten im Münchner Volkstheater wird von der ARD als „Gespräche gegen das Vergessen“ (ARD-alpha 2017) bezeichnet. Das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ wird auf der Homepage der LMU München als „theatrales Erinnern“ (LMU München o. J.) angekündigt. Zudem werden die Theaterprojekte auch von entsprechenden Stiftungen wie ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ (evz) gefördert. Darüber hinaus verstehen auch die Projektteilnehmer(innen) ihr Vorhaben als Medium der Erinnerung, innerhalb derer der Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus gedacht werden kann. So wählte die Spielleitung für ihr Theaterprojekt ‚Nicht vergessen!‘ einen programmatischen Titel, während die Spielleitung von ‚Spurensuche‘ dessen Intention mit den Worten: „Es ist eine würdevolle Erinnerung an die Menschen, für die es ursprünglich gedacht war“ (zit. nach Reithmann 2017) umreißt. Da die Amateurtheaterprojekte also als ein Medium unserer Erinnerungskultur verstanden werden, ist die Wirkung auf die Rezipient(inn)en von besonderem Interesse. Aus diesem Grund soll in dieser Arbeit das Rezeptionsverhalten auf solche Amateurtheaterprojekte sichtbar gemacht und damit das Amateurtheater als ein Medium in der Erinnerungskultur näher untersucht werden. Hierzu stehen folgende Forschungsfragen im Zentrum des Interesses: • Welcher Personenkreis wird von den Amateurtheaterprojekten angesprochen? • Wie werden die Amateurtheaterprojekte von den Zuschauer(inne)n wahrgenommen? • Welche Wirkungen des Theaterbesuchs stellen die Zuschauer(innen) an sich fest? Auf Grundlage dieser Erkenntnisse können Anregungen für die Bildungsarbeit formuliert werden, die diese Erinnerungsform impliziert. Beantwortung der Forschungsfragen Bevor das Rezeptionsverhalten des Publikums auf die drei Amateurtheaterprojekte ‚Spurensuche‘, ‚Nicht vergessen!‘ sowie das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ untersucht wird, wird zunächst auf die methodologische und methodische Anlage dieser Arbeit verwiesen. Im folgenden Kapitel wird darauf eingegangen, was unter der Grounded Theory Methodologie verstanden wird und warum die Wahl auf diese
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Forschungsstand und Forschungsfragen
Vorgehensweise qualitativer Sozialforschung gefallen ist. Auch die Verortung der Forscherin im Forschungsprozess wird hierbei aufgezeigt. Des Weiteren wird näher auf die Datenerhebung eingegangen, in deren Rahmen die Auswahl der Theaterprojekte sowie der befragten Zuschauer(innen) dargestellt und ausgeführt wird. Darüber hinaus wird die Form der Datenerhebung, die auf leitfadengestützte Interviews fiel, näher begründet. Abschließend folgt die Darstellung der Datenauswertung mit dem Kodierkasten der Grounded Theory.
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Methodologische und methodische Anlage der Arbeit
7.1
Qualitatives Forschungsdesign
Wahl qualitativer Forschung Das Rezeptionsverhalten von Theaterbesucher(inne)n kann sowohl qualitativ als auch quantitativ erfasst werden. Das qualitative Forschungsdesign bietet dabei eine höhere Wahrscheinlichkeit, mehr über die Innenansicht eines Menschen zu erfahren (vgl. Flick et al. 2008: 14). Gerade mittels qualitativer Forschung kann die Innenperspektive der Betroffenen deutlich konkreter abgebildet werden, als dies beispielsweise mit einer standardisierten Befragung erreicht werden kann. Somit besteht im Vergleich zu stärker standardisierten Methoden das Potential, tiefer in die Materie eindringen zu können (vgl. Flick et al. 2008: 17). Darüber hinaus verzichtet das qualitative Forschungsdesign im Gegensatz zur quantitativen Forschung in der Konzeption seiner Erhebungsinstrumente auf strikt festgelegte Vorannahmen und ist offen für das Neue im zu erforschenden Feld (vgl. Strauss et al. 1996: VII). Auch Romina Schmidt legt diese Stärke qualitativer Forschung offen. Mittels qualitativer Sozialforschung steht dem bzw. der Forschenden „ein (in weiten Teilen) noch ungenutztes Erkenntnispotential offen[]“ (Schmidt 2020: 146), das „neue Sichtweisen auf scheinbar altbekannte Forschungsgegenstände“ (Schmidt 2020: 146) ermöglicht. Besonders wenn dieser Gegenstand noch weitgehend unerforscht ist, eignet sich gerade die qualitative Forschungsweise sehr gut, um diesen in all seinen Facetten zu untersuchen und Aspekte zu betrachten, die bisher noch nicht in die Überlegungen einbezogen worden sind (vgl. Schmidt 2020: 146).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_7
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Methodologische und methodische Anlage der Arbeit
Aufgrund obiger Überlegungen bietet das qualitative Forschungsdesign auch für das in dieser Arbeit erforschte Feld großes Potential. Die Rezeption von Amateurtheaterprojekten zu Holocaust und Nationalsozialismus ist noch wenig bekannt und deshalb nicht allein durch Zahlen der quantitativen Forschung verständlich zu machen. Es müssen zunächst grundlegende Erkenntnisse gewonnen werden, bevor an eine stärker standardisierte Untersuchung mit größeren Teilnehmer(innen)zahlen gedacht werden kann. Aufgrund der Möglichkeit einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld und der Offenheit für die Erfahrungswelten der befragten Zuschauer(innen) wurden aus diesem Grund Ansätze aus der qualitativen Forschung gewählt. Daher basieren die Ergebnisse dieser Arbeit nicht auf statistischen Verfahren oder anderen Arten der Quantifizierung. Vielmehr wurde das Rezeptionsverhalten der Theaterbesucher(innen) mittels einer „der verbeitesten Vorgehensweisen der qualitativen Sozialforschung“ (Strauss et al. 1996: VII) untersucht: der Grounded Theory Methodologie. Grounded Theory Methodologie Die Grounded Theory Methodologie (GTM) wurde ursprünglich von den beiden Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss Anfang der 1960er Jahre entwickelt. 1967 erschien ihr Werk ‚The Discovery of Grounded Theory‘ (vgl. Glaser et al. 1967), das erstmals 1998 in deutscher Übersetzung unter dem Titel ‚Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung‘ (vgl. Glaser et al. 1998) herausgegeben wurde und heute als „kanonisches Schlüsselwerk“ (Ballis 2018, 88) in der qualitativ-interpretativen Sozialforschung gilt. Auch in die Deutschdidaktik hat die Methodologie Eingang gefunden. Anja Ballis führt in ihrem Aufsatz ‚50 Jahre Grounded Theory. Begegnungen zwischen einem Forschungsstil und der Fachdidaktik‘ (vgl. Ballis 2018) 14 deutschdidaktische Studien an, die erfolgreich mit diesem Forschungsstil arbeiten. Ab den 1990er Jahren entwickelten Glaser und Strauss den Forschungsstil in zwei unterschiedliche Richtungen: Während Glaser eher auf Empirie und Theoriebildung setzt, fokussieren sich Strauss und Juliet L. Corbin auf die Ausarbeitung von Kodierverfahren, Memoschreiben und Theoriegenerierung. In Deutschland fand vor allem diese pragmatische Schwerpunktsetzung großen Anklang (vgl. Ballis 2018: 89). Darüber hinaus wurde der Forschungsstil aber auch in andere Richtungen weiterentwickelt (vgl. Glaser 1998; Charmaz 2006; Breuer 2010; Mey et al. 2011; Strübing 2014b; 2018a) und mit anderen Forschungsansätzen verknüpft (vgl. Böhme 2016; Fernandez 2016; Halatcheva-Trapp 2016; Mey et al. 2016; Miethe 2016; Negnal 2016; Unterkofler 2016). Da sich diese Arbeit jedoch vor allem des Kodierkastens
7.1 Qualitatives Forschungsdesign
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der GTM bedient (vgl. in Abschnitt 7.1 ‚Wahl der Grounded Theory als Kodierverfahren‘), folgt die Verfasserin dem vorgeschlagenen Vorgehen von Strauss und Corbin (vgl. Strauss et al. 1996). Die GTM ist eine Forschungsmethodologie, mit deren Hilfe „eine in den Daten begründete Theory (eine ‚grounded theory‘)“ (Strauss et al. 1996: VII) herausgearbeitet werden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, stellen Strauss und Corbin verschiedene Einzeltechniken wie das theoretische Sampling oder das Kodieren zur Verfügung. Letzteres beschreibt Franz Breuer auch als das „Herzstück“ (Breuer 2010: 69) der Methodologie: Kodieren stellt die Vorgehensweise dar, durch die die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozeß, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden. (Strauss et al. 1996: 39)
Beim Prozess des Kodierens wird im Datenmaterial nach Kodes gesucht, die von dem bzw. der Forschenden zunächst sprachlich benannt werden müssen. Daran anschließend werden diese Kodes zu Kategorien ausgearbeitet, die schlussendlich zu einer Theorie verdichtet werden (vgl. Muckel et al. 2016: 161). Beim Kodieren geht es somit um das „Abstrahieren[] in kleineren (und größeren) Schritten“ (Muckel et al. 2016: 162). Um das vermeintlich Offensichtliche ‚aufzubrechen‘, muss der bzw. die Forscher(in) auf Distanz gehen, um das Neue bzw. Verborgene in den Daten entdecken zu können (vgl. Muckel et al. 2016: 162). Beim Kodierprozess unterscheiden Strauss und Corbin zwischen dem offenen, axialen und selektiven Kodieren. Alle drei dieser Strategien sind als Hilfsmittel ausgelegt, um Kodes und Kategorien zu entwickeln, allerdings auf einem unterschiedlichen Abstraktionsniveau. Beim offenen Kodieren, dem „Einstieg in die Auseinandersetzung mit den Daten“ (Equit et al. 2016: 21), werden aus dem Material für das Forschungsvorhaben interessante Phänomene herausgenommen und mit „erste[n] abstrahierenden[n] Sprachbegriffen für die Beschreibung eines in den Daten auftauchenden Phänomens“ (Muckel et al. 2016: 162) versehen. Hierzu wird ein erster Datenausschnitt (z. B. eines Interviews) ausgewählt. Dabei wird es dem bzw. der Forschenden freigestellt, welche Stelle seines bzw. ihres Materials er bzw. sie als erstes auswerten möchte und welchen Umfang diese hat. Wichtig ist nur, dass sie für den bzw. die Forscher(in) von Bedeutung erscheint. Bei der Benennung der Kodes unterscheidet Strauss zwei Arten: konstruierte und In-vivo-Kodes. Unter ersterem können abstrahierende Oberbegriffe [verstanden werden], welche die Forschenden auf dem Hintergrund ihrer theoretischen analytischen Auseinandersetzung mit dem Thema auswählen. (Muckel et al. 2016: 163)
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Methodologische und methodische Anlage der Arbeit
Diese Kodes können als feststehende Begriffe aus bereits bestehenden Theorien stammen oder sie werden selbst formuliert und definiert. Dagegen stammen In-vivoKodes aus dem „‚Feldjargon‘“ (Muckel et al. 2016: 164), d. h. diese Begriffe werden von den Forschungspartner(inne)n selbst gewählt. Der Vorteil dieser Kodevariante besteht darin, dass sie das Phänomen meist anschaulich und plausibel beschreiben, jedoch können die gewählten Begriffe auch von Ungenauigkeiten und Wertungen geprägt sein. All dies mag beim offenen Kodieren bedacht sein, sodass sich dieses als „intensives Ringen um passende sprachliche Ausdrücke“ (Muckel et al. 2016: 164) verstehen lässt. Die Kodes werden im Anschluss hierarchisiert und zueinander in Beziehung gesetzt, wodurch übergeordnete Kategorien entstehen (vgl. Schmidt 2020: 153 f.). Unter Kategorien sind solche Kodes zu verstehen, die als abstrakte und prägnante Begriffe ein hohes Integrationspotential besitzen, weil sie – aufgrund ihrer Abstraktheit – in mehreren sprachlichen Kontexten verwendet werden (können). (Muckel et al. 2016: 164)
Beim axialen Kodieren werden für die Forschungsfrage bedeutsame Kategorien zueinander in Beziehung gesetzt und ausdifferenziert. Als Instrumente stellen Strauss und Corbin hier optionale Werkzeuge wie das ‚Dimensionalisieren‘, die ‚Bedingungsmatrix‘ oder das ‚Kodier-Paradigma‘ zur Verfügung, die nach Bedarf der eigenen Fragestellung angepasst werden können. So kann das Kodier-Paradigma beispielsweise als Hilfestellung dienen, um eine Kategorie mittels der genaueren Betrachtung ihrer Bedingungen, Interaktionen, Strategien, Konsequenzen und Kontexte weiter auszuarbeiten bzw. Beziehungen und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Kategorien aufzudecken. Das Kodier-Paradigma unterstützt den bzw. die Forschende(n) also hinsichtlich einer Strukturierung und Ordnung der ausgewählten Kategorien (vgl. Muckel et al. 2016: 164–166): Das axiale Kodieren führt dazu, dass ein dichtes Netz aus Beziehungen verschiedener Kodes untereinander und mit der gewählten/kodierten Kategorie gewoben wird. (Muckel et al. 2016: 165)
Im Rahmen des selektiven Kodierens werden alle Kodes herausgenommen, die für die Ausarbeitung einer (oder mehrerer) Kernkategorien von Bedeutung erscheinen. Dieser Schlüsselkategorie sind alle anderen Kategorien untergeordnet. Somit ergibt sich schlussendlich eine aus den Daten heraus entwickelte Theorie, die die Forschungsfrage beantwortet (vgl. Schmidt 2020: 153 f.). In diesem Schritt ist die „Kunst des Weglassens“ (Muckel et al. 2016: 167) gefordert. Beim selektiven Kodieren bleiben nur jene Kategorien bestehen, welche auch für die Theorieentwicklung
7.1 Qualitatives Forschungsdesign
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von Interesse sind. Viele interessante Kategorien müssen in diesem Schritt mitunter beiseitegelegt werden, um eine inhaltliche Fokussierung zu ermöglichen und die Theoriebildung voranzutreiben (vgl. Muckel et al. 2016: 167). Der Prozess der Datenauswertung und Theoriebildung ist als „iterativzyklische[s] Prozessmodell“ (Strübing 2014a: 29) zu verstehen, bei dem bis zuletzt Neujustierungen möglich sind. Dieses Vorgehen beschreiben Strauss und Corbin auch als ‚theoretisches Sampling‘. Dieses meint den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächstes erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind. Dieser Prozess der Datenerhebung wird durch die im Entstehen begriffene – materiale oder formale – Theorie kontrolliert. (Glaser et al. 2010: 61)
Der Unterschied zwischen einer materialen und formalen Theorie besteht darin, dass erstere „für ein bestimmtes Sachgebiet oder empirisches Feld“ (Glaser, Strauss 2010: 50) entwickelt wird. Eine formale Theorie wird dagegen „für einen formalen und konzeptuellen Bereich der Sozialforschung“ (Glaser, Strauss 2010: 50) entwickelt. Nach der Erhebung der ersten Daten (beispielsweise in Form eines Interviews oder Beobachtungsprotokolls) werden also bereits erste vorläufige Konzepte hinsichtlich einer Theoriebildung entwickelt (Schmidt 2020: 151 f.). Demzufolge können das offene, axiale und selektive Kodieren nicht als aufeinanderfolgende Verfahren zur Auswertung der Daten verstanden werden. Vielmehr laufen diese parallel und beeinflussen sich wechselseitig. Erst wenn sich keine neuen Erkenntnisse mehr in den Daten finden lassen, gilt eine Theorie als theoretisch gesättigt. Dementsprechend ist auch die Arbeit in Forschergruppen ein essentieller Bestandteil der GTM, um die „[k]ommunikative Validität“ (Schmidt 2020: 154) der Daten zu sichern. Wahl der Grounded Theory als Kodierverfahren Die GTM führt ein „mitunter schillerndes Dasein“ (Schmidt 2020: 149) und steht unter dem Verdacht, des Öfteren „willkürlich“ (Ballis 2018: 92) gebraucht zu werden. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass die Verfahren der Methodologie variabel dem eigenen Forschungsgegenstand angepasst werden können, um „unterschiedliche Formen der Kreativitätsentfaltung [zu] ermöglichen“ (Muckel et al. 2016: 161). Dies darf jedoch nicht mit einer „Einladung zur Beliebigkeit“ (zit. nach Schmidt 2020: 149) verwechselt werden. Vielmehr muss nachvollziehbar und offen dargelegt werden, warum sich der bzw. die Forschende für das jeweilige Vorgehen entschieden hat und von der vorgegebenen Systematik ein stückweit abrückt.
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Methodologische und methodische Anlage der Arbeit
Denn es ist eine Stärke der GTM, das Vorgehen bestmöglich auf den jeweiligen Forschungsgegenstand anpassen zu können und gleichzeitig einer gewissen Systematik zu entsprechen. Dieses Zusammenspiel ist für Schmidt die größte Herausforderung, der es sich zu stellen gilt, wenn man nicht entweder in methodischer Beliebigkeit oder starrer Rezeptanwendung landen möchte. (Schmidt 2020: 150)
Doch wie schon Schmidt feststellt, ist das von Strauss und Corbin empfohlene Vorgehen nicht mit jedem Forschungsfeld in seinen Einzelheiten zu vereinbaren. Im Rahmen der Unterrichtsforschung ist beispielsweise „der Zugang zum Feld, der ohnehin schon einige Anstrengungen erfordert, […] zumeist nur für eine bestimmte Zeit möglich“ (Schmidt 2020: 152). In kurzer Zeit müssen möglichst viele Daten gewonnen werden, sodass das vorgeschlagene theoretische Sampling schwierig umzusetzen ist. Gleiches gilt auch bei der Erhebung der Zuschauer(innen)reaktionen auf die Amateurtheaterprojekte. Auch hier mussten die Daten „auf Vorrat“ (zit. nach Schmidt 2020: 152) gewonnen werden. Idealtypisch hätte nach der Grounded Theory Methodologie bereits nach der ersten Datenerhebung eine Auswertung dieser stattfinden müssen. Auf Grundlage dieser ersten Auswertungsergebnisse hätte das Konzept für weitere Verfahren und Fragestellungen entwickelt werden können (vgl. Strauss et al. 1996: 58 f.). Doch aufgrund der Beschaffenheit des Forschungsfeldes gestaltete sich das für die GTM typische „iterativ-zyklische Prozessmodell“ (Strauss et al. 1996: 58 f.) zwischen Datenerhebung, -auswertung und Theoriebildung als schwierig. Aus diesem Grund wurden die Daten zwischen April und Juli 2017 in Form von leitfadengestützten Interviews erhoben, bevor diese mit dem Kodierverfahren der GTM ausgewertet wurden. Diese Arbeit verschreibt sich daher vor allem in der Datenauswertung dem Kodierkasten der GTM. Die Wahl auf das Kodierverfahren nach der GTM fiel aufgrund dessen, dass dieses nicht nur auf die Überprüfung bereits bestehender Theorien zielt. Mit diesem Vorgehen werden gerade Erkenntnisse „abseits ausgetretener Pfade“ (Ballis 2018: 92) angestrebt. Es werden nicht nur Theorien aus anderen Forschungsarbeiten rezipiert, sondern durch das Kodierverfahren der GTM besteht auch die Möglichkeit, das in den Blick zu bekommen, was in der Theorie noch nicht existiert. Alles andere wäre auch, wie Reiner Keller bemerkt, „ein Zeitvertreib zur Veranschaulichung des theoretischen Vokabulars“ (Keller 2014: Abs. 29). Gerade in der Didaktik scheint es vielversprechend, den Blick von theoretischen Vorannahmen sozialer Wirklichkeit abzuwenden, um diese „praxisorientiert […] verstehen, theoriebasiert […] prägen und nachhaltig […] gestalten“ (Ballis 2019: 48) zu können. So soll in dieser
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Arbeit mithilfe des Kodierverfahrens nach der GTM ein Rezeptionsmodell aufgestellt werden, das die Rezeption von Amateurtheaterprojekten besser verständlich macht. Verortung der Forscherin Vor Beginn dieser Arbeit hatte ich eher wenig Erfahrungen mit Theater. Da ich jedoch sehr an der Vermittlung der Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ interessiert bin, entschloss ich mich dazu, mich mit diesem Medium in der Erinnerungskultur näher auseinanderzusetzen. Nach einigen Recherchen konnte ich feststellen, dass Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus immer wieder zur Aufführung kommen und ein breites Phänomen in unserer Erinnerungskultur darstellen. Daher erschien es mir wichtig, dieses Medium näher zu erforschen. Zwei der drei Amateurtheaterprojekte konnte ich ab ihrem Entstehungsprozess begleiten. So habe ich beispielsweise das universitäre Seminar besucht, in dessen Rahmen die theatrale Lesung des ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzertes‘ entstand. Ich war dabei, als die Student(inn)en ihre ersten Ideen im Lichthof ausprobierten und miteinander diskutierten. Ich durfte beim Probenwochenende anwesend sein, an dem die Spieler(innen) in drei intensiven Tagen die theatrale Lesung ausarbeiteten und einübten. Und auch bei den Generalproben im Lichthof konnte ich dabei sein, als die Student(inn)en ihre theatrale Lesung zum ersten Mal in Verbindung mit der Orgel einübten und letzte Modifikationen in der Umsetzung vorgenommen wurden. So war es mir möglich, den gesamten Entstehungsprozess des Gedenkkonzertes mitzuverfolgen. Ähnlich gestaltete es sich auch bei ‚Nicht vergessen!‘. Auch wenn ich hier die ersten drei Projekttage nicht anwesend konnte, durfte ich auch bei diesem Amateurtheaterprojekt den Entstehungsprozess im Wesentlichen mitbegleiten. Ich konnte unmittelbar dabei sein, als die Spielleitung mit den Projektteilnehmer(inne)n ihre gemeinsam entwickelten Ideen auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark ausprobierten, und mitverfolgen, wie das Projekt immer mehr Form annahm. ‚Spurensuche‘ konnte ich in seinem Entstehungsprozess leider nicht begleiten, da dieses Projekt bereits vor Beginn dieser Arbeit entwickelt wurde. Vor allem bei meiner Teilnahme am universitären Seminar, in dessen Rahmen die theatrale Lesung zum ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ entstand, probierte ich mich bei der Vermittlung des allgemeinen theoretischen sowie praktischen Inputs selbst aus. Zusammen mit den Student(inn)en durfte ich während eines Semesters theatrale Gestaltungsmittel wie den Einsatz von Körper und Stimme, Rollen- und Szenengestaltungen oder die Aufarbeitung von Geschichte mit theatralen Methoden aktiv kennenlernen. Darüber hinaus bekam ich sowohl im ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ als auch in ‚Nicht vergessen!‘ in gemeinsamen Besprechungsrunden mit den
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Methodologische und methodische Anlage der Arbeit
Spielleiter(inne)n und den Darsteller(inne)n die Möglichkeit, über die bisherige Ausarbeitung mitdiskutieren. Je mehr die jeweiligen Projektentwicklungen jedoch fortschritten, desto mehr zog ich mich auf die Beobachterperspektive zurück. Ich machte mir als Forscherin Feldnotizen zum Entwicklungsprozess der Projekte und beobachtete die Spielleiter(innen) und die Teilnehmer(innen) bei ihren Überlegungen hinsichtlich der Stückentwicklung. Wenn es mir möglich war, habe ich mehrere Aufführungen der Projekte besucht. So habe ich beispielsweise das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ seit der Entwicklung von 2017 bis heute jedes Jahr besucht und so auch seine Weiterentwicklung verfolgen können. Auch ‚Spurensuche‘ durfte ich nicht nur in Haar, sondern auch in Cork (Irland) im Rahmen der Tagung ‚Scenario Forum Konferenz 2017‘ besuchen und so die englische Version des Theaterprojektes kennenlernen. Im Feld habe ich also zwischen teilnehmender Beobachtung und beobachteter Teilnahme changiert (vgl. Unterkofler 2016: 300). Während zunächst noch das Sammeln von eigenen Erfahrungen im Mittelpunkt stand, habe ich mich später eher auf das Beobachten und damit die Produktion von Feldnotizen fokussiert. So war es mir möglich, aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Beobachtungen anzustellen: Einerseits konnte ich durch meine unmittelbare Teilnahme an den Projekten mit der Theaterwelt noch besser vertraut werden und so die aktive Perspektive der Akteure kennenlernen. Andererseits war es mir durch das spätere Beobachten der Projektbeteiligten möglich, viele Aspekte der Theaterarbeit festzuhalten, um diese für die spätere Datenanalyse heranzuziehen (vgl. in Abschnitt 7.2.1 ‚Weitere Datenerhebung‘).
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Datenerhebung und -auswertung
7.2.1
Datenerhebung – Leitfadengestützte Interviews
Wahl der Theaterprojekte Aus einer Fülle von Amateurtheaterprojekten (vgl. in Kapitel 1 ‚Prolog‘) wurden das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘, ‚Nicht vergessen!‘ sowie ‚Spurensuche‘ ausgewählt. Dies hat zum einen pragmatische Gründe: Zwei der Projekte kamen unmittelbar in München bzw. im Landkreis München zur Aufführung. Hier bestanden gute Kontakte ins Feld. Zum anderen liegt die Auswahl der Theaterprojekte darin begründet, dass die Konzeption der drei Projekte im Sinne der Grounded Theory eine Kontrastierung der Daten ermöglicht (vgl. Strauss et al. 1996: 35). So werden die Projekte bereits von unterschiedlichen Amateur(inn)en umgesetzt. Während in ‚Spurensuche‘ und dem ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ noch Schüler(innen) und
7.2 Datenerhebung und -auswertung
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Student(inn)en als Darsteller(innen) fungieren, spricht die Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ eine größere Öffentlichkeit an. Hier konnten nicht nur Spieler(innen) der jeweiligen Bildungseinrichtungen mitwirken, sondern alle Personen zwischen 15 und 99 Jahren. Daneben wurden mit ‚Nicht vergessen!‘ und ‚Spurensuche‘ zwei Theaterprojekte ausgewählt, die die Zuschauer(innen) aktiv in die Performance miteinbinden. Als kontrastierender Fall wurde mit dem ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ ein Projekt ausgewählt, in dem das Publikum das Geschehen aus der Beobachterperspektive betrachten kann und nicht in die Präsentation eingebunden wird. Besonders der Ort der Aufführung unterscheidet die drei Amateurtheaterprojekte stark. Sowohl das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ als auch ‚Nicht vergessen!‘ sind an den jeweiligen Widerstands- bzw. Täterort gebunden. Allerdings befinden sich die historischen Orte in einem völlig unterschiedlichen Zustand: Auch wenn das Hauptgebäude der LMU nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut werden musste (vgl. Birken 2013), kann sich das Publikum durch die bestehende Architektur sehr gut vorstellen, von wo aus die Geschwister Scholl die Flugblätter hinuntergeworfen haben müssten. Dagegen erinnert auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers fast nichts mehr an die Architektur des Lagers und die Lebensbedingungen der Häftlinge. Ganz anders gestaltet sich der Aufführungsort bei ‚Spurensuche‘. Das Projekt bespielt keinen historischen Ort, sondern einen mobilen Bühnenraum. Für diese Arbeit wurde jedoch eine Aufführung im Gesellschaftshaus in Haar gewählt, welches sich auf dem Gelände der damaligen Heilund Pflegeanstalt befindet (vgl. Abb. 2.16). In diesem Gesellschaftshaus wurden ab 1943 Patient(inn)en in Notbetten untergebracht, bevor diese auf andere Abteilungen der Heil- und Pflegeanstalt verlegt werden konnten (vgl. kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost o. J.). Auch wenn bei dieser Aufführung nicht unmittelbar der historische Ort bespielt wurde, war mit dieser Aufführung dennoch eine gewisse Nähe zu diesem gegeben. Damit konnte überprüft werden, ob bereits die Nähe zum historischen Ort Einfluss auf die Performance hat. Auswahl der Zuschauer(innen) Die Auswahl der Zuschauer(innen) erfolgte nach dem ‚offenen Sampling‘ (vgl. Strauss et al. 1996: 153–156), was sich aus dem Forschungsfeld ergab. Bei der Auswahl der Zuschauer(innen) war ich auf ihre Freiwilligkeit zur Teilnahme an einem Interview angewiesen. Ich sprach die Besucher(innen) entweder direkt vor oder nach dem Theaterbesuch an oder legte Kontaktzettel aus, über die ich mit ihnen in Verbindung treten konnte. Insgesamt waren 16 Zuschauer(innen) zwischen 19 und 64 Jahren bereit, an den Interviews teilzunehmen.
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Methodologische und methodische Anlage der Arbeit
Im Folgenden wird visuell dargestellt, wie viele der 16 befragten Zuschauer(innen) männlichen bzw. weiblichen Geschlechts sind, wie sich die Altersstruktur gestaltet und welchen Bildungshintergrund diese haben (vgl. Abb. 7.1). Unter einem akademischen Hintergrund sei hier eine abgeschlossene Universitätsbzw. Hochschulausbildung zu verstehen.
Abb. 7.1 Befragte Zuschauer(innen)
Datenerhebung mit leitfadengestützten Interviews Bei der Datenerhebung habe ich mich für das leitfadengestützte Interview entschieden. Die Wahl fiel auf diese Erhebungsmethode aufgrund dessen, dass auch ohne den für die GTM typischen iterativ-zyklischen Prozess zwischen Datenerhebung, -auswertung und Theoriebildung eine „theoretische Sättigung“ (Strauss et al. 1996: 159) erreicht werden sollte. Unter ‚theoretischer Sättigung‘ verstehen Strauss und Corbin, dass:
7.2 Datenerhebung und -auswertung
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1. keine neuen oder bedeutsamen Daten mehr in bezug auf eine Kategorie aufzutauchen scheinen; 2. die Kategorienentwicklung dicht ist, insoweit als alle paradigmatische Elemente einschließlich Variation und Prozeß berücksichtigt wurden; 3. die Beziehungen zwischen Kategorien gut ausgearbeitet und validiert sind. (Strauss et al. 1996: 159)
Ohne eine Sättigung der Kategorien gilt eine Theorie als „konzeptuell unangemessen“ (Strauss et al. 1996: 159). Die Datenerhebung mit leitfadengestützten Interviews ermöglicht einerseits „eine große Dichte und Reichhaltigkeit“ (Strübing 2018b: 104) der Daten, andererseits werden die Zuschauer(innen) in ihren Äußerungen nicht eingegrenzt. Gerade aus letztgenanntem Grund wurden die Interviewfragen möglichst gesprächsanregend formuliert, um die Theaterbesucher(innen) ins Erzählen zu bringen (vgl. Strübing 2018b: 102–106). Insgesamt war der Leitfaden in drei Themenfelder untergliedert: Motivation für den Theaterbesuch, Wahrnehmung der einzelnen Theaterformen und -elemente sowie Wirkung des Theaterprojektes. Dabei wurde zu Beginn jedes Themenfeldes eine erzählgenerierende Frage gestellt: ‚Was hat Sie bewegt die Inszenierung zu besuchen?‘, ‚Welche Szene ist Ihnen am stärksten in Erinnerung geblieben?‘ sowie ‚Werden Sie sich an das Stück noch lange erinnern?‘. Gleichzeitig war das Interview schwach strukturiert. Es wurden zwar bei allen befragten Zuschauer(inne)n die gleichen Themen abgefragt, allerdings variierte die Abfolge der Fragen je nach Gesprächsverlauf. Auch wurde auf die persönliche Gewichtung einzelner Fragen eingegangen und wenn nötig individuell zugeschnittene Fragen in der Situation formuliert, um die Befragten in der ausführlichen Darstellung ihrer Meinungen und Blickwinkel nicht einzuschränken (vgl. Strübung 2018b: 102–106). Mit dieser Form der Datenerhebung konnte somit auf der einen Seite eine Reihe von Themen angesprochen werden, sodass das Forschungsthema umfänglich erschlossen und damit eine ‚theoretische Sättigung‘ erreicht werden konnte. Auf der anderen Seite kamen jedoch auch die persönlichen Ansichten der Rezipient(inn)en, die einen tieferen Einblick in das Forschungsfeld geben, nicht zu kurz. Aufgrund der teilweise großen räumlichen Entfernung fanden die Interviews zum Teil telefonisch statt. In der Regel umfassten sie eine Zeitspanne zwischen 30 und 60 Minuten und wurden je nach den zeitlichen Möglichkeiten der Interviewten zwischen einer knappen Woche und sechs Wochen nach dem Theaterbesuch durchgeführt. Dabei wurden forschungsethische Grundsätze berücksichtigt (vgl. Unger 2014: 22–31): Die Teilnahme an den Interviews war freiwillig. Die Interviewten wurden mittels eines allgemeinen Informationsblatts, das ihnen vorab zugeschickt
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Methodologische und methodische Anlage der Arbeit
wurde, über die Studie informiert. Zum Schutz der interviewten Zuschauer(innen) wurden die Namen durch ein Pseudonym ersetzt, um die Feststellung der Identität auszuschließen oder wesentlich zu erschweren. Dieses Pseudonym besteht aus zwei Buchstaben, bei dem der erste völlig willkürlich gewählt ist, während der zweite das Geschlecht kennzeichnet (w/m). Auch habe ich immer wieder versucht, meinen subjektiven Einfluss auf den Forschungsprozess hinsichtlich meiner Wahrnehmungen und meines Handelns kritisch zu reflektieren und in den Erkenntnisprozess einzubeziehen. Weitere Datenerhebung Neben den leitfadengestützten Interviews wurden weitere Daten in Form von Feldnotizen, Flyern, Fotos, Videomitschnitten, Theaterskripten oder Interviews mit Projektleiter(inne)n bzw. dem Organisten des ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzertes‘ erhoben. Für die Darstellung der Rezeption der Amateurtheaterprojekte wurden neben den Flyern zur Werbung für die Projekte vornehmlich die leitfadengestützten Interviews mit den Theaterbesucher(inne)n ausgewertet. Dagegen wurden die darüber hinaus genannten Datenquellen eher zur Herausarbeitung der Projektidee und -entwicklung sowie zur Darstellung der Aufführung bzw. der Konzeption der Theaterprojekte herangezogen. Hierzu stellten unter anderem die Feldnotizen einen wichtigen Anhaltspunkt dar. Um möglichst viele Aspekte der Projektarbeit festzuhalten, wurde das Feld sehr offen beobachtet und auch vermeintlich unwichtige Dinge festgehalten, die sich später jedoch als relevant herausstellen könnten. Dies geschah vor dem Wissenshintergrund, dass die Projektarbeit der Amateur(inn)e(n) nie in ihrer Vollständigkeit erfasst werden kann und die eigene Wahrnehmung immer auf bestimmte Ausschnitte des Gesehenen gerichtet sein wird. Im Sinne des theoretischen Samplings hat sich im Laufe der Zeit der Blick auf die Theaterprojekte jedoch immer mehr auf eine Fragestellung hin fokussiert. Die dabei entstandenen Beobachtungen wurden in Form von Feldnotizen festgehalten, um sie hinsichtlich einer Analyse der Projektkonzeption zugänglich zu machen. Um Erinnerungslücken zu vermeiden, wurden diese Feldnotizen entweder direkt im Feld oder zeitnah nach dem Feldaufenthalt angefertigt (vgl. Unterkofler 2016: 296–298). Um die Konzeption der Amateurtheaterprojekte näher beschreiben zu können, wurden neben den Feldnotizen aber auch Fotos, Videomitschnitte und Theaterskripte herangezogen. Darüber hinaus wurde mit dem Organisten des Gedenkkonzertes ein Gespräch bzgl. der ausgewählten Orgelstücke geführt, während die Projektleiter(innen) unter anderem zum Licht- und Projektionseinsatz sowie zur Weiterentwicklung der Projekte interviewt wurden.
7.2 Datenerhebung und -auswertung
7.2.2
117
Datenauswertung – Grounded Theory
Die Interviews wurden inhaltlich-semantisch nach den Regeln von Udo Kuckartz, Thorsten Dresing, Stefan Rädiker und Claus Stefer transkribiert (vgl. Kuckartz et al. 2008: 27 f.). Für die Auswertung und Analyse der Daten wurde mit der Software MAXQDA gearbeitet. Nach der Transkription der Interviews wurden diese mit dem mehrstufigen Verfahren des offenen, axialen und selektiven Kodierens ausgewertet (vgl. in Abschnitt 7.1 ‚Grounded Theory Methodologie‘). Beim offenen Kodieren wurde ein Weg gewählt, bei dem aufgrund der großen Datenfülle zunächst ganze Sätze oder Abschnitte kodiert wurden. Danach wurde eine detaillierte Analyse der Textstellen vorgenommen, die für die Forschungsfragen als relevant erschienen und diese Zeile-für Zeile analysiert (vgl. Strauss et al. 1996: 53 f.). Die Transkripte wurden somit wiederholt gelesen, immer wieder nach bereits festgelegten Kodes untersucht und bereits analysierte Daten in Bezug auf neue Kategorien untersucht. Dieser Prozess der Gewinnung und Generierung neuer Überlegungen dauerte bis zum Ende der Auswertung aller Daten an. Die Kategorien sind dabei entweder induktiv entstanden oder waren Ergebnis deduktiven Denkens während der Analyse. Die Bezeichnung der Kategorien wurde dementsprechend entweder aus der Forschungsliteratur bzw. aus den Interviews als In-vivo-Kodes übernommen oder von mir selbst benannt. Das Potential in der Generierung von induktiven Kategorien besteht gerade darin, dass durch das Vermeiden von bereits bekannten Kategorien oder dem Festhalten an vorab entwickelten Theorien neuen Entdeckungen Raum gegeben wird (vgl. Strauss et al. 1996: 32). Dementsprechend wurde die Literatur auch nicht in ihrer Gänze im Voraus durchgesehen. Um kreative Bemühungen nicht einzuschränken und in der Datenanalyse Kategorien auftauchen zu lassen, an die vorher noch niemand gedacht hat, wurde erst nachdem sich eine Kategorie als relevant erwiesen hat, auf entsprechende Fachliteratur zurückgegriffen (vgl. Strauss et al. 1996: 33 f.). Dies geschah mit dem Wissen, dass es wohl keinen neutralen Beobachterstandpunkt [gibt], von dem aus die (soziale) Wirklichkeit und die ihr zugrundeliegenden Strukturen unvoreingenommen erfasst werden könnten […]. (Equit et al. 2016: 17)
Bei der Datenerhebung und -auswertung werden wahrscheinlich immer theoretische Grundannahmen bestehen, die zumindest implizit die Kategorienbildung mit beeinflussen (vgl. Equit et al. 2016: 17). Dennoch wurde zumindest versucht, die Kategorienbildung möglichst unvoreingenommen aus den Daten heraus zu generieren, um in ihnen das Neue zu entdecken.
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7
Methodologische und methodische Anlage der Arbeit
Zu den Standards dieses Forschungsvorgehens gehört auch die Arbeit in Gruppen (vgl. in Abschnitt 7.1 ‚Grounded Theory Methodologie‘). Dementsprechend habe ich meine aus den Daten gewonnenen Vorannahmen und Folgerungen mit den Lesarten anderer Kolleg(inn)en abgeglichen. Ausgearbeitete Kategorien Bei der Auswertung der Daten konnten verschiedene Kategorien ausgearbeitet werden, die sich auf die Zeit vor, während und nach dem Theaterbesuch verteilen. Diese Kategorien werden im folgenden Kapitel näher vorgestellt. Eine Übersicht der Ergebnisse findet sich daran anschließend (vgl. Abb. 8.2). Dem folgt eine Interpretation der Ergebnisse sowie deren Einordnung in den aktuellen Erinnerungsdiskurs. In diesem Kontext wird auch das auf den Ergebnissen basierende Rezeptionsmodell für Amateurtheaterprojekte näher vorgestellt (vgl. Abb. 8.3).
8
Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
8.1
Vor dem Theaterbesuch
Soziale Zusammensetzung des Publikums Viele der befragten Zuschauer(innen) erhielten die Information, dass ein Amateurtheaterprojekt zu Holocaust und Nationalsozialismus aufgeführt wird, über persönliche Kontakte zu den Projektbeteiligten. So gibt beispielsweise Lw an, dass die Werbung für ‚Nicht vergessen!‘ „sehr verhalten“ (Lw: Z. 7 f.) gewesen sei und sie nicht wisse, ob diese sie erreicht hätte, wenn sie keine(n) der Projektbeteiligten gekannt hätte. Darüber hinaus war auch eine räumliche Nähe zum Aufführungsort bzw. ein Bezug zur Institution, in deren Rahmen die Theaterprojekte stattfinden, hilfreich, um von der Existenz der Projekte zu erfahren: „[I]ch hatte das [‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘] auch eben, weil ich an der Uni studiere, es irgendwie mitbekommen.“ (Ew: Z. 29 f., vgl. zu ‚Spurensuche‘ auch Sw: Z. 3 f.). Ein solcher Bezug kann nicht nur in der direkten Angehörigkeit zur jeweiligen Institution bestehen, sondern sich auch durch das Interesse an dieser ausdrücken: Und ich gucke auch im Netz. (.)1 Ja, wie gesagt, weil ich auch an der Uni war und weiß, dass es hier eigentlich auch ganz interessante Veranstaltungen gibt. Auch Konzerte, die hier schon waren in der Aula und so weiter. Selber sogar schon aufgetreten (lachend). (Aw: Z. 7–10)
1 Die
Pausen in den Interviews werden durch Auslassungspunkte ‚(…)‘ markiert (vgl. Kuckartz et al. 2008: 27). Die Anzahl der Punkte steht dabei für die Länge der Pausen. Für eine Sekunde ein Punkt, für zwei Sekunden zwei Punkte und eine darüber hinaus gehende Pause wird mit drei Punkten gekennzeichnet.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_8
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
Die Aussagen der befragten Zuschauer(innen) legen somit nahe, dass die soziale Zusammensetzung des Publikums von Amateurtheaterprojekten sehr homogen ist. Die Projekte finden im Rahmen von Bildungseinrichtungen wie Schulen oder Universitäten statt. Die Zuschauer(innen) erfahren von den Projekten jedoch vornehmlich über die jeweiligen Projektbeteiligten bzw. durch die Institution selbst. Dementsprechend lassen sich unter den befragten Zuschauer(inne)n überwiegend Akademiker(innen), auch mit pädagogischem Hintergrund, finden (vgl. Abb. 7.1). Motivation für einen Theaterbesuch Die Amateurtheaterprojekte werden von den befragten Zuschauer(inne)n nicht nur mit dem Ziel des Erinnerns und Gedenkens an die jeweiligen Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus besucht. Ein wichtiger Aspekt zur Motivation eines Theaterbesuchs sind erneut persönliche Verbindungen zu den jeweiligen Projektbeteiligten. Manche der Besucher(innen) nennen als hauptsächlichen Grund für ihre Motivation das Mitwirken eines Familienmitglieds an den Projekten. Da die Tochter, der Sohn, die Schwester oder auch der Bruder als Akteur(in) in den Aufführungen mitwirken, entschließen sie sich, die Aufführung zu besuchen (vgl. Bw: Z. 3; Lw: Z. 2; Nm: Z. 3; Zm: Z. 3–5). Darüber hinaus gibt Tm an, dass er ‚Spurensuche‘ lediglich als Begleitung seiner Freundin besuchte (vgl. Tm: Z. 4–6). Diese kannte wie viele andere der befragten Zuschauer(innen) bereits einen bzw. mehrere der Projektbeteiligten und wollte sich ansehen, was diese erarbeitet haben (vgl. Cw: Z. 4–12; Hw: Z. 8–10; Km: Z. 6 f; Pw: Z. 3 f.). Auch Rw nennt dies als primäre Motivation für den Theaterbesuch: Der erste [Grund] ist, dass […] die eine von den Projektbeteiligten […] eine Kollegin von mir ist, […] mit der ich eben in einem anderen Projekt zusammenarbeite und dann interessiert mich das natürlich immer, was andere Leute so treiben. (Rw: Z. 3–6)
Oft sind es gerade diese sozialen Kontakte, die die Besucher(innen) motivieren, die Performances, die aufgrund ihrer Ortsgebundenheit nicht immer „um die Ecke“ (Lw: Z. 10) gelegen sind, zu besuchen. Vor allem die Zuschauer(innen) von ‚Nicht vergessen!‘ geben an, dass die Fahrt zum abseits gelegenen Ort des ehemaligen Jugendkonzentrationslager Uckermark mit einigem Zeitaufwand verbunden ist (vgl. Bw: Z. 15–22; Nm: Z. 6 f.): „Also, ich nehme viel Kultur, (.) viele Angebote wahr, aber wenn es jetzt bisschen weiter ist ähm muss ich gucken, wie sich das zeitlich eingrenzen lässt“ (Lw: Z. 14 f.). Doch gerade die Aufführung am historischen Ort, kann auch den Reiz für den Besuch der Amateurtheaterprojekte ausmachen. Die Zuschauer(innen) sind neugierig, wie die szenische Umsetzung ohne eine traditionelle Bühne aussehen kann (vgl.
8.1 Vor dem Theaterbesuch
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Aw: Z. 12–14; Bw: Z 31 f.; Ew: Z. 33–35; Pw: Z. 6 f.). So erwartet Dw gespannt, wie die szenische Lesung zum ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ im Lichthof umgesetzt wird: Genau, wie auch eben vor allem das Theater (..) funktioniert mit den Treppenstufen2 , die da ja sind. Weil es ja keine Bühne, so wie man es sich im eigentlichen Sinne vorstellt, […] gab […]. (Dw: Z. 28–30)
Der Aspekt der Ortsgebundenheit kann ein solches Gewicht einnehmen, dass die in den Projekten behandelte Thematik fast gänzlich in den Hintergrund tritt. So gibt Km an, dass er ‚Nicht vergessen!‘ vor allem aufgrund des ortsspezifischen Konzepts besucht hat: [Ich fand] das Thema der Ortsspezifik ziemlich interessant, weil wir das kurz vorher in einem Seminar besprochen hatten. Und […] dass diese Ortsspezifik direkt an so einem historischen Ort (.) stattfand, fand ich nochmal interessant. (Km: Z. 7–11)
Die Erwartung, die Km an ‚Nicht vergessen!‘ hat und die die vorwiegende Motivation für seinen Theaterbesuch darstellt, sieht er nach der Aufführung als erfüllt an: Also ich fand die Inszenierung im Allgemeinen gut, weil […] ich für mich (.) ziemlich neue, interessante Dinge (.) kennenlernen durfte. Nämlich einmal das Ortsspezifische an sich als (.) Grundgerüst oder Grundidee von Theater machen und auf der anderen Seite ähm ja das Einsetzen von verschiedensten Mitteln dafür. (Km: Z. 453–458)
Auch über die Ortsspezifik hinaus motiviert die Neugier an der szenischen und dramaturgischen Umsetzung der jeweiligen Theaterprojekte für einen Besuch. So weckt mitunter auch die Frage nach der theatralen Verarbeitung des Holocaust und Nationalsozialismus durch eine jüngere Generation das Interesse der Rezipient(inn)en (vgl. Bw: Z. 768–771). In Bezug auf das Orgelkonzert stellt auch die Auswahl der vorgetragenen Zitate und der begleitenden Musikstücke der theatralen Lesung ein Beweggrund hierfür dar (vgl. Aw: Z. 39–42; Ew: Z. 34–36; Fm: Z. 40–44). Der Erlebnischarakter der Theaterperformances stellt eine weitere wichtige Motivationsgrundlage dar. Hierbei steht weniger die theatrale Darbietung an sich im Vordergrund, sondern vielmehr deren Einbindung in einen übergeordneten Rahmen. So wird das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ von drei der insgesamt vier befragten 2 Von den Zuschauer(inne)n besonders betonte Wörter werden entsprechend der verwendeten
Transkriptionsregeln durch Unterstreichungen gekennzeichnet (vgl. Kuckartz et al. 2008: 27).
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
Zuschauer(innen) aus musikalischem Interesse besucht. Sie möchten im Gedenkkonzert den Klang der Weiße-Rose-Orgel im Lichthof der LMU erleben (vgl. Dw: Z. 30–46; Ew: Z. 35 f.; Fm: Z. 10 f.): Es war vor allem die Orgel tatsächlich […] in Kombination. Ich war vorher schon mal bei einem (.) Orgelkonzert und dann bin ich da eben mit Freunden dann, die auch die Orgel noch nicht kannten, dann nochmal hingegangen […]. (Dw: Z. 15–17)
Abb. 8.1 Plakat für das ‚Weiße-RoseGedenkkonzert‘ 2017. (Mit freundlicher Genehmigung von © Sabrina Braun und Felix Glocker [2017]. All Rights Reserved)
Es liegt nahe, dass diese Fokussierung auf den musikalischen Part auch in der Art und Weise der Bewerbung für die Veranstaltung begründet liegt. So hebt die Gestaltung von Flyer und Plakat (vgl. Abb. 8.1) sowohl in der Anordnung als auch in der Typographie von Titel und Beschreibung in erster Linie das Konzert hervor. Die theatrale Lesung erscheint dagegen untergeordnet. Nicht nur ist der Musikanteil titelgebend, auch wird dieser in einem größeren Schriftgrad und fettgedruckt vor der theatralen Lesung genannt. Darüber hinaus suggeriert die Verwendung der Präposition ‚mit‘, dass es sich bei der theatralen Lesung mehr um ein Beiwerk der
8.1 Vor dem Theaterbesuch
123
musikalischen Hauptveranstaltung handelt. Dies wird ebenfalls durch den gewählten Bildausschnitt deutlich, welcher die Orgel abbildet, den Bühnenbereich dagegen ausblendet bzw. verdeckt. Doch auch jene Rezipient(inn)en, welche in erster Linie eine Theateraufführung erwarten, sind häufig von dem potentiellen Erlebniswert der Theaterprojekte zum Besuch motiviert. Neben einer persönlichen Theateraffinität (vgl. Cw: Z. 8–10) und Empfehlungen aus dem Bekanntenkreis (vgl. Gm: Z. 4–10; Sw: Z. 3–8) ist auch der erwartete Erlebnischarakter der Aufführung häufig ein Grund für den Theaterbesuch. Dies zeigt sich beispielsweise an Aussagen von Km, der angibt, dass es für ihn „ziemlich wichtig“ (Km: Z. 11) gewesen sei, dass er die Veranstaltung mit einem „Familienausflug“ (Km: Z. 12) verbinden konnte. In ähnlicher Weise verbindet auch Rw den Besuch von ‚Nicht vergessen!‘ mit ihrer Freizeitgestaltung, in der sie ihr noch unbekannte „Orte in Brandenburg erkunde[t]“ (Rw: Z. 12). Durch die Einbettung von Amateurtheaterprojekten in größere Veranstaltungen kann der erwartete Erlebnischarakter für die Besucher(innen) noch verstärkt worden sein. So nennt beispielsweise Gm die Aufführung von ‚Spurensuche‘ „im Rahmen des Summer Festivals“ (Gm: Z. 3) als Hauptgrund für seinen Besuch. Aufgrund der Tatsache, dass Gm angibt, wenig konkrete Erwartungen an das Stück selbst zu haben (vgl. Gm: Z. 22), könnte die Grundhaltung primär durch die Erwartung an die übergeordnete Veranstaltung – das Festival – bestimmt sein. Insgesamt zeigt sich, dass der Besuch von Amateurtheaterprojekten zu Holocaust und Nationalsozialismus nicht vom Interesse an der Thematik abhängt. Bei vielen der befragten Zuschauer(innen) sind die sozialen Kontakte zu den Projektbeteiligten, die Neugier auf die formale Umsetzung am historischen Ort oder der erhoffte Erlebniswert der ausschlaggebende Punkt für den Theaterbesuch: Genau, also da gibt es (.) glaube ich vier Gründe. Der erste ist, dass äh (.) die eine von den Projektbeteiligten (.) äh eine Kollegin von mir ist, […] mit der ich eben in einem anderen Projekt zusammenarbeite und dann interessiert mich das natürlich immer, was andere Leute so treiben. Dann finde ich natürlich auch das Thema sehr spannend. (.) Ähm (.) dann fand ich auch, (..) ähm (.) ja hat mich das sozusagen bewogen, weil ich eben auch mal an der Uni [Name der Uni] studiert habe und das gerne, (.) ich gerne die Gelegenheit wahrgenommen habe, sozusagen: ‚Oh was passiert da denn so zurzeit?‘ Und das andere (.) vierte ist auch, dass ich äh (..) sehr gerne (..) ähm (.) genau (..) an Sommertagen oder Wintertagen (.) Orte in Brandenburg erkunde, die ich einfach noch nicht kenne. (Rw: Z. 3–13)
Während das Interesse an der Thematik bisweilen als ein Motivationsgrund für den Theaterbesuch genannt wird, wird dieses meist nicht weiter begründet. Teilweise
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
werden die Bekundungen am thematischen Interesse nur als Halbsatz eingeschoben oder wie im obigen Zitat als „natürlich“ (Rw: Z. 7) bezeichnet. Dagegen werden anderweitige Motivationsgründe wie beispielsweise die sozialen Verbindungen zu den Projektbeteiligten oder zur Institution näher ausgeführt. Ob also ein wirkliches Interesse an der Thematik besteht oder ob dieses nur im Sinne sozialer Erwünschtheit ergänzend genannt wird, bleibt bisweilen offen. Nur wenige der befragten Zuschauer(innen) benennen als ausschlaggebendes Kriterium für den Theaterbesuch den Wunsch, sich mit den in den Projekten behandelten Thematiken auseinanderzusetzen. Diese Rezipient(inn)en wollen durch ihren Theaterbesuch Näheres über das Schicksal der jeweiligen Opfergruppen (vgl. Aw: Z. 29; Bw: Z. 10– 12; Fm: Z. 8–10) oder über die Geschichte ihres Studien- bzw. Heimatortes erfahren (vgl. Dw: Z. 17–20; Ew: Z. 31–33; Gm: Z. 13–20). Erwartungen an die Theaterprojekte Das grundlegende Konzept, der Opfer des Nationalsozialismus im Rahmen von Amateurtheaterprojekten zu gedenken, wird von vielen der befragten Zuschauer(innen) als etwas „ganz Neues“ (Fm: Z. 19; vgl. auch Aw: Z. 17–19; Bw: Z. 39–46; Fm: Z. 169–171; Sw: Z. 58) wahrgenommen. Die mehrdeutige, aber auch performanceorientierte Ausrichtung der Projekte und ihre Aufführung an historischen Orten unter Einbezug des Publikums wird von den Rezipient(inn)en als „neue Erfahrung“ (Bw: Z. 45) beschrieben, die sie in dieser Art und Weise das „erste Mal“ (Aw: Z. 19) erlebt haben. Dementsprechend können die meisten der befragten Zuschauer(innen) ihre Erwartungen an die Theaterprojekte „nicht spezifizieren“ (Km: Z. 24; vgl. auch Dw: Z. 26; Ew: Z. 50 f.; Fm: Z. 40–44; Gm: Z. 22; Hw: Z. 13 f.; Nm: Z. 9; Rw: Z. 16– 24) und sind von ihren Vorerfahrungen mit dem Amateurtheater beeinflusst. Je nachdem welche Erlebnisse sie mit diesem Medium bereits gemacht haben und über welche Vorinformationen sie zu den Veranstaltungen verfügen, gestaltet sich ihre Grundhaltung wohlwollend bis skeptisch. Zuschauer(innen), die mit der Konzeption der Theaterprojekte oder der Arbeitsweise der Spielleiter(innen) vertraut sind, und hier bereits positive Erfahrungen gemacht haben, gehen tendenziell mit einer positiveren Grundhaltung in die jeweiligen Performances (vgl. Lw: Z. 19–21; Pw: Z. 10–21). Dem stehen Besucher(innen) gegenüber, die zu Beginn eher „keine großen Erwartungen“ (Bw: Z. 33) an die Performances gestellt haben. Dies kann zum einen mit Erfahrungen hinsichtlich der Professionalität von Amateur(inn)en zusammenhängen (vgl. Tm: Z. 16–22), zum anderen aber auch mit dem Wissen, dass die Spieler(innen) für die Projektentwicklung mitunter nur eine Woche Zeit hatten (vgl. Bw: Z. 34 f.). Wieder andere Rezipient(inn)en hatten hingegen keine konkreten Erwartungen an die Projekte, was vermutlich damit in Verbindung steht, dass
8.2 Während des Theaterbesuchs
125
diese Zuschauer(innen) bisher weder mit der Form noch mit dem Amateurtheater an sich Vorerfahrungen sammeln konnten. Diese Zuschauer(innen) haben „einfach mal geguckt“ (Ew: Z. 50), was auf sie zukommt, waren „gespannt“ (Km: Z. 23), „neugierig“ (Fm: Z. 40) und haben sich auf die Performance „gefreut“ (Km: Z. 23). Hinsichtlich des historischen Themenbereichs ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ äußern sich die befragten Besucher(innen) zumeist dahingehend, dass sie ihren eigenen Wissensstand als gut informiert einschätzen (vgl. Hw: Z. 79 f., 426 f.; Zm: Z. 410 f.). Viele geben an, durch den schulischen Geschichtsunterricht oder durch kulturelle Angebote wie Ausstellungen bereits des Öfteren mit der Thematik in Berührung gekommen zu sein (vgl. Ew: Z. 42–47; Km: Z. 475–477): „Jeder kennt das Thema. Also des ist jetzt nicht sowas Außergewöhnliches“ (Sw: Z. 280 f.). Die Rezipient(inn)en haben somit nicht so sehr Interesse an der Aneignung von neuem Faktenwissen. Vielmehr erwartet sich beispielsweise Aw von dem Theaterbesuch neue Erfahrungen und einen über das Kognitive hinaus gehenden Zugang zur Thematik: Ja, ich war schon sehr gespannt, […] wie […] sie es natürlich machen. Das […] war sehr spannend. Weil, wenn man, […] bin eigentlich relativ viel in allen möglichen Theatern, Experimentiertheater und alles Mögliche. Also da war ich sehr gespannt. Weil, ich mein, die (.) Thematik selber ist ja… Ja, ist ja bekannt, also durch die Filme und so. (Aw: Z. 39–44)
Die Formulierung „und so“ (Aw: Z. 44) impliziert, dass die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in der deutschen Erinnerungskultur als omnipräsent wahrgenommen wird (vgl. hierzu auch Zm: Z. 461–463). Durch die Theaterprojekte eröffnet sich im Vergleich zur reinen Vermittlung von Sachwissen ein anderer, vor allem emotionaler und reflexiver Zugang zur Thematik (vgl. Hw: Z. 81 f.; Nm: Z. 232–234; Sw: Z. 279 f., 382–384). Dieses von den Zuschauer(inne)n als ‚neu‘ erlebte Gedenken und Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus wird im Folgenden näher dargestellt.
8.2
Während des Theaterbesuchs
8.2.1
Möglichkeit der Selbstjustierung von Nähe und Distanz
Möglichkeit analogen Denkens und metaphorischer Erkenntnis Mit dem Themenbereich ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ verbinden manche der befragten Zuschauer(innen) Sorge vor einer emotionalen Überwältigung. Wenn
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
sie von der Thematik in den Theaterprojekten erfahren, sind verschiedene Besucher(innen) „erstmal ein bisschen abgeschreckt“ (Sw: Z. 11 f.). So hat beispielsweise Rw mit der Aufführung von ‚Nicht vergessen!‘ zunächst die „Angst […] in so eine Gedenkschwere“ (Rw: Z. 131) zu verfallen verbunden: „[I]ch bin halt auch so eine Person, (.) ich besuche sonst (.) irgendwie eine der größeren Gedenkstätten und kann… drei Wochen schlaf ich nicht oder so“ (Rw: Z. 716–718). Sw beschreibt in ähnlicher Weise, dass auch sie sich zunächst nicht sicher war, ob sie sich „das antun soll“ (Sw: Z. 14). Durch Vorerfahrungen mit anderen Gedenk- und Erinnerungsorten bzw. -formen (vgl. Sw: Z. 213–222, 395–398), die sie aufgrund der direkten Darstellung der NS-Verbrechen „fürchterlich betroffen“ (Sw: Z. 215) gemacht haben, ist sie zunächst nicht sicher, ob sie ‚Spurensuche‘ besuchen möchte. Erst als sie von der Begeisterung anderer Besucher(innen) hörte, kam sie für sich zu dem Schluss, „so schlimm kann es ja dann nicht werden“ (Sw: Z. 15), und besuchte ‚Spurensuche‘. Aufgrund der Sorge vor einer emotionalen Überwältigung schätzen die Rezipient(inn)en die deutungsoffene Ausrichtung der Amateurtheaterprojekte. Zwar bergen die Verfremdungstechniken die Gefahr des Nicht-Verstehens (vgl. in Abschnitt 8.4 ‚Wunsch nach historischer Einordnung der deutungsoffenen Sequenzen‘). Allerdings besteht das Potential dieser Darstellungsweise darin, dass „jeder auch etwas anderes mitnimmt“ (Lw: Z. 245). Jede(r) Zuschauer(in) kann die gezeigten Szenen und die damit einhergehenden Bilder anhand analogen Denkens selbstbestimmt für sich deuten und Schlussfolgerungen ziehen. Das Denken in Analogien macht nach Ursula Brandstätter neben dem Denken in Kausalitäten eine Möglichkeit des Denkens aus. Beim kausalen Denken wird die Realität hinsichtlich „logische[r] Zusammenhänge“ (Brandstätter 2008: 21) betrachtet: „Ich blicke aus dem Fenster, sehe Schnee fallen und schließe daraus, dass wir uns in der Jahreszeit des Winters befinden“ (Brandstätter 2008: 22). Dagegen wird unter analogem Denken „ein Denken in Bildern“ (Brandstätter 2008: 21) nach dem „Prinzip der Ähnlichkeit“ (Brandstätter 2008: 22) verstanden: „Aber das lautlose Fallen der Schneeflocken erinnert mich gleichzeitig an das Fallen der Blätter im Herbst, an die Vergänglichkeit allen Lebens insgesamt“ (Brandstätter 2008: 22). Aufgrund der wahrgenommenen Ähnlichkeit zwischen den sterbenden Blättern und der Sterblichkeit aller Lebewesen wird das Bild der Schneeflocke bzw. der fallenden Blätter mit dem Bild der Endlichkeit verbunden. Im Gegensatz zu herkömmlichen Kausalbeziehungen ist bei dieser Form des Denkens der Kreativität der Betrachter(innen) keine Grenze gesetzt. Analoges Denken kann durch jede Art der sinnlichen Erfahrung ausgelöst werden: visuell (das Weiß des Schnees), akustisch (die Lautlosigkeit des Fallens), haptisch (das Schmelzen der Schneeflocken auf der Haut) usw. (vgl. Brandstätter 2008: 22). In den Interviews zeigt
8.2 Während des Theaterbesuchs
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sich, dass – ausgelöst durch einen visuellen, akustischen oder haptischen Reiz – die Besucher(innen) der Amateurtheaterprojekte sehr oft in Ähnlichkeiten denken. Ein Beispiel hierfür stellt in ‚Spurensuche‘ die Abgrenzung des Publikums in verschiedene Quadranten dar (vgl. in Abschnitt 2.3 ‚Aufführung‘). Die Unterteilung der Zuschauer(innen) mittels eines Seils steht zunächst in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Thematik: „es geht um Aufteilen, aber sonst auch nichts“ (Gm: Z. 225 f.). Doch bei Gm entstehen bei diesem Bild auch Assoziationen wie „Fesseln“ (Gm: Z. 231) oder „Trennen“ (Gm: Z. 232). Pw stellt die Verbindung zu einer „durchsichtige[n] Staatsmacht“ (Pw: Z. 354) her. Für sie werden die Theaterbesucher(innen) aufgrund von „Gesetze[n] oder so was“ (Pw: Z. 356), die „von irgendeiner […] Machtstellung aus quasi befohlen werden“ (Pw: Z. 355 f.), „separier[t]“ (Pw: Z. 357). Dass ein Quadrant von den anderen deutlich abgegrenzt wird, erlaubt für Hw auch den „Verweis auf Ghettoisierung“ (Hw: Z. 155 f.), während Cw hierzu eine Situation auf einer Pferdekoppel bzw. beim Rodeo assoziiert: „Ich kam mir vor wie auf so einer Pferdekoppel irgendwie (lachend). Wie beim Rodeo. Jetzt werden also (.) die Tiere (.) in die Enge getrieben“ (Cw: Z. 212–214). Die Aufführung dieser Beispiele zeigt, dass obwohl die Seil-Sequenz prinzipiell Spielraum für die unterschiedlichsten Assoziationen lässt, von den Zuschauer(inne)n eher konventionelle Deutungen vorgenommen werden. Das Seil wird von den meisten Theaterbesucher(inne)n in irgendeiner Weise als etwas Trennendes empfunden. Viele der Zuschauer(innen) ziehen aufgrund ihres Vorwissens eine Analogie zum ‚Dritten Reich‘ (vgl. in Abschnitt 8.2.1 ‚Bedeutung von Vorwissen‘). Auch bei dem Theaterprojekt ‚Nicht vergessen!‘, bei dem die Zuschauer(innen) an verschiedenen Stationen immer wieder die Möglichkeit hatten, Steine mit roter bzw. blauer Farbe anzumalen, lässt sich ein Denken in Analogien erkennen. Das zügige Bemalen der Steine durch eine Akteurin wird mit den „Akkordarbeiten“ (Lw: Z. 84) des Konzentrationslagers in Verbindung gebracht. Die rote Farbe wird mit „Blut“ (Lw: Z. 85; Zm: Z. 341) oder „Leid“ (Zm: Z. 345), die blaue Farbe dagegen mit „Hoffnung“ (Km: Z. 272) assoziiert. Die Steine werden als Grenzmarkierung des Lagers (vgl. Bw: Z. 561–563; Nm: Z. 91 f.) oder als Wegmarkierung durch das Lager (vgl. Nm: Z. 91–96; Zm: Z. 68–72) gedeutet, den beispielsweise „die Arbeiterinnen […] bei der Ankunft im Lager bis zu den einzelnen Hütten“ (Zm: Z. 346 f.) gehen mussten. Die Offenheit der Amateurtheaterprojekte lässt aber auch Raum für ein Denken abseits des vermeintlich Naheliegenden. So verbindet beispielsweise Rw mit dem Bemalen der Steine eine religiöse Komponente. Für sie bemalte die Darstellerin die Steine „hektisch“ (Rw: Z. 147) mit roter Farbe, während sie das Malen des Publikums eher „bedächtig“ (Rw: Z. 163) wahrnahm: Die Rezipient(inn)en haben sich „da hingekniet und so gemalt“ (Rw: Z. 168) und anschließend „den Pinsel dann weitergegeben“ (Rw: Z. 164). Diese Prozedur hatte für Rw „sowas total Religiöses“
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
(Rw: Z. 169): [J]a hinknien […] was weitergeben. […] Sei es dieser […] Becher […] mit dem Wein oder […] jeder […] wie so eine Hostie“ (Rw: Z. 173–175). Für Rw steht jedoch nicht so sehr das Religiöse im Vordergrund, denn die „katholische Kirche […] verschwindet dann auch […] wieder“ (Rw: Z. 179 f.). Ihr geht es bei diesen wiederkehrenden Malaktionen mehr um ein „Ritual“ (Rw: Z. 181), mittels dessen „angemessen“ (Rw: Z. 182) an die Häftlinge des Konzentrationslagers erinnert wird. In den Interviews zeigt sich, dass viele Rezipient(inn)en auf Grundlage des analogen Denkens zu einer „metaphorische[n] Erkenntnis“ (Brandstätter 2008: ´ metaphorá für 25) gelangen. Der Begriff ‚Metapher‘ (griechisch μεταϕoρα, ‚Übertragung‘) meint „die Übertragung eines an einen Begriff gebundenen Vorstellungsinhaltes auf einen anderen, ihm ähnlichen“ (Brandstätter 2008: 25). In diesem Sinne überträgt Tm beispielsweise das deutungsoffene Konzept von ‚Spurensuche‘ auf die Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘: Als er gefragt wird, ob er sich an manchen Stellen mehr Erklärungen gewünscht hätte, um die verfremdeten Sequenzen besser zu verstehen, antwortet er: Man muss nicht alles verstehen. Und es ist in dem Sinne wahrscheinlich auch […] wieder zuträglich, weil man ja genau möchte, dass (.) nicht jeder alles versteht und das Volk sozusagen dumm bleibt. (..) Ja. Genau. Und ich denke mal, dass (.) das Publikum, wir waren das Volk. (Tm: Z. 248–251)
Die übergeordnete Funktion einer Metapher besteht also darin, dass „eine Art der Erfahrung von einer anderen Art der Erfahrung her partiell [verstanden wird]“ (Lakoff et al. 2014: 177). So zieht Tm zwischen seinem ‚Nicht-Verstehen‘ während der Aufführung von ‚Spurensuche‘ und der oft postulierten Unwissenheit der Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus eine Analogie und kommt für sich zu dem Schluss, dass das Publikum in ‚Spurensuche‘ das „dumm[e]“ (Tm: Z. 250) Volk verkörpern sollte. Zu einer metaphorischen Erkenntnis kommt auch Rw bei einer deutungsoffenen Sequenz in ‚Nicht vergessen!‘: Als eine Darstellerin das erste Mal Steine mit roter Farbe bemalt, nimmt Rw wahr, dass diese die Steine „mit dem ungefähr dünnsten aller Pinsel“ (Rw: Z. 145 f.) bemalt. Aufgrund seiner Beschaffenheit schreibt sie dem Werkzeug das Attribut „unbrauchbarstes“ (Rw: Z. 148) zu und spricht diesem somit jegliche Tauglichkeit für seinen Zweck ab. Diese Deutung der Szene führt sie zu der Erkenntnis, dass diese Akteurin eine Frau aus dem Lager verkörpert, die sinnlose Arbeit „mit ganz beschissenem Werkzeug zu beschissensten Bedingungen“ (Rw: Z. 153 f.) leisten musste. Ein weiteres Beispiel für eine metaphorische Erkenntnis liefern auch die weißen Hocker
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in ‚Spurensuche‘, welche zu Beginn der Performance an den Seiten zu Leinwänden gestapelt sind (vgl. Abb. 2.18). Diese stellen für Cw zunächst lediglich „eine Art Bühnenbegrenzung“ (Cw: Z. 549) dar, um „Bühnenraum zu schaffen“ (Cw: Z. 549 f.). Als diese jedoch am Schluss von den Akteur(inn)en umgeworfen werden, kommt sie für sich zu dem Schluss, dass diese Wand „nicht nur Projektions- oder Begrenzungsfläche ist, sondern auch die Wand in unseren Köpfen“ (Cw: Z. 551 f.). Die Deutungsoffenheit der Theaterprojekte ermöglicht den Zuschauer(inne)n, zu den gezeigten Szenen emotional Abstand zu halten. So verweilt Hw bei der Szene in ‚Spurensuche‘, in der die Darsteller(innen) in roten Shirts eine aus Hockern gebaute Brücke überqueren, bewusst bei der ästhetischen Rezeption des dargebotenen Bildes: [I]ch [bin] da ein bisschen ausgewichen, das schöne Bild und so. Ich war wirklich dann in dem Moment auf der Bilderebene unterwegs. […] Ähm, das war jetzt nicht so, dass ich da ähm dachte, oh Gott, oh Gott, wie schrecklich oder zu weinen angefangen hatte. Auch, wenn ich glaube, ich verstanden habe, was die Idee war. (Hw: Z. 199–204)
Die abstrakte Darstellungsweise erlaubt Hw, sich auf die Rezeption des Bildes zurückzuziehen, auch wenn ihr die naheliegende Auslegung – der Tod der Kinder – durchaus bewusst ist (vgl. Hw: Z. 195 f.). Die Möglichkeit der Selbstjustierung von Nähe und Distanz kann also eine emotionale Überforderung auf Seiten der Rezipient(inn)en verhindern. Die Zuschauer(innen) werden nicht unmittelbar und unausweichlich mit schockierenden Bildern konfrontiert, sondern ihnen wird die Wahl gelassen, was sie in den einzelnen Szenen für sich entdecken und inwieweit sie das Gesehene mit sich und der Thematik in Verbindung bringen: [I]ch muss es nicht sehen, […] keine verhungerten äh Leichen im KZ oder so, ich habe das nicht direkt gesehen, aber die Vorstellung war da. Und das hat finde ich den Raum geöffnet, dass man sich äh tatsächlich überlegt, […] was passiert da eigentlich? […] [W]ie konnte das passieren? […] [W]elche Zusammenhänge gibt es da? […] [A]lso es hat finde ich Raum gelassen, […] um über dieses Betroffenheitsgefühl ein bisschen hinaus zu gehen. (Sw: Z. 227–233)
„[D]ieses spielerische Moment“ (Sw: Z. 211), welches Sw mit der mehrdeutigen Darstellung verbindet, entschärft für sie die Auseinandersetzung mit der Thematik und so werden „Freiräume“ (Sw: Z. 359) geschaffen, sich mit der Geschichte und deren Strukturen und Zusammenhängen auseinanderzusetzen: „Man kann hingucken, ohne dass es zu wehtut“ (Sw: Z. 351). Damit schafft für sie die Vieldeutigkeit den Anreiz, sich der Thematik zu öffnen (vgl. Sw: Z. 347–353). Zu starke negative
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und schmerzhafte Gefühle wären für eine kognitive Auseinandersetzung mit der Thematik dagegen eher hinderlich (vgl. in Abschnitt 8.4 ‚Gefahr der emotionalen Überwältigung‘). Gerade dadurch, dass schwierige Themen wie Tod oder Leid dargestellt werden „ohne zu […] realistisch werden zu müssen“ (Sw: Z. 108 f.), wird die eigene Gedankenwelt aktiviert: [W]enn sie das plastischer dargestellt hätten, hätte es mich wahrscheinlich nicht so berührt. (.) Also sicherlich auch, aber anders. […] [W]äre da jetzt eine Mordszene passiert oder […] hätte man gesehen, wie jemand sich hinwirft und die Augen schließt oder so. Das äh (.) wäre natürlich auch schlimm gewesen, aber (.) dadurch, dass es so subtil war, die Art und Weise, habe ich (.) mir (…) ähm (.) ja das symbolisch besser vorstellen können. Also ich habe natürlich an keine konkrete Situation gedacht, wo ein Kind umgebracht wird und stirbt, sondern eher so dieser, der äh generelle Gedanke, dass das passiert. Und […] dass das passiert ist und in dem Maße auch und auch in dieser Stille. Ohne, dass das […] viele gemerkt haben oder angeprangert haben oder so. Das fand ich an der Szene ganz, (..) also daran habe ich eher gedacht bei dieser (…) ja bei diesem Übergang. (Pw: Z. 72–83)
Selbst wenn eine Nachstellung der Ereignisse also nicht zwangsläufig zu einer unmittelbaren emotionalen Überforderung führt, kann sie doch die Aufmerksamkeit der Rezipient(inn)en so stark auf sich ziehen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Kontext der Szene behindert wird. Im obenstehenden Fall ist es gerade die Abstraktheit des Mordes, die eine Reflexion von Voraussetzungen, Hintergründen oder Folgen der Tat erlaubt. Eine untergründige, subtile Darstellungsweise kann somit die eigene Gedankenwelt aktivieren. Wenn Pw dagegen vorgegebene und eventuell sogar schockierende Bilder verarbeiten müsste, wäre sie nach eigener Angabe emotional auf eine andere Art und Weise ergriffen, wodurch die Verarbeitung des Gesehenen zur Hemmung der kognitiven Auseinandersetzung über den Kontext der Szene hinaus führen könnte. Gerade das Abstrakte hat einem dann doch irgendwie auch die Möglichkeit gegeben (..) ein bisschen Abstand zu halten. Also sich nicht zu sehr irgendwie äh da emotional rein fallen zu lassen. (Gm: Z. 213–215)
Durch analoges Denken, das vor allem durch die mehrdeutige Ausrichtung der Projekte begünstigt wird, kann demnach einer emotionalen Überwältigung vorgebeugt werden. Die Zuschauer(innen) können selbst bestimmen, inwieweit sie die Thematik an sich heranlassen. Gerade diese Möglichkeit des emotionalen Abstands ermöglicht wiederum eine Reflektion des Gesehenen.
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Einbezug von Empathie in den Denkprozess Auch wenn in den Amateurtheaterprojekten einer emotionalen Überforderung vorgebeugt wird, kann bei den Rezipient(inn)en mittels der eingesetzten Verfremdungstechniken Empathie angeregt werden. Wenn die Zuschauer(innen) beispielsweise Parallelen zwischen dem Gezeigten und ihrer eigenen Biographie wahrnehmen, wird Empathiebildung begünstigt und die Rezipient(inn)en beginnen, über das Gesehene nachzudenken. So fühlt beispielsweise Aw mit der Mutter der Geschwister Scholl mit, als sie beim ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ einen Briefauszug von dieser hört, in dem sie von dem Stolz auf ihre Kinder berichtet: Was mich aber (.) extrem berührt hat, das war irgendwie […] am Schluss, […], also relativ am Schluss, […] wurden Auszüge aus dem Brief von der Mutter gelesen. (.) Also das hat mich, (.) weil ich selber einen Sohn habe, […] also der älter ist als Sophie Scholl war. (.) Also da hätte ich gleich heulen können. (Aw: Z. 44–48)
Aw erkennt zwischen sich und der Mutter der Geschwister eine Gemeinsamkeit: Beide sind Mütter (politisch) engagierter Kinder. Aufgrund dieser festgestellten Ähnlichkeit beginnt Aw über die Machtlosigkeit der Eltern gegenüber den Taten der eigenen Kinder nachzudenken und stellt sich selbst die Frage, ob „die Mutter […] wusste, was die da machen?“ (Aw: Z: 60). Zum anderen sieht sie aber auch Unterschiede zwischen der heutigen und damaligen juristischen Situation und bezieht auch diese wieder auf ihr Leben. Sie selbst ist als Schöffin tätig und durch das Gedenkkonzert wird ihr bewusst, dass die jeweilige Zeit mit über das Schicksal eines Menschen entscheiden kann (vgl. Aw: Z. 54–59). Anhand dieses Beispiels wird besonders deutlich, dass der kognitive Denkprozess nicht immer klar von der Empathie zu trennen ist und sich sowohl Kognition als auch eine empathische Haltung wechselseitig bedingen. Ein weiteres Beispiel für den Einbezug von Empathie in das analoge Denken zeigt sich an einer Aussage von Pw. Diese Zuschauerin nimmt aufgrund ihres biographischen Hintergrundes Anteil an den Schicksalen der Kinder, welche in ‚Spurensuche‘ thematisiert werden: [W]as mich super berührt hat, war […], als sie so die ähm (..) Behinderungen oder Beschränkungen der einzelnen Kinder beschrieben haben. Einfach, weil ich (.) auch mit Kindern mit Behinderung zu tun habe und auch (.) äh (.) mit denen arbeite und […] mit Leuten mit Behinderung zusammengewohnt habe, meine Schwester ist Autistin, also ist ein großer Bezug da und das hat mich natürlich dann super berührt dann einfach. (Pw: Z. 307–313)
Als die ‚Defizite‘ der Kinder beschrieben werden und Worte wie ‚Krüppel‘ fallen, wirken diese auf sie stark emotionalisierend (vgl. Pw: Z: 317–320). Sie fängt an
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darüber nachzudenken, wie es gewesen wäre, wenn sie in dieser Zeit selbst ein Kind mit Behinderung gehabt hätte (vgl. Pw: Z. 329–332). Empathie wird jedoch nicht nur durch das Erkennen von Analogien, sondern auch durch dokumentarische Berichte von Einzelschicksalen ausgelöst. In ‚Nicht vergessen!‘ wird beispielsweise von den Haft- und Lebensbedingungen der Lagerinsassin Franziska V. berichtet. Gerade Franziskas Innenansicht auf die damaligen Umstände führt dazu, dass Bw die vorgetragene Quelle „nahe“ (Bw: Z. 91) geht. Sie wird nicht nur allgemein über Fakten informiert, sondern erfährt etwas über die persönliche Geschichte eines Häftlings. Dies ermöglicht es ihr, sich in das Einzelschicksal einzufühlen. Sie kann sich nicht nur vorstellen, was zur damaligen Zeit „abgelaufen“ (Bw: Z. 62) ist, sondern taucht auch in die Gefühlswelt der historischen Person ein (vgl. Bw: Z. 69–74). Verstärkt wird dieses Einfühlen durch den vorangegangenen Tanz der Darsteller(innen) zu Swing-Musik aus den 1920er Jahren. Franziska galt aufgrund ihrer Kontakte zur Wiener Swing Szene als ‚asozial‘ und ‚verwahrlost‘ und wurde daher im KZ-Uckermark inhaftiert. Gerade die abgespielte Swing-Musik gibt für Bw das „Lebensgefühl“ (Bw: Z. 283) der damaligen Zeit wieder: „Es ist diese Musik zum Beispiel. Die schaffte ein bisschen eine besondere Atmosphäre und ein Gefühl für diese Zeit“ (Bw: Z. 293 f.). Diese Musik, die Franziska auch auf ihren ‚nächtlichen Vergnügungstouren‘ (vgl. in Abschnitt 2.2 ‚Aufführung‘) begleitet haben könnte, hilft der Zuschauerin, sich „in diese Zeit einzufinden“ (Bw: Z. 286). Die befragten Zuschauer(innen) geben an, dass gerade die in den Theaterprojekten erlebte Empathie ihrer Einschätzung nach zu einer Nachhaltigkeit der Erinnerung beiträgt. So zeigt sich in den Interviews, dass sich die Rezipient(inn)en nicht so sehr an inhaltliche Einzelheiten gezeigter Szenen erinnern (vgl. Bw: Z. 501 f.; Cw: Z. 157–159; Gm: Z. 277 f.; Hw: Z. 227 f.; Km: Z. 279 f.; Rw: Z. 90 f.; Tm: Z. 191–197; Zm: Z. 92–94). Viele der Befragten geben an, dass sich bereits kurze Zeit nach dem Besuch der Aufführung „Details“ (Gm: Z. 431) aus dem Gedächtnis lösen. Ganz anders gestaltet sich dies in Bezug auf die in den Performances erlebten Emotionen. Auf die Frage, welche Szenen Gm von ‚Spurensuche‘ am stärksten in Erinnerung geblieben sind, gibt er folgende Antwort: [T]atsächlich standen wir mal da erhöht auf diesem Rand und […] sollten dann irgendwie auf die Leute zeigen, die da unten […] standen. Das fand ich ziemlich beeindruckend, also das hat sehr stark gewirkt. […] [U]m was es wirklich ging, kann ich jetzt schon gar nicht mehr sagen, aber ich kann mich sehr genau daran erinnern, das wir ähm auf diese Leute zeigen mussten, das ein großes Unwohlsein in mir hervor gerufen und damit natürlich auch irgendwie einen bleibenden Eindruck. (Gm: Z. 40–50)
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Gerade die Szenen, die die Rezipient(inn)en emotional berühren, bleiben diesen lange in Erinnerung, „[n]icht rein inhaltlich, sondern so von der Stimmung her“ (Km: Z. 136). Das abgespielte Audiozeugnis einer Überlebenden des Konzentrationslagers Uckermark empfand Km „am emotionalsten“ (Km: Z. 135) und er vermutet, dass er sich aus diesem Grund „vielleicht mit am stärksten“ (Km: Z. 135 f.) an diese Szene erinnert. Diese Einschätzung teilt auch Bw. Sie gibt an, dass sie aus ‚Nicht vergessen!‘ viele emotionale Eindrücke mitnimmt, die sie nun in ihrer Erinnerung mit dem Ort verbindet (vgl. Bw, Z. 762–766). Konkret benennt sie dabei Elemente von ‚Nicht vergessen!‘, die ihr ein empathisches Einfühlen ermöglichen: [D]ieser heiße Sommertag. So, jetzt in Erinnerung und dieses dürre Gras und dieses Dursthaben. Und, (.) also ganz viel an Gefühlen, das nehme ich alles mit. Ja. Und das verbinde ich jetzt mit […] diesem Lager so ein Stück weit auch, so. (Bw: Z. 569–572)
In den Interviews zeigt sich also, dass durch die Amateurtheaterprojekte eine Empathiebildung bei den Zuschauer(inne)n angeregt wird. Dies kann beispielsweise durch analoges Denken oder durch den Einsatz von dokumentarischem Material begünstigt werden. Gerade durch dieses Mitfühlen beginnen die Rezipient(inn)en nachzudenken, wobei nicht immer klar zu unterscheiden ist, ob das Mitfühlen den weiterführenden Denkprozess auslöst oder umgekehrt. Meist bedingen sich Kognition und Empathie wechselseitig. Gerade die in den Theaterprojekten erlebten Emotionen bieten jedoch die Chance, dass diese Sequenzen dem Publikum nachhaltig in Erinnerung bleiben. Bedeutung von Vorwissen Aufgrund der eingesetzten Verfremdungstechniken spielt das Vorwissen der Theaterbesucher(innen) eine große Rolle. Davon hängt ab, wie die mehrdeutig ausgerichteten Szenen interpretiert werden. Als die Schüler(innen) in ‚Spurensuche‘ eine aus Hockern gebaute Brücke in roten Shirts überqueren, ruft Pw in Gedanken ein ihr bekanntes Bild aus der griechischen Mythologie auf: Und ich musste auch ein bisschen an den Styx denken, […] in der griechischen Mythologie ist es ja auch so, dass du diesen Fluss überqueren musst, […] um in die Unterwelt zu kommen. (Pw: Z. 85–87)
Da Pw zwischen dem gezeigten Bild und dem ihr bereits bekannten Bild aus der griechischen Mythologie Ähnlichkeiten feststellt, ist es für sie „recht naheliegend, dass das [die Überquerung der Hocker bzw. der Brücke] jetzt den Tod symbolisiert oder den Mord [an den Menschen]“ (Pw: Z. 51 f.). Während Zuschauer(innen)
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aus ‚Nicht vergessen!‘ mit der roten Farbe teilweise einen direkten Bezug zu den Lebensbedingungen im Nationalsozialismus ziehen (vgl. Zm: Z. 340–348), stellt Tm diese Verbindung in ‚Spurensuche‘ gerade nicht her. Als die Schüler(innen) mit roter Farbe die Schrift ‚leben lassen‘ auf die Wände malen, erinnert ihn dies an die Berliner Mauer: „Da gibt es viel in Rot, habe ich gesehen“ (Tm: Z. 294 f.). Er kann hier jedoch keinen Anknüpfungspunkt an das ‚Dritte Reich‘ finden, da er Aufzeichnungen darüber nur „in Schwarz-Weiß“ (Tm: Z. 297) gesehen hat. Da er zwischen der roten Farbe und dem nationalsozialistischen Deutschland keine Analogie ausmachen kann, bleiben für Tm Assoziationen zu diesem Themenbereich aus. Für Rw zeigt sich im Laufe von ‚Nicht vergessen!‘, wie wichtig Vorwissen für das Verständnis des Projektes sein kann. Da die Aufführung eine halbe Stunde verspätet beginnt, nutzt Rw die Gelegenheit und erkundet das Gelände. Diese Zeit, in der sie Möglichkeit hatte sich zu orientieren, beschreibt sie im Nachhinein als „Geschenk“ (Rw: Z. 33): „Das habe ich im Nachhinein gemerkt, dass das für mich total wertvoll gewesen ist“ (Rw: Z. 37 f.). Über Hinweisschilder und Markierungen auf dem Gelände, die die Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e. V. dort in ehrenamtlicher Arbeit aufgestellt und errichtet hat, konnte sie sich vorab über den Ort und das Schicksal der inhaftierten Frauen informieren. Sie konnte die Arbeit anderer Gruppen entdecken, die das ‚vergessene‘ Konzentrationslager mit ihren Projekten wieder in Erinnerung rufen wollen. So war es ihr auch möglich, die Intention des Theaterprojektes – die Häftlinge des Jugendkonzentrationslagers Uckermark ‚Nicht [zu] vergessen!‘ – nicht als etwas „ganz im luftleeren Raum Hängendes“ (Rw: Z. 61 f.), sondern in „einem Rahmen“ (Rw: Z. 60) zu sehen. An manchen Stellen von ‚Nicht vergessen!‘ hätte Rw „mehr“ (Rw: Z. 602) erwartet. Es ist davon auszugehen, dass sich Rw hier auf den Wunsch weiterer Informationen zum besseren Verständnis der deutungsoffenen Form bezieht. So hat sie beispielsweise Schwierigkeiten, die Szene, in der sich eine Akteurin tänzerisch um einen Stahldraht bewegt, zu entschlüsseln (vgl. Rw: Z. 597–602). Da Rw dieses ‚mehr‘ von der Aufführung nicht gegeben wird, versucht sie sich den Kontext selbst zu erschließen. Dazu sucht sie sich auf dem Areal einen weiteren Stahldraht und ahmt die Darstellerin in ihren Bewegungen nach. Durch diese Aktion versucht sie die Frage, „[W]as könnte das jetzt gewesen sein, was sie da gemacht hat?“ (Rw: Z. 610 f.), zu beantworten. Schlussendlich findet sie für sich die Erklärung, dass die Akteurin mit dieser Handlung wohl ihre persönliche Annäherung an den Ort körperlich darstellen wollte (vgl. Rw: Z. 618–622). Es zeigt sich, dass das Vorwissen der Zuschauer(innen) für das Verständnis der Theaterprojekte von großer Bedeutung ist. Gerade die Deutung der mehrdeutigen
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Sequenzen und das Nachdenken über diese wird durch das individuelle Vorwissen der einzelnen Rezipient(inn)en stark beeinflusst. Bedeutung des historischen Ortes Die Aufführung der Theaterprojekte am historischen Ort wird von vielen der befragten Zuschauer(innen) dahingehend gewertet, dass diese „zur Zeitreise sicherlich gut bei[trägt]“ (Hw: Z. 397 f.): Und dann da zu sein, wo das passiert ist […], das ist natürlich (.) ein sehr viel konkreterer Zugang, als wenn man das irgendwie hört und man hat, ah ja stimmt irgendwo ist es passiert. […] [D]a denkt man, ok hier in dem Raum oder nicht in dem Raum. Und, wie sah das aus? […] Ja, das macht das alles sehr viel plastischer. Und deswegen auch (..) ähm (..) realer und bedrückender. (Pw: Z. 512–517)
Die Aufführung am historischen Ort hilft den Zuschauer(inne)n sich „in die Zeit hinein[zu]versetzen“ (Nm: Z. 66 f.) und sich auf die Thematik „ein[zu]lassen“ (Dw: Z. 143). Darüber hinaus haben die Besucher(innen) die Möglichkeit, die räumliche Dimension des jeweiligen historischen Ortes unmittelbar kennenzulernen. So wird beispielsweise in ‚Nicht vergessen!‘ auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers an verschiedenen Stationen (vgl. Abb. 2.13) an die Häftlinge des Lagers erinnert. Durch das „Begehen“ (Zm: Z. 28) des ehemaligen Lagers können die Rezipient(inn)en einen „Überblick“ (Zm: Z. 29) über das geographische Ausmaß des Konzentrationslagers und dessen (ehemalige) Beschaffenheit erhalten: Weil man an Stationen war und weil man so ein bisschen die Größe des Ganzen abgeschritten ist, (..) ist man praktisch so durch das, in Anführungszeichen, Lager geführt worden. So. Und […] man wusste: ‚Ok gut, da war das und so groß war das und da mussten diese Baracken gestanden haben und da ist das passiert, da ist dieses passiert.‘ (Bw: Z. 197–201)
Die Zuschauer(innen) konnten „durch die Landschaften hindurchgehen“ (Nm: Z. 13 f.) und das Gelände „wirklich eins zu eins“ (Nm: Z. 266 f.) durchschreiten. Dieses Durchschreiten des Ortes machte es den Rezipient(inn)en möglich, den Ort selbst zu „erfahren“ (Nm: Z. 204). Die Aufführung am historischen Ort kann dem Publikum auch helfen, sich die Ideen hinter den deutungsoffenen Szenen besser vorzustellen (vgl. Km: Z. 330– 339). So lässt Rw bei der Deutung der Schlusssequenz von ‚Nicht vergessen!‘, in der die Spieler(innen) immer wieder gemeinsam eine Steingrenze überschreiten, den Ort miteinfließen:
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Also ich fand auch diesen Ort am Ende […] also wo es für quasi mich aus diesem Wald wieder rausging und diese Schneise da ist, […] [d]as hatte für mich sowas von […]: (..) ‚Ok es gibt einen Ausweg‘ irgendwie so. (.) Und […] dieses (.) immer wieder über die Steine gehen, die für mich halt die Grenze von diesem Lager gewesen sind, ist, […] ja, es gibt Möglichkeiten da (.) und das ist gut so. Rein zu gehen, (.) sich damit zu beschäftigen, (.) wieder raus zu gehen. Und ähm (.) wieder reinkommen zu können (.) so. Also ja. (.) Diese Grenze (.) in alle beide Richtungen, sage ich mal, (..) übertreten zu können (.) so. (Rw: Z. 490–501)
Ebenso wird Dw durch die Aufführung des Gedenkkonzertes im Lichthof bewusst, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht nur in Konzentrationslagern stattfanden. Die Geschwister Scholl wurden im Lichthof der LMU verhaftet. Einem Ort, an dem das „allgemeine Leben“ (Dw: Z. 95) stattfand. Der historische Ort kann auch die Empathie der Zuschauer(innen) fördern. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Aussage von Cw. Diese Zuschauerin hat ‚Spurensuche‘ bereits an verschiedenen Orten besucht. Doch die Aufführung im Gesellschaftshaus unterschied sich von den vorherigen Aufführungen, die nicht in der Nähe des historischen Ortes stattfanden: Und das hat mich (.) da [im Gesellschaftshaus] besonders bewegt an diesem Ort zu sein, an dem… (.) Also es kommt ja auch in dem Theaterstück einmal vor, dieses Gesellschaftshaus, in dem wir da also saßen, dass es (.) tatsächlich der Ort war, an dem die Kinder, (..) von denen im Stück hauptsächlich die Rede ist, auch sich aufgehalten haben. Oder (.) zumindest da in dieser Gegend. Das hat schon mich schon nochmal ähm (..) zusätzlich […] was bewirkt. […] Also das hat für mich (..) nochmal was ganz anderes hergegeben als die Male davor […]. (Cw: Z. 24–32)
Auch wenn Cw bereits von den vorherigen Aufführungen wusste, was sie inhaltlich erwarten wird, sind ihr im Gegensatz zu den Aufführungen die nicht am historischen Ort aufgeführt wurden, „die Tränen runtergelaufen“ (Cw: Z. 42). Grund hierfür ist, dass sie eine „Verbindung […] zwischen Inhalt und […] Ort“ (Cw: Z. 36) zieht. Dass sie sich an dem Ort befindet, an dem sich die Kinder damals aufgehalten haben, macht für sie die Aufführung „viel (..) ergreifender“ (Cw: Z. 51). Lw beschreibt, dass auch wenn auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark nur noch wenig an dieses erinnert, durch die Performance „so eine Aura“ (Lw: Z. 29 f.) geschaffen wurde. Die „räumliche, direkte Nähe“ (Nm: Z. 65) lässt zu, dass der Besucher bzw. die Besucherin die ‚Authentizität‘ des Ortes „fühlt“ (Rw: Z. 469). Die Aufführung am historischen Ort verleiht den Performances nach Ansicht der Rezipient(inn)en demnach eine besondere „Tiefe“ (Sw: Z. 280). Allerdings führen die offene Form der Veranstaltungen und die örtlichen Rahmenbedingungen auch zu einer Reihe von Problemen, die auf einer ‚klassischen‘
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Bühne nicht auftreten. Diese sind vor allem akustischer und räumlicher Natur und führen mitunter dazu, dass einzelne Passagen für manche Zuschauer(innen) nicht zugänglich sind (vgl. Km: Z. 83 f.; Lw: Z. 69–71): Ja das Wasser [gemeint ist die Szene an der Havel in ‚Nicht vergessen!‘], (..) das habe ich nicht so mitbekommen (.) ganz ehrlich, weil da waren ein bisschen mehr… (.) Da war es irgendwie ein bisschen eng. Und ich wusste nicht genau wohin und dann habe ich den Herren irgendwie auch nicht gesehen und irgendwie auch nicht richtig […] hören können. Was sie da gemacht und gesagt haben. (Rw: Z. 291–295)
Darüber hinaus zerstreut sich bei ‚Nicht vergessen!‘ immer wieder das Publikum, da es zwischen den einzelnen Stationen immer eine bestimmte Wegstrecke zurückzulegen hat. Dadurch haben manche Theaterbesucher(innen) „den Einstieg nicht so richtig gehabt, wenn dann da eine Szene irgendwo losging“ (Bw: Z. 233 f.). Teilweise waren die Szenen „ganz weit weg“ (Bw: Z. 87), da die Zuschauer(innen) „ziemlich weit hinten“ (Bw: Z. 358) standen. Wenn die Darsteller(innen) zudem noch leise gesprochen haben, konnte akustisch nicht immer alles verstanden werden (vgl. Bw: Z. 86–88). Auch im Orgelkonzert waren die im Lichthof vorgetragenen Texte durch die dortige Akustik mitunter „sehr schlecht verständlich“ (Ew: Z. 69). Dadurch, dass Ew akustisch nicht so viel verstanden hat, konnte sie sich auch nicht so gut auf den Inhalt der Texte konzentrieren (vgl. Ew: Z. 247–249). Doch trotz der zum Teil nicht optimalen Rahmenbedingungen war es für Aw wichtig, dass das Gedenkkonzert am historischen Ort aufgeführt wurde. Dieser Aufführungsort war für sie der Hauptgrund, warum sie die theatrale Lesung so sehr berührte: [D]a zu sitzen auf einem Stuhl, wo genau da auf der Treppe (.) das vor entsprechenden Jahren gewesen ist. Also das fand ich, also das war so berührend […]. Das denke ich, das ist mit auch ein Hauptaspekt, warum das so ähm dauert. (Aw: Z. 70–73)
Gerade die Aufführung am historischen Ort kann das analoge Denken stark beeinflussen und zum Nachdenken anregen. Gleichzeitig wird durch den Ort aber auch die Möglichkeit des (Mit)Fühlens begünstigt, da durch die Verknüpfung von Inhalt und Ort eine Erfahrbarkeit geschaffen wird, über die ein verstärkter emotionaler Zugang ermöglicht wird. Die Bedeutung des Faktors ‚Zeit‘ Die Rezipient(inn)en der Theaterprojekte geben an, dass sie zur Verarbeitung des Gesehenen Zeit benötigen: „[W]enn ich […] [mir] eine andere Situation vorstellen soll, brauche ich einfach Zeit. Das geht nicht von jetzt auf nachher“ (Bw: Z. 243– 245). Um von ihrem Alltag abzuschalten und sich ganz auf die Projekte einzulassen
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„dauert […] [es] ein bisschen“ (Bw: Z. 249). So empfindet Bw das Bemalen der Steine in ‚Nicht vergessen!‘ als „herrlich“ (Bw: Z. 100). Diese Szene hat für sie „eine Ruhe […] ausgestrahlt“ (Bw: Z. 100 f.), die es ihr ermöglichte zu sich zu kommen und sich selbst Gedanken zur damaligen Zeit zu machen: „[M]an kann bei sich sein und kann wirklich heimkommen zum Nachdenken“ (Bw: Z. 106 f.; vgl. auch Zm: Z. 76–82). Die Zeit, die die Zuschauer(innen) durch Sequenzen wie das Bemalen der roten Steine erhalten, hilft ihnen, sich gedanklich mit der Thematik auseinanderzusetzen. So wird auch der Weg zwischen den einzelnen Stationen in ‚Nicht vergessen!‘ als „so etwas, wo die Seele mitgehen kann“ (Bw: Z. 252) beschrieben. In diesen Ruhephasen können die Besucher(innen) den Ort auf sich wirken lassen (vgl. Nm: Z. 81 f.). Sie können sich Gedanken über die gezeigten Szenen machen und diese in den historischen Kontext einordnen. Diese Reflexion kann über das Gesehene „irgendwo doch ein bisschen weiter“ (Bw: Z. 227) hinausführen. Also, ich habe […] das quasi wie genossen (.) zwischen den Stationen. […] [E]inen Weg zurückzulegen und Zeit zu haben, das was ich gerade erfahren habe oder was ich gerade erlebt habe […] irgendwie zu verarbeiten so. Und […] wäre es also schneller hintereinander gewesen, hätte ich von dem ganzen Stück nicht so viel gehabt. (Rw: Z. 415–421)
In der Szene, in der eine Akteurin einen Weihnachtsbrief von Stanka vorliest, den diese 1944 aus dem Jugendkonzentrationslager Uckermark an ihre Eltern verfasst hat, hätte sich Rw mehr Zeit zum Nachdenken gewünscht. Sie bemerkt zwar, dass das Mädchen mit dem Brief ihre Eltern beruhigen möchte. Aber um herauszufinden, ob es in dem Brief „versteckte Botschaften“ (Rw: Z. 400) gibt, ist die Zeit zu kurz. Um hinter die Fassade blicken zu können, hätte sie mehr Zeit gebraucht. Die Ruhephasen in den Theaterprojekten geben den Zuschauer(inne)n Zeit zum Nachdenken. Die Rezipient(inn)en können das Gesehene verarbeiten und sich auch darüber hinaus gedanklich mit der Thematik auseinandersetzen.
8.2.2
Aktive Auseinandersetzung
Nachdenken über eigene Handlungsspielräume Gerade der direkte Einbezug der Zuschauer(innen) in die Aufführungen macht die Performances für diese zu einem „Erlebnis“ (Pw: Z. 556): [W]äre das ein Theaterstück gewesen, wo man […] im Publikum sitzt und sich das anschaut und danach ist es fertig, (.) wäre das sicherlich auch eins gewesen, was ich
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interessant gefunden hätte und was mir von der (.) Thematik und äh generell ja einfach […] spannend gewesen wäre. Aber so war es halt […] ein Erlebnis. (Pw: Z. 552–556)
Dadurch, dass „dieses Bühnenhafte […] aufgebrochen wurde“ (Lw: Z. 98 f.) entsteht eine „Verbindung zwischen Schauspielern und Publikum“ (Lw: Z. 97 f.). Die eigentlich rein rezipierenden Zuschauer(innen) werden durch die interaktiven Elemente „Teil des Geschehens“ (Hw: Z. 19) und erleben sich so als „Mitspieler“ (Bw: Z. 595). Dadurch, dass „man daran [an der Aufführung] beteiligt ist […] und man so ein bisschen das Stück ja auch mitträgt“ (Km: Z. 402 f.), sieht sich Km als „Mitschreiber von so einem Stück“ (Km: Z. 404). Tm führt hier einen Vergleich zwischen Geschichtsunterricht, Film und der Theateraufführung von ‚Spurensuche‘ an: Während er im Unterricht und beim Film eher eine „Beobachterrolle“ (Tm: Z. 153) einnimmt, ist er in ‚Spurensuche‘ „genau drin“ (Tm: Z. 156) und „Teil des Ganzen“ (Tm: Z. 157). Während er im Film nur andere Menschen partizipieren sieht, hat er in ‚Spurensuche‘ selbst mitgewirkt. Die Theaterprojekte werden den Rezipient(inn)en nicht nur „vorperformt“ (Lw: Z. 114), sondern das Publikum muss sich immer wieder positionieren und Entscheidungen treffen. Die Zuschauer(innen) können sich nicht passiv auf einen „Beobachterposten“ (Cw: Z. 417) zurückziehen und die Geschehnisse aus der Vogelperspektive betrachten, sondern müssen sich aktiv mit der Materie auseinandersetzen (vgl. Sw: Z. 161–172; Zm: Z. 493–500). Ein Beispiel für die aktive Auseinandersetzung mit der Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ stellt die Seil-Sequenz in ‚Spurensuche‘ dar. In dieser Sequenz wird das Publikum immer wieder nach willkürlichen Kriterien unterteilt. Das Publikum leistet diesen Befehlen in der Regel Folge und gibt auch dem Drängen der Schüler(innen) nach, sich über einen Teil des Publikums zu erheben und mit dem Finger auf die am Boden sitzenden Zuschauer(innen) zu zeigen. Gm hat diese Situation wie folgt erlebt: „Ich meine, ich musste nicht gucken, wie andere Leute auf irgendjemanden zeigen, sondern ich war vorn aufgefordert selber zu zeigen“ (Gm: Z. 156 f.). Diese „direkte Entscheidung: Tu ich das?“ (Gm: Z. 161) macht für Gm eine andere „Dimension“ (Gm: Z. 158) aus, als wenn er lediglich gesehen hätte, dass ein(e) Darsteller(in) auf eine(n) andere(n) zeigt. Zuschauer(innen) des Projektes ‚Spurensuche‘ äußern immer wieder, dass sie durch die Performance am eigenen Leib erfahren konnten, wie die „Dynamik“ (Sw: Z. 76), die hinter dem Phänomen ‚Gruppenzwang‘ steckt, aufgebaut werden kann und wie es sich anfühlt, wenn man ihm nachgibt bzw. versucht, sich ihm zu widersetzen. Den Besucher(inne)n wird relativ schnell klar, dass die von den Darsteller(inne)n vorgenommene Unterteilung des Publikums dem absoluten „Zufall“ (Hw: Z. 58) unterliegt. Anhand „willkürlich[er]“ (Pw: Z. 178) Kriterien erhebt sich ein Teil des Publikums über das andere: „[D]ass man irgendeine Gruppe ausschließt
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8
Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
oder einschließt fand ich schon sehr befremdlich“ (Gm: Z. 68 f.). Pw war bei den Unterteilungen zunächst immer in der Minderheitengruppe. Sie war zuerst in der kleineren Gruppe, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist ist und ein Handy im Wert von unter 300 e besaß. Doch aufgrund ihres Geburtsdatums durfte sie mit einem Mal oben stehen und von oben auf die unten sitzenden Leute zeigen: Und dachte, mhm so schnell kann es gehen. Ja also […] der Wechsel (lachend) ist dann auch ganz klar. Und dann hat man auch tatsächlich, ob man das möchte oder nicht, (.) hat man einen anderen Blick einfach (.) durch die Körperhaltung, einfach, weil man weiter oben steht und man guckt die sich so an und fühlt sich dann auch gleich, (.) arrogant ist vielleicht zu viel gesagt, aber es ist so schon so ganz klar, wie die Hierarchie dann ist. (Pw: Z. 203–209)
Als die oben stehenden Zuschauer(innen) auf das am Boden sitzende Publikum zeigen sollte, war Gm „geneigt es eher nicht zu tun“ (Gm: Z. 43 f.). Trotzdem beugt er sich dem Druck der Gruppe: [D]adurch, dass die ganze Gruppe zeigt, (.) ist man schon irgendwie so ein bisschen genötigt äh mit zu zeigen, ne? Und sich da […] tatsächlich raus zu nehmen und zu sagen: ‚Nee, das tu ich jetzt nicht, das mach ich jetzt lieber doch nicht.‘ Das ist schon schwierig und […] führt ja direkt einfach in diese Thematik rein, ne? (Gm: Z. 90–94)
Obwohl sich Gm in dieser Situation „unwohl“ (Gm: Z. 46) gefühlt hat und eigentlich gar nicht auf die unten sitzenden Zuschauer(innen) zeigen wollte, macht er es dennoch. Durch diese Sequenz wird dem Zuschauer bewusst, wie schwierig es sein kann, dem Druck einer Gruppe nicht nachzugeben und stattdessen „mehr so auf das [zu] hören […], was man selber irgendwie (.) tun würde“ (Gm: Z. 89). Tm sieht in den Seil-Sequenzen die Gelegenheit zu erfahren, wie er und auch das restliche Publikum reagieren, wenn man um die nationalsozialistische Geschichte Deutschlands weiß, sich aber plötzlich in einer – wenn auch fingierten – Situation befindet, in der Menschen willkürlich ausgegrenzt werden (vgl. Tm: Z. 350–357). Im Nachhinein versucht er für sich zu ergründen, warum er und andere sich diesem Gruppenzwang gebeugt haben. Er stellt für sich fest, dass er „mitgerissen“ (Tm: Z. 641) wurde, „ohne es eigentlich zu merken“ (Tm: Z. 641). Dass er sich der Aufforderung auch hätte verweigern können, ist eine Erfahrung, die er im Theaterprojekt gemacht hat und für sich mitnimmt (Tm: Z. 649 f.). Durch den Einbezug der Zuschauer(innen) können die Rezipient(inn)en an den Performances mitwirken und sich direkt mit der Materie auseinandersetzen. Am Beispiel der Seil-Sequenz in ‚Spurensuche‘ konnte exemplarisch gezeigt werden,
8.2 Während des Theaterbesuchs
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wie die Zuschauer(innen) durch eine aktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Gruppenzwang‘ beginnen, über eigene Handlungsspielräume nachdenken. Emotionale Forderung des Publikums Die interaktiven Elemente in den Theaterprojekten führen dazu, dass die Zuschauer(innen) emotional „viel mehr mitgerissen“ (Gm: Z. 154) werden, da sie nicht als Außenstehende auf die Dinge blicken, sondern sich aktiv mit diesen auseinandersetzen. Sw, die aufgrund einer Verletzung nicht an den interaktiven Elementen teilnehmen konnte, glaubt, dass ihr hier ein entscheidender Part der Performance entgangen ist. Auch wenn sie ‚Spurensuche‘ sehr berührt hat, hatte sie nicht „dieses Gänsehaut Feeling, von dem viele gesprochen haben“ (Sw: Z. 35 f.): [I]ch glaube das kann man tatsächlich nur spüren, wenn man da unten […] in dem Kreisel steht. Sobald du da einen Meter davon weg sitzt, glaube ich, äh ist es was anderes. […] Weil ich war immer in der beobachtenden Situation […] und die anderen wurden ja tatsächlich angestarrt und rumkommandiert. Das hat ja mit mir niemand gemacht. […] Ich glaube tatsächlich, da ist mir auch was entgangen […]. (Sw: Z. 262–274)
Durch das „Mittendrin sein“ (Sw: Z. 404) „spürt man das einfach“ (Sw: Z. 408), alles andere sei „ja so ein bisschen Theorie“ (Sw: 407). Tm hat verschiedenen Menschen von seinen Erfahrungen in ‚Spurensuche‘ erzählt. In seinen Erzählungen kommen vor allem die Seil-Sequenzen, in denen die Besucher(innen) immer wieder in das Geschehen involviert wurden, zur Sprache. Doch was er selbst als „beeindruckend“ (Tm: Z. 629) erlebt hat, hat „keiner verstanden“ (Tm: Z. 630): Es ist wie „das Buch zu lesen oder eben drin zu sein“ (Tm: Z. 633 f.). Genau diese interaktiven Elemente waren dafür verantwortlich, dass Pw „so berührt“ (Pw: Z. 551) war und sich „so bedrückt“ (Pw: Z. 559) gefühlt hat: „[M]an ist immer wieder […] in Situationen, […] in die man eigentlich nicht kommt“ (Pw: Z. 561 f.). Dies ermöglicht ihr eine Erfahrung dahingehend, wie es sich anfühlt, „wenn ich auf einmal, (.) wenn auch nur gespielt, in so eine Situation komme“ (Pw: Z. 567.). Dadurch ist ein „direkteres […] Erleben“ (Gm: Z. 482 f.) möglich. Diese Interaktivität fordert die Rezipient(inn)en emotional viel stärker, als wenn diese die Geschehnisse nur aus der Beobachterrolle betrachten können. Auch hier wird wieder ein Vergleich zwischen Geschichtsunterricht, Kinofilm, Gedenkstätte und dem Theater ‚Spurensuche‘ angestellt. Während die Ereignisse im Unterricht, Film oder in der Gedenkstätte durch ein Medium vermittelt werden, kann in der Performance ein zwischenmenschlicher Austausch stattfinden, mittels dem die Rezipient(inn)en selbst Teil des Ganzen werden (vgl. Gm: Z. 466–474).
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
[A]ber das ist einfach auch der, (.) wie ich finde, (.) das ist der große Vorteil des Theaters überhaupt ne? Dass es Menschen sind, die direkt mit äh (.) einem kommunizieren. […] Und nicht irgendwie über eine Leinwand […], über sonst irgendwas, sondern einfach äh (.) direkt. (Gm: Z. 470–474)
Durch den Einbezug der Zuschauer(innen) in die Performances müssen sich diese aktiv mit der Thematik auseinandersetzen. Bei dieser aktiven Auseinandersetzung wird nicht nur ein Nachdenken über die eigenen Handlungsspielräume ausgelöst, sondern das Publikum wird emotional auch viel stärker gefordert.
8.3
Nach dem Theaterbesuch
Historischer Wissenserwerb Die Zuschauer(innen) führen in den Interviews an, dass sie durch die Amateurtheaterprojekte etwas Neues über die jeweiligen Opfergruppen und deren Lebensumstände zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland erfahren konnten. So hat beispielsweise Hw durch ‚Spurensuche‘ etwas über die „‚Nazi-Zeit in Haar‘ […] gelernt“ (Hw: Z. 428). Rw ist durch den Besuch von ‚Nicht vergessen!‘ „präsent“ (Rw: Z. 686) geworden, was mit Menschen passierte, die zur Zeit des Nationalsozialismus einen „Stempel der Verwahrlosung“ (Rw: Z. 684) aufgedrückt bekommen haben. Darüber hinaus hat sie „das Thema ‚vergessene KZs‘“ (Rw: Z. 682) an sich entdeckt und einen ihr noch unbekannten Ort in ihrem „unmittelbaren Lebensraum“ (Rw: Z. 687) kennengelernt. Auch für Lw, die eigentlich in der Region ortskundig ist, war es „überraschend“ (Lw: Z. 142), dass hinter dem ihr bereits bekannten Konzentrationslager Ravensbrück noch ein weiteres Lager – das Jugendkonzentrationslager Uckermark – existierte. Durch die Ortsgebundenheit von ‚Nicht vergessen!‘ hatte sie jedoch die Möglichkeit, den historischen Ort kennenzulernen, an dem sich die Häftlinge des Jugendkonzentrationslagers aufgehalten haben. Gesprächsanlass Neben dem historischen Wissenserwerb werden die Theaterprojekte als Gesprächsanlass genutzt, um sich über die Aufführungen hinaus Gedanken zum Themenkomplex ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ zu machen. Bw, die mit ihrer Familie ‚Nicht vergessen!‘ besucht hat, beschreibt, dass durch den Besuch der Performance in der Familie ein „Gespräch angestoßen“ (Bw: Z. 857) wurde. Sie haben sich gemeinsam „Gedanken gemacht […], was da [zur Zeit des Nationalsozialismus] passiert ist“ (Bw: Z. 854 f.):
8.3 Nach dem Theaterbesuch
143
[W]ieso gab es überhaupt so etwas? Warum […] gab es damals Menschen, die […] ausgegrenzt wurden? Ja. Die in Lager kamen. […] [W]arum konnten das andere nicht verhindern? Wieso gab es so viele Mitläufer? (Bw: Z. 873–879)
Gespräche, die im Anschluss an die Aufführungen geführt werden, können die in den Theaterprojekten vermittelte Thematik vertiefen. Dadurch, dass sich die Rezipient(inn)en Gedanken zu Ursachen, Umständen oder Voraussetzungen des Genozids machen, bleibt die Auseinandersetzung mit der Thematik „nicht so oberflächlich“ (Sw: Z. 374 f.), sondern kann sich durch die eigene kognitive Auseinandersetzung mit der Thematik intensivieren. Neben dem Austausch zur damaligen geschichtlichen Situation werden die Projekte aber auch zur Reflexion des eigenen familiären Umgangs mit der Thematik genutzt. So hat Aw zusammen mit ihren Freunden und ihrem Mann, der sich „noch zu Kinderzeit an den Krieg erinnern“ (Aw: Z. 207 f.) kann, das ‚Weiße-RoseGedenkkonzert‘ als „Auslöser“ (Aw: Z. 196) genutzt, um „relativ lang“ (Aw: Z. 196) über die Thematik zu sprechen. Sie berichtet davon, dass dieser Teil der Vergangenheit bei ihren Eltern zunächst ein „Tabuthema“ (Aw: Z. 211) gewesen und in der Familie lange Zeit nicht über das Thema ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ gesprochen worden sei. Dies wird in der abendlichen Runde sehr bedauert: „[D]a haben eigentlich alle gesagt, es ist eigentlich sehr schade, dass wir jetzt erst… Das sind ja Zeitzeugen gewesen“ (Aw: Z. 215–217). Das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ ist für sie nun der Anlass, sehr ausführlich und intensiv über die Thematik und den eigenen familiären Umgang mit dieser zu sprechen: „Was man sonst eigentlich ja auch nicht tut“ (Aw: Z. 223). Anlass zur Selbstreflexion Aw stellt nach ihrem Besuch des ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzertes‘ fest, dass sie „über verschiedene Dinge im Leben auch anders nachdenkt“ (Aw: Z. 243 f.). Durch das Gedenken an die Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘ wird ihr wieder vor Augen geführt „was damals war […] und wie das war“ (Aw: Z. 245). Diese ins Bewusstsein gerufenen geschichtlichen Ereignisse führen bei ihr dazu, dass sie „auch in anderen Punkten des Lebens dann eine andere Einstellung“ (Aw: Z. 246) bekommt. Auf welche Lebensbereiche sie sich hier bezieht oder was sie mit ‚Einstellung‘ meint, führt Aw nicht näher aus. Ihrer Ansicht nach sollte es jedoch „Sinn“ (Aw: Z. 249) eines solchen Gedenkens sein, dass es den Rezipient(inn)en „irgendwas auch immer schon gibt“ (Aw: Z. 250). So nutzt beispielsweise Gm die in ‚Spurensuche‘ ausgeteilten Karten mit der Aufschrift ‚Was für ein Mensch willst du sein?‘ um wieder neu über diese Frage nachzudenken:
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
Ja, ich habe […] so ein kleines Büchlein, in dem ich […] immer so Sachen aufhebe, die mir so im Laufe des Tages irgendwie so […] in die Hände fallen. Und dieser Zettel ist immer noch da drin und bleibt da auch erst mal drin. Und erinnert mich einfach auch so ein bisschen an […] dieses Stück, aber auch an […] eine sehr (.) richtige Frage ne? Die Frage stellt sich ja immer wieder, was man für ein Mensch sein will und von daher […] habe ich es mal aufgehoben. (Gm: Z. 316–322)
Auch bei Cw hat ‚Spurensuche‘ eine Selbstreflexion dahingehend ausgelöst, dass sie sich ihrer „Rädchenfunktion“ (Cw: Z. 630) in der heutigen Gesellschaft bewusst geworden ist. Das Theaterprojekt hat sie „wieder dazu gebracht“ (Cw: Z. 521), dem Thema von heutigen ungerechten Verhältnissen, von heutigen (.) auch totalitären Systemen und […] Opfern von (.) totalitären Systemen wieder offener (..) gegenüber zu stehen. Und zu sagen, (..) dass kann man nicht einfach nur so akzeptieren, sondern da muss man zumindest, das ist das einzige, das ich jetzt ganz leicht in meinem Alltag machen kann, ist zumindest die Informationen aufnehmen, ja? Und (.) ähm (.) zumindest (.) Zeuge sein und nicht wegzuschauen. Und das ist zwar herzlich wenig, das gebe ich gern zu. Aber es ist (..) die Wirkung, die hatte das Stück. (Cw: Z. 522–529)
Sie ist sich bewusst geworden, dass sie in Politik und Wirtschaft „sehr wohl Einfluss“ (Cw: Z. 629) hat und nimmt sich mehr „als Rad“ (Cw: Z. 631) „in diesem ganzen System“ (Cw: Z. 630 f.) wahr. Auseinandersetzung mit weiteren (künstlerischen) Darstellungsformen Die Theaterbesucher(innen) können durch die Amateurtheaterprojekte auch „offener und empfänglicher“ (Cw: Z. 539 f.) für diesen Teil der deutschen Geschichte werden und sich nach dem Theaterbesuch „nochmal mit dem Thema intensiver beschäftig[en]“ (Nm: Z. 277). So war Nm ein paar Wochen nach dem Besuch von ‚Nicht vergessen!‘ „zufällig in der Region“ (Nm: Z. 226 f.) und hat die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück besucht. Er hat sich bei dieser Gelegenheit „viel Zeit genommen“ (Nm: Z. 227 f.), um sich das ehemalige Lager anzusehen. In der Gedenkstätte sind zwei Räume auch dem ehemaligen Jugendkonzentrationslager Uckermark gewidmet. Die Informationen, die er dort zu dem Uckermark-Lager bekommen konnte, beschreibt er als „gute Verbindung“ (Nm: Z. 271) zu ‚Nicht vergessen!‘: [E]s war auch sehr gut, dass wir dann uns die Zeit genommen haben nochmal […] direkt nach Ravensbrück uns das anzugucken, weil da gab es dann nochmal viele (.) Geschichten, die man dann so nicht gewusst hätte […]. (Nm: Z. 241–244)
8.3 Nach dem Theaterbesuch
145
Durch den Besuch der Mahn- und Gedenkstätte konnte sich Nm mit verschiedenen Opfer- und Täterbiographien „nochmal genauer“ (Nm: Z. 271) auseinandersetzen. Er konnte sich „die Menschen dahinter“ (Nm: Z. 272) näher anschauen und die Geschichte des Lagers nachlesen. So war es ihm vermutlich auch im Nachhinein besser möglich, die deutungsoffenen Sequenzen in ‚Nicht vergessen!‘ in den geschichtlichen Kontext einzuordnen. Aw war durch das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ „irgendwie so auf dem Trip“ (Aw: Z. 287) und besuchte im Anschluss an die theatrale Lesung zwei weitere künstlerische Aufarbeitungen der Thematik. Sie besuchte im Metropoltheater München die Aufführung ‚Eisenstein‘ und eine Postwar-Ausstellung im Haus der Kunst. Durch den Besuch des Gedenkkonzertes kam für sie die Frage auf: „Mensch, was gibt es denn jetzt da [im Bereich der Kunst] so?“ (Aw: Z. 288). Hätte sie das Gedenkkonzert nicht besucht, hätte sie vermutlich „die zwei Sachen […] nicht so ohne Weiteres gemacht“ (Aw: Z. 288 f.). Auch Cw hat ‚Spurensuche‘ „wieder zu Literatur aus der […] Zeit gebracht“ (Cw: Z: 530 f.): [I]ch habe zum Beispiel die Biographie von Esther Bejarano gelesen. Die hat jetzt nichts mit den Euthanasieprojekten (.) zu tun gehabt. Das war eine, […] die war […] in verschiedenen Konzentrationslagern. Ist Überlebende […] von Konzentrationslagern. (Cw: Z. 531–534)
Darüber hinaus hat sie sich auch wieder eine DVD angesehen, die sie von dem Sohn einer Inhaftierten im Konzentrationslager Dachau erhalten hat (vgl. Cw: Z. 534– 539). „Es [‚Spurensuche‘] hat mich auf jeden Fall wieder dazu gebracht, mich stärker dem Thema an sich zuzuwenden“ (Cw: Z. 521 f.). Pw hat sich aufgrund ihres Besuchs von ‚Spurensuche‘ tiefgehend mit der ‚Tötungsanstalt‘ Hadamar auseinandergesetzt. Diese Anstalt, in der Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen getötet wurden, hat sie bereits während ihrer Schulzeit „mehrmals“ (Pw: Z. 508) besucht. Doch „weil […] [sie] in Haar war“ (Pw: Z. 651), hat sie sich nach langer Zeit erneut mit dieser Anstalt beschäftigt und sich ihre Unterlagen und die Webseite der Gedenkstätte näher angesehen (vgl. Pw: Z. 656–658). Aufgrund ihres Besuchs von ‚Spurensuche‘ las sie sich die wissenschaftliche Arbeit eines Freundes zum Thema ‚Opfer des Nationalsozialismus in Münster‘ wieder durch (vgl. Pw: Z. 659–664). Dabei interessierte sie nicht so sehr „dieser geschichtliche Blick darauf“ (Pw: Z. 666), sondern vielmehr die „Einzelschicksale […], (.) zu denen man auch mehr Bezug hat“ (Pw: Z. 667 f.).
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8.4
8
Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
Zurückweisung der Erinnerungsform
Viele der befragten Zuschauer(innen) schätzen die Konzeption der drei Amateurtheaterprojekte. Die ästhetisch überformte Darstellung von ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ sowie die aktive Auseinandersetzung mit Phänomenen wie ‚Gruppenzwang‘ lassen sie über die Thematik nachdenken und ermöglichen einen empathischen Zugang zur Thematik. Doch manche der befragten Zuschauer(innen) weisen diese Form der theatralen Darstellung auch zurück. Problem des ‚moralischen Zeigefingers‘ Fragen wie ‚Was hättest du damals gegen Hitler getan?‘ oder ‚Was für ein Mensch willst du sein?‘ werden von den Theaterbesucher(inne)n teilweise als „abgedroschen“ (Cw: Z. 341) oder „plump“ (Tm: Z. 306) empfunden: „[I]rgendwie […] hat sich jeder Deutsche schon mal die Frage gestellt, wie hätte ich mich damals verhalten“ (Hw: Z. 304f.). Fragen dieser Art gehen für Cw in eine Art „Vorwurfshaltung“ (Cw: Z. 342) über und machen für sie „mehr kaputt […], als dass sie […] bei der Aufarbeitung [helfen]“ (Cw.: Z. 359f.): [I]ch werde die Frage [‚Wie hätte ich mich damals verhalten?‘] ja in meinem Leben nicht beantworten können, was hätte ich damals gemacht? Das ist, bleibt ein Konjunktiv, ich war nicht dabei. Keine Ahnung. (Hw: Z. 311–313)
Auch für Sw sind es „zwei Paar Stiefel […], ob man drinsteckt oder ob man es sich nur theoretisch überlegt“ (Sw: Z. 204–206). Vermutlich auch aus diesem Grund hat Tm diese Fragen „gekonnt ignoriert“ (Tm: Z. 329) und „[n]icht darüber nachgedacht“ (Tm): Weil das weiß man nicht, was man tun würde, […] wenn man in einer Situation (.) ist. Das kann man so nicht sagen, das hängt von so vielen (.) Faktoren ab, die man nicht alle (.) einbeziehen kann in so eine Überlegung. (Gm: Z. 341–344)
Daher empfindet es Gm auch als „vermessen“ (Gm: Z. 347) auf solche Fragen zu antworten. Ähnlich wie Tm hat sich auch dieser Zuschauer „nicht bemüht“ (Gm: Z. 348 f.) auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Dagegen sehen es die Zuschauer(innen) als „ganz wichtig“ (Sw: Z. 357) an, dass die Projektteilnehmer(innen) die Thematik ohne „erhobene[n] Zeigefinger“ (Sw: Z. 358) vermitteln. Sie erwarten von den Darsteller(inne)n, dass ihnen diese „relativ objektiv aus ihrer heutigen Warte mitteilen […], was damals passiert ist“ (Cw: Z. 61 f.). Daher hat Cw auch „großen Respekt“ (Cw: Z. 63) vor den
8.4 Zurückweisung der Erinnerungsform
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Schüler(inne)n des Projektes ‚Spurensuche‘. Hier hatte sie das Gefühl, dass diese den Zuschauer(inne)n „so objektiv wie möglich“ (Cw: Z. 67) und „ohne auf die Tränendrüse zu drücken“ (Cw: Z. 376) erzählen möchten, was sie in ihrer Recherche über das nationalsozialistische Haar erfahren haben. Und das ist für sie „das Grundlegende“ (Cw: Z. 63). Gefahr der emotionalen Überwältigung In ‚Spurensuche‘ wird die Sequenz, in der die Schüler(innen) in roten Shirts eine aus Sitzhockern gebaute Brücke überqueren, von Johann Sebastian Bachs Kantate ‚Mache dich, mein Geist, bereit‘ (1724) begleitet. Für Pw war dies eine der Szenen, die bei ihr starke Betroffenheit auslöste. Gerade die Begleitung der Szene durch diese tragende Musik war für sie ausschlaggebend, dass sie starke Trauer empfand: „[D]a musste ich weinen“ (Pw: Z. 62). Für sie war klar, dass diese Szene den Tod von Menschen im Rahmen der Euthanasie darstellt. Obwohl sie diese Sequenz schon ohne begleitende Musik als „furchtbar“ (Pw: Z. 59) empfand, wird bei ihr dieses Gefühl durch die Musik noch verstärkt. „Anstatt eines kleinen [Gefühls] […] ist [es] auf einmal ein sehr großes Gefühl“ (Pw: Z. 472 f.). Auch Cw beschreibt diese Sequenz als „schwer zu ertragen“ (Cw: Z. 73) und „grenzwertig“ (Cw: Z. 76). Die Musik, die sie mit Passion und Leiden in Verbindung bringt (vgl. Cw: Z. 73–75), empfindet sie an dieser Stelle als „zu stark“ (Cw: Z: 594) und führt für sie zu einem emotionalen „Zusammenbruch“ (Cw: Z. 598). Die durch die Musik ausgelöste intensive Trauer empfindet sie als „gewollt“ (Cw: Z. 586) und ist sich nicht sicher, ob dies für die Auseinandersetzung mit der Thematik sinnvoll ist: [D]arf man das? Darf man mich jetzt so sehr zu Tränen rühren, wenn man doch […] nur vermitteln will, […] was passiert ist. Und was jetzt passieren müsste. Nämlich, dass man sich dessen bewusst wird und halt das nicht mehr geschehen lässt. (Cw: Z. 79–83)
Starke Betroffenheit kann dazu führen, dass sich die Theaterbesucher(innen) überwiegend mit ihrer unmittelbaren emotionalen Reaktion auf das Dargebotene auseinandersetzen. Sw erinnert sich in diesem Zusammenhang an den Besuch des Dokumentarfilms ‚Der gelbe Stern‘ (1980), den sie als Jugendliche gesehen hat. Sie beschreibt diesen Besuch als ein Erlebnis, das sie „fürchterlich betroffen gemacht“ (Sw: Z. 215 f.) hat, aber mehr hat das dann nicht gebracht, des war nur so, pff, (.) heftig, […] aber brauch ich das? Will ich nicht. So eher in die Richtung, aber jetzt nicht, dass ich mir jetzt für meinen Teil Gedanken gemacht hätte, so, was mich betrifft. Ja. Wie würde ich damit umgehen oder so. Das hat es nicht erreicht, sondern eher Betroffenheit und […]
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
weg. Will ich nicht sehen, […] habe ich jetzt gesehen, will ich nicht nochmal sehen. (Sw: Z. 216–222)
Aufgrund ihrer Betroffenheit ist Sw im Anschluss an den Filmbesuch nicht nur von einer Auseinandersetzung mit der Thematik abgeschreckt. Auch eine Reflexion der historischen Ereignisse bleibt außen vor. Wunsch nach historischer Einordnung der deutungsoffenen Sequenzen Wenn es den Theaterbesucher(inne)n schwerfällt, die mehrdeutigen Szenen in den geschichtlichen Kontext einzuordnen, birgt diese Wahl der theatralen Darstellung auch die Gefahr des Nicht-Verstehens. So empfindet Zm ‚Nicht vergessen!‘ als „sehr abstrakt“ (Zm: Z. 17), für seinen Geschmack „vielleicht sogar zu abstrakt“ (Zm: Z. 18). Ihm wird nicht klar, warum sich eine Darstellerin um einen Stahldraht bewegt (vgl. Zm: Z. 193–198), „wer da [in der Swing-Szene] mit wem getanzt hat“ (Zm: Z. 301), warum die Steine plötzlich nicht mehr mit roter, sondern mit blauer Farbe angemalt werden oder weshalb die Darsteller(innen) zum Ende hin die roten Steine gemeinsam überschreiten (vgl. Zm: Z. 248–251). Auch Bw konnte mit der Draht-Szene „gar nichts […] anfangen“ (Bw: Z. 121 f.): [D]a hat eine junge Frau (.) alleine […] bestimmte Bewegungen gemacht. Und ich habe gedacht: ‚Was […] macht die eigentlich? […] [I]st […] sie eine […] Arbeiterin, die da jetzt irgendwelche Arbeiten verrichten muss? Aber ich weiß nicht was. Was tut sie, […] was soll das, wieso macht sie das? Das habe ich nicht verstanden. Also […] habe ich einfach so für mich stehen gelassen. (Bw: Z. 124–131)
Bw spricht diese Szene nicht an: „Das waren nur diese Gesten“ (Bw: Z. 140). Ihr fällt es genauso wie Zm oder Nm schwer, diese performative Darstellung zu deuten und einen Zusammenhang zwischen dem gezeigten Bild und dem Lager zu entdecken: „[I]ch [konnte] jetzt […] zu dem ganzen Grundthema eigentlich dort keinen direkten (.) äh Kontakt herstellen“ (Nm: Z. 25 f.). Um die vieldeutigen Szenen zu verstehen, bräuchte es auf Seiten der Zuschauer(innen) nach eigener Aussage mehr Vorwissen, mit dem sie die deutungsoffene Darstellungsweise abgleichen können. So wäre es Zm mit einer entsprechenden „historische[n] Einordnung“ (Zm: Z. 305) des Projektes leichter gefallen, „das Wissen dann an[zu]wenden auf abstrakte Szenen“ (Zm: Z. 315 f.). Auch für Bw hätte etwas „Schriftliches“ (Bw: Z. 410) zum „nachlesen“ (Bw: Z. 410) geholfen, die Szenen einzuordnen und somit auch „besser […] zu verstehen“ (Bw: Z. 411 f.). So helfen beispielsweise Zm die in ‚Nicht vergessen!‘ eingesetzten Audiodateien von Überlebenden die damalige Situation besser zu verstehen, „weil man etwas Persönliches erfährt von einer […] Lagerinsassin und so“ (Zm: Z. 264 f.).
8.4 Zurückweisung der Erinnerungsform
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Zm ist sich durchaus bewusst, dass jede Erinnerung immer der eigenen Interpretation der Ereignisse ausgesetzt ist und nicht immer die Faktizität eines Ereignisses beweist: [W]enn man es [den Bericht eines Zeitzeugen] reflektiert, muss man das natürlich auch sehr kritisch betrachten, weil das ja auch sehr subjektiv ist. Und eine Person erzählt und […] so weiter. Und halt ihre (.) subjektive Meinung da kundtut. Aber ich finde es trotzdem sehr gut, weil man sich einfach mehr, besser etwas vorstellen kann zu dem Lager (.) und der Lebenssituation. (Zm: Z. 267–271)
Wie auch anderen Zuschauer(inne)n helfen Zm gerade diese Berichte, sich die damalige Situation im Jugendkonzentrationslager Uckermark besser vorzustellen und ein besseres Verständnis für die damalige Lebenssituation der Häftlinge zu entwickeln. „[M]an musste nicht sich eine eigene Deutung oder Interpretation von irgendwas einfallen lassen“ (Km: Z. 301 f.), sondern hat die Menschen und deren Geschichten „direkt gehört“ (Km: Z. 303). Als beispielsweise eine Darstellerin von dem Schicksal Franziskas berichtet, kann Bw direkt etwas über die Haftgründe der Lagerinsassin erfahren: Erstmal konnte man sich überhaupt so ein bisschen vorstellen, was ist denn da überhaupt abgelaufen äh damals. Es war, man ist ein bisschen in die Zeit eingeführt worden durch diese Musik, durch diesen Tanz. Und ähm, (.) es ist, was diese Frau geschildert hat, hat man so ein bisschen eigentlich auch verstanden, was war denn der politische Hintergrund? Warum wurde diese Frau verfolgt? (Bw: Z. 61–65)
Das vorgetragene Einzelschicksal erlaubt Bw zu verstehen, warum die junge Frau im nationalsozialistischen Deutschland als ‚asozial‘ und ‚verwahrlost‘ galt und ins Jugendkonzentrationslager Uckermark gebracht wurde. Anspruch an ‚Authentizität‘ Durch bereits vorhandenes Vorwissen kann den Theaterprojekten auch die Orientierung an historischen Fakten und damit ‚Authentizität‘ abgesprochen werden. Vor allem bei einer ästhetisch überformten Darstellung der NS-Verbrechen erwarten die Zuschauer(innen) eine ‚authentische‘ interne Gestaltung der Theaterprojekte. So hat sich beispielsweise Rw bereits vor ‚Nicht vergessen!‘ mit dem in den 1920er Jahren entstehenden Gesellschaftstanz ‚Charleston‘ beschäftigt. Als die Darsteller(innen) zu ‚Musik! Musik! Musik!‘ von Peter Kreuder und Hans Fritz Beckmann (1939) eher frei als dem Gesellschaftstanz entsprechend tanzen, ist sie irritiert: „Die Bewegung haben für mich da nicht so gepasst“ (Rw: Z. 191). „[U]m in die Zeit zu kommen“ (Rw: Z. 249) bzw. diese „noch lebendiger“ (Rw: Z. 193) vor Augen zu haben,
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
hätte sie sich der Zeit und Musik entsprechende Charleston-Elemente gewünscht (vgl. Rw: Z. 191–193). Da sich die Swing-Szene jedoch nicht an den historischen Begebenheiten orientiert, erzeugt sie für Rw keinen ‚Wirklichkeitseffekt‘ und damit empfindet sie diese auch als nicht ‚authentisch‘. Wunsch nach ‚traditionellem‘ Theater Ew empfindet das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ als „so abstrakt“ (Ew: Z. 227), dass sie zu diesem keine „persönliche Bindung“ (Ew: Z. 228) aufbauen konnte. Dadurch, dass das Gedenkkonzert seinen Fokus auf die theatrale Lesung von Texten zur ‚Weißen Rose‘ legte, baut sie eine „ziemlich große Distanz“ (Ew: Z. 231) auf. Im Gegenzug hätte sie sich mehr Dialoge und Interaktionen gewünscht, die die theatrale Aufarbeitung „spannender“ (Ew: Z. 262) gemacht hätten. Ähnlich geht es auch Dw. Auch sie hätte sich im Gegensatz zur theatralen Lesung eher ein ‚traditionelles‘ Theater gewünscht. Aber dadurch, dass die Geschichte der ‚Weißen Rose‘ nicht wie im Film „nachgespielt“ (Dw: Z. 168) wird, fällt es ihr schwer, sich in diese einzufinden. Was ihr fehlt, sind die Bilder. Damit sie von der Performance wirklich „gefangen“ (Dw: Z. 276) genommen wird, müsste sie sich besser in die Zeit der Widerstandsgruppe hineinversetzen können: [D]ass es einem nochmal wahrhaftig vor Augen geführt wird, wie jemand dann […] abgeführt wird, verhaftet wird […] von irgendwelchen Wächtern. Wirklich schlecht behandelt wird sozusagen. Wie sie in dem Keller sich besprechen, […] wie sie vorgehen oder so. (Dw: Z. 294–298)
Doch so haben die Bilder nur „im Kopf stattgefunden“ (Dw: Z. 283 f.). Auch Zm hätte sich ein „klassisches Theaterstück“ (Zm: Z. 35) gewünscht, das sich mehr dem Paradigma des ‚Als-ob‘ verschreibt. Ähnlich wie Dw und Ew hätte er sich neben Dialogen und Interaktionen auch Kostüme gewünscht, um sich „noch stärker in die Zeit hineinversetzen zu können“ (Zm: Z. 503 f.). Das Hineinversetzen in die Vergangenheit wird für Bw und Zm auch dadurch erschwert, dass auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark nur noch wenig an dieses erinnert. Damit sie sich das damalige Lager und die dortigen Lebensbedingungen besser vorstellen können, bräuchte es mehr an baulichen Relikten wie beispielsweise „richtige Baracken“ (Zm: Z. 159). Bw sucht während der Aufführung von ‚Nicht vergessen!‘ immer wieder nach „Erinnerungsstück[en]“ (Bw: Z. 544) wie einer Tasse oder einem Löffel und begründet diese Suche wie folgt: „Ich möchte was sehen. Ich möchte etwas, was mich an diese Zeit erinnert. So. Da habe ich immer danach gesucht“ (Bw: Z. 546 f.). Von
8.4 Zurückweisung der Erinnerungsform
151
diesem „[e]twas sehen, etwas hören, etwas mitkriegen von damals“ (Bw: Z. 549) erhofft sie sich ein „Eintauchen in diese Zeit“ (Bw: Z. 550). Wunsch nach Lesung Obwohl Bw Schwierigkeiten mit der Deutung der mehrdeutigen Sequenzen in ‚Nicht vergessen!‘ hat, nimmt sie von dem Wunsch eines ‚traditionellen‘ Theaters Abstand: Weil […] das sind ja keine Schauspieler […] im althergebrachten Sinne. […] [D]as könnte ich mir gar nicht vorstellen, jemand zu spielen, der damals gelebt hat und das durchmachen musste. Also das, glaube ich, wäre fehl am Platz gewesen (lachend). (Bw: Z. 641–649)
Für sie hat ein Theaterprojekt wie ‚Nicht vergessen!‘ das Potential, dem Publikum die Geschichte eines historischen Ortes an diesem näher zu bringen. Die Projektteilnehmer(innen) könnten im Sinne einer Lesung an mehreren Stellen des ehemaligen Lagers aus unterschiedlichen Dokumenten vorlesen und so über die Lebens- und Haftbedingungen der Häftlinge aufklären. Zur Veranschaulichung könnte dabei der historische Ort miteinbezogen werden. Gerade in der Vermittlung von neuem Faktenwissen sieht Bw die Intention der Theaterprojekte, denn „man ist dort [am historischen Ort] und möchte was […] Dokumentarisches wissen“ (Bw: Z. 541 f.). Keine Wirkung der Theaterprojekte Wenn die Theaterbesucher(innen) keine Verbindung zwischen den gezeigten Szenen und dem historischen Kontext ziehen können, setzen sich die Rezipient(inn)en auch nicht weiter mit diesen auseinander. So ist beispielsweise Bw nicht klar, wie die Geschichte eines Darstellers, in der dieser von einem Trauma innerhalb seiner Familie berichtet, mit der Geschichte des Lagers Uckermark zusammenhängt: Ich konnte den Zusammenhang nicht finden. […] Also es war dann einfach eine Geschichte, die man sich vorstellen kann, aber äh die blieb dann so stehen. So. Einfach ja, als Kriegserlebnis dieser Frau, ja. (Bw: Z. 491–498)
Da sie die Geschichte des Darstellers nicht mit dem ehemaligen Konzentrationslager in Verbindung bringen kann, hat sie für sich die Szene gedanklich „weggelegt“ (Bw: Z. 495). Ähnlich erging es auch Zm. Während er zu Beginn von ‚Nicht vergessen!‘ noch versucht hat, sich in die Performance hineinzuversetzen, schweift er im Laufe der Zeit immer mehr von dieser ab. Da er die mehrdeutigen Sequenzen nicht zu interpretieren vermag, entfernt er sich im Laufe des Stücks immer weiter von diesem und denkt „zum größten Teil über andere Dinge“ (Zm: Z. 172 f.) nach.
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
Wenn die Amateurtheaterprojekte die Besucher(innen) nicht ansprechen, fungieren diese auch nicht als Anstoß für eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘. Damit eine Aufführung eine(n) Theaterzuschauer(in) dahingehend beeinflusst, sich über die Performance hinaus mit weiteren (künstlerischen) Darstellungsformen auseinanderzusetzen, müssen diese den Bedürfnissen der Rezipient(inn)en entsprechen. So hat beispielsweise Dw das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ nicht so begeistert, dass sie sich im Internet über weitere Angebote zur Thematik informiert hätte (vgl. Dw: Z. 313 f.). Auch Zm war aufgrund seines Besuches von ‚Nicht vergessen!‘ nicht bereit, „zuhause […] Literatur mir ranzuziehen und dann so ein bisschen weiter nachzulesen und mich damit zu befassen“ (Zm: Z. 480 f.). Dafür hätte es dann „vielleicht ein bisschen was anderes“ (Dw: Z. 320 f.) sein müssen.
8.5
Interpretation der Ergebnisse
Rezeptionsmodell Auf Basis der vorliegenden Ergebnisse (vgl. Abb. 8.2) konnte mithilfe der GTM ein Rezeptionsmodell für Amateurtheaterprojekte entwickelt werden (vgl. Abb. 8.3). Aufgrund der Daten konnte festgestellt werden, dass die in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte eine intellektuelle Auseinandersetzung mit ‚schwieriger‘ Geschichte fokussieren. Unter ‚schwieriger‘ Geschichte ist jede Art von Gewalt zu verstehen, die in der Vergangenheit von einer dominanten Gruppe auf eine Minderheitengruppe ausgeübt wurde, bei den Opfern traumatische Erfahrungen hinterlässt und schwer zu lehren bzw. anzueignen ist (vgl. Gross et al. 2018). Dementsprechend ist unter diesem Begriff auch die Geschichte des ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ zu fassen. Die Opfer des Genozids erlitten während des Zweiten Weltkrieges traumatische Erfahrungen und es war ein Weg von Jahrzehnten, bis dieser Teil der deutschen Geschichte Eingang in die Erinnerungskultur des Landes finden konnte (vgl. in Abschnitt 3.2 „Holocaust und Nationalsozialismus‘ in der deutschen Erinnerungskultur‘). Auch heute noch bergen die Vermittlung und Rezeption der Geschichte des Völkermordes große Herausforderungen. Eine ‚intellektuelle Auseinandersetzung‘ mit ‚schwieriger‘ Geschichte meint eine „rein geistig[e], verstandesmäßig[e]“ (Pfeifer 1997: 586) Aufarbeitung und Beschäftigung mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘. Es hat sich gezeigt, dass dem Publikum in den Amateurtheaterprojekten diese Periode der deutschen Geschichte vor allem in einer ästhetisch überformten Weise präsentiert wird, die die „Fähigkeit, […] unter Einsatz des Denkens Erkenntnisse, Einsichten zu gewinnen“
153
Abb. 8.2 Übersicht der Ergebnisse
8.5 Interpretation der Ergebnisse
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8
Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
Abb. 8.3 Rezeptionsmodell
(Dudenredaktion o. J.), erfordert. Die Rezipient(inn)en müssen sich als „geistig Schaffende[ ]“ (Pfeifer 1997: 586) ihres Vorwissens und Reflexionsvermögens bedienen, um von den mehrdeutigen Sequenzen zu einer individuellen Schlussfolgerung hinsichtlich des Themenbereichs ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ zu gelangen.
8.5 Interpretation der Ergebnisse
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Die einzelnen Ebenen des Rezeptionsmodell werden im Folgenden näher erläutert. Es wird ausgeführt, welche Theaterbesucher(innen) unter einem ‚bildungsnahen Publikum‘ gefasst werden und warum gerade überwiegend dieses die Amateurtheaterprojekte besucht. Darüber hinaus wird dargelegt, was unter einer ‚ästhetisch überformten Darstellung‘ verstanden wird und welche Zuschauer(innen) von dieser theatralen Aufarbeitung angesprochen werden bzw. welche Rezipient(inn)en diese Gestaltung der Erinnerung ablehnen. Zudem wird auf zwei problematische Faktoren bei dieser Form der Auseinandersetzung eingegangen: das Problem des ‚moralischen Zeigefingers‘ und der Anspruch an ‚Authentizität‘. Rezeption der Projekte von ‚bildungsnahem‘ Publikum Generell wird die kulturelle Institution ‚Theater‘ von einem Publikum mit einem hohen Bildungsabschluss besucht. Dies belegt eine Studie von Karl-Heinz Reuband. In dieser konnte er am Beispiel einer nordrhein-westfälischen Großstadt herausstellen, dass 72 % der Theaterbesucher(innen) über ein Studium verfügt und 17 % über ein Abitur (zit. nach Kliment 2016). In ähnlicher Weise gestaltet sich auch die soziale Zusammensetzung der untersuchten Amateurtheaterprojekte. Fast 90 % der befragten Zuschauer(innen) studieren oder haben bereits eine Universitäts- bzw. Hochschulbildung abgeschlossen. Lediglich zwei der befragten Besucher(innen) gaben als Schulabschluss die Mittlere Reife an (vgl. Abb. 7.1). Der Großteil der Theaterbesucher(innen) besteht somit aus Akademiker(inne)n. Dass viele der befragten Zuschauer(innen) über einen gehobenen Bildungsabschluss verfügen, mag auch mit den Institutionen zusammenhängen, von denen aus die Amateurtheaterprojekte ihren Anfang nehmen und in denen diese mitunter auch zur Aufführung kommen. So werden die Projekte vorwiegend in Bildungseinrichtungen wie Gymnasien oder Universitäten entwickelt und aufgeführt. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass viele der befragten Theaterbesucher(innen) einen akademischen Hintergrund aufweisen. Auch die im Prolog aufgeführten Amateurtheaterprojekte wurden in Zusammenarbeit mit Lern- und Erinnerungsorten wie Universitäten, dem NS-Dokumentationszentrum oder dem Institut für Zeitgeschichte in München entwickelt. Student(inn)en der Technischen Universität Dortmund haben beispielsweise ihr selbstentwickeltes Projekt ‚Das Konzept bin ich‘ an Gedenkstätten in ganz Deutschland aufgeführt. Bei diesen Bildungsund Erinnerungsorten gestaltet sich die soziale Zusammensetzung ähnlich wie bei der kulturellen Institution ‚Theater‘. Eine Besucherbefragung zur KZ-Gedenkstätte Dachau von 2012/2013 zeigt, dass die Gedenkstätte häufig von Menschen mit einem hohen Bildungsabschluss besichtig wird: 72 % der Besucher(innen) haben eine (Fach-)Hochschulreife, 13 % eine Mittlere Reife, 9 % einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss und nur 3% noch keinen Abschluss (vgl. Burger et al. 2015:
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8
Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
36). Die Entwicklung und Aufführung der Amateurtheaterprojekte im Rahmen von Bildungseinrichtungen begünstigt somit die Tendenz, dass das Theater als Erinnerungsform von einem tendenziell akademischen Publikum besucht wird. Die Bezeichnungen ‚bildungsfern‘ und ‚bildungsnah‘ beziehen sich in Anlehnung an Markus Ottersbach jedoch nicht auf einen rein leistungsorientierten Bildungsbegriff. Unter einem ‚bildungsfernen‘ Publikum sind demnach nicht die Menschen zu fassen, die über keinen Hauptschulabschluss verfügen. Vielmehr wird in dieser Arbeit ein erweiterter Bildungsbegriff verwendet, der nach Ottersbach auch andere Faktoren umfasst: [Z]. B. interdisziplinäres Wissen, einen Theorie-Praxis-Bezug und die Kompetenz, sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher Diskurse und öffentlicher Kontroversen möglichst unvoreingenommen eine eigene Meinung bilden zu können […]. (Ottersbach 2018: 107)
Dementsprechend werden in dieser Arbeit unter einem ‚bildungsnahen‘ Publikum Theaterbesucher(innen) verstanden, die schon über Vorwissen zur Thematik verfügen und somit auch in der Lage sind, die eingesetzten Verfremdungstechniken mit ihrem bereits vorhandenen Wissen abzugleichen und diese für sich zu deuten. Darüber hinaus sind unter dieser Bezeichnung auch alle Rezipient(inn)en zu fassen, die bereit sind, sich während und nach dem Theaterbesuch aktiv mit der Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinanderzusetzen. Ästhetische Überformung In den untersuchten Amateurtheaterprojekten werden die NS-Verbrechen in einer ästhetisch überformten Weise theatral auf die ‚Bühne‘ gebracht. Den Zuschauer(inne)n wird durch eine verfremdete Darstellungsweise die Möglichkeit gegeben, sich in einem emotional distanzierten Verhältnis mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinanderzusetzen und dennoch Empathie zu empfinden. Unter ‚Empathie‘ sei nach Fritz Breithaupt die „Zugehörigkeit“ (Breithaupt 2012: 116) verstanden, „die man empfindet, wenn man die Partei für den einen (und nicht den anderen) ergriffen hat“ (Breithaupt 2012: 116). Dabei steht am Anfang immer ein Konflikt, bei dem sich zwei Personen gegensätzlicher Interessen gegenüberstehen. Eine dritte Person hat dabei die Beobachterperspektive inne, verfolgt den Konflikt und steht für eine der beiden Seiten ein (vgl. Breithaupt 2012:116). Breithaupt geht davon aus, dass Empathie immer eine Frage der Distanz ist, d. h. Emotionen werden zunächst durch Auslassungen oder Widersprüche blockiert, damit der bzw. die Rezipient(in) Partei für eine der Seiten ergreifen kann (vgl. Breithaupt 2012: 12). Auf das Potential von Distanz, das in den Theaterprojekten
8.5 Interpretation der Ergebnisse
157
auch von den mehrdeutig ausgerichteten Sequenzen ausgeht, verweist auch Erika Fischer-Lichte (vgl. Fischer-Lichte 2003: 106 f.; 2011: 281). Auf der ‚Bühne‘ der Amateurtheaterprojekte werden nicht die NS-Verbrechen an sich gezeigt, sondern die theatralen Handlungen stehen für sich und lassen Lesarten in einem breiteren Rahmen zu. Die Zuschauer(innen) werden also nicht mit potentiell traumatisierenden Bildern konfrontiert, sondern ihnen wird jederzeit die Wahl gelassen, bei der ästhetischen Rezeption des dargebotenen Bildes zu bleiben. Damit wird den Theaterbesucher(inne)n die Möglichkeit gegeben, selbstbestimmt zu entscheiden, inwieweit sie das Gezeigte mit sich und der Thematik in Verbindung bringen. Folglich wird in den Amateurtheaterprojekten nicht so sehr neues Faktenwissen vermittelt, sondern vielmehr eine intellektuelle Auseinandersetzung (vgl. in Abschnitt 8.5 ‚Rezeptionsmodell‘) mit der ‚schwierigen‘ Geschichte ermöglicht. Um die deutungsoffenen Sequenzen mit der ‚schwierigen‘ Geschichte zu verknüpfen, ist von Seiten der Rezipient(inn)en jedoch die Bereitschaft und Fähigkeit von Nöten, die verfremdeten theatralen Handlungen in einem Denkprozess auf den ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ zu beziehen. Bei einer ästhetisch überformten Darstellung des ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ spielt die Reflexion der theatralen Handlungen eine große Rolle. In den Interviews wird jedoch deutlich, dass die Theaterbesucher(innen) das Gesehene nicht nur auf die eigentliche Thematik, sondern auch auf ihre eigene Person übertragen. Angeregt durch die Performances beginnen die Zuschauer(innen) sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, indem sie beispielsweise über ihre Handlungsmöglichkeiten in Politik, Wirtschaft oder in der Gesellschaft nachdenken. Dieses Potential von Projektarbeiten stellt bereits Markus Gloe heraus. In seinem Projekt ‚Meine Schule‘ versuchte er Sechstklässler(inne)n ihre Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten an der eigenen Schule bewusst zu machen und infolgedessen auch zukünftig zu politischen „Aktivbürger[n]“ (zit. nach Gloe 2005: 221) zu erziehen. Ähnlich wie in den Theaterprojekten hatten die Schüler(innen) in der Entwicklungsphase die Möglichkeit, eigenständig zu recherchieren. Im Anschluss konnten sie ihr gesammeltes Material unter anderem in Form eines Rollenspiels präsentieren (vgl. Gloe 2005: 224–226). Auch wenn das Ziel, die eigene Beteiligung an der Politik zu verstärken und die „Chancen politischer Einflussnahme zu erkennen und zu nutzen“ (zit. nach Gloe 2005: 221), nicht bei allen Schüler(inne)n angebahnt bzw. verstärkt werden konnte, hat das Projekt doch bei vielen der beteiligten Schüler(innen) dazu beigetragen, sich der eigenen Mitgestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft bewusst zu werden. Als Folge davon sind im Anschluss an das Schulprojekt viele der Projektbeteiligten bei Streitschlichter(inne)n tätig geworden, der Schülerzeitung beigetreten oder haben sich aktiv der Schulgestaltung angeschlossen. So wurde das Ziel der verstärkten Schüler(innen)beteiligung am Schulleben deutlich
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
vorangebracht (vgl. Gloe 2005: 227). Im Hinblick auf das Theater beschreiben dieses Potential der Projektarbeit auch Lisa Peschel und Alan Sikes, die mit Studierenden in den USA und in Großbritannien zusammen gearbeitet haben. Dabei kommen die beiden Mitarbeiter des Projektes ‚Performing the Jewish Archive‘ zu der Erkenntnis, dass solche Konzepte, in denen sich junge Menschen aktiv mit der Geschichte des Holocaust und Nationalsozialismus auseinandersetzen, helfen können, die aktuelle Politik als „‚something we can work out‘“ (Peschel et al. 2019) zu betrachten. In den in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte werden solche Selbstreflexionen auch durch kleinere ‚Experimente‘, wie sie in ‚Spurensuche‘ mit den Seil-Sequenzen durchgeführt werden (vgl. in Abschnitt 2.3 ‚Aufführung‘), ausgelöst. Diese aktiven Elemente führen dazu, dass die Rezipient(inn)en am eigenen Leib die Dynamik von Gruppenzwang erfahren. Nach Dana Giesecke und Harald Welzer eröffnen gerade solche partizipativen Elemente die Möglichkeit, sich den Ursachen zu widmen, die Exklusionsgesellschaften – auch heute noch – entstehen lassen (vgl. Giesecke et al. 2012: 97 f.). Die Zukunftsorientierung der Projekte ist dabei äußerst wichtig. Ulrike Bechmann stellt heraus, dass Wissen allein die Erinnerung an ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ nicht wachhalten wird. Nur ein Erinnerungskonzept, das sich an der Zukunft orientiert, wird auf Dauer eine Chance haben und von den Rezipient(inn)en angenommen werden (vgl. Bechmann 2001: 90). Wenn der heutigen Generation dagegen nicht klar wird, warum eine Erinnerung an ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ notwendig ist, schlägt Erinnerung fehl (vgl. Giesecke et al. 2012: 97–99). Bei einer ästhetisch überformten Darstellung der Thematik, ist die Fähigkeit, das Gezeigte anhand des eigenen Vorwissens reflektieren zu können, essentiell. Nur wenn ersichtlich wird, wie die verfremdeten Szenen gedeutet werden können, kann eine Übertragung auf den Themenkomplex ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ gelingen. Folglich werden von dieser theatralen Darstellungsform alle Rezipient(inn)en ausgeschlossen, denen es schwer fällt, die deutungsoffenen Sequenzen selbstbestimmt zu deuten. Gerade wenn zwischen der theatralen Handlung und der Thematik keine Verbindung hergestellt werden kann, bleibt diese so für sich stehen und die Zuschauer(innen) setzen sich nicht weiter mit dieser auseinander. Um die gezeigten Szenen besser verstehen zu können, bräuchte es auf Seiten der Rezipient(inn)en mehr Vorwissen bzw. eine historische Einordnung dieser, auf die sich die Besucher(innen) bei der Deutung beziehen können. Das Nicht-Verstehen wird also entgegen der Auffassung von Susanne Eigenmann nicht als „anregend und erkenntnisfördernd“ (Eigenmann 2007: 796), sondern als hemmender Faktor für das Verstehen der Performances wahrgenommen. Die Konsequenz ist, dass die Zuschauer(innen) bereits während der Aufführung nicht weiter über die gezeigten Szenen nachdenken und auch über das Theaterprojekt hinaus nicht das Bedürfnis
8.5 Interpretation der Ergebnisse
159
verspüren, sich weiter mit der ‚schwierigen‘ Geschichte zu beschäftigen. Folglich sprechen diese Theaterbesucher(innen) vor allem die in den Amateurtheaterprojekten eingesetzten Quellen an, die ihnen Informationen zu den jeweiligen Opfern und deren Lebensbedingungen vermitteln. Deshalb wird von diesen Besucher(inne)n mitunter auch der Wunsch nach einer Lesung aus dokumentarischem Material ausgesprochen. Mit der ästhetisch überformten Darstellung des ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ werden auch tendenziell jene Theaterbesucher(innen) nicht erreicht, die ein Theater im ‚klassischen‘ Sinn bevorzugen. Diese Rezipient(inn)en wünschen sich ein ‚traditionelles‘ Theater, das sich mehr dem Paradigma des ‚Als-ob‘ verschreibt und die typischen dramaturgischen Mittel des Spannungsaufbaus nutzt, um die künstlerische Aufarbeitung der ‚schwierigen‘ Geschichte für die Besucher(innen) zu einem Erlebnis werden zu lassen. Sie wünschen sich Kostüme, Dialoge und ein Bühnenbild, um in die Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands einzutauchen zu können. Durch Narration und Kohärenz möchten sie eine persönliche Bindung zum Dargestellten aufbauen, sich mit den Protagonisten identifizieren und sich so emotional gefangen nehmen lassen. Die ästhetisch überformte Darstellung des ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ spricht vor allem jene Theaterbesucher(innen) an, die die mehrdeutig ausgerichteten Handlungen auf der ‚Bühne‘ interpretieren können und Sorge bzgl. einer emotionalen Überwältigung haben. Dass Emotionen den Zugang zu vergangenen Geschehnissen sowohl öffnen als auch verschließen können, zeigen bereits verschiedene Studien (vgl. Köster 2001: 141–148; Brauer et al. 2013). So stellt beispielsweise Annette Eberle in ihrer Untersuchung die Zusammenhänge zwischen Fühlen und Denken und deren Bedeutung für die Herausbildung einer empathischen Haltung heraus. Sie konnte feststellen, dass Schüler(innen), die während eines Gedenkstättenbesuchs selbstbezogene „‚Abwehr‘-Gefühle“ (Eberle 2008: 100) wie Angst, Schock oder Betroffenheit erleben, kaum über die Situation der Opfer nachdenken. Empathische Emotionen wirken dagegen als „symbolische Brücken für eine reflexiv kognitive Aneignung“ (Eberle 2008: 110). In der hier vorliegenden Arbeit lassen sich ähnliche Befunde feststellen. Starke Emotionen der Betroffenheit, die von den Zuschauer(inne)n als intendiert empfunden werden, wirken auf Seiten der Rezipient(inn)en eher kontraproduktiv. Die Zuschauer(innen) sind in Situationen der emotionalen Überwältigung eher damit beschäftigt, sich mit ihren eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen als dass sie das Gesehene reflektieren können. Darüber hinaus kann die in den Projekten erlebte emotionale Überwältigung auch dazu führen, dass die Rezipient(inn)en zukünftig eher abgeschreckt sind, wenn sie von Erinnerungsangeboten zu ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ erfahren. Vielleicht
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
setzt der Erinnerungsbetrieb gerade deshalb immer stärker auf „symbolisch verdichtete[ ] ästhetische[ ] Gestaltungsprozesse[ ]“ (Bubmann et al. 2014: 7). Für die Theaterbesucher(innen) kann eine ästhetisch überformte theatrale Darstellungsweise eine „Überidentifikation mit den Opfern“ (Hartman 2011: 42) verhindern, die die Rezipient(inn)en emotional belastet und so eine Reflexion hemmt (vgl. Hartman 1999: 187). Eine distanzierte theatrale Darstellung der NS-Verbrechen kann für sie wie ein „Filter vor der Realität“ (Angerer 2006: 167) wirken, die eine Bearbeitung des Gesehenen ermöglicht. Damit kann emotionale Teilhabe entstehen ohne die eigene Urteilsbildung und Reflexion des Gesehenen zu beeinträchtigen (vgl. Pingel 2002: 18): „Ästhetische Distanz bedeutet […] also nicht Teilnahmslosigkeit, sondern ist die Voraussetzung für die Verbindung von Einfühlungsvermögen und Nachdenklichkeit“ (Angerer 2006: 167). Nicht moralisieren Eine ästhetisch überformte Darstellung von ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ schlägt meist fehl, wenn die ‚schwierige‘ Geschichte mit einer moralischen Botschaft vermittelt wird. Bereits Marion Klein konnte in ihrer Studie herausstellen, dass sich viele Jugendliche in Zusammenhang mit diesem Teil der deutschen Geschichte verpflichtet fühlen, Gefühle der Trauer, Betroffenheit oder Schuld zu empfinden (vgl. Klein 2012). Da die Jugendlichen die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus jedoch nicht hinreichend kennen, um dem „Trauerimperativ“ (Klein 2017: 221) nachkommen zu können, suchen sie in den Biographien nach Gemeinsamkeiten. Eine Auseinandersetzung mit den Opfern findet dabei jedoch nicht statt (vgl. Klein 2017: 219–224). Dass die moderne Erinnerungspädagogik „[b]loß nicht moralisieren!“ (Brockhaus 2008: 28), sondern „weitgehend ohne Moral“ (Frank 2012) auskommen sollte, bestätigt auch eine Umfrage von Jugendlichen ab 14 Jahren, die 2010 im Auftrag der ZEIT durchgeführt wurde. Demnach interessiert sich die Mehrheit der befragten Jugendlichen für die NS-Zeit und stellt die Vermittlung von ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ nicht in Frage. Allerdings fühlt sich nach dieser repräsentativen Befragung fast die Hälfte der Jugendlichen gedrängt, bei diesem Teil der deutschen Geschichte ein Gefühl der Betroffenheit zu zeigen (zit. nach Giesecke et al. 2012: 21 f.). Doch wie bereits Volkhard Knigge feststellt: „Über Betroffenheit erreicht man niemanden“ (zit. nach Staas 2010). Vielmehr hemmt der ‚moralische Zeigefinger‘ das selbstständige Denken und das Ziehen eigener Schlüsse (vgl. Frank 2012). In den Amateurtheaterprojekten zeigt sich ein ähnlicher Befund: Wenn die Theaterbesucher(innen) das Gefühl haben, dass ihnen die Thematik mit einer moralischen Botschaft vermittelt wird, schlägt die Auseinandersetzung mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ meist fehl. Theatrale Elemente, die eine Art Vorwurfshaltung evozieren, werden von
8.5 Interpretation der Ergebnisse
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den Zuschauer(inne)n zurückgewiesen und regen diese nicht zur Reflexion der gezeigten Szenen an. Der ‚moralische Zeigefinger‘ kann also zu einem Hindernis bei der Auseinandersetzung mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ werden. Dagegen befürworten die Rezipient(inn)en eine möglichst objektive Vermittlung der ‚schwierigen‘ Geschichte. ‚Authentische‘ Darstellung Die ästhetisch überformte Darstellung wird ebenfalls beeinträchtigt, wenn die Theaterbesucher(innen) das Gefühl haben, dass ihnen die Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ nicht ‚authentisch‘ vermittelt wird. Bereits Matías Martínez weist darauf hin, dass vor allem bei künstlerischen Aufarbeitungen der Thematik ein großer Wert auf ‚Authentizität‘ gelegt wird und zeigt hier verschiedene Facetten des Begriffs auf: Demnach gilt ein künstlerisches Produkt nicht nur als ‚authentisch‘, wenn dieses auf ein tatsächlich stattgefundenes historisches Ereignis verweist oder von „besonders qualifiziert[en]“ (Martínez 2004b: 12) Schaffenden (z. B. Zeitzeug(inn)en) kreiert wird. Auch wenn ein Kunstwerk ein Ereignis referiert, das in der Vergangenheit so nicht stattgefunden hat, gilt dieses als ‚authentisch‘, wenn in der künstlerischen Gestaltung Mittel verwendet werden, die einen Wirklichkeitseffekt erzeugen (vgl. Martínez 2004b: 14–16). Dementsprechend ist den Theaterbesucher(inne)n nicht nur wichtig, dass die Amateurtheaterprojekte auf tatsächlich stattgefundene Ereignisse wie die Geschichte der Haarer Heil- und Pflegeanstalt verweisen. Wesentlich ist auch, dass die Theaterstücke an historischen Orten wie dem Lichthof der LMU oder auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark zur Aufführung kommen. Für eine wirkungsvolle Präsentation ist es ebenfalls essentiell, dass die Darsteller(innen) in ihren performativen Handlungen geschichtlich genau bleiben. So müssen beispielsweise die Darsteller(innen) zu einer Swing-Musik der 1920er Jahre auch die entsprechenden Tanzschritte ausführen, damit diese Sequenz vom Publikum als ‚authentisch‘ wahrgenommen wird. Als ‚authentisch‘ gelten die Amateurtheaterprojekte auch, wenn diese ihrer Funktion für ihre Gegenwart – an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus zu erinnern – gerecht werden (vgl. Martínez 2004b: 16 f.). Der Begriff der ‚Authentizität‘ ist nicht unumstritten. Für Axel Drecoll, Thomas Schaarschmidt und Irmgard Zündorf sind historische Orte immer und gleichzeitig nie ‚authentisch‘: Die Theaterbesucher(innen) finden auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark oder im Lichthof der LMU keine Zustände vor, die zeigen, wie es zur Zeit des Nationalsozialismus an diesen Orten war. Vor allem auf dem Gelände des ‚vergessenen Lagers‘ Uckermark erinnert baulich nur noch sehr wenig an die damaligen Umstände. Aber ‚Authentizität‘ bedeutet für die Autorin und die Autoren auch nicht, die NS-Zeit zu „konservieren“ (Drecoll
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Ergebnisse: Besuch der Amateurtheaterprojekte
et al. 2019: 11), sondern der heutige Zustand historischer Orte ist für sie Ausdruck einer ‚Authentizität‘. So gilt das Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark als ‚authentisch‘, da es in seinem heutigen Zustand, beispielsweise durch die noch sichtbaren Betonplatten, auf die Nachnutzung durch die Sowjetunion hinweist und damit etwas über seine historische Entwicklung preisgibt (vgl. Drecoll et al. 2019:11). Dennoch äußern manche der befragten Zuschauer(innen), dass sie den historischen Ort, an dem die Amateurtheaterprojekte zur Aufführung kamen, als nicht ‚authentisch‘ wahrnehmen. So wird beispielsweise das Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark von manchen Theaterbesucher(inne)n als nicht ‚authentisch‘ wahrgenommen. Nach Drecoll hängt dies damit zusammen, dass auf dem Gelände nur noch wenig an die damaligen Umstände erinnert. Die Theaterbesucher(innen) erwarten einen historischen Ort, der die dort geschehenen Verbrechen bezeugt und sind enttäuscht, wenn sie diese nicht vorfinden. Hier kann also die Geschichte des Konzentrationslagers nicht mit baulichen Relikten oder anderen materiellen Manifestationen erfahren werden und so werden die historischen Orte nicht direkt zu „Vermittlern historischer Kenntnisse“ (Drecoll et al. 2019: 7). Historische Orte wie der Lichthof werden von den Rezipient(inn)en dementsprechend leichter als ‚authentisch‘ wahrgenommen. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass die „Raumerfahrung den Erwartungen [der Theaterbesucher(innen)] so weit wie möglich entspricht“ (Drecoll et al. 2019: 11). Auch wenn der Lichthof während des Zweiten Weltkrieges zerstört wurde, wurde bei dessen Wiederaufbau doch versucht, ihn so weit wie möglich zu rekonstruieren. Bei diesem historischen Ort müssen die Theaterbesucher(innen) im Vergleich zum Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark weniger „Transferleistung“ (Drecoll et al. 2019: 11) erbringen, um das unmittelbar Sichtbare mit der Geschichte des historischen Ortes für sich zu vereinen. So kann der heutige räumliche Aufbau des Lichthofes (vgl. Abb. 2.5) sehr gut zeigen, wie die Geschwister Scholl die Flugblätter aus dem zweiten Stock heruntergeworfen haben könnten. Teilweise äußern sich die Theaterzuschauer(innen) auch dahingehend, dass sie am historischen Ort dessen ‚Aura‘ wahrgenommen haben. Für Matthias Heyl existiert diese ‚Aura‘ an historischen Orten nicht. Der Eindruck, den die Theaterbesucher(innen) mitunter äußern, hängt für ihn vielmehr damit zusammen, dass diese Rezipient(inn)en vor dem Besuch der Theaterprojekte ein Bild im Kopf haben, dass sie während des Besuchs zu bestätigen versuchen. Die Theaterbesucher(innen) haben also den Wunsch, das Vergangene gedanklich rekonstruieren zu wollen. Hierbei bedienen sie sich des historischen Ortes, in dem sie ihm eine „auratische[] Wirkung“ (Heyl 2019: 169) zugestehen.
8.6 Fazit: Intellektuelle Auseinandersetzung mit‚schwieriger‘ Geschichte
8.6
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Fazit: Intellektuelle Auseinandersetzung mit ‚schwieriger‘ Geschichte
Die in dieser Arbeit untersuchten Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus werden vornehmlich von Akademiker(inne)n besucht. Dabei wird dem bildungsnahen Publikum die ‚schwierige‘ Geschichte vor allem in einer ästhetisch überformten Weise präsentiert, die eine intellektuelle Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen erfordert. Mit den Amateurtheaterprojekten werden somit in erster Instanz die Rezipient(inn)en angesprochen, die beispielsweise Sorge bzgl. einer emotionalen Überforderung haben und sich dementsprechend vorzugsweise unter Einsatz ihres eigenen Wissens (selbst)reflexiv mit diesem Teil der deutschen Vergangenheit auseinandersetzen wollen. In einer geistigen Auseinandersetzung mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ haben die Theaterbesucher(innen) die Möglichkeit, selbstbestimmt zu entscheiden, inwiefern sie die theatralen Handlungen mit dem Völkermord verknüpfen. Bei dieser künstlerischen Gestaltungsweise gilt es jedoch zu beachten, dass die Projektteilnehmer(innen) den Zuschauer(inne)n die Thematik nicht mit einem ‚moralischen Zeigefinger‘ vermitteln, sondern ihre Erkenntnisse möglichst objektiv an das Publikum weitergeben. Des Weiteren wird ersichtlich, dass gerade bei einer ästhetisch überformten Darstellungsweise die ‚authentische‘ Gestaltung der theatralen Handlungen eine große Rolle einnimmt. Damit ist nicht nur die Rezitation von historischen Dokumenten oder die Referenz auf tatsächlich in der Vergangenheit stattgefundene Ereignisse bzw. existierende Personen gemeint. Auch eine wirklichkeitserzeugende Darstellung von fiktiven Elementen, die den Eindruck dokumentarischer Echtheit erweckt, trägt zur ‚Authentizität‘ der Performance bei.
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Epilog: Zur Zukunft von Amateurtheaterprojekten
Mit ‚Spurensuche‘, ‚Nicht vergessen!‘ sowie dem ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ wurden drei Amateurtheaterprojekte geschaffen, die nicht nur einmalig präsentiert wurden, sondern immer noch zur Aufführung kommen und beständig weiterentwickelt werden. So ist beispielsweise die Nachfrage zu ‚Spurensuche‘ ungebrochen. Es gibt viele Auftrittsanfragen im Rahmen von Festivals oder Tagungen, sodass das Schülerprojekt seine Reichweite erheblich erweitern konnte. Die ursprüngliche Besetzung befindet sich jedoch im Wandel. Viele der Schüler(innen), die ‚Spurensuche‘ 2015/2016 ursprünglich (mit)entwickelt haben, verlassen bereits die Schule und so nehmen neue Schüler(innen) ihre Plätze ein. ‚Spurensuche 2.0‘, wie es nun genannt wird, enthält sowohl bereits bestehende als auch weiterentwickelte und neue Elemente. Die in zweiter Generation hinzugekommenen Jugendlichen durchlaufen wie ihre Vorgänger(innen) eine Recherchephase, bei der Besuche im kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost oder eine Exkursion in die ehemalige ‚Tötungsanstalt‘ Schloss Hartheim geplant sind. Die hier entstehenden Ideen und Eindrücke werden in das Konzept des bestehenden Schülerprojektes aufgenommen, sodass der bisherige Ablauf von ‚Spurensuche‘ weiterentwickelt wird, ohne sich von Grund auf neu zu gestalten (vgl. Ritter 2019a). Auch ‚Nicht vergessen!‘ kam anlässlich einer Gedenkveranstaltung, die an die Befreiung des Jugendkonzentrationslagers Uckermark erinnern sollte, im April 2018 erneut zur Aufführung. Darüber hinaus beabsichtigt die Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ diese Form des Gedenkens zu verstetigen. Jeden Sommer soll einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit gegeben werden, sich im Sinne eines ortsspezifischen Theaterprojektes mit der Geschichte des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark und seinen Häftlingen auseinandersetzen zu können. Wie schon die ersten Projektteilnehmer(innen) sollen auch andere Menschen die © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 L. Schwendemann, Amateurtheaterprojekte zu Holocaust und Nationalsozialismus, Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31324-1_9
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Gelegenheit erhalten, sich an dem historischen Ort mit theatralen Methoden der Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ anzunähern (vgl. Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ 2019). Darüber hinaus wurde auch das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ nach seiner ersten Präsentation im Jahr 2017 in den beiden darauffolgenden Jahren erneut aufgeführt. Während der Ablauf der theatralen Lesung für die Darstellung im Februar 2018 noch unverändert beibehalten wurde, wurde dieser für die Präsentation im Februar 2019 neu ausgearbeitet. Ähnlich wie bei den Projekten ‚Spurensuche‘ und ‚Nicht vergessen!‘ änderte sich auch bei diesem Amateurtheaterprojekt zunächst die Besetzung. Da ein Teil der ursprünglichen Darsteller(innen) bereits ihr Studium abgeschlossen hatte, entstand eine neue Theatergruppe, die sich aus ehemaligen Schüler(inne)n und Student(inn)en der Theaterleitung zusammensetzt. Auch Student(inn)en aus der ersten theatralen Lesung von 2017 befinden sich darunter. Zudem konnte eine zweite Spielleitung gewonnen werden.1 Doch nicht nur hinsichtlich der Mitwirkenden veränderte sich das Amateurtheaterprojekt. Auch inhaltlich hat sich der Fokus des Projektes gewandelt. Während bei der ersten Lesung noch die Geschwister Scholl und Christoph Probst im Mittelpunkt des Interesses standen, wurden bei der Präsentation von 2019 auch andere Widerstandskämpfer(innen) der ‚Weißen Rose‘ in den Blick genommen. Darüber hinaus ist das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Jahren weniger textlastig und noch stärker performativ angelegt. Dabei ist die neue Theatergruppe bestrebt, ‚näher‘ an das Publikum heranzugehen. Es wird nicht mehr wie bisher strikt zwischen ‚Bühnen‘und Zuschauerraum getrennt, sondern die Darsteller(innen) gehen während der Performance immer wieder durch den Publikumsraum (vgl. Abb. 2.5), sprechen die Zuschauer(innen) direkt an, stellen Augenkontakt her und stellen Fragen an diese. Auch wird inmitten des Zuschauerraums ein Podest aufgebaut (vgl. Abb. 9.1), auf dem sich während der gesamten Präsentation eine Akteurin mit einer Schreibmaschine befindet (vgl. Abb. 9.2). Dieser Raum inmitten der Besucher(innen) wird nicht nur von der Darstellerin selbst, sondern auch von den restlichen Akteur(inn)en immer wieder angespielt (vgl. Ritter 2019a). Dass junge Menschen aktiv zur Erinnerungskultur beitragen, wird von vielen der befragten Theaterbesucher(innen) positiv aufgenommen: Also was mich sehr gefreut hat, ist, dass es immer noch […] Menschen gibt, auch junge Menschen, die sich dieses Themas annehmen und die einfach irgendwie (.) versuchen, das auch äh über die Zeit mitzunehmen und […] sich da engagieren. […] Das hat mir […] gut getan tatsächlich. […] [I]ch finde es sehr schön in einer Gemeinde zu wohnen,
1 Die
zweite Spielleitung übernimmt Felix Erbersdobler.
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Abb. 9.1 Bühnenelement im Publikumsraum
Abb. 9.2 Verbindung von Bühnen- und Publikumsraum
in der es junge Menschen gibt, die sowas auf die Beine stellen können und sich da […] auch so engagieren […]. (Gm: Z. 487–495)
Die Zuschauer(innen) würdigen die intensive Arbeit, mit denen die Schüler(innen) und Student(inn)en „gegen das Vergessen arbeiten“ (Sw: Z. 323): „Also ich glaube, (.) diese Arbeit, die die für uns gemacht haben, die ist schon respektabel. Das ist (..) was Eigenes“ (Cw: Z. 402 f.). Die Amateurtheaterprojekte hinterlassen an Orten wie Haar oder in der Uckermark, an denen für die Besucher(innen) bisher zu wenig institutionalisierte Aufarbeitung stattgefunden hat (vgl. Cw: Z. 16–21), „Spuren“ (Rw: Z. 61). Die Würdigung der Theaterprojekte mag damit zusammenhängen, dass sich die Rezipient(inn)en bewusst sind, dass wir uns derzeit an einem Punkt des Generationenwechsels befinden. Die Zeitzeug(inn)en, die den Holocaust und Nationalsozialismus mit- und überlebt haben, schwinden mehr und mehr und so endet bald die mündliche Überlieferung persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen an diese Zeit. Mit den Amateurtheaterprojekten kann jedoch einem Vergessen entgegengewirkt werden. Nicht nur die Theaterbesucher(innen) setzten sich in der
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Rezeption der Theaterstücke mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinander, auch die Projektteilnehmer(innen) beschäftigen sich in der Stückentwicklung intensiv mit der Thematik. Durch Theaterprojekte wie ‚Nicht vergessen!‘, ‚Spurensuche‘ oder das ‚Weiße-Rose-Gedenkkonzert‘ haben sich Schüler(innen) und Student(inn)en „viele Gedanken“ (Bw: Z. 775) zu ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ gemacht. Sie haben nicht nur einen vorgegebenen Text theatral umgesetzt, sondern zusammen mit den jeweiligen Theaterleitungen durch Recherche und Materialsammlung ein eigenes Skript ausgearbeitet. In den Interviews zeigt sich, dass es gerade den Zuschauer(inne)n der dritten und vierten Generation2 sehr wichtig ist, dass sich „junge Leute“ (Cw: Z. 367) mit der Thematik auseinandersetzen. Auch Besucher(innen), die die Amateurtheaterprojekte als Erinnerungsform zurückweisen, würdigen die Intention der Stücke: „Das kann es so ruhig geben, ist doch ok. Das sind tolle Leute. Alle Achtung. Ich finde das ganz, ganz prima“ (Bw: Z. 812 f.). Bw hat großen Respekt, dass sich hier „ein junges Theaterkollektiv“ (Bw: Z. 769) mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinandersetzt: Ist für mich auch ganz wichtig, […] [dass die Darsteller(innen)] da wirklich auch eine Menge mitgenommen ha[ben]. Die haben ja auch die Dokumente gelesen und so. (Bw: Z. 777–779)
Die Projektteilnehmer(innen) haben zu den inhaftierten Frauen des Jugendkonzentrationslagers Uckermark recherchiert, Dokumente gelesen und diese am historischen Ort theatral verarbeitet. Das Produkt, so scheint es, ist für Bw eher sekundär. Für sie steht im Mittelpunkt, dass dieser Teil der deutschen Geschichte auch an die ihr nachfolgende Generation weitergegeben wird. Ein Motivationsgrund für den Besuch der Amateurtheaterprojekte kann also gerade darin bestehen, dass die Rezipient(inn)en mit ihrem Besuch die Arbeit der Amateur(inn)e(n) „unterstützen“ (Aw: Z. 36) wollen. Damit sich jedoch nicht nur die mitwirkenden Schüler(innen) und Student(inn)en in der Entwicklung der Theaterprojekte mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinandersetzen, sondern auch Besucher(innen) Zugang zu den Präsentationen finden, die die Erinnerungsform derzeit noch zurückweisen, sollen im Folgenden Vorschläge für zukünftige Amateurtheaterprojekte ausgeführt werden. Ziel dieser Anregungen ist es, den Rezipient(inn)en die intellektuelle Auseinandersetzung mit der ‚schwierigen‘ Geschichte zu erleichtern. Darüber hinaus soll darauf eingegangen werden, wie die Amateurtheaterprojekte generell einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. 2 Unter
der ‚dritten Generation‘ werden die Menschen verstanden, deren Eltern zur Zeit des Nationalsozialismus Kinder bzw. Jugendliche waren. Unter der ‚vierten Generation‘ werden dementsprechend deren Kinder gefasst (vgl. Bechmann 2001: 58).
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In den Interviews zeigt sich, dass die untersuchten Amateurtheaterprojekte überwiegend von Menschen besucht werden, die entweder einen Bezug zu den Projektbeteiligten, dem historischen Ort oder der Institution haben, in deren Rahmen die Projekte zur Aufführung kommen. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Theaterbesucher(innen) erst in diesem Kontext von den Theaterprojekten erfahren (vgl. in Abschnitt 8.1 ‚Soziale Zusammensetzung des Publikums‘). Um mehr Menschen darüber zu informieren, dass Amateurtheaterprojekte zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus bestehen und zur Aufführung kommen, müsste folglich die Werbung für diese Form der Erinnerung verbessert werden. So könnten die Amateurtheaterprojekte beispielsweise in professionelle Einrichtungen eingebettet werden, um von deren Öffentlichkeitsarbeit zu profitieren. Damit wird zwar nicht das Problem gelöst, dass die Erinnerungsform des Theaters vor allem ein bildungsnahes Publikum anspricht (vgl. in Abschnitt 8.5 ‚Rezeption der Projekte von bildungsnahem Publikum‘), dennoch könnten mit einer professionellen Werbung für die Projekte mehr Menschen erreicht werden. Eine Eingliederung in bereits bestehende professionelle Einrichtungen könnte jedoch nicht nur die Reichweite der Amateurtheaterprojekte vergrößern. Auch könnte die Aufnahme in entsprechende (Bildungs-)Einrichtungen bereichernd sein, um das Publikum auf die ästhetisch überformte Darstellungsform einzustimmen. Mit dem Ziel, den Rezipient(inn)en Fakten bereitzustellen, die diesen die intellektuelle Auseinandersetzung mit der ‚schwierigen‘ Geschichte erleichtert, könnte bei thematischer Stimmigkeit beispielsweise zunächst eine Gedenkstätte besucht werden, bevor daran anschließend das Amateurtheaterprojekt zur Aufführung kommt. Dieser vorab zur Verfügung gestellte Orientierungsrahmen könnte den Rezipient(inn)en helfen, die deutungsoffenen Sequenzen besser zu verstehen und anhand des Gezeigten eigene Reflexionen anzustellen. Doch auch außerhalb einer Zusammenarbeit von Amateur(inn)en und professionellen (Bildungs-)Einrichtungen wäre eine Bereitstellung von Hintergrundinformationen sinnvoll. Die Performer(innen) könnten beispielsweise an verschiedenen Stellen aus dem Stück heraustreten und Erläuterungen für die mehrdeutigen Darbietungen anbieten. Die Darsteller(innen) könnten darauf eingehen, wie die Szenen entstanden sind und warum sie sich genau für diese theatrale Umsetzung entschieden haben. Auch nach dem Theaterbesuch könnte ein Reflexionsrahmen bereit gestellt werden, der den Rezipient(inn)en die Möglichkeit gibt, die eigenen Interpretationen und Überlegungen mit anderen Theaterbesucher(inne)n zu diskutieren. Schon die Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ hatte nach der Aufführung des Theaterprojektes das Gefühl, dass sich die Besucher(innen) gerne über das Gesehene austauschen und wissen wollen, was andere Zuschauer(innen) in den vieldeutigen Sequenzen gesehen haben. Daher werden sie auch in den zukünftigen Theaterprojekten Publikumsgespräche anbieten, die genau
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diesen Austausch zum Ziel haben (vgl. Spielleitung von ‚Nicht vergessen!‘ 2019: Z. 283–296). Des Weiteren hat sich in den Interviews gezeigt, dass die Amateurtheaterprojekte von vielen Besucher(inne)n als Anstoß genutzt werden, um sich nach der Performance weiter mit der Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinanderzusetzen. Daher wäre ein Verweis auf nahegelegene (professionelle) Angebote wie beispielsweise Gedenkstätten, Webseiten oder weitere (künstlerische) Darstellungsformen sinnvoll. So könnten die Theaterprojekte nicht nur als Anlass für anschließende Gespräche über das Gesehene und Erlebte fungieren, sondern auch ein Impuls für die weiterführende Beschäftigung mit diesem Teil der deutschen Geschichte werden. Denn in den Gesprächen mit den Theaterbesucher(inne)n kommt zum Ausdruck, dass die Rezipient(inn)en durch die Amateurtheaterprojekte offener und empfänglicher für die Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ werden: [‚Spurensuche‘] hat mich auf jeden Fall wieder dazu gebracht, mich stärker dem Thema an sich zuzuwenden. […] [D]ie Wirkung […] hatte das Stück. (Cw: Z. 521–529).
In dieser Arbeit hat sich gezeigt, dass Amateurtheaterprojekte einen nicht unbedeutenden Anteil in der Erinnerungskultur einnehmen und mitunter an Opfergruppen und Orte erinnern, die durch bereits bestehende professionelle Einrichtungen noch nicht erschlossen sind. Dennoch sind die in dieser Studie untersuchten Amateurtheaterprojekte natürlicherweise mit eigenen Herausforderungen konfrontiert. Um beispielsweise mehr Menschen auf diese Erinnerungsform aufmerksam zu machen oder den Rezipient(inn)en einen Orientierungsrahmen für die mehrdeutig ausgerichteten Elemente zur Verfügung zu stellen, könnte neben einer Erläuterung der eingesetzten theatralen Praktiken eine Einbettung in professionelle Einrichtungen mitunter förderlich sein. Auch zukünftig ist darauf zu hoffen, dass die Amateurtheaterprojekte ein beständiger Teil unserer Erinnerungskultur bleiben. Denn sowohl auf Seite der Produktion als auch auf Seite der Rezeption besteht durch die Projekte die Möglichkeit, dass sich eine breite Öffentlichkeit aktiv durch theatrale Methoden der Thematik ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ annähern und sich so mit diesem Teil der deutschen Geschichte intensiv auseinandersetzen kann. In dieser Studie hat sich gezeigt, dass die Amateurtheaterprojekte gerade den Rezipient(inn)en, die sich im Sinne einer ästhetisch überformten Darstellung intellektuell mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinandersetzen möchten, die Gelegenheit geben, einen Zugang zu dieser historischen Epoche zu finden.
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Mit den Amateurtheaterprojekten hat sich eine neue Gruppe eines sozialen Gedächtnisses herausgebildet: das Theaterkollektiv und dessen Rezipient(inn)en. Nicht nur die Projektbeteiligten werden sich als Gruppe an ihre Erfahrungen während der Stückentwicklung und deren Aufführung erinnern und diese weitertragen. Auch die Zuschauer(innen) gaben mitunter an, dass die von ihnen besuchten Amateurtheaterprojekte als Gesprächsanlass dienen, um sich untereinander auszutauschen und die Erlebnisse in die Welt hinauszutragen. Somit tragen die Amateurtheaterprojekte dazu bei, sich über das Medium hinaus mit der Thematik auseinanderzusetzen und den Umgang mit dieser zu reflektieren. In diesem Sinne trägt das soziale Gedächtnis der jeweiligen Theatergruppen und -besucher(innen) dazu bei, dass die Erinnerung an die Opfer des Holocaust und Nationalsozialismus nicht verblasst. Darüber hinaus wird durch die Theaterprojekte aber auch das kulturelle Gedächtnis bzw. die deutsche Erinnerungskultur um eine wichtige Komponente bereichert. So ermöglichen die Amateurtheaterprojekte durch ihre Konzeption nicht nur Menschen, die sich in einer ästhetisch überformten Weise intellektuell mit ‚Holocaust und Nationalsozialismus‘ auseinandersetzen möchten, einen Zugang zur Thematik. Darüber hinaus fungieren die Theaterstücke auch als Anstoß für die weiterführende Beschäftigung mit anderen kulturellen Angeboten und halten so diesen Teil der deutschen Geschichte im Bewusstsein der Menschen fest.
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