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German Pages 290 Year 2015
Ursula Mıhçıyazgan Der Irrtum im Geschlecht
Ursula Mıhçıyazgan (PD Dr. phil.) lehrt Kultursoziologie an der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kulturtheorien, Geschlechterforschung sowie Sozialisations- und Bildungstheorien.
Ursula Mıhçıyazgan
Der Irrtum im Geschlecht Eine Studie zu Subjektpositionen im westlichen und im muslimischen Diskurs
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© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Ursula Mıhçıyazgan Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-815-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I N H AL T
Vorwort Die Projektidee und ihre Vorgeschichte Die Zielsetzung des Projekts Das Modell der Trennungslinien Foucaults »Geschichte der Gegenwart« Das »Begehrenssubjekt« Kritik an Kontinuitätsannahmen Andere Kulturen bei Foucault Butlers Gender Trouble Die Forschungsfrage des Projekts
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11 13 21 23 29 35 38 42
Die Prüfung der Grundannahmen Das Problem der Differenz(-annahmen) Die Annahme der Geschlechterdifferenz Die sex/gender-Unterscheidung Gleichheit und Differenz Der »Streit um Differenz« Zusammenfassung und Schlussfolgerung Die Annahme der kulturellen Differenz Feministische Kritiken am Kultur-Konzept Kulturanthropologie ohne »Kultur«? Zusammenfassung
45 47 49 53 56 65 71 76 96 107
»Konstruktion« und »Dekonstruktion« Exkurs: Der Konstruktionsgedanke in den Neurowissenschaften »Realisten« vs. »Konstruktivisten« Die Konstruktion der Wirklichkeit Radikaler Konstruktivismus vs. Poststrukturalisms Exkurs: Poststrukturalismus als »Dekonstruktivismus«? Sozialer Konstruktivismus als »Wirkungsforschung« Konstruktion als Metapher Das Subjekt in (»de«-)konstruktivistischen Ansätzen
113 116 119 124 130 132 140 143
Haraways (»de«-)konstruktivistischer Ansatz Die Macht im Wissenschaftsfeld Das Hybride in (»de«-)konstruktivistischen Ansätzen Das Hybride als »Effekt der Kolonialmacht« Butlers Umdeutung des Konstruktionsbegriffs Zusammenfassung
144 149 158 161 167 172
Diskurstheorie und Diskursanalyse Eine »dichotome Tabelle« Kritik an diskurstheoretischen Analysen Diskursanalyse als hermeneutisches Verfahren? Das Subjekt als »Kreuzungspunkt« von Diskursen? Wiederholen als »Effekt« des Befehls bei Butler Theatralische performances und die Performanz Geschlechtsidentität als Befehl Der Befehl und die Regeln bei Foucault Das diskurstheoretische Modell Zum Auffinden der Regeln des Sprechens Die Typologie der Wiederholungen Der Rückgriff auf die Interaktionsebene Zur Pluralität der Regeln und der Diskurse Zur Erweiterung des diskurstheoretischen Ansatzes Zusammenfassung
175 178 178 182 193 194 197 203 208 213 213 217 220 226 231
Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung: Zwei Regelpaare Die Regeln für »Frau« und »Mann« Die Position des Subjekts und die Subjektposition Exkurs: Die Regeln in schriftlichen Irrtumsdarstellungen Die Asymmetrie in den Regelpaaren Das Regelpaar im muslimischen Diskurs Das Regelpaar im westlichen Diskurs Der »totalisierende Gestus« bei Butler Exkurs: »Alles-Sagen« vs. »Schön-Sagen« Zu Mischformen aus den Regeln Zusammenfassung
235 239 241 253 253 255 258 261 264 265
Fazit
271
Literatur
275
VORWORT
»Manchmal kann man die Gipfel nicht sich selbst überlassen, und zwar dann, wenn ganze Lawinen vom Gipfel stürzen und die Arbeit im eigenen Gärtchen unmöglich zu machen drohen. Dann muss auch der theoretische Kärrner zur Schippe greifen und den Schnee zurückschaufeln.« (Alois Hahn 1987: 155)
Judith Butler hat in Gender Trouble (1990) die Sicherheit, mit der in feministischen Studien die Kategorie »Geschlecht« vorausgesetzt wurde, kritisiert und eine »entessentialisierende« Art der Analyse gefordert. Ihre Veröffentlichung hat Irritationen ausgelöst, die nicht nur in den Gender Studies Wirkung zeigten. Auch in der Kulturanthropologie ist die »Essentialismus«-Kritik inzwischen zu finden, die Kategorie »Kultur« ist ebenfalls umkämpft. Dies wundert nicht, denn wenn schon »Geschlecht« nicht mehr als am Körper abzulesende Tatsache vorauszusetzen ist, steht »Kultur« erst recht in Frage. Ihre Kritik wirft die methodologische Frage auf, wie Tatsachen zu untersuchen sind, die nur deshalb als Tatsachen erscheinen, weil sie im Alltag für selbstverständlich gehalten werden. Seit längerem wird sie beantwortet, indem auf den konstruktiven Charakter der Wirklichkeit verwiesen und »Geschlecht« als Konstruktion betrachtet wird. Im doing gender- und auch im doing culture-Ansatz wird dieser Gedanke sozusagen radikalisiert, sodass in letzter Zeit diese Herstellungsprozesse genauer untersucht werden. Aber auch diese Analysen sind noch von der 7
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Essentialismus-Kritik betroffen, denn Butler hatte kritisiert, dass, solange ein Subjekt vor dem Feld – nämlich als »Konstrukteur« – vorausgesetzt werde, eine Analyse der Macht, die da ist, bevor jemand spricht, verhindert werde. Ihre Kritik habe ich zum Anlass genommen, genauer zu untersuchen, welche Art der Analyse sie vorschlägt, denn sie betraf mein Forschungsprojekt, in dem ich kulturelle Differenz der Geschlechterdifferenz anhand von Darstellungen eines Irrtums im Geschlecht empirisch untersuchen wollte. Ich hatte also zu klären, wie die Darstellungen zu untersuchen sind, ohne geschlechtliche und kulturelle Differenzen – und ohne ein Subjekt, das diese Differenzen »konstruiert« – vorauszusetzen. Daraus ist eine Lesart ihrer z.T. enigmatischen Ausführungen entstanden, die nicht nur für mein Projekt wichtig war, sondern viel allgemeiner Anhaltspunkte für eine diskurstheoretische Analyse von Interviewtexten bietet. In diesem Sinne möchte ich mit diesem Band einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Diskursanalyse als eigenständiger Methode der qualitativen Sozialforschung geben. Im einleitenden Kapitel werde ich die Idee des Forschungsprojekts mit ihrer Vorgeschichte vorstellen. Ich werde aufzeigen, dass ich ein Modell der Trennungslinien entwickelt hatte, das ich durch Foucaults historische Arbeiten zu Sexualität und Wahrheit einerseits bestätigt, andererseits infrage gestellt sah, und dass ich durch Butlers Gender Trouble angeregt war, die unterschiedlichen kulturellen Konstruktionen des Körpers anhand von Darstellungen zu einem Irrtum im Geschlecht zu untersuchen. Im zweiten Kapitel werde ich die Diskussionen um die Kategorien »Geschlecht« und »Kultur«, insbesondere die Kritik an Differenzannahmen bzw. -behauptungen, nachzeichnen und dabei aufzeigen, dass bislang weder in den Gender Studies noch in der Kulturanthropologie ein Ansatz zu finden ist, der Butlers Kritik Rechnung tragen kann. Aber lässt sich ihr eigener Ansatz so weit präzisieren, dass daraus methodische Anleitung für das empirische Arbeiten zu gewinnen ist? Diese Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Kapitel. Im dritten Kapitel werde ich die Pluralität und Heterogenität der »(de-)konstruktivistischen« Ansätze behandeln und dabei aufzeigen, dass die Unterschiede zwischen dem Radikalen Konstruktivismus und dem Sozialkonstruktivismus einerseits und dem Poststrukturalismus andererseits allzu häufig übergangen werden. Außerdem werde ich anhand der Arbeiten von Donna Haraway darlegen, dass sie, auch wenn sie sich ähnlich wie Butler auf Foucault beruft und die »Macht im Feld« be-
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VORWORT
schreibt, eine zu Butler diametral entgegen gesetzte Perspektive auf das Subjekt hat. Im vierten Kapitel wird darzustellen sein, dass, wenn Butler vorschlägt, Geschlechtsidentität als Befehl zu analysieren, sie sich dabei auf Foucaults Methodologie bezieht. Anhand eines Feld- bzw. Regel-Modells und einer Typologie der Wiederholungen werde ich veranschaulichen, wie in einer diskurstheoretischen Analyse die Regeln des Sprechens herauszufinden sind. Dabei wird sich zum einen zeigen, dass eine diskurstheoretische Analyse von Interviewtexten eine Interaktionsanalyse zur Voraussetzung hat, zum anderen, dass der diskurstheoretische Ansatz zu erweitern ist, damit der Pluralität, der Gleichzeitigkeit und Überlagerung der Diskurse Rechnung getragen werden kann. In diesem Zusammenhang wird auch aufzuzeigen sein, wie Aussagen zu »hybriden« Formen des Sprechens zu machen sind. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zusammenfassend vorgestellt. Da der Weg, auf dem ich diese Regeln erarbeitet habe, in einem gesonderten Band, in einem »Materialband« mit dem Titel »Zum ›Irrtum im Geschlecht‹. Eine empirische Untersuchung zu Irrtumsdarstellungen in deutscher und in türkischer Sprache« ausführlich dargestellt ist, beschränke ich mich in diesem Band darauf aufzeigen, welche Regeln des Sprechens als »Mann« bzw. »Frau« ich herausgearbeitet habe, welche Beziehungen diese untereinander haben und welche Möglichkeiten für »Misch-« und »Hybridformen« sie bieten. Schließlich werde ich auch darlegen, warum das im ersten Kapitel vorgestellte Modell der Trennungslinien durch das – erweiterte – diskurstheoretische Regel-Modell zu ersetzen ist. Diese Arbeit verdankt sich den Diskussionen in der von Frau Prof. Dr. Marianne Pieper geleiteten Forschungswerkstatt. Durch unsere engagierten Kontroversen über die Lesart(en) der Texte Butlers und Foucaults hatte ich Gelegenheit, meine eigene Lesart zu reflektieren und zu präzisieren. Hierfür danke ich insbesondere Marianne Pieper. Außerdem habe ich Unterstützung von Ingrid Schneider, Petra Lucht, Steffanie Graefe und Lale Padmanaban erhalten. Sie haben mir wertvolle Hinweise und Korrekturvorschläge gegeben und mich immer wieder ermutigt, meine eigene Art der Argumentation und der Darstellung beizubehalten. Martin Speck, Karsten Kröger und Katja Finsterwalder danke ich für ihre Mühen beim Korrekturlesen. Abschließend möchte ich dankend erwähnen, dass ich durch das Hochschulsonderprogramm (HSP III) drei Jahre lang finanzielle Unterstützung für dieses Projekt erhalten habe. Dadurch sah ich überhaupt die Möglichkeit, der Forschungsfrage, die mich schon seit längerem beschäftigte, nachzugehen und diese Untersuchung in An9
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griff zu nehmen. Ohne den Rückhalt, die Unterstützung und den Zuspruch meines Mannes wäre es mir jedoch nicht möglich gewesen, über diese drei Jahre hinaus bis zum Ende an diesem Projekt zu arbeiten.
Hamburg, August 2007
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Ursula Mıhçıyazgan
DIE PROJEKTIDEE
UND IHRE
VORGESCHICHTE
In diesem einleitenden Kapitel möchte ich die Entstehung meiner Forschungsfrage beschreiben. Dazu werde ich zunächst anhand meiner Projektskizze, die ich 1997 verfasst habe, die zentrale Idee des Projekts aufzeigen. Gleich darauf werde ich die Vorgeschichte dieser Idee darstellen, um zu verdeutlichen, dass ich mit einer bestimmten Vorstellung, dem Modell der Trennungslinien, an die Arbeit ging, und dass ich mich, auch wenn ich es durch Foucaults historische Arbeiten z.T. bestätigt sah, von ihm distanzierte und durch Butlers Gender Trouble den entscheidenden Impuls für die Formulierung meiner Forschungsfrage erhielt. Diese Vorgeschichte möchte ich erzählen, weil das Modell während der gesamten Arbeit sozusagen im Hintergrund meiner Überlegungen mitlief und weil ich ganz am Ende dieses Bandes anhand dieses Modells die Veränderung meiner Perspektive durch diese Untersuchung aufzeigen möchte.
Die Zielsetzung des Projekts Der Arbeitstitel meines Projekts lautete zunächst: »Geschlechterdifferenz in kulturvergleichender Perspektive unter dem Aspekt der Konstruktion des Körpers«. Mein Anliegen habe ich damals folgendermaßen zusammengefasst: Zentrales Anliegen des Projekts ist es, kulturelle Differenzen in der sozialen Konstruktion des Geschlechts im Zusammenhang mit der Konstruktion des Körpers zu untersuchen. Ausgehend von neueren Ansätzen, die deutlich machen, dass das Geschlecht – nicht nur gender, sondern auch sex (Butler 1991) 11
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– sozial konstruiert ist, ist die Rede von der Natürlichkeit des Körpers obsolet geworden. Auch der Körper ist als eine soziale Konstruktion zu betrachten. Und er ist die sichtbare, letztendliche Instanz für die Konstruktion des Geschlechts, genauer: für vielfältige Konstruktionen der Geschlechterverhältnisse. Daher möchte ich die Geschlechterdifferenz unter dem Aspekt der Konstruktion des Körpers analysieren. Vorgesehen ist eine empirische Untersuchung zur Geschlechterdifferenz aus der Perspektive westlicher (hier: deutscher) und muslimischer (hier: türkischer) Frauen und Männer. Hier sind nicht nur die Probleme des Kulturvergleichs, sondern vor allem die Frage, wie diese Konstruktionen, die in einer »Tiefenschicht« des Alltagshandelns zu vermuten sind, theoretisch zu konzipieren und empirisch zu erfassen sind. Daher sind vor der Empirie theoretische und methodologische Untersuchungen geplant.
Wie zu erkennen ist, wollte ich zwei unterschiedliche Konstruktionen des Körpers untersuchen, und zwar aus folgendem Grund: Butler hatte in ihrer Einleitung zu Gender Trouble moniert, dass vielfältige kulturelle Kontexte in der Theorie nur in Betracht gezogen würden, um »Beispiele oder Anschauungsmaterial für ein universelles Prinzip«, nämlich die Universalität des Patriarchats, zu geben (vgl. GT 18). Auch andere hatten diese Kritik inzwischen aufgenommen. So wurde in den Veröffentlichungen nach Gender Trouble häufig auf die »Formenvielfalt« der Geschlechter-Arrangements hingewiesen (vgl. Pasero/Braun 1995: 7). Da aber die »Formenvielfalt« eher eine Behauptung als ein gesichertes Ergebnis ist, solange sie nicht mit demselben Ansatz und derselben Methode empirisch untersucht worden ist, erschien es mir wichtig und notwendig, »in kulturvergleichender Perspektive« zwei dieser Formen empirisch zu untersuchen. Zu diesen hatte ich eine Annahme, auf die ich in der Beschreibung meines Forschungsprojekts ebenfalls hingewiesen habe: Ich ging davon aus, dass die westliche Konstruktion des Körpers eine horizontale und die muslimische Konstruktion eine vertikale Trennungslinie aufweist.1 1
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Zum Gegensatz »muslimisch« vs. »westlich« möchte ich anmerken, dass ich »muslimisch« im Sinne von »durch den Islam geprägt« und »westlich« im Sinne von »durch das Christentum geprägt« verstehe. Dieser Gegensatz ist insofern schräg konstruiert, als im Begriff »muslimisch« der Bezug zur Religion deutlich wird, im Begriff »westlich« jedoch nicht. Da jedoch in beiden Kulturen die Bezugnahme auf Religion unterschiedlich ist – seit der Aufklärung wird die christliche Prägung der westlichen Kultur aufgrund der Säkularisierungsprozesse eher verdeckt als betont – ist es m.E. sinnvoll, den Gegensatz auf diese Weise zu formulieren. An dieser Stelle ist auch auf die Kritik hinzuweisen, dass ich, wenn ich von der muslimischen bzw. der westlichen Kultur spreche, die Differenzen innerhalb der Kulturen übergehe. Diese Kritik ist eher marginal im Vergleich zu der
DIE PROJEKTIDEE UND IHRE VORGESCHICHTE
Das Modell der Trennungslinien Das Modell der Trennungslinien hatte die Funktion einer Heuristik und sollte dazu dienen, unterschiedliche Konstruktionen der Wirklichkeit bzw. unterschiedliche Selbst- und Weltverhältnisse anzuzeigen und Abstand zu nehmen von eigenen Vorstellungen, denn anders als im Alltag geht es in der soziologischen Betrachtung darum, das für selbstverständlich und natürlich Gehaltene auf Distanz zu bringen. Für die Entstehung der horizontalen Trennungslinie im westlichen Körperschema habe ich religiöse Wurzeln angenommen. Zwar hat Norbert Elias (1976) in seinem Prozess der Zivilisation die höfischen Wurzeln des modernen Individuums dargelegt (und aufgezeigt, dass das moderne Individuum der Freiheit einen so hohen Wert gibt, weil es die Fremdkontrolle internalisiert hat), aber Max Weber hat in seiner »Protestantismus-These« auf die religiösen, calvinistischen Prägungen des modernen Individuums hingewiesen (2004 [1920]). Auch Alois Hahn nimmt eher religiöse als höfische Wurzeln dieses Prozesses an, wenn er auf die zentrale Funktion der Beichte für den Modernisierungsprozess hinweist (vgl. Hahn 1984: 199). Ähnlich wie Elias macht er deutlich, dass die Disziplinierung nicht erst im 16. und 17. Jahrhundert, sondern schon im 12. Jahrhundert, als der Schwerpunkt der Sündenanalyse von den äußeren Handlungen auf die Intention des Individuums verschoben wurde, eingeleitet wurde (1982: 408). Später zeigt er auch auf, dass durch die Beichte die ständige Kontrolle und Disziplinierung des Körpers gesteigert wurde und die Negation des Leibes paradoxerweise eine Steigerung der Bewusstheit des Leibes zur Folge hatte (vgl. Hahn 1989). Damit lässt sich nicht nur die Überlegenheit des Geistes über den Körper, sondern auch die »Wiederkehr« des Körpers in der Spätmoderne erklären.2 So folgerte ich in Anlehnung an Hahn, dass die westliche Konstruktion des Körpers entscheidend durch die Leibfeindlichkeit des Christentums geprägt ist. Nun zeigt die amerikanische Religionswissenschaftlerin Elaine Pagels auf, dass die westliche Vorstellung von Sexualität sich zwar heute verändere, gleichwohl aber bereits sehr früh, nämlich »in den ersten vier Jahrhunderten unserer Zeitrechnung« herausgebildet habe (vgl. 1991: 19). In dieser Phase sei um die Frage, welchen Begriff sich der Christ von der menschlichen Natur zu machen habe, gestritten worden (vgl.
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grundlegenden Kritik, dass ich zum einen von »Kultur« als Einheit, zum anderen von einem dichotomen Gegensatz ausging. Weiter unten werde ich hierauf ausführlich eingehen. Vgl. Kamper, D./Wulf, Ch. (1982): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 13
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ebd. 51). Mit der Durchsetzung der augustinischen Lehre im 4. und 5. Jahrhundert habe die heute noch zu erkennende Prägung der Einstellungen zu Fragen der Sexualität und der Geschlechterbeziehungen begonnen. Der Augustinismus mit seinen düsteren Ansichten von der Menschennatur habe seither seine spezielle Gedankenfärbung der gesamten westlichen Zivilisation mitgeteilt (vgl. ebd. 304). Pagels macht dabei auch den konstruktiven Charakter dieser Wurzeln deutlich, denn sie zeigt auf, dass diese nicht in den zentralen Texten der Religion selbst liegen, sondern eher in einem sozialen Prozess, im Streit der Theologen über die Deutung der Quellen hervorgebracht wurden. Insofern lässt sich folgern, dass die christliche Lehre von der Natur des Menschen sozusagen sozial konstruiert ist.3 Es ist weniger die christliche Botschaft selbst, sondern die Interpretation dieser Botschaft im frühen Christentum, die zur Herausbildung der horizontalen Trennungslinie geführt hat. Von hier aus habe ich gefolgert, dass auch die muslimische Konstruktion des Körpers religiöse Wurzeln hat, dass dieses Körperschema ebenfalls eine Trennungslinie aufweist, diese jedoch aufgrund der differenten religiösen Setzungen und Deutungen anders verläuft als die westliche horizontale. Zur Beschreibung der muslimischen Konstruktion waren die Ausführungen von Fatima Mernissi hilfreich. In Geschlecht, Ideologie, Islam geht sie auf die Unterschiede im christlichen und islamischen Sexualitätskonzept ein: »Die christliche Vorstellung vom Individuum, das auf tragische Weise zwischen den Extremen – Gut und Böse, Körper und Geist, Trieb und Vernunft – hin- und hergerissen ist, unterscheidet sich erheblich von der islamischen.« (1987: 7) Im christlichen Abendland sei es die Sexualität selbst, die bekämpft, zu etwas Animalischem erniedrigt und als antizivilisatorisch verurteilt werde. Das Individuum sei in Gegensätze aufgespalten, wobei der Geist über den Körper, das Ich über das Es »gesiegt« habe (vgl. ebd. 29). Der Islam habe einen ganz anderen Weg eingeschlagen, denn Sexualität werde als Energie aufgefasst, die drei positive und lebensnotwendige Funktionen habe: 3
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Wenn nach Peter Berger jede »soziologische Theorie aufgrund ihrer eigenen Logik die Religion als menschliche Projektion ansehen« müsse (vgl. 1988: 170), so heißt dies auch, dass aus soziologischer Perspektive Religion immer schon als eine soziale Konstruktion zu betrachten ist. Pagels meint jedoch etwas anderes. Ihr geht es nicht um den konstruktiven Charakter von Religion im Allgemeinen, sondern um die Überformung der ursprünglichen Botschaft. Sie habe nach der »reinen, ursprünglichen« Botschaft gesucht, sie aber weder in der augustinischen Lehre noch bei seinen Gegnern oder Vorläufern gefunden (vgl. Pagels 1991: 307). Ob sie überhaupt zu finden ist, lässt Pagels offen.
DIE PROJEKTIDEE UND IHRE VORGESCHICHTE
»Sie ermöglicht es dem Gläubigen, sich auf Erden fortzupflanzen, eine für den Fortbestand der Gesellschaft unverzichtbare Voraussetzung. Gleichzeitig ist sie ein Vorgeschmack der dem Menschen im Paradies verheißenen Wonnen, dadurch ermutigt sie ihn, sich anzustrengen, um ins Paradies zu kommen und die Gesetze Allahs auf Erden zu befolgen. Die dritte Funktion besteht in der sexuellen Befriedigung, die für die intellektuelle Leistung notwendig ist.« (Ebd. 30)
Nach Mernissi wird also Sexualität in beiden Religionen diametral entgegengesetzt bewertet. In Anlehnung an Murdock weist sie auf die Folgen für die gesellschaftliche Ordnung hin: In der einen beruhe »die Beachtung sexueller Regeln auf einer starken Verinnerlichung sexueller Verbote«, in der anderen auf »äußerlichen Vorsichtsmaßnahmen, wie der Verhaltensregeln im Rahmen der Geschlechtertrennung« (vgl. ebd. 11). Daraus folgert sie: »In der islamischen Welt ist die Sexualität territorial, d.h. die Sexualität wird reguliert, indem der Raum strikt nach Geschlechtern aufgeteilt und den Teil-Räumen jeweils eine geschlechtsspezifische Bedeutung zugeschrieben wird.« (Ebd. 153)4 In ihrer Schlussfolgerung für die »Raumordnung« wird deutlich, dass durch die positive Bewertung der Sexualität das Prinzip der Geschlechtertrennung in muslimischen Gesellschaften zu erklären ist: Wenn festgelegt ist, dass sexuelle Wonnen »paradiesisch« – und nicht »teuflisch« – sind, ist es verständlich, dass Gläubige schon im Diesseits das Paradies möglichst häufig erleben wollen, und dass, um dies zu verhindern bzw. sexuelle Kontakte nur im Rahmen der Ehe zu gestatten, Frauen und Männern getrennte Räume zugewiesen werden. Ähnlich wie Pagels für das frühe Christentum weist auch Mernissi auf die Kontroversen über die Interpretation des Koran und der Lebensweise des Propheten in frühislamischer Zeit hin: Erst nach vier bis fünf Jahrhunderten habe sich al-Gazalis Lehre, die dieser in Reaktion auf die asketische Lehre der mu’taziliten formuliert habe, als offizielle Lehrmeinung durchgesetzt.5 Auch sie geht davon aus, dass es heute einen
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Später weist sie darauf hin, dass die Geschlechtertrennung auch in den Religionsschriften, z.B. in der Sure 24, 31 des Koran, festgelegt ist (vgl. Mernissi 1997: 76). Die Bedeutung al-Gazalis für die islamische Lehre ist unbestritten. Islamische Theologen sind sich einig, dass er in Reaktion auf die mu’taziliten, die nach der Rezeption der griechischen Philosophen eine auf Enthaltsamkeit und Disziplinierung des Begehrens ausgerichtete Glaubenslehre propagierten, für eine Ablehnung des asketischen Gedankens plädierte (vgl. Abu-Zaid 1999: 106ff.). Dass sich diese Lehre durchgesetzt hat, hat m.E. sehr viel damit zu tun, dass dadurch das Proprium der in Bezug auf das Christentum »neuen« Lehre unterstrichen wurde. 15
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
»schroffen Wandel« in den muslimischen Gesellschaften gebe. Das Prinzip der Geschlechtertrennung sei unter Druck, die Grenzen, die den Raum nach Geschlechtern aufteilen, würden »immer unschärfer«. Daraus resultierten heute große Unsicherheiten: »Weder für Männer noch für Frauen gibt es Vorschriften oder Verhaltensweisen, nach denen sie sich richten könnten, wenn sie einer Person des anderen Geschlechts begegnen; und zwar deshalb nicht, weil ein solches Zusammentreffen verboten ist. Die Begegnung eines Mannes und einer Frau, die sich nicht kennen, ist unstatthaft, also nicht reglementiert. Da wir aber in einer Zeit leben, in der die Geschlechtertrennung im Verschwinden begriffen ist, müssen wir notgedrungen improvisieren. Vielleicht ist es einfach, irgendein westliches Vorbild zu imitieren (aber auch das ist nicht immer so einfach, wie es aussieht); einem normalen Mitglied der umma fällt es jedenfalls sehr schwer, der Situation entsprechend zu improvisieren. Hier liegen die Ursachen für die schmerzlichen Erfahrungen und Konflikte, mit denen wir leben müssen.« (Ebd. 154)6
Anhand der Ergebnisse einer empirischen Untersuchung führt sie aus, dass in den muslimischen Gesellschaften zurzeit »etwas Neues« entstehe, nämlich ein neues Ehekonzept. Mit der Aufhebung der Geschlechtertrennung entstehe der Wunsch, Liebe und Sexualität in der Ehe erfüllt zu sehen (ebd. 188), dadurch entstehe »das Ehepaar – Mann und Frau (ohne die Mama)« (ebd. 189). Mernissi geht allerdings nicht darauf ein, dass dies auch als Übernahme des westlichen Konzepts der partnerschaftlichen Ehe zu betrachten ist. Außerdem idealisiert sie diese neue Form: Die auf Liebe gegründete Ehe ermögliche Unabhängigkeit und Gleichheit (ebd. 188), obwohl westliche Feministinnen wie Jessica Benjamin darauf hingewiesen haben, dass in der Ehe aus Liebe Unabhängigkeit für Frauen kaum zu erreichen ist, weil der Wille und das Begehren des Mannes von der Frau häufig als eigener Wille und eigenes Begehren gesehen werden, die idealisierte Liebe zu ihrer Unterwerfung unter seinen Willen führe (vgl. Benjamin 1990: 121). Auch wenn es in Mernissis Schriften viele »Ungereimtheiten und Widersprüche« gibt (vgl. Pinn 1997: 77), so habe ich aufgrund ihrer Beschreibung des islamischen Sexualitätskonzepts gefolgert: So wichtig die Trennung von Körper und Geist im westlichen Körperschema ist, so wichtig ist die Trennung der Geschlechter im muslimischen. Beide
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Diese Textpassage zitiere ich ausführlich, weil sie sich direkt auf meine empirische Untersuchung zu Darstellungen des Irrtums im Geschlecht einer Person beziehen lässt: Auch bei diesen geht es um das Zusammentreffen mit einer (nbekannten) Person des anderen Geschlechts.
DIE PROJEKTIDEE UND IHRE VORGESCHICHTE
Schemata weisen Trennungslinien auf, die durch die in der Frühzeit beider Religionen von (männlichen) Theologen ausgehandelten religiösen Setzungen über die Natur des Menschen entstanden sind und bis heute wirken.7 In Hinblick auf spätere Überlegungen möchte ich dies pointierter formulieren. Ich folgerte: Die »Natur« des Menschen ist eine kulturelle, religiös geprägte Konstruktion. Kulturen sind freischwebende, sich im Laufe der Zeit verändernde Bedeutungssysteme. Religion ist jeweils die »Seele« einer Kultur. Zwar verändern sich sowohl Kulturen als auch Religionen – es sind keineswegs statische Gebilde – doch nachdem bestimmte religiöse Deutungen durchgesetzt sind, ändern sich die kulturellen Konstruktionen zur Natur des Menschen kaum noch grundlegend. Hier wird meine Annahme von »Bauplänen« für die Konstruktionen, die auch den Rahmen für Veränderungen festlegen, sichtbar: Der westliche Plan enthält eine horizontale Trennungslinie, die den Körper in »oben« und »unten«, also hierarchisch teilt. Er ist in Bezug auf das Geschlecht insofern unspezifisch, als Fragen der Sexualität wie des Geschlechts dem unteren Teil der Trennungslinie zugewiesen werden und der obere, wichtigere Teil als geschlechtsneutral bestimmt ist. Der muslimische »Bauplan« bezieht sich dagegen auf zwei Körper, nämlich einen männlichen und einen weiblichen, und enthält eine vertikale Trennungslinie, die zwischen diesen beiden Körpern verläuft. In diesem Plan ist das Geschlecht also akzentuiert. Diese unterschiedlichen Akzentuierungen des Körpers und des Geschlechts haben Folgen für unterschiedliche Vorstellungen vom guten Zusammenleben, sowohl im Kleinen, in der Familie oder Partnerschaft, als auch im Großen, in der Gesellschaft. So folgt aus dem westlichen Ein-Körper-Schema mit der horizontalen Trennungslinie ein »synthetisches Ehekonzept« (Mann und Frau werden eins, »ein Fleisch«), während sich aus dem muslimischen Zwei-Körper-Schema mit der vertikalen Trennungslinie ein »antithetisches Ehekonzept« ergibt. (Mann und Frau verschmelzen in der Ehe nicht in Liebe, die Ehe ist im Islam kein Sakrament, Scheidung ist nach dem Koran möglich.) Der vertikalen Trennungslinie entspricht eine soziale Ordnung des Raumes nach dem 7
Hier sei angemerkt, dass Mernissi im Westen vor allem deshalb bekannt wurde, weil sie in ihren Ausführungen die »Frauenfeindlichkeit« des Islam kritisiert hat. In ihrem zwei Jahre später erschienenen Buch Der politische Harem (1989) legt sie eine differenziertere Analyse vor. Dort zeigt sie auf, dass erst nach dem Tode des Propheten frauenfeindliche Aspekte in die religiöse Lehre aufgenommen wurden, und zwar dadurch, dass die von alBuhari ausgewählten Hadise als die wichtigsten betrachtet wurden. Ähnlich wie Pagels macht sie später also deutlich, dass die »Frauenfeindlichkeit« nicht in der ursprünglichen Botschaft liege, sondern durch die Deutung von Männern entstanden sei. 17
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Geschlecht, während der horizontalen Trennungslinie eine soziale Ordnung nach »Geist« und »Körper« entspricht, woraus sich später in der bürgerlichen Gesellschaft die Trennung in Öffentlichkeit und Privatheit entwickelt hat. Hier ist auch meine Annahme zu erkennen, dass die Richtung der Trennungslinien sich bislang nicht grundlegend verändert hat: In der Aufklärung wurde die westliche Konstruktion zur Natur des Menschen zwar verändert, aber die (alte) Überlegenheit des Geistes über den Körper, die Hierarchie, wurde umso deutlicher abgesichert. Der Mensch wurde vor allem zum »Geisteswesen«, und der Körper wurde um so mehr zum Objekt. Oder anders formuliert: In der Moderne wurde die horizontale Trennungslinie nach oben verschoben. Sie verläuft nun nicht mehr in Höhe der Gürtellinie, sondern »trennt« den Kopf vom Körper. (Neurobiologen sprechen heute vom Körper-Gehirn-Gegensatz, als sei das Gehirn nicht Teil des Körpers.) Auch die muslimische vertikale Trennungslinie hat sich bislang nicht grundlegend verändert. Sie ist jedoch zurzeit »unter Druck«. Nicht nur das Prinzip der Geschlechtertrennung, auch das Ehe- und Familienkonzept scheint sich in Richtung auf das westliche Konzept hin zu verändern. Da es gleichzeitig keine Anzeichen dafür gibt, dass die positive Bewertung der Sexualität aufgehoben und in eine Negation des Leibes transformiert wird, ist noch nicht zu folgern, dass die Trennungslinie von der Vertikalen in die Horizontale kippt, wohl aber, dass in den muslimischen Gesellschaften viel deutlicher als in den westlichen Gesellschaften heute eine grundlegende kulturelle Veränderung möglich erscheint. Allerdings ist auch zu beobachten, dass islamistische Bewegungen versuchen, die vertikale Trennungslinie abzusichern, indem sie auf dem Prinzip der Geschlechtertrennung wie auch auf dem islamischen Ehekonzept insistieren.
Anfragen an das Modell Hier sind jedoch auch Anfragen an das Modell zu stellen: Ist es wirklich angemessen, die westliche Konstruktion mithilfe der horizontalen Trennungslinie zu symbolisieren und zu behaupten, dass sie sich nicht grundlegend verändert habe? Honnegger (1991) zeigt auf, dass die Ordnung der Geschlechter in der Moderne mit dem Prozess der Verwissenschaftlichung neu errichtet und ein Differenz-Diskurs geschaffen wurde, und Laqueur (1992) kommt in seiner Untersuchung zur »Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud« zu dem Ergebnis, dass im 18. und 19. Jahrhundert das seit der Antike vorherrschende EinGeschlecht-Modell in ein Zwei-Geschlechter-Modell transformiert wur18
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de. Beide finden also heraus, dass nun grundlegende Unterschiede zwischen Männern und Frauen behauptet wurden.8 Sie bieten überzeugendes Material dafür, dass seit der Aufklärung eine grundlegende Veränderung stattgefunden hat. Dies scheint im Widerspruch zu meiner Modellannahme zu stehen. Doch in ihren Studien ist auch Bestätigung für meine Annahme der horizontalen Trennungslinie zu finden: Auch Honegger geht von der Körper-Geist-Dichotomie aus. Sie zeigt auf, dass Männern nun der »Geist« und Frauen in einer Sonderanthropologie »Gemüth« zugeschrieben (und der »Geist« abgesprochen) wurde (vgl. 1991: 210). Dies lässt sich auch in der Weise lesen, dass die horizontale Linie selbst dadurch nicht infrage gestellt wurde, sondern lediglich die Differenz zwischen Frauen und Männern deutlicher betont wurde. Wenn Frauen nun mehr »Körper« und Männern mehr »Geist« zugeschrieben wurde, heißt das auch, dass Männer nun eher dem Teil, der oberhalb der Trennungslinie liegt, zugeordnet wurden, während Frauen eher »unter« die horizontale Trennungslinie gedrückt wurden. Aber aus meiner Modellannahme folgt auch, dass die Geschlechterdifferenz nur bezogen auf den Körper und die Biologe bedeutsam wurde, ansonsten aber weiterhin von marginaler Bedeutung war: Am Ende des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das Ideal der »Geschlechtslosigkeit« des »Menschen« erst recht wirksam. Zwar wurde der Mann zum Inbegriff des Menschen, zum l’homme der Menschenrechtserklärung und damit zum Maßstab, an dem Frauen gemessen und abgewertet wurden, aber der Mensch wurde prinzipiell nicht über seinen Körper, sondern über seinen Geist definiert. Dies scheint im Widerspruch zu Honeggers These von der Etablierung eines Differenz-Diskurses zu stehen. Während Honeggers Untersuchung sich auf den relativ kurzen Zeitraum um 1800 bezieht, spannt Laqueur einen Bogen »von der Antike bis zu Freud«. Doch auch er konstatiert die »Entdeckung des Geschlechtergegensatzes« im 18. Jahrhundert (vgl. 1992: 172). Nun hätten Wissenschaftler Aspekte des Geschlechtsunterschieds »entdeckt«, die zuvor ignoriert worden waren (ebd. 176), wobei keine »Einzelentdeckungen« den Ausschlag gaben, sondern die »Politik«: Das »Schlachtfeld für Geschlechterrollen« wurde vom Sozialen zur Natur, zum biologischen Geschlecht hin verschoben (ebd. 175). Nun sei ein Zwei-GeschlechterModell mit folgenden Zuschreibungen entstanden: »Vaterschaft/Mutterschaft, Männliches/Weibliches, Mann/Frau, Kultur/Natur, maskulin/feminin, ehrbar/entehrend, legitim/illegitim, heiß/kalt, rechts/links und 8
Für Honnegger ist vor allem wichtig, dass, da alle Menschen zu Gleichen erklärt wurden, nun die Differenz ins Biologische verschoben wurde und dadurch weiterhin die Zweitrangigkeit von Frauen behauptet werden konnte. 19
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
viele andere derartige Paare las man in einen Leib hinein, der von sich aus diese Unterschiede nicht schon deutlich in sich trug.« (Ebd. 78) Durch die Einführung des neuen biologischen und medizinischen Wissens, das als objektives Wissen betrachtet wurde, sei nun erstmalig das biologische Geschlecht vom sozialen unterschieden worden. »Das biologische Geschlecht ersetzte das soziale als eine erstrangig grundlegende Kategorie. Es kam sogar überhaupt erst zu einem Rahmen, innerhalb dessen das Natürliche und das Soziale klar unterschieden werden konnten.« (Ebd. 177) Auch dies scheint meiner These von der unveränderten Wirkung der horizontalen Trennungslinie zu widersprechen. Aber Laqueur weist mehrfach auch auf die »Langlebigkeit des EinGeschlecht-Modells« (ebd. 78) hin: Es sei nicht vollständig durch das Zwei-Geschlechter-Modell ersetzt worden. Auch noch bei Freud sei eine Version des Ein-Geschlecht-Modells zu finden, wenn es auch nicht im selben Vokabular artikuliert sei wie bei Galen (ebd. 275). Dadurch lässt sich seine These mit meiner Modellannahme vereinbaren. Zwar ist sein Ein-Geschlecht-Modell nicht identisch mit meinem Ein-Körper-Modell, aber der zentrale Gedanke, dass der Körper nur die Bedeutung tragen kann, die zuvor in ihn eingeschrieben wurde, ist zumindest ähnlich. Allerdings ist das Anliegen nicht dasselbe: Abgesehen davon, dass Laqueur wie Honegger die Veränderung fokussiert, während ich durch mein Modell die Kontinuität betone, beschreibt Laqueur, wie Mediziner den Körper von anderen gesehen und in Zeichnungen visualisiert haben. Mir geht es in meinem Modell eher darum zu beschreiben, wie Individuen ihren eigenen Körper erfahren. Dieser Aspekt der (Veränderung der) Erfahrung des eigenen Körpers ist zwar auch bei ihm impliziert – das in den Leib Eingeschriebene hat auch Folgen für die Wahrnehmung des eigenen Leibes – steht aber nicht im Zentrum. So habe ich gefolgert, dass die Untersuchungen von Honegger und Laqueur zwar eine neue »Kultur der Geschlechterdifferenz« seit der Aufklärung belegen, dass ihre Ergebnisse aber gleichzeitig auch in der Weise zu lesen sind, dass der Körper-Geist-Gegensatz bzw. die horizontale Trennungslinie nicht überwunden oder abgeschafft, sondern nun in Bezug auf die Geschlechterdifferenz ausgedeutet wurde. Da beide ihre Analysen auf den europäischen Horizont beschränken, hätten sie möglicherweise bei Berücksichtigung der muslimischen Geschichte ihre Ergebnisse relativiert und vielleicht gar meiner These, dass im westlichen Körperschema die Kategorie Geschlecht von geringer Bedeutung ist, zugestimmt. Es bleibt jedoch die Kritik, dass in meinem Modell das Neue seit der Aufklärung, das Aufkeimen des Differenzdiskurses und – allgemeiner gesprochen – Veränderungen im Laufe der Geschichte zu wenig berücksichtigt werden. 20
DIE PROJEKTIDEE UND IHRE VORGESCHICHTE
Um die in meinem Modell implizierte Annahme, dass die Transformation im späten 18. Jahrhundert zwar bedeutsam war, aber dadurch insgesamt kein vollständig neues Körpermodell hervorgebracht wurde, untermauern zu können, habe ich nun Foucaults Arbeiten genauer betrachtet, denn sowohl Honegger als auch Laqueur wurden zu ihren Untersuchungen durch Foucault angeregt, und beide gehen in Berufung auf ihn davon aus, dass das jeweilige Wissenssystem darüber entscheidet, was überhaupt gedacht und am Leib abgelesen werden kann.9
F o u c a u l t s » G e s c h i c h t e d e r G e g e nw a r t « Vor allem in Foucaults Spätwerk fand ich insofern Bestätigung für mein Modell der Trennungslinien, als er dort systematisch die »abendländische Geschichte« vom Heute aus zurückverfolgt und eine »Geschichte der Gegenwart«, eine »Genealogie«, in der die Pastoralmacht bzw. die christliche Selbsttechnologie einen zentralen Platz hat, schreibt (vgl. Foucault 1994: 266). Weiterhin sah ich mich bestätigt anzunehmen, dass die individuelle Erfahrung im Rahmen der geschichtlich entstandenen Möglichkeiten zu denken ist (und dass es keine reine, authentische Erfahrung, also Wahrheit, gibt, zu der das Subjekt durch die Erforschung seines Inneren gelangen könnte). Gleichzeitig musste ich aber seine Kritik am Denken in Linearitäten und Kontinuitäten auch auf meine Kontinuitätsbehauptungen beziehen (vgl. unten). Außerdem musste ich mich fragen, ob das Modell nicht die Analyse der Machtmechanismen und Ausschließungsprozesse, die für ihn so wichtig sind und die eine neue Perspektive auf alte Fragen eröffnen, verhindert. Dazu möchte ich darauf hinweisen, dass ich Foucaults methodologische Ausführungen, die in der neueren, durch Butler ausgelösten Foucault-Rezeption im Vordergrund stehen, zunächst weitgehend außer Acht gelassen habe und seine 9
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich bereits 1993 vorhatte, eine Arbeit mit dem Titel »Muslimisches Denken« zu veröffentlichen. Das Manuskript war fast fertig, Verhandlungen mit dem Verlag waren geführt, der Titel war im Katalog angegeben, und erste Buchbestellungen lagen dem Verlag vor. Aber ich zog es zurück, denn aufgrund der Kritik, dass in meinem Modell Veränderungen zu wenig berücksichtigt werden und beide Kulturen wie monolithische Blöcke erscheinen, erschien es mir notwendig, es vor einer Veröffentlichung einer Revision zu unterziehen. Nur als Claus Leggewie und Zafer ùenocak (als Reaktion auf die Brandanschläge in Rostock, Mölln und Solingen) einen Sammelband herausgeben wollten, entschied ich mich, in einem Beitrag anhand meines Modells die Schwierigkeiten des Zusammenlebens aufgrund der unterschiedlichen Körperkonzepte aufzuzeigen. Meinem Beitrag wurde der Titel »Die Macht der Kultur« gegeben (Mıhçıyazgan 1993). 21
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Arbeiten zu Sexualität und Wahrheit, in denen er aufzeigt, wie sich in der »abendländischen Geschichte« eine bestimmte Art des Subjekts entwickelt hat, für mich im Vordergrund standen. Dies war sicher keine Fehlrezeption, denn er selbst schreibt: »Zunächst möchte ich darlegen, was das Ziel meiner Arbeit während der letzten 20 Jahre war. Es war nicht die Analyse der Machtphänomene und auch nicht die Ausarbeitung der Grundlagen einer solchen Analyse. Meine Absicht war es vielmehr, eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden.« (1994: 243)
Kurz darauf schreibt er auch: »Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung. Aber die Analyse der Macht ist selbstverständlich unumgänglich.« (Ebd.) Er macht also deutlich, dass er sich vor allem für das Subjekt interessiert hat und die Macht nur deshalb analysiert hat, um hierüber Aufschluss zu gewinnen. Wenn er angibt, er habe eine Geschichte der verschiedenen Verfahren, durch die »in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden«, entwerfen wollen, dann zeigt er an, dass er, um »unsere« Gegenwart zu verstehen, in die Geschichte gegangen ist. Er fragt nach unserer Prägung, nach unserem Geworden-Sein. Dabei findet er heraus, dass wir in einer langen Geschichte durch verschiedene Machtpraktiken und Wissensregime dazu gebracht worden seien, ein bestimmtes Selbstverhältnis zu errichten. In diesem Sinne seien wir »Gefangene der eigenen Geschichte« (vgl. ebd. 245). Hier zeigt sich jedoch ein Problem: Er beschränkt seine Analysen auf »die abendländischen Gesellschaften«, auf »unsere Kultur«. Ist unsere Gegenwart nur durch den Rückgang in unsere Geschichte zu erklären? Ist es überhaupt sinnvoll, so deutlich zwischen »uns« und »Anderen« eine Grenze zu ziehen? Oder: Ist es legitim, sich so detailliert für unser Geworden-Sein zu interessieren – und nicht für das der anderen? Diese Frage werde ich später wieder aufnehmen und auf Foucaults Darstellung anderer Kulturen eingehen. Nun ist Foucault keineswegs der erste Forscher, der die Geschichte analysiert, um etwas über »uns« in Erfahrung zu bringen, aber er geht als erster einen neuen Weg der Analyse. Auf sein Diskurs-Konzept werde ich weiter unten eingehen, doch schon hier möchte ich darauf hinweisen, dass es ihm mithilfe des Diskursbegriffs gelingt, ein Feld zu beschreiben, durch das das Subjekt konstituiert wird. Damit verschiebt er erstmalig die Perspektive: Statt von den Fähigkeiten des Subjekts auszugehen, geht er von den Möglichkeiten des Subjekts aus. Da das Feld die Bedingungen vorgibt, in denen das Subjekt überhaupt zur Existenz kommt, kann er durch die Analyse des Feldes die Existenzbedingungen 22
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für das Subjekt beschreiben. Der Gewinn dieser Umstellung ist deutlich: Er kann aufzeigen, dass die Autonomie des Subjekts eine historische Konstruktion ist und damit die Hoffnung auf Selbsttransparenz als eine Illusion des westlichen Subjekts entlarven. Doch was ist mit den »nichtwestlichen« Subjekten? Dass sich bei der Annahme der Gleichzeitigkeit und Interdependenz der Diskurse Probleme ergeben, werde ich weiter unten aufzeigen (Kap. Diskurstheorie und -analyse). Hier ist zunächst weiter darzustellen, weshalb ich mich durch die Ergebnisse der historischen Analysen Foucaults in meinem Modell bestätigt sah.
Das »Begehrenssubjekt« Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit beschreibt Foucault die Zielsetzung seiner Genealogie folgendermaßen: »In dieser Genealogie sollte es also darum gehen, herauszufinden, wie die Individuen dazu gebracht worden sind, über sich selbst und über die anderen eine Hermeneutik des Begehrens auszuüben, deren Anlass, aber nicht deren ausschließlicher Bereich ihr sexuelles Verhalten ist. Um zu verstehen, wie das moderne Individuum die Erfahrung seiner selbst als Subjekt einer ›Sexualität‹ machen konnte, war es unumgänglich, zuvor die Art und Weise herauszuschälen, in der der abendländische Mensch sich jahrhundertelang als Begehrenssubjekt zu erkennen hatte.« (WW 11f.)
Hier wird deutlich, dass er die Entwicklung des »modernen Individuums« im Zusammenhang mit der »Erfahrung seiner selbst«, insbesondere mit seinem Bemühen, über sich selbst und sein Begehren die Wahrheit zu sagen, beschreibt: Indem es über sich selbst spricht, beugt es sich sozusagen in sich selbst zurück, um in seinem Innern die Wahrheit zu finden. Dadurch errichtet es ein spezifisches Selbstverhältnis. Dies lässt sich als Bestätigung meiner Annahme einer horizontalen Trennungslinie lesen, denn diese Art des Selbstverhältnisses sollte dadurch angezeigt werden: Das Individuum beugt sich sozusagen über die Gürtellinie und schaut ins eigene Innere, um sein Begehren zu prüfen. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass er die christliche Erfahrung des Fleisches in den Mittelpunkt rückt: »Die Erfahrung der Sexualität [im 19. und 20. Jahrhundert, U.M.] mag sich zwar als eine besondere historische Figur von der christlichen Erfahrung des ›Fleisches‹ unterscheiden, jedoch scheinen beide von dem Prinzip des ›Menschen des Begehrens‹ beherrscht zu sein. Jedenfalls schien es schwierig, die Bildung und Entwicklung der Erfahrung der Sexualität vom 18. Jahrhundert an zu analysieren, ohne eine historische und kritische Arbeit über das Begehren 23
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und das begehrende Subjekt zu leisten. Also: ohne eine Genealogie in Angriff zu nehmen. Damit meine ich nicht eine Historie der aufeinander folgenden Konzeptionen des Begehrens, der Begehrlichkeit oder der Libido, sondern eine Analyse der Praktiken, durch die die Individuen dazu verhalten worden sind, auf sich selber zu achten, sich als Begehrenssubjekte zu entziffern, anzuerkennen und einzugestehen und damit zwischen sich und sich selbst ein gewisses Verhältnis einzuleiten, das sie im Begehren die Wahrheit ihres – natürlichen oder gefallenen – Seins entdecken lässt.« (Ebd. 10f.)
Er stellt eine Verbindung zwischen der Erfahrung der Sexualität (im 19. und 20. Jahrhundert) und der »christlichen Erfahrung des Fleisches« her, denn er weist darauf hin, dass beide »von dem Prinzip des ›Menschen des Begehrens‹ beherrscht zu sein scheinen. Insofern ist zu folgern, dass er in gewisser Weise eine Geschichte des westlichen Begehrenssubjekts schreibt. Dies ist eine Art Grundthema, dem er in verschiedenen Phasen der Geschichte nachgeht. Zwar zeigt sich dies erst in seinem Spätwerk, in den Bänden zu Sexualität und Wahrheit, aber offensichtlich ergab es sich aus seinen früheren Arbeiten: In Überwachen und Strafen z.B. hatte er aufgezeigt, wie im 18. Jahrhundert eine Transformation der Beobachtung stattfand. Es habe eine lückenlose geistige und körperliche Disziplinierung durch juristische, polizeiliche, pädagogische Maßnahmen, durch Internierung der Wahnsinnigen, der Kranken, der Zöglinge stattgefunden. Hier ging es ihm zwar auch um die »Korrelationsgeschichte der modernen Seele und einer neuen Richtgewalt« (vgl. ÜS 33), vor allem aber um »die Genealogie des modernen Individuums als eines fügsamen und stummen Körpers« (vgl. ebd). Ausführlich beschreibt er die Disziplinierung des Körpers durch die Disziplinarmacht mit ihren neuen Technologien. Diese habe einen »Körper, der unterworfen werden kann, der ausgenutzt werden kann, der umgeformt und vervollkommnet werden kann«, erzeugt (vgl. ebd. 175): »Die Disziplin ›verfertigt‹ Individuen: sie ist die spezifische Technik einer Macht, welche die Individuen sowohl als Objekte wie als Instrumente behandelt und einsetzt.« (Ebd. 220) Dabei sei die Überwachung, die vor allem in Institutionen, in Schulen, beim Militär, in Gefängnissen etc. erfolgte, zum wichtigsten Instrument der Produktion und Kontrolle der Körper geworden. Dazu gehörte aber auch die Anlage von Akten, durch die einerseits das Individuum zum Fall wurde, andererseits ein Dokumentationsapparat aufgebaut wurde, der die Bevölkerung mit einem Netz objektiver Kodifizierung überzog. Die Verflechtung von objektivierender Vergegenständlichung und subjektivierender Unterwerfung hatte nach Foucaults Analyse die Sub-
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jektivierung in der doppelten Bedeutung des Wortes zur Folge: sowohl die Unterwerfung als auch die Subjektwerdung. In dieser Analyse stand zunächst noch die (hierarchische) Beobachtung des Individuums durch andere, die abgesichert oder ermöglicht wurde durch räumliche Organisation und zeitliche Strukturierung, im Zentrum, noch nicht die Selbstbeobachtung des Subjekts. Erst als er den Sex als das Bindeglied zwischen Machtregime und Körper identifiziert, rückt das Begehren in den Vordergrund. Zwar wird in Überwachen und Strafen schon deutlich, dass der Zugriff auf die Körper, ihre Materialität, ihre Kräfte, ihre Energien, ihre Empfindungen, ihre Lüste durch die Disziplinarmacht organisiert wird, aber noch ist nicht der Sex das zentrale Thema. Erst in Der Wille zum Wissen schreibt er, die Sexualität sei »ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten« (WW 128). Und nun betrachtet er die Sexualität als einen »besonders dichten Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen« (ebd. 125). Dabei argumentiert er vehement gegen die »Repressionshypothese«: Der Sex sei nicht unterdrückt worden und müsse nun befreit werden. Vielmehr sei um das 18. Jahrhundert herum ein politischer, ökonomischer und technischer Anreiz entstanden, vom Sex zu sprechen (ebd. 35). Es habe eine Vermehrung der Diskurse über den Sex im Wirkungsbereich der Macht selbst stattgefunden (ebd. 28), die Ausweitung der Geständnisse über das Fleisch sei nicht mehr aufzuhalten gewesen (ebd. 20), alles habe gesagt werden müssen (ebd. 30). Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit geht es ihm aber nicht nur um die herausragende Funktion des Geständnisses: »Das Geständnis war und ist bis heute die allgemeine Matrix, die die Produktion des wahren Diskurses über den Sex beherrscht.« (Ebd. 81) Er will vor allem deutlich machen, dass der Sex als »begehrenswert« konstituiert wurde: »Mit der Schaffung dieses imaginären Elementes ›Sex‹ hat das Sexualitätsdispositiv eines seiner wesentlichsten inneren Funktionsprinzipien zustande gebracht: das Begehren nach Sex: ihn zu haben, zu ihm Zugang zu haben, ihn zu entdecken, ihn zu befreien, ihn diskursiv zu artikulieren, seine Wahrheit zu formulieren. Das Sexualitätsdispositiv hat ›den Sex‹ als begehrenswert konstituiert. Und dieser ›Begehrens-Wert‹ des Sexes bindet jeden von uns an den Befehl, ihn zu erkennen, sein Gesetz und seine Macht an den Tag zu bringen. Dieser Begehrens-Wert macht uns glauben, dass wir die Rechte unseres Sexes gegen alle Macht behaupten, während er uns in Wirklichkeit an das Sexualitätsdispositiv kettet, das aus unserer Tiefe wie eine Spiegelung, in der wir uns
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zu erkennen meinen, den schwarzen Blick des Sexes hat auffahren lassen.« (Ebd. 187)
Während er im ersten Band Der Wille zum Wissen (WW) seine Analyse auf das 18. und 19. Jahrhundert beschränkt, geht er im zweiten Band Der Gebrauch der Lüste (GL) in die Antike zurück, um »die langsame Formierung einer Selbsthermeneutik« zu erkunden (vgl. GL 13). Er will nach den Gründen für die moralische Sorge und Beunruhigung über das sexuelle Verhalten fragen: »Indem ich so von der Moderne durch das Christentum hindurch zur Antike zurückstieg, schien es mir unvermeidlich, eine zugleich sehr einfache und sehr allgemeine Frage zu stellen: warum ist das sexuelle Verhalten, warum sind die dazugehörigen Betätigungen und Genüsse Gegenstand moralischer Sorge und Beunruhigung?« (Ebd. 17)
Auf diese Frage findet er folgende Antwort: Die Griechen hätten sich zwar »über das Sexualverhalten als ein moralisches Problem befragt und nach der Form von Mäßigung gesucht, die dafür erforderlich schien« (ebd. 313), dies sei auf den ersten Blick »sehr nahe an die Formen von Sittenstrenge herangekommen, die man später in den abendländischen christlichen Gesellschaften finden wird« (ebd.), und »das Prinzip einer strengen und sorgfältig praktizierten sexuellen Mäßigung« sei sicher keine Vorschrift, die erst »mit dem Christentum in die Welt gekommen sei« (ebd. 314), aber auch wenn die Vorschriften ähnlich lauteten, sei der Fokus ein anderer gewesen: Nicht die Unterwerfung unter ein universales (göttliches) Gesetz (ebd. 315) sei das Thema gewesen, sondern die Stilisierung des Verhaltens, durch das die Subjekte ihrer Existenz die schönste Form geben wollten/sollten, habe die Griechen vor allem beschäftigt. Anders formuliert: Es sei ein Bemühen um die Vervollkommnung der »Lebenskünste« gewesen – und insofern auch »eine Form der ›Selbsttechniken‹« (ebd.) – aber noch kein Bemühen um die Einhaltung und Verinnerlichung allgemeinverbindlicher Verbote. Es sei eher um eine »Ästhetik der Existenz« für einen kleinen Teil der Bevölkerung (ebd. 318) gegangen als um einen »Kampf gegen die Begehrlichkeit«, den nach christlicher Lehre bald alle zu führen hatten (ebd. 319). Diese Verschiebung habe allerdings bald stattgefunden: »Mit einem Mal stand im Zentrum der Problematisierung des Sexualverhaltens nicht mehr die Lust mit der Ästhetik ihres Gebrauchs, sondern das Begehren und seine reinigende Hermeneutik.« (Ebd.)10 10 Ähnlich wie Pagels (und viele andere) betrachtet Foucault Augustinus als einen der wichtigsten Operatoren, die die Transformationen im Sinne einer 26
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Nun folgt nach diesem zweiten Band ein dritter mit dem Titel Die Sorge um sich (Ss). Hier versucht er, der »Kultur seiner selbst« (Ss 60) nachzugehen. Wie er später sagt, wollte er Aussagen zur »heidnischen Ethik«, die er im Gebrauch der Lüste dargelegt hatte, korrigieren, denn es seien darunter »aus der Sekundärliteratur entliehene Klischees« zu finden (vgl. Foucault 1994: 266). Dies lässt sich in der Weise interpretieren, dass er nun noch einmal (unter einem anderen Aspekt) die Selbsttechniken und die Selbsthermeneutik genauer analysieren wollte. Hier kommt er zu dem Ergebnis, dass »die Vorstellung, dass man sich an sich selbst wenden, sich mit sich selbst beschäftigen muss«, sich als »ein ganz altes Thema in der griechischen Kultur« herausstellte (Ss 60). Zwar habe »das christliche Asketentum der ersten Jahrhunderte« zu einer »extrem starken Betonung der Selbstbeziehungen« geführt, zwar habe die christliche Moral eine andere Modalität des Selbstbezugs, aber, so lässt sich dann formulieren, diese Sorge um sich sei sozusagen bereits da gewesen. Foucault entdeckt also in der Spätantike Vorläufer der für das moderne Subjekt so wichtigen Aufgabe der Arbeit am Selbst, der Selbsterforschung, der Selbstreflexion. Das Problem des Selbst oder der Selbsttechniken ist kein genuin christliches. Damit lässt sich festhalten: In seinen drei Bänden zu Sexualität und Wahrheit arbeitet Foucault die Entwicklungslinien heraus, die dazu geführt haben, dass westliche Individuen (diesen Ausdruck verwendet Foucault allerdings nicht, er spricht von »uns« – und unterscheidet damit implizit zwischen »uns« und »ihnen«, »den Anderen«) heute Sexualität auf eine besondere Weise erfahren. Zwar zeigt er auf, dass es in diesem Prozess Veränderungen gegeben habe und die Motivationen und Wirkungen sich vervielfältigt hätten – so wurde die sexuelle Beichte im 19. Jahrhundert in andere Lebensbereiche übertragen – aber damit wird umso deutlicher, dass er die Technologie der Beichte als wichtiges Instrument der subjektivierenden Unterwerfung sieht: Im Glauben, durch das »Aussprechen der Wahrheit« der Macht des Bösen entfliehen, ihr widerstehen zu können, sei die Wirkungsweise der Macht gefestigt worden. Als das Geständnis aus dem rein religiösen Zusammenhang gelöst wurde, konnte es sich ausbreiten, sodass »im Abendland« der Mensch zu einem »Geständnistier« geworden sei: »Die Verpflichtung zum GeVereinheitlichung bewirkten, sodass ein »einziges Theoriegefüge das Spiel zwischen Tod und Unsterblichkeit, die Institution der Ehe und die Bedingungen des Zugangs zur Wahrheit« zusammenfasste (GL 319). Gleichwohl sieht er, dass die Anfänge dieser Transformationen noch vor der Entfaltung des Christentums lagen, nämlich bei den »Moralisten, Philosophen und Ärzten in den beiden ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung« (ebd.). 27
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ständnis wird uns mittlerweile von derart vielen verschiedenen Punkten nahegelegt, sie ist uns so tief in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie uns gar nicht mehr als Wirkung einer Macht erscheint, die Zwang auf uns ausübt.« (WW 77) Foucault »steigt« also bis in die Antike »zurück«, um die Praktiken, durch die die Individuen dazu »verhalten« worden sind, sich als Begehrenssubjekte zu entziffern, zu analysieren. Er sucht nach den Machtmechanismen, durch die Individuen immer wieder, wenn auch auf unterschiedliche Weisen, dazu gebracht worden sind, sich selbst und ihr Begehren zu thematisieren, ihr eigenes Inneres zu erkunden und dort die (vermeintliche) Wahrheit ihrer Existenz zu entdecken. Dies ist als Bestätigung meiner Annahme der westlichen horizontalen Trennungslinie zu betrachten, denn wenn Foucault eine Geschichte des (westlichen) Begehrenssubjekts schreibt und durch die Epochen hindurch zurückverfolgt, wann und wie es entstanden ist, so ist dies auch in der Weise auszudrücken, dass er die Entstehung der hierarchischen Struktur des westlichen Körperschemas untersucht und zu dem Ergebnis kommt, dass die Herrschaft des Geistes über den Körper gesichert wurde, indem die Individuen durch immer ausgefeiltere Methoden dazu gebracht wurden, »auf sich selber zu achten« (ebd. 10). Die Akzentuierung des Subjekts als »Begehrenssubjekt« ist sehr ähnlich der in meinem Modell akzentuierten horizontalen Teilung im westlichen Körperschema, denn im Begriff des Begehrenssubjekts ist die Doppelung des Ich und eine Hierarchisierung impliziert: Das Ich macht sich zum Gegenstand seiner Reflexion, es sorgt sich um sich. Außerdem wird auch bei Foucault die Erfahrung des Subjekts bestimmt durch Bedingungen, die außerhalb des Subjekts liegen. Während in meinem Modell die Erfahrungsmöglichkeiten des Subjekts durch das Körperschema bestimmt sind, beschreibt Foucault seine Erfahrung als »Korrelation« zwischen »Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen«: »Das Projekt war also das einer Geschichte der Sexualität als Erfahrung – wenn man unter Erfahrung die Korrelation versteht, die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivitätsformen besteht.« (GL 10) Dadurch kann er aufzeigen, dass die Erfahrung der Sexualität in den verschiedenen Epochen unterschiedlich akzentuiert war. Deutlicher formuliert: Er kann die Unterschiede betonen, während ich mit meinem Modell nur die Gemeinsamkeiten über die Jahrhunderte hinweg thematisieren bzw. postulieren kann. An dieser Stelle habe ich gefragt: Ist es wirklich angemessen, Foucault in dieser Weise zu lesen? Oder habe ich seine Schriften vielleicht nur in dieser Weise gelesen, um Bestätigung für mein Modell zu finden? Wenn ich Foucaults Untersuchungen als Variation des Grundthemas des 28
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Begehrenssubjekts lese, ist dies möglicherweise eine Fehlrezeption. Immerhin beschreibt er schon in der Einleitung zu Der Wille zum Wissen seine zentrale Frage mit den Worten: »Wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden?« (WW 8) Es geht um die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen, nicht um die Variationen derselben. Ähnlich schreibt er im ersten Teil von Der Gebrauch der Lüste, man dürfe »nicht den Schluss ziehen, die Sexualmoral des Christentums und die des Heidentums bildeten eine Kontinuität« (vgl. ebd. 31).11 So wie er hier den Bruch zwischen dem »Heidentum« und dem »Christentum« betont, kritisiert er vor allem in seinen methodologischen Schriften immer wieder das Denken in Kontinuitäten.
Kritik an Kontinuitätsannahmen In Archäologie des Wissens schreibt er programmatisch: Nicht das Denken in Linien, »die Suche nach den stillen Anfängen, nicht mehr das endlose Rückschreiten hin zu den ersten Vorläufern, sondern das Auffinden eines neuen Typs von Rationalität und seiner vielfältigen Wirkungen« sei das Anliegen seiner historischen Analysen (vgl. AW 11). Insbesondere lehnt er das Denken in Kontinuitäten ab, wie es in der traditionellen Geschichtswissenschaft immer wieder zu finden sei. Diese habe eine »Ideengeschichte« geschrieben und dabei die Geschichte immer schon so gedeutet, dass Kontinuität erzeugt worden sei, obwohl diese doch auch ganz anders zu beschreiben sei, nämlich in der Vielfalt dessen, »was die Menschen gesagt haben«: »Genese, Kontinuität, Totalisierung: das sind die großen Themen der Ideengeschichte und das, wodurch sie sich mit einer bestimmten Form, die inzwischen traditionell ist, der historischen Analyse verknüpft. […] Nun ist aber die archäologische Beschreibung gerade die Preisgabe der Ideengeschichte, der Versuch, eine ganz andere Geschichte dessen zu schreiben, was die Menschen gesagt haben.« (Ebd. 197)
11 »Einige Themen, Prinzipien oder Grundbegriffe mögen sich in der einen wie der anderen finden; sie haben darin aber nicht denselben Platz und nicht denselben Wert. Sokrates ist kein Wüstenvater, der gegen die Versuchung kämpft, und Nikokles ist kein christlicher Ehemann; wenn Aristophanes über den Transvestiten Agathon lacht, hat das wenig gemein mit der Disqualifizierung des Invertierten, die man viel später im medizinischen Diskurs antreffen wird.« (GL 31) 29
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Die archäologische Beschreibung wolle gerade eine andere Geschichte schreiben: »Das Problem betrifft nicht mehr die Tradition und Spur, sondern den Ausschnitt und die Grenze.« (Ebd. 12) Dabei sieht er die Annahme oder Behauptung von Kontinuität im Zusammenhang mit dem Festhalten an einem Subjektbegriff, den er verabschieden möchte. So schreibt er, Kontinuität werde erzeugt, um die »Stifterfunktion« des Subjekts aufrechtzuerhalten. »Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts.« (Ebd. 23)12 Das ganze Spiel der Unterschiede werde verneint, um das Versprechen oder die Hoffnung auf Beheimatung und Herrschaft, Identität und Souveränität des Subjekts aufrechtzuerhalten: »Aus der historischen Analyse den Diskurs des Kontinuierlichen machen und aus dem menschlichen Bewußtsein das ursprüngliche Subjekt allen Werdens und jeder Anwendung zu machen, das sind die beiden Gesichter ein und desselben Denksystems.« (Ebd.) Deutlich ist zu erkennen, dass für Foucault die »Infragestellung der Teleologien und Totalisierungen« (ebd. 28) mit seinem Anliegen, das Subjekt der Aufklärung zu verabschieden, zusammenhängt. Sein Bemühen, Abstand zu gewinnen von Kategorien der kulturellen Totalität – »ob es nun die Weltanschauungen, die Idealtypen oder der besondere Geist von Epochen sind« (ebd. 27) – ist eingebettet in die Infragestellung des autonomen Subjekts. Er versucht, »eine Methode der Analyse zu definieren, die von jedem Anthropologismus frei ist« (ebd. 28), in deren Mittelpunkt nicht mehr das Subjekt mit einem Wesenskern steht, sondern die Formung des Subjekts beschrieben werden kann. Wenn es sein Anliegen ist, Kontinuitäten aufzubrechen, erscheint es fraglich, ob ich sein Spätwerk als Bestätigung meines Modells lesen kann. Vielleicht liegt das Neue seiner Analyse gerade in der Betonung der Diskontinuität. Und dies gilt es, nicht durch das Festhalten an einem Denken, das er zu überwinden versucht, zu übergehen. Wenn er versucht, der »Immobilität« der Strukturen, ihrem »geschlossenen« System, ihrer notwendigen »Synchronie« die lebendige Offenheit der Geschichte entgegenzustellen (vgl. ebd. 24), hat mein Modell allzu leicht den gegenteiligen Effekt der Einkerkerung der Geschichte. Eine Aussage lässt sich direkt als Kritik an meiner Modellannahme lesen: »Den Freunden der Weltanschauung, die enttäuscht sind: ich lege Wert darauf, dass die Beschreibung, die ich unternommen habe, nicht vom selben
12 Dies sei erwähnt, nicht weil ich diese Kritik am autonomen Subjekt auf meine Modellannahme beziehen müsste, sondern weil sie später bei Butler wieder aufgenommen und weiter ausgeführt wird (vgl. unten Kap. Grundannahmen). 30
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Typ ist wie ihre. Was bei ihnen Lücke, Vergessen, Irrtum wäre, ist für mich bewußter und methodischer Ausschluß.« (Ebd. 226) Dazu eine Bemerkung: Auch wenn ich diese Kritik auf meine Modellannahme bezogen habe, so lässt sich doch auch fragen, ob sie nicht auch auf sein eigenes Spätwerk zu beziehen ist. Einerseits lehnt er das Denken in Kontinuität so radikal ab, andererseits schreibt er eine »Geschichte der Gegenwart«, die sich nicht nur durch Diskontinuität auszeichnen kann. Warum sollte er diese Geschichte überhaupt nachzeichnen, wenn ihm nicht auch daran gelegen wäre, die langsame Formierung der Selbsthermeneutik, die Geschichte des Begehrenssubjekts, die Art und Weise, wie »wir« noch heute sind, genauer zu analysieren? Und warum spricht er dann im Interview davon, dass »wir« »Gefangene der Geschichte« seien? (1994: 245) M.E. zeigt sich daran, dass er bei aller Vielgestaltigkeit der Erfahrungstypen im Laufe der Geschichte, die er aufzeigt, auch nach dem »roten Faden« seit den Anfängen, d.h. von der Antike bis zur Gegenwart sucht. Im Übrigen hat er die Bände Sexualität und Wahrheit später verfasst als Archäologie des Wissens. Es könnte also sein, dass er zwar zunächst, um das Neue seiner Methode zu unterstreichen, radikale Formulierungen gewählt hat, später aber sich nicht in dieser Radikalität an seine Methode gehalten hat. Es ist auch möglich, dass sich, obwohl er die Diskontinuität fokussieren wollte, die Kontinuität als Ergebnis seiner Analyse ergeben hat. Hierfür spricht, dass er in Die Sorge um sich – wider Erwarten bzw. im Gegensatz zu den »Klischees der Sekundärliteratur« – herausfindet, dass das Problem des Selbst bereits in der Spätantike vorhanden war. Aufgrund dieser Fragen wiederum habe ich mich nicht vollständig von meinem Modell der Trennungslinien verabschiedet, sondern es sozusagen eingeklammert: Es hat Vorteile, aber auch Nachteile. Um letztere weiter im Auge zu behalten und eventuell aufzeigen zu können, dass die Vorteile gegenüber den Nachteilen überwiegen, habe ich mich entschieden, meine Erklärung der kulturellen Differenzen durch die religiösen Wurzeln zurückzustellen. Statt das Warum zu fokussieren, schien es mir wichtiger, das Wie zu analysieren und erst später, nach Abschluss meiner Untersuchung, noch einmal zu fragen, ob die Annahme der Trennungslinien hilfreich ist, »uns« und andere heute zu verstehen und damit auf Fragen der Geschichtlichkeit und des Geworden-Seins des Subjekts einzugehen.
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Zur Analyse der kulturellen Differenzen im Sprechen Die »Einklammerung« des Modells der Trennungslinien bedeutete nicht, dass ich die Annahme kultureller Differenzen in der Konstruktion des Körpers und das Anliegen, diese empirisch zu untersuchen, aufgegeben hätte. Im Gegenteil: Gerade durch Foucault sah ich mich bestätigt anzunehmen, dass es eine grundlegende Differenz in den Selbst- und Weltverhältnissen »westlicher« und »nicht-westlicher« Subjekte gibt, wie ich nun darlegen möchte. Zum einen sah ich die Notwendigkeit, genauer zu untersuchen, ob »wir« wirklich so sind, wie Foucault »uns« bzw. westliche Subjekte beschreibt. Seine Ausführungen klingen plausibel und überzeugend, aber sein Arbeitsfeld ist die Geschichte, nicht die Gegenwart. Den aktuellen Diskurs hat er nicht analysiert. Also sind seine Aussagen über »uns heute« nicht gesichert. Noch deutlicher: Wenn Dreyfuß und Rabinow schreiben: »Foucault ist in der Lage, unsere gegenwärtige Situation zu diagnostizieren, weil auch er sie teilt. Seine pragmatisch orientierten Berichte bieten Innenansichten. Er liefert uns eine Genealogie der organisierenden Tendenzen in unserer Kultur« (1994: 236), bescheinigen sie ihm eine besondere Fähigkeit zur Diagnose »unserer gegenwärtigen Situation«. Dies heißt genau genommen, dass sie ihm aufgrund seiner Teilhabe an »unserer Kultur« eine Kompetenz zur Analyse zuschreiben, die man ihm aus eben den Gründen absprechen könnte. Es mag sein, dass »wir« so sind, wie er »uns« beschreibt, aber dies gilt es empirisch abzusichern: Wenn Foucault recht hat mit seiner Genealogie, wenn es stimmt, dass »wir« so (geworden) sind, wie er es als konstitutiv für »uns« beschreibt, wenn die Diskursivierung des Sexes stattgefunden hat, wenn das »moderne Subjekt« über sich – und seinen Körper – sprechen muss (WW 206), wenn wir »Geständnistiere« sind, dann müsste sich dies im Sprechen abzeichnen. Dann wäre es sinnvoll, empirisch zu untersuchen, wie westliche Subjekte heute über die Wahrnehmung ihres Körpers sprechen. Zum anderen sah ich mich ermutigt, genauer zu untersuchen, wie nicht-westliche, z.B. muslimische Subjekte heute über ihren Körper sprechen, denn auch Foucault geht davon aus, dass sie nicht in der Weise wie westliche Subjekte über ihren Körper sprechen. Er betont gerade, dass die Art und Weise, wie westliche Subjekte sich zu sich selbst verhalten, nicht universal ist, sondern in einem langen historischen Prozess entstanden ist. Dies ist an seiner Unterscheidung zwischen zwei Gesellschaftstypen zu erkennen: »Auf der einen Seite [gibt es] die Gesellschaften – und ihrer waren viele: China, Japan, Indien, Rom, die arabischislamischen Gesellschaften – die sich eine ars erotica gegeben haben.« 32
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(Ebd. 74)13 Dann fährt er fort, dass es auf der anderen Seite eine »Zivilisation« gebe, die sich eine scientia sexualis gegeben habe: »Unsere Zivilisation besitzt, zumindest auf den ersten Blick, keine ars erotica. Dafür ist sie freilich die einzige, die eine scientia sexualis betreibt. Beziehungsweise die einzige, die im Laufe von Jahrhunderten, um die Wahrheit des Sexes zu sagen, Prozeduren entwickelt hat, die sich im wesentlichen einer Form von Macht-Wissen unterordnen, die der Kunst der Initiationen und dem Geheimnis des Meisters streng entgegengesetzt ist: es handelt sich um das Geständnis.« (Ebd. 75)
Hieran zeigt sich nicht nur, dass Foucault, wenn er »unsere Zivilisation« als »die einzige« bezeichnet, »die eine Wissenschaft der Sexualität betreibt«, ihre Besonderheit, ihren Unterschied zu allen anderen unterstreicht. Es ist auch zu erkennen, dass er vage andeutet, muslimische Subjekte seien auch heute nicht bemüht, die Wahrheit des Sexes zu sagen. Da er behauptet, dass in den arabisch-islamischen Gesellschaften keine scientia sexualis, folglich auch keine Geständnis-Wissenschaft entstanden sei, legt er zumindest die Vermutung nahe, dass muslimische Subjekte auch heute keinen Zwang zum Geständnis kennen und keinen Zwang verspüren, die »Wahrheit« über sich selbst und ihr Begehren im eigenen Inneren zu erforschen. Daraus habe ich gefolgert, dass es hilfreich sei, nicht nur die Art und Weise, wie westliche Subjekte heute über die Wahrnehmung des Körpers sprechen, zu untersuchen, sondern gleichzeitig auch die Art und Weise, wie muslimische Subjekte hierüber sprechen. Auch ohne das Modell der Trennungslinien vorauszusetzen, erschien es mir sinnvoll, in kulturvergleichender Perspektive das Sprechen westlicher und muslimischer Subjekte in der Gegenwart empirisch zu analysieren. Auch in Foucaults methodologischen Schriften fand ich dazu Anregung, denn in Archäologie des Wissens kritisiert er den universalisierenden Gestus der Wissenschaft und fordert zu einer differenzierenden Betrachtung auf: »Der Horizont, an den sich die Archäologie wendet, ist also nicht eine Wissenschaft, eine Rationalität, eine Mentalität, eine Kultur; es ist eine Verzahnung von Interpositivitäten, deren Begrenzungen und Kreuzungspunkte nicht auf einmal festgelegt werden können. […] Der archäologische Vergleich hat keine vereinheitlichende, sondern eine vervielfältigende Wirkung.« (AW 228)
13 Es ist mir wichtig anzumerken, dass hier einer der wenigen Hinweise auf »arabisch-islamische Gesellschaften« in Foucaults Schriften zu finden ist. 33
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Daraus habe ich gelesen, dass er zu einer Betrachtung der Differenzen zwischen den Kulturen auffordert. Da er davon ausgeht, dass die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu erklären ist, ist zu folgern, dass er der Archäologie die Aufgabe zuschreibt, die unterschiedlichen Geschichten, ihre Verbindungen und Verzahnungen zu analysieren. Er lehnt eine »globale Geschichtsschreibung« ab und bemüht sich um eine »allgemeine Geschichte«: »Eine globale Beschreibung faßt alle Phänomene um ein einziges Zentrum – Prinzip, Bedeutung, Geist, Weltsicht, Gesamtform; eine allgemeine Geschichte würde im Gegenteil den Raum einer Streuung entfalten.« (Ebd. 20) »Global« ist für ihn wie »universal« negativ konnotiert. Offensichtlich meint er mit »globaler Geschichte« eine vereinheitlichende Geschichte, die nach Universalien sucht: Die neue allgemeine Geschichte suche keinesfalls nach einer Pluralität von nebeneinander stehenden und voneinander unabhängigen Geschichten (vgl. ebd. 19), sie versuche »zu bestimmen, welche Bezugsform legitimerweise zwischen diesen verschiedenen Serien beschrieben werden kann; welches vertikale System sie zu bilden imstande sind, welches Spiel von Korrelationen und Dominanzen zwischen ihnen« bestehe (vgl. ebd. 20). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich zwar, dass diese Aussage nicht auf die Pluralität der Kulturen14, sondern auf die Pluralität der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu beziehen ist, dennoch lässt sich festhalten: Foucault geht von der Pluralität der Kulturen aus und fordert dazu auf, die Vielfalt statt der »Einheit« zu untersuchen. So habe ich mich in meinem Anliegen, kulturelle Differenzen zu untersuchen, auch durch seine methodologischen Schriften bestätigt und ermutigt gesehen. Pointierter und in Hinblick auf spätere Überlegungen sei dies auch kritisch formuliert: Trotz aller Kritik an Einheits- und Kontinuitätsvorstellungen stellt Foucault nicht infrage, dass es »Kultur« gibt. Wenn er aber »Kultur« voraussetzt, ist zu fragen, ob dieser Begriff nicht zwangsläufig Kontinuität und Homogenität impliziert. Dies wird später genauer zu untersuchen sein (vgl. Kap. Grundannahmen). Hier ist zunächst auf Foucaults Bezugnahme auf andere Kulturen einzugehen, denn wie soeben aufgezeigt, hat Foucault (anders als Laqueur und Honegger) auch andere Kulturen im Blick.
14 Wie sich viel später zeigen wird, übersieht Foucault gerade die Notwendigkeit, die Interdependenzen, die Korrelationen und Dominanzen zwischen den Diskursen zu untersuchen. 34
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Andere Kulturen bei Foucault Foucault untersucht vor allem »unsere Zivilisation«, »unsere Kultur«, die »abendländische Geschichte« – diese Begriffe verwendet er fast synonym – aber er wendet sich ihr zu als einer im Vergleich zu allen anderen besonderen Kultur bzw. Geschichte. Deutlich unterscheidet er dabei zwischen zwei Typen von Kulturen: Auf der einen Seite gebe es die, die eine Liebeskunst, eine ars erotica, auf der anderen Seite die, die eine scientia sexualis ausgebildet haben.15 Beide Typen hätten auch eine unterschiedliche »Art des Philosophierens« und unterschiedliche Wege der Suche nach Wahrheit entwickelt. Bei letzteren suche die Philosophie »nicht einfach den grundlegenden Bezug zum Wahren an sich«, sondern werde die Wahrheit in der »Selbstprüfung, die unter so vielen flüchtigen Eindrücken die grundlegenden Gewißheiten des Bewusstseins« freilege, gesucht (vgl. WW 77). Bei ersteren werde die Wahrheit aus der Lust selber gezogen, sie werde als Praktik begriffen und als Erfahrung gesammelt. Dabei sei die Lust nicht in Hinblick auf ein absolutes Gesetz des Erlaubten und des Verbotenen und nicht unter Bezugnahme auf ein Nützlichkeitskriterium, sondern zunächst und allererst in Bezug auf sich selbst als Lust zu erkennen (vgl. ebd. 74).16 Damit wird deutlich, dass Foucault eine dichotome Unterscheidung zwischen den Kulturen trifft und die »abendländische Zivilisation« in gewisser Weise als Gegensatz zum »Rest der Welt« betrachtet.17 Diese dichotome Betrachtungsweise ist nach wie vor weit verbreitet, nur wird 15 Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als ein Zusammenhang zwischen der ars erotica, also der Liebeskunst, und der »Lebenskunst«, der Ethik Foucaults, anzunehmen ist. Wie Schmid zu Recht aufzeigt, stellen Foucaults Arbeiten über den Gebrauch der Lüste und die Sorge um sich, die nach langer Nachdenklichkeit 1984 unmittelbar vor seinem Tod erschienen sind, historisches Material für den Entwurf einer neuen Ethik bereit (vgl. Schmid 2000: 35). In deren Mittelpunkt steht die Lebenskunst. In Foucaults Neubegründung der Ethik wird also eine in der Spätantike zu findende Form wieder aufgenommen. Dies lässt sich aber auch in der Weise deuten, dass Foucault versucht, auf diese Weise eine Verbindung zu anderen Kulturen mit einer ars erotica – und zwar auch zur »arabischislamischen Kultur« – herzustellen. 16 Dreyfuss und Rabinow schreiben dazu: »Genuss ist Selbstzweck. Er wird weder der Nützlichkeit noch der Moral und erst recht nicht der wissenschaftlichen Wahrheit unterstellt.« (1994: 207f.) 17 Auch wenn er später herausfindet, dass in »unserer Kultur« zu jener Zeit noch keine »Wissenschaft der Sexualität« betrieben worden sei, sondern eher eine ars erotica, relativiert dies nicht, sondern bestätigt seine Aussage, dass unsere Zivilisation als einzige im Laufe von Jahrhunderten Geständnis-Prozeduren entwickelt habe. Und daran zeigt sich, dass er davon ausgeht, »das Abendland« habe einen Sonderweg eingeschlagen. 35
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hierfür inzwischen der Gegensatz »westlich« vs. »nicht-westlich« verwendet. Sie ist auch in meinem Modell zu finden, denn darin wird die muslimische Kultur mit der vertikalen Trennungslinie im Körperschema als eine von vielen nicht-westlichen Kulturen (mit möglicherweise anderen Trennungslinien) betrachtet.18 Wenn Foucault nun betont, dass die abendländische Kultur einen Sonderweg eingeschlagen habe, so lässt sich sein Bemühen, diese besondere Geschichte, ihren historischen Entstehungsprozess in ihrer (Dis-)Kontinuität aufzuzeigen, auch in der Weise verstehen, dass er die Universalisierungstendenz in der Philosophie wie auch in anderen Disziplinen kritisiert. Es geht ihm also um eine Relativierung unserer Kultur, wenn nicht gar um eine »totale Infragestellung der abendländischen Kultur«, wie Dreyfus und Rabinow formulieren (vgl. 1994: 35). Insofern ist Foucault eine relativistische Position zuzuschreiben. Er schreibt gegen universalistische Annahmen und warnt davor, »unsere« Art für universal zu halten oder gar zum Maßstab für die Bewertung von anderen zu nehmen. Gleichwohl ist festzuhalten, dass er sehr wenige Aussagen zu diesem »Rest der Welt«, zu anderen Kulturen macht. Wenn er auf andere Zivilisationen hinweist, wie in der oben erwähnten Aufzählung, bezieht er sich auf vergangene, z.B. auf das alte China.19 Dies lässt sich zwar dadurch erklären, dass er immer schon
18 Solange man vom »Abendland« sprach, war der Gegensatz das »Morgenland«. Aber diese geographische Typologisierung hat sich als wenig sinnvoll herausgestellt, wobei allerdings zu fragen ist, ob das Adjektiv »westlich«, das immer noch ein Raster nach Himmelsrichtungen impliziert, angemessener ist. 19 Dabei ist jedoch noch kein Misstrauen gegenüber den »Klischees der Sekundärliteratur«, das er später formuliert (vgl. 1994: 266), zu finden. In Der Gebrauch der Lüste verweist er auf R.H.van Gulik: Sexual Life in Ancient China. A Preliminary Survey of Chinese Sex and Society from ca. 1500 B.C. till 1644 A.D. Leiden 1961 als Quelle. In Die Sorge um sich ist zwar kein Hinweis auf das alte China zu finden, aber es gibt in der Einleitung zu Die Ordnung der Dinge ein herausgehobenes Beispiel: die chinesische Tierklassifikation. Nach der bizarren Aufzählung der Tierarten schreibt er: »Bei dem Erstaunen über diese Taxinomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.« (ODi 17) Er kritisiert zwar, dass China »für uns« eher eine Projektionsfläche für unser Denken sei als der wirkliche Ort – damit zeigt er an, dass er vertraut ist mit der Forschung zum l’exotisme vor allem in der französischen Romantik – gleichwohl nutzt er das Klassifikationsbeispiel, um zu zeigen, dass die Ordnungen, die »wir« kennen, »vielleicht nicht die einzig möglichen oder die besten sind.« (Ebd. 23) Diese Aufzählung hat für ihn also die Funktion, ein anderes Denken zu ermöglichen, und dazu war sie erfolgreich. Auch heute noch wird sie immer wieder zitiert. Das Beispiel aus dem alten China ist 36
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in die Geschichte geht, um die Gegenwart zu verstehen. Aber dennoch ist zu fragen, ob es überhaupt möglich ist, vom (zweifelhaften) Bild des alten China in der Sekundärliteratur auf das heutige China zu schließen. Allgemeiner lässt sich noch einmal fragen: Ist es wirklich legitim, so wenig auf andere einzugehen, um die Gegenwart zu erklären? Ist die Gegenwart so homogen, dass sie nur durch die abendländische Geschichte zu verstehen ist?20 Anders formuliert: Foucault thematisiert die kulturelle Pluralität nur in der Imperfektform und übergeht die aktuelle Pluralität in der Weltgesellschaft wie in den »abendländischen Gesellschaften«. Diese erscheinen als mehr oder weniger homogene Einheiten. »Andere« kommen darin nicht vor. Auch wenn er sich stets für Ausgegrenzte eingesetzt hat, so fällt doch auf, dass Migranten in seinen Schriften nicht erwähnt werden. Auch wenn diese oder andere Gründe seine Beschränkung auf die Analyse »unserer Kultur« möglicherweise erklären, so bleibt doch die Kritik, dass Foucaults Ausführungen zu anderen Kulturen mehr oder weniger blass bleiben. M.E. ist es wichtig, andere Kulturen mit derselben Aufmerksamkeit (und Methode) zu betrachten wie die westliche, also eine kulturvergleichende Perspektive einzunehmen. Dies ist zwar in der grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Zivilisationstypen bei Foucault angelegt, aber seine Analyse kippt sozusagen auf die eine, die westliche Seite. Solange die Studien über »uns« immer weiter verfeinert werden und das Geworden-Sein der anderen nur am Rande erwähnt wird, werden diese ignoriert. Es bleibt eine Analyse des eigenen Denkens. Hier ist ein Umdenken notwendig, das Foucault selbst fordert: »Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist.« (GL 15) M.E. sind Foucaults Ausführungen auch in der Weise zu lesen, dass sie dazu auffordern, auch in Hinblick auf die Anderen weiterzuschauen und weiterzudenken. Ich zog daraus die Konsequenz, dass es wichtig also Mittel zum Zweck. Mit dem wirklichen alten China bzw. mit der historischen Forschung hierüber hat es nichts zu tun. 20 Schon zu der Zeit, als er seine Schriften verfasste, lebten in Frankreich viele maghrebinische, muslimische Flüchtlinge und Arbeitsmigranten. Das Thema »Islam« ist auch in Frankreich nicht erst in den 90er Jahren relevant geworden. Nicht zuletzt hat die Konversion des Philosophen Garaudy zum Islam einiges Aufsehen in der Öffentlichkeit ausgelöst. Außerdem hat Foucault selbst einige Zeit in Tunesien gelehrt (1966). Er hat sich für die Islamische Revolution von Khomeini interessiert und ist 1978 als Sonderkorrespondent für zwei Zeitungen nach Teheran gereist (und wurde deshalb scharf angegriffen). Kurz: Weder die muslimischen Gesellschaften noch die in Frankreich lebenden Migranten waren ihm kaum unbekannt. 37
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und notwendig sei, das Sprechen westlicher und muslimischer Subjekte »heute« vergleichend zu analysieren. Bald erhielt ich durch Butler einen wichtigen Anstoß für die Präzisierung meiner Forschungsfrage.
Butlers Gender Trouble Judith Butler legt in Gender Trouble »eine kritische Genealogie der Geschlechter-Kategorien« (GT 10) vor. Sie nimmt Foucaults Ansatz auf und arbeitet ihn in Hinblick auf die Geschlechterdifferenz weiter aus. Dies begründet sie damit, dass sich bei der näheren Untersuchung einiger seiner Werke »seine problematische Indifferenz gegenüber der sexuellen Differenz« zeige (vgl. ebd. 11). Wie in meinen Ausführungen zu Foucault zu erkennen ist, ist diese Kritik berechtigt. Auch in meinen eigenen Überlegungen war die Geschlechterdifferenz in den Hintergrund getreten. Obwohl die Kategorie »Geschlecht« sozusagen der Ausgangspunkt dafür war, dass ich überhaupt das Modell der Trennungslinien entwickelt hatte, hatte ich diesen Aspekt inzwischen durch die Auseinandersetzung mit Foucaults Schriften mehr oder weniger vernachlässigt. Diesen wollte ich in meinem Forschungsprojekt nun wieder stärker berücksichtigen. Butlers Ausführungen waren auch insofern interessant, als sie Foucaults Kritik am universalisierenden Gestus der Wissenschaft aufnimmt und nun als Kritik am feministischen Diskurs formuliert. Während Foucault aufgezeigt hatte, wie sehr die Diskurse, die mit dem Anspruch objektiver Wissenschaft auftreten, gleichzeitig mit den Praktiken der Macht verstrickt sind, stellt Butler den Machtanspruch, der sich hinter dem »totalisierenden Konzept« des Feminismus verberge, infrage: »Kann man wirklich so eindeutig eine monologische maskuline Ökonomie identifizieren, die quer durch die ganze Reihe kultureller und geschichtlicher Zusammenhänge verläuft, in denen die sexuelle Differenz (sexual difference) verortet ist? Stellt nicht das Manko, die spezifischen kulturellen Verfahrensweisen der Geschlechter-Unterdrückung (gender oppression) anzuerkennen, selbst eine Art epistemologischen Imperialismus dar, der übrigens auch nicht besser wird, wenn man die kulturellen Unterschiede einfach als ›Beispiele‹ für ein und denselben Phallogozentrismus betrachtet. Der Versuch, die ›anderen‹ Kulturen als gleichsam bunte Erweiterung eines allumfassenden phallogozentrischen Systems einzuschließen, stellt einen Aneignungspunkt dar, der riskiert, die selbsterweiternde Geste des Phallogozentrismus zu wiederholen: indem er nämlich die Kulturen, die dieses totalisierende Konzept in Frage stellen könnte, unter dem Vorzeichen desselben kolonisiert.« (Ebd. 32f., Hervorh. im Original) 38
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Deutlich kritisiert sie, dass im Namen der feministischen Wissenschaft Unterdrückung und Ausschließung auf einer anderen Ebene wiederholt werde. Sie weist darauf hin, dass sie nicht die erste sei, die totalisierende Konzepte und eine bestimmte »Form der feministischen Theoriebildung« kritisiere (vgl. ebd. 18) und gibt Hinweise auf Gayatri Spivaks und Edward Saids Thesen, allerdings ohne die beiden Autoren ausdrücklich zu nennen. »Die Form feministischer Theoriebildung ist nicht nur der Kritik anheim gefallen, weil sie die nichtwestlichen Kulturen kolonisiert und als Träger westlicher Vorstellungen von Unterdrückung dienstbar macht. Darüber hinaus versucht sie, gleichsam eine sogenannte ›dritte Welt‹, ja einen ›Orient‹ zu konstruieren, indem sie unterschwellig die Geschlechter-Unterdrückung als symptomatisch für eine wesentlich nicht-westliche Barbarei erklärt.« (Ebd. 19)
Sie bezieht sich also deutlich auf die in den postcolonial studies formulierte Kritik. Diese will sie in die Theoriebildung einbeziehen: »Die feministische Kritik muss einerseits die totalisierenden Ansprüche einer maskulinen Bedeutungs-Ökonomie untersuchen, aber andererseits gegenüber den totalisierenden Gesten des Feminismus selbstkritisch bleiben.« (Ebd. 33) Dies lässt sich auch als Wiederaufnahme der Kritik Foucaults an Kontinuitäts- und Totalitätsannahmen lesen, zumal sie schreibt: »Der Strukturalismus setzt die Totalität und Geschlossenheit der Sprache voraus und ficht sie zugleich an. […] Der poststrukturalistische Bruch mit Saussure und mit den identitätslogischen Tauschstrukturen bei Levi-Strauss weist sowohl die Totalitäts- und Universalitätsansprüche als auch die Annahme von binären strukturalen Gegensätzen zurück, die implizit bewirken, dass die bestehende Ambiguität und Offenheit der sprachlichen und kulturellen Bedeutung eingeschränkt wird.« (Ebd. 70)
Wenn sie im letzten Kapitel von Gender Trouble die Annahme eines »globalen Subjekts« kritisiert (ohne sich dabei explizit auf Foucault zu beziehen), findet sich seine Kritik wieder: Die Annahme eines »globalen und globalisierenden Subjekts« (ebd. 217) sei zu verwerfen, weil dies die Konstruktion eines epistemologischen Modells sei, das seine eigene kulturelle Verortung verschleiere. Für das »globale Subjekt« würde eine Position beansprucht, die gerade jene imperialistischen Strategien einsetze, die der Feminismus kritisieren solle (vgl. ebd. 216). Damit hatte ich die Hoffnung, dass ich in ihren Ausführungen eine Theoriebildung finden könnte, die der Pluralität des Frau-Seins (und Mann-Seins) und den Differenzen in den kulturellen Konstruktionen des 39
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Geschlechts Rechnung trägt. Würde ich bei ihr vielleicht auch Anregung dafür finden, wie der Widerspruch bei Foucault zwischen der Ablehnung von Kontinuitätsannahmen einerseits und der Annahme von Kontinuitäten andererseits zu lösen ist? Hier fällt auf, dass Butler zwar wie Foucault Kontinuitäts- und Einheitsvorstellungen ablehnt, dass aber auch sie »Kultur« als Einheitsbegriff verwendet und von der Pluralität der Kulturen ausgeht. Außerdem ist auch bei ihr eine dichotome Unterscheidung der Kulturen zu finden: Sie spricht mehrfach von »westlichen« und »nicht-westlichen« Kulturen, wie an oben erwähntem Zitat abzulesen ist. Und nur aufgrund dieser Unterscheidung macht ihre Kritik an der »Kolonisierung nicht-westlicher Kulturen« Sinn. Allerdings ist bei ihr im Vergleich zu Foucault die Sprache verändert. Sie spricht nicht mehr von »uns« und »unserer Kultur«, erst recht nicht von der »abendländischen«.21 Während Foucault immer wieder auf »unsere Geschichte« verweist und von einem »Wir« ausgeht, das nur diejenigen umfasst, die durch die von ihm beschriebene Genealogie geprägt sind, vermeidet Butler die Bezugnahme auf ein kollektives Subjekt.22 Das heißt: So sehr bei Foucault die Frage nach »unserem« Geworden-Sein, »unserer« Kultur und Geschichte im Mittelpunkt seiner Arbeit steht, so sehr scheint Butler nun um eine Perspektive bemüht zu sein, in der die westliche Kultur ebenso betrachtet werden kann wie jede andere. Sie scheint aus der Distanz zu allen Kulturen gleichermaßen zu schreiben und eine Theoriebildung im Auge zu haben, die nicht das (westliche) autonome Subjekt zur Voraussetzung hat. Das wäre ein für meine Zwecke hilfreiches Theoretisieren, zumal sie sich bemüht, den Körper-Geist-Gegensatz zu überwinden und ein epistemologisches Modell zu entwickeln, das ohne diese Unterscheidung auskommt. Dies wird in ihrer Kritik an Simone de Beauvoir sehr deutlich: »Beauvoir [scheint] den Geist-Körper-Dualismus beizubehalten, auch wenn sie eine Synthese der beiden Termini beabsichtigt. […] Für die kulturelle Assoziation zwischen Geist-Männlichkeit und Körper-Weiblichkeit finden sich im Feld der Philosophie und des Feminismus zahlreiche Belege. Daher muss jede unkritische Reproduktion der Geist/Körper-Unterscheidung neu durch-
21 Daran lässt sich die Veränderung der wissenschaftlichen Sprache (und des Diskurses?) ablesen. Nicht erst durch die »Globalisierungs-Debatte«, sondern vor allem durch die Kritik an der Rede von der »Dritten Welt«, durch die die Priorität und Dominanz der »Ersten Welt« abgesichert wird, sind die Begriffe verändert worden. Auch Butler setzt »Dritte Welt« konsequent in Anführungszeichen. 22 Wie sich zeigen wird, verwendet sie gleichwohl ein »Wir« für das Kollektiv der Feministinnen. 40
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dacht werden: Sie hat traditionell und implizit die Geschlechter-Hierarchie produziert, aufrechterhalten und rational gerechtfertigt.« (Ebd. 31)
Dieser Aspekt war für mich auch insofern wichtig, als ich darin eine Bestätigung für meine Vermutung fand, dass die Geist-Körper-Unterscheidung im westlichen Modell mit der Geschlechterhierarchie zusammenhängt, wie ich in meiner Auseinandersetzung mit Laqueur argumentiert hatte.23 Damit lässt sich zusammenfassen, dass ich durch Butler angeregt war, meine Forschungsfrage zu präzisieren, und mehr oder weniger sicher war, dass ich ihren Ansatz als theoretische Grundlage für meine empirische Untersuchung nehmen könnte. Dies lässt sich auch umgekehrt formulieren: Ich fand in Gender Trouble so viele Hinweise darauf, dass ihr Ansatz eine Lösung für das Problem, wie unterschiedliche Konstruktionen des Körpers zu analysieren sind, bot, dass ich durch ihre radikale Infragestellung der Annahme der Geschlechterdifferenz (und jeder Art von binärer Codierung) nicht wirklich verunsichert war. Ich war sicher, im Laufe meiner Arbeit diese Annahme begründen zu können. Schließlich hatten französische und italienische Feministinnen hinreichende Gründe dafür vorgelegt, dass die Geschlechterdifferenz zum Ausgangspunkt der Theorie zu nehmen sei, und deutsche Feministinnen wie Hilge Landwehr und Andrea Maihofer hatten Argumente gegen Butler ins Feld geführt, auf die ich mich berufen könnte (vgl. unten). So sah ich mich gerade durch Butler darin bestätigt, die kulturelle Differenz der Geschlechterdifferenz bzw. die »kulturellen Differenzen in der sozialen Konstruktion des Geschlechts im Zusammenhang mit der Konstruktion des Körpers zu untersuchen«, wie ich in der Projektsskizze formuliert hatte. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Formulierung der Forschungsfrage dieses Projekts.
23 Im Übrigen weist auch Butler in einer Anmerkung auf Laqueur hin: Seine Beschreibung gebe einen Hinweis darauf, wie Foucaults Sexualität und Wahrheit »in einem gegebenen eurozentrischen Kontext neu zu überdenken« sei (vgl. Anm. 10, S. 220). 41
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Die Forschungsfrage des Projekts War es zunächst mein Anliegen, das aktuelle Sprechen westlicher und muslimischer Subjekte über die Wahrnehmung des eigenen Körpers empirisch zu untersuchen, so habe ich nun, angeregt durch Butler, vorgesehen, die Darstellungen der Wahrnehmung eines anderen (geschlechtlichen?) Körpers zu analysieren. Ich hoffte, dadurch herausfinden zu können, inwieweit es für die (Darstellung der) Wahrnehmung eines fremden Körpers von Bedeutung ist, ob dieser gleich- oder gegengeschlechtlich ist. Müsste sich bei westlichen Subjekten nach Foucault nicht ein Hinweis auf das Begehren abzeichnen? Und müsste sich bei muslimischen Subjekten nicht ein Hinweis auf das Prinzip der Geschlechtertrennung finden lassen? Ich entschied mich dabei auch, das Geschlecht derjenigen, die die Darstellung geben, zu berücksichtigen, also Darstellungen, die einerseits von Frauen, andererseits von Männern gegeben werden, zur Ausgangsbasis zu wählen, denn diese könnten das Begehren oder das Prinzip der Geschlechtertrennung unterschiedlich thematisieren. Außerdem beschloss ich, die Darstellungen zum einen in deutscher Sprache, zum anderen in türkischer Sprache zu erheben, um Anhaltspunkte für die kulturelle Differenz zu gewinnen. Indem ich diese Aspekte zusammenfasste, ergab sich folgende Formulierung für die Forschungsfrage: Worin unterscheiden sich die Darstellungen der Wahrnehmung eines fremden Körpers von Deutsch und Türkisch sprechenden Frauen und Männern?24 Damit ist die Vorgeschichte meines Forschungsprojekts bis zur Entstehung meiner Forschungsfrage erzählt. Hier ist noch darauf hinzuweisen, dass ich aus dieser Frage bald zwei Interviewfragen in deutscher und in türkischer Sprache entwickelt habe, die ich ca. 80 Interviewten – 40 Frauen und 40 Männern, von denen einige Migranten sein sollten, um auch Aussagen zu Veränderungen in der Migration und/oder zu Mischformen machen zu können – vorlegen wollte. Diese Frage lautete: Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie dachten, jemand sei eine Frau und es war ein Mann, oder dass Sie dachten, jemand sei ein Mann und es war eine Frau? In der türkischen Formulierung lautete sie:
24 In der Forschungsfrage habe ich zunächst auch nach den Unterschieden in den Darstellungen der Wahrnehmung des eigenen Körpers gefragt (vgl. Fußnote 25). 42
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Hiç baúına böyle bir úey geldi mi: Kadın diye bakarken erkek çıktı veya erkek diye bakarken kadın çıktı? Auf die Entwicklung dieser Interviewfrage(n) kann ich hier nicht eingehen.25 Ich möchte jedoch, bevor ich im nächsten Kapitel die Prüfung der in der Forschungsfrage enthaltenen Grundannahmen darstelle, ausdrücklich darauf hinweisen, dass alle Aspekte, die die empirische Untersuchung betreffen, in einem gesonderten »Materialband«, der als Online-Publikation des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität Hamburg zugänglich ist, behandelt werden. (Auf diesen werde ich im Folgenden mit »MB« verweisen.) In diesem Band werde ich mich auf die theoretischen und methodologischen Aspekte des Forschungsprojekts konzentrieren.
25 Um nach Irritationen in Bezug auf den eigenen Körper fragen zu können, habe ich eine zweite Interviewfrage entwickelt. Diese lautete: »Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie dachten, was ist bloß los mit meinem Körper?« Auf Türkisch lautete sie: »Gün varki bana ne oluyor? Hasta mıyım de÷il miyim diye düúünüyorsun. Böyle bir úey hiç baúına geldi mi?« Da die türkische Formulierung nicht genau der deutschen entspricht (ich hatte eine freie Übersetzung gewählt, weil eine wörtliche nicht möglich war), war später ein Vergleich der Antworten auf diese Frage nur unter größter Vorsicht möglich und bedurfte einer ausführlichen Begründung. Deshalb habe ich mich entschieden, im Rahmen dieser Arbeit alle die zweite Interviewfrage betreffenden Aspekte nicht mehr zu berücksichtigen. 43
DIE PRÜFUNG
DER
G R U N D AN N A H M E N
Während ich im ersten Kapitel dargestellt habe, wie sich meine Forschungsfrage im Laufe meiner eigenen Arbeiten entwickelt hat, möchte ich nun aufzuzeigen, wie diese Frage in den Kontext der aktuellen Diskussionen in unterschiedlichen Disziplinen einzuordnen ist. Zunächst werde ich anhand der feministischen Diskussion aufzeigen, dass und warum die Annahme, dass es Frauen und Männer »gibt«, als problematisch zu betrachten ist. Hier werde ich insbesondere den durch Butler ausgelösten feministischen »Streit um Differenz« nachzeichnen. Dann werde ich unterschiedliche Arten der Kritik an »Kultur« aufzeigen und anhand einiger Aufsätze verdeutlichen, dass das Kulturkonzept in der Ethnologie bzw. Kulturanthropologie infrage gestellt wird. Dabei werde ich nicht nur die Gründe hierfür, sondern auch die Lösungsansätze und Konzepte, die stattdessen vorgeschlagen werden, erörtern und aufzeigen, dass diese bislang wenig überzeugend sind.
Das Problem der Differenz(-annahmen) Zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen ist zunächst aufzuzeigen, warum Differenzannahmen inzwischen so heftig kritisiert werden bzw. worin das grundsätzliche Problem der Annahme von Differenz gesehen wird: Sobald von einer Differenz die Rede ist, wird nicht nur eine Unterscheidung getroffen, ein Unterschied gemacht, es wird auch eine Hierarchie hergestellt oder in Kauf genommen. Jede Differenz wird »von außen« eingeführt, sie haftet nicht den Dingen selbst an, sondern wird durch die Sprache auf die Dinge projiziert. Die Dinge werden mithilfe der Sprache »repräsentiert«, d.h. indem ihnen ein Name gegeben, 45
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ein Bezeichnendes, ein Signifikant zugeordnet wird, werden sie symbolisierbar, handhabbar – denkbar. Aufgrund der Erkenntnis, dass die »rohen Tatsachen«, die bezeichnet werden, nicht ohne den »Umweg« über die Sprache zu erfassen sind, dass es also keinen direkten Zugang zu den Objekten, Tatsachen, Dingen gibt, wurde versucht, mehr über die Wirklichkeit in Erfahrung zu bringen, indem die Sprache und das Sprechen analysiert werden. Daher wird seit der »linguistischen Wende« der Sprache und dem Sprechen eine privilegierte Funktion eingeräumt: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist vor allem durch die Analyse des Sprechens und der Sprache aufzudecken. Inzwischen gibt es aber sozusagen eine »zweite linguistische Wende«, und zwar aus folgendem Grund: Wenn es keinen direkten Zugang zu den Dingen, Objekten, Tatsachen gibt, lässt sich auch fragen: Gibt es überhaupt Dinge, Tatsachen, Objekte? Sind nicht all die Dinge, die da wahrgenommen werden, und die Differenzen, die zwischen ihnen »erkannt« werden, Konstruktionen bzw. Erfindungen? Dann ist es kaum möglich, zwischen Fakten und Fiktionen zu unterscheiden. Wenn aber niemand je einen direkten Zugang zu den Dingen »da draußen« haben kann, erübrigt sich letztlich die Feststellung, dass Tatsachen hergestellt werden. Dann ist alles konstruiert. Und dann muss jegliche Analyse in der Sprache gefangen bleiben. Für einige ForscherInnen ist die Sprache bzw. der Text daher das alleinige Gebiet der Analyse; für sie gibt es nichts außerhalb des Textes. Auf diese weitere Entwicklung und die Unterschiede zwischen »konstruktivistischen« Ansätzen werde ich erst im nächsten Kapitel eingehen. Hier geht es zunächst um die Frage, ob es legitim ist, von Differenzen auszugehen, wenn die kognitive Operation des Unterscheidens im Sozialen zur Diskriminierung tendiert. Dass die Hierarchisierung und Diskriminierung nicht zu vermeiden ist, lässt sich an der Differenz(behauptung) zwischen zwei Tatsachen, also bei einem einfachen Gegensatzpaar, einer »binären Codierung« aufzeigen. Ob es die Paare »Tag und Nacht«, »Himmel und Hölle«, »schwarz und weiß« oder die Paare Mann vs. Frau, Kultur vs. Natur, Körper vs. Geist, Sprecher vs. Hörer, Aktivität vs. Passivität, Subjekt vs. Objekt sind, stets zeigt sich die Bevorzugung des einen Terms vor dem anderen. Jede binäre Codierung impliziert also eine asymmetrische Relation, eine Hierarchie. Da es das zentrale Anliegen des Feminismus ist, die Geschlechterhierarchie aufzuheben, ist die Kritik an Differenzannahmen insbesondere in der feministischen Diskussion zu finden. Im Folgenden werde ich zunächst darstellen, wie ich die für mein Projekt so wichtige Annahme der Geschlechterdifferenz geprüft habe. Danach erst werde ich meine Prüfung der Annahme der kulturellen Differenz vorstellen, denn die Kritik an der binären Codierung ist hier we46
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
niger von Bedeutung. Gleichwohl wird sich zeigen, dass das Kulturkonzept selbst hierarchisierend wirkt und deshalb grundlegend in Frage gestellt wird.
D i e An n a h m e d e r G e s c h l e c h t e r d i f f e r e n z Luce Irigaray beginnt Speculum mit einem Zitat aus Freuds (fiktiver) Vorlesung über »Die Weiblichkeit«: »Männlich oder weiblich ist die erste Unterscheidung, die Sie machen, wenn Sie mit einem anderen menschlichen Wesen zusammentreffen, und Sie sind gewöhnt, diese Unterscheidung mit unbedenklicher Sicherheit zu machen.« (1980: 13) Sie zitiert Freud allerdings nicht, um zu kritisieren, dass er diese Unterscheidung für selbstverständlich hält. Auch geht es ihr nicht um den Irrtum im Geschlecht (wie in meiner aus der Forschungsfrage entwickelten Interviewfrage), auch wenn es auf den ersten Blick so scheint: »Aber wie? Das bleibt unausgesprochen, und es scheint Ihnen auch nicht der Mühe wert, dem nachzugehen. Schweigen also über diese unbedenkliche Sicherheit, die Sie davor bewahrt, sich bereits beim ersten Blick in dem Geschlecht der Person zu täuschen, der Sie begegnen könnten. Die Hauptsache ist, so scheint es, dass Sie ohne Zögern fest davon überzeugt sind, sich nicht irren zu können. Dass die Kultur (?) Sie darin versichert, Sie absichert – oder Sie versichert hat? Sie abgesichert hat? –, dass die Unterscheidung unfehlbar ist.« (Ebd., Hervorh. im Original)
Vielmehr nutzt sie das Freud-Zitat, um zu zeigen, wie Frauen ausgeschlossen, zum »Rätsel« gemacht werden: »Meine Damen, meine Herren! […] Über das Rätsel der Weiblichkeit haben die Menschen zu allen Zeiten gegrübelt. […] Auch Sie werden sich von diesem Grübeln nicht ausgeschlossen haben, insofern Sie Männer sind; von den Frauen unter ihnen erwartet man es nicht, sie sind selbst dieses Rätsel.« (Ebd.) Später schreibt sie, jede bisherige Theorie des Subjekts habe dem »Männlichen« entsprochen: »Sie [die Frau, U.M.] gerät in die Situation, durch den Diskurs zum Objekt zu werden – insofern sie ›weiblich‹ ist. Sie macht sich darin selbst noch einmal zum Objekt, wenn sie vorgibt, sich ›wie‹ ein männliches Subjekt zu identifizieren. Ein ›Subjekt‹, das nach sich selbst als verlorenem (mütterlich-weiblichem) ›Objekt‹ sucht? Es ist zweifellos die der Frau verweigerte Subjektivität, die eine eindeutige Objektkonstitution garantiert, des Objekts der Repräsentation, des Diskurses, des Begehrens.« (Ebd. 169) 47
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Irigaray versucht als eine der ersten Philosophinnen, für Frauen den Subjektstatus zu reklamieren. Während Simone de Beauvoir aufgezeigt hat, dass das weibliche Subjekt das Andere des männlichen Subjekts, das markierte Geschlecht ist, gibt es für Irigaray in dieser Bedeutungsökonomie keine Wechselseitigkeit. Folglich geht es ihr um die Einführung einer ganz anderen Ökonomie. Dazu geht sie von der Geschlechterdifferenz als einer grundlegenden Unterscheidung aus. Doch bald schon schreibt der Kulturanthropologe Clifford Geertz, der offensichtlich aus der Ferne die feministischen Diskussionen verfolgt hat: »Wenn es einen Sachverhalt gibt, von dem jeder annimmt, dass er Teil der Weltordnung sei, so ist es der, dass die Menschen restlos in zwei biologischen Geschlechtern aufgehen. […] Ob man ›vive la différence‹ oder ›à bas la différence‹ ruft, die reine Existenz dieser différence steht kaum zur Diskussion.« (Geertz 1987: 271)
Er deutet an, dass das Wissen um die zwei Geschlechter eigentlich zur Diskussion gestellt werden müsse, denn die Offensichtlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit sei als ein Indiz dafür zu betrachten, dass dieses Wissen zum common sense gehöre, denn: »Der common sense […] präsentiert die Dinge so, als läge das, was sie sind, einfach in der Natur der Dinge. Ein Hauch von ›wie denn sonst‹, eine Nuance von ›versteht sich‹ wird den Dingen beigelegt. […] Sie werden als der Situation innewohnend dargestellt, als von der Wirklichkeit nicht zu trennende Aspekte, so, wie es sich nun einmal mit ihnen verhält.« (Ebd. 277)
In gewisser Weise warnt Geertz davor, den »Sachverhalt« der Zweigeschlechtlichkeit nicht zu hinterfragen. Das Alltagswissen funktioniere als Plausibilitätsressource. Statt es einzusetzen und vorauszusetzen, sollte es zum Gegenstand der Analyse gemacht werden.1 Doch in der feministischen Forschung herrschte bis in die 90er Jahre ein »sogenannter ›gesunder‹ Realismus« (Trettin 1994: 210). Kaum jemand hielt es für möglich, die biologische Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit in Zweifel zu ziehen. Erst als Butler in ihrem 1990 in den USA erschienenen Gender Trouble diese »Tatsache« in Frage stellt, beginnt die Diskussion über diese Annahme. 1
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Geertz kritisiert dies mit einem Zitat von G.E. Moore: »Sooft ein Philosoph sagt, etwas sei wirklich wirklich, […] kann man wirklich sicher sein, dass das, was er ›wirklich wirklich‹ nennt, wirklich nicht wirklich ist.« (1987: 276)
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Butler beschreibt den binären Code »männlich vs. weiblich« als den entscheidenden Machtmechanismus, durch den die Frau als sekundäre Kategorie gesetzt werde. Die Einteilung in »männlich« und »weiblich« sei eine »kulturelle Konstruktion«. Durch die Rede von der »geschlechtlichen Natur« oder dem »natürlichen Geschlecht« werde die Geschlechtsidentität (gender) als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche hergestellt. Der binäre Rahmen für den Begriff des »Geschlechts« werde dadurch abgesichert, die Dualität der Geschlechter (sexes) werde in ein vordiskursives Feld abgeschoben. Deshalb dürfe die Geschlechtsidentität (gender) nicht als kulturelle Zuschreibung von Bedeutung an ein vorgegebenes anatomisches Geschlecht gedacht werden. Vielmehr müsse auch jener Produktionsapparat analysiert werden, durch den die Geschlechter (sexes) gestiftet werden. »Demnach gehört die Geschlechtsidentität (gender) nicht zur Kultur wie das Geschlecht (sex) zur Natur. Die Geschlechtsidentität umfasst auch jene diskursiven/kulturellen Mittel, durch die eine ›geschlechtliche Natur‹ oder ein ›natürliches Geschlecht‹ als ›vordiskursiv‹, d.h. als der Kultur vorgelagert oder als politisch neutrale Oberfläche, auf der sich die Kultur einschreibt, hergestellt und etabliert wird.« (GT 24)
Die Geschlechtsidentität sei abhängig von den »konstituierten Relationen«, in denen sie definiert werde. Sie bezeichne »nicht ein substantiell Seiendes, sondern einen Schnittpunkt zwischen kulturell und geschichtlich spezifischen Relationen« (vgl. ebd. 29). Dabei kritisiert sie auch die sex/gender-Unterscheidung.
Die sex/gender-Unterscheidung Innerhalb der feministischen Theorie hatte sich die analytische Unterscheidung zwischen sex und gender als hilfreich erwiesen, um den Ansatz der »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« (Berger/ Luckmann 1969) für die Frauenforschung nutzbar zu machen. Bislang war argumentiert worden: Die Gesellschaft lege Frauen auf bestimmte »Rollen« fest und beschränke dadurch ihre Handlungsfreiheiten. Nun wurde argumentiert, dass die Bedeutung des Geschlechts (und nicht nur die der »Frau«) interaktiv hergestellt werde. Dieser Perspektivenwechsel fand in den USA bereits in den 70er Jahren statt (und manifestierte sich in der Institutionalisierung von Gender Studies). In der Bundesrepublik erfolgte er erst Ende der 80er.2 Angesichts der aktuellen Kritik am 2
Carol Hagemann-White datiert die Umstellung auf 1991 mit dem Beitrag von Helga Bilden zur geschlechtsspzifischen Sozialisation (1995: 183, vgl. 49
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gender-Konzept lohnt es sich, noch einmal an den Erkenntnisfortschritt, den dieser Ansatz gegenüber der »Frauenforschung« gebracht hatte, zu erinnern. Die Women Studies hatten sich entwickelt, um der Forschung über Frauen eine weibliche Sicht der Dinge entgegenzusetzen. Frauen sollten nicht länger Objekte der Forschung der Männer sein, sondern ihre eigene Lebenserfahrung und -wirklichkeit einbringen und die Zuschreibungen der Männer korrigieren. Zudem wurde der Androzentrismus in der Wissenschaft kritisiert: Männer hätten durch die Verallgemeinerung ihrer Lebenserfahrung Theorien hervorgebracht, in denen die Lebensbedingungen von Frauen und ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen der Realität nicht berücksichtigt würden. Dieser andere Blick war zunächst befreiend. Bald zeigte sich jedoch, dass die Annahme einer besonderen weiblichen Erfahrung begründet werden musste. Es war notwendig zu erklären, warum die Realität aus weiblicher Perspektive anders aussehe. Hier gab es zwei unterschiedliche Erklärungsansätze, zum einen psychoanalytisch orientierte Ansätze (Chodorov 1978, Benjamin 1990) – diese erklärten die Unterschiede in der Erfahrung entwicklungspsychologisch – zum anderen materialistische Ansätze (O’Brien 1981), diese betrachteten die kapitalistischen Produktionsbedingungen und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Ursache für die Marginalisierung von Frauen. Allerdings wurde schon in dieser Phase Kritik an der Annahme der Homogenität der weiblichen Erfahrung und am Paradigma der weiblichen Unterdrückung vorgebracht. Afroamerikanerinnen und andere »women of color« wehrten sich gegen die Behauptung, Frauen dieser Welt seien alle gleichermaßen unterdrückt, schließlich seien auch weiße Frauen maßgeblich an der Diskriminierung schwarzer Frauen und Männer beteiligt. Durch diesen Rassismus-Vorwurf wurden innerhalb des Feminismus Differenzen und Interessengegensätze deutlich. Es ging nicht nur um die Kritik, dass die Erfahrungen einer relativ kleinen Gruppe westlicher weißer Mittelschichtsfrauen unzulässigerweise als gültig für alle Frauen gesetzt wurden, sondern auch um die theoretische Frage, wie die binäre Opposition Mann vs. Frau durch ein komplexeres Modell ersetzt werden könnte. Zum einen galt es zu klären, wie die Kategorien race und class in der Analyse berücksichtigt werden könnten, zum anderen, wie die Bezugnahme auf die vielfältigen Formen der weiblichen Erfahrungen möglich sei. Hier bot das gender-Konzept einen Ausweg,
auch Gerhard 1995: 200). Die Institutionalisierung der Gender Studies in der Bundesrepublik erfolgte wiederum noch später bzw. findet erst in den letzten Jahren statt. 50
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denn mithilfe der Unterscheidung zwischen sex und gender konnte die kulturelle Pluralität des Frau- (und Mann-)Seins beschrieben werden. Das gender-Konzept tauchte zunächst in der amerikanischen Anthropologie auf, um die sozio-kulturellen Variationsmöglichkeiten von Weiblichkeit, Männlichkeit und Sexualität zu erfassen.3 Bald darauf wurde es zur soziologischen Kategorie. Nun wurde das »soziale Geschlecht« eingeführt und es wurde zwischen einem vorgegebenen biologisch fundierten Geschlecht (sex) und den kulturellen Geschlechtszuschreibungen (gender) unterschieden. Diese Unterscheidung, genauer: die Vorstellung, dass die kulturellen Geschlechtszuschreibungen einem Körper auferlegt werden, kritisiert Butler. Hier ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das gender-Konzept zunächst mit dem funktionalistischen rollentheoretischen Ansatz verwendet und davon ausgegangen wurde, dass das Individuum sein Handeln nach den von der Gesellschaft vorgegebenen Rollenerwartungen strukturiert. Erst in Verbindung mit wissenssoziologischen und interaktionistischen Ansätzen wurden die Herstellungsprozesse von gender untersucht. Anders formuliert: Das gender-Konzept verweist noch nicht zwangsläufig auf einen konstruktivistischen Ansatz, wie manche nahe zu legen scheinen (Pasero 1995: 51f.). Erst im doing gender-Ansatz wurde Geschlecht als eine sich selbst tragende Konstruktion betrachtet.4 Dabei wird im ethnomethodologischen Ansatz angenommen, dass Frauen und Männer nur solange »existieren«, wie die Gesellschaftsmitglieder sich einig sind in der Annahme, dass es Frauen und Männer »gibt« und dass diese Einigkeit unabhängig davon bestehen kann, ob es »da draußen« diese Tatsache gibt oder nicht (vgl. Garfinkel 1981: 195). Und daraus entwickelten manche Feministinnen die Hoffnung, »die Produktion der gender factory« könne eingestellt werden (Wetterer 1995: 219) oder Geschlecht könne »entthematisiert« werden (Pasero 1995). Wenn der Glaube an die Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit erschüttert sei, könne die Geschlechterdifferenz überwunden werden.
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Margret Mead hatte bereits 1928 ihre Feldstudien zur Jugend und Sexualität in »primitiven« Gesellschaften veröffentlicht und auf die Variationsmöglichkeiten des Frau- und Mann-Seins, der »Natur« des Menschen hingewiesen. Von gender ist bei ihr jedoch noch nicht die Rede. Mir scheint, dass im doing gender-Ansatz Garfinkel’scher Prägung das doing, also das Herstellen radikaler gedacht wird als im Goffmann’schen Ansatz, denn für ihn wird darüber, was als Tatsache zu gelten hat, »in Gemeinsamkeit mit anderen« – und nicht aufgrund der Natürlichkeit einer Tatsache – entschieden. 51
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»Es werden Orte und Zeiten nachgefragt, die endlich einmal geschlechtlich unbestimmt oder neutral – ungendered – gedacht werden können, in denen Geschlechtszuschreibungen unbedeutend werden.« (Pasero 1995: 51)
Da der ethnomethodologische Ansatz bereits vor Butlers Gender Trouble da war, wurden Butlers Thesen bald mit dem doing gender-Ansatz in Verbindung gebracht. Dadurch entstanden Missverständnisse, die bis heute wirken, wie ich weiter unten aufzeigen werde. Bevor ich die weitere feministische Diskussion nachzeichne, möchte ich den Gewinn, den das gender-Konzept gebracht hatte, zusammenfassen: Es war nicht mehr notwendig, den Zusammenhang zwischen der Person und dem Geschlecht linear und kausal zu erklären, vielmehr konnten durch die Unterscheidung zwischen dem als natürlich vorausgesetzten Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) die Variationen thematisiert werden. Es wurde nun auch möglich, das Geschlechterverhältnis bzw. die vielfältigen Geschlechterarrangements zum Gegenstand der Analyse zu machen. Außerdem war es nicht länger notwendig, von einem eindimensionalen Herrschaftsmodell (männliche Macht vs. weibliche Ohnmacht) auszugehen. Auch der Anteil oder die Beteiligung von Frauen an den gender-Konstruktionen konnte nun reflektiert werden. (Bislang hatten Frauen sich politisch und theoretisch die Opferrolle reserviert.) Der blinde Fleck des gender-Konzepts war jedoch der Körper. Er wurde weiterhin mehr oder weniger stillschweigend als »natürlicher«, geschlechtlich differenzierter Körper, als »Tatsache« vorausgesetzt. Daher kritisiert Butler das naturale Körperverständnis im Feminismus. Sie macht deutlich, dass der (weibliche) Körper nicht als feststehende Größe in der feministischen Theorie vorausgesetzt werden könne. An den Texten von Freud und Irigaray zeigt sie auf, wie die »phantasmatische Natur des Begehrens« in den Körper eingeschrieben werde, obgleich gerade diese »Natur des Begehrens« offenbare, »dass der Körper nicht sein Grund oder seine Ursache, sondern sein Anlass und Objekt« sei (GT 111f.). Insbesondere an Kristevas Konzept des mütterlichen Körpers macht sie deutlich, dass hier ein vordiskursiver Körper vorausgesetzt werde, der Foucault zufolge jedoch als »Effekt eines Sexualitätssystems« zu betrachten sei: »Während Kristeva einen Körper der Mutter vor dem Diskurs ansetzt, […] würde Foucault zweifellos die These vertreten, dass die diskursive Produktion des mütterlichen Körpers als vordiskursives Phänomen nur eine Taktik der Selbst-Erweiterung und Verschleierung jener spezifischen Machtbeziehungen ist, welche die Trope des ›Körpers der Mutter‹ hervorbringen. Dieser Theorie zufolge würde der Körper der Mutter nicht mehr als verborgener Grund aller
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Bedeutung oder als verschwiegene Ursache aller Kulturen verstanden, sondern eher umgekehrt als Effekt oder als Folge eines Sexualitätssystems, das vom weiblichen Körper verlangt, die Mutterschaft als Wesensbestimmung seiner selbst und als Gesetz seines Begehrens anzunehmen.« (Ebd. 140)
Hier wird deutlich, dass es Butler vor allem darum ging, »uns von der Illusion eines wahren Körpers jenseits des Gesetzes zu kurieren«. (Ebd. 141) Diese fundamentale Kritik wurde von vielen Feministinnen abgewehrt, denn darin sahen sie einen Angriff auf das feministische Projekt insgesamt. Wenn der geschlechtlich differenzierte Körper nicht mehr vorausgesetzt werden könne, sei es nicht mehr möglich, von »Frauen« (und »Männern«) zu sprechen, und die Benachteiligung von Frauen sei nicht mehr zu kritisieren. Butlers Kritik untergrabe die Möglichkeit, politisch zu handeln und für Frauenrechte zu kämpfen. Um diese wurde gerade im europäischen Feminismus gestritten.5
Gleichheit und Differenz Das feministische Projekt war seit den Anfängen in der Frauenbewegung mit dem politischen Kampf um Gleichberechtigung verbunden. Je differenzierter die feministische Theorie wurde, desto komplexer wurden die gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen. So war ein vor allem von Philosophinnen geführter Streit um Gleichheit und Differenz entstanden. Auf der einen Seite gab es die »Gleichheits-Theoretikerinnen«, die im Gleichheitsgrundsatz den Ansatzpunkt für die Überwindung der männlichen Dominanz bzw. der Hierarchie der Geschlechter sahen: Bereits seit zwei Jahrhunderten seien Frauen zwar de jure als gleichberechtigt anerkannt, de facto seien sie immer noch benachteiligt. Endlich sollten Frauen auf der Grundlage des Gleichheitsgrundsatzes gleiche Teilhabe an der Bestimmung der gesellschaftlichen Verhältnisse erhalten. Dazu gelte es, die Verhältnisse so zu verändern, dass Frauen endlich auch die Rechte, die ihnen seit der Französischen Revolution als Menschen zuerkannt worden waren, in Anspruch nehmen können. Auf der 5
So fand 1989, 200 Jahre nach der französischen Revolution, der Kongress »Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht« statt, aus dem der Sammelband »Differenz und Gleichheit« (1990, hier zitiert in der Neuauflage 1997) entstand. Es sei ausdrücklich erwähnt, dass die feministische Diskussion in den USA anders verlief und stärker um Fragen der Diskriminierung, des Rassismus zentriert war, in der Bundesrepublik wiederum die Themen Rassimus, Ethnizität und kulturelle Differenz erst Mitte der 90er stärker berücksichtigt wurden, wie die Herausgeberinnen in der Einleitung zum Sammelband »Wechselnde Blicke« zu Recht ausführen (vgl. Gerhard et al. 1997). 53
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anderen Seite gab es die »Differenz-Theoretikerinnen« (vor allem die sog. französischen und italienischen Feministinnen), die ebenfalls eine Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse forderten, aber genau in umgekehrter Richtung argumentierten: Nicht durch den Gleichheitsgrundsatz, sondern nur durch die Anerkennung der Frauen als Frauen sei die Hierarchie im Geschlechterverhältnis zu überwinden. Andernfalls würden Frauen »zwar als ein den Männern gleiches Subjekt einbezogen (so als ob sie Männer wären, obwohl sie Frauen sind), werden aber weiterhin als ein unterlegenes Subjekt betrachtet (eben weil sie Frauen sind)« (Cavero 1997: 95). Gerechtigkeit sei durch gleiche Rechte nicht zu erreichen, weil der Gleichheitsgrundsatz stets den Mann (l’homme) als Maßstab voraussetze. Damit stellten sie auch die Ideale »Freiheit und Gleichheit«, die zentralen Werte der humanistischen Debatte, in Frage: »Es gibt keine heiligen oder unschuldigen Orte, weder den Begriff der Gleichheit noch den der Freiheit oder Demokratie usw. Der traditionelle politische Wortschatz ist in toto verdächtig.« (Ebd. 97) In diesem Sinne forderte Irigaray bald nicht gleiche, sondern »geschlechtsspezifische Rechte«: »In der Zivilgesellschaft muss jeder Mensch über subjektive und objektive Rechte verfügen können. Diese Rechte müssen zwangsläufig geschlechtsspezifische sein. Ich meine, selbst wenn ein Geschlecht sich subjektiv mit dem anderen identifizieren kann, ist ihm dies objektiv nicht möglich. Das heißt konkret, dass ein Körper objektive geschlechtsspezifische Eigenheiten besitzt, die sich einer subjektiven Angleichung oder Identifikation widersetzen. Der Gleichheitsdiskurs bleibt also ein idealistischer, solange er von der körperlichen Realität abstrahiert. […] Ohne eigens auf unser Geschlecht ausgerichtete Rechte sind wir als Frauen nichts, jedenfalls sind wir keine Angehörigen der Zivilgesellschaft (personnes civiles).« (1997: 339f.)
Wie hier deutlich zu erkennen ist, wird von den Differenztheoretikerinnen die Tatsache des geschlechtlichen Körpers vorausgesetzt. Es sei allerdings angemerkt, dass diese Tatsache auch schon in dieser Diskussion bisweilen in Anführungszeichen gesetzt wurde. So schreibt z.B. Cornelia Klinger: »Auf die ›Tatsache‹ der Geschlechterdifferenz ist über die längste Zeit der Geschichte und in den meisten Kulturen der Erde ein Herrschaftsverhältnis gegründet worden.« (1997: 118) Sie weist auch darauf hin, dass die Geschlechterdifferenz naturalisiert werde: Das geschlechtsbezogene Herrschaftsverhältnis könne zwar als besonders fundamental gelten – es sei älter und weiter verbreitet als manche andere Herrschaftsform – aber es bleibe (vielleicht gerade deswegen) merkwürdig verdeckt, es sei besonders tief in der »Normalität«
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der Gesellschaft, ja geradezu in der menschlichen Natur eingewurzelt (vgl. ebd.). Doch diese Hinweise führten noch nicht zu einer grundlegenden Problematisierung.6 Anders formuliert: Die Frage, ob es Frauen (und Männer) »gibt«, blieb ausgeklammert. Alle beriefen sich mehr oder weniger explizit auf das kollektive Subjekt »Frau«, das endlich theoretisch und praktisch anerkannt werden solle. Aber gerade dies wurde von Butler grundlegend kritisiert. »Die Identität des feministischen Subjekts darf nicht die Grundlage feministischer Politik bilden, solange die Formation des Subjekts in einem Machtfeld verortet ist, das regelmäßig durch die Setzung dieser Grundlage verschleiert wird. Vielleicht stellt sich paradoxerweise heraus, dass die Repräsentation als Ziel des Feminismus nur dann sinnvoll ist, wenn das Subjekt ›Frau(en)‹ nirgendwo vorausgesetzt wird.« (GT 22)
Da die gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen ohnehin in der Sackgasse zu sein schienen, weil über die Formel »Gleichheit in Differenz« das Dilemma, sich für Gleichheit oder Differenz zu entscheiden, nicht wirklich zu lösen war, bedeuteten Butlers Thesen nicht nur eine Verunsicherung über das Einheitssubjekt »Frau«, (die schon vor Gender Trouble im Streit um die Pluralität des Frauseins bzw. des Anteils der weißen Frauen an der Diskriminierung der schwarzen Frauen eingesetzt hatte), sie brachten nach Ansicht vieler Forscherinnen das feministische Projekt insgesamt in Gefahr. Butler wiederum behauptete, dass der Kampf der Feministinnen zum Scheitern verurteilt sei, wenn die Kategorie »Frau« nicht in Anführungszeichen gesetzt und zum Schauplatz der politischen Auseinandersetzung gemacht würde, weil »man gerade jene Prämissen aufrechterhält, die von Anfang an unsere Unterordnung sichern sollten« (ebd. 56).7 Solange die Natürlichkeit der Geschlechterkategorien nicht infrage gestellt werde, seien alle Bemühungen, die Benachteiligung von Frauen zu überwinden, zum Scheitern verurteilt. Sie äußert sich skeptisch gegenüber allen Theorien, die ein vordiskursives Feld voraussetzen, weil dann bestimmte Fragen in dieses Feld abgeschoben, d.h. einer Theoretisierung nicht mehr zugänglich gemacht werden könnten. Hier
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In der deutschen Diskussion waren viele um eine vermittelnde Position mit der Formel »Gleichheit in Differenz« bemüht: Gleichheit könne nicht ohne Akzeptanz der Differenz eingelöst werden, und Differenz könne nicht ohne die Basis gleicher Rechte Wertschätzung erfahren (vgl. Gerhard 1997: 202; Prengel 1997). Auch hier zeigt sich, dass Butler bisweilen das kollektive Subjekt »wir« wählt und von »uns« spricht, wenn sie das Kollektiv der feministischen Forscherinnen meint. 55
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wird deutlich, dass es nun um einen »Theorien-Streit« ging, der als »Streit um Differenz« bezeichnet wurde.
Der »Streit um Differenz« In diesem Streit ging es zunächst um die Frage, ob es sinnvoll oder möglich sei, die Geschlechterdifferenz vorauszusetzen, aber er reichte weiter und hatte mehrere Facetten: Für einige war es ein Streit um »die ertragreichste Art, wie Feministinnen die linguistische Wende vollziehen« könnten (Fraser 1995: 146). Andere sahen hierin einen Streit um die Möglichkeit, Herrschaft und Macht zu analysieren (und zu verändern, um die Geschlechterhierarchie abzubauen). Für andere wiederum war es eine kritische Bestandsaufnahme zum Subjekt der feministischen Theorie. Nicht zuletzt aufgrund meiner eigenen Forschungsfrage halte ich es für sinnvoll, diesen Streit als methodologischen Streit um die Konstitution des Subjekts zu betrachten. Während Butler die These vertrat, das Subjekt werde im Diskurs hergestellt, es gebe kein vordiskursives Subjekt (folglich erst recht kein vordiskursives Subjekt »Frau«), betonte Benhabib die Kritik- und Handlungsfähigkeit des Subjekts mit dem Argument, das Subjekt sei zwar durch Sprache »konstituiert«, aber nicht »determiniert« (vgl. 1995: 109). Auch wenn Fraser diese Gegenüberstellung als »falsche Gegensätze« bezeichnete und Cornell auf der (Bedeutung der) Herkunft und der Geschichte dieses Subjekts insistierte, bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass die Sprache wichtig sei für die Analyse der Handlungsmöglichkeiten des Subjekts. Es ging zwar auch um die Frage, wie Feminismus und Postmoderne zu vereinbaren seien, wie immer wieder betont wurde, aber dies war deshalb wichtig, weil in spät- und postmodernen bzw. poststrukturalistischen Ansätzen der Zusammenhang von Sprache und Subjekt unterschiedlich konzipiert wird. So wurde vor allem um die Konstitution des Subjekts in der feministischen Theoriebildung gestritten. Diskutiert wurden dabei keine grundsätzlich neuen Entwürfe, sondern bereits vorhandene Theorien, die um eine feministische Perspektive ergänzt bzw. die in Bezug auf die Geschlechterdifferenz ausgedeutet wurden. Hier ist zwischen drei »Parteien« zu unterscheiden: Benhabib ist als Vertreterin der Habermas’schen Diskursethik mit ihrem Fokus auf Partizipation und Geltungsansprüchen zu betrachten. Für sie ist Sprache vor allem ein Mittel der Verständigung und des Austauschs von Argumenten. Butler ist als Vertreterin der Foucault’schen Diskurstheorie mit ihrem Fokus auf Ausschließungsprozeduren zu sehen. Für sie bildet Sprache (bzw. der Diskurs) den Rahmen für das, was überhaupt sagbar und denkbar (bzw. unsagbar und undenkbar) ist. Schließlich steht Cor56
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nell für eine dritte »Partei«: Sie bindet die verschiedenen Ansätze von Habermas, Irigaray, Lacan und Derrida zusammen, indem sie einerseits die symbolische Ordnung, andererseits die in den sprachlichen Zeichen enthaltenen Bedeutungen fokussiert. Fraser, die vierte an diesem »Streit« beteiligte Feministin, vertritt sozusagen keine eigene Partei, sondern versucht, eine vermittelnde Position zwischen diesen dreien einzunehmen, indem sie »einen eklektischen, neopragmatischen Ansatz« (Fraser 1995: 147) vorschlägt. Dieser wurde zu Recht von allen dreien zurückgewiesen. Benhabib z.B. kritisiert Frasers Position, obwohl diese große Affinität zu ihrer eigenen aufweist, mit den Worten: »Ich würde ihr [Fraser] entgegnen, dass das unparteiische und vom gesunden Menschenverstand geleitete Zurechtschneidern von Theorien für die anliegenden Aufgaben […] nicht postmodern ist.« (Benhabib 1995: 111) Benhabibs Argument ist wichtig: Es ist theoretisch unbefriedigend und letztlich nicht haltbar, sich aus verschiedenen Theoriegebäuden nur die dem eigenen Anliegen dienenden »Stücke« herauszuschneiden. Es macht wenig Sinn, tief liegende Unterschiede in den Ansätzen zu übergehen, nur um irgendwie theoretisch und vor allem politisch weitermachen zu können.8 Eine ähnliche Kritik wurde allerdings auch gegenüber Cornells Ansatz geäußert: Alle drei kritisierten, dass sie einerseits mit Lacan eine einzige phallogozentrische symbolische Ordnung, die kulturell und diskursiv immer gegenwärtig sei, voraussetzt, andererseits mit Derrida versucht, Verschiebungen in dieser Ordnung durch und mithilfe der Sprache zu erklären. Einerseits setzt sie das Subjekt als geschlechtlich bestimmtes voraus, andererseits will sie seine Vergeschlechtlichung im Diskurs beschreiben. Da sich an Cornells Position (auch) das Dilemma der »Gleichheit vs. Differenz«-Diskussion zeigt, möchte ich dies kurz verdeutlichen. Einerseits fordert sie zur Anerkennung der Differenz in Gleichheit auf: »Gleichheit an Wohlbefinden auf dem Gebiet des Geschlechts und der Sexualität [kann] nur über gleichwertige Rechte geschützt werden, die unsere Differenz als geschlechtliche Wesen anerkennen und die gleichzeitig die auferlegten sexuellen Entscheidungen unserer derzeitigen Gender-Hierarchie aufbrechen und ihnen die Legitimation entziehen.« (Cornell 1995a: 101)
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Diese Kritik ist auch gegen die Vertreterinnen, die später für einen »strategischen Essentialismus« (Bunting 1996) plädierten, vorzubringen (vgl. Mıhçıyazgan 2001a: 159ff.). Auch für mein eigenes Projekt wollte ich sie im Auge behalten: Es ist wichtig, stringent einen Ansatz theoretisch und empirisch durchzuhalten. 57
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Sie setzt dabei die Geschlechterdifferenz als »Tatsache« voraus und fordert mit Irigaray das Recht der Frauen auf Mutterschaft, Schwangerschaftsabbruch sowie Sexualität. Andererseits fordert sie, die Dekonstruktion müsse in der augenblicklichen feministischen Theorie eine Rolle spielen (vgl. ebd. 83), die Prozesse der Vergeschlechtlichung seien zu »dekonstruieren«. Fraser kritisiert dies, wenn sie schreibt: »In dem Ausmaß, in dem es dieser [weiblichen] Symbolik gelingt, irgendeinen festgelegten Inhalt zu erwerben, huldigt sie der Sorte des gleichmachenden Essentialismus, der sich für eine die Klassen und Ethnien übergreifende Solidarität unter Frauen so destruktiv erwiesen hat.« (Fraser 1995b: 156)
Hier wird die Kritik am »Essentialismus« deutlich, die im Folgenden immer wieder zu finden sein wird. Zunächst gilt es festzuhalten: Wenn sich sowohl in der Position von Fraser wie in der von Cornell eine theoretische Inkonsistenz feststellen lässt, bleiben nur zwei konsistente Positionen: die von Benhabib und Butler. Der Unterschied zwischen beiden wird besonders in den Repliken der beiden aufeinander deutlich. Er besteht vor allem darin, dass Benhabib an einem normativen Universalismus festhält, weil dieser erst Kritikund Handlungsfähigkeit ermögliche (Benhabib 1995b: 117), während Butler dies grundlegend infrage stellt: Die Konstruktion des Subjekts als Träger eines emanzipatorischen Potentials setze die Handlungsfähigkeit voraus, die es innerhalb der komplexen Beziehung von Macht, Diskurs und Praxis gerade zu erklären gelte (SD 127). Die Rede von der Handlungsfähigkeit sei bereits Teil des Diskurses, der »durchzuarbeiten« sei: Es sei unmöglich, »außerhalb der diskursiven Gepflogenheiten zu stehen, durch die ›wir‹ konstituiert sind; alles, was wir tun können, ist, eben diese Gepflogenheiten, die uns bedingen, durchzuarbeiten« (ebd. 126). »Kritik« ist für Butler dem Diskurs-/Machtsystem immanent, die Praxis der Kritik sei in eben diese Machtbeziehungen einbezogen (vgl. ebd. 130). Das heißt, Butler leugnet nicht die Notwendigkeit normativer Urteile für das politische Handeln, aber umso deutlicher plädiert sie für einen Neuansatz in der Theorie: »Es ist klar, dass man normative Urteile fällen muss, um politische Ziele zu setzen. Meiner Arbeit geht es in gewisser Weise darum, die Grausamkeiten, durch die Subjekte produziert und differenziert werden, zu entlarven und zu verbessern. Ich räume ein, dass das nicht das einzige Ziel ist und dass es Fragen sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit gibt, in denen es nicht primär um Subjektbildung geht. Zu diesem Zweck ist es entscheidend, den Bereich der Machtbeziehungen neu zu denken, und einen Weg zu entwickeln, um politische Normen in Anschlag zu bringen, ohne zu vergessen, dass ein solches In58
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Anschlag-Bringen immer auch ein Ringen um die Macht sein wird.« (Ebd. 131f)
Dies formuliert sie in Antwort auf Benhabibs Aussage, »dass wir also nur vor dem Hintergrund einer liberalen Gesellschaft und Kultur […] für die Ziele des gegenwärtigen Feminismus argumentieren und kämpfen können« und »den Ast nicht absägen [sollten], auf dem wir sitzen«. Ein normativer Universalismus sei ohne irgendeine Art von Essentialismus oder Transzendentalismus philosophisch kaum plausibel (vgl. Benhabib 1995b: 117). Benhabib hielt also einen »Rest« an Essentialismus für notwendig, während Butler dies ablehnte. An diesen programmatischen Sätzen wird deutlich, dass Butlers Ansatz über den von Benhabib (und Habermas) hinausgeht: Nicht das Subjekt, sondern der Diskurs als Machtsystem solle im Zentrum der Analyse stehen, denn der Diskurs über das Subjekt beginne und begrenze die Möglichkeit, überhaupt als Subjekt in Erscheinung zu treten: »Der Diskurs über Subjekte […] ist für die gelebte und aktuelle Erfahrung eines solchen Subjekts konstitutiv, weil ein solcher Diskurs nicht nur über Subjekte berichtet, sondern die Möglichkeiten artikuliert, in denen Subjekte Intelligibilität erreichen, und das heißt, in denen sie überhaupt zum Vorschein kommen.« (SD 132, Anm. 2, Hervorh. im Original)
Hier zeigt sich außerdem, dass, wie ich oben bereits anhand von Foucaults Ausführungen aufgezeigt habe, auch für Butler die Erfahrung des Subjekts durch den Diskurs vorgegeben und begrenzt ist. Damit lässt sie das für das feministische Projekt zunächst so wichtige Argument der (authentischen) weiblichen Erfahrung unwirksam werden: Wenn der Diskurs darüber entscheidet, welche Erfahrungen das Subjekt überhaupt machen kann, ist es kaum noch möglich zu behaupten, die Erfahrungen der Frauen, ihre Lebenswirklichkeit seien in den Theorien zu berücksichtigen.9 Aber ist es dann überhaupt noch möglich, das Unrecht, dass Frauen nicht in derselben Weise der Subjekt-Status zuerkannt wird wie Männern, anzuprangern? Macht eine feministische Theorie dann überhaupt noch Sinn? Dass Butler zu diesem Zeitpunkt das feministische Subjekt grundlegend infrage stellte, erschien Benhabib und anderen Feministinnen geradezu als defätistisch.10 Doch offensichtlich war die Zeit 9
Damit wurde im Grunde auch das Anliegen der »Third World Women«, ihre unterschiedlichen Erfahrungen der Unterdrückung und des Rassismus in die feministische Theoriebildung einzubringen, diskreditiert. 10 In einer Anmerkung verweist Benhabib auf Rosi Braidottis Aussage, es sei paradox, den Begriff des Subjekts in dem geschichtlichen Augenblick ab59
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reif für eine derartige Kritik, denn die feministischen Bestimmungen des Weiblichen waren genauso wenig frei von essentialistischen oder biologistischen Annahmen wie die bisher kritisierte männliche Zuschreibungspraxis. Der Unterschied zwischen feministischer Selbstzuschreibung und männlicher Fremdzuschreibung bestand einzig in der Bewertung (vgl. Trettin 1994: 210). Durch Butlers Kritik wurde die Zirkularität deutlich, »in welcher die feministische Argumentation sich verfängt, wenn sie das Geschlecht zwar als soziale und kulturelle Konstruktion begreift, zugleich aber auch eine naturalistische Position beansprucht« (vgl. ebd. 220). Dieser Naturalismus oder Essentialismus wurde allzu leicht übersehen, weil der Begriff gender immer schon dazu diente, nicht auf die »natürliche«, sondern auf die soziale, d.h. von Menschen geschaffene Bedeutung von Geschlecht zu verweisen. Umso wichtiger war es nun, den Körper bzw. die Konstruktion des Körpers zu diskutieren. So meldeten sich nach der (deutschen) Veröffentlichung des »Streit um Differenz« viele Feministinnen zu Wort, um gegen oder mithilfe der Thesen Butlers das politische Projekt des Feminismus zu verteidigen oder/und auf eine neue Basis zu stellen.
Der Körper als »Essenz«? Wie aufgezeigt, hatte Butler in Gender Trouble bereits angedeutet, sie wolle die feministischen Forscherinnen »von der Illusion eines wahren Körpers befreien« (GT 141). Im »Streit um Differenz« hatte sie auf die Kritik, sie würde den Körpern keine Realität mehr zuerkennen können, geantwortet, diese missverstehe den kritischen Punkt (vgl. SD 51). Die Optionen der Theorie seien nicht dadurch erschöpft, dass man die Materialität entweder voraussetze oder verneine. Es sei vielmehr angebracht, die Produktion der Körper im Diskurs nachzuzeichnen (ebd. 52). Dadurch werde eine »Dekonstruktion der Materialität von Körpern« möglich, und diese Dekonstruktion suspendiere und problematisiere den traditionellen ontologischen Referenten dieses Begriffs. Der Begriff des »biologischen Geschlechts« (sex) zwinge den Körpern einen Dualismus und eine Uniformität auf, die dazu diene, die Nachkommen zeugende Sexualität als das Gebot der Triebe aufrechtzuerhalten« (ebd. 53). Diese Art der Kategorisierung sei gewaltsam und diese »diskursive Anordnung und Produktion von Körpern« stelle selbst eine materielle Gewalt dar:
zuweisen, in dem Frauen Zugang zum Status des Subjekts erhalten (vgl. 1995: 29). 60
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
»Die Gewalt des Buchstabens, die Gewalt der Markierung, die festlegt, was Bedeutung hat oder nicht, was im Intelligiblen eingeschlossen ist und was nicht, erhält genau dann eine politische Bedeutung, wenn der Buchstabe zugleich das Gesetz oder die autoritative Gesetzgebung ist, die festschreibt, was als Materialität des Geschlechts gilt und was nicht.« (Ebd.)
Das heißt, Butler sieht sehr wohl die Schwierigkeit, das am Körper abzulesende Geschlecht nicht für selbstverständlich zu halten – irgendwie dränge sich der Gedanke der Natürlichkeit immer wieder auf – aber dies sei, so Butler, noch ein Effekt des Spiels der Macht. Nun fällt es schwer, Butler so weit in ihrer Argumentation zu folgen. Es mag sein, dass es zur Konstruktion des Geschlechts gehört, dass es als völlig natürlich erscheint. Wenn aber angenommen wird, dass im Bezeichnungsakt der Körper selbst produziert wird, und zwar auf eine Weise, dass er selbst als aller und jeder Bezeichnung vorgängig erscheint, macht es dann überhaupt noch Sinn, den Körper als Konstruktion zu betrachten? Von welchem nicht-konstruierten Punkt aus könnten wir dann noch den Körper bzw. die Konstruktionen des Körpers betrachten? Ist der Körper nicht mehr als ein diskursiver Effekt? Zeigt sich hier nicht eine »Entkörperungstendenz« (Duden 1993)? Wird hier nicht die materielle Basis der Existenz des Menschen ignoriert? War hier nicht wieder eine Tendenz der »Entleiblichung«, die Beauvoir bereits am maskulinen Erkenntnissubjekt kritisiert und auf die Butler selbst als berechtigte Kritik hingewiesen hatte (vgl. GT 30), zu erkennen? Und war es nicht notwendig, an der letztlich am Körper abzulesenden Differenz festzuhalten, schon um das Bemühen der Differenztheoretikerinnen nicht als vollends vergeblich erscheinen zu lassen? Aufgrund dieser und ähnlicher Fragen versuchten viele Forscherinnen, gegen Butler die Differenz zu verteidigen, indem sie auf die Grenzwerte für die Konstruktion des Körpers hinwiesen. Hier war das »anthropologische« Argument wichtig: Die Zweigeschlechtlichkeit sei als eine Konstante zu betrachten, auf die in keiner (kulturellen) Konstruktion verzichtet werden könne, weil sie für die Reproduktion der Gattung wichtig sei. Wie Gebürtlichkeit und Sterblichkeit sei auch Generativität als anthropologische Konstante zu betrachten, denn nur sie sichere das Überleben. Die Systemerhaltung sei notwendig, damit Anfang und Ende des Einzelwesens nicht Anfang und Ende der Gattung bedeuteten. Für die Systemerhaltung aber seien zwei »Beiträgersubstanzen« notwendig, denn die Gattung reproduziere sich nicht durch Parthenogenese. »Selbst bei einer maximalen Marginalisierung von generativen Prozessen (etwa durch Retortenbabies) müssen noch die dazu notwendigen ›Beiträgersubstanzen‹ unterschieden werden – und das sind dann die Geschlechtskategorien.« 61
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
(Landweer 1994: 154) Zwar sei eine Amplifikation der Geschlechter prinzipiell und empirisch möglich, eine Reduktion auf eine Kategorie aber nicht. Das heißt: Eine Vereinfachung wurde nicht grundsätzlich ausgeschlossen – der Körper sollte schon auch als Konstruktion, nicht nur als »Tatsache« betrachtet werden – aber das vollständige Ignorieren der körperlichen (und damit der zweigeschlechtlichen) »Substanz« oder »Essenz« des Subjekts sei, so argumentierten viele, nicht möglich. Allerdings wurde auf die materielle Basis der Konstruktionen nur noch in sehr vorsichtigen Formulierungen hingewiesen: Es sei irgendwie ein »leiblicher Resonanzboden« anzunehmen (ebd. 152) – »Resonanzboden« ist eine Metapher, die auf den Klangkörper des Musikinstruments verweist – oder der Körper sei »Zeichenmaterie« (Lindemann 1995: 129), ein Ausdruck, in dem der linguistische Zeichenbegriff mit »Materie« versöhnt werden soll.11 Insofern lässt sich festhalten: Der konstruktivistische Ansatz wurde von den meisten Feministinnen akzeptiert, aber es ging ihnen um die Formulierung von Bedingungen, die die Konstruktion des Geschlechts begrenzen. Auf diese Weise einen »Rest« an Essentialismus anzunehmen, ist, wie ich weiter unten aufzeigen werde, in einem konstruktivistischen Ansatz nicht möglich. Außerdem erweist sich dies insofern als problematisch, als Butler gerade aufzeigt, dass Argumente wie »Erhaltung der Gattung« oder »Generativität« im Diskurs eine ähnliche Funktion erfüllen wie die »alten« »Natur«-Argumente. Wenn »Mann« und »Frau« keine beschreibenden Kategorien sind, sondern die »Intelligibilität der Materialität von Körpern« regulieren (GT 53), dann können sie nicht mehr als beschreibende Kategorien eingesetzt werden. In Körper von Gewicht (1997) [Bodies that matter 1993] hat Butler ihre Argumente nochmals präzisiert: »Natur« werde als eine passive Oberfläche konzipiert (KvG 24), obwohl Natur doch selbst eine soziale Konstruktion des Natürlichen voraussetze. Das biologische Geschlecht sei also nicht der Konstruktion vorgängig, sondern selbst eine Konstruktion. Konstruiertheit und Materialität seien keine gegensätzlichen Begriffe (ebd. 54), sondern Materialität sei selbst etwas Konstruiertes. Die Analyse dürfe kein »Außen« der Sprache schaffen, vielmehr sei Sprache die Bedingung, unter der Materialität auftrete (ebd. 57). Solange behauptet werde, die Körper von Mann und Frau seien verschieden, sei eine Analyse der Machtpraktiken und eine »Mobilisierung des Signifikanten für eine anders geartete Produktion« (vgl. Butler SD 53) nicht
11 Ich selbst habe in meiner Projektskizze den Körper »als die sichtbare, letztendliche Instanz für die Konstruktion des Geschlechts« bezeichnet (vgl. oben Kap. Projektidee). 62
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
möglich. Um also die systematische Benachteiligung von Frauen nicht fortzuschreiben, sei jede Art von »Essentialismus« aufzugeben. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass diese Kritik auf meine Forschungsfrage zu beziehen ist: Wenn ich voraussetze, dass es Frauen und Männer gibt, nehme ich ein Außen der Sprache an, wodurch die Analyse der Machtpraktiken, die die Geschlechterhierarchie hervorbringen und aufrechterhalten, verhindert wird. Um diese grundlegende Kritik an meinem Projekt auszuräumen, erschien mir Andrea Maihofers Vorschlag, »Geschlecht als Existenzweise« zu betrachten, als hilfreich, denn sie betrachtet die Geschlechterdifferenz als »Element des Diskurses«: »Die Geschlechterdifferenz ist ein zentrales Element des modernen heterosexuellen Geschlechterdiskurses.« (1995: 99) Sie kann gegen Butlers Essentialismus-Kritik die differenztheoretische Position verteidigen, denn sie verzichtet auf die biologistische (essentialistische) Bestimmung von Geschlecht. Dabei nimmt sie Butlers Gedanken, dass das Subjekt sich im Diskurs (als Geschlecht) artikulieren müsse, um überhaupt zum Vorschein zu kommen, auf: Um sich als soziales Wesen zu artikulieren, habe jede/r Einzelne eine mehr oder weniger »eindeutige – entweder ›weibliche‹ oder ›männliche‹ – heterosexuelle Geschlechtsidentität in Übereinstimmung mit dem so genannten ›realen‹ Körper« zu entwickeln (ebd. 106). Den Geschlechtsidentitäten »Mann« und »Frau« seien jeweils »andere (nicht aufeinander reduzierbare) Denk-, Gefühlsund Erlebnispraxen« zugeordnet. Zwar sei noch in einer zu begründenden Theorie der Geschlechterdifferenz das Verhältnis zwischen individueller Einzigartigkeit und gesellschaftlich hegemonialen Denk-, Gefühls- und Körperpraxen zu präzisieren (ebd. 107), aber auf diese Weise sei »sowohl das Imaginäre der Realität des Geschlechts als auch die spezifische ›Materialität und Realität‹ des Imaginären des Geschlechts erfasst, ohne dass Geschlecht in Wahrheit nur das eine oder das andere bzw. beides dasselbe wäre« (vgl. ebd. 108). Später wird sich allerdings zeigen, dass ihr »pragmatischer Theorie-Ansatz« kaum weiterführt (vgl. Kap. Diskurstheorie und -analyse).
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Der Streit um agency und das Subjekt In der Diskussion um die Annahme einer »Essenz« oder Materialität des Körpers wurde – nicht zuletzt durch Butlers zweite Veröffentlichung Bodies that matter – ein für die weitere Diskussion (wie auch für mein Projekt) wichtiger Aspekt des »Streits um Differenz« zunächst wenig beachtet: der Streit um agency, die Handlungsfähigkeit des Subjekts.12 Dabei ging es um eine andere Art von »Essentialismus«, nämlich um die »Essenz« des Subjekts. Butler hatte den Begriff der Handlungsfähigkeit kritisiert, weil dieser sich nur durch den Rückgriff auf ein vordiskursives Ich begründen ließe, ein solches Ich aber nicht vorausgesetzt werden könne. Benhabib hatte darauf geantwortet, Butlers Theorie der Performanz greife zu kurz (SD 109), auch diese habe noch eine normative Sicht der Handlungsfähigkeit (ebd. 110), auch sie müsse die »Fähigkeit der Handlungsfähigkeit und Umdeutung, die sie Individuen zuschreiben will, begründen« (ebd.). Auf diese Kritik reagierte Butler wiederum, indem sie »Für ein sorgfältiges Lesen« – so die Überschrift ihrer Replik – plädierte. Benhabib habe sie nicht richtig verstanden, denn sie reduziere ihre Theorie der Performativität auf ein behavioristisches Modell (SD 123). Sie, Butler, betrachte eine performative Äußerung dagegen als »eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede« unterstreiche (ebd. 124). Butler insistierte also darauf, dass ihr Performanz-Begriff nicht im Zusammenhang mit einer Intention, mit einem willentlichen, absichtsvollen Akt des Subjekts zu deuten sei: »Wenn Wörter zu Handlungen führen oder selbst eine Art Handlung sind, dann nicht deshalb, weil sie die Absichts- oder Willenskraft eines Individuums widerspiegeln, sondern weil sie sich aus Konventionen herleiten und diese wieder in Szene setzen. […] Die Kategorie der ›Intention‹, der Begriff des ›Täters‹ wird seinen Platz haben, aber dieser Platz wird nicht länger ›hinter‹ der Tat als die sie speisende Quelle sein.« (Ebd.)
Das »Ich« sei weder völlig von der Sprache bestimmt noch völlig frei, Sprache als äußeres Medium zu instrumentalisieren: 12 Zu jener Zeit war mir der Streit um die Essenz des Körpers so wichtig, weil er, so meinte ich, direkt mein eigenes Projekt, in dem ich die Geschlechterdifferenz unter dem Aspekt der Konstruktion des Körpers untersuchen wollte, beträfe. Wie ich später erkannte, ist aber die Art und Weise, in der dem Subjekt Handlungs- (und Konstruktions-)fähigkeiten zugeschrieben werden, für die Analyse meiner Interviewdaten wichtiger als die Annahme eines Körpers als Essenz. 64
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
»Die ›Fähigkeit‹ der Handlung findet sich genau an solchen Schnittpunkten, wo der Diskurs sich erneuert. Dass ein ›Ich‹ durch das Hersagen des anonymen sprachlichen Ortes des ›Ich‹ (Benveniste) begründet wird, beinhaltet, dass das Zitat nicht von einem Subjekt ausgeführt wird, sondern eher eine Anrufung ist, durch die ein Subjekt in sein sprachliches Sein kommt. Dass dies ein wiederholter Prozess ist, ein wiederholbares Verfahren, ist genau die Bedingung dessen, was Handlungsfähigkeit heißt innerhalb eines Diskurses.« (Ebd. 125)
An dieser Stelle ist auf einen für meine methodologischen Überlegungen wichtigen Unterschied hinzuweisen: Die Handlungsfähigkeit, wie Benhabib sie vorstellt, hat ein »Ich«, das eine Substanz und eine Essenz hat, zur Voraussetzung. Zwar spricht auch Butler von der »Handlungsfähigkeit« im Diskurs, aber damit meint sie im Grunde nicht die Kompetenz des Subjekts, sondern den Rahmen seiner Handlungsmöglichkeit. Wenn sie davon ausgeht, dass ein »Ich« erst dann zum Ich wird, wenn es eine Subjektposition im Diskurs einnimmt, ist in ihrem Ansatz das Ich außerhalb des Diskurses nicht existent und sozusagen ohne Substanz oder Essenz. Daran zeigt sich, dass die Essentialismus-Kritik sich nicht nur auf den Körper, sondern auch und vor allem auf das Subjekt, auf die Konstitution des Subjekts im theoretischen Ansatz bezieht. Es wird auch deutlich, dass Frasers Forderung, Feministinnen müssten eine Konzeptualisierung des Subjekts entwickeln, die »Butlers poststrukturalistischen Nachdruck auf Konstruktionen mit Benhabibs kritisch-theoretischer Betonung von Kritik in Einklang bringt« (SD 73), zwangsläufig zu theoretischer Inkonsistenz führt. Beide Ansätze sind nicht zu verbinden, weil ihnen unterschiedliche Vorstellungen vom Subjekt, die sich gar gegenseitig ausschließen, zugrunde liegen.
Zusammenfassung und Schlussfolgerung Damit ist die Prüfung der Annahme der Geschlechterdifferenz zusammenzufassen und auf die Schlussfolgerungen für mein empirisches Projekt hinzuweisen. Um zu prüfen, inwieweit meine Forschungsfrage durch Butlers Gender Trouble bestätigt würde, habe ich ihre Veröffentlichung im Kontext der Gender Studies betrachtet und zunächst die sex/gender-Unterscheidung (und die Umstellung von der Frauenforschung zu den Gender Studies) dargestellt. Das Gender-Konzept half, die Pluralität des »Frau-Sein« zu erklären. Obwohl von den »women of colour« und »Third World Women« kritisiert wurde, dass ihre Erfahrungen von Unterdrückung nicht hinlänglich erfasst würden, wurde an einem einheitlichen feministischen Subjekt »Frau« festgehalten, zumal 65
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Irigaray (und andere) gerade erst für den Term »Frau« den Subjektstatus in der Theorie (Philosophie) reklamiert hatten. Daran anknüpfend hatte sich eine Diskussion um Frauenrechte entwickelt. Durch Butlers grundsätzliche Kritik an der feministischen Theoriebildung wurde das feministische Projekt in Frage gestellt, denn ihre Kritik an der binären Codierung »Mann vs. Frau« und mehr noch: an der Voraussetzung eines »realen« Körpers, an dem das Geschlecht einer Person abzulesen sei, wurde als Angriff auf das feministische Projekt insgesamt gesehen. Im »Streit um Differenz« wurde schließlich um die Eckpunkte einer feministischen Theorie gerungen. Dabei ging es um die Annahme eines geschlechtlichen Körpers und agency. Während Benhabib auf der Handlungs- und Kritikfähigkeit des Subjekts insistierte, plädierte Butler für einen entessentialisierenden Ansatz: Das Subjekt sei als Effekt des Diskurses zu betrachten, seine Handlungsfähigkeit könne nicht vorausgesetzt werden. Als Butler, die vor allem wegen der »Entleiblichungstendenz« in ihrem Ansatz kritisiert wurde, in Körper von Gewicht ihre Kritik präzisierte, wurde deutlich, dass die Annahme der Geschlechterdifferenz weder mit biologistischen noch mit anthropologischen Argumenten zu begründen ist. Für mein eigenes Projekt bedeutete dies, dass ich in meiner Untersuchung nicht mehr voraussetzen konnte, dass es Frauen und Männer »gibt«. Dies erwies sich als grundsätzliche Infragestellung. Offensichtlich war meine Forschungsfrage beim gegenwärtigen Stand der Diskussion in den Gender Studies nicht sinnvoll, denn eine empirische Untersuchung zu den kulturellen Differenzen der Geschlechterdifferenz schien die Essentialismus-Kritik geradezu anzuziehen. Doch nicht zuletzt aufgrund der langen Vorgeschichte meiner Projektidee gab ich so schnell nicht auf, zumal ich noch die Hoffnung hatte, mit Maihofers Ansatz zu einer Neubegründung der Annahme der Geschlechterdifferenz zu gelangen. Hier sei noch erwähnt, dass ich geprüft habe, ob auch meine empirische Frage, die Interviewfrage nach dem Irrtum im Geschlecht einer Person, von dieser Kritik betroffen war, und zu folgendem Ergebnis gekommen bin: Die Geschlechterdifferenz wird in der Forschungsfrage und in der Interviewfrage auf unterschiedliche Weise vorausgesetzt. In der Forschungsfrage ist die Unterscheidung der sprechenden Subjekte, d.h. der Interviewten, die die Darstellungen der Wahrnehmung (des Körpers) einer anderen Person geben, zu finden. Diese Unterscheidung ist nicht zu halten. Wenn nicht vorausgesetzt werden kann, dass es Frauen und Männer »gibt«, kann ich nicht davon ausgehen, dass die Interviewten Frauen und Männer »sind«. In der Interviewfrage nach dem Irrtum im 66
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Geschlecht einer Person wird zwar ebenfalls die Geschlechterdifferenz vorausgesetzt. Hier bezieht sich die Annahme jedoch auf die Sicherheit der alltäglichen Unterscheidung. Diese Unterscheidung ist durch die Essentialismus-Kritik Butlers nicht berührt, denn dass im Alltag zwischen Frauen und Männern unterschieden wird, stellt auch Butler nicht in Frage. Und solange im Alltag zwischen Frauen und Männern unterschieden wird, ist es möglich und sinnvoll, empirisch zu untersuchen, wie die Sicherheit der alltäglichen Unterscheidung für einen kurzen Moment in Unsicherheit umschlägt. Kürzer formuliert: Es ist problematisch vorauszusetzen, dass diejenigen, die in Antwort auf die Interviewfrage darstellen, wie sie sich im Geschlecht einer Person geirrt haben, »Frauen« und »Männer« »sind«. Um dafür Sorge zu tragen, dass die Geschlechterdifferenz nicht länger als Tatsache vorausgesetzt würde, müsste ich nun für die empirische Analyse einen ausgearbeiteten Ansatz finden, in dem die Geschlechterdifferenz als »Konstruktion« betrachtet wird. Da ich nicht sicher war, ob ich mit Maihofers Vorschlag, »Geschlecht« als eine »historisch bestimmte Denk-, Gefühls- und Körperpraxis« zu betrachten (1995: 18), zu einer theoretischen Neubegründung meiner Forschungsfrage gelangen könnte, habe ich eine weitere Lösungsmöglichkeit in Bourdieus Ansatz gesehen. In einem Exkurs möchte ich aufzeigen, warum dieser keine Lösung für das Problem der Annahme der Geschlechterdifferenz bietet, auch wenn er immer wieder vorgeschlagen wird.13
Exkurs: Eine Lösung über das Habitus-Konzept? In dem 1997 erschienenen Aufsatz Die männliche Herrschaft erklärt auch Pierre Bourdieu die Geschlechterdifferenz »konstruktivistisch«. Das heißt: Wie viele Feministinnen geht auch er davon aus, dass die Geschlechterdifferenz nicht in der »Natur der Dinge« liegt, wie an folgender Aussage deutlich wird: In der natürlichen Einstellung oder der doxischen Erfahrung erscheine sie nur als solche, denn diese »fasst die soziale Welt und ihre willkürlichen Einteilungen, angefangen bei der gesellschaftlich konstruierten Einteilung der Geschlechter, als natürlich gegeben, evident und unabwendbar auf« (1997: 159). Außerdem nimmt er offensichtlich Bezug auf die Diskussion um »Essentialismus« und class and race in den Gender Studies, wenn er schreibt:
13 Wie ich weiter unten ausführen werde, wird er auch von EthnologInnen vorgeschlagen. Auch in der interkulturellen Philosophie (vgl. Mohanty 1998: 234ff.) und der interkulturellen Pädagogik (z.B. Gogolin 1997) ist er zu finden. 67
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»Der Sexismus ist ein Essentialismus: wie der ethnische oder der Klassenrassismus will er geschichtlich instituierte gesellschaftliche Unterschiede einer biologischen Natur zurechnen, die als eine Essenz fungiert, aus der unerbittlich alle Daseinsakte sich ableiten. Und unter allen Formen von Essentialismus ist er vermutlich am schwersten zu überwinden.« (Ebd. 169)
Auch wenn er den Körper als die »leibhaftige Stütze der Naturalisierungsarbeit« bezeichnet, scheint er ähnlich wie Butler zu argumentieren: »Die Definition des Körpers selbst, der leibhaftigen Stütze der Naturalisierungsarbeit, ist, vor allem was die sexuelle Dimension betrifft, in der Tat das Produkt einer umfassenden gesellschaftlichen Konstruktionsarbeit.« (Ebd. 175) So war ich zunächst einigermaßen sicher, dass mithilfe des Bourdieuschen Ansatzes eine »entessentialisierende« Analyse möglich sei. Mehr noch: Ich sah bereits Möglichkeiten, wie ich mithilfe seines Habitus-Konzepts die Analyse der Antworten auf meine Interviewfrage vornehmen könnte, denn er schreibt: »Der männliche und der weibliche Körper, und ganz speziell die Geschlechtsorgane, die, weil sie den Geschlechtsunterschied verdichten, prädestiniert sind, ihn zu symbolisieren, werden gemäß den praktischen Schemata des Habitus wahrgenommen und konstruiert.« (Ebd. 174) Wenn der männliche oder weibliche Körper »gemäß den praktischen Schemata des Habitus« wahrgenommen wird, müsste sich dies, so folgerte ich, auch in den mir vorliegenden Darstellungen eines Irrtums im Geschlecht einer Person abzeichnen: Nicht weil die sprechenden Subjekte Frauen und Männer »sind«, sondern weil sie durch unterschiedliche Habitusformen geprägt sind und nach diesen die Körper wahrnehmen und konstruieren, müssten sich Unterschiede in den Darstellungen finden lassen. Als ich daraufhin sein Habitus-Konzept genauer betrachtete, kamen mir jedoch Zweifel. Das Habitus-Konzept ist sozusagen zweiseitig: Einerseits wird das Handeln der Individuen durch den Habitus, andererseits wird der Habitus durch das Handeln der Individuen strukturiert. Mithilfe dieses Konzepts erklärt Bourdieu vor allem die soziale Differenzierung. Der Habitus ist differenziert in verschiedene Habitusformen, demzufolge verfährt er selektiv: Indem er aus dem Wissensvorrat das schöpft, was in der Situation angemessen ist, reproduziert er die Struktur, die ihn geformt hat. Die Erklärungskraft dieses Konzepts hat er vor allem in Die feinen Unterschiede (1982) überzeugend nachgewiesen. Nun bezieht er es auf die Geschlechterdifferenz: »Der Habitus erzeugt gesellschaftlich vergeschlechtlichte Konstruktionen der Welt und des Körpers, die zwar keine geistigen Repräsentationen, doch darum nicht weniger aktiv sind.« (1997: 167) Deutlich ist zu erkennen, dass er sich auf die soziale Konstruktion der Wirklichkeit und des Körpers bezieht. Die »Konstruktion 68
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des Körpers« werde in der »permanenten Bildungsarbeit« (also Sozialisation) geformt, dabei präge die soziale Welt ein »Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsprogramm« ein, »ein Programm, das […] wie eine (zweite, kultivierte) Natur funktioniert.« (Ebd. 168) Damit versucht er auch, die Geschlechterhierarchie, die nach seiner Auffassung nur schwer zu überwinden sei, zu erklären: »Einmal, weil diese Dinge Angelegenheiten nicht des Bewusstseins, sondern des Körpers sind und die Körper die Sprache des Bewusstseins nicht immer und in keinem Fall schnell verstehen. Und dann auch deshalb, weil es nicht leicht ist, die Kette der kontinuierlichen unbewussten Lernvorgänge zu zerbrechen, die von Körper zu Körper und mit ihren eigentlichen Sinn verdeckenden Worten in der oft sich selber dunklen Beziehung zwischen den aufeinander folgenden Generationen verlaufen.« (Ebd. 215)
Das heißt: Obwohl er die Körper nicht als geschlechtlich differente voraussetzt, sondern als vergeschlechtlichte betrachtet, sieht er kaum Möglichkeiten zur Veränderung. Dies erklärt vielleicht, warum sein Ansatz bislang in der feministischen Forschung auf wenig Resonanz gestoßen ist (Dölling/Frais 1997: 9). Möglich ist aber auch eine andere Erklärung: Obwohl Bourdieu sich sehr deutlich auf die feministische Diskussion bezieht und allem Anschein nach Butlers Kritiken kennt, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sein Ansatz »essentialistisch« ist, denn er setzt noch einen realen Körper voraus. Dies ist an folgender Aussage, die ich oben nur unvollständig zitiert habe, abzulesen: »Durch eine permanente Formierungs-, eine Bildungsarbeit, konstruiert die soziale Welt den Körper als vergeschlechtlichte Wirklichkeit und in eins als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, die wiederum auf den Körper in seiner biologischen Realität angewendet werden.« (1997: 167)
Wenn der Körper »in seiner biologischen Realität« betrachtet und als »Speicher« bezeichnet wird, wird er als »Tatsache« vorausgesetzt. Er wird sozusagen als die Hardware, in die die Software eingeschrieben wird, betrachtet.14 Die Programme, die Software, sind die Habitusformen, die in den (realen) Körper eingeschrieben werden. Daraus folgt: In diesem Ansatz wird der Körper als außerdiskursive Tatsache vorausgesetzt. Ausdrücklich möchte ich anmerken, dass dies kein Zufall und keine Unachtsamkeit Bourdieus ist, die es zu korrigieren gelte, sondern dass er absichtsvoll außerdiskursive Tatsachen annimmt. Dies zeigt sich 14 Dies ist ein Vergleich, den Lyotard wählt (vgl. 1988: 819). 69
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an seinem Konzept von Sprache. Er räumt der Sprache einen bevorzugten Status ein. In Was heißt sprechen? erklärt er, dass Sprache als »Spezialfall einer symbolischen Herrschaft« zu betrachten sei, aber »ihre Autorität von außen« bekomme (1990: 13). Er kritisiert gar die Ansätze, in denen Bedeutung und Wirkung des Wortes ausschließlich als im Diskurs hervorgebrachte Effekte betrachtet werden. Dies hält er für einen »Irrtum«: Sprache repräsentiere Autorität, habe sie nicht in sich selbst (vgl. ebd. 73ff.).15 Und damit lehnt er im Grunde Butlers radikale Essentialismus-Kritik ab. Für weitere Überlegungen ist es wichtig darauf zu achten, ob von »Einschreibungsprozessen in den Körper« die Rede ist, wie bei Bourdieu, oder von »Einschreibungsprozessen in den Diskurs«, wie bei Butler.16 Allgemeiner lässt sich formulieren, dass nicht in allen Ansätzen, in denen »konstruktivistisch« argumentiert wird, auf die Annahme eines »Außen« der Sprache verzichtet wird. Außerdem lässt sich nun vermuten, dass Maihofer, wenn sie von »Denk-, Gefühls- und Handlungspraxis« spricht, einen »Praxis«-Begriff verwendet, der eher an Bourdieus Habitus-Konzept als an Butlers Konzept der Performativität orientiert ist. Es könnte auch sein, dass sie, wenn sie die Geschlechterdifferenz als »Element des westlichen Diskurses« definiert, nicht Butlers und Foucaults, sondern Bourdieus Diskursbegriff verwendet. Damit zeigte sich deutlich ein Problem: Wenn ich meine Annahme der Geschlechterdifferenz weder mit Maihofers noch mit Bourdieus Ansatz begründen (folglich für die Analyse meiner Daten auch nicht mit Bourdieus Habitus-Konzept arbeiten) könnte, mit welchem »konstruktivistischen« Ansatz könnte ich dann arbeiten? Bevor ich darstelle, wie ich dieser Frage weiter nachgegangen bin, ist die Prüfung der zweiten in meiner Forschungsfrage enthaltenen Annahme, die Annahme der kulturellen Differenz, darzustellen.
15 Auch bei ihm ist also ähnlich wie bei Benhabib das Argument, nicht alles werde im Diskurs hervorgebracht, zu finden. 16 Hier ist darauf hinzuweisen, dass im »Streit um Differenz« die Unterschiede zwischen den Diskurs-Begriffen von Benhabib bzw. Habermas und Butler bzw. Foucault nicht diskutiert wurden. Allgemeiner ist zu kritisieren, dass der Diskurs-Begriff zu undifferenziert verwendet wird. 70
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D i e An n a h m e d e r k u l t u r e l l e n D i f f e r e n z Nachdem sich gezeigt hat, dass die Geschlechterdifferenz nicht in der Natur der Sache liegt, scheint auch die Annahme der kulturellen Differenz hinfällig zu sein: Wenn nicht einmal die so offensichtliche geschlechtliche Differenz der Körper zum Ausgangspunkt der Überlegungen genommen werden kann, ist es erst recht nicht möglich, die kulturelle Differenz als quasi natürliche Tatsache vorauszusetzen. Kultur meinte, solange Natur das »Rohe« war, immer schon das »Gekochte« (vgl. Butler GT 67). Wenn aber Natur bereits das Gekochte, eine kulturelle Konstruktion ist, ist Kultur das doppelt Gekochte, denn der Begriff »Kultur« bezeichnet immer schon etwas von Menschen Hervorgebrachtes.17 Insofern scheint der Kultur-Begriff einerseits besonders geeignet, auf die Unterschiede im »Gekochten« zu verweisen, andererseits ist er problematisch, weil er zu einer Doppelung des Konstruktionsgedankens führt. Ist es dann noch gerechtfertigt vorauszusetzen, dass es Kultur bzw. kulturelle Differenzen »gibt«?18 Bevor ich aufzeige, dass insbesondere feministische Soziologinnen und Ethnologinnen nach Butlers Gender Trouble die EssentialismusKritik auf das Kulturkonzept bezogen haben, möchte ich darauf hinweisen, dass der Kultur-Begriff inzwischen nicht nur in der politischen, sondern auch in der wissenschaftlichen Diskussion häufiger und selbstverständlicher verwendet wird als noch vor 20 Jahren. Dies lässt sich anhand der Rede vom »Dialog der Kulturen«, am Kulturbegriff in den Postcolonial Studies und nicht zuletzt anhand der Diskussion über die Universalität der Menschenrechte aufzeigen. Zur Zeit wird – möglicherweise als Antwort auf Huntingtons Kampf der Kulturen (1997) und insbesondere nach dem »11. September« – allerorts vorgeschlagen, einen »Dialog der Kulturen« zu führen. Dass es verschiedene Kulturen »gibt«, wird dabei nicht infrage gestellt. Allerdings 17 Clifford Geertz definiert »Kultur« als »selbstgesponnenes« (d.h. von Menschen gesponnenes) »Bedeutungsgewebe«. Da er in seiner Einleitung zu Dichte Beschreibung auch darauf hinweist, dass es nach Kluckhohn elf verschiedene Kulturbegriffe gibt (1997: 8f.), ist zu ergänzen, dass nicht in allen Definitionen Kultur als das »von Menschen Hervorgebrachte« betont wird. Für Butlers Kulturbegriff ist eher die Bedeutung von »Karte, Sieb oder Matrix«, die bei Kluckhohn als elfte Definition angeführt wird, anzunehmen. 18 Nicht zuletzt wurde mir in den Diskussionen der Forschungswerkstatt deutlich, dass ich nicht einerseits die Annahme der Geschlechterdifferenz aus epistemologischen Gründen aufgeben und andererseits die Annahme der kulturellen Differenz aus Nützlichkeitsgründen beibehalten könnte. 71
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werden die Möglichkeiten eines solchen Dialogs und die Aussichten, Kulturen zu verändern (und neue zu schaffen), unterschiedlich beurteilt. Hier ist zwischen spät- und postmodernen Ansätzen zu unterscheiden. Vertreter spätmoderner Ansätze wie Jürgen Habermas und Ulrich Beck schlagen einen »Dialog der Kulturen« vor, um eine »Interpretation der Menschenrechte, die der modernen Welt auch aus der Sicht anderer Kulturen gerecht wird« (Habermas 1999: 219), zu erreichen, oder »um zu einer Neubestimmung der Moderne gegen ihre historischen Borniertheiten zu gelangen« (Beck 1997: 366). Vertreter postmoderner Ansätze wie Bernhard Waldenfels und Judith Butler wiederum beurteilen die Möglichkeiten eines solchen Dialogs skeptisch. So schreibt Waldenfels: »Der imposante Gedanke eines umfassenden Dialogs, zu dem alle in gleicher Weise Zugang haben und dem alles, wenigstens auf die Dauer, in gleicher Weise zur Sprache kommen kann, gehört zu den Illusionen eines Totalitätsdenkens. Der Dialog zerteilt sich in Diskurse im Sinne Foucaults, die jeweils spezifischen Ordnungen unterliegen.« (1997: 33)
Ähnlich schreibt Butler: »Gerade der Begriff ›Dialog‹ ist kulturell spezifisch und geschichtlich gebunden. So kann ein Sprecher durchaus sicher sein, dass ein Gespräch stattfindet, während ein anderer vom Gegenteil überzeugt ist. Zunächst müssen also die Machtverhältnisse hinterfragt werden, die die Dialogmöglichkeiten bedingen und einschränken. Andernfalls droht das Dialogmodell in ein liberales Schema zurückzufallen, das voraussetzt, dass die Sprecher gleiche Machtpositionen einnehmen.« (Hs 35)
Während Habermas und Beck den Dialog für möglich und notwendig halten, sehen Waldenfels und Butler aufgrund der Machtverhältnisse kaum eine Möglichkeit, überhaupt einen Dialog zu führen. Diese gegensätzlichen Haltungen zum Dialog hängen nicht nur mit der unterschiedlichen Theoretisierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen zusammen, sie beziehen sich auch und vor allem auf die unterschiedliche Theoretisierung des Sprechens und der Sprache. Beck schreibt (wie Habermas) der Sprache eine zentrale Funktion zu. Da Sprache das Material bilde, aus dem »diejenigen Selbstverständlichkeiten gemacht seien, die sowohl das Wissen der Welt als auch das Handeln in ihr ein- und ausrichten« (1997: 377), sei eine neue Sprache zu erfinden: »Zunächst müsste die Sprache geöffnet, erfunden werden, die es erlaubt, die nationalstaatlichen Bornierungen und den Fortschrittsfatalismus der ersten
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Moderne abzustreifen und die Fragen der zweiten globalen Moderne im Dialog der Kulturen zu stellen und zu debattieren.« (Ebd. 381)
Auch bei Butler findet sich die Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse durch die Sprache, doch bei ihr geht es nicht um das »Erfinden« einer neuen Sprache, sondern um veränderte Sprechweisen, die noch niemals legitimiert wurden: »Denkt man an die Welten, die eines Tages denkbar, sagbar und lesbar werden könnten, so zeigt sich, dass sich das Gebiet des sprachlichen Überlebens nur durch ein ›anstößiges Vergehen‹ erweitern lässt, das auch die Erschließung des Verworfenen und das Sagen des Unsagbaren umfasst. Die Resignifizierung des Sprechens erfordert, dass wir neue Kontexte eröffnen, auf Weisen sprechen, die noch niemals legitimiert wurden, und damit neue und zukünftige Formen der Legitimation hervorbringen.« (Hs 65)
Sowohl Beck als auch Butler gehen davon aus, dass Veränderungen der Verhältnisse über ein verändertes Sprechen zu erreichen sind, doch während Beck dem Subjekt die Fähigkeit des Erfindens einer neuen Sprache zuschreibt, hat es für Butler nur die Möglichkeit der Resignifikation. Dies lässt sich auf den Streit zwischen Benhabib und Butler um agency beziehen und verallgemeinern: Während spätmoderne Vertreter an der Fähigkeit des Subjekts, Neues zu erfinden, ansetzen, insistieren postmoderne, insbesondere poststrukturalistische Vertreter darauf, von den (begrenzten) Möglichkeiten des Subjekts auszugehen. Dies hat Folgen für die unterschiedliche Bedeutung und Bewertung von »Kultur«: In postmodernen Ansätzen wird »Kultur« als Feld, in dem das Subjekt immer schon handelt, betrachtet. Das Subjekt kommt außerhalb des kulturellen Rahmens nicht vor. In diesem Sinne kritisiert Butler die Errichtung eines globalen und globalisierenden Subjekts, das sowohl seine eigene Verortung als auch die Bedingungen für eine lokale Intervention verschleiere (GT 217). Die Hoffnung auf eine gemeinsame Kultur in der Weltgesellschaft hat sie kaum. Diese ist jedoch bei Beck zu finden. Für ihn soll im Dialog eine neue – internationale oder globale – Kultur geschaffen werden. Allerdings zeigt sich, dass er »Kultur« in zwei Bedeutungen verwendet: Einerseits meint er damit »bornierte Tradition«, andererseits das durch Aufklärung und Dialog neu zu Erschaffende. Dass es Kulturen »gibt« und ein Dialog zwischen den Kulturen möglich ist, wird auch von den Theoretikern, die die Grenzziehung zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen kritisieren, mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt. Auch Edward Said, der neben Frantz Fanon als Begründer der Postcolonial Studies gilt und der den »Diskurs des
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DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Westens über den Orient« als »Orientalismus« beschrieben hat (erstmals 1979), stellt nicht infrage, dass es (»im Osten«) Kulturen gibt: »There were – and are – cultures and nations whose location is in the East, and their lives, histories, and customs have a brute reality obviously greater than anything that could be said about them in the West. About that fact this study of Orientalism has very little to contribute, except to acknowledge it tacitly.« (2003: 5)19
Und auch Homi Bhaba, ebenfalls ein wichtiger Vertreter der Postcolonial Studies, bringt seine Hoffnung auf eine »internationale Kultur« zum Ausdruck. Anders als für Beck ist diese für ihn jedoch keine Erfindung, sondern ein Effekt.20 Insofern ist festzuhalten, dass auch in den Postcolonial Studies »Kultur« vorausgesetzt wird, und zwar in ähnlicher Weise wie in den Cultural Studies: »Culture can be regarded as regulated maps of meaning constituted by crisscrossing discourses through which objects and practices acquire significance. Culture is a snapshot of the play of discourses within a given time and space, a map which temporarily freezes ›meaning-in motion‹.« (Barker 2000: 95)
Wie selbstverständlich Kultur weiterhin vorausgesetzt wird, zeigt sich nicht zuletzt im politisch bedeutsamen Menschenrechtsdiskurs, d.h. im Streit zwischen »Universalisten« und »Relativisten« um die universale Gültigkeit der Menschenrechte. Während die »Relativisten« den west19 Da Said häufig in der Weise missverstanden wird, dass er behaupte, es gäbe keine Kulturen, sei betont, dass Said zwar behauptet, dass »Orient« und »Occident« keine »Naturtatsachen« seien (»›Orient‹ and ›Occident‹ are man-made«, 2003: 5), dass er damit die Konstruktion dieses Gegensatzes, nicht aber die Verwendung des Kulturbegriffs oder die Annahmen von Kulturen und kulturellen Differenzen kritisiert. In diesem Sinne stellt er auch nicht infrage, dass es eine »Kultur des Westens« »gibt« (vgl. ebd. 22). Dazu sei auch angemerkt, dass ich hier aus der Jubiläumsausgabe zitiere, da er dort in seinem Vorwort auf die Kritik an seiner OrientalismusThese und die Ereignisse nach dem 11.September eingeht. Im Übrigen ist es auffällig, dass sein Werk inzwischen in der 25. Auflage in Englisch erschienen ist, die deutsche Ausgabe aber seit Jahren vergriffen ist und nicht neu aufgelegt wird. 20 In seinem erstmals 1988 veröffentlichten Aufsatz »Cultural Diversity and Cultural Differences« schreibt er: »For the willingness to descend into that alien territory may reveal that the theoretical recognition of the spilt-space of enunciation may open the way to conceptualizing an international culture, based not on the exoticism or multi-culturalism of the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of culture`s hybridity.« (2001: 209, Hervorh. U.M.) 74
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
lichen Zuschnitt der in der Declaration of Human Rights erklärten Rechte kritisieren, insistieren die »Universalisten« auf ihrer Universalität über alle kulturellen Unterschiede hinweg.21 Dabei scheinen sie vor allem Sorge zu haben, dass bei einer Relativierung dieser Rechte die »Erfahrungen von Ungerechtigkeit in der Kultur selbst, etwa der Konfrontation von Töchtern mit dem Leiden ihrer Mütter in einer patriarchalischen Gesellschaft« perpetuiert würden (vgl. Forst 1999: 76f.). Diese und ähnliche Argumentationen mit dem Leiden der Frauen an »ihrer Kultur« haben dazu geführt, dass Feministinnen die Argumentationen mit »Kultur« generell kritisieren: Allzu häufig würde das Kultur-Argument benutzt, um die bestehenden Verhältnisse aufrecht zu erhalten oder um auf internationaler Ebene das »Schlechte« anderer, nicht-westlicher Kulturen aufzuzeigen. »We need to problematize all of culture, not just the perceived ›bad‹ aspects. When we limit our inquiry to egregious violations, we limit our capacity to ameliorate human pain to just that one instance of a ›bad cultural practice‹. Without questioning the political use of culture, without asking whose culture this is and who its primary beneficiaries are, without placing the very notion of culture in historical context and investigating the status of the interpreter, we cannot fully understand the ease with which women become instrumentalized in larger battles of political, economic, military, and discursive competition in the international arena.« (Rao 1995: 174)
So ist inzwischen in feministischen Studien häufig Kritik an »Kultur« zu finden. Auch wenn sich bei genaueren Betrachtung zeigt, dass »Kultur« dabei meistens in der Bedeutung »(bornierte) Tradition« verwendet wird, seien hier, um nicht hinter den oben aufgezeigten Stand der feministischen Diskussion zurückzugehen, nur die Kritiken angeführt, die die Annahme der kulturellen Differenz problematisieren und sich direkt auf meine Forschungsfrage beziehen lassen.
21 Vgl. dazu Mıhçıyazgan 2001b. 75
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Feministische Kritiken am Kultur-Konzept Soussan Sarkhoch, eine iranische Soziologin, kritisiert die »Verneinung von Universalität« (1996: 84) im feministischen Diskurs. Die Betonung kultureller und sonstiger Differenzen geschehe auf Kosten der Universalität (vgl. ebd. 90), das Insistieren auf Differenzen könne in rassistische Argumentation umschlagen (vgl. ebd. 89). In Berufung auf Saids Orientalismus-These lehnt sie die Annahme einer muslimischen Kultur prinzipiell ab. Es werde ein »homo islamicus« erfunden, der nichts anderes als das »Nicht-Ich« des Westens sei und deshalb dem anderen nicht gerecht werden könne. Dann folgert sie, der Orientalismus sei zwar ein Produkt der Moderne, aber nicht in der Tradition der Aufklärung zu sehen, denn er sei »anti-aufklärerisch« (ebd.).22 Da sie einerseits ein »Hegemonialstreben der europäischen Kultur« konstatiert, andererseits am Universalitätspostulat der Aufklärung festhält, ergibt sich ein Widerspruch, auf den sie selbst hinweist: »Ich begreife den Widerspruch zwischen dem Universalitätspostulat der Aufklärung und dem Hegemonialstreben der europäischen Kultur im Zuge der Welteroberung als einen inneren Widerspruch der Moderne.« (Ebd.) Das heißt, sie sieht den »inneren Widerspruch«, aber sie folgert daraus nicht, dass dieser der Aufklärung sozusagen selbst eingeschrieben ist, wie Karin Hausen (1997), Andrea Maihofer (1997) u.a. aufgezeigt haben, sondern hält an der Hoffnung auf Transparenz der Welt und an der Möglichkeit des objektiven Erkennens der gesellschaftlichen Realität fest. Dies wird im zweiten Teil ihres Beitrags deutlicher. Hier stellt sie das Thema »Frauenmacht« in den Mittelpunkt. Damit meint sie die Beziehung zwischen gender und Macht, die sie thematisiert, um »dem Bild der unterdrückten Frau in den islamischen Ländern« etwas entgegensetzen zu können (ebd. 99). Foucaults Machtbegriff lehnt sie jedoch ab, er sei wenig hilfreich für das feministische Projekt:
22 Bezogen auf meine im ersten Kapitel angeführten Überlegungen sei ergänzt, dass sie die These, die Moderne habe christliche Wurzeln, ablehnt mit dem Argument, die Aufklärung sei gegen Religion und Kirche durchgesetzt worden. Mit dieser These solle nur die alte Dichotomie (Abendland vs. Morgenland) wieder aufgenommen werden: »[Die Westler] erklären sich selbst zu den kulturellen Erben der griechisch-römischen Welt und die anderen zu den Erben der altorientalischen Reiche, besonders der Perser, den klassischen Feinden der Griechen und Römer. Um die alte, religiös definierte Dichotomie unbehelligt wieder verwenden zu können, erklärten sie die Moderne zur ungebrochenen Weiterentwicklung der christlichen Kultur, obwohl diese sich selbst im Widerspruch zu Religion und Kirche entwickelte.« (1996: 88) 76
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
»Ich stimme mit Nancy Fraser darin überein, dass eine sorgfältige Unterscheidung von Begriffen, wie Weber sie vornimmt, eine viel differenziertere Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse erlaubt, als ein ›allumfassender Begriff der Macht‹, der ›eine höchst heterogene Kollektion von Phänomenen‹ darstellt (Fraser 1989, S. 32). Diese Begriffe sind nicht mehr als Definitionen und Werkzeuge der Analyse und ersetzen keineswegs die Untersuchung der konkreten Verhältnisse.« (Ebd. 105)
Die differenziertere Analyse der konkreten Verhältnisse sei mithilfe des gender-Konzepts möglich, denn es eröffne eine Perspektive, um die Verhältnisse in verschiedenen Gesellschaften mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zu analysieren (vgl. ebd. 107). Damit bringt sie genau die Argumente vor, die, wie ich oben aufgezeigt habe, bei der Umstellung von der Frauenforschung auf Gender Studies wichtig waren. Sie bezieht sich jedoch nicht auf den doing gender-Ansatz, denn gleich darauf kritisiert sie die Annahme von Geschlecht als Konstruktion: »Dagegen geht die Aussage ›das Geschlecht ist ein Konstrukt‹ im Sinne Butlers an der sozialen Realität vorbei. Sie erhebt die Probleme des Geschlechterverhältnisses auf die Ebene der Symbole, der Sprache und des Diskurses. Realitäten wie Gewalt gegen Frauen in den Gesellschaften […] sind mit dem Begriff Konstrukt nicht zu erfassen. […] Wie verschieden die einzelnen Frauen auch sein und handeln mögen und wie vage der Begriff ›weiblich‹ sein mag, so erleben Menschen, die von ihrer Gesellschaft als Frau definiert werden, bestimmte ›Behandlungen‹, die je nach Gesellschaft variieren können, aber alle Frauen dort mehr oder weniger betreffen.« (Ebd.)
Sie behauptet also, mit Butlers Ansatz sei die Realität, d.h. die Gewalt und das Unrecht, das Frauen erleiden, nicht zu erfassen. Einerseits nimmt sie, wenn sie nicht von »Frauen«, sondern von »Menschen, die von ihrer Gesellschaft als Frau definiert werden« spricht, Butlers Essentialismus-Kritik auf. Andererseits fällt sie hinter die feministischen Theorie-Ansätze, die die »Realität« und Erfahrung von Frauen nicht mehr als etwas objektiv Gegebenes, sondern als Effekt des Diskurses zu beschreiben versuchen, zurück. Wenn Sarkhoch dazu auffordert, »die Differenzen zu untersuchen, ohne in kulturalistische Interpretationen zu verfallen« (ebd.), ist zu fragen, wie sich die Differenzen zwischen Frauen, d.h. zwischen verschiedenen gender-Konstruktionen beschreiben lassen: Kann man gender als hilfreiches Konzept betrachten, um die »Verhältnisse in verschiedenen Gesellschaften mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zu analysieren« (ebd.), ohne kulturelle Differenzen vorauszusetzen? Kann man einerseits davon ausgehen, dass gender eine kulturelle Konstruktion ist, 77
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
und es andererseits ablehnen, Geschlecht als Konstruktion zu betrachten? Da Sarkhoch für die Analyse der (Macht- und Herrschafts-)Verhältnisse den Ansatz von Ilse Lenz zu favorisieren scheint (vgl. ebd. 105), ist genauer zu betrachten, ob sich diese Widersprüche auch bei Lenz finden und ob sie »Kultur« bzw. kulturelle Differenzen voraussetzt oder nicht. Lenz sieht ähnlich wie Sarkhoch die Gefahr, dass in neueren Ansätzen die Realität und damit die soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht hinreichend berücksichtigt werde.23 Auch sie hinterfragt die Dualismen im feministischen Diskurs und nimmt neuere Debatten »zu den kulturellen Aspekten sozialer Ungleichheit und zur sozialen Konstruktion von Ethnizität« auf. Doch anders als Sarkhoch argumentiert sie »konstruktivistisch«: »Wir sollten nicht nur das Geschlecht, sondern auch ›Ethnie‹ und auf alle Fälle ›Rasse‹ als sozial geschaffen begreifen.« (1996: 213) Darin sieht sie einen Ausweg aus einer ihrer Ansicht nach schwierigen Debatte. Ausführlich zeichnet sie die Identitätsdebatte im amerikanischen Feminismus nach: Women of colour hätten die Geringschätzung oder Unkenntnis der kulturellen Identität anderer ethnischer Gruppen (durch die Mehrheitsgesellschaft) als rassistisch begriffen und die Anerkennung ihrer je besonderen Kultur gefordert. Dies sei inzwischen auch in der deutschen feministischen Debatte zu erkennen, es habe sich »die Alltagsthese durchgesetzt, Ignoranz von fremden Kulturen sei rassistisch« (ebd. 210).24 Um diesen Rassismus, diese Ausgrenzung zu überwinden, schreibt sie gegen »Grenzziehungen«. Indem Geschlecht und Ethnizität als soziale Konstruktionen betrachtet würden, könne gezeigt werden, dass Ethnizität selbst zur Ressource der Ausgrenzung gemacht würde: »Wenn es bei Geschlecht um persönliche Einbindung und Unterordnung geht und bei Ethnizität um kollektive Mitgliedschaft oder Ausgrenzung aus einem Verband von potentiell Gleichen, so tragen beide Strukturkategorien jeweils spezifisch zur Reproduktion von Ungleichheit bei.« (Ebd. 218f.) Geschlecht und Ethnizität seien nicht als additiv zusammenfallende Unterdrückungsverhältnisse vorzustellen, sondern Subjekte würden »konfigurative Handlungsstrategien« verfolgen und »einzelne Elemente der Geschlechtsrollen, ihres ethnischen 23 »Ein postmoderner Diskurs des kulturellen Pluralismus wird Armut, Gewalt und Marginalisierung nicht aufheben.« (Lenz 1996: 223) 24 Ihrer Auffassung nach ist also nicht die Kolonialmacht oder die Behauptung des Anders-Seins der Anderen durch die Kolonialmacht das Problem, vielmehr ist es ihrer Darstellung nach die Behauptung des eigenen kulturellen Anders-Seins der »schwarzen« oder farbigen Frauen, die zu Spannungen und Konflikten unter Feministinnen geführt habe. 78
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
Hintergrunds usw. auswählen, kombinieren oder aber herunterspielen und vermeiden« (ebd. 219). Dabei würden sich neue kulturelle Mischformen und Synthesen herausbilden und neue kulturelle und soziale Synthesen entstehen (vgl. ebd. 220). In diesem Zusammenhang kritisiert Lenz »Kultur« als Ausgrenzungsressource: Individuen würden durch den Verweis auf ihre kollektive Kulturen als Außenstehende oder Nachrangige eingeordnet, die Anderen würden in einen »Außenraum außerhalb der eigenen Gemeinschaft« verwiesen (vgl. ebd. 218), ihnen würde dadurch soziale Anerkennung systematisch verweigert. Außerdem würde die Heterogenität innerhalb von Kollektiven nicht anerkannt, und die Unterscheidung von Einheimischen und Migranten, d.h. die Hierarchisierung werde legitimiert. Unter dem »Deckwort der anderen Kultur« würden patriarchale Herrschaftsmomente legitimiert und demokratische Verantwortlichkeit relativiert. Aufgrund der »Kultur« würden den Einzelnen individuelle Entfaltungsmöglichkeiten aberkannt. Nach diesem Muster habe z.B. »ein türkisches Mädchen aufgrund ›ihrer Kultur‹ bitte ein geringeres Bedürfnis und Recht auf Selbstbestimmung als einheimische« (ebd. 222). Wenn Lenz es für notwendig hält, von »Dualismen« zu »Differenzierungen« überzugehen, verkürzt sie die Kritik an Differenzannahmen, denn sie nimmt diese nicht in dem Sinne auf, dass bereits durch die Differenzbehauptung eine Hierarchie geschaffen wird, sondern sie geht davon aus, dass Differenz in Hierarchie transformiert werde. Ihre Kritik gilt also dieser Transformation, nicht der Differenzannahme. So kritisiert sie indirekt Butlers Ansatz zur Überwindung der Geschlechterhierarchie: Eine »kurzschlüssige Ableitung von Geschlechterrollen auf Diskurse« könne sich als sehr partikularer Theorieansatz erweisen (vgl. ebd. 214). Hier zeigen sich unterschiedliche Auffassungen von den Handlungsmöglichkeiten des Subjekts: Während Butler die begrenzten Möglichkeiten des Subjekts fokussiert, geht Lenz von seinen Wahlmöglichkeiten aus. Indem sie auf der individuellen Subjektivität insistiert, kann sie aber die Macht, die den Spielraum der Handlungsmöglichkeiten des Individuums einschränkt, nicht mehr thematisieren. Sie kann zwar die »Brechungen, die sich potenziell zwischen den verschiedenen Bezügen« ergeben, erfassen (vgl. ebd. 219), wozu sie auf Bourdieus HabitusKonzept zurückgreift (vgl. ebd. 220ff.), daran aber zeigt sich umso deutlicher, dass sie ein Individuum voraussetzt, dessen Wesen geradezu darin besteht, sich selbst zu bestimmen. Letztlich hält sie damit an einem Subjektbegriff fest, den Foucault und Butler überwinden wollen. Ähnlich wie Cornell im »Streit um Differenz« plädiert Lenz für ein »Konzept von Gleichheit, das kulturelle Unterschiede nicht als einen Grund zum Ausschluss betrachtet, sondern abstimmt auf eine Konver79
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
genz in der Frage, wie individuelle und Gruppenrechte auf Freiheit, Gleichheit und Würde zu erfüllen« seien (vgl. ebd. 223). Wie an dieser Aussage zu erkennen ist, kritisiert auch sie einerseits das Kulturkonzept, andererseits hält sie an ihm fest, wenn sie von »kulturellen Unterschieden« spricht. Sie bestreitet also nicht, dass es Kulturen und kulturelle Differenzen »gibt«, sie kritisiert nur, dass diese zur sozialen Ausgrenzung, »Demarkierung« benutzt würden. Wenn aber bei der Behauptung von Differenzen immer schon Hierarchisierungen in Kauf genommen werden, ist die Differenzannahme selbst, und nicht die soziale Ausgrenzung, bei der Differenzen benutzt werden, zu kritisieren. Die Ausführungen von Lenz fordern dazu auf, über die Frage der sozialen Ausgrenzung genauer nachzudenken. Hier fällt auf, dass es auch das zentrale Anliegen von Foucault und Butler ist, soziale Ausgrenzungen (der »Wahnsinnigen« und/oder Homosexuellen, auf die der Migranten gehen beide nicht ein) zu überwinden, dass sie das Problem aber anders zu lösen versuchen als z.B. Bourdieu. Worin genau besteht der Unterschied? Für weitere Betrachtungen ist die Frage im Auge zu behalten, wie »soziale Ausgrenzung« und »Ausschließungsprozeduren« sich voneinander unterscheiden lassen. Offensichtlich thematisieren SoziologInnen vor allem die Ausgrenzung aus und die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, vielleicht weil »Gesellschaft« nach wie vor eine zentrale Kategorie der Soziologie ist und diese vornehmlich über den Nationalstaat definiert wird (vgl. Nassehi 1995: 445), während »Kultur« bislang eher in der Bindestrich-Soziologie auftaucht und vornehmlich als »Gekochtes« konzipiert wird. An dieser Stelle ist ein Blick auf ethnologische Studien zu werfen, denn für diese ist die Kategorie »Kultur« von zentraler Bedeutung. Ist hier vielleicht eher eine Problematisierung des Kultur-Konzepts zu finden? Betrachten wir hierzu zunächst die Ausführungen der Ethnologin Ayúe Ça÷lar, die in Montreal und Berlin geforscht hat und sowohl mit der außereuropäischen, amerikanischen feministischen Diskussion als auch mit den Studien zur Arbeitsmigration in der BRD vertraut ist.
Kultur als Fiktion Schon 1990, also vor Gender Trouble, kritisiert Ça÷lar in einem Aufsatz mit dem Titel Das Kultur-Konzept als Zwangsjacke in Studien zur Arbeitsmigration das Kultur-Konzept und bezeichnet es als »Fiktion«: »Ich möchte auch den Begriff der ›Kultur‹ in diese Reihe von Fiktionen, die für die Forschung ein Hindernis bilden, einfügen. Das Konzept von ›Kultur‹ wird zu einer Zwangsjacke, wenn man sie als ein alles beinhal-
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tendes organisiertes und konstantes Ganzes sieht.« (1990: 94)25 Wenn Ça÷lar den Begriff »Fiktion« verwendet, bezieht sie sich möglicherweise auf Donna Haraway, denn für sie ist jede Tatsache Resultat eines Konstruktionsprozesses, das seine Bedeutung durch den Ort im Gewebe der Erzählungen erhält. Zwischen einer Tatsache und den mit ihr verknüpften Erzählungen, also zwischen fact und fiction, bestehe kein absoluter Gegensatz, vielmehr würden Fakten fiktional, d.h. durch Erzählpraktiken hergestellt.26 Während Haraway jedoch vorschlägt, die »alten« Fiktionen durch neue zu ersetzen, geht Ça÷lar davon aus, dass Fiktionen »ein Hindernis« für die Forschung bildeten und durch eine bessere Forschung zu überwinden, dass also Beschreibungen ohne Fiktionen möglich seien. Ça÷lar kritisiert die im Kultur-Konzept enthaltene »holistische Sicht«: Kultur werde als integriertes Ganzes mit einheitlichen Regeln und unveränderlichen, statischen Beziehungen, als »geschlossenes System« betrachtet. Diese Betrachtungsweise verfalle allzu oft in Verunreinigungsannahmen und lasse »keinen Platz für Mischformen«. Daher könne das Problem des Synkretismus nicht aufgegriffen werden, obwohl doch Synkretismus ein Merkmal jeder Kultur sei und Kulturen stets aus Mischungen, Verbindungen, Überschneidungen überhaupt erst entstanden seien (vgl. ebd. 96f.). Hier ist einzuwenden, dass das Problem der Mischformen sehr wohl mithilfe des Kulturbegriffs zu behandeln ist, denn bei Mischformen sind mindestens zwei differente Kulturen vorauszusetzen. Wichtiger ist ihre Kritik an der Gleichsetzung von Ethnizität und Kultur: Es würde vorausgesetzt, dass jede ethnische Gruppe ihre ureigene Kultur habe (vgl. ebd. 95). Die Grenzen der ethnischen Gruppe würden als selbstverständlich angenommen, und es werde versucht, z.B. die wesentlichen Elemente und Grenzen der »türkischen Kultur« herauszufinden (ebd. 98). Dies führe zur »Entdeckung« der Herkunftskultur. Die Forscher entdeckten diese, obwohl sie eine »Erfindung der For-
25 Dass sie dies als grundlegende Kritik meint, ist an dem Hinweis, dass »Kultur« ein Schlüsselkonzept ihrer Disziplin sei und es wohl »befremdlich« sei, wenn sie es infrage stelle, abzulesen: »Es wäre ebenso befremdlich, wenn ein Psychoanalytiker die Gültigkeit des Konzepts des Individuums bestreiten würde oder wenn ein Soziologe es ablehnen würde, mit dem Begriff ›Gesellschaft‹ zu arbeiten.« (Ça÷lar 1990: 93) 26 Ça÷lar bezieht sich zwar nicht explizit auf Haraway, aber wenn sie außerdem behauptet, der Begriff des vereinheitlichten Individuums sei »nichts als Fiktion«, ist zu erkennen, dass sie auch Haraways Kritik an vereinheitlichenden Vorstellungen des Individuums aufnimmt. Auf diese werde ich weiter unten eingehen, denn Haraways Arbeiten waren und sind neben denen von Butler von großer Bedeutung für die feministische Diskussion (vgl. Kap. »(De-)Konstruktion«). 81
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scher« sei. Diese enge Verbindung von Ethnizität und Kultur verhindere zum einen ein Verständnis für die Dynamik der Prozesse in der Migration, denn alles, was beobachtet werde, werde mithilfe eines kulturellen Repertoires der Migranten erklärt, zum anderen ergebe sich dadurch zwangsläufig eine Gegenüberstellung von Kulturen, wobei die eigene Kultur der Forscher ausgeblendet und nur die der anderen Seite thematisiert werde: »Es ist, als hätten die Türken ›Kultur‹ und die anderen Psyche. Diese Überbetonung des Kulturellen verhindert die beabsichtigte Erklärung von psychosozialen Prozessen in ihrer Komplexität.« (Ebd. 100) Eine Konsequenz dieser Erklärungen sei, dass türkische Migranten die Zuschreibungen inzwischen zu einem Teil der Selbstdefinition gemacht hätten. Sie beschrieben sich inzwischen selbst als »zwischen zwei Stühlen sitzend« und »stuhllos« (vgl. ebd. 102). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nach Ça÷lars Auffassung durch das Kulturkonzept unnötige »Zwänge« sowohl für die Forscher, die ihre Beobachtungen und Erklärungen dadurch einengten, als auch für die beschriebenen Migranten selbst, die im Kultur-Konzept eingeengt würden und sich inzwischen selbst als defizitär beschrieben, entstanden seien. Um diese zu überwinden, schlägt sie vor, »die Kultur der türkischen Bevölkerung« als »bricolage« und die Migranten als »bricoleurs«, »kulturelle Bastler« zu betrachten, denn dadurch seien die Synkretismen zu erfassen. In Anlehnung an Levi-Strauss formuliert sie: »[Die Migranten] schaffen neue Kompositionen aus den Trümmern dessen, was einmal sozialer Diskurs war. Sie tun dies mit einem ›Satz an Werkzeugen‹, die in keiner Beziehung zu den auszuführenden Vorhaben – oder zu überhaupt keinem bestimmten Vorhaben – stehen, sondern sie sind das zufällige Ergebnis aller Gelegenheiten, die den Vorrat erneuern und bereichern oder ihn mit den Überresten früherer Konstruktionen und Zerstörungen erhalten helfen.« (Ebd. 104)
Hier zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit zu Becks doppelter Verwendung des Kulturbegriffs, denn auch Ça÷lar betrachtet »Kultur« einerseits als Werkzeug oder (Wissens-)Vorrat der Migranten, andererseits als Ergebnis ihrer Basteltätigkeit. Wenn Migranten kulturelle Bastler sind, die mit kulturellem Material arbeiten, basteln sie neue kulturelle Formen, »neue Kompositionen«. Im Gegensatz zu Beck verzichtet sie aber auf die Vorstellung einer zielgerichteten Tätigkeit und spricht vom »zufälligen Ergebnis«. Dies wiederum erinnert an das Hybriditätskonzept von
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Bhaba.27 Allerdings erklärt dieser die hybriden Formen als Effekt der Machtverhältnisse, während Ça÷lar gerade an dieser Stelle die Notwendigkeit des »Bastelns« der Migranten nicht thematisiert. Hier lässt sich festhalten, dass sie zwar das zu statisch gedachte Kulturkonzept kritisiert, es aber nicht insgesamt infrage stellt. Am Ende des Aufsatzes schlägt auch sie, obwohl sie sehr unterschiedlich und fast entgegengesetzt zu Ilse Lenz argumentiert, Bourdieus Ansatz für die Analyse der Prozesse in der Migration vor. Dies führt sie in ihrem 1996 erschienenen Aufsatz Beyond Culturalism weiter aus. Doch auch in diesem Aufsatz verwirft sie den Kultur-Begriff nicht, sondern schlägt vor, Kultur neben anderen Ressourcen als Kapital im Sinne Bourdieus zu betrachten. Sowohl das Holismus- wie das Ethnizität-Argument tauchen wieder auf, allerdings in schärferen Formulierungen: »Researchers working on Turkish migrants’ culture in Germany note emergent hybrids and syncretisms, but are disturbed by these ›cultural impurities‹. The common reaction is either to label this hybrid culture degenerate or to diagnose the situation as one of a fragmented cultural world leading to a crisis of identity.« (1996: 54)
Hier zeigt sich deutlich, dass sie nun einen zentralen Kritikpunkt des feministischen Diskurses übernimmt, denn sie behauptet, alle Studien zu türkischen Migranten seien »essentialistisch«: »In short, approaches advocating cultural racism as well as the studies on the dynamics of Turkish migrant society in Germany which bring ›Turkish culture‹ as the explanatory factor to the fore are essentialist.« (Ebd. 58) Dieser Essentialismus sei im Grunde rassistisch, denn »the story of cultural racism does not end by drawing boundaries between cultures. […] Cultural racism is not a simple issue of drawing boundaries, but is a matter of an antagonistic division of the discursive field. It refers to the construction of differences within an antagonism.« (Ebd.)
Nun spricht Çaglar vom »diskursiven Feld«, während sie in ihrem früheren Aufsatz den Begriff »sozialer Diskurs«, aus dessen Trümmern die Migranten Neues schaffen, verwendet hat. Wenn sie außerdem von der »construction of differences« und »Außerdiskursivem« spricht, ist zu vermuten, dass sie sich auf Butlers Gender Trouble bezieht: 27 Vgl. unten Kap. »(De-)Konstruktion«. Dass das Hybride auch für Haraway von zentraler Bedeutung ist, werde ich ebenfalls weiter unten aufzeigen. 83
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»What is important here is the transformation of differences (from a simple system of opposition) in to an antagonism. Moreover, this transformation, in my opinion, does not have much to do with cultural distances. Although it is a discursive transformation, this dynamic is set from without, that is exdiscoursive. Turkish migrants set a good example to this.« (Ebd. 59, Hervorh. U.M.)
Allerdings gibt es hier eine Bedeutungsverschiebung: Während Butler davon ausgeht, dass nichts Außerdiskursives angenommen werden könne, behauptet Ça÷lar, die Transformation der Unterschiede in einen Antagonismus sei eine diskursive Transformation, die von außen an das System herangetragen werde. Demnach stehen die Forscher außerhalb des Feldes und teilen, wenn sie ihre Daten bearbeiten, das diskursive Feld von außen (»ex-discoursive«) antagonistisch auf. Offensichtlich steht der »Feld«-Begriff nicht für das Feld des Diskurses, es ist eher der Feld-Begriff der Ethnologen, die »im Feld« ihre Daten sammeln. Um auf eine nicht-antagonistische Weise zu einer Beschreibung der türkischen Arbeitsmigranten zu gelangen, schlägt sie vor, von ihrer zunehmenden »sozialen Sichtbarkeit« (social visibility) auszugehen (vgl. ebd.) und das kulturelle Kapital der Migranten zu analysieren. Mit Bourdieu geht sie davon aus, dass dies in den Körpern eingeschrieben sei, und kommt zu dem Ergebnis, dass für türkische Migranten in der deutschen Gesellschaft wenige Aussicht bestehe, nicht ausgegrenzt zu werden. »I think, it is no accident that the body and body-centred practices come to the fore as the prominent sites in which the social exclusion could be and is exercised. In this context, the bodily differences gain importance in indexing, not only cultural differences but cultural antagonisms leading to cultural racism which might be in its consequences not less fierce than racism based on physical criteria.« (Ebd. 61)
Deutlich setzt sie mit Bourdieu den Körper als Hardware, in den Programme eingeschrieben werden, voraus. Auch wenn sie argumentiert, dass nicht Kultur, sondern kulturelles Kapital (das sie definiert als »the ensemble of embodied dispositions such as learnable skills«, ebd. 59) zur Ausgrenzungsressource gemacht werde, kann sie zwar den Kulturbegriff vermeiden, aber sie muss die Essenz des Körpers des Subjekts voraussetzen. Damit entkommt sie der Essentialismus-Kritik nicht. Während Ça÷lar »Kultur« durch »kulturelles Kapital« ersetzt, lehnt eine andere feministische Ethnologin, Lila Abu-Lughod, das Kulturkonzept konsequent ab. Bevor ich ihre Argumentation nachzeichne, möchte ich einiges zur außereuropäischen feministischen Diskussion 84
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nachtragen, zumal auch Abu-Lughods Beitrag in diesem Kontext zu betrachten ist.
Die »Imperialismus«-Kritik im (westlichen) Feminismus Oben habe ich aufgezeigt, dass Butler im einleitenden Kapitel zu Gender Trouble die These vom universalen Patriarchat bzw. der universalen Unterdrückung von Frauen sowie die Konstruktion eines einheitlichen Subjekts »Frau« in der feministischen Theoriebildung kritisiert. Hier ist nachzutragen, dass schon zu Beginn der 80er Jahre Chandra Talpade Mohanty, Gayatri Spivak und andere Feministinnen das Einheitssubjekt des Feminismus infrage gestellt und die »imperialistischen Strategien« im Feminismus kritisiert haben. Dies erklärt sich zum einen dadurch, dass nun auch postkoloniale Studien mit feministischer Perspektive durchgeführt wurden. Wurde die Situation der Frauen in kolonisierten Ländern in feministischen Studien zunächst mehr oder weniger einheitlich als »doppelte Kolonisierung« (durch die Kolonialmacht einerseits, durch das Patriarchat andererseits) charakterisiert, so wurde nun auch die Kolonisierung durch feministische Studien kritisiert. Zum anderen war diese scharfe Kritik wohl auch die Reaktion nicht-westlicher feministischer Forscherinnen auf die UN-Frauenkonferenzen in Mexiko City 1975 und Kopenhagen 1980, auf denen »Dritte-Welt-Frauen« nur als passive Zuhörerinnen in Erscheinung treten konnten, während westliche Frauen über diese als homogene Gruppe sprachen (vgl. Mohanty 2001: 263). Mit recht eindeutigen Worten kritisierten »nicht-westliche« Feministinnen nun, die (westliche) feministische Kritik würde den imperialistischen Gestus reproduzieren (Spivak 2001: 269, erstmals 1985), und kündigten die »Schwesternschaft« auf. Mohanty z.B. zeigt auf, dass in feministischen Schriften durch die Annahme der universalen weiblichen Unterdrückung Frauen als eine kohärente Gruppe mit gleichen Interessen und Wünschen konstruiert würden. Dabei komme es zu einer »binären Analytik«: Während »Third-World-Women« als »ignorant, poor, uneducated, tradition-bound, domestic, victimized« etc. dargestellt würden, nähmen westliche Feministinnen für sich in Anspruch, das Gegenteil zu sein: »educated, modern, as having control over their own bodies and sexualities, and the freedom to make their own decisions« (2001: 261). Bei einer derart ausgrenzenden Unterscheidung sei ein gemeinsamer politischer Kampf nur schwer möglich. »Sisterhood cannot be assumed on the basis of gender; it must be formed in concrete, historical and political practice and analysis.« (Ebd. 262)
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Außerdem sei es auch wissenschaftlich problematisch, von der Einheit »Frau« auszugehen. Sie könne nicht als Analysekategorie vorausgesetzt werden, vielmehr werde durch die Annahme der transkulturellen männlichen Dominanz gleichzeitig die Annahme einer »Dritte-Welt-Differenz« hervorgebracht: »An analysis of ›sexual difference‹ in the form of a cross-culturally singular, monolithic notion of patriarchy or male dominance leads to the construction of a similarly reductive and homogeneous notion of what I call the ›Third World Difference‹.« (Ebd. 260) Mohanty weist auch darauf hin, dass die Konstruktion der »ThirdWorld-Woman« durch den westlichen humanistischen Diskurs authorisiert sei, obwohl dieser, wie Bhaba aufgezeigt habe, selbst ein »colonial discourse«, ein »apparatus of power« sei (vgl. ebd. 263). Auch bei Spivak ist die Kritik an der Konstruktion der »Dritte-WeltFrauen« zu finden. Außerdem kritisiert sie die individualistische Ideologie im westlichen Feminismus: Indem westliche Frauen für sich selbst die Subjektposition z.B. in der Literatur beanspruchten, machten sie gleichzeitig andere Frauen zu Objekten (vgl. ebd. 270f.). In ihrem klassischen Aufsatz Can the Subaltern Speak? (erstmals erschienen 1988) verallgemeinert sie diesen Gedanken: Zwar kämen heute »aus dem Westen« interessante Ansätze, die epistemische Gewalt zu analysieren, aber eben diese Ansätze seien zugleich ein Unterfangen, »to conserve the subject of the West, or the West as Subject« (2001: 24). Dabei bliebe der »Subalternen« nur die schwierige Aufgabe »of rewriting its own conditions of impossibility as the conditions of its possibility« (ebd. 27). Deutlicher als bei Mohanty ist in Spivaks Kritik eine Übernahme des poststrukturalistischen Vokabulars zu erkennen. Einerseits nimmt sie den Gedanken der »doppelten Kolonisation« wieder auf, andererseits verschiebt sie ihn, indem sie diese als Un-Möglichkeit des Sprechens thematisiert. Dies lässt sich als Anknüpfung an Edward Said lesen. Dieser hatte aufgezeigt, dass die Machtkonfigurationen sehr deutlich an Flauberts Beschreibung seines Verhältnisses zu Kuchuk Hanem, die von großem Einfluss auf das westliche Bild der »orientalischen Frau« geworden sei, abzulesen sei: »She never spoke of herself, she never represented her emotions, presence, or history. He spoke for and represented her.« (Ebd. 6) Flauberts Position habe es ihm erlaubt, die Frau nicht nur physisch zu besitzen, sondern auch für sie zu sprechen: »to speak for her and tell his readers in what way she was typically Oriental« (ebd.). Sehr ähnlich formuliert Spivak: »If, in the context of colonial production, the subaltern has no history and cannot speak, the subaltern as female is even more deeply in shadow.« (Ebd. 28) Insofern lässt sich hier festhalten, dass durch die postkoloniale Kritik, die nun als Kritik am imperialistischen Gestus innerhalb des Femi86
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nismus vorgebracht wurde, das Gebäude der westlichen feministischen Theoriebildung erschüttert wurde. Die Konsequenzen dieser Erschütterung zeigen sich nicht erst in Butlers Gender Trouble, sondern sind schon früher in Donna Haraways Schriften zu erkennen. Ihr Manifest für Cyborgs (1995a [1984]) ist nicht nur als Versuch, die Technikfeindlichkeit im Feminismus zu überwinden und für eine neues Verständnis der Natur zu plädieren, zu lesen – in diesem Sinne wurde und wird sie im europäischen Feminismus vor allem rezipiert – in dieser programmatischen Schrift ist auch das Bemühen, die Spaltungen innerhalb des Feminismus zu überwinden und zu einem neuen theoretischen Ansatz zu gelangen, zu erkennen. Sie schreibt darin, es gehe darum, ein kritischreflexives Verhältnis zu eigenen wie auch zu fremden Herrschaftspraktiken zu entwickeln und das für jede Position konstitutive, unterschiedliche Maß an Privilegiertheit und Unterdrückung in Rechnung zu stellen (vgl. ebd. 78). Im Kapitel Brüchige Identitäten thematisiert sie auch ihre eigene (politische) Krise: »Die schmerzlichen Fragmentierungen zwischen Feministinnen (nicht zu vergessen zwischen Frauen) an jedem denkbaren, umstrittenen Punkt machen das Konzept Frau undefinierbar, eine Entschuldigung für die Matrix der Herrschaft von Frauen über Frauen. Für mich und viele andere, die eine vergleichbare historische Verortung in einem weißen, weiblichen, radikalen, nordamerikanischen Körper der berufstätigen Mittelschicht mittleren Alters teilen, gibt es unzählige Ursachen für eine Krise der politischen Identität. Der größte Teil der US-Linken und des US-Feminismus hat auf diese Krise in letzter Zeit mit endlosen Spaltungen und Versuchen, eine neue essentielle Einheit zu finden, reagiert.« (Ebd. 41)
Wie hier zu erkennen ist, ist bei ihr bereits eine Kritik am Essentialismus zu finden, denn sie betont, dass es keine Möglichkeit gebe, eine essentielle Einheit zu finden. So plädiert sie für eine Aufwertung, Anerkennung des Hybriden. Auf ihren Lösungsansatz werde ich später eingehen. Hier gilt es zu zeigen, wie sie bereits vor Butler die postkoloniale Kritik an der westlichen Wissenschaft aufnimmt und nach einem Weg feministischer Politik sucht, die ohne die Annahme eines globalen Subjekts auskommt. Wenn Butler z.B. im abschließenden Kapitel von Gender Trouble fordert, der Feminismus müsse die imperialistischen, globalisierenden Strategien kritisieren und könne für einen Neuansatz »keinen Standpunkt außerhalb der konstruierten Identitäten« einnehmen (vgl. GT 216), die »Verortung« müsse in Rechnung gestellt werden, so hatte Haraway in Situiertes Wissen, einem Essay, in dem sie die Wissenschaftsfrage im
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Feminismus behandelt, »den erobernden Blick von nirgendwo« (1995b: 80) kritisiert: »Dieser Blick bezeichnet die unmarkierte Position des Mannes und des Weißen, in feministischen Ohren ist dies einer der vielen hässlichen Anklänge an die Welt-Objektivität in weißen und technologischen, spätindustriellen, militarisierten, rassistischen und von Männern dominierten Gesellschaften.« (Ebd., Hervorh. im Original) Weiter schreibt sie – und hier zeigt sich, dass sie, ähnlich wie Spivak oder Said von der permission to narrate sprechen, an erzähltheoretischen, linguistischen Konzepten anknüpft – in der feministischen Theorie dürfe die »Erzählung über Objektivität« nicht fortgeführt werden. »In der westlichen Kultur ist jede Erzählung über Objektivität eine Allegorie auf die Ideologien sowohl der Beziehungen dessen, was wir Körper und Geist nennen, als auch des Verhältnisses von Distanz und Verantwortlichkeit, die in die Wissenschaftsfrage im Feminismus eingebettet sind. Feministische Objektivität handelt von begrenzter Verortung und situiertem Wissen und nicht von Transzendenz und der Spaltung in Subjekt und Objekt. Vielleicht gelingt es uns so, eine Verantwortlichkeit dafür zu entwickeln, zu welchem Zweck wir zu sehen lernen.« (Ebd. 82)28
Ein anderes Beispiel: Butler weist auf die (von Spivak und vorher von Said aufgezeigte) Herrschaftsstrategie der Unterscheidung hin: »Die für die epistemologische Betrachtungsweise charakteristische Sprache der Aneignung, Instrumentalität und Distanzierung gehört zugleich zu einer Herrschaftsstrategie, die das ›Ich‹ dem ›anderen‹ gegenüberstellt und, sobald diese Trennung einmal vollzogen ist, einen künstlichen Fragenkatalog über die Erkennbarkeit und Einholbarkeit des anderen errichtet.« (GT 211f.)
Haraway schreibt in Situiertes Wissen auch, dass Feministinnen »nicht zuletzt wegen ihres Argwohns gegenüber der Annahme, dass ein Wissens-Objekt ein passives und träges Ding sei, vor den Lehren wissenschaftlicher Objektivität zurückschreckten: »Darstellungen solcher Objekte können entweder als Aneignungen einer fixierten und determinierten Welt erscheinen, die auf eine Ressource für die instrumentalistischen Projekte der destruktiven westlichen Gesellschaften re-
28 Das Adjektiv »westlich« zeigt deutlich an, dass sie sich auf die Kritik aus »nicht-westlicher« Perspektive bezieht. Die Kritik am Objektivitätsideal der Wissenschaft ist kurz darauf von Evelyn Fox Keller (1998, erstmals 1985) ausführlich vorgetragen worden, und auf sie beruft sich später auch Haraway. 88
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duziert wird, oder sie können als maskierte Interessen, die üblicherweise die herrschenden sind, gesehen werden.« (1995b: 92)
Deutlich ist zu erkennen, dass Haraway schon vor Butler die Imperialismus-Kritik »nicht-westlicher« Feministinnen als Kritik an der feministischen Theoriebildung aufgenommen hat. Auch wenn sich später zeigen wird, dass ihr Ansatz sich sehr von dem Butlers unterscheidet, ist hier festzuhalten, dass Haraway vor Butler versucht hat, die »alten Fehler« nicht zu wiederholen, das Subjekt der feministischen Theorie neu zu definieren und eine feministische Politik, die nicht mehr imperialistisch und diskriminierend ist und in der die »binäre Analytik« zwischen dem (westlichen) Selbst und den Anderen vermieden wird, zu entwerfen. Dabei beruft sie sich (wie später Butler) auf Foucault. Außerdem scheint es, wenn sie die Cyborg, das Hybride und »den Übergang von den bequemen, alten, hierarchischen Formen der Unterdrückung zu den unheimlichen, neuen Netzwerken«, die sie als »Informatik der Herrschaft« bezeichnet (1995a: 48), in den Vordergrund rückt, eine Ähnlichkeit zu Bhabas Hybriditätskonzept zu geben. (Bei Butler hingegen ist von Hybridität nicht die Rede.) Bevor ich nun zeigen werde, dass dieses Konzept auch für AbuLughods Kritik am Kulturkonzept wichtig ist, möchte ich noch eine Bemerkung zur Art und Weise, wie die Imperialismus-Kritik aufgenommen wurde, machen. So deutlich Haraway und Butler die Imperialismus-Kritik aufrufen, so fällt doch auf, dass sie allgemein auf die postkoloniale Kritik hinweisen, aber nicht aus postkolonialen Studien zitieren.29 Es könnte sein, dass diese Kritik im US-amerikanischen Feminismus so gegenwärtig war, dass beide ForscherInnen es nicht mehr für notwendig hielten, aus den Texten direkt zu zitieren. Auf jeden Fall zeigt sich, dass die Kritik am globalen Subjekt und an der »binären Analytik« nicht von Haraway und Butler selbst entwickelt wurde. Möglicherweise wäre der »imperialistische Gestus« von ihnen selbst nicht bemerkt worden, wenn das Theoriegebäude nicht durch die Kritik »nicht-westlicher« Feministinnen erschüttert worden wäre. Immerhin lässt sich hier festhalten, dass durch ihre Kritik die feministischen Überlegungen zu Herrschafts- und Machtfragen (außerhalb des Patriarchats-
29 In einer Anmerkung verweist Haraway nur allgemein auf Edward Said (Anm. 13, S. 203), während sie im Haupttext des Manifests auf die Feministinnen Katie King und Chela Sandoval, die als »women of color« schreiben, eingeht. Butler wiederum zitiert zwar in einer Anmerkung in Körper von Gewicht einige Aufsätze von Spivak und Mohanty (vgl. Anm. 18, KvG 342), aber wie oben bereits erwähnt, zitiert sie diese Kritik eher allgemein. 89
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paradigmas) differenzierter wurden und dass durch ihre bzw. Saids Orientierung an Foucaults Methodologie dieser Ansatz für die feministische Theorie wichtig wurde.30 Zwar lag Foucaults Archäologie des Wissens seit 1969 vor und darin war die Kritik an der Annahme des globalen Subjekts bereits formuliert (vgl. oben), aber erst nachdem sie in den Postcolonial Studies von Said und Bhaba aufgenommen und von Spivak, Mohanty und anderen als Kritik an der feministischen Theoriebildung formuliert wurde, wurde sie zunächst von Haraway, dann von Butler in die feministische Diskussion eingebracht. Dazu ein weiterer Gedanke: Wenn die Imperialismus-Kritik für Haraway und Butler Anlass und Motiv war, eine neue Perspektive für die feministische Theoriebildung zu entwickeln und Butler nach Haraway sie erneut aufgreift, könnte es sein, dass es ihr Anliegen ist, in Orientierung an Foucaults Methodologie ein anderes, von Haraway sehr unterschiedliches Programm zu entwerfen. Diese Vermutung liegt nahe, weil Butler sich in Gender Trouble zwar nicht auf Haraways Ansatz bezieht, in der Einleitung aber u.a. auch Haraway dankt: »Das von Joan Scott geleitete Gender Seminar am Institute for Advanced Studies half mir, durch die signifikanten und provokanten Uneinigkeiten in unserem gemeinsamen Denken meine eigene Sichtweise zu verdeutlichen und auszuarbeiten. So danke ich Lila Abu-Lughod, Yasmine Ergas, Donna Haraway, Evelyn Fox Keller (…)« (GT 13)
Sie kannte also Haraways Arbeiten und stand mit ihr in einem Diskussionszusammenhang, in dem sich »signifikante und provokante Uneinigkeiten« zeigten. Außerdem dankt sie hier auch Lila Abu-Lughod, deren Kritik am Kultur-Konzept ich nun vorstellen möchte.
Die Ablehnung des Kultur-Konzepts Kurz nachdem Gender Trouble im Original erschienen war, veröffentlichte Abu-Lughod 1991 einen Aufsatz mit dem Titel Writing Against Culture, um zu »zeigen, dass ›Kultur‹ im anthropologischen Diskurs darauf hinwirkt, Abgrenzungen Geltung zu verschaffen, die unvermeidlich eine Art Hierarchie mit sich bringen« (1991: 15). Wie schon an diesen
30 In den Postcolonial Studies ist eine Präferenz für die poststrukturalistische Methodologie zu finden, wie Slemon (2001) aufzeigt. Er weist auch darauf hin, dass diese Studies selbst toleranter gegenüber anderen methodologischen Ansätzen werden sollten und die »methodological dynasties« zu kritisieren seien. Andernfalls sei ein »Neo-Kolonialismus« in Form der westlichen akademischen Institutionen zu befürchten (vgl. 2001: 51f.). 90
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einleitenden Worten zu erkennen ist, nimmt Abu-Lughod die Kritik an der Annahme der Geschlechterdifferenz auf und bezieht die zentrale Problematik der Differenzbehauptung auf die kulturelle Differenz. Deutlicher als die bisher zitierten Autorinnen beschäftigt sie sich mit der Frage, die für meine Arbeit von Interesse ist: »Schmuggelt Differenz in jedem Fall Hierarchie mit ein?« (Ebd. 25) Dezidiert schreibt sie aus der Position einer »Halfy« – damit meint sie »Personen, deren nationale oder kulturelle Identität aufgrund von Migration, Erziehung im Ausland oder ihrer Abstammung gemischt ist« (1996: 14) – und als feministische Kulturanthropologin, wobei sie davon ausgeht, dass Feministinnen und »Halfies« in ihrer anthropologischen Praxis gezwungen seien, sich gründlich mit der Politik und Ethik ihrer Darstellungen auseinanderzusetzen, denn sie wüssten um »die Fragwürdigkeit der Annahme, die Beziehungen zwischen Selbst und Anderen stünden außerhalb von Machverhältnissen« (ebd. 20). Feminismus und Anthropologie konstruierten beide ihr Selbst im Gegensatz zu Anderen, aber »die Prozesse beginnen jeweils auf unterschiedlichen Seiten der Machtscheide« (ebd. 16). Dies würde in der Anthropologie häufig übersehen. »Das ausdrückliche Ziel der Anthropologie mag sehr wohl ›die Erforschung des Menschen‹ sein, aber die ganze Disziplin ist um die historisch hergestellte Scheidelinie zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen herum aufgebaut. Sie war und ist in erster Linie die Erforschung des nicht-westlichen Anderen durch das westliche Selbst.« (Ebd.)
So ist es ihr Anliegen, Erfahrungen aus der feministischen Wissenschaft in die Anthropologie einzubringen. Während diese die grundlegende Konfiguration der globalen Macht ignoriere und noch immer die Erforschung vorgefundener »Ándere« dort draußen durch ein unproblematisches und nicht weiter gekennzeichnetes westliches »Selbst« betreibe (vgl. ebd. 17), hätten Feministinnen in ihrer relativ kurzen Geschichte erkannt, dass Selbst und Andere nicht als vorgegeben zu betrachten seien. Aus der feministischen Diskussion seien für die Anthropologie zwei »nützliche Merkpunkte« zu nennen: Zum einen die Erkenntnis, dass das Selbst immer eine Konstruktion sei, nie ein natürliches oder vorgefundenes Wesensmerkmal, zum anderen die Erkenntnis, dass der Prozess der Schaffung eines Selbst durch die Opposition gegenüber einem Anderen immer die Gewalt des Zurückdrängens oder Ignorierens anderer Formen von Differenz nach sich ziehe (vgl. ebd. 17f.). Zu den unterschiedlichen Formen der Differenz führt sie aus, dass es für die Erforschung der Identitätsbildung notwendig sei, nicht nur gender, sondern 91
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auch andere Systeme der Differenz zu beachten. Dabei ginge es in der modernen kapitalistischen Welt vor allem um »Rasse« und Klasse. Dies ist, wie oben aufgezeigt, auch das zentrale Thema für Ilse Lenz. Doch während Lenz die Überschneidungen vor allem bei Migranten für bedeutsam hält, bezieht Abu-Lughod das Problem auf die Forscherin selbst, diese stehe selbst an der »Schnittstelle zwischen Systemen der Differenz«. Sie wirft also die epistemologische Frage der »Verortung« der Forscherinnen auf und beleuchtet dabei drei Aspekte: die »Positionalität«, die »Adressatenkreise der Wissenschaft« und die »Macht, die den Unterscheidungen zwischen Selbst und Anderen innewohnt« (ebd. 18). Zum ersten Aspekt führt sie aus: »Das Stehen auf schwankendem Grund macht klar, dass jede Sichtweise eine Sicht von irgendwo her ist und jeder Sprechakt ein Sprechen von irgendwo her. Die KulturanthropologInnen […] scheinen noch immer zu zögern, sich der Folgerungen aus der tatsächlichen Situiertheit ihres Wissens zu versichern.« (Ebd.)
Deutlich nimmt sie hier zentrale Begriffe aus Haraways Manifest, die in Situiertes Wissen (1988) weiter ausgeführt werden, auf.31 Während Haraway das Problem der Positionalität, d.h. des westlichen Selbst mit seinem Herrschaftsanspruch thematisiert, verbindet Abu-Lughod das Problem der Verortung mit dem Problem der Adressatenkreise: Feministische Anthropologinnen seien gezwungen, beim (parteiischen) Schreiben »spaltende Praktiken« anzuwenden, weil sie auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem operieren müssten, die sehr viel mit Macht zu tun habe. Fälschlicherweise würde von vielen angenommen, die Beziehungen zwischen Selbst und Anderen stünden außerhalb von Machtbeziehungen. Feministinnen wüssten jedoch, was es bedeute, als Andere gegenüber dem herrschenden Selbst konstruiert zu werden. Dies sei nicht einfach eine Erfahrung der Differenz, sondern der Ungleichheit.32 Aufgrund dieser Überlegungen stellt sie das Kulturkonzept infrage: Kultur sei »das entscheidende Instrument der Herstellung des Anderen« 31 In einer Fußnote weist sie darauf hin, dass die »interessantesten Gedanken« zur Problematisierung der Differenzannahme von Haraway stammten (vgl. 1996: 42). 32 Nachdem ich im Exkurs aufgezeigt habe, dass es innerhalb des Feminismus zu Spaltungen und Brüchen kam, ist es verwunderlich, dass AbuLughod hier den Feminismus als monolithischen Block darstellt und die Uneinigkeiten nicht thematisiert. Möglicherweise lässt sich dies dadurch erklären, dass sie eine Darstellung des Feminismus »nach außen«, d.h. für einen nicht-feministischen Adressatenkreis gibt. 92
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(ebd. 21). Zwar sei anstelle der binären Differenz des Kulturbegriffs im 19. Jahrhundert, der mit dem Gegensatz »Barbarei vs. Zivilisation« operierte, ein pluraler Kulturbegriff aufgetaucht, und der Übergang von »Kultur« zu »Kulturen« habe einen relativierenden Effekt. So habe die Anthropologie des 20. Jahrhunderts den Kulturrelativismus befördert und sei immer auch eine Form kultureller (Selbst-)Kritik. Außerdem sei immer wieder der Versuch zu erkennen, Differenz nicht in Hierarchie zu übersetzen. Trotz alledem müsse aber davon ausgegangen werden, dass die Pluralisierung des Kulturbegriffs keine Garantie dafür biete, »der Tendenz zum Essentialismus zu entgehen« (vgl. ebd.). Der Kulturbegriff tendiere dazu, Differenzen festzuschreiben, wodurch nicht nur die Heterogenität innerhalb der Gruppen ausgeblendet, sondern auch Hierarchisierung in Kauf genommen werde. Um diese Kritik abzusichern, bezieht sie sich auf postkoloniale Studien: Appadurai (1988) habe gezeigt, dass die Differenzbehauptung die »andauernde Einkerkerung nicht-westlicher Völker in Zeit und Raum« bewirke (ebd. 24), dass »Eingeborene« ein Hirngespinst der anthropologischen Imagination seien und dass es eine »Komplizenschaft« des anthropologischen Kulturbegriffs mit der andauernden Einkerkerung nichtwestlicher Völker in Zeit und Raum gebe. Den von den AnthropologInnen erforschten Kulturen würde tendenziell Geschichte verweigert. Daraus folgert Abu-Lughod, dass dieser »Kerker« nur dann zu öffnen sei, wenn das Kulturkonzept insgesamt infrage gestellt werde.33 Außerdem zitiert sie Said (1978), der gefordert habe, die Unterscheidung zwischen »Orient« und »Okzident« fallen zu lassen. Seine Analyse habe deutlich gezeigt, »wie und wann bestimmte Unterschiede […] in die Herrschaft des einen über den anderen einbezogen werden« (ebd. 25). Nachdem sie aufgezeigt hat, dass organische Ganzheits-Metaphern und die holistische Methodologie der Anthropologie aufs engste mit dem Kulturbegriff verknüpft sind (ebd.), folgert sie, dass es an der Zeit sei, den hohen Einsatz, den die Anthropologie bei der Aufrechterhaltung und Verewigung des Glaubens an die Existenz von Kulturen, die als abgegrenzt, different und separat von unserer eigenen identifizierbar seien, aufbringe, zu überdenken: »Sollten AnthropologInnen nicht ›Kultur‹ und ›Kulturen‹ mit ähnlicher Skepsis behandeln als Schlüsselbegriffe eines
33 Das Bild des Gefangen-Seins im Kerker der Geschichte ist insofern interessant, als Foucault davon ausgeht, dass »wir« »Gefangene der eigenen Geschichte« seien (1994: 245, vgl. oben), postkoloniale Theoretiker hingegen ein solches Denken gerade ablehnen (vgl. Parry 1995: 44). Hängt dies vielleicht auch mit der »Scheidelinie zwischen Westen und NichtWesten« zusammen? 93
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Diskurses, in dem Anderssein und Differenz, wie Said zeigt, die ›Qualität von Talismanen‹ angenommen haben?« (Ebd.) Wenn Abu-Lughod an dieser Stelle »Kultur« als »Schlüsselbegriff eines Diskurses« bezeichnet, scheint auch sie nun das poststrukturalistische Vokabular zu verwenden. In ihrem Vorschlag für Lösungsstrategien geht sie jedoch nicht weiter auf Foucaults Ansatz ein. Sie nennt zwar kurz die Ansätze von Bourdieu und Foucault – »Praxis« sei in der Anthropologie mit Bourdieu, »Diskurs« mit Foucault assoziiert – doch sie selbst schlägt eine andere Strategie vor: Um »über das Leben von Leuten zu schreiben, und dabei die anderen als weniger anders zu konstituieren« (ebd. 29), seien »Ethnographien des Partikularen« anzufertigen. Dadurch seien Generalisierungen, die Abstraktion und Verdinglichung begünstigten, zu vermeiden. Da dieser Lösungsansatz einen breiten Raum in ihrem Aufsatz einnimmt und auch für meine Arbeit hilfreich sein könnte, ist er zu kommentieren. Abu-Lughod führt aus, dass ein Experimentieren mit der Form des anthropologischen Schreibens notwendig sei, solange der Westen eine enorme diskursive, militärische und wirtschaftliche Macht, die durch das kulturanthropologische Schreiben entweder abgestützt oder infrage gestellt werden könne, besitze (vgl. ebd. 40). Sie schlägt vor, einen »Diskurs der Nähe« bereitzustellen, um die Hierarchie zwischen den professionellen Beobachtern des alltäglichen Lebens und denen, die dieses Leben leben, zu überwinden und »die Elemente der Unvorhersagbarkeit« betonen zu können. Das gelingt ihr in ihrer »Ethnographie« einer Hochzeit, sie kann die Spezifität und den ungewissen Ausgang der Episode in den Mittelpunkt rücken. Dadurch kann sie auch »Generalisierungen, die die Effekte der Zeitlosigkeit und Kohärenz erzeugen und so die essentialistische Vorstellung von ›Kulturen‹ untermauern, die sich von der unseren unterscheiden«, vermeiden (vgl. ebd. 37f.). Dabei ist jedoch zu beachten, dass auch Abu-Lughods Beschreibungen, die den Eindruck von Authentizität erzeugen, Konstruktionen sind und dass auch sie in ihrer »Ethnographie des Partikularen« eine konstruktive Tätigkeit ausübt. An dieser Stelle sei hinzugefügt, dass der Titel ihres Beitrags Gegen Kultur Schreiben nicht nur ein Schreiben gegen die Sicherheit, mit der die Kategorie »Kultur« in ihrem Fach vorausgesetzt wird, meint, sondern auch ein »neues« anthropologisches Schreiben.34 Wie Clifford Geertz in Dichte Beschreibung aufgezeigt hat, besteht die Arbeit von An34 Der Titel bezieht sich auch auf den von James Clifford und George E. Marcus herausgegebenen Band Writing Culture (1986), in dem in verschiedenen Aufsätzen auf die Notwendigkeit, neue Methoden und Techniken in der Kulturanthropologie zu entwickeln, hingewiesen wird. 94
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thropologen in erster Linie im Schreiben von Texten. Hierauf nimmt Abu-Lughod Bezug. Es sei wichtig, die Faktoren, die das Konstruieren von anthropologischen »(Teil-)Wahrheiten« bedingen, im Auge zu behalten (1997: 41f.). Aber woher nimmt Abu-Lughod dann die Sicherheit, dass in ihren Konstruktionen das (reale?) »Leben« besser dargestellt werden kann als in anderen? Außerdem muss sie eine Verantwortung für ihr Schreiben übernehmen, die sie kaum tragen kann.35 Wenn sie individuelle Geschichten (be)schreibt, kann die detaillierte (Be-)Schreibung konkreter Personen und/oder Ereignisse für eben diese Personen auch negative Folgen haben.36 Diese Kritik bezieht sich auf ihre Lösungsstrategie, nicht auf ihre Kritik am Kulturkonzept. Diese ist überzeugend, denn sie macht deutlich, dass in ihm Differenz immer schon vorausgesetzt wird und dass bei einer Differenzbehauptung auf jeden Fall – nicht nur bei einer binären Codierung – Hierarchie »einschmuggelt« wird. Es zeigt sich also deutlich, dass, um Hierarchisierung(en) zu vermeiden, der Kulturbegriff abzulehnen ist. Damit zeichnet sich ab, dass die Annahme der kulturellen Differenz problematisch ist und daraus Folgerungen für meine empirische Arbeit zu ziehen sind. Wenn diese Annahme negative Folgen hat, so heißt dies bezogen auf meine Forschungsfrage, dass ich in meiner Untersuchung nicht mehr voraussetzen konnte, dass es Kultur – und verschiedene Kulturen – »gibt«. Die Basis meiner empirischen Untersuchung war also auch in dieser Hinsicht erschüttert. Da ich nun eine Lösung für das Problem, ob und wie ich ohne die Annahme der (geschlechtlichen und) kulturellen Differenz weiterarbeiten könnte, suchte, habe ich gefragt, inwieweit Abu-Lughods Kritik in der Ethnologie aufgenommen wurde und welche Lösungen andere Autoren vorschlagen haben. Bevor ich dies anhand einiger Beiträge exemplarisch aufzeige, möchte ich noch erwähnen, dass, wenn AbuLughod mit Haraway und Butler in einem Diskussionszusammenhang stand – auch sie dankt in einer Fußnote den »Mitgliedern des Gender Seminars 1987-88« – sie offensichtlich sowohl Haraways als auch Butlers Ansatz kannte, sich aber nicht auf Butler, sondern nur auf Haraway bezieht.37 Umgekehrt lässt sich dann auch folgern, dass Butler Abu35 Abu-Lughod weist selbst auf das Problem der Veröffentlichung des Wissens über konkrete Personen in einer globalisierten Welt hin (vgl. 1996: 41f.). 36 M.E. ist es notwendig, nach besseren Möglichkeiten zu suchen. Lässt sich Lebendigkeit nicht auch in einer abstrakten Darstellung erreichen? 37 Vielleicht lässt sich Abu-Lughods Kritik an der »Botschaft der Hyperprofessionalität« mancher Kulturanthropologinnen auch als Kritik an Butler 95
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Lughods grundsätzliche Kritik am Kulturbegriff kannte. Dann fällt auf, dass sie diese nicht aufnimmt, sondern wie selbstverständlich von der Annahme der Pluralität der Kulturen ausgeht.
Kulturanthropologie ohne »Kultur«? Die postkoloniale Kritik und die radikale Ablehnung des Kulturkonzepts durch Abu-Lughod blieben nicht ohne Folgen für die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie. Werner Schiffauer z.B. beschreibt in seinem Aufsatz Die Angst vor der Differenz die tiefgreifende Krise des Faches: »Wir stehen an einem Wendepunkt der Wissenschaftskultur im Fach Kulturanthropologie – einem Wendepunkt, der die Episteme, die Fragestellungen, die Forschungsrelevanzen und vor allem die Forschungsethik betrifft.« (1997: 157) Er zeigt auf, dass die Problematisierung der Differenz das Fach »im Kern« treffe (vgl. ebd. 167). Während noch vor 20 Jahren ein »droit à la différence« gefordert worden sei, stehe heute die Behauptung von Differenz immer schon unter Verdacht. Meistens laute der Vorwurf, hierdurch würde ein othering, eine »Veranderung« betrieben und/oder es werde eine »Dichotomisierung« vorgenommen (vgl. ebd. 158). Während der gesellschaftskritische Diskurs früher um die Frage der Ausbeutung kreiste, gehe es heute um die Frage der Ausgrenzung (ebd. 162). Statt der Vertikalen (»oben vs. unten«) habe die Horizontale (»innen vs. außen«) an Bedeutung gewonnen (ebd. 163). Als Gründe für diese Verunsicherung nennt Schiffauer: 1. die Durchsetzung einer konstruktivistischen Auffassung, 2. die veränderte Auffassung von gesellschaftlichen Machtstrukturen und 3. die Globalisierung, die zu einer Verschachtelung der Diskurse und Herausbildung einer neuen Ethik führe (vgl. 159). Die ersten beiden Punkte sind auch in der feministischen Diskussion zu finden. Und so wundert es nicht, dass in Schiffauers Ausführungen ähnliche Gedanken wie bei Haraway auftauchen. Zunächst führt er zum Konstruktivismus an, dass der Begriff des Realen ins Wanken geraten sei. Dadurch hätten »wissenschaftliche Aussagen ihren privilegierten Standpunkt als schiedsrichterliche, gleichsam höchste Instanz verloren« (ebd. 160). Die Einsicht in den konstruktiven Charakter des Wissens bedeute vor allem mehr Verantwortung: »Weil wir die Welt nicht nur registrieren, sondern auch schaffen, sind wir verlesen: »Trotz ihrer Sensibilität für Fragen des Andersseins und der Macht und für die Bedeutung der Textualität für diese Fragen benutzen sie einen Diskurs, der sogar noch exklusiver ist als der der gewöhnlichen Anthropologie, den sie kritisieren, und der so die hierarchischen Unterscheidungen zwischen ihnen selbst und den anthropologischen Anderen noch verstärkt.« (1996: 32) 96
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antwortlich für das, was aus unseren Konstruktionen wird – wie sie gebraucht und vor allem missbraucht werden.« (Ebd. 161) Haraway schreibt im Manifest: »Dieses Essay ist ein Plädoyer dafür, die Verwischung dieser Grenzen [zwischen Produktion, Reproduktion und Imagination, U.M.] zu genießen und Verantwortung bei ihrer Konstruktion zu übernehmen.« (1995a: 35, Hervorh. im Original) Und in Situiertes Wissen bezeichnet sie Wissen als einen »verdichteten Knoten in einem agonistischen Machtfeld« (1995b: 75). Auch hierauf geht Schiffauer ein, wenn er die »Rekonzeptualisierung von Macht« thematisiert: Da man nicht mehr davon ausgehen könne, dass einige Macht hätten, andere nicht, könne die Macht auch nicht mehr »erobert« werden. Sie sei vielmehr »polyzentrisch«, und alle hätten an ihr teil. Zwar sei Machtkritik noch möglich – auch Überlegungen zur Verbesserung der Gesellschaft in ökologischer, feministischer und kultureller Hinsicht seien damit nicht vergebens (1997: 162) – aber wichtig sei »das Fehlen einer Perspektive, mehr noch: der Zweifel an der grundsätzlichen Möglichkeit einer Perspektive« (ebd. 162). Hier ist auf seine im Vergleich zu Haraway differente Haltung hinzuweisen: Während für Haraway die (männliche) Vorstellung einer Perspektive von nirgendwo (a view from nowhere) mit dem Herrschaftsanspruch verbunden ist und sie deshalb für »einen brauchbaren, allerdings nicht unschuldigen Objektivitätsbegriff« plädiert (vgl. 1995b: 82)38, behauptet Schiffauer, die Möglichkeit einer Perspektive müsse grundsätzlich bezweifelt werden (wobei allerdings zu fragen ist, ob es überhaupt möglich, keine Perspektive einzunehmen). Beim dritten Punkt zur »Verschachtelung der Diskurse« weist Schiffauer auf Lila Abu-Lughod hin. Sie habe als »Arabo-Amerikanerin« und Ethnologin »die Dynamik der Grenzziehung und der Ausgrenzungen am eigenen Leibe« erfahren (1997: 165), EthnologInnen wie sie hätten deshalb eine »besondere Sensibilität für Machtfragen entwickelt« (ebd. 166).39 Beiträge von »Halfies« seien daher wichtig für die Durchsetzung einer neuen Wissenschaftsethik: »Die neue Konzeptualisierung von Machtbeziehungen verändert unsere Verortung des ethnographischen Diskurses, und die Präsenz derjenigen, über die wir schreiben (auf die 38 »Auf eine weniger verkehrte Weise erweist sich Objektivität so als etwas, das mit partikularer und spezifischer Verkörperung zu tun hat und definitiv nichts mit der falschen Vision eines Versprechens der Transzendenz aller Grenzen und Verantwortlichkeiten. Die Moral ist einfach: Nur eine partiale Perspektive verspricht einen objektiven Blick.« (Haraway 1995b: 82) 39 Er erwähnt also nicht, dass sie als Feministin (und Anthropologin) schreibt und dass ihre »Sensibilität« aus den feministischen Diskussionen gespeist ist, wie sie in ihrem Aufsatz ausführt, sondern er schreibt sie ihrer Alltagserfahrung zu. 97
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uns insbesondere die Halfies hinweisen), führt zur Durchsetzung einer neuen Wissenschaftsethik.« (Ebd. 167)40 Im zweiten Teil seines Beitrags beschreibt Schiffauer die produktive Wirkung dieser Verunsicherung: Es würden inzwischen fünf verschiedene Strategien vorgeschlagen, um der Kritik am Kulturbegriff Rechnung zu tragen: • die Thematisierung des »Raumes zwischen den Kulturen« und der »Synkretismen«, • die Abkehr von Kultur als einem System oder einer in sich geschlossenen Struktur, • die Hinwendung auf das Eigene (also die Erforschung der eigenen Kultur), • die Konzipierung einer »selbstreflexiven Kulturanthropologie« und • die Wendung zum Individuum oder »Anthropologie des Selbst«. Diese Forschungsstrategien seien entstanden, um das Problem der Differenz zu bewältigen. Dennoch seien die Aussichten, die Probleme wirklich zu lösen, skeptisch zu beurteilen (vgl. ebd. 169). Betrachten wir diese Strategien genauer. Zur ersten Strategie (des »Raumes zwischen den Kulturen« und der »Synkretismen«) formuliert er: »Die Untersuchung der Dynamik, die sich zwischen den Kulturen entfaltet, setzt notwendigerweise einen Begriff der Kultur voraus. […] Wenn kulturelle Elemente ›konvergieren‹ sollen, müssen sie zunächst different sein.« (Ebd.) Damit bringt er eine ähnliche Kritik vor, wie ich sie oben an Ça÷lar geäußert habe: Die Hinwendung zum Hybriden, zu den Mischformen und Synkretismen überwindet nicht den Kulturbegriff, sondern setzt ihn voraus. Dies sei an dieser Stelle auch gegen Pieterse und seine »Theorie der Hybridbildung« (1998), auf die Lenz in ihrem o.g. Aufsatz Bezug nimmt (vgl. Lenz 1996: 219), betont: Pieterse will, ähnlich wie Kulturanthropologen einen »Raum zwischen den Kulturen« eröffnen wollen, eine »Soziologie des Dazwischen, eine Soziologie der Zwischenräume«, durch die auch ein »Verschmelzen von endogenen und exogenen Kulturbegriffen« befördert werden könne, etablieren (vgl. 1998: 120). Die Theorie der Hybridbildung sei als eine »Kritik des Essentialismus bedeutsam«, denn sie untergrabe »das nach innen gerichtete Konzept von Kultur, das dem romantischen Nationalismus, dem Rassismus, dem Ethnozentrismus, der religiösen Rivalität, dem Kulturchauvinismus und dem kulturellen Essentialismus zugrunde« liege (ebd. 119). Pieterse 40 Dabei schreibt er jedoch nicht von der »Verortung« der ForscherIn, die für Abu-Lughod und Haraway so wichtig ist, sondern spricht von der veränderten »Verortung des ethnographischen Diskurses«, womit er möglicherweise die Standortbestimmung der Ethnologie meint. 98
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stellt seine Theorie sozusagen als ein Allheilmittel gegen all die Übel, die mit dem Kultur-Konzept verbunden sind, dar. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass auch er noch differente Kulturen, aus denen eine »Melange« entsteht, voraussetzen muss. Auch wenn er Differenz in Ähnlichkeit übersetzt, wird das Problem der Differenz nicht gelöst, denn mit »Ähnlichkeit« meint er offensichtlich Konvergenz: »Die Kategorie der Hybridbildung soll dabei auf die unterstellte Differenz zwischen den Paradigmen, Sitten und Überzeugungen verweisen, die in die Melange eingehen. Jedoch erweist sich diese Differenz gerade durch die Hybridbildung als eine relative, so dass man aus einem etwas anderen Blickwinkel genauso gut von einer sich durchsetzenden bhnlichkeit sprechen könnte.« (1998: 112, Hervorh. im Original)
Folglich können, auch wenn Pieterse dies behauptet, die Probleme, die mit der Annahme von Kultur und kultureller Differenz einhergehen, durch eine Theorie der Hybridbildung nicht wirklich gelöst werden (vgl. dazu unten Kap. »(De-)Konstruktion«). In Schiffauers Darstellung der zweiten Strategie, bei der »Kultur« als »Collage« oder als »eine Arena, ein Feld von Diskursen« konzeptualisiert werde,41 wird nicht ganz deutlich, warum hierbei das Problem der Differenz nicht gelöst werden könne. Da er selbst kaum die Hoffnung hat, dass es auf diese Weise gelöst werden könne, ist es vielleicht verständlich, dass er dies nicht differenzierter darstellt. Für spätere Überlegungen ist jedoch gerade dieser Punkt wichtig. Hier fällt auf, dass nach seiner Darstellung eine Kultur mehrere Diskurse umfasst oder dass mehrere Diskurse quer durch das Feld einer Kultur laufen und die Kulturanthropologie »die Spannung zwischen den relativ konstanten (Diskurs-) Regeln und den manipulierbaren, für Strategien offenen Phänomenen« (1997: 169) untersuchen solle. Möglicherweise sieht er hier das Problem, wie der Freiheitsgrad des individuellen Handelns zu beschreiben ist. M.E. ist vage sein Versuch zu erkennen, Butlers Ansatz aufzunehmen. Ob aber auf diese Weise das Kultur-Konzept durch das DiskursKonzept zu ersetzen ist, wird später genauer zu prüfen sein (vgl. unten Kap. »Diskurstheorie und -analyse«).
41 Den Ansatz von Abu-Lughod rechnet er diesem Punkt zu. Sie habe in einer »radikalisierten Variante« vorgeschlagen, den Begriff der Kultur vollends aufzugeben und ihn durch den des Diskurses zu ersetzen (vgl. 1997: 168). Hierzu ist anzumerken, dass Abu-Lughod den Kultur-Begriff zwar »radikal« ablehnt, ihn aber nicht durch den Diskurs-Begriff, sondern durch die »Ethnographie des Partikularen« ersetzt. 99
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Betrachten wir noch Schiffauers Kritik an den weiteren Lösungsansätzen. Er kritisiert zu Recht die Strategie der Hinwendung zum Eigenen, weil diese die Differenzannahme zwischen »eigener« und »fremder Kultur« zur Voraussetzung hat (vgl. ebd. 170).42 Schließlich ist seiner Auffassung nach auch die Wendung zum Individuum in einer »Anthropologie des Selbst« wenig Erfolg versprechend.43 Sie könne zwar verdeutlichen, dass »Kultur« für das Individuum ein »Gefängnis« oder auch eine »Bastion des Selbstrespekts« sein könne (ebd. 168), sie sei aber nicht in der Lage, das Problem der Differenz befriedigend zu lösen, weil das Individuum »in den Diskurs des Aushandelns immer schon als kulturell geprägt« eintrete (vgl. ebd. 170). (Dass diese Kritik nicht ganz berechtigt, gleichwohl eine andere Kritik vorzubringen ist, werde ich weiter unten aufzeigen.) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Schiffauer sozusagen defensiv am Kulturbegriff festhält und sich dabei auf Foucault bezieht: »Die Konstruktion der Differenz scheint mir das einzige Mittel zu sein, der Hegemonie des europäisch-amerikanischen Denkens (das nun nicht mehr auf diese Kontinente beschränkt ist) etwas entgegenzusetzen. Nur wenn wir an der Bestimmung einer Differenzwissenschaft festhalten, bleibt die Kulturanthropologie eine, um mit Foucault zu sprechen, ›Gegenwissenschaft‹.« (Ebd. 171)
Schiffauer will also am Kultur-Konzept in der Kulturanthropologie festhalten, um »die Hegemonie des europäisch-amerikanischen Denkens« kritisieren zu können. Aber ist es wirklich sinnvoll, zu diesem Zweck an einem fragwürdigen Konzept festzuhalten? Hier zeigt sich deutlich, dass eine Kulturanthropologie, die sich als »Differenzwissenschaft« versteht, auf jeden Fall die Kritik an der Annahme der Differenz auf sich zieht.
42 Es ist deshalb verwunderlich, dass in der sozialwissenschaftlichen Ethnographie, die die »Befremdung der eigenen Kultur« zum Programm hat (vgl. Amman/Hirschauer 1997), weder die Kritik an der Annahme von Kultur noch die an der Differenzannahme aufgenommen wurde bzw. wird. 43 Der Lösungsansatz einer »selbstreflexiven Kulturanthropologie« ist nicht weiter zu kommentieren, weil jede Wissenschaft selbstreflexiv sein sollte, sie also nur insofern als ein eigenständiger Ansatz betrachtet werden kann, als hier auf Feldforschung verzichtet und nur eine epistemologische Diskussion geführt wird. 100
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
»Selbst« statt »Kultur«? Um den Lösungsansatz der »Anthropologie des Selbst« genauer zu betrachten, ist Martin Sökefelds Aufsatz Debating Self, Identity, and Culture in Anthropology (1999a) hilfreich, zumal bei ihm deutlicher als bei Schiffauer eine Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen – auch feministischen – Theorien und Kritiken zu finden ist und er die Konsequenzen für die Arbeit der Kulturanthropologen in ihrer Feldforschung diskutiert. Anhand einer Fallstudie zeigt Sökefeld auf, wie das Handeln einer Person (Ali Hassan) in einer durch Pluralität und widersprüchliche Identitäten gekennzeichneten lokalen Gesellschaft, der Provinz Gilgit in Nordpakistan, zu beschreiben ist. Dabei prüft er, was die Konzepte des »Selbst«, der »Identität« und der »Kultur« in diesem Fall leisten. Geschult an Foucault und Derrida kritisiert er den holistischen Begriff der Identität in der Kulturanthropologie und bringt diesen in Verbindung mit der Strategie des othering: Häufig würde zwischen dem westlichen und dem nicht-westlichen Selbst unterschieden. Während für westliche Personen das kartesianische Selbst in Anspruch angenommen werde, werde nicht-westlichen ein solches Selbst abgesprochen und ihnen stattdessen »Identität« zugeschrieben (1999a: 418). Deutlich nimmt er die Diskussion um die Ausgrenzung der Anderen aufgrund von »Kultur« auf und bezieht sie auf das Konzept der Identität. Daran zeigt sich, dass er eine Verschiebung der ethnologischen Perspektive von »Kultur« auf das Individuum erreichen will. Er rückt die agency des Individuums in den Mittelpunkt und geht davon aus, dass das Handeln des Subjekts unter den Aspekten der Handlungsfähigkeit, der Reflexivität und des Selbst, die aufeinander bezogen seien, beschrieben werden könne: »My argument that agency is characteristic of the self and the self is a precondition for action may seem circular, but in fact the two, or, better, the three aspects cannot be separated, agency, reflexivity, and the self go hand in hand, each requiring both the others. Drawing such a close connection between the self and agency avoids the danger of voluntarism, because the self-reflexive monitoring of action also includes the recognition of conditions for and constraints on action, that is, the limits of agency.« (Ebd. 420)
Er versucht also, das Verhältnis von Selbst und Kultur so zu beschreiben, dass er weder einem Voluntarismus noch einem Determinismus das Worte rede (vgl. ebd.). Wie oben aufgezeigt, war dies ein zentraler Streitpunkt im feministischen »Streit um Differenz« (der allerdings von Butler als Missverständnis dargestellt wurde). Dabei zeigt sich, dass Sökefeld sich eher auf Benhabibs als auf Butlers Position bezieht, auch 101
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wenn er nicht ohne Ironie anmerkt, dass er auf dem Konzept des Selbst insistiere zu einem Zeitpunkt, zu dem im Westen das Konzept des autonomen Subjekts in Frage gestellt und das Subjekt als Effekt eines heterogenen Netzwerks betrachtet werde: »Here, the autonomous, egocentric Western self is reduced to a ›subject effect‹ and agency is seen as an ›effect of heterogeneous networks‹. The subject or self, and its agency are understood as a product of discourse and social/historical conditions.« (Ebd. 430) Offensichtlich kennt er Butlers Kritik. Er verteidigt sich aber gegen diese, indem er sich auf Foucault beruft, denn auch dieser habe in seinen späteren Schriften besorgt zum Ausdruck gebracht, dass das Subjekt durch »Dekonstruktion« zerstört werde: »Michel Foucault, one of the prime movers of this deconstruction […] was in his later writings quite anxious not to destroy the subject by deconstructing it.« (Ebd.)44 Daraus folgt für Sökefeld, dass »deconstruction should not be taken too far« und eine bescheidenere Konzeptualisierung des Subjekts zu wählen sei, denn schließlich sei die Frage, ob das Subjekt Handlungsfreiheit habe oder nicht, abhängig von der Perspektive des Forschers: »After all, the question of whether something (the self, agency, the subject) is a cause of something or an effect of something else is a question of time and perspective. It can be either, depending on the observer’s emphasis.« (Ebd. 430) Doch gerade dieser Unterschied in der Perspektive ist entscheidend für die Analyse.45 Je nachdem, wie im theoretischen Ansatz das Subjekt konzipiert wird, das heißt, ob es als außerhalb oder innerhalb des Feldes stehend konzipiert wird, unterscheiden sich die Wege der Analyse (und die Art der Ergebnisse) erheblich. Deshalb sind methodologische Überlegungen so wichtig. Und deshalb wurde im »Streit um Differenz« die Konstitution des Subjekts so heftig diskutiert. Doch Sökefeld scheint für einen vermittelnden Weg einzutreten. Mit einer »bescheidenen Konzeptualisierung« des Subjekts meint er offensichtlich ein Subjekt, das sowohl innerhalb als auch außerhalb des Feldes steht. Dies ist, wie oben aufgezeigt, nicht möglich. Und so zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sein Lösungsansatz nicht wirklich trägt. Gleichwohl ist noch ein Hinweis zu geben: Für ihn ist das Konzept des Selbst wichtig, denn er
44 Als Quelle gibt er Foucaults Aufsatz Das Subjekt und die Macht an, der in dem von Dreyfuss und Rabinow herausgegebenen Band Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (1994) erschienen ist. 45 Azam Chaudhary bemerkt deshalb in seinem Kommentar zu Sökefeld: »In raising the question of the relationship between identity and self this article opens new directions in anthropological thinking, but the question of the methodology for exploring this relationship in different types of ethnographic settings remains open.« (1999: 431) 102
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will das Problem der »dichotomous boundaries«, der Grenzziehung zwischen Westen und Nicht-Westen, lösen, indem er für ein »paradigm of more similarity« plädiert:46 »I want to endorse the view, however, that our selves and their selves are not necessarily as different as many anthropological texts, employing the dichotomy of the self and the other as an a priori of ethnography, portray them.« (Ebd. 431) Er versucht also – ähnlich wie Pieterse mit seiner Theorie der Hybridbildung oder letztlich auch Abu-Lughod mit ihrem ethnographischen Schreiben des Partikularen und der Bereitstellung eines »Diskurses der Nähe« – das Problem des othering dadurch zu lösen, dass er die Ähnlichkeit statt der Differenz betont. Dabei setzt er das Selbstkonzept sozusagen an die Stelle des Kulturkonzepts, denn er behauptet, es sei notwendig, nicht von einer superindividuellen Einheit wie »Kultur«, sondern von den Individuen auszugehen, »Kultur« sei eine wenig hilfreiche »Konstruktion« der Kulturanthropologie: »This entity – culture – is only our construction from countless encounters, dialogues, and interactions with actual selves or individuals.« (Ebd.) In seiner Replik auf die Kritik anderer Kulturanthropologen macht er noch einmal deutlich, warum ihm der Einheitsbegriff »Selbst« so wichtig sei: Überall hätten »Selbste« (selfs) mit Widersprüchen und einer Pluralität von Identitäten zu tun »whether they are derived from religion, ethnic identity, gender, class, political orientation, subcultural affiliation, or any other kind of difference«. (Ebd. 444)47 Hier lässt sich folgern, dass er – ähnlich wie Lenz aufzeigt, dass die Migranten zwischen race, class und gender stünden und in ihrem »konfigurativen Handeln« neue kulturelle Mischformen und Synthesen bildeten (vgl. 1996: 219), und ähnlich wie Abu-Lughod darstellt, dass feministische Halfy-Anthropologinnen an der »Schnittstelle zwischen Systemen der Differenz gefangen« seien (1996: 17) – behauptet, alle Subjekte, nicht nur die in einer durch Pluralität und widersprüchliche Identitäten gekennzeichneten lokalen Gemeinschaft lebenden, hätten es mit verschiedenen Systemen der Differenz zu tun. Auch seine Schlussfolgerung ist ähnlich: Nur wenn 46 Hier zitiert er Spivak, die, wie oben aufgezeigt, die Unterscheidung zwischen Selbst und Anderen und (ähnlich wie Mohanty und zuvor schon Said) die Dichotomisierungen kritisiert hat. 47 Wenn Sökefeld schreibt, Ali Hassan hätte es vor allem mit gender-Differenzen zu tun (»most notably with gender, which is probably socially the most effective and meaningful difference in Gilgit«, 1999b: 444), so könnte dies im Übrigen noch als Bestätigung für meine Annahme der vertikalen Trennungslinie im muslimischen Körperschema gelesen werden: Die Geschlechterdifferenz ist die bedeutendste Differenz in Gilgit, eben weil sie eine wichtige Differenz in der muslimischen Konstruktion der Wirklichkeit ist. 103
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man von einem Selbst ausgehe, könne man erklären, wie das Subjekt mit den Widersprüchen fertig werde. Das Selbst wird also als eine Instanz vorausgesetzt, die die Organisation der Handlungen übernimmt. (Dies ist in gewisser Weise anschlussfähig an die Diskussion in den Neurowissenschaften, vgl. Kap. »(De-)Konstruktion«.) Dabei muss er aber ein Subjekt vor dem Feld voraussetzen, denn das Selbst steht für das Subjekt bzw. Individuum. Da Butler überzeugend eingewendet hat, dass, wenn das Subjekt als vor dem Feld stehend konzipiert werde, die Macht, die in diesem Feld wirke und das zum Vorschein-Kommen der Subjekte regle, nicht mehr analysiert werden könne, ist zu folgern, dass Sökefelds Lösungsansatz nicht wirklich überzeugend ist. Zwar zeigt sich, dass Schiffauers Kritik, es müsse angenommen werden, dass das Subjekt bereits kulturell geprägt in das Aushandeln eintrete, dies könne die »Anthropologie des Selbst« nicht berücksichtigen, nicht zutrifft. Gleichwohl ist zu kritisieren, dass in Sökefelds Lösungsstrategie ein Subjekt vor dem Feld, also eine außerdiskursive Instanz vorausgesetzt wird. Anders formuliert: Er kann der Kritik an der Annahme des autonomen Subjekts, auf die er selbst hinweist, letztlich nicht Rechnung tragen.
Exkurs: Postkulturelle Phase vs. postkulturelle Realität In den beiden hier exemplarisch diskutierten Aufsätzen wird deutlich, dass die Sicherheit, mit der in der Kulturanthropologie »Kultur« als homogene, klar umgrenzte Einheit vorausgesetzt wurde, in Unsicherheit umgeschlagen ist. Vielleicht lässt sich deshalb folgern, dass das Fach in einer »postkulturellen Phase« ist. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass der Befund, die Kulturanthropologie sei in einer postkulturellen Phase, nicht gleichzusetzen ist mit der Behauptung, wir lebten alle in einer postkulturellen Welt. Außerdem lassen sich auch hier – ähnlich wie im feministischen »Streit um Differenz« – die Folgen epistemologischer Kritiken für politische Argumentationen aufzeigen. Richard A. Wilson z.B. beschreibt in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Human rights, culture and context (1997) die Wirkung der Kritik am Kultur-Konzept für die Menschenrechtsdiskussion und betont die Notwendigkeit, einen neuen theoretischen Rahmen zu entwickeln. Die Kulturanthropologen hätten auf die Vielfalt moralischer Wertsysteme hingewiesen und aufgezeigt, dass »there can be no essential characteristics of human nature or human rights which exist outside of discourse, history, context or agency« (ebd. 5). Dabei hätten sie aber offensichtlich »a nineteenth-century notion of culture«: »Their relativism is predicated upon bounded conceptions of 104
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linguistic and cultural systems, but it falls apart in contexts of hybridity, creolisation, intermixture and the overlapping of political traditions.« (Ebd. 9) Außerdem würden ihre Argumente zunehmend durch die Globalisierung kultureller, ökonomischer und politischer Prozesse unterminiert. Wilson macht also deutlich, dass die Kritik an den Argumenten der »cultural relativists« berechtigt sei. Gleichzeitig kritisiert er aber, dass sowohl Relativisten auch Universalisten totalisierende Konzepte hätten, und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass die Menschenrechte im Kontext von Machtbeziehungen zu analysieren seien: »[Human rights] are a particular form of power and governance interior to the social body and are embedded in matrices of value distinctions. In this perspective, rights are positioned at the concrete conjuncture of two fields of the social: agency and power.« (Ebd. 14) Er schlägt vor, agency and power in den Mittelpunkt zu rücken. In Hinblick auf spätere Überlegungen sei darauf hingewiesen, dass Wilson sich zwar auf Foucault beruft (vgl. ebd. 17), gleichzeitig aber in Anlehnung an C. Geertz einen interpretativen Ansatz favorisiert, um die Verknüpfungen zwischen lokalen und globalen Netzen untersuchen zu können. Das heißt: Er betrachtet die vielfältigen Machtbeziehungen (»multiplicity of force relations«, ebd.) als Netzwerk, das aus »sets of relationships with degrees of both asymmetry and reciprocity« besteht (ebd. 13), und die Menschenrechte als Ergebnis politischer Kämpfe (»Human rights are above all the result of historical political struggles between individuals and interest groups.«, ebd. 16). Wenn er aber vom »Fluss der Macht« spricht, meint er weniger die Macht der Akteure, sondern eher schon eine unpersönliche Struktur, wie Foucault sie beschreibt, nämlich eine »Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren« (vgl. WW 113), wie an folgender Aussage deutlich wird: »Rights seek to constrain the flow of power like bottlenecks, by framing power as fixed, confinable and normative, but power leaks out, and flows around rights. Applying this to our subject, we can say that human rights therefore depend on power relations in a given context for their implantation, and accordingly alter forms of governance and the exercise of power.« (Wilson 1997: 17)
Später werde ich aufzeigen, dass zwischen der Macht(ausübung) von Akteuren einerseits und der Macht als Struktur genauer zu unterscheiden ist. Hier ist festzuhalten, dass Wilson zwar die Kritik an »Kultur« und an der Annahme eines Subjekts als »Kulturträger« aufnimmt, dass er aber letztlich eher von der Handlungsfähigkeit des Subjekts, nämlich von Gruppen, die um die Durchsetzung ihrer Interessen kämpfen, ausgeht als 105
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von der Handlungsmöglichkeit, die durch den Rahmen, nämlich den Diskurs, begrenzt ist. Interessant ist nun, dass Nigel Rapport in seiner Rezension dieses Bandes hervorhebt, Wilson habe gezeigt, dass die Politik den Individuen Vorrang vor dem kulturellen Milieu einzuräumen habe, denn es seien die Individuen, die die »kulturellen Wahrheiten« belebten, aufrechterhielten und veränderten: »It is individuals who can be seen as animating, maintaining and transforming cultural thruths, while cultural communities should be seen to represent individuals’ voluntary choices of situational belonging.« (1998: 386) Er gibt zwar zu, dass dies eine normative Setzung sei (»It posits individuals as ontologically prior to the cultural milieux which they create and in which they dwell.«, ebd.) – und damit ist auch angedeutet, dass er die Annahme eines Subjekts vor dem Feld für notwendig hält – aber er hält diese Setzung für unaufgebbar, weil es ein elementares Bedürfnis (und Recht) der Menschen sei, Kultur anzunehmen oder abzulehnen. Rapport argumentiert also ähnlich wie Benhabib im »Streit um Differenz«, normative Setzungen seien immer schon notwendig. Dagegen hatte Butler angeführt, dass diese normativen Setzungen gerade die Analyse der Verhältnisse verhinderten: »Einmal abgesehen von der anthropologischen Beschränktheit des Konzepts, in dem Freiheit und Wille als universelle Konstanten über die Kulturen hinweg angenommen werden, ist es unmöglich, die Frage zu beantworten, wie die Konstruktion des Subjekts als Träger eines emanzipatorischen Potentials eben diese Handlungsfähigkeit voraussetzt, die es innerhalb der komplexen Beziehung von Macht, Diskurs und Praxis zu erklären gilt. Was sind, mit anderen Worten, die konkreten Bedingungen, unter denen die Handlungsfähigkeit möglich wird; dies ist eine ganz andere Frage als die metaphysische, die danach fragt, was das Selbst ist, damit seine Handlungsfähigkeit theoretisch vor irgendeiner Bezugnahme auf Macht sichergestellt werden kann.« (SD 127)
Während Wilson aufgrund dieser Argumente die Machtbeziehungen analysieren und nicht die Freiheit und den Willen des Individuums betonen will, rückt Rapport wieder das Subjekt in den Mittelpunkt. Auch in einer anderen Hinsicht missversteht Rapport Wilsons Ansatz: »What is most challenging in Wilson’s framing of the topic is his insistence on the world we live in being a post-cultural one.« (Ebd. 384) Rapport bezieht also das Adjektiv »postkulturell« nicht auf die aktuelle Phase der Kulturanthropologie, sondern auf die Realität. Dies wird noch deutlicher, wenn er diesem Fach eine neue Aufgabe zuschreibt: »The question for anthropology in this post-cultural environment is both how to write the meeting of internal differences and how to right it.« (Ebd.) Ab-
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gesehen davon, dass es schwierig ist, der Kulturanthropologie juridische Aufgaben zuzuschreiben, ist zu kritisieren, dass hier der Gewinn der Umstellung auf eine konstruktivistische Perspektive verschenkt wird. Es macht schon einen Unterschied, ob das Kultur-Konzept aus epistemologischen Gründen abgelehnt wird oder ob behauptet wird, die globalisierte Welt sei eine postkulturelle. Rapports Argumentation mit der »postkulturellen Realität«, der Natur und/oder dem Bedürfnis des Menschen, Kultur zu bewahren oder abzulehnen, berücksichtigt also nicht die aktuellen Diskussionen um die Konstitution des Subjekts.
Zusammenfassung Damit sind die Ausführungen zur Annahme der kulturellen Differenz zusammenzufassen. Auch wenn nach wie vor – wie z.B. in der Rede vom »Dialog der Kulturen« – »Kultur« als eine quasinatürliche Einheit betrachtet wird, wird, seitdem in den postkolonialen Studien die Differenzannahmen und in feministischen Studien die Annahme des Einheitssubjekts »Frau« kritisiert wurden, das Kultur-Konzept aus epistemologischen Gründen insgesamt infrage gestellt. Wenn vor einiger Zeit noch »der anthropologische Diskurs der kulturellen Differenz und der darin implizierten Trennung zwischen Gruppen von Menschen den Anschein des Selbstverständlichen« verliehen hat (vgl. Abu-Lughod 1996: 22), so ist diese Selbstverständlichkeit zumindest in der Kulturanthropologie inzwischen aufgebrochen. Ich habe aufgezeigt, dass die von AbuLughod in Anlehnung an Haraways Manifest vorgetragene radikale Kritik am Kultur-Konzept plausibel ist: Wenn die Annahme kultureller Differenz auf jeden Fall Hierarchie »hineinschmuggelt«, ist es notwendig, auf das Kultur-Konzepts zu verzichten. Dies ist auch auf meine eigene Arbeit zu beziehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich in der Formulierung meiner Forschungsfrage kulturelle Differenzen vorausgesetzt habe, ist zu kritisieren. Um für meine eigene Arbeit zu klären, ob und wie ich zu einer Neubegründung meiner Forschungsfrage gelangen könnte, habe ich die Lösungsansätze, die inzwischen in der Kulturanthropologie vorgeschlagen werden, genauer betrachtet. Dabei hat sich zum einen gezeigt, dass die Ansätze, die die Fokussierung des »Raums zwischen den Kulturen« und die Analyse von Misch- oder Hybridformen vorschlagen, zwar Differenz in Ähnlichkeit übersetzen, dabei aber noch kulturelle Differenzen voraussetzen müssen. Zum anderen hat sich bei der Betrachtung der »Ethnographie des Partikularen« (Abu-Lughod) und der »Anthropologie des Selbst« (Sökefeld) gezeigt, dass trotz der gesteigerten Sensibilität für Machtfragen die Analyse der Macht im Feld nicht mehr in Angriff genommen 107
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werden kann: Wenn ein Subjekt oder Selbst vor dem Feld vorausgesetzt wird und die Machtbeziehungen als dem Subjekt äußerlich vorgestellt werden, kann die Macht, die das Subjekt als »Effekt« hervorbringt, nicht mehr zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Ähnlich wie die Prüfung der Annahme der Geschlechterdifferenz hat also auch die Prüfung der Annahme der kulturellen Differenz ergeben, dass diese nicht zu begründen ist. Es ist auch deutlich geworden, dass die vorgeschlagenen Lösungsstrategien nicht überzeugend sind bzw. eben die Kritik auf sich ziehen, die Butler vorgetragen hat. Insofern zeichnet sich ab, dass eine Lösung am ehesten mit Butlers Ansatz möglich ist, denn nur in diesem wird das Subjekt als im Feld stehend betrachtet. In einem Exkurs möchte ich auf die praktischen Konsequenzen dieser Kritiken für mein empirisches Forschungsprojekt hinweisen.
Exkurs: Geht es überhaupt weiter? Bei der Formulierung meiner Forschungsfrage war ich davon ausgegangen, dass es sinnvoll sei, Unterschiede in den Darstellungen der Wahrnehmung einer anderen Person zu untersuchen, um zu prüfen, ob sich (noch heute) im Sprechen deutscher (westlicher) und türkischer (muslimischer) Frauen und Männer die Wirkung der horizontalen und vertikalen Trennungslinien bzw. die der von Foucault postulierten »Wissenschaft der Sexualität« und der »Liebeskunst« finden lässt. Nun war ich zu dem Ergebnis gelangt, dass eine derartige Forschungsfrage auf Annahmen gegründet ist, durch die die derzeitigen Machtverhältnisse eher konsolidiert als infrage gestellt werden. Meine Untersuchung schien so angelegt zu sein, dass sie genau die Kritiken auf sich zieht, die in den letzten Jahren vorgebracht wurden, insbesondere die Kritik des Essentialismus, der Dichotomisierung und des othering. Ist es dann überhaupt noch möglich, sie fortzusetzen? Müsste ich sie nicht abbrechen? Waren die Arbeitsschritte, die ich auf der empirischen Ebene inzwischen zurückgelegt hatte, also vergebens? Ich hatte inzwischen »Interviewdaten« gesammelt, diese in Gruppen geordnet und begonnen, diese auszuwerten. Konnte ich überhaupt noch mit diesen weiterarbeiten? Um das Problem, vor dem ich nun stand, zu verdeutlichen, möchte ich einen Ausschnitt aus meinem (schriftlichen) Datenmaterial vorstellen. Es handelt sich um 16 (recht kurze) schriftliche48 »Antworten«
48 Im »Materialband« werden die mündlichen Daten ausführlich vorgestellt. Dort wird auch dargestellt, warum ich zusätzlich zu diesen schriftliche Darstellungen erhoben habe (MB, Kap. 1.4.1.). 108
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
auf die Frage »Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie dachten, jemand sei eine Frau, und es war ein Mann, oder dass Sie dachten, jemand sei ein Mann, und es war eine Frau?« Diese »Antworten« haben mir 15bis 17-jährige SchülerInnen aus einer (multikulturellen?) Klasse gegeben, wobei ich betonen möchte, dass ich hier alle »Antworten«, die mir zurückgereicht wurden, vollständig und unkorrigiert, präsentiere. Tab. 1: Antworten von Jugendlichen 1.
Ja! Auf der Straße bei einer Schwulen und Lespen Demonstration.
2.
Ich saß an einem Samstag in meinem Auto und fuhr die Straße entlang. Die Sonne schien und ein paar Meter vor mir fuhr ein Auto auf der linken Spur. In dem Wagen sah ich lange blonde Haare also fuhr ich ein wenig schneller. Als ich neben dem Wagen fuhr und in das Auto rein sah, habe ich mich ziemlich erschrocken. Es war ein Mann.
3.
Ja, das ist mir schon passiert, aber nur auf den ersten Blick wenn ich jemanden von hinten sehe.
4.
Ja, ich hab einen Mann gesehen, der lange Haare hatte, ein Mädchengesicht und ziemlich klein.
5.
Ja. Ich sah auf der Straße ein Päärchen von Hinten. Eine Person war groß mit kurzen Haaren und die andere klein mit langen Haaren. Die große Person war die Frau, die kleine der Mann.
6.
Ja, aber immer nur im Fernsehen! Mal war es eine Frau, die sich zu einem Mann umoperiert hat und mal war es ein Mann der sich zu einer Frau hat umoperiert lassen.
7.
Ja, sogar schön öfter. Meistens in Bussen oder Bahnen. Am häufigsten sind es Frauen, die ich als Männer sehe.
8.
Ja ich hab auf der Straße einmal eine auffällig Gekleidete Frau bemerkt. Es hat sich beim genaueren Hinsehen herausgestellt, dass es ein Mann war.
9.
Ja, hier bei mir in der Siedlung wohnt ein Mädchen, wo ich früher dachte das es ein Junge ist.
10.
Ja, ich habe schon mal einen Mann mit einer Frau verwechselt. Erst 109
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
11.
Ja, das ist mir schon einmal passiert bzw. mehrmals
12.
Ja, das ist mir schon öfters passiert z.B. bei Leuten Männern die sich weiblich anziehen oder andersherum.
13.
Ja, aber selten! (Bei „normalen“ Leuten und bei Schwulen + Lespen)
14.
Ja, auf einer Veranstaltung von Schwulen + Lesben und auf dem Kiez.
15.
Ja, zwei mal, ein Mädchen auf der Schule von der ich immer dachte, sie sei ein Junge, traf ich auf der Mädchentoilette und bei einer Person weiß ich bis heute nicht ob Männlein o. Weiblein. Ein/e Schuhverkäufer/in in Bergedorf. Ich habe mit Freunden darüber geräzelt aber keiner weiß es.
16.
Ja, ich war mit meiner Freundin in der Stadt und da sahen wir ein Paar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Meine Freundin sagte da plötzlich: „Oh, guck mal ein lesbisches Päärchen.“ Nach wenigen Sekunden drehte sich die eine Person um und wir erkannten, dass es ein Junge war mit langen Haaren. Und gestern, ich saß mal wieder in der Eisdiele und 1-2 Meter von mir entfernt saß jemand mit langen Haaren. Ich wunderte mich nur über die starke Beinbehaarung die bei der kurzen Hose nicht unübersichtlich waren. Anstelle der Frau würde ich sie ja abrasieren aber da es wiederum ein Mann war ist dies wohl sehr ungewöhnlich.
Anhand dieser »Antworten« möchte ich veranschaulichen, was es bedeutet, dass ich Geschlecht nicht mehr als Tatsache voraussetzen konnte: Wenn ich die Angaben zum Geschlecht (und zum Alter), die die SchülerInnen auf dem »Fragebogen« angegeben haben, ignoriere, habe ich keinerlei Information darüber, ob die jeweilige »Antwort« von einem Mädchen oder einem Jungen gegeben wurde. Ich habe nur noch nummerierte Texte, wie in der Tabelle angezeigt. (Die LeserInnen mögen selbst versuchen zu »entdecken«, welche Antwort von einem Mädchen oder einem Jungen gegeben wurden. Im letzten Kapitel werde ich die »Auflösung« geben und anhand dieser Tabelle die Ergebnisse meiner empirischen Untersuchung erläutern.) Mithilfe dieser Antworten möchte ich auch deutlich machen, dass ich, um nach der Erschütterung des Fundaments meines Projekts weiterarbeiten zu können, nun vor allem das Problem, wie die Antworten der Interviewten bzw. allgemeiner gesprochen: wie das Sprechen der Subjekte zu analysieren ist, zu lösen hatte, denn dass es sinnvoll ist, das 110
DIE PRÜFUNG DER GRUNDANNAHMEN
Sprechen – Texte – zu analysieren, wird von niemandem bezweifelt. Im Gegenteil: Wenn nichts Außerdiskursives vorauszusetzen ist, ist die logische Konsequenz daraus anzunehmen, dass es nur noch Texte gibt, die zu analysieren sind. Schon hier lässt sich aber erkennen, dass es schwer fällt, nicht von einem (autonomen) Subjekt auszugehen. Wer spricht hier, wenn nicht der/die Interviewte bzw. allgemeiner gesprochen: ein Subjekt? Ich war bei der Planung des Projekts davon ausgegangen, dass die Antworten nach »Bauplänen« »konstruiert« werden. Inzwischen hatte sich aber gezeigt, dass ich nicht mehr von der (Handlungs- und) Konstruktionsfähigkeit des Subjekts ausgehen konnte, denn dies würde die Annahme eines Subjekts vor dem Feld implizieren. Das heißt, ich konnte die Subjekte, die Verfasser dieser Texte, nicht mehr als »Konstrukteure« und die Antworten nicht mehr als »Konstruktionen« betrachten. Aber wie müsste ich die Texte dann analysieren? Von dieser Suche nach einem »passenden« (konstruktivistischen?) Ansatz handelt das folgende Kapitel.
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»KONSTRUKTION« UND »DEKONSTRUKTION«
In diesem Kapitel wird eine Klärung der Begriffe »Konstruktion« und »Dekonstruktion« sowie »Konstruktivismus« und »Dekonstruktivismus« vorgeschlagen. Diese erscheint notwendig, weil der metaphorische Begriff »Konstruktion« inzwischen allerorts zu finden ist und unter den Begriff »Konstruktivismus« sehr heterogene Ansätze subsumiert werden. Ich möchte also versuchen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Ansätze herauszuarbeiten. Dabei wird sich zeigen, dass quer durch die sozial- und naturwissenschaftlichen Fächer eine Kontroverse zum einen zwischen »Realisten« und »Konstruktivisten«, zum anderen zwischen »Konstruktivisten« und »Poststrukturalisten« zu finden ist und dass für erstere der Streit um Essentialismus, für letztere der Streit um die agency des Subjekts von zentraler Bedeutung ist. Außerdem werde ich meine These vorstellen, dass Butler keinen »konstruktivistischen«, sondern eher schon einen »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt, dass aber beide Bezeichnungen letztlich irreführend sind, weil Butler – wie Foucault – im Grunde keine Analyse der Konstruktionen, sondern eine Analyse der Ausschließungsverfahren im Diskurs im Auge hat.
Exkurs: Der Konstruktionsgedanke i n d e n N e u r ow is s e n s c h a f t e n Meine Klärung des Konstruktionsbegriffs möchte ich mit einem Exkurs zu den Neurowissenschaften beginnen, denn hier ist ein Streit zu erkennen, der dem Essentialismus-Streit in den Gender Studies nicht unähnlich ist und der hilfreich ist für das Verständnis der konstruktivistischen Ansätze. Die neuere Wahrnehmungsforschung unterstreicht den konstruktiven Charakter der Wahrnehmung. Singer z.B. formuliert:
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DER IRRTUM IM GESCHLECHT
»Wenn Neurobiologen Wahrnehmungsprozesse erforschen und erkennen, wie konstruktivistisch und zugleich wenig objektiv unsere Wahrnehmungen sind, und wenn sich ferner erweist, dass dies auch für die Prozesse gilt, die unserem Denken zugrunde liegen, dann muss das für jemanden, der davon ausgeht, dass man durch Nachdenken allein zu verlässlicher Erkenntnis vorstoßen kann, irritierend wirken.« (2003: 11, Hervorh. U.M.) Im Alltag gehen wir zwar davon aus, dass es da draußen in der Welt Objekte mit bestimmten Eigenschaften gibt, die wir registrieren, aber das Wahrnehmen ist kein passives Aufnehmen. Das Gehirn arbeitet nicht wie ein Wellenlängenmesser, das die vom Objekt ausgehenden und auf der Retina eintreffenden elektromagnetischen Wellen misst. Holm Tetens formuliert daher: »Etwas wahrzunehmen ist ein Vorgang, der sich zwischen dem wahrgenommenen Objekt und dem Organismus, insbesondere dem sensorisch-neuronalen Apparat abspielt.« (1999: 296, Hervorh.U.M.) Die Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung zeigen also, dass Wahrnehmung ein aktiver, konstruktiver Prozess ist.1 Dadurch wird nicht nur die klare Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt problematisch, auch die Annahme eines Ichs mit Bewusstsein wird zu einem »schwierigen Problem« (vgl. Chalmers 1999)2. Da wir für die Aktivitäten der eigenen Sinnesorgane oder für bestimmte durch sie ausge1
2
Am Beispiel des Farbensehens lässt sich verdeutlichen, dass die Farbe eines Objekts eher im Gehirn entsteht, als dass sie eine Eigenschaft des Objekts ist. Die Farbe ergibt sich aus der Zusammensetzung des Lichts, das das Objekt reflektiert, denn aufgrund seiner stofflich-chemischen Zusammensetzung absorbiert es bestimmte Wellenlängenbereiche, andere dagegen nicht. Also legen die im reflektierten Licht vertretenen Wellen die Farbe des Objekts fest. Dies ist die Seite des Objekts. Dann gibt es die Seite des Subjekts: In der Retina des menschlichen Auges kommen drei verschiedene Typen von Rezeptorenzellen (Zäpfchen) vor, die auf die unterschiedlichen Wellenlängenbereiche reagieren, sogenannte Blau-, Grünund Rotzäpfchen. Die Informationen über die in der Retina detektierten Blau-, Grün- und Rotanteile werden an das Gehirn weitergeleitet und dort auf eine komplizierte und noch nicht verstandene Weise verrechnet, sodass schließlich eine spezifische Farbempfindung im Subjekt entsteht. Auch wenn Chalmers die Fragen, ob Subjekte Zugang zu »internen Zuständen« haben und über sie berichten können, für relativ »leichte Probleme«, (»weil es bei ihnen um die Erklärung kognitiver Fähigkeiten und Funktionen geht«), das Problem des Erlebens dagegen für ein wesentlich schwieriger zu lösendes hält, weist er doch darauf hin, dass es bislang nicht möglich sei, sie hinreichend zu erklären (vgl. 1999: 222ff.): »Elektromagnetische Wellen treffen auf die Retina, sie werden vom visuellen System diskriminiert und kategorisiert, warum aber wird diese Diskriminierung und Kategorisierung als eine Empfindung von leuchtendem Rot erlebt?« (Ebd. 227)
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»KONSTRUKTION« UND »DEKONSTRUKTION«
löste Gehirnaktivitäten keine eigenen Rezeptoren haben, ist es schwierig zu erklären, wie die Sinneseindrücke koordiniert und integriert werden. Gibt es ein Ich, das diese Funktionen übernimmt? Kann das Ich über seine eigenen Wahrnehmungen reflektieren? Auch dies nehmen wir im Alltag an.3 Aber dann müsste es einen Homunkulus, einen unabhängigen, neutralen Beobachter im Gehirn geben, der diese Prozesse kontrolliert und bewertet. Eben dies ist eine Vorstellung, die Damasio als Descartes’ Irrtum beschreibt, die Vorstellung nämlich, dass es »im Gehirn eine Region gibt, die unabhängig vom Körper und von den Emotionen arbeitet« (vgl. 1994: 18). Die kühle Strategie, die Kant und andere vertreten hätten, entspreche »weit eher der Art und Weise, wie Patienten mit präfrontaler Schädigung an Entscheidungen herangehen, als die üblichen Verfahrensweisen normaler Menschen« (ebd. 236). Diese Vorstellung erweist sich zunehmend als unhaltbar, denn ein unabhängiger Ort oder eine neutrale Instanz lässt sich im Gehirn nicht finden. So sind alle – auch die Philosophen – aufgefordert, die Entstehung des IchBewusstseins »ohne Rückgriff auf Metaphysik« zu erklären (vgl. Flohr 1994: 343). Auch wenn nach wie vor einige behaupten, Bewusstsein sei mehr als etwas, das im Gehirn empirisch nachgewiesen werden könne, so mehren sich doch die Stimmen, die das Bewusstsein dynamischprozessual erklären. So schreibt z.B. Hans Flohr: »Bewusstsein ist das Produkt eines Informationsverarbeitungsprozesses; es ist das Produkt der repräsentationalen Aktivität des Nervensystems.« (Ebd. 351) Es erscheint zunehmend problematisch, das Ich-Bewusstsein und damit auch das Subjekt losgelöst vom Kontext und von der »Welt da draußen« zu bestimmen. Wenn »es keinen Punkt im Nervensystem [gibt], der dem Subjekt, gleich einem Homunkulus, entsprechen könnte« (Linke 1994: 411), schlägt die Sicherheit, mit der vom Subjekt gesprochen wird, in Unsicherheit um. Noch ist eine Differenz zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Perspektive unübersehbar: Während die (naturwissenschaftlichen) Neurowissenschaftler das Bewusstsein eher als einen Prozess erklären, der aus dem Wechselspiel zwischen Gehirn und Körper oder zwischen Gehirn und Umwelt entsteht, gehen (geisteswissenschaftliche) Neurophilosophen eher vom Subjekt aus. Viele haben zwar das autonome Subjekt (der Aufklärung) verabschiedet und stellen seine Abhängigkeit von der (sozialen) Umgebung in Rechnung, doch sie halten an der strikten Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt fest, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil eine klare Bestimmung des Subjekts für 3
Dies wird auch in meiner Interviewfrage vorausgesetzt, und so stellen einige Interviewte in ihren Irrtumsdarstellungen ihre Wahrnehmungen so dar, als hätten sie eine Person bzw. ein Merkmal eines Objekts (z.B. »lange Haare«) gesehen und dann über diesen Sinneseindruck nachgedacht. 115
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
ethische Überlegungen unabdingbar ist. Nur wenn Handlungen einem Subjekt zugerechnet werden können, kann ihm auch die Verantwortung für sein Handeln zugeschrieben werden. Wenn aber das Subjekt dynamisch und relational gedacht wird, ist die Frage der Verantwortung des Subjekts nicht mehr eindeutig zu klären. Wie sich oben bereits gezeigt hat, ist durchaus eine andere Konzeption des Subjekts denkbar. Foucault z.B. hat das autonome Subjekt verabschiedet, ohne es dynamisch-relational zu denken. Aber sein Ansatz wird nach meinem Eindruck von den Neurophilosophen kaum diskutiert. Könnte er hilfreich sein zur Erklärung des Ich-Bewusstseins? Umgekehrt zeigt sich hier auch die Frage, wie es in seinem Ansatz um die Verantwortung des Subjekts für sein Handeln steht: Kann es für sein Handeln verantwortlich sein, wenn es »Effekt« ist? Hier kann ich auf diese Fragen nicht weiter eingehen, stattdessen möchte ich noch auf einen anderen Streitpunkt hinweisen: Zwar gehen alle davon aus, dass Wahrnehmung ein komplexer Prozess mit konstruktiven Elementen ist, doch während die einen behaupten, es müsse objektive Gegenstände geben, sonst hätten wir gar kein Verständnis von irgendeiner Realität, behaupten die anderen, wir könnten gar nicht wissen, ob es diese Objekte »gibt«, denn das Gehirn kann nicht abbilden, sondern nur konstruieren. Folglich könne es kein »Urbild« geben, das Gehirn könne also nicht repräsentieren, sondern nur konstruieren (vgl. Schmidt 1996: 14f.). Es zeigte sich also, dass es unter den Neurowissenschaftlern eine Art »Essentialismus«-Streit gibt, nämlich einen Streit zwischen »(externen) Realisten« und »Konstruktivisten«. Dies ist letztlich ein philosophischer Streit. Und in diesem bezieht John R. Searle Stellung.
» R e a l i s t e n « vs . » K o n s t r u k t i v i s t e n « Searle verteidigt in seinem Buch Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit (1997) [The Construction of Social Reality 1995] die »Idee, dass es eine Wirklichkeit gibt, die von uns völlig unabhängig ist«: »Viele Leute, darunter auch einige, deren Meinungen ich respektiere, haben argumentiert, dass die gesamte Wirklichkeit irgendwie eine menschliche Schöpfung ist, dass es keine rohen Tatsachen gibt, sondern nur Tatsachen, die vom menschlichen Geist abhängen. […] Ich möchte die Idee verteidigen, dass es eine Wirklichkeit gibt, die von uns gänzlich unabhängig ist.« (1997: 12)
Diese »Verteidigung« hält er für dringlich notwendig, weil es auf dem gegenwärtigen philosophischen Schauplatz üblich geworden sei, »so116
»KONSTRUKTION« UND »DEKONSTRUKTION«
wohl die Existenz einer Wirklichkeit, die von menschlichen Repräsentationen unabhängig ist, wie auch die Auffassung, dass wahre Aussagen den Tatsachen entsprechen, zu bestreiten« (ebd. 159). Dabei macht er einen starken Vorwurf: Viele hielten den Konstruktivismus hoch, weil es Mode sei und sie sich davon einen Machtgewinn versprächen: »Irgendwie ist es für unseren Willen zur Macht befriedigend zu glauben, dass ›wir‹ die Welt machen, dass die Wirklichkeit selbst nur eine gesellschaftliche Konstruktion ist, die beliebig veränderbar und zukünftigen Änderungen unterworfen ist, je nachdem, wie es ›uns‹ passt. Ebenso anstößig scheint zu sein, dass es eine unabhängige Wirklichkeit roher Tatsachen gibt – blind, verständnislos, gleichgültig und von unseren Interessen völlig unberührt. Und all dies ist Teil der allgemeinen intellektuellen Atmosphäre, die antirealistische Versionen des ›Poststrukturalismus‹ wie den Dekonstruktivismus intellektuell akzeptabel, sogar aufregend erscheinen lässt. […] So bin ich etwas in Nöten.« (Ebd. 168)
Wie hier zu erkennen ist, kritisiert Searle insbesondere »antirealistische Versionen des ›Poststrukturalismus‹ wie den Dekonstruktivismus«. Dies wird an seiner Aussage zu Derrida sehr deutlich: »Derrida hat, soweit ich es sagen kann, gar kein Argument. Er erklärt einfach, dass es nichts außerhalb von Texten gibt (Il n’y a pas de ›hors texte‹). Und in einer späteren polemischen Antwort auf einige Einwände von mir scheint er ohnehin alles zurückzunehmen: Er sagt, dass er mit der anscheinend spektakulären Erklärung, dass es nichts außerhalb von Texten gebe, nur die Banalität meinte, dass alles in dem einen oder anderen Kontext existiert. Was soll man also tun angesichts einer Reihe schwacher oder gar nicht existenter Argumente für eine Schlussfolgerung, die einfach absurd erscheint?« (Ebd. 169, Hervorh. im Original)
Mit der Position Maturanas setzt er sich dagegen ausführlicher auseinander und versucht, seine Argumente zu widerlegen: »Maturana verwirft die Idee einer ›objektiven Wirklichkeit‹ zugunsten einer Idee, dass Nervensysteme wie autopoietische Systeme sich ihre eigene Wirklichkeit schaffen. Das Argument scheint folgendes zu sein: Da wir keine Vorstellung von und keinen Zugang zu der Wirklichkeit haben außer durch die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeiten in den ›konsensuellen Bereichen‹, die von autopoietischen Systemen konstruiert werden, gibt es keine Wirklichkeit, die unabhängig von biologischen Systemen besteht. Gegen diese Ansicht möchte ich folgendes sagen: Aus der Tatsache, dass unsere Erkenntnis/Vorstellung/Bild der Wirklichkeit von menschlichen Gehirnen in menschlichen Interaktionen konstruiert wird, folgt nicht, dass die Wirklichkeit, von 117
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
der wir Erkenntnis/Vorstellung/Bild haben, von menschlichen Gehirnen in menschlichen Interaktionen geschaffen worden ist. Der Schluß aus der kollektiven neurophysiologischen kausalen Erklärung unserer Erkenntnis der externen Welt auf die Nichtexistenz der Außenwelt ist einfach nur ein non sequitur, ein genetischer Fehlschluss.« (Ebd. 168f.)4
Offensichtlich bringt Searle einem naturwissenschaftlichen »Konstruktivisten« wie Maturana mehr Verständnis entgegen als einem poststrukturalistischen Philosophen wie Derrida (obwohl – oder weil? – er selbst Philosoph ist). Gleichwohl ist seine Kritik gegenüber »Antirealisten« insgesamt sehr scharf: »Sobald man einmal die Behauptungen und Argumente der Antirealisten offen legt, nackt und unverhüllt, neigen sie dazu, ziemlich lächerlich auszusehen. Daher die Obskurität und sogar der Obskurantismus vieler (nicht aller) dieser Diskussionen.« (Ebd. 168) Hier zeigt sich, dass im Streit zwischen »Realisten« und »Konstruktivisten« bzw. »Antirealisten« nicht immer sachlich argumentiert wird. Doch Searles Argumente gegen Maturana sind klar formuliert: Aus den Erkenntnissen der Wahrnehmungsforschung könne nicht auf die Nichtexistenz der »Welt da draußen« geschlossen werden. Das heißt, er bezweifelt nicht, dass der Wahrnehmungsapparat so funktioniert, dass wir Bilder der Wirklichkeit erzeugen – konstruieren –, er kritisiert allerdings den logischen Fehler in der Argumentationskette: Auch wenn wir die Wirklichkeit nur indirekt erschließen könnten, folge daraus nicht zwangsläufig, dass sie nur in unserem Geiste existiere. Genau dies aber behaupten die »konstruktivistischen« Wahrnehmungsforscher. Sie nehmen diese indirekte Erschließung zum Ausgangspunkt: Da das Gehirn keinen direkten Zugang zu den Dingen außerhalb hat, können wir gar nicht wissen, ob es außerhalb unseres Gehirns Tatsachen, Dinge, Objekte »gibt«. Hier stehen sich also zwei »Parteien« gegenüber. Und so wie ich oben argumentiert habe, dass es sinnvoll ist, Butlers Essentialismus-Kritik ernst zu nehmen, um neue Wege der Analyse zu erkunden, halte ich es hier für sinnvoll, die Argumente der »konstruktivistischen« Forscher ernst zu nehmen, weil sie damit ein neues Verständnis der Wirklichkeit eröffnen. Gleichwohl ist auch Searles Argument, die Annahme »roher Tatsachen« sei unerlässlich, genauer zu betrachten, denn auch er konzediert, dass eine Tatsache eine »gemachte Sache« sei: »Factum ist also das gemachte Ding oder die Tatsache.« (Vgl. ebd. 218) Aber er hält die Annahme einer »rohen Tatsache« hinter oder außerhalb der 4
Als Fußnote ergänzt er: »Es gibt darüber hinaus ein Problem mit den menschlichen Gehirnen und den menschlichen Interaktionen selbst. Sollen auch sie durch menschliche Interaktionen konstruiert worden sein?« (1997: 169)
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»KONSTRUKTION« UND »DEKONSTRUKTION«
Konstruktionen für notwendig, denn: »Die Rohmaterialien ihrerseits können nicht gesellschaftlich konstruiert sein, ohne irgendein noch roheres Material vorauszusetzen. […] Eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit setzt eine nicht gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit voraus.« (Ebd. 200) Es ist nach seiner Auffassung die Aufgabe der Naturwissenschaftler, »wahre Aussagen« über »rohe Tatsachen« aufzustellen. Seine Aufgabe sieht er darin, die Behauptung, dass es diese gibt, zu verteidigen. Reformuliert Searle dann nicht den Natur-Kultur-Gegensatz? Sind »rohe Tatsachen« dann nicht das Unbearbeitete, das noch nicht von Menschen Gemachte, das Rohe, das dann »gekocht« wird? Dies hatte Butler als Essentialismus kritisiert. Dann verteidigt Searle sozusagen gegen Butler die Behauptung, dass eine Essenz vorauszusetzen sei. Aber er spricht hier nicht von Essenz, sondern von der »Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit«. Knüpft er dann nicht an Berger und Luckmanns Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1969) an? Was ist dann das Neue an seinem Ansatz? Anhand der Stellung des Adjektivs »gesellschaftlich« (social) lässt sich ablesen, dass das Soziale in beiden Ansätzen unterschiedlich akzentuiert ist. Bei Berger/Luckmann geht es um die These, dass die Wirklichkeit, in der wir leben, nicht nur real, sondern auch gesellschaftlich konstruiert sei. Searle dagegen verteidigt fast 30 Jahre später die These, dass es nicht nur die gesellschaftliche konstruierte Wirklichkeit gebe, sondern dass diese eine »rohe« Wirklichkeit zur Voraussetzung habe. Für spätere Überlegungen ist festzuhalten, dass sowohl Berger/Luckmann als auch Searle davon ausgehen, dass es eine Wirklichkeit gibt, die von Subjekten konstruiert wird, dass sie also Subjekte als »Konstrukteure« der gesellschaftlichen Wirklichkeit voraussetzen. Hier ist zunächst auf den Wirklichkeitsbegriff einzugehen.
Die Konstruktion der Wirklichkeit Berger und Luckmann waren die ersten, die auf den konstruktiven Charakter der gesellschaftlichen Wirklichkeit hingewiesen haben. Ausgehend von der Phänomenologie (Husserl und Schütz) haben sie aufgezeigt, dass sich unsere Erfahrung der Wirklichkeit vor allem in sozialen Interaktionen herausbildet. Dabei gingen sie von zwei unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen aus, der Wirklichkeit erster Ordnung mit den »rohen Tatsachen« und der Wirklichkeit zweiter Ordnung, die sozial hergestellt wird. Diese Unterscheidung ist auch bei Searle zu finden. Er argumentiert nun jedoch defensiv: Die Annahme einer konstruierten Wirklichkeit sei nicht ohne die Annahme einer »rohen« Tatsache möglich. 119
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Searle bezeichnet es als »(externen) Realismus«, die Annahme zu vertreten, dass es eine Wirklichkeit unabhängig von unseren Repräsentationen gibt: »Realismus ist die Ansicht, dass es eine Seinsweise der Dinge gibt, die von allen menschlichen Repräsentationen logisch unabhängig ist.« (Searle (1997: 165) Diese Behauptung stehe nicht im Widerspruch zur »Begriffsrelativität«, sondern im Einklang mit ihr, denn der Begriffsrelativismus setze Realismus voraus, »weil eine sprachunabhängige Wirklichkeit vorausgesetzt werden muss, die durch verschiedene Vokabularien auf verschiedene Weisen auf- und eingeteilt werden kann« (vgl. ebd. 175). Die Annahme der Begriffsrelativität mache im Grunde nur Sinn aufgrund der Annahme einer Seinsweise der Dinge außerhalb der menschlichen Repräsentationen, es sei notwendig und sinnvoll anzunehmen, dass den »rohen Tatsachen« auf unterschiedliche Weise, in verschiedenen Sprachen und Kulturen Rechnung getragen werde. Lässt sich Searles Argument der »Begriffsrelativität« nicht auch auf Foucaults Beispiel der Tier-Taxinomien übertragen?5 Man könnte doch mit Searle behaupten, dass auch Foucault Tiere voraussetzt, und zwar in dem Sinne, dass es »da draußen« Tiere »gibt«, die auf die eine oder andere Weise klassifiziert werden können. Dann müsste auch Butler noch irgendwie »da draußen« Objekte, z.B. den Körper, voraussetzen. Aber dies lehnt sie offensichtlich ab. Dann lässt sich fragen, ob an Foucaults Ansatz weniger die Annahme, dass es »da draußen« Tiere gibt, sondern eher die, dass es verschiedene Klassifikationssysteme, Ordnungen der Dinge gibt, wichtig ist. Und vielleicht lässt sich dann folgern, dass Butler, auch wenn sie jeglichen Essentialismus ablehnt, sich eigentlich weniger für die Frage, ob es einen Körper vor oder außerhalb des Diskurses gibt, interessiert, sondern eher für die Frage, welche Körper durch den Bezeichnungsakt produziert werden. Eine ihrer Aussagen im »Streit um Differenz« legt diese Vermutung nahe. Sie führt die Kritik der »essentialistischen« Fraktion an: »So geht das ewige Lied der Anti-Postmoderne um: Wenn alles Diskurs ist, haben dann auch die Körper keine Realität?« (SD 51) Auf diese Kritik antwortet sie, indem sie die Alternative zwischen Voraussetzen oder Verneinen (einer »rohen Tatsache«) ablehnt: »Die Konzepte der Materie und des Körpers dekonstruieren heißt nicht, sie zu verneinen oder abzulehnen. An dieser Stelle ist es natürlich notwendig, ganz 5
Auf die Begriffsrelativität gehe ich ein, weil Searles Behauptung sich mit meiner Ausgangsannahme deckt: Irgendwie existieren »rohe Körper«. Es gibt jedoch verschiedene Vokabularien, Sprachen, und in diesen werden sie verschieden »auf- und eingeteilt«, sodass es verschiedene »Trennungslinien« gibt.
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»KONSTRUKTION« UND »DEKONSTRUKTION«
deutlich darauf hinzuweisen, dass die Optionen der Theorie nicht dadurch erschöpft sind, dass man die Materialität entweder voraussetzt oder verneint. Meine Absicht ist es gerade, keins von beiden zu tun.« (Ebd. 52)
Wie sehen dann die anderen »Optionen der Theorie« aus? Heißt das nicht auch, dass es außer »Realisten« und »Konstruktivisten« noch eine andere »Partei« geben muss? Bedeutet dies nicht, dass ihr Ansatz (bzw. der Foucaults) weder der »realistischen« noch der »konstruktivistischen« Seite zuzurechnen ist? Vielleicht lässt sich ihr Anliegen (und das von Foucault) gerade in der Weise formulieren, dass das Problem der Materialität wie der Realität umgangen bzw. auf eine ganz neue Weise behandelt werden soll? Dies müsste sich durch eine Betrachtung des Wirklichkeitsbegriffs bei Butler klären lassen. Ähnlich wie Foucault im Vorwort zu Ordnung der Dinge die bizarre chinesische Tiertaxinomie anführt, um auf die Grenzen unseres Denkens hinzuweisen, geht Butler kurz vor dem letzten Kapitel von Gender Trouble auf »Fremdartiges«, Bizarres ein. In dieser Überleitung geht es um »Grenzfälle« der Geschlechtsbestimmungen und die Zuschreibungen »männlich« und »weiblich« in der Biologie, durch die eindeutige Geschlechtszugehörigkeiten erzeugt würden, obwohl es Mehrdeutigkeiten gebe. Der Rückgriff auf »das Bizarre« könne helfen, eine neue Perspektive zu eröffnen: »Wie Freud […] darlegte, liefert uns vielmehr die Ausnahme, das Fremdartige den Schlüssel dazu, wie die mundane und als selbstverständlich hingenommene Welt der sexuellen Bedeutungen konstituiert ist. Nur von einer ihrer selbst bewussten, entnaturalisierten Position aus können wir erkennen, wie sich der Anschein der Natürlichkeit konstituiert. […] Daher eröffnet das Fremde, Inkohärente, das, was ›herausfällt‹, für uns einen Weg, die als selbstverständlich hingenommene Welt der sexuellen Kategorisierung als eine Konstruktion, die im Grunde auch anders konstruiert sein könnte, zu verstehen.« (GT 164)
Statt auf Freud hätte sie auch auf Alfred Schütz hinweisen können, denn auch er erklärt, dass durch das Problematische das »Fraglos-Gegebene« sozusagen von den Rändern her erschlossen werden kann (vgl. Schütz/ Luckmann 1979: 30ff.). Butler spricht hier von der »als selbstverständlich hingenommenen Welt«, also von der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit, deren Selbstverständlichkeit durch »Fremdartiges« infrage gestellt werde. Es scheint also, dass auch sie hier (wie Berger/Luckmann und Searle) von zwei Wirklichkeitsebenen ausgeht. Doch im Folgenden kritisiert sie an Monique Wittig die Annahme zweier Realitätsebenen: Sie zeigt zunächst auf, dass für Wittig die Kategorie des Geschlechts in 121
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»ein System der Zwangsheterosexualität, das eindeutig über ein System der sexuellen Zwangsreproduktion« funktioniere, gehöre (vgl. GT 165). Zwar sei davon auszugehen, dass das System der Zweigeschlechtlichkeit aufs engste verknüpft sei mit der heterosexuellen Matrix; indem sie diese aber als »Zwangsheterosexualität« bezeichne, scheine der Gedanke der Deformation auf. Wittig nehme nicht nur an, dass das System Zwangscharakter habe, sie gehe auch davon aus, dass das System dem Subjekt Zwang antue. Dabei werde das Subjekt als mehr oder weniger natürliches Wesen vorausgesetzt. Eine »Natur« des Subjekts sei aber nicht vorauszusetzen. Allgemeiner kritisiert sie dann, Wittigs Theorie enthalte »zwei Ebenen der Realität, zwei Ordnungen der Ontologie«: »Die gesellschaftlich konstituierte Ontologie geht aus einer grundlegenderen Seinsverfassung hervor, die als vorgesellschaftlich und vordiskursiv erscheint. Während das ›Geschlecht‹ zu einer diskursiv konstituierten Realität (zweiter Ordnung) gehört, existiert noch eine vorgesellschaftliche Ontologie, die die Konstitution des Diskurses selbst erklärt.« (Ebd. 171)
Die Annahme einer »wahrhafteren« Realität, eines »ontologisches Feldes der Einheit« sei problematisch, denn damit würden die Konstruktionen als Verzerrungen und Verdinglichungen konzipiert. Dies sei irreführend, denn sie könnten nicht am Maßstab eines vorgängigen ontologischen Feldes radikaler Einheit und Fülle gemessen und beurteilt werden (vgl. ebd. 177). Jeder Rekurs auf eine wahrhaftere Realität sei eine irreführende Strategie, die schon deshalb politisch problematisch sei, weil sie verspreche, von einem universalen, absoluten Standpunkt aus einen neuen Humanismus zu schaffen. Wittigs Materialismus sei im Grund »klassischer Idealismus« (ebd. 185), weil sie »Natur« als mentale Vorstellung begreife. »Ihrer Ansicht nach wird die Vorstellung von der Natur durch eine Sprache von Zwangsbedeutungen produziert, um die politische Strategie sexueller Herrschaft zu fördern und die Institution der Zwangsheterosexualität rational zu begründen.« (Ebd. 185) Ihr Konzept enthalte eine Hoffnung auf Befreiung von Herrschaft, die sich als Illusion erweise. Hier wird deutlich, dass Butler sich an dem Punkt von Wittig distanziert, wo es um eine »Befreiungsattitüde« geht. »Lehnt man das liberale und existentialistische Freiheitsmodell ab, können – und müssen, meiner Meinung nach – die Machtbeziehungen so verstanden werden, dass sie gerade die Möglichkeiten der Willensentscheidungen einschränken und konstituieren. Demnach kann die Macht weder widerrufen noch abgelehnt, sondern lediglich wieder-eingesetzt werden.« (Ebd.)
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Die »Überschreitung der Macht« sei eine »unmögliche Phantasie« (vgl. ebd. 184). An anderer Stelle sagt sie: »In die repetitiven Praktiken dieses Bezeichnungsfeldes einzutreten, ist keine Wahl, weil das ›ich‹, das hier angeblich eintritt, immer schon drinnen ist: Es gibt keine mögliche Tätigkeit oder Realität außerhalb der diskursiven Verfahren, die diesen Termini ihre Intelligibilität verleiht. Die Frage ist nicht: ob, sondern wie wiederholen. Die Ontologie ist demnach keine Grundlage, sondern eine normative Anweisung, die verstohlen wirksam ist, indem sie sich als notwendiger Grund in den politischen Diskurs einschreibt.« (Ebd. 217)
Halten wir also fest: Wenn es nach Butler keine Realität außerhalb der diskursiven Verfahren gibt, ergibt sich daraus die logische Konsequenz der Annahme einer Realität innerhalb der diskursiven Verfahren. An dieser Stelle ist zu fragen: Ist es vielleicht ein Merkmal aller »konstruktivistischen« Ansätze, dass sie nur von einer – konstruierten – Realität ausgehen? Wenn dies zutrifft, ist es hilfreich, von einer »zweiten linguistischen Wende« zu sprechen. Vor der ersten »linguistischen Wende« wurden zwar auch schon zwei Realitätsebenen vorausgesetzt – es wurde z.B. vorausgesetzt, dass Gold zum einen ein Edelmetall ist, zum anderen aber in der sozialen Welt eine Bedeutung hat, die von dieser Eigenschaft völlig unabhängig ist, oder dass Menschen eine »Natur« haben, diese aber durch »Kultur« auf unterschiedliche Weisen überformt wird – aber seit der linguistischen Wende wurde der konstruktive Charakter der gesellschaftlichen Wirklichkeit betont. Nun wurden die Struktur der Wirklichkeit und die Herstellungsprozesse in den Mittelpunkt gerückt. Seither wird vor allem versucht zu erklären, wie es dazu kommt, dass Menschen im Alltag so sicher sind, dass die Welt so ist, wie sie sie als selbstverständlich wahrnehmen. Und seither ist allerorts von Konstruktionen die Rede. Wenn aber, wie aufgezeigt, inzwischen von einigen Vertretern die Existenz einer Realität außerhalb der Konstruktionen geleugnet wird bzw. vorsichtiger formuliert: die Annahme einer objektiven Realität als eine die Analyse eher behindernde abgelehnt wird, haben diese sozusagen die linguistische Wende radikalisiert, denn sie gehen von einer Realität aus, und dies impliziert, dass sie alles als Konstruktion betrachten. Deshalb ist für diese Ansätze der Name »Konstruktivismus« sinnvoll. Dann lässt sich formulieren: Mit der ersten »linguistischen Wende« tauchte der Begriff »Konstruktion« auf, mit der zweiten tauchte der »Konstruktivismus« auf. Dann ist dieser Begriff auf alle Ansätze, die die Annahme »roher Tatsachen« ablehnen, zu beziehen. Die zweite linguistische Wende ist also sozusagen eine Wende zum Konstruktivismus. 123
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Da diese aber nicht von allen vollzogen wurde, gibt es seither einen Streit zwischen »Realisten« und »Konstruktivisten«, denn erstere halten daran fest, dass es zwei Wirklichkeitsebenen gibt. Damit habe ich den Begriff »Konstruktivismus« eingegrenzt. Dies halte ich für notwendig, denn wie ich oben bereits anhand von Bourdieu aufgezeigt habe, sind manche Ansätze, auch wenn sie sich des »konstruktivistischen« Vokabulars bedienen, »essentialistisch« und folglich nicht dem »Konstruktivismus« zuzurechnen. Jedenfalls ist von der Verwendung des Konstruktionsbegriffs noch nicht auf einen konstruktivistischen Ansatz zu schließen ist. Auch für »Realisten« ist der Begriff der Konstruktion wichtig, denn auch Searle z.B. interessiert sich nicht nur für die »rohen«, sondern auch für die »konstruierten« Tatsachen. Doch anders als Konstruktivisten verwendet er diesen Begriff nur zur Beschreibung von Phänomenen auf der Ebene der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit, denn für ihn ist nicht alles konstruiert. Aber gibt es wirklich nur einen Streit zwischen Realisten und Konstruktivisten? Gibt es nur realistische und konstruktivistische Ansätze? Sind alle Ansätze, die nur von einer Realitätsebene ausgehen, konstruktivistisch? Offensichtlich sind weitere Unterscheidungen notwendig, wie sich an Butlers Position zeigt: Einerseits kritisiert sie jede Art von »Essentialismus«, sie scheint also eine konstruktivistische Position zu vertreten, andererseits hält sie den Gegensatz zwischen Voraussetzen und Verneinen (»roher Tatsachen«) für fehl konstruiert. Insofern erscheint es fraglich, dass sie einen radikalen konstruktivistischen Ansatz vertritt.
Radikaler Konstruktivismus vs. Poststrukturalismus Siegfried Schmidt zeigt in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus (1996 [1987]) die kybernetischen Wurzeln des Radikalen Konstruktivismus auf. Dabei weist er auch darauf hin, dass diese Theorieströmung nicht verwechselt werden dürfe »mit den seit der Mitte der 70er Jahre modischen Trends irrationalistischer Wissenschaftskritik, Neo-Mythologie, Poststrukturalismus oder Postmodernismus, die in einer Art geistiger Wendehypnose das Ruder einfach herumzuwerfen versuchen, vom Kopf auf den Bauch umschalten, von Geschichte zum Mythos zurückwölken.« (1996:74) Wenn er »Poststrukturalismus« in einem Atemzug mit »New Age« nennt (im folgenden Satz wird deutlich, dass »Neo-Mythologie« hier anstelle von »New Age« steht) und den »modischen Trends« zuordnet, dann ist nicht zu übersehen, dass er diese Theorieströmung wenig 124
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schätzt. Während Searle zwar auch Poststrukturalisten, aber im Grunde alle »Antirealisten« bzw. »Konstruktivisten« abwertend beschreibt, bringt hier ein »(Radikaler) Konstruktivist« seine Geringschätzung gegenüber »Poststrukturalisten« zum Ausdruck. Worin besteht der grundlegende Unterschied zwischen beiden bzw. wodurch lässt sich diese wechselseitige Geringschätzung erklären? Es könnte mit der Bedeutung des Begriffs »Wirklichkeit« zusammenhängen, denn dieser taucht sowohl in konstruktivistischen als auch in realistischen Ansätzen immer wieder auf, bei Butler und Foucault ist er aber kaum zu finden. Welchen Stellenwert hat er im Radikalen Konstruktivismus? Um dies zu klären, sind die Arbeiten von Paul Watzlawick zu betrachten, denn dieser hat, nachdem er zunächst (1976) eine Arbeit mit dem Titel Wie wirklich ist die Wirklichkeit? (1987 [1976]) verfasst – und darin ähnlich wie Berger/Luckmann zwischen zwei Wirklichkeitsebenen unterschieden – hatte (vgl. 1987: 143), zehn Jahre später den Sammelband Die erfundene Wirklichkeit mit dem Untertitel »Beiträge zum Konstruktivismus« (1986), herausgegeben. An letzterem ist zu erkennen, dass er die Unterscheidung zwischen zwei Wirklichkeitsebenen später aufgegeben hat und nun von einer Wirklichkeitsebene ausgeht: »Wissenschaftliche, gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeiten werden dadurch erfunden (konstruiert), dass wir an die vermeintlich ›da draußen‹ objektiv bestehende Wirklichkeit immer mit gewissen Grundannahmen herangehen, die wir für bereits feststehende, ›objektive‹ Aspekte der Wirklichkeit halten, während sie nur die Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen.« (1986: 10)
Hier fällt auf, dass er »konstruieren« durch »erfinden« ersetzen will und die »Wirklichkeit erster Ordnung« nun als »vermeintlich da draußen objektiv bestehende Wirklichkeit« bezeichnet. Kurz darauf bedauert er die Popularität und Verbreitung des Begriffs »Konstruktivismus« und schlägt stattdessen den Begriff »Wirklichkeitsforschung« vor: »Wenn das Kind nicht schon diesen Namen hätte, wäre die Bezeichnung Wirklichkeitsforschung vielleicht vorzuziehen.« (Ebd. 10) Den in diesem Band versammelten »Beiträgen zum Konstruktivismus« liegt nicht nur die gemeinsame Annahme zugrunde, dass es »da draußen« keine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit gibt, sondern auch die, dass die Wirklichkeit vom Subjekt »konstruiert« bzw. »erfunden« wird. Dies gilt es zu betonen: Sie haben das individuelle Subjekt als gemeinsamen Ausgangspunkt. So schreibt Ernst von Glasersfeld z.B. in seiner Einführung in den Radikalen Konstruktivismus, diese Theorieströmung betrachte die 125
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Welt vor allem als »gemacht« (»Verum ipsum factum – Das Wahre ist dasselbe wie das Gemachte«, 1986: 26) und biete »ein mögliches Modell der Erkenntnis in kognitiven Lebewesen, die imstande sind, sich auf Grund ihres eigenen Erlebens eine mehr oder weniger verlässliche Welt zu bauen.« (Ebd. 37) Außerdem schreibt er: »Für Konstruktivisten ist alle Verständigung, alles Lernen und Verstehen stets Bau und Interpretation des erlebenden Subjekts.« (Ebd. 17) Wie sehr das einzelne »erlebende Subjekt« im Mittelpunkt steht, lässt sich außerdem durch ein anschauliches Beispiel belegen. In einem Interview wird Ernst von Glasersfeld gefragt: »Mich interessiert noch einmal die Rolle des Anderen für das Erkennen. Also A und B interagieren miteinander, und das funktioniert und macht für A Sinn.« (1996: 411) Darauf antwortet Glasersfeld prompt: »Verzeihen Sie! Wenn Sie anfangen mit A und B, dann haben Sie schon zwei separate Individuen.« (Der Interviewer: »Ja, davon gehe ich aus.«) Glasersfeld: »Das darf man aber nicht als Konstruktivist.« (Ebd.)6 Hier ist auf ein zentrales Problem dieses Ansatzes hinzuweisen: Der Übergang von einem System zum anderen oder das Zusammenspiel von mehreren Systemen ist nicht so einfach zu erklären. Dies wird als »Solipsismus-Problem« bezeichnet. Hier gibt es Erklärungen, die aus soziologischer Perspektive kaum überzeugen. Schmidt z.B. beruft sich zwar auf Luhmann, aber er vereinfacht den Einschließungsgedanken, indem er einfach auf das »Sozialsein« des Menschen, also auf seine Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft verweist: »Und dabei muss dann ernsthaft berücksichtigt werden, dass jeder Mensch als erfahrendes System in jedem Augenblick Resultat einer phylogenetischen wie ontogenetischen Entwicklung sowie Mitglied einer soziokulturellen Gemeinschaft ist.« (1994: 71)
Die Konstruktion sinnhafter Erlebniswirklichkeiten finde zwar notwendigerweise in Individuen als operativ geschlossenen Systemen statt, aber nicht etwa als subjektive oder gar willkürliche Konstruktion, sondern »in Form einer gesellschaftlichen Konstruktion von Erlebniswirklich6
Hier ist auch zu erkennen, dass »Radikale Konstruktivisten« sich selbst häufig als »Konstruktivisten« bezeichnen. Es sei auch darauf hingewiesen, dass im Radikalen Konstruktivismus deutlicher als in anderen Ansätzen die Theorie als Modell der Erkenntnis bezeichnet wird. Hier zeigt sich vielleicht die naturwissenschaftliche Provenienz dieser Strömung, denn naturwissenschaftliche Forscher sind häufiger als sozialwissenschaftliche gezwungen, Modelle zu entwerfen, und gehen dadurch offener und kritischer mit ihnen um, während sozialwissenschaftliche Forscher allzu leicht den in ihren Theorien enthaltenen Modellcharakter ignorieren.
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keiten in den Individuen als empirischen Orten dieser Konstruktion« (ebd. 72). Er setzt also das System (den Menschen, das Individuum) als »Mitglied« einer soziokulturellen Gemeinschaft voraus. Logisch ist dann die Gemeinschaft vor dem Individuum da. In den Individuen findet sich dann das wieder, was in der Gemeinschaft schon da ist. Aber warum wird dann vom Individuum und nicht von der Gesellschaft ausgegangen? Für Maturana, einem der wichtigsten Vertreter des Radikalen Konstruktivismus, ist ähnlich wie für Luhmann die Kommunikation wichtig. Doch während Luhmann vom Dissens ausgeht, geht er vom Konsens aus. Die Abstimmung oder Synchronisation zwischen den Systemen verlaufe über die Sprache. Sie habe eine »Orientierungsorientierungsfunktion«. Wie groß aber die Distanz zu Poststrukturalisten ist, mag exemplarisch an folgender Aussage deutlich werden. Maturana schreibt: »Jeder Mensch steht als autopoietisches System allein auf der Welt. Wir wollen jedoch nicht beklagen, dass wir in einer subjektabhängigen Realität existieren müssen. Auf diese Weise ist das Leben interessanter, denn die einzige Transzendenz unserer individuellen Einsamkeit, die wir erfahren können, entsteht durch die konsensuelle Realität, die wir mit anderen schaffen, d.h. durch die Liebe zueinander.« (1994: 171)
Zynisch formuliert: Bisweilen hat man den Eindruck, dass die kybernetische kühle Art des Denkens im Radikalen Konstruktivismus kompensiert wird durch eine besondere Wertschätzung der Liebe. Dem einzelnen System werden die anderen Systeme aus »phylogenetischen oder ontogenetischen« (Schmidt) oder aus Gründen der Liebe zugeordnet. Dies ist in der Lösung des Solipsismus-Problems, die von Foerster vorschlägt, zwar nicht der Fall, dennoch fällt auf, dass auch in seinem Vorschlag ein für eine soziologische Analyse wichtiger Aspekt fehlt.7 Er macht den Vorschlag, »Wirklichkeit = Gemeinschaft« zu definieren.
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Sein Aufsatz Das Konstruieren einer Wirklichkeit (1994 [1973]) gehört zu den klassischen Aufsätzen, die in den Neurowissenschaften bis heute Wirkung haben, insbesondere wegen seiner Darstellung des »blinden Flecks«, auf den im übrigen auch Luhmann hinweist: »Erkenntnis ist das Realisieren kombinatorischer Gewinne auf der Basis der Ausdifferenzierung eines gegen seine Umwelt geschlossenen (aber eben: in ihr ›eingeschlossenen‹) Systems. Wenn ein System gezwungen ist, mit Hilfe des Gebrauchs von Unterscheidungen zu erkennen und nichts anderes erkennen kann als so, dann heißt das auch, dass alles, was für das System Welt ist und damit Realität hat, über Unterscheidungen konstituiert werden muss. Der ›blinde Fleck‹ der jeweiligen Beobachtung, ihre im Moment benutzte Unterscheidung, ist zugleich ihre Weltgarantie.« (Luhmann 1990: 41) 127
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Wie alle Radikalen Konstruktivisten behauptet er zunächst, dass die Welt lediglich in meiner Vorstellung existiere. Dann aber argumentiert er, dass die Welt, selbst wenn sie nur in meiner Vorstellung existiere, eine Vorstellung von oder über andere Personen enthalten und ich daher den anderen Personen eben eine solche Vorstellungswelt zubilligen müsse. Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, wählt er das Beispiel des »Herrn mit der Melone«: »Er behauptet, die einzige Realität zu verkörpern, und alles Übrige existiere nur in seiner Vorstellung. Er kann indessen nicht leugnen, dass seine Vorstellungswelt von Geistergestalten bewohnt ist, die ihm nicht unähnlich sind. Folglich muss er einräumen, dass diese Wesen ihrerseits darauf bestehen können, sich als die einzige Realität, alles sonst aber als Produkt ihrer Einbildung zu betrachten. Auch ihre Vorstellungswelt wäre dann von Geistergestalten bevölkert, darunter von ihm, dem Herrn mit der Melone.« (1986: 58)
Diese Zubilligung nennt er »Relativitätsprinzip«: »Gemäß dem Relativitätsprinzip ist eine Hypothese zurückzuweisen, sofern sie auf zwei Fälle nur jeweils gesondert, nicht aber gleichzeitig zutrifft (Erdund Venusbewohner mögen übereinstimmend behaupten, im Mittelpunkt des Universums zu leben, doch würden ihre Ansprüche unhaltbar, sobald sie sich je begegneten); so wird mein solipsistischer Standpunkt unhaltbar, sobald ich ein weiteres autonomes Lebewesen neben mir finde.« (Ebd.)
Für von Foerster ist also die Relativierung des eigenen Standpunkts eine logische Folgerung daraus, dass es in der Vorstellungswelt des Herrn mit der Melone auch andere gibt. So einleuchtend sein Argument auf den ersten Blick ist, so wenig überzeugend ist es für eine soziologische Fragestellung, denn aus dem Vorkommen von Anderen in meiner Vorstellungswelt lässt sich noch nicht auf die Dezentrierung des egozentrischen Standpunkts (Piaget), erst recht nicht auf die Anerkennung des Anderen schließen. Von Foerster verliert kein Wort darüber, dass die Anerkennung des Anderen als ein »autonomes Lebewesen« sich leider nicht von selbst versteht, dass die Ablehnung oder gar Missachtung des Anderen ebenso möglich ist, ja, dass, wenn Wissenschaft stets darum bemüht ist, eine bessere Welt zu schaffen, es gerade ihr zentrales Anliegen sein sollte, die Anerkennung des Anderen zu sichern, und das heißt auch: Erklärungen dafür zu finden, wie Ausgrenzungs- und Ausschließungsprozesse funktionieren, um sie vermeiden zu können! Neutraler formuliert lautet die Kritik, dass im Radikalen Konstruktivismus die Beziehungen zwischen den individuellen Subjekten bzw. Systemen,
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insbesondere Herrschafts- und Machtverhältnisse nicht thematisiert werden können.8 Damit lässt sich folgern, dass dem Radikalen Konstruktivismus genau das fehlt, was Foucault ins Zentrum rückt: die Analyse der »Ausschließungsmaschinerie«. Daher lässt sich resümieren: Der Radikale Konstruktivismus kann die Schwierigkeiten des Zusammenlebens nicht in den Blick nehmen. Er interessiert sich nicht für Herrschafts- und Machtfragen. Zwar ist er keineswegs »gesellschaftsblind« (Schmidt 1996: 53), aber er bleibt ganz und gar in der Positivität, im Grunde ist es »ein Funktionalismus« (vgl. Glasersfeld 1996: 409). Wenn ich diese beiden Ansätze auf diese Weise skizziere, zeigt sich folgende Differenz: Ich habe oben aufgezeigt, dass Foucault das »Denken in Totalitäten« ablehnt. Hier zeigt sich, dass das Denken in geschlossenen Systemen für den Radikalen Konstruktivismus zentral ist. Dann lässt sich formulieren: So funktionalistisch (und positivistisch) der Radikale Konstruktivismus das Funktionieren des Systems oder der Systeme (nämlich Gesellschaft) erklärt, so radikal kritisch erklärt es der Poststrukturalismus. Die diametral entgegen gesetzte Perspektive zeigt sich vor allem in der Konstitution des Subjekts: Während das Subjekt im Radikalen Konstruktivismus als Grundkategorie (als System) vorausgesetzt wird, wird es im Poststrukturalismus als »Effekt« betrachtet, wobei die Formierung dieses Subjekts durch Ausschließungsprozeduren erklärt wird. Die Erkenntnisschritte laufen sozusagen in entgegengesetzte Richtungen. Dies mag die wechselseitige Geringschätzung erklären. Die Unterschiede zwischen beiden Theoriesträngen sind so grundlegend, dass die Subsumtion beider unter das Etikett »Konstruktivismus« nur zu Missverständen führt – und offensichtlich bereits geführt hat. Ich halte es für notwendig, poststrukturalistische Ansätze nicht dem »Konstruktivismus« zuzurechen. Wie lassen sie sich dann bezeichnen? Um auf den Gegensatz zum Radikalen Konstruktivismus hinzuweisen, ist es möglicherweise sinnvoll, sie als »Dekonstruktivismus« zu bezeichnen. Dadurch lässt sich die im Vergleich zum Konstruktivismus gegenläufige Perspektive andeuten. Außerdem wird in diesen Ansätzen eine »Dekonstruktion« vorgeschlagen. Zwar wird sich später zeigen, dass auch dieser Begriff nicht hilfreich ist, doch zunächst ist er als ein in Anführungszeichen gesetzter Begriff weiter zu verwenden. Durch diese 8
Dieser Punkt ist mir wichtig, weil derzeit über die Hirn- und Bewusstseinsforschung der Radikale Konstruktivismus immer mehr an Bedeutung gewinnt. Es ist nicht nur das Problem, dass die Pluralität von kulturellen Wirklichkeiten kaum berücksichtigt wird (vgl. Schmidt 1994: 75ff.), es ist vor allem zu kritisieren, dass soziale Konflikte, Ungerechtigkeiten, Stigmatisierungen etc. systematisch ausgeblendet werden. 129
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Unterscheidung erklärt sich nämlich, welche andere »Option der Theorie« Butler im Auge hat, wenn sie die Alternative zwischen Voraussetzen oder Verneinen der »rohen Tatsachen« als unzureichend bezeichnet. Ihr Ansatz ist weder »realistisch« noch »konstruktivistisch«, sondern »dekonstruktivistisch«.
Exkurs: Poststrukturalismus als »Dekonstruktivismus«? An dieser Stelle ist anmerken, dass der Begriff »Dekonstruktion« von Derrida in die Diskussion eingeführt wurde. Auch wenn ich im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter auf seinen Ansatz eingehe, möchte ich zumindest darauf hinweisen, dass auch er – wie Butler – nichts Außerdiskursives gelten lassen will (Il n’y a pas hors de texte!). Außerdem trifft für ihn – eher als für Foucault und Butler – die Bezeichnung »Poststrukturalist« zu, denn sein Ansatz lässt sich als Fortführung des strukturalistischen Projekts betrachten. Er nimmt die für den Strukturalismus so wichtige Unterscheidung zwischen signifiant und signifié, zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem – also zwischen der Welt der »rohen Tatsachen« und der Welt der Zeichen – wieder auf und rückt das »Spiel« der Signifikanten in den Mittelpunkt der Analyse. Programmatisch formuliert er: »Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen. Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfassten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten. Streng genommen läuft dies auf die Destruktion des Begriffs ›Zeichen‹ und seiner ganzen Logik hinaus.« (1994: 18)
Indirekt wird hier deutlich, dass es auch ihm nicht um die Signifikate, d.h. die Dinge »da draußen« geht. Er interessiert sich kaum für die Frage, ob es irgendetwas außerhalb der Sprache Liegendes »gibt«. (Und dies erklärt vielleicht, warum Searle schreibt, er habe ausweichend geantwortet). Vielmehr steht für ihn die Absage der Hoffnung, etwas über die Signifikate in Erfahrung zu bringen – zur Wahrheit zu gelangen – im Vordergrund der Überlegungen. Und deshalb fordert er dazu auf, »die Einschreibungen in diesen Signifikanten zu analysieren, eine DeSedimentierung oder Dekonstruktion aller Bedeutungen« (ebd. 23) vorzunehmen. In diesem Sinne ist auch seine Aufforderung zur »Destruk130
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tion des Begriffs ›Zeichen‹« zu verstehen. Das Zeichen stehe nicht für eine »rohe Tatsache«, einen Gegenstand, ein Objekt – er betrachtet es also nicht als ein Hilfsmittel, um etwas über einen Gegenstand auszusagen – vielmehr wird es als Analysegegenstand aus eigenem Recht betrachtet. Das Zeichen oder genauer noch: das Spiel der Zeichen sei das alleinige Gebiet der Analyse. Das heißt, Derrida entwickelt ein Konzept von Sprache, das die Beweglichkeit und Unabschließbarkeit ins Zentrum rückt. Bedeutung ist für ihn von der Position und der Beziehung des Signifikanten zu anderen Signifikanten her zu analysieren, nicht vom Bedeuteten, vom Signifikat, vom Objekt, Gegenstand her. Dazu führt er die Unterscheidung zwischen différence und différance ein, wobei der zweite Differenzbegriff (différance) sich auf die Nachordnung, die Zeitschiene, bezieht. Im Spiel der Signifikanten verändern sich die Bedeutungen. Da diese ohnehin nicht ein für allemal feststellbar sind, sind sie nur in der ständigen Veränderung, Verschiebung zu beobachten. Derridas Analyse der »Einschreibungen in den Signifikanten« unterscheidet sich insofern von der Diskursanalyse Foucaults, als er nicht den Diskurs in seiner Gesamtheit, sondern die (einzelnen) Signifikanten in Hinblick auf die in ihnen abgelagerte Geschichte analysiert. Gleichwohl weisen ihre Ansätze eine Affinität insofern auf, als beide sich für die Sprache bzw. den Text, den Diskurs interessieren. Während Foucault die »Ordnung des Diskurses« in den Mittelpunkt rückt, will Derrida vor allem die Zirkulation der Zeichen analysieren. Und wenn er die Dekonstruktion des Begriffs des Zeichens und seiner ganzen Logik erreichen will, so ist der Begriff »Dekonstruktivismus« für seinen Ansatz angemessen. Da aber bei Foucault nicht das Zeichen im Mittelpunkt steht, ist es fraglich, ob dieser Begriff auch auf seinen Ansatz bezogen werden sollte. Diese Frage wird noch deutlicher, wenn ich weiter unten auf Butlers Konstruktivismus-Kritik eingehe. Hier ist noch aufzuzeigen, dass meine Unterscheidung zwischen Realismus, Radikalem Konstruktivismus und »Dekonstruktivismus« zwar hilfreich ist, um die Merkmale der »konstruktivistischen« Ansätze genauer zu bestimmen, dass sie aber insofern nicht hinreichend ist, als in dieser ein sozialer Konstruktivismus, der für die feministische Diskussion so wichtig ist, nicht vorkommt. Wie oben aufgezeigt, wird Geschlecht zurzeit als »soziale Konstruktion« und werden Geschlechterdifferenzen »im Modus sozio-kultureller Konstruktionen« (Pasero 1995: 51) beschrieben. Hier werden also sozialkonstruktivistische Ansätze favorisiert. Insofern gilt es nun genauer zu bestimmen, wie sich der Sozialkonstruktivismus einerseits zum Radikalen Konstruktivismus, andererseits zum »Dekonstruktivismus« verhält. Dabei ist auch der Unterschied zwischen Butlers und Haraways Ansatz herauszuarbeiten. 131
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Sozialer Konstruktivismus als »Wirkungsforschung« In Was ist ›soziale Konstruktion‹? (1999) setzt Hacking sich mit den verschiedenen Arten, in denen die »Kampfvokabel Konstruktion« verwendet wird, auseinander, um Klarheit in den oft voreiligen Gebrauch dieses Etiketts zu bringen. (Der Untertitel lautet »Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften«.) Im ersten Teil seines Buches erläutert er seine These, »etwas könne sowohl wirklich als auch eine soziale Konstruktion sein«, im zweiten Teil zeigt er auf, dass es »nicht zu behebende Unterschiede zwischen Realisten und Konstruktionisten« gebe (vgl. ebd. 108). Während er die Kontroverse zwischen Realisten und Konstruktivisten für wichtig hält – es gebe »philosophische Schranken, wirkliche Fragen, über die sich klardenkende und ehrenwerte Theoretiker bis in alle Ewigkeit streiten« könnten (vgl. ebd. 109) – ist seiner Auffassung nach die Unterscheidung zwischen »wirklich« und »sozial konstruiert« wenig sinnvoll. Dies ist auf den ersten Blick irritierend. Zwar ist, wenn die Wirklichkeit als sozial konstruiert aufgefasst wird, leicht zu erklären, dass »wirklich« gleichbedeutend sein kann mit »sozial konstruiert«, dann ist aber nicht einzusehen, warum er die Hälfte seines Buches darauf verwendet zu erklären, dass es keinen Gegensatz zwischen »wirklich« und »sozial konstruiert« gibt. Bei genauerer Betrachtung erklärt sich dies dadurch, dass er die Verwendung des Begriffs »Konstruktion« einschränken und ihren politischen Missbrauch verhindern will. Dies ist auch nach meiner Auffassung ein sinnvolles und notwendiges Anliegen. Betrachten wir also seine Argumentation genauer. Hacking zeigt wenig Verständnis für all diejenigen, die mit der Behauptung, etwas sei »sozial konstruiert«, »eine bilderstürmerische Infragestellung der übertünchten Realität, also dessen, was die Durchschnittsmenschen für wirklich halten«, anstrebten (vgl. ebd. 81), und schreibt polemisch: »Was für eine Überraschung! Alle Konstrukt-ismen wohnen in der von Platon angebahnten und von Kant endgültig gestalteten Dichotomie zwischen Erscheinung und Wirklichkeit. Obwohl die sozialen Konstruktionisten in der von ihnen als Postmoderne bezeichneten Sonne baden, sind sie im Grunde ganz altmodisch.« (Ebd.)
Der Seitenhieb gegen »soziale Konstruktionisten« ist nicht zu übersehen. Polemisiert er also ähnlich gegen diese wie Searle gegen »Antirealisten«? Vertritt auch er eher eine »realistische« Position? Während Searle eher naturwissenschaftliche als geisteswissenschaftliche »Anti132
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realisten« akzeptiert, zeigt Hacking mehr Sympathien für naturwissenschaftliche als für sozialwissenschaftliche Konstruktivisten, wie an seiner Unterscheidung von »Konstruktivismus«, »Konstruktionalismus« und »Konstruktionismus« zu erkennen ist. Zunächst kritisiert er die häufige Verwendung des Begriffs »Konstruktivismus«. Er behält ihn der Mathematik vor: »Ohne der Terminologie sonderliches Gewicht beizumessen, halte ich es für tunlich, das Etikett Konstruktivismus der Mathematik vorzubehalten. Das ist das Gebiet, in dem der Ausdruck – jedenfalls in neuerer Zeit – zuerst benutzt wurde, und er bezeichnet eine gedeihende, wenn auch auf eine Minderheit beschränkte Forschungstätigkeit.« (Ebd. 80)
Den Konstruktivismus in der Mathematik verknüpft er mit Brouwer (ebd. 80), dieser habe »einleuchtende Kriterien für den Aufbau eines mathematischen Gegenstandes mit Hilfe von Beweisen« entwickelt (vgl. ebd. 83). Den Namen »Konstruktionalismus« schlägt er für die philosophischen Projekte von Russel, Carnap, Goodmann und Quine vor. Ihr Ziel sei es, »aufzuzeigen oder nachzuweisen, wie diverse wichtige Entitäten, Begriffe, Welten oder sonstige Dinge aus anderen Rohstoffen aufgebaut« würden (vgl. ebd. 79). Sie hätten zwar keine historischen oder sozialen Prozesse untersucht, gleichwohl seien sie davon ausgegangen, dass unsere Überzeugungen, unser Glaube an die Existenz der Dinge oder Tatsachen erschüttert werden könne. Als dritte Art nennt er den (sozialen) Konstruktionismus: »Unter Konstruktionismus (oder sozialem Konstruktionismus, wenn gelegentlich das Soziale betont werden muss) verstehe ich also verschiedene soziologische, historische und philosophische Projekte, bei denen es um die Darstellung oder Analyse von wirklichen, historisch eingebundenen, sozialen Interaktionen oder kausalen Wegen geht, die zur Entstehung oder Durchsetzung einer derzeit gegebenen Entität oder Tatsache geführt haben oder daran beteiligt waren.« (Ebd. 81)
An dieser Definition fällt auf, dass Hacking nicht den Namen eines Begründers oder Vertreters nennt. Außerdem will er das Adjektiv »sozial« nur dann verwenden, wenn »das Soziale« betont werden müsse. Zuvor schon hatte er kritisiert, dass es tautologisch sei zu behaupten, gender oder Geld seien sozial konstruiert, denn niemand behaupte, dass Geld eine natürliche Tatsache sei, und: »Sofern Gender per definitionem etwas wesentlich Soziales ist und sofern es überhaupt konstruiert ist, fragt es sich, wie es anders als sozial bedingt sein könnte.« (Ebd. 68) Einerseits ist ihm zuzustimmen, denn wie oben bereits angedeutet, wird beim 133
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Begriff gender der Konstruktionsgedanke verdoppelt, sodass das Gekochte als »doppelt gekocht« erscheint. Andererseits hat sich aber gezeigt, dass diese Doppelung hilfreich ist, um aufzuzeigen, dass das Geschlecht nicht in der Natur der Sache liegt und dass es problematisch ist, Geschlecht als an den Körpern abzulesende »Essenz« zu betrachten. Doch Hacking kritisiert den Begriff »Essentialismus«, er sei nicht deskriptiv, sondern polemisch: »Die meisten, die das Wort überhaupt verwenden, gebrauchen es zur üblen Nachrede, um die Gegenseite schlechtzumachen.« (Ebd. 36) Er schlägt stattdessen den Begriff der »Unvermeidlichkeit« vor: Es genüge, den weniger anspruchsvollen »schwammigen« Begriff der Unvermeidlichkeit zu benutzen (ebd.). Dies ist einigermaßen irritierend, denn so wie ich oben den feministischen Essentialismus-Streit beschrieben habe, hängt er mit dem RealismusKonstruktivismus-Streit zusammen und hat mit »Unvermeidlichkeit« nichts zu tun. Warum insistiert Hacking dann darauf, statt von »Essenz« von »Unvermeidlichkeit« zu sprechen? Wie sich zeigen wird, hängt dies mit seiner (hilfreichen) Definition des Konstruktionsbegriffs zusammen. Doch zunächst sind einige Anmerkungen zu seiner Typologie zu geben. In seiner Aufteilung der drei Arten des »Konstrukt-ismus« kommt der Begriff des Radikalen Konstruktivismus nicht vor. Wenn dieser aber eine eigene Theorieströmung bildet, weil er radikal vom einzelnen Subjekt ausgeht, ist er kaum dem sozialen Konstruktionismus zuzuordnen, wie Hacking ihn beschreibt. Umgekehrt lässt sich dann folgern, dass das Adjektiv »sozial« notwendig ist, um anzuzeigen, dass es sich nicht um einen radikal konstruktivistischen Ansatz handelt. Es sollte nur dann weggelassen werden, wenn sowohl radikal als auch sozial konstruktivistische Ansätze gemeint sind. »Konstruktivismus« erscheint dann als Oberbegriff für diese beiden Ansätze. Hacking weist nicht explizit auf den Poststrukturalismus bzw. »Dekonstruktivismus« hin. Er zeigt zwar Sympathie für Butlers wie auch für Foucaults Arbeiten, wie ich gleich aufzeigen werde,9 aber er rechnet sie 9
Außerdem weist er auf Haraway und ihre Kritik am Objektivitätsideal hin: »Einige Physiker nehmen den übermenschlichen Standpunkt ein, der von Donna Haraway spöttisch als Gottestrick apostrophiert wird.« (1999: 119) Später nimmt er diese wieder auf und bezieht sie auf alle Feministinnen: »Die Feministinnen sehen Objektivität und abstrakte Wahrheit als Werkzeuge, die gegen sie benutzt worden sind. […] Sie machen geltend, dass eben diese Werte genauso wie das Wort ›Objektivität‹ eine großangelegte Hochstapelei sind. Sofern überhaupt eine Art von Objektivität erhaltenswert ist, dann muss es, wie einige behaupten, eine sein, die eine Vielfalt von Standpunkten anstrebt. Zu dieser Auseinandersetzung habe ich gerade deshalb nichts beizutragen, weil ich selbst gespalten bin. Vielleicht ist es eine Generationenfrage.« (Ebd. 153) Er versucht also, auf feministische
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mehr oder weniger deutlich dem »(sozialen) Konstruktionismus« zu. Also gilt es, vor dem Hintergrund seiner Beschreibung noch einmal meine Unterscheidung zwischen (Radikalem und Sozialem) Konstruktivismus einerseits und »Dekonstruktivismus« andererseits zu prüfen bzw. zu rechtfertigen. Wenn Hacking den Gegensatz zwischen »wirklich« und »sozial konstruiert« für unwichtig hält, so ist dies überraschend insofern, als die Verbreitung des Konstruktionsbegriffs sich soziologischen Ansätzen zur Erklärung der sozialen Wirklichkeit verdankt. Hacking schreibt zwar, dass der Begriff »Konstruktion« von Berger und Luckmann eingeführt worden sei, um aufzuzeigen, dass es »unterschiedliche Wirklichkeiten, die in den komplexen Sozialwelten entstehen« (ebd. 47) gebe, er weist in seiner Einleitung auch darauf hin, dass der Konstruktionsgedanke vor allem durch die Gender Studies Verbreitung gefunden habe und Feministinnen überzeugend gezeigt hätten, »dass geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Beziehungen im höchsten Maße kontingent« seien (ebd. 21), aber er kritisiert den politischen Anspruch, der sich dort bei der Verwendung des Konstruktionsbegriffs zeige. Hier unterscheidet er zwischen sechs verschiedenen Graden des (politischen) Engagements (vgl. ebd. 39) und zählt dabei Butler zu den »rebellischen« Konstruktionistinnen.10 Allerdings scheint er sie von seiner Kritik der »Aufgeregtheit« auszunehmen und ihr eine Sonderrolle zuzuschreiben: »Man glaube aber nun nicht, dass alle Feministinnen der Rede von sozialer Konstruktion aufgeschlossen gegenüber stehen. Butler etwa distanziert sich von solchen Äußerungen, wie ich bereits angedeutet habe und bevorzugt präzisere und feiner gesponnene Begriffe.« (Ebd. 23f.) Außerdem schreibt er, Butler wolle »die Rede von Konstruktion allmählich überwinden« und zu einer komplexeren Analyse übergehen, einer Analyse nämlich, »die vielleicht das Wort ›Konstruktion‹ insgesamt fallen lassen würde« (vgl. ebd. 23). Er rechnet ihren Ansatz also dem »Konstruktionismus« bzw. dem Sozialkonstruktivismus zu, auch wenn sie sich »distanziere«, während ich oben vorgeschlagen habe, ihn nicht dem Sozialkonstruktivismus zuzuordnen.
Standpunkte einzugehen, enthält sich aber gleichzeitig einer Stellungnahme – aus Altersgründen … 10 »Scheman ist eine reformistische Konstruktionistin, die eine Ideologie entlarven möchte. Butlers veröffentlichte Arbeiten fallen unter meine Bezeichnung ›rebellelisch‹, während Wittigs Schriften revolutionär sind.« (Ebd. 23, Hervorh. im Original) Allgemeiner kritisiert er die Aufgeregtheit vieler Konstruktionisten, die nicht mehr zu einer klaren, kühlen Analyse fähig seien. Sie wollten »entlarven« und verfolgten das »Ziel der Bewusstmachung« (vgl. ebd. 19). 135
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Betrachten wir noch einen anderen Punkt: Offensichtlich sind für Hacking naturwissenschaftliche Forscher eher als geisteswissenschaftliche zur »kühlen Analyse« fähig. So schreibt er, die philosophisch orientierten Soziologen der Naturwissenschaften seien hier offenbar den Forschern voraus, die sich mit »stärker menschengebundenen Themen« beschäftigen. Sie hätten das Adjektiv »sozial« aus ihren Titeln und Texten verbannt, während Autoren, von denen »spezifisch menschengebundene Sachverhalte« erörtert würden, es auch weiterhin recht unreflektiert benutzten (vgl. ebd. 69). Dann plädiert er für eine Unterscheidung des Konstruktionsgedankens in den Natur- und Sozialwissenschaften: Naturwissenschaftler hätten es mit »unbelebten«, Sozialwissenschaftler hingegen mit »belebten« Dingen zu tun. Daraus folgert er: »Die Klassifikationen der Sozialwissenschaften sind interaktiv. Die Klassifikationen und Begriffe der Naturwissenschaften sind es nicht. In den Sozialwissenschaften gibt es bewusste Interaktionen zwischen Art und Person. In den Naturwissenschaften gibt es keinerlei Interaktionen desselben Typs. Es kann also nicht überraschen, dass konstruktionistische Fragen in den Naturwissenschaften in anderer Weise aufkommen als Fragen hinsichtlich der Konstruktion, die menschliche Angelegenheiten betreffen.« (Ebd. 58)
Hierfür nennt er zwei Beispiele: »Nehmen wir die beiden Extreme, Flüchtlingsfrauen und Quarks! Eine Flüchtlingsfrau kann erfahren, dass sie eine bestimmte Art von Person ist, und kann sich dementsprechend verhalten. Quarks erfahren nicht, dass sie eine bestimmte Art von Entität sind, und verhalten sich nicht danach.« (Ebd. 57) Hacking unterscheidet also zwischen den Gegenständen der Natur- und der Sozialwissenschaften, weil letzteren eine Eigenaktivität zuzuschreiben sei, ersteren jedoch nicht: Die Quarks würden sich nicht dadurch verändern, dass sie von Menschen als solche bezeichnet würden, die als »Flüchtlingsfrauen« Etikettierten aber sehr wohl. Einerseits ist diese Unterscheidung einleuchtend. Andererseits aber werden in den Naturwissenschaften Quarks und ähnliche Objekte längst nicht von allen Forschern als Objekte, die nicht interagieren, betrachtet.11 Das heißt: Hacking stellt zwar dar, dass der Konstruktionsgedanke in die Naturwissenschaften dadurch gelangt sei, dass die Konstruktion wissenschaftlicher Tatsachen in den Blick der Forscher geraten sei (vgl. ebd. 96f.), aber er geht nicht auf die epistemologisch wichtige Frage, ob es eine naturwissenschaftliche Erkenntnis ohne soziale Aspekte geben kann, ein. Während die Arbeiten der von ihm zitierten Autoren (Kuhn 1976 und Feyerabend 1987 einerseits, La-
11 Am Ende seines Buches geht er hierauf selbst ein. Vgl. unten. 136
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tour/Woolgar 1979 andererseits) auch in der Weise zu lesen sind, dass sie die Unterscheidung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften in Frage stellen, hält Hacking an dieser fest.12 Außerdem taucht der in den Arbeiten von Latour, Knorr-Cetina (1988) und Haraway wichtige Gedanke, dass auch Objekte mit Menschen interagieren, nicht auf. Gleichwohl ist der Interaktionsgedanke für Hacking wichtig, denn er schreibt: »Die Art und Weise, wie Menschen klassifiziert werden, interagiert mit den klassifizierten Menschen.« (Ebd. 56) Einerseits geht er also davon aus, dass unbelebte Objekte wie Quarks nicht interagieren können, andererseits spricht er aber einer »Idee« eine »Interaktionsfähigkeit« zu. Dies erscheint widersprüchlich. Bei genauerer Betrachtung seiner Überlegungen zeigt sich, dass sein Begriff der Interaktion in diesem Kontext schwierig ist, und zwar aus folgendem Grund: Eine »Idee« kann noch weniger mit Personen »interagieren« als unbelebte Objekte. Wenn Quarks ihr Verhalten nicht ändern, weil sie »nicht erfahren, dass sie eine bestimmte Art sind« (ebd. 57), kann es auch eine Idee nicht. Aber im Grunde geht es ihm auch nicht um die Interaktion, sondern um die Wirkung, die die Idee auf die Interaktion verschiedener Subjekte hat. Dies wird an folgender Aussage deutlich: »Personen, die diesen Arten [›Flüchtlingsfrau‹, ›kindlicher Fernsehzuschauer‹ oder ›Zulu‹] angehören, können sich darüber klar werden, dass sie in dieser Weise klassifiziert werden. Sie können stillschweigende oder auch explizite Entscheidungen treffen, Lebensformen anpassen oder übernehmen, um sich der auf sie anwendbaren Klassifikation anzubequemen oder zu entziehen. Eben diese Entscheidungen, Anpassungen oder Übernahmen haben Folgen für diese Gruppe, für die Art von Personen, die so genannt werden. Das Ergebnis sind vielleicht besonders wirksame Interaktionen. Was über die Personen einer bestimmten Art bekannt war, kann falsch werden, weil sich Personen dieser Art aufgrund ihrer Selbsteinschätzung geändert haben. Dieses Phänomen nenne ich den Loopingeffekt menschlicher Arten.« (Ebd. 60)
Der Begriff des »Loopingeffekts« soll die Rückwirkung beschreiben: Sobald eine Idee »in der Welt« sei, habe sie Wirkung auf die Menschen. Es entstehe ein Effekt, weil die in bestimmter Weise klassifizierten Personen auf das Klassifiziert-Werden reagieren und sich dementsprechend
12 Kuhn hat z.B. auf die Verschränkung von Theorie, empirischen Beweisen und Erkenntnis hingewiesen, und in den Laborstudien von Latour und Knorr-Cetina wird deutlich, dass naturwissenschaftliches Wissen in Prozessen, in denen auch Objekte als Agenten wirken, hergestellt wird. (Vgl. dazu Lucht 2004: 31ff.) 137
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ändern. Insofern handelt es sich um die Folgen der »Idee«. Diese entwickelt selbst keine Aktivität, sie »interagiert« nicht, aber sie »wirkt«.13 Hier kommt ein für weitere Überlegungen wichtiger Aspekt zum Vorschein: Wenn Hacking betont, dass z.B. eine Frau aufgrund des Etiketts »Flüchtlingsfrau« ihr Verhalten ändere, setzt er beim Subjekt Handlungsfähigkeit und Selbstreflexivität voraus. Dies wird am Schluss, wenn er auf »Kontinua« z.B. zwischen indifferenten und interaktiven Arten eingeht, sehr deutlich: Einige Autoren würden vorschlagen, »man solle der materiellen Welt des Laboratoriums und jenseits des Laboratoriums […] Handlungsfähigkeit zuschreiben«: »Diese Denkweisen werden in der Zukunft immer mehr Anklang finden. Wie ist es um Cyborgs bestellt?« (Ebd. 169)14 Er bezieht zwar nicht eindeutig Stellung, aber er hält es offensichtlich für möglich, dass wir Cyborgs werden, auch wenn eine gewisse Ironie nicht zu übersehen ist: »Vielleicht wird uns eines Tages die Art und Weise zum Bewusstsein kommen, in der wir von den Maschinen klassifiziert werden. Jetzt obliegt es mir noch nicht, Fragen zu beantworten, die sich aus dieser neuen Bewegung des Posthumanismus ergeben.« (Ebd. 170) Außerdem beendet er seine Ausführungen mit folgendem Ausblick: »Die Dynamik der Klassifikation ist der Ort, wo es spannend wird. Wenn wir beginnen, uns unter Cyborgs zu bewegen oder selbst Cyborgs zu werden, entwickelt sich das Biolooping zu einer ganz normalen Tatsache des Alltags. Das Klassifikationslooping wird nebenher fortwähren, bis die beiden in einer Welt, die noch niemand vorhersehen kann, vielleicht eins werden.« (Ebd. 194)
Nun spricht er vom Bio- und vom Klassifikationslooping: Aus der »Erzeugung und Gestaltung einer interaktiven Art« – oder auch einer Mischform aus einer indifferenten und interaktiven Art, nämlich einer Cyborg – entwickele sich eine Dynamik, die sich wiederum auf die »Formung von Personen« auswirke. Deshalb fragt er: »Wie gelingt es
13 Im letzten Kapitel merkt Hacking an, dass er dieses Phänomen zunächst »Loopingeffekt der Menschenarten« genannt habe, inzwischen aber lieber von »interaktiven Arten« spreche (vgl. ebd. 164). M.E. ist sein Begriff »Loopingeffekt« angemessener, wenn er die Wirkung der Kategorien auf das Verhalten der Personen meint. 14 Dabei erwähnt er auch, dass der Begriff »Cyborg« von den beiden »Universalgelehrten« Manfred Clynes und Nathan Kline (1960/1996) stamme und sie damit »einen biologischen Rückkoppelungsmechanismus ohne Selbstbewusstsein« meinten, »der sich potentiell an Menschen mit Selbstbewusstsein anschließen ließe, die dann dank des Cyborgs mehr Freiheit hätten, um sich mit Denk- und Forschungsaufgaben zu beschäftigen.« (Vgl. ebd. 169f.) 138
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den Menschen, sich selbst zu formen, während sie in ihren Handlungen mit leistungsfähigen Klassifikationen übereinstimmen oder davon abweichen?« (Ebd.) Deutlich schreibt er »den Menschen« nicht nur Handlungsfähigkeit, sondern auch die Fähigkeit, sich selbst zu formen, zu. Bezug nehmend auf meine Ausführungen zum feministischen Streit um agency und die Konstitution des Subjekts, lässt sich dann formulieren, dass er das Subjekt als außerhalb des Feldes stehend konzipiert. Dies wird bei der Betrachtung seiner Definition von »Konstruktion« noch deutlicher zu zeigen sein. Zuvor möchte ich jedoch noch zwei Hinweise geben. Zum einen ist anzumerken, dass der Gedanke des »Loopingeffekts«, d.h. dass eine »Idee«, ein Etikett oder eine Kategorie Wirkung hat, so neu nicht ist. Erinnert sei an das »Thomas-Theorem« aus den Anfängen der qualitativen Migrationsforschung15 und den labeling approach-Ansatz des Symbolischen Interaktionismus, denn dort wurde beschrieben, wie die Etikettierung zur Stigmatisierung und Ausgrenzung führt. Außerdem hatte Watzlawick mit seinem Theorem der self-fulfilling prophecy (1986) einen ähnlichen »Loopingeffekt« im Auge, denn er zeigt auf, dass »die erfundene Wirklichkeit« nur dann zur »wirklichen Wirklichkeit« werde, wenn sie »geglaubt« werde, dass also die Wirkung der sich selbsterfüllenden Prophezeiung außer Kraft zu setzen sei und gewisse Spiele mit einfachen Tricks zu gewinnen seien: »Sobald uns jemand auf das Bestehen dieses Tricks aufmerksam macht, brauchen wir nicht mehr naiv weiterzuspielen (und immer wieder zu verlieren).« (1986: 108)16 Zum anderen ist auf eine Leerstelle in Hackings Ausführungen hinzuweisen. Für ihn wird es »spannend« bei der Dynamik der Klassifikation, nämlich dort, wo die Herstellung der »Idee«, z.B. die Konstruktion der »Flüchtlingsfrau«, in den Blick genommen wird: Er geht dabei auf die Wirkung des »Etiketts« auf die als solche Etikettierte ein. An dieser Stelle lässt sich fragen: Was hat es mit diesen »Ideen«, »Etiketten« oder Kategorien auf sich? Warum werden derartige Katego-
15 Das Thomas-Theorem lautet: »Wenn die Menschen Situationen als real definieren, dann sind diese in ihren Folgen real.« (Vgl. ABS 439) 16 Hier gibt es Anknüpfungspunkte sowohl zu Haraways als auch zu Butlers Vorschlägen für eine neue feministische Theoriebildung, denn beide wollen das alte Spiel nicht mehr weiterspielen und dafür sorgen, dass Frauen nicht immer weiter verlieren. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass beide versuchen, eine andere Sichtweise zu entwickeln, dass ihre Wege aber verschieden sind: Haraway versucht, den Glauben an die alten Mythen zu erschüttern und neue Mythen zu erzählen (vgl. 1995a: 64). Butler schreibt, das Reale und das sexuell Faktische seien »phantasmatische Konstruktionen« und »Illusionen von Substanz« (GT 214) und schlägt vor, diese Fundamente aufzubrechen (ebd. 216) und »unglaubwürdig zu machen« (ebd. 208). 139
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rien »konstruiert«? Und wer »konstruiert« sie? Diese Konstruktionen entwickeln sich nicht aus dem Nirgendwo. Hier wäre an die oben aufgezeigte Kritik, dass durch die Differenzbehauptung ein othering erzeugt wird, anzuknüpfen. Aber hierauf geht Hacking nicht ein. Gleichwohl bieten seine Ausführungen zum Konstruktionsbegriff hierfür wichtige Anhaltspunkte.
Konstruktion als Metapher Deutlicher als viele andere AutorInnen geht Hacking auf das Metaphorische des Konstruktionsbegriffs ein: »Über das metaphorische Element des Konstruktionsbegriffs denken die meisten Autoren gar nicht nach.« (1999: 83) Er kritisiert, dass die meisten Arbeiten über soziale Konstrukte »geradezu überschwänglichen Gebrauch von Metaphern« machten und dabei den Bereich des Metaphorischen oft hinter sich ließen. Es sei aber wichtig, den »Kerngedanken des Bauens und Zusammensetzens«, der vom Lateinischen bis zum modernen Englisch in dieser Metapher enthalten sei, im Auge zu behalten. »Die Metapher bewahrt – ebenso wie die uralte und mausetote geometrische Metapher der Konstruktion mit Hilfe von Lineal und Zirkel – die Bedeutung der systematischen Anordnung von Elementen, die so zum Bestandteil eines Ganzen werden. Natürlich ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, denn es ist eine systematische Anordnung, ein Gebilde. Gebäude sind immer mehr als die Summe ihrer Bestandteile.« (Ebd. 82)
Daraus folgert er: »Alles, was den Namen Konstruktion verdient, wurde oder wird in ganz bestimmter Stufenfolge konstruiert, wobei die späteren Stufen auf dem Ergebnis früherer Stufen aufbauen. Alles, was den Namen Konstruktion verdient, hat eine Geschichte. Aber nicht jede beliebige Geschichte. Es muss eine Geschichte des Aufbauens sein.« (Ebd. 83)
Hacking insistiert also auf dem im Konstruktionsbegriff enthaltenen Bild des systematischen Aufbauens. Die »Konstruktionisten« hätten die metaphorische Bedeutung des Begriffs »Konstruktion« aus den Augen verloren, dies sei zu korrigieren: »Konstruktionalisten (Russel) und Konstruktivisten (Brouwer) sind der Grundmetapher der Konstruktion im Sinne von Aufbau treu geblieben. […] Ich möchte die sozialen Konstruktionisten dazu anhalten, dem gleichen Glauben treu zu bleiben.« (Ebd.) Auch ich halte es für sinnvoll und notwendig, an der metaphorischen Bedeutung dieses Begriffs festzuhalten. Wenn im Konstruktions140
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begriff immer schon das Aufbauen oder das Aufgebaute, das Gebäude enthalten ist, sollte er nur in dieser Bedeutung verwendet werden. Damit taucht ein neuer Aspekt auf: Auch wenn Hackings Überlegung, dass Konstruktionen Wirkung haben, nicht wirklich neu ist, so lässt sich folgern, dass der Gedanke der Wirkung des »Aufgebauten« im Konstruktivismus wichtig ist. Ist dies vielleicht gar ein zentrales Merkmal des Konstruktivismus? Wird in konstruktivistischen Ansätzen vielleicht vor allem die Wirkung von (sozial konstruierten) »Tatsachen« in Rechnung gestellt? Dann wäre zu folgern, dass der Konstruktionsbegriff im Sozialkonstruktivismus überhaupt erst in diesem Sinne von herausragender Bedeutung ist. Mir scheint, dass der Sozialkonstruktivismus vor allem Wirkungsforschung ist, denn in ihm wird nicht nur die soziale Konstruktion der Wirklichkeit analysiert, sondern auch und vor allem die soziale Wirkung von Konstruktionen. An dieser Stelle klärt sich, warum Hacking statt »Essentialismus« den Begriff der »Unvermeidlichkeit« vorschlägt: Da er »Konstruktion« als Prozess des Aufbauens definiert, bezieht sich der Gedanke der »Unvermeidlichkeit« auf einen zwangsläufigen, unumkehrbaren Prozess. Eine Idee, die einmal in der Welt sei, habe Wirkung, die nicht mehr rückgängig zu machen sei. Insofern meint er mit dem »schwammigen« Begriff der »Unvermeidlichkeit« Folgenhaftigkeit, vielleicht auch »Zwangsläufigkeit«.17 Und damit wird deutlich, dass dieser Aspekt mit dem feministischen Essentialismus-Streit, in dem es nicht um Folgen, sondern um Voraussetzungen und ontologische Setzungen ging, nichts zu tun hat. Dass der Aspekt der Folgenhaftigkeit von »Ideen« bzw. Konstruktionen für ihn wichtig ist, zeigt sich auch noch an seiner Beschreibung 17 Hierfür wählt er auch den Begriff der Kontingenz. »Der Konstruktionist vertritt eine Kontingenzthese.« (1999: 125) Dies aber führt zu Missverständnissen, denn der Begriff der Kontingenz bezieht sich im Allgemeinen auf die Möglichkeit, etwas anders zu denken, als es ist bzw. erscheint. Rorty z.B. spricht von der Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwesens und meint damit, dass die Welt zwar »da draußen« existiere, wir Menschen aber nur Beschreibungen der Welt und kein Kriterium dafür hätten, ob diese Beschreibungen »wahr oder falsch« seien. (1997: 91). Sprachen seien »historische Kontingenzen« (ebd. 109), es sei daher müßig, die wahre Gestalt der Welt oder des Menschen erfassen zu wollen. Luhmann wiederum bezeichnet mit Kontingenz etwas, »was weder notwendig ist noch unmöglich; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.« (1987: 152) Mit diesem Begriff erklärt er die Zufallsentstehung von Ordnung: Diese entstehe, weil die Kontingenzerfahrung auf Dauer sozial unerträglich, die Komplexitätsreduktion notwendig sei. Auch bei Luhmann ist der Begriff also nicht auf »Zwangsläufigkeit« bezogen. 141
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(und Umdeutung) von Butlers Anliegen, wie kurz darzustellen ist. Er schreibt zunächst, dass Thomas Laqueur untersucht habe, wie unterschiedlich die Geschlechtsorgane im vergangenen Jahrtausend dargestellt worden seien, dass aber Butlers Anliegen darüber hinaus reiche: »Die von Laqueur geschilderten Wissenssysteme gehen alle davon aus, dass das biologische Geschlecht physiologisch bedingt ist, etwas Gegebenes, das dem menschlichen Denken vorausliegt. Die Wissenssysteme vertreten unterschiedliche Meinungen über das Gegebene. Butler wirft die Frage auf, wie wir zu der Idee dieses Gegebenen kommen.« (Ebd. 23, Hervorh. U.M.)18
Auffällig ist, dass er hier von der »Idee« spricht, eine Formulierung also, die für sein Anliegen wichtig ist, nicht aber für Butlers. Ihr geht es kaum um Fragen der Entstehung oder Wirkung einer »Idee«, und sie betrachtet gender kaum als Idee. Doch Hacking fährt fort: »Ältere Vorstellungen von Gender helfen nicht dabei, solche Fragen zu beantworten. ›Wie muß Gender refomuliert werden, damit es die Machtverhältnisse einschließt, die den Effekt eines vordiskursiven Geschlechts erzeugen und so noch den Vorgang der diskursiven Erzeugung verschleiern.‹« (Ebd.) Auch wenn er direkt aus Butlers Gender Trouble zitiert, um seine Lesart von Butler abzusichern, missversteht er – wie viele andere – den Ausdruck »Vorgang der diskursiven Erzeugung« in Butlers Aussage, denn er deutet ihn in der Weise, dass die »diskursive Erzeugung« durch Subjekte erfolge.19 Wie oben aufgezeigt, ist aber für Butler die »diskursive Erzeugung« ohne handelnde Subjekte zu denken. Da für sie das Subjekt »Effekt« ist, können ihm keine erzeugenden, konstruktiven Fähigkeiten zugeschrieben werden. Zwar ist zu kritisieren, dass Hacking Butler umdeutet, aber sein Vorschlag, Konstruktion als Prozess oder Produkt des Aufbauens zu definieren, ist aufzunehmen, denn in dieser Definition ist zum einen impliziert, dass die Produkte von Subjekten hergestellt, aufgebaut werden, zum anderen, dass Konstruktionen Wirkungen haben, wodurch die Folgen der Konstruktionen mit in den Blick genommen werden können.
18 Hier zeigt sich im Übrigen ein ähnliches Problem wie bei den »interaktiven Arten«, denn er schreibt den »Wissenssystemen« Handlungsfähigkeit zu. Können Wissenssysteme handeln und Meinungen vertreten? 19 Dies konnte ich umso leichter erkennen, als ich selbst bei meiner ersten Lektüre Butler in dieser Weise missverstanden hatte. 142
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Das Subjekt in (»de«-)konstruktivistischen Ansätzen Nach dieser Definition des Konstruktionsbegriffs lässt sich nun die Konstitution des Subjekts in konstruktivistischen Ansätzen präziser beschreiben: In radikal- wie in sozialkonstruktivistischen Ansätzen ist der Konstruktionsbegriff im Sinne des Aufbauens oder des Aufgebauten von zentraler Bedeutung. Dabei wird das Hervorbringen der Konstruktionen den Subjekten zugeschrieben. Diese Ansätze gehen also von den aufbauenden, konstruktiven Fähigkeiten des Subjekts, von Subjekten als »Konstrukteuren« aus. Wie oben aufgezeigt, wird das Subjekt im Radikalen Konstruktivismus als außerhalb des Feldes stehend konzipiert, denn ihm wird das »Erfinden« der Wirklichkeit zugeschrieben. Auch im Sozialen Konstruktivismus wird das Subjekt als außerhalb des Feldes stehend konzipiert, denn es wird als »Erzeuger« der Konstruktionen betrachtet und ihm wird die Fähigkeit, sich zum Aufgebauten, zu den Konstruktionen zu verhalten, zugeschrieben. In diesen beiden Ansätzen hat das Subjekt also konstruktive Fähigkeiten. Dies steht im Gegensatz zur Konstitution des Subjekts, wie Butler und Foucault sie beschreiben. Deshalb lässt sich nun fragen, ob, wenn der Gedanke des systematischen Aufbauens für den Begriff der Konstruktion und dementsprechend für konstruktivistische Ansätze wichtig ist, Foucaults Ansatz als »konstruktivistisch« zu bezeichnen ist. Hacking beantwortet diese Frage positiv. Zu Foucault schreibt er z.B., dieser habe aufgezeigt, dass »die Forderungen der Sittlichkeit von uns selbst als moralischen Handlungssubjekten konstruiert werden«: »Es ist festzuhalten, dass in der Moralphilosophie seit Kants kategorischem Imperativ und bis hin zu John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit und Michel Foucaults Vorstellung von Selbstverbesserung ständig betont wird, dass die Forderungen der Sittlichkeit von uns selbst als moralischen Handlungssubjekten konstruiert werden und dass nur die selbstkonstruierten Forderungen in Einklang stehen mit der Freiheit, die wir als moralische Akteure verlangen.« (Ebd. 78, Hervorh. U.M.)
An anderer Stelle schreibt er: »Und obwohl ich mich hier nicht weiter darauf einlassen möchte, habe ich den Eindruck, dass in der Ethik Kant, Rawls und Foucault (um die Namen der drei bereits genannten Moralphilosophen zu wiederholen) angeben, wie und warum man etwas aufbaut.« (Ebd. 83) Nach meiner Lesart beruht Hackings »Eindruck« auf einem Missverstehen des Anliegens Foucaults, denn ihm geht es nicht darum aufzuzeigen, wie und warum »man« etwas aufbaut, »konstruiert«. 143
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Gerade dies ist für Foucault Anzeichen eines Denksystems, das er überwinden möchte. Er geht gerade nicht von den kreativen und konstruktiven Fähigkeiten des Subjekts aus, er will gerade nicht die Geschichte des Aufbauens analysieren. Seine Perspektive ist sozusagen entgegengesetzt zur konstruktivistischen. Allgemeiner lässt sich festhalten: So hilfreich Hackings Bemühen, den Kerngedanken des Konstruktivismus (in allen drei Varianten des Konstruktivismus, Konstruktionalismus und Konstruktionismus) freizulegen, ist, so schwierig ist es, dass er Foucault und Butler diesem zurechnet. M.E. deutet er Foucaults und Butlers Ansatz um. Und nur dadurch kann er diesen unter das Etikett des »Konstrukt-ismus« subsumieren. Umgekehrt lässt sich die von mir vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Konstruktivismus und »Dekonstruktivismus« pointierter fassen: Der »dekonstruktivistische« Ansatz steht nicht nur im Gegensatz zum Radikalen, sondern auch zum Sozialen Konstruktivismus. Von hier aus ist nun Haraways Ansatz genauer zu betrachten, denn sie beruft sich wie Butler auf Foucault.
H a r aw a ys ( » d e « - ) k o n s t r u k t i v i s t i s c h e r An s a t z Oben habe ich aufgezeigt, dass Haraways Arbeiten für die feministische Diskussion ähnlich bedeutsam waren (und sind) wie Butlers Gender Trouble und dass sie Einfluss auf kulturanthropologische Studien hatten. Hier sei betont, dass Haraway und Butler beide als Theoretikerinnen betrachtet werden, die Foucaults Ansatz für das feministische Projekt nutzbar gemacht haben. So schreiben Hammer und Stieß z.B., Haraways Ansatz reiche weiter als Butlers, weil sie im Gegensatz zu Butler die Wirklichkeit der Körper anerkenne: »Während sich Butler in ihren Texten dem ›Gestalter des Phänomens Körpergeschlecht‹ zuwendet, versucht Haraway außerdem der Spielart des Körpergeschlechts im Prozess des Gestaltens auf die Schliche zu kommen.« (1995:14) An ihren Ausführungen ist noch einmal exemplarisch aufzuzeigen, dass häufig nicht zwischen konstruktivistischen und »dekonstruktivistischen« Ansätzen unterschieden wird. So schreiben sie zur Konstruktion und zu den unterschiedlichen Konzeptionen der Handlungsfähigkeit des Subjekts, Butler bestimme »Konstruktion als einen Prozess, der nicht nur die Subjekte und Handlungen, sondern auch die Materie als Effekte« hervorbringe (ebd. 13). Auf ihre Ablehnung des Konzepts der Handlungsfähigkeit des Subjekts gehen sie also nicht ein. Gleichzeitig schreiben sie zu Haraway, sie habe ein Konzept von Handlungsfähigkeit, das nicht auf Identität und Abgrenzung, sondern auf Verkörperung beruhe: 144
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»Frauen, Primaten und Cyborgs erweisen sich so als heterogene Verbündete in einem Prozess, der die Konstruktion eines unabhängigen, homogenen, selbstidentischen, aktiven männlichen Subjekts, das sich nur durch seine Abgrenzung gegen Andere (Frauen, Nicht-Weiße, Tiere, Maschinen) erhalten kann, destabilisiert. An die Stelle dieses Subjekts tritt bei Haraway ein Selbst, dessen Handlungsfähigkeit nicht auf Abgrenzung, sondern auf Verkörperung, innerer Differenz und Verbundenheit über die Grenzen zwischen Mensch und Tier und zwischen Mensch und Maschine hinweg beruht.« (Ebd. 30)
Die Autoren weisen zwar darauf hin, dass Haraway das »alte« Subjekt des westlichen Humanismus verabschiede, aber wenn sie schreiben, das »Selbst« trete an seine Stelle und seine Handlungsfähigkeit beruhe auf »Verkörperung« und »Verbundenheit«, so wird deutlich, dass sie genau an der Stelle, wo die Frage, ob Haraway dem Subjekt kreative, konstruktive Fähigkeiten zuschreibt, sehr vage Formulierungen wählen. Gleichwohl deuten sie an, dass Haraway dem Subjekt wesentlich mehr Spielraum einräume als Butler, denn einem Selbst, das an die Stelle des Subjekts tritt und nicht wie bei Butler als »Effekt« gedacht wird, wird immer noch die Fähigkeit des (kreativen) Konstruierens zuzurechnen sein. Dies soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Dabei sei vorausgeschickt, dass, wenn Haraway von einer »Neuerfindung der Natur« (Re-Invention of Nature) spricht, dies an den zentralen Gedanken im Radikalen Konstruktivismus erinnert, denn dort wird die Wirklichkeit als eine Erfindung des Subjekts betrachtet (vgl. oben). Es gilt also genauer zu prüfen, ob sie die Konstitution des Subjekts radikal- oder sozialkonstruktivistisch oder aber »dekonstruktivistisch« denkt. Im Manifest für Cyborgs, ihrem für die feministische Politik wichtigsten Essay, schlägt Haraway einen Neuansatz für das feministische Projekt vor: »Ich plädiere dafür, die Cyborg als eine Fiktion anzusehen, an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen lässt. Sie sollte aber auch als eine imaginäre Ressource betrachtet werden, die uns einträgliche Verbindungen eröffnen kann. Die Biopolitik Foucaults ist nur eine schwache Vorahnung des viel weiteren Feldes der CyborgPolitik.« (1995a: 34)
Hier wird deutlich, dass sie die »Cyborg-Politik« für eine notwendige Erweiterung der von Foucault analysierten »Biopolitik« hält. Es sei ein viel weiteres Operationsfeld anzunehmen. Die Cyborgs operierten in einem »wesentlich mächtigeren Operationsfeld«, schreibt sie an anderer Stelle (vgl. ebd. 50). Haraway knüpft also an Foucault an, will aber seinen Ansatz auf ein weiteres Feld ausdehnen. Dazu bedient sie sich der 145
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Cyborg-Figur, der sie eine doppelte Funktion zuschreibt: Zum einen dient sie ihr zur Beschreibung der »heutigen gesellschaftlichen Realität« (!), zum anderen solle es ein Mittel zur Veränderung eben dieser sein. Es sei einerseits möglich, mithilfe dieser Figur die »unheimlichen, neuen Netzwerke«, die »Informatik der Herrschaft« zu beschreiben (vgl. ebd. 48), andererseits sei es ein Mittel, um eine neue Art von Texten zu schreiben, »mittels derer wir uns am Spiel, die Welt zu schreiben und zu lesen, beteiligen« (vgl. ebd. 37). Dieser für Haraway wichtige Gedanke ist genauer zu betrachten. Zum Ende des Manifests schreibt sie zusammenfassend, sie wolle »mit Hilfe der Cyborg-Metaphorik« einerseits aufzeigen, dass »die Produktion einer universalen, totalisierenden Theorie« ein bedeutender Fehler sei, der die meisten Bereiche der Realität (!) verfehle (ebd. 71) – hier nimmt sie die Kritik Foucaults an totalisierenden Theorien sowie die postkoloniale Kritik an der Universalitätsbehauptung westlicher Theorien auf – andererseits wolle sie aufzeigen, dass die WissenschaftlerInnen »Verantwortung für die sozialen Beziehungen, die durch die gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse strukturiert werden«, zu übernehmen hätten (ebd.). Sehr deutlich spricht sie also von der Verantwortung der WissenschaftlerInnen. Hierauf wird später einzugehen sei. Zunächst sei betont, dass Haraway es für notwendig hält, bessere Beschreibungen der »Realität« zu »erfinden«, denn sie geht davon aus, dass wissenschaftliche Beschreibungen die gesellschaftlichen Verhältnisse strukturieren. Daran ist noch nicht zu erkennen, ob sie einen konstruktivistischen oder »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt, denn es lässt sich durchaus behaupten, dass auch Foucault einen neuen, besseren Ansatz zu Beschreibung der Realität entworfen, also »erfunden« hat. Das heißt: Auch wenn im Manifest häufig die Begriffe »Konstruktion«, »Rekonstruktion« und »Dekonstruktion« sowie »Realität« und »Wirklichkeit« auftauchen und dies eher auf einen sozialkonstruktivistischen Ansatz hinweist, so steht doch gleichzeitig die Kritik an Machtverhältnissen, das Interesse für den »Ausschlussmechanismus« an zentraler Stelle, und dies weist eher auf einen »dekonstruktivistischen« Ansatz hin: »Der Ausschlussmechanismus durch Benennungen ist scharf ins Bewusstsein getreten. Identitäten erweisen sich als widersprüchlich, partiell und strategisch. […] Es gibt nicht einmal den Zustand des Weiblich-›Seins‹. Dieser ist selbst eine hochkomplexe Kategorie, die in umkämpften sexualwissenschaftlichen Diskursen und anderen sozialen Praktiken konstruiert wurde. Gender-, Rassenoder Klassenbewusstsein sind Errungenschaften, die uns aufgrund der schrecklichen historischen Erfahrung der widersprüchlichen, gesellschaftlichen Wirk146
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lichkeiten von Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus aufgezwungen wurden.« (Ebd. 40f.)
Vage ist jedoch zu erkennen, dass Haraway – wie viele andere vor und nach ihr – einen Diskursbegriff verwendet, der mit dem Foucaults nicht identisch ist. Wenn sie schreibt, die Kategorie des Weiblich-Seins sei »in umkämpften Diskursen« »konstruiert« worden, betrachtet sie den Diskurs als ein Feld, in dem Kämpfe über die Bedeutung dieser Kategorien stattfinden.20 Für Foucault aber ist der Diskurs kein Feld von Auseinandersetzungen, sondern ein »Raum der Äußerlichkeit, in dem sich ein Netz von unterschiedlichen Plätzen entfaltet«, ein »Feld von Regelmäßigkeiten« (vgl. AW 82). Und dieser Raum sei weder »durch den Rückgriff auf ein transzendentales Subjekt« noch durch den auf eine »psychologische Subjektivität« zu beschreiben (ebd.). Um weiter zu klären, ob Haraway einen »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt, ist ihre Stellungnahme zur »Wissenschaftsfrage im Feminismus« in Situiertes Wissen zu betrachten. Hier taucht z.B. das Ziel der »Dekonstruktion« auf: »Ich und andere begannen unsere Arbeit mit dem Wunsch nach einem starken Instrument zur Dekonstruktion der Wahrheitsansprüche einer feindlichen Wissenschaft, in dem wir die radikale historische Spezifizität und damit die Anfechtbarkeit jeder Schicht der zwiebelförmig angeordneten wissenschaftlichen und technologischen Konstruktionen zeigten. Und wir sind schließlich bei einer Art epistemologischer Elektroschocktherapie angelangt, die uns mit selbstinduzierten multiplen Persönlichkeitsstörungen außer Gefecht setzt, anstatt uns an die Spieltische zu bringen, wo mit hohen Einsätzen um allgemein anerkannte Wahrheiten gespielt wird.« (1995b: 77)
Sie zeigt an, dass die »Dekonstruktion von Wahrheitsansprüchen« ihr Ziel gewesen sei. Offensichtlich bedeutet »Dekonstruktion« hier »Infragestellen« und »Abschaffen«. Kurz danach schreibt sie, Feministinnen müssten »auf einer besseren Darstellung der Welt beharren« (ebd. 78). Die Arbeiten, in denen die vielfältigen Konstruktionen von sex und gender analysiert werden, könnten letztlich nur zeigen, wie diese »konstruiert« würden. Aber die Rekonstruktion der Prozesse sei unbefriedigend, es reiche nicht aus, auf die »grundlegende historische Kontingenz zu verweisen und zu zeigen, wie alles konstruiert ist« (vgl. ebd. 78).
20 An anderer Stelle schreibt sie, wissenschaftliche Diskurse könnten »als geronnene Momente unablässiger, sozialer Interaktionen, die diese konstituieren« und als »mächtige Instrumente zur Durchsetzung von Bedeutung« betrachtet werden (vgl. 1995a: 51). 147
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Feministinnen müssten weitergehen, das heißt, sie müssten über die Rekonstruktion hinausgehen. Ein ähnlicher Gedanke oder eine ähnliche Kritik ist auch bei Butler zu finden. Auch sie weist daraufhin, dass es nicht ausreiche, immer wieder zu betonen, dass die Konstruktionen nachteilig für Frauen seien (vgl. GT 17f.). Und ähnlich wie Butler später in Körper von Gewicht verschiedene Versionen des »Konstruktivismus« kritisieren wird (vgl. KvG 29ff.), kritisiert Haraway hier den Sozialkonstruktivismus: »Politisch engagierte Menschen können nicht zulassen, dass der Sozialkonstruktivismus zu strahlenden Emanationen des Zynismus zerfällt. Auf jeden Fall könnten Sozialkonstruktivistinnen behaupten, die ideologischen Lehren der wissenschaftlichen Methode und der ganze philosophische Wortschwall über Epistemologie seien zusammengebraut worden, um unsere Aufmerksamkeit davon abzulenken, durch das Ausüben von Wissenschaft eine wirkungsvolle Kenntnis der Welt zu erlangen.« (1995b: 75)
Sie behauptet also, durch den Sozialkonstruktivismus würden Feministinnen davon abgelenkt, »eine wirkungsvolle Kenntnis der Welt zu erlangen«. Aber geht es in diesen Analysen nicht gerade auch um Wirkungsanalysen? Und sollten diese Analysen selbst ohne Wirkung sein? Dies wird weiter unten zu klären sein. Hier ist darauf hinzuweisen, dass Haraway in diesem Zusammenhang den Begriff des »radikalen Sozialkonstruktivismus« wählt: »Aus der Perspektive des radikalen Sozialkonstruktivismus haben wir also keinen Grund, uns von WissenschaftlerInnen durch Beschreibungen ihrer Aktivitäten und Errungenschaften einschüchtern zu lassen. Sie und ihre GönnerInnen haben ein Interesse daran, uns Sand in die Augen zu streuen.« (Ebd. 74)21 Auf den Unterschied zwischen Radikalem und Sozialem Konstruktivismus geht sie also nicht ein. In meiner oben vorgenommenen Unterscheidung wäre Haraways Begriff eine »Mischform« aus Radikalem Konstruktivismus und Sozialkonstruktivismus. Welche Version des Konstruktivismus meint sie hier? »Neuere sozialwissenschaftliche Studien über Wissenschaft und Technologie (haben) ein sehr starkes Argument für die soziale Konstruiertheit aller Arten von Erkenntnisansprüchen zur Verfügung gestellt, und dies besonders und mit großer Gewissheit für solche in den Naturwissenschaften. Für diese verlockenden Sichtweisen gibt es keine privilegierte Binnenperspektive, weil innerhalb
21 Die Übersetzerin merkt dazu an, dass es im Englischen sowohl »social constructivism« wie »constructionism« gebe, dass der Begriff »Konstruktionismus« in der deutschen Diskussion aber nicht üblich sei und auch hier nicht eingeführt werden solle (vgl. 1995: 207). 148
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des Wissens alle Grenzziehungen zwischen innen und außen als Machtstrategien und nicht als Annäherung an die Wahrheit theoretisiert werden.« (Ebd.)
Hier geht es ihr also um die »Entlarvung«, d.h. um das Infragestellen der Autorität der Wissenschaft und um die »Grenzziehung«, d.h. die Unterscheidung zwischen »innen« und »außen« als »Machtstrategie«. Wie oben aufgezeigt, wird die Grenzziehung im Radikalen Konstruktivismus nicht als »Machtstrategie« problematisiert, denn die Geschlossenheit des Systems, d.h. die Unterscheidung zwischen innen und außen ist eine zentrale Annahme in diesem Ansatz. Dass diese Grenze gezogen wird, wird hier nicht theoretisiert. Also meint sie eher einen sozialkonstruktivistischen Ansatz, denn in diesen wird das Ziehen, das »Konstruieren« von Grenzen thematisiert. Es ist allerdings auch möglich, dass sie sich hier auf Foucaults Machtkritik bezieht, wenn sie von »Machtstrategien« spricht. Was aber meint sie mit diesem Begriff?
Die Macht im Wissenschaftsfeld Wenn Haraway schreibt, dass sie in ihrer eigenen wissenschaftlichen Sozialisation erfahren habe, dass die Erkenntnis des konstruktiven Charakters der Wahrheit(en) sie schließlich gelähmt und »außer Gefecht« gesetzt habe, beschreibt sie Wissenschaft als ein »Machtfeld«, als »das Spiel«, auf das es ankomme. Da es keine objektive Wahrheit gebe, gehe es um die Durchsetzung von Wahrheitsbehauptungen und damit um die Durchsetzung der Erzählungen, die die WissenschaftlerInnen als Akteure in diesem Machtfeld erzählen. Wissenschaft sei »Rhetorik und die Kunst, die maßgeblichen sozialen AkteurInnen glauben zu machen, dass das fabrizierte Wissen ein Weg zu einer begehrten Form sehr objektiver Macht« sei. Artefakte und Fakten seien Bestandteile dieser machtvollen Kunst der Rhetorik: »In seinem Bestehen auf der rhetorischen Natur von Wahrheit, einschließlich derjenigen der Wissenschaften, verbündet sich das Strong Program der Wissenssoziologie mit den reizenden und garstigen Instrumenten von Semiologie und Dekonstruktion. Geschichte ist eine Erzählung, die sich die Fans westlicher Kultur gegenseitig erzählen, Wissenschaft ist ein anfechtbarer Text und ein Machtfeld, der Inhalt ist die Form. Basta.« (1995b: 75)
Deutlich verknüpft Haraway hier die sozialkonstruktivistische Perspektive mit der »dekonstruktivististischen«, denn einerseits betrachtet sie Wissenschaft als ein »Spiel« oder einen Kampfplatz, auf dem mithilfe
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von Erzählungen um Durchsetzung gerungen wird, andererseits als »Text und Machtfeld«, also als eine Struktur. Der Gedanke, dass in der Wissenschaft Erzählungen geboten werden, ist schon im Streit um die Natur der Primaten zu finden. Dort hatte Haraway aufgezeigt, dass an den Primaten jeweils das beobachtet/ gesehen wurde, was in der öffentlichen Auseinandersetzung über die »Natur« der Frauen, über Elternschaft und Gewalt gerade diskutiert wurde (1995c: 138). Die Primatenforschung sei sozusagen ein Spiegel der politischen Diskussion über die Reproduktion. Da die »Entdeckungen« zu den Geschlechterverhältnissen bei den Primaten ebenso zur Stabilisierung wie zur Veränderung der sozialen Verhältnisse beitragen könnten, sei es wichtig, dass Feministinnen sich engagierten. Als »Moral« ihres Beitrags formuliert sie, Feministinnen sollten darum kämpfen, »Geschichten zu erzählen und die historischen Bedingungen für das Entwerfen von Erzählmustern festzulegen« (ebd. 158). Es sei wichtig, »auf der Demystifizierung der in öffentlichen Diskursen auftauchenden wissenschaftlichen Bedeutungen« zu insistieren, denn es seien »Menschen, die innerhalb eines bestimmten historischen Rahmens die Bedeutungen herstellen. Das liegt in der Natur der Primaten« (ebd. 159). Deutlich ist zu erkennen, dass sie die Wissenschaft als einen Ort, an dem Bedeutungen »konstruiert« werden und um deren Durchsetzung gekämpft wird, betrachtet. Deshalb rät sie den Feministinnen, sich in die Auseinandersetzungen einzumischen, die alten Erzählmuster anzufechten und neue zu etablieren. In diesem Aufsatz schreibt sie einleitend: »Sprache lässt uns Dinge benennen, Bedeutungen erzwingen, Gegensätze erschaffen und damit menschliche Kultur hervorbringen.« (Ebd. 123) Sie betrachtet Sprache und Sprechen als »kreatives Mittel«. Bezogen auf meine oben aufgezeigten Überlegungen lässt sich folgern, dass sie hier im Sinne der »ersten linguistischen Wende« argumentiert: Dinge werden benannt. Ob es diese überhaupt gibt, wird dabei nicht infrage gestellt. Im Manifest dagegen argumentiert sie im Sinne der »zweiten linguistischen Wende«, denn nun behauptet sie, dass die Beschreibung der Welt insgesamt ein »Kodierungsproblem« sei (vgl. 1995a: 51). Es scheint also, dass Haraway inzwischen die Annahme »roher Tatsachen« ablehnt und davon ausgeht, dass »alles« konstruiert ist. Damit erklärt sich, dass ihre Cyborg-Figur sowohl zur Beschreibung der Realität als auch zu ihrer Veränderung dienen soll, denn der Unterschied zwischen Faktum und Fiktion wird nun obsolet. Nicht die Tatsache, ob es die Cyborg gibt, ist von Interesse, sondern nur die Frage, ob die Erzählung von der Cyborg durchgesetzt werden kann oder nicht. Insofern scheint das Manifest für Cyborgs der Versuch zu sein, ein neues Erzählmuster einzuführen und durchzusetzen. Aber plädiert Haraway wirklich für das Erfinden neuer 150
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Erzählmuster oder Geschichten? Dies lässt sich anhand ihres Konzepts des »Wiedererzählens«, das eine Ähnlichkeit zu Butlers Konzept des Wiederholens aufweist, klären. Haraway spricht einerseits vom »Wiedererzählen«, andererseits vom »Neu kodieren«, wie sich an folgender Aussage ablesen lässt: »Im Wiedererzählen der Ursprungserzählungen untergraben die CyborgAutorInnen die zentralen Mythen vom Ursprung der westlichen Kultur. Wir alle sind durch diese Ursprungserzählungen und deren Sehnsucht nach Erfüllung in der Apokalypse kolonisiert worden. […] Die Geschichten feministischer Cyborgs haben die Aufgabe, die Kommunikation und Intelligenz neu zu kodieren, um Kommando und Kontrolle zu untergraben.« (1995a: 64, Hervorh. U.M.)
Dabei spricht sie auch vom »Ergreifen der Werkzeuge«: »Das Schreiben der Cyborgs handelt vom Willen zum Überleben, nicht auf der Grundlage ursprünglicher Unschuld, sondern durch das Ergreifen eben jener Werkzeuge, die die Welt markieren, die sie als Andere markiert hat.« (Ebd.) Auch Butler wird später schreiben: »Es gibt nur ein Aufgreifen von Werkzeugen dort, wo sie liegen, wobei dieses Aufgreifen gerade durch das Werkzeug, das dort liegt, ermöglicht wird.« (GT 213f.) Hier tauchen fast identische Formulierungen auf. Ist dies ein Indiz dafür, dass Haraway wie Butler einen »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt? Haraway unterscheidet nicht zwischen wieder- und neu erzählten Geschichten, denn sie fügt hinzu: »Diese Werkzeuge sind häufig wieder- und neu erzählte Geschichten, Versionen, die die hierarchischen Dualismen naturalisierter Identitäten verkehren und verrücken.« (1995a: 64) Sie betont also sowohl den repetitiven als auch den kreativen Aspekt des Erzählens. Butler hingegen ist, wie oben aufgezeigt, skeptisch gegenüber dem kreativen Aspekt des Sprechens. Im »Streit um Differenz« argumentiert sie, die Jagd nach dem »Neuen« sei ein Anliegen der Hochmoderne, nicht der Postmoderne, denn diese ziehe die Möglichkeit eines »Neuen«, das nicht bereits irgendwie im »Alten« enthalten sei, grundsätzlich in Zweifel (vgl. SD 36). Es mag sein, dass Haraway nicht zwischen dem Wieder- und dem Neu-Erzählen unterscheidet, weil sie damit die Wiederholung alter Erzählungen auf neue Weise meint. Worin aber besteht dann genau das Neue? Es liegt offensichtlich in der »neuen« Art, das Subjekt zu denken, nämlich als gespaltenes Subjekt, das »in allen seinen Gestalten partial und niemals abgeschlossen, ganz, einfach da oder ursprünglich« ist, sondern »immer konstruiert und unvollständig zusammengeflickt, und deshalb fähig zur Verbindung mit anderen und zu einer gemeinsamen 151
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Sichtweise ohne den Anspruch, jemand anders zu sein« (vgl. 1995b: 86). Diese »Verbindung zu anderen« ist ihr dabei wichtig. Möglicherweise reagiert Haraway damit auf die Imperialismus-Kritik »nicht-westlicher« Feministinnen, denn an dieser Stelle nimmt sie Bezug auf Mohantys Kritik an der »essentialisierten Dritte-Welt-Frau«. Im Manifest schreibt sie zudem über die Notwendigkeit einer neuen feministischen Theoriebildung: »Weiße Frauen, auch die sozialistischen Feministinnen, entdeckten (d.h. sie sind handgreiflich und lautstark darauf aufmerksam gemacht worden), dass die Kategorie ›Frau‹ keineswegs unschuldig ist. […] Cyborgfeministinnen müssen geltend machen, dass ›wir‹ keine naturale Matrix der Einheit mehr wollen und dass keine Konstruktion ein Ganzes umfasst.« (1995a: 44)
Dabei thematisiert sie auch die Mitverantwortung und Mitschuld der (westlichen) Feministinnen:22 »Ich denke jedoch, dass wir durch die unreflektierte Partizipation an den Logiken, Sprachen und Praktiken des weißen Humanismus und durch die Suche nach einem einzigen Grund von Herrschaft, um uns unserer revolutionären Stimme zu versichern, zumindest mitschuldig [an der Produktion essentialistischer Theorien] sind.« (Ebd. 48)
Um nicht weiterhin »mitschuldig« zu sein, gelte es zu erkennen, dass Wissenschaft ein »mächtiges Instrument zur Durchsetzung von Bedeutungen« und dieses Instrument auch von Feministinnen zu nutzen sei, allerdings in neuer Weise. An dieser Stelle lässt sich fragen: Geht Foucault davon aus, dass Wissenschaftler die Wirklichkeit durch eine veränderte Beschreibung verändern können/sollen? Ist der Gedanke, dass Wissenschaftler Verantwortung für ihre Beschreibungen oder Theorien zu übernehmen hätten, auch bei ihm zu finden? Diese Frage ist insofern wichtig, als dadurch die oben aufgezeigte Frage, ob Haraway Foucaults Ansatz erweitert oder umdeutet, zu klären ist. Im ersten Kapitel habe ich aufgezeigt, dass für Foucault die Veränderung, die Diskontinuität in der Art und Weise, wie über den Sex ge-
22 In der Klammer macht Haraway – anders als Butler – deutlich, dass diese Kritik »lautstark« und »handgreiflich« vorgebracht wurde und dass die »westlichen« Feministinnen sozusagen gezwungen wurden, die Kritik ernst zu nehmen. Bedeutet das nicht auch, dass sie ohne diese laute Kritik sich vielleicht gar nicht um einen Neuansatz bemüht hätten? 152
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sprochen wurde, wichtig ist. Er untersucht die Art und Weise, wie die Menschen dazu gebracht wurden, auf sich selbst zu achten. Dabei zitiert er auch bestimmte Autoren. Doch er beschreibt die Veränderung nicht in der Weise, dass diese (oder ihre Werke) verändernd »gewirkt« hätten. Vielmehr argumentiert er umgekehrt: Er führt die Werke als Indiz dafür anführt, dass sich die Art und Weise, sich um sich selbst zu sorgen, verändert hat. Pointierter formuliert: Er zeigt, dass sich etwas verändert hat, aber er erklärt dies nicht durch bestimmte Werke, sondern belegt dies anhand bestimmter Werke und Autoren. Er denkt die Veränderung also nicht personal und nicht als Folge der Kämpfe unter den Wissenschaftlern oder Autoren um die Deutungsmacht, denn er lehnt es gerade ab, von der »Stifterfunktion« des Subjekts auszugehen. Haraway aber hält an dieser Funktion des Subjekts fest: Die Welt spreche weder selbst, noch verschwinde sie zugunsten eines »Meister-Dekodierers« (vgl. ebd. 94). Außerdem weist sie daraufhin, dass wir uns zwar nicht selbst präsent seien (ebd. 85), dass daraus aber nicht auf den »Tod des Subjekts« zu schließen sei: »Die Jungs in den Humanwissenschaften haben diesen Zweifel an der Selbstpräsenz den ›Tod des Subjekts‹ genannt, dieser singulären Kommandozentrale des Willens und des Bewusstseins. Dieses Urteil wirkt auf mich bizarr. Ich ziehe es vor, diesen generativen Zweifel als Freigabe von nichtisomorphen Subjekten, AgentInnen und narrativen Bereichen zu bezeichnen, die aus der Perspektive des zyklopischen, seiner selbst überdrüssigen Auges des Meistersubjekts nicht vorstellbar sind.« (Ebd. 86)
Hier wird deutlich, dass sie es für problematisch hält, vom »Tod des Subjekts« auszugehen. Das heißt: Sie will nicht auf die Annahme der Handlungs- und Schuldfähigkeit des Subjekts verzichten und lehnt es ab, das Subjekt nur als »Effekt« zu betrachten. In dieser Hinsicht distanziert Haraway sich also deutlich von Foucault.23 Das bedeutet zugleich aber auch, dass Butler sich wiederum in diesem Punkt von Haraway distanziert, denn wie ich oben aufgezeigt habe, betrachtet sie wie Foucault das Subjekt als »Effekt«. Das Subjekt sei immer schon »unterworfen (subjected), bevor es eine Position offen artikuliert oder anderen entgegensetzt«, die Macht sei nicht nur eine Bezie-
23 Haraway bezieht sich hier nicht explizit auf Foucault, sondern schreibt nur ironisch von den »Jungs in den Humanwissenschaften«. Dass sie damit vor allem Foucault meint, ist daran zu erkennen, dass sie vom »Tod des Subjekts« spricht. Dieser Ausdruck wurde von ihm geprägt (vgl. Schmid 2000: 113ff.). Im Übrigen bezieht sich auch Butler im »Streit um Differenz« auf Foucaults Gedanken des »Todes« des Subjekts (vgl. SD 47). 153
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hung zwischen Subjekten, sondern »das Prinzip und die Möglichkeit der Formation« (vgl. SD 58). Insofern lässt sich folgern, dass Haraway einen sozialkonstruktivistischen Ansatz vertritt, weil sie auf der Handlungsfähigkeit des Subjekts insistiert. Anders formuliert: Während Butler einen »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt, vertritt Haraway keinen »dekonstruktivistischen« Ansatz. Ihre Schriften sind zwar durchzogen vom poststrukturalistischen Vokabular, doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sie dieses Vokabular wählt, um in den konstruktivistischen Ansatz eine machtkritische Perspektive einzuarbeiten. Da sie aber, wie oben aufgezeigt, die »Machtstrategien« auf Interaktionen bezieht, hat ihre Machtkritik wenig mit Foucaults Machtbegriff zu tun. Diese ist daher eher als »Herrschaftskritik« zu bezeichnen. Hier ist es sinnvoll, zwischen »Macht« und »Herrschaft« zu unterscheiden. Foucault definiert »Macht« als eine unpersönliche Struktur. Unter »Macht« sei »die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren« zu verstehen (vgl. WW 113). Macht sei »der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (WW 114). Und die Machtausübung sei als »ein Ensemble von Handlungen in Hinblick auf mögliche Handlungen« zu betrachten. »[Die Machtausübung] ist von sich aus weder eine Gewalt, die sich bisweilen zu verstecken weiß, noch ein Konsens, der sich aus sich selbst erneuert. Sie ist ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat.« (1994: 255)
»Herrschaft« wiederum bezieht er eher auf die Kämpfe zwischen den »Subjekten in ihren gegenseitigen Beziehungen«.24 »Das Hauptziel dieser Kämpfe ist nicht so sehr der Angriff auf diese oder jene Machtinstitution, Gruppe, Klasse oder Elite, sondern vielmehr auf eine Technik, auf eine Form von Macht. Diese Form von Macht wird im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität auferlegt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muss und das andere an ihm anerkennen
24 »Unter Herrschaft verstehe ich nicht die massive Tatsache einer globalen Herrschaft eines einzigen über alle anderen, oder einer Gruppe über eine andere, sondern die vielfältigen Formen der Herrschaft, die im Innern einer Gesellschaft ausgeübt werden können. Ich meine also nicht den König in seiner zentralen Position, sondern die Subjekte in gegenseitigen Beziehungen.« (Foucault 1978: 79) 154
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müssen. Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht.« (Ebd. 246)
Für Foucault legt die Macht die Bedingungen für die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts fest. Sie wirke »auf ein oder mehrere handelnde Subjekte ein, und dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen« (ebd. 255). Später wird sich zeigen, dass er, um diese Macht zu analysieren, vorschlägt, die »Formationsregeln« herauszufinden: »In der Analyse, die hier vorgeschlagen wird, haben die Formationsregeln ihren Platz nicht in der ›Mentalität‹ oder dem Bewusstsein der Individuen, sondern im Diskurs selbst; sie auferlegen sich folglich gemäß einer Art uniformer Anonymität allen Individuen, die in diesem diskursiven Feld sprechen.« (AW 92)
Hier ist festzuhalten, dass Foucaults Analyse sich nicht für die Interaktion zwischen den Individuen, ihre Kämpfe um die Durchsetzung von Erzählungen interessiert, sondern für das »Möglichkeitsfeld«, in dem die Subjekte handeln. Auch Butler wird sich kaum für die Interaktion zwischen den Subjekten interessieren, sondern fast ausschließlich für die Möglichkeiten des Handelns als Subjekt. Und während Butler mit Foucault das Handeln der Subjekte durch das Einwirken der Macht erklärt, erklärt Haraway es letztlich durch seine Kompetenz zum Konstruieren. Wenn also für Haraway Wissenschaft ein »Machtfeld« ist, meint sie damit im Grunde ein für die Konstruktion der Wirklichkeit zentrales Interaktionsfeld. Ihr Feldbegriff bezieht sich also nicht auf das Feld des Diskurses25, denn wenn sie davon ausgeht, dass die in diesem Feld operierenden Subjekte oder Aktanten in vielfältige Machtbeziehungen verstrickt sind, versteht sie »Macht« nicht als eine Kraft, die auf das Handeln der Subjekte »einwirkt«, sondern eher als »Deutungsmacht«, um die die Akteure im Interaktionsfeld Wissenschaft streiten. Damit zeigt sich deutlich, dass Haraway und Butler zwar ein ähnliches Anliegen haben, aber unterschiedliche Ansätze vertreten. Es lassen sich fast identische Formulierungen in ihren Schriften finden, aber 25 Allerdings verwendet Haraway den Diskursbegriff absichtsvoll in einer anderen Bedeutung: »Die Metapher des Diskurses ist mir in gewisser Hinsicht unbehaglich, weil sie die Sprache als Zentrum von allem anderen privilegiert. Ich versuche, die Werkzeugkiste offener zu halten. Ich will herausfinden, wer und was auf dem Schauplatz des Konstitutionsprozesses aktiv ist. […] Ich benutze den Begriff der diskursiven Konstruktion und verschiebe seine Bedeutungen auf nicht-linguistische Objekte und Praktiken.« (1995: 108) 155
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sie gehen von einer unterschiedlichen Konstitution des Subjekts aus. Hier ist es wichtig, zwischen »Anliegen« und »Ansatz« zu unterscheiden. Während »Anliegen« auf die Zielsetzung, das politische Anliegen, verweist, ist »Ansatz« im Sinne eines Modells, das die Grundannahme über den Untersuchungsgegenstand (oder die »Verhältnisse«) enthält, zu verstehen. Oben habe ich angemerkt, dass naturwissenschaftliche Konstruktivisten viel deutlicher als sozialwissenschaftliche auf den Modellcharakter ihrer Grundannahmen hinweisen. »Ansatz« bezieht sich also auf das Modell, das Aussagen darüber enthält, welche Entitäten (Subjekte, Objekte, »Tatsachen« etc.) wie betrachtet werden.
Exkurs: Zur Kombination der Ansätze An dieser Stelle habe ich eine Art Bewertung der Ansätze vorgenommen, denn wie zu Beginn dieses Kapitels aufgezeigt, habe ich die verschiedenen konstruktivistischen Ansätze genauer betrachtet, um herausfinden, mit welchem dieser Ansätze ich arbeiten müsste, um der »Essentialismus«-Kritik Butlers Rechnung tragen zu können. Inzwischen zeichnete sich ab, dass ich dazu Butlers »dekonstruktivistischen« Ansatz wählen müsste. Hier möchte ich erwähnen, dass diese Entscheidung nicht gleichbedeutend ist mit dem Urteil, dieser sei der beste. Wenn die Annahme einer objektiven Wirklichkeit infrage gestellt wird, ist die Frage, ob es einen guten oder schlechten Ansatz gibt, nur noch in Hinblick auf das, was der jeweilige Ansatz leistet, zu beantworten. Deshalb sei betont: Auch der »dekonstruktivistische« Ansatz kann keine Lösung für alle Probleme bieten, auch dieser hat Stärken und Schwächen. So macht es Sinn, die Stärken und Schwächen einerseits des konstruktivistischen, andererseits des »dekonstruktivistischen« Ansatzes herauszustreichen. Wie Butler aufgezeigt hat, besteht die Schwäche der sozialkonstruktivistischen Ansätze darin, dass die »vor« oder außerhalb der sozialen Interaktion liegenden Ausschlüsse nicht thematisiert werden können. Das lässt sich anders formulieren: Vielleicht liegt die Stärke des »dekonstruktivistischen« Ansatzes darin, diese Ausschlüsse zu zeigen, während die Stärke sozialkonstruktivistischer Ansätze darin besteht zu zeigen, wie und wo um Definitionsmacht gestritten wird und/oder Ausgrenzung erfolgt. Das wiederum deutet vielleicht darauf hin, dass die Schwäche des »dekonstruktivistischen« Ansatzes darin besteht, dass die konkreten sozialen Ausgrenzungsprozesse nicht in den Blick genommen werden können. Hier ist zwar noch genauer zu klären, worin der Unterschied zwischen »Ausgrenzung« und »Ausschließung« besteht, aber inzwischen deutet sich an, dass »Ausgrenzung« auf die Interaktion, »Aus-
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schließung« hingegen auf den Diskurs bezogen ist und ohne ausgrenzende Subjekte zu denken ist. Es könnte sein, dass Haraway deshalb versucht hat, eine Synthese aus beiden Ansätzen zustande zu bringen und sie in den sozialkonstruktivistischen Ansatz eine machtkritische Perspektive eingearbeitet hat. Es wäre schon wünschenswert, die Schwäche des einen durch die Stärke des anderen zu kompensieren. Aber wie sich gezeigt hat, gibt Haraway keine Synthese oder Mischform aus beiden Ansätzen, denn an entscheidender Stelle, nämlich dort, wo es um die Handlungsfähigkeit des Subjekts geht, distanziert sie sich von Foucault und hält an der »Stifterfunktion« des Subjekts fest. Wie ich oben bereits anhand der feministischen agency-Diskussion aufgezeigt habe, halte ich es nicht für möglich, das Subjekt gleichzeitig als »Konstrukteur« und als »Effekt« zu betrachten. So ist eine Mischform aus beiden Ansätzen wegen der unterschiedlichen Konstitution des Subjekts kaum denkbar. Aber wäre es nicht doch möglich, beide Ansätze so zu kombinieren, dass eine Aussage nicht gleichzeitig, aber nacheinander aus konstruktivistischer und aus »dekonstruktivistischer« Perspektive betrachtet wird? Vielleicht gibt es ja einen Zusammenhang zwischen dem Streit um die Definitionsmacht in Interaktionen und den Ausschließungen im Diskurs? Immerhin betrachtet Foucault die »unmittelbaren Kämpfe« als Kämpfe gegen Machtwirkungen. Diese Überlegungen sind während meiner empirischen Untersuchung entstanden, denn in meinem Datenmaterial gibt es viele Indizien dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen der Interaktion zwischen Interviewerin und Interviewten und den Irrtumsdarstellungen gibt (vgl. dazu MB, Kap. 2.2.1). Das Ergebnis sei schon hier angedeutet: Ich habe später herausgefunden, dass eine diskurstheoretische Analyse von Interviews, in der nach »Formationsregeln« gesucht wird, eine interaktionstheoretische Analyse zur Voraussetzung hat. Dies werde ich weiter unten ausführlich darstellen. Hier ist noch darauf hinzuweisen, dass die Auseinandersetzung mit Haraways Cyborg-Figur hilfreich war, um die Möglichkeit, das Hybride bzw. Mischformen zu theoretisieren, zu erkunden. Im Folgenden wird darzustellen sein, welche Aussagen zum Hybriden in sozialkonstruktivistischen Ansätzen einerseits, im »dekonstruktivistischen« Ansatz andererseits zu machen sind.
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D a s H yb r i d e i n ( » d e « - ) k o n s t r u k t i v i s t i s c h e n An s ä t z e n Wie aufgezeigt, dient Haraways Cyborg-Figur, »eine Hybride, Mosaike, Chimäre« (1995a: 67), sowohl der Beschreibung als auch der Veränderung der Verhältnisse. Diese taucht aber sozusagen erst spät in ihren Schriften auf. In ihrer Geschichte der Primatenforschung z.B. beschreibt Haraway weder, dass es Hybridformen unter den Primaten gebe, noch dass WissenschaftlerInnen hybride Positionen zwischen den unterschiedlichen Primatologen-»Linien« eingenommen hätten. Das Hybride ist also nicht in ihren analytischen Arbeiten zu finden, und insofern ist die Cyborg-Figur keine notwendige Konsequenz aus ihrer Analyse, sondern eher eine Figur, die »von außen« kommt und der neuartigen Beschreibung dient. Die Cyborg ist in dreifacher Hinsicht eine Mischform: zum einen eine Mischung aus Mensch und Maschine26, zum anderen ein »Geschöpf in einer Post-Gender-Welt« (ebd. 35), also eine Mischform aus »weiblich« und »männlich«, schließlich eine Mischform aus »weiß« und »schwarz«, denn Haraway schreibt, es gebe keine »essentiellen Kriterien« für eine solche Zuordnung (ebd. 41). Wenn sie schreibt, die Cyborg könne einen Ausweg aus dem »Labyrinth der Dualismen« weisen (ebd. 71), ist zu erkennen, dass sie diese Dualismen mithilfe der CyborgFigur außer Kraft setzen will. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Haraway einerseits Dualismen scharf kritisiert, andererseits selbst mit diesen arbeitet, denn in ihren Schriften sind zahlreiche »dichotome Tabellen« zu finden.27 In Situiertes Wissen z.B. gibt sie folgende Übersicht (1995b: 88):
26 »Im Verhältnis von Mensch und Maschine ist nicht klar, wer oder was herstellt und wer oder was hergestellt ist.« (1995a: 67) Dazu eine Anmerkung: Haraways Cyborg-Feminismus wurde vor allem deshalb diskutiert, weil sie das Subjekt als Mischung aus Mensch und Maschine thematisiert. Aber ist dies wirklich ein wichtiger Aspekt? Ist es für ihren Ansatz wichtig, ob sie den Maschinen eine Eigenaktivität zuschreibt oder nicht? Wenn sie die Konstruktionen der WissenschaftlerInnen und ihre Durchsetzung auf dem »Markt« für entscheidend hält, lässt sich folgern, dass es ihr nicht so sehr um die Interaktion zwischen Mensch und Maschine (wie bei Latour) geht, sondern vor allem um die Interaktion zwischen WissenschaftlerInnen. 27 Auch ich halte derartige Tabellen für hilfreich, denn Unterscheidungen sind notwendig, ohne sie ist, wie die Radikalen Konstruktivisten gelehrt haben, Wahrnehmung gar nicht möglich. 158
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Ethnophilosophien28 Vielsprachigkeit Dekonstruktion Oppositionelle Positionierung Lokales Wissen Verwobene Darstellungen«
»Universelle Rationalität gemeinsame Sprache Neues Organon Einheitliche Feldtheorie Weltsystem Meistertheorie
Kurz darauf ist folgende Tabelle, durch die sie ebenfalls die Umstellung der Perspektive in der Analyse verdeutlichen will, zu finden (ebd. 90): »Wissen : Gemeinschaft Hermeneutik : Semiologie
:: ::
Wissen : Macht Kritische Interpretation : Codes«
Hierzu ein kurzer Kommentar: Die Begriffe »Dekonstruktion« in der rechten Spalte der ersten und »Wissen : Macht« in der der zweiten Tabelle verweisen auf machtkritische Analysen im Sinne Foucaults. Wenn Haraway aber anzeigt, dass die »Meistertheorie« (in der linken Spalte der ersten Tabelle) durch »verwobene Darstellungen« ersetzt würde, ist zu betonen, dass letztere in Foucaults Ansatz nicht vorkommen. Der durchgängige Aspekt der Begriffe in der rechten Spalte ist zwar die Distanzierung von Totalitätsvorstellungen, ein Gedanke, der für Foucault wichtig ist, aber die Betonung der Pluralisierung, Partialisierung und Fragmentierung ist bei ihm nicht zu finden. Er spricht nicht von Fragmentierungen, wohl aber von Vervielfältigungen. Diese sind für ihn aber kein Merkmal einer bestimmten Epoche, sondern zu jeder Zeit zu finden. Außerdem knüpft er an diesen Vervielfältigungen an, um die Veränderungen im Diskurs zu erklären, wie ich weiter unten aufzeigen werde.
28 Angemerkt sei, dass in den 70ern in den USA – nicht in Europa, den alten Kolonialmächten – zahlreiche Ansätze mit dem Präfix »Ethno-« entwickelt wurden, »Ethnotheorie«, »Ethnographie des Sprechens«, »Ethnomethodologie« etc. Diese Entwicklung war aufs Engste mit der Umstellung auf eine Fokussierung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit verknüpft: Wenn davon ausgegangen wird, dass die Wirklichkeit sozial konstruiert wird, liegt die Folgerung, dass es vielfältige Wirklichkeiten gibt, dass also Wirklichkeit in den Plural zu setzen ist, nahe. Inzwischen ist jedoch ein backdrop dieser Ansätze festzustellen. Nur die Ethnomethodologie, in der zunächst nur die universalpragmatischen, weniger die unterschiedlichen Methoden der Herstellung analysiert werden sollten, scheint weiterhin von Bedeutung zu sein. Ausserdem ist »Ethno-« in der Methode des »Ethnographischen Schreibens«, die Hirschauer neuerdings als eigenständige Methode der Beschreibung etablieren will, enthalten (vgl. Hirschauer 2001). 159
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An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen, dass Haraways Neuansatz nicht wirklich aus den bestehenden Verhältnissen herausführen kann. Sie will zwar mithilfe der Cyborg-Figur eine neue Erzählung etablieren, aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass ihr Gegenoder Neuentwurf auf den »alten« bzw. die »alte« Sprache bezogen bleibt. Dies lässt sich z.B. daran ablesen, dass Haraway die CyborgFigur durchgängig mit christlichen Metaphern beschreibt. Hierfür seien drei Beispiele angeführt: »Im Unterschied zu Frankensteins Monster erhofft sich die Cyborg von ihrem Vater keine Rettung durch die Wiederherstellung eines paradiesischen Zustands. […] Die Cyborg würde den Garten Eden nicht erkennen, sie ist nicht aus Lehm geformt und kann nicht davon träumen, wieder zu Staub zu werden.« (1995a: 36) »Wir [Frauen] sind uns auf qualvolle Weise bewusst, was es heißt, einen historisch konstruierten Körper zu haben. Aber mit dem Verlust der Unschuld unseres Ursprungs gibt es auch keine Vertreibung mehr aus dem Paradies. Denn unsere Politik büßt mit der Vergebung der Schuld auch die Naivität der Unschuld ein.« (Ebd. 43) »Ein Cyborg-Körper ist nicht unschuldig, Cyborgs sind in keinem Eden geboren, sie suchen sich keine eindeutige Identität und erzeugen somit keine antagonistischen Dualismen ohne Ende (oder bis ans Ende aller Tage); Ironie ist für sie selbstverständlich. Eins ist zu wenig und Zwei sind nur eine Möglichkeit. Intensive Lust auf Geschicklichkeit, auf automatenhafte, technologisch vermittelte Geschöpflichkeit hört auf, eine Sünde zu sein und verwandelt sich in einen Aspekt der Verkörperung.« (Ebd. 70)
In all diesen Aussagen ist die (An-)Klage, dass die christliche Religion die Menschen, insbesondere Frauen, »verletzt« und deformiert habe, herauszulesen. Versucht Haraway dann nicht vor allem, mithilfe der Cyborg-Figur aus den christlichen Dualismen auszusteigen?29 Sie plädiert zwar für ein Aussteigen aus diesen Dualismen, aber sie bleibt der christlichen Sprache und ihren Bildern verhaftet: »Die Metaphorik der Cyborgs kann uns einen Weg aus dem Labyrinth der Dualismen weisen, in dem wir uns unsere Körper und Werkzeuge erklärt haben. Dies ist kein Traum einer gemeinsamen Sprache, sondern einer mächtigen, ungläubigen Vielzüngigkeit. Es ist eine mögliche Imagination einer Feminis29 Die Cyborg-Figur ist zwar, wie in Hackings Ausführungen deutlich geworden ist, keine »Erfindung« Haraways, aber sie lädt sie mit christlichen Bildern auf. 160
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tin, die in Zungen redet und dabei scharfzüngig genug ist, den Schaltkreisen der Super-Retter der Neuen Rechten Angst einzuflößen.« (Ebd. 72)
Bei einer derartigen Charakterisierung der Cyborg kann sie nur schwer damit rechnen, dass »nicht-westliche« Feministinnen sich angesprochen fühlen. Auch wenn sie versucht, sich von den christlichen Bildern dadurch zu distanzieren, dass sie eben diese benutzt und lächerlich macht, müssen die Bilder für diejenigen, für die z.B. das Pfingstgeschehen keine Bedeutung hat, nicht »Vielzüngigkeit«, sondern Einzüngigkeit bedeuten. So wundert es nicht, dass die Cyborg-Figur nicht für die Thematisierung der Hybridität z.B. in den Postcolonial Studies aufgenommen wurde.30
Das Hybride als »Effekt der Kolonialmacht« Fast gleichzeitig mit Haraways Manifest veröffentlichte Homi Bhaba (1985) das Hybridkonzept. Es gab also in den Gender Studies und in den Postcolonial Studies fast gleichzeitig das Interesse, das Hybride in die Theoriebildung aufzunehmen. Doch während Haraways Cyborg-Figur der »besseren« Beschreibung oder Konstruktion der Realität dienen soll, ist für Bhaba das Hybride sozusagen bereits in der Welt. Es entsteht für ihn durch die Kolonialmacht, also durch diskriminierende und deformierende Machtverhältnisse (vgl. 1985: 35). Das Hybride ist also nicht wie bei Haraway ein Konstrukt im Dienste der Wissenschaft, sondern verweist auf Unterdrückungsverhältnisse. Er schlägt vor, die Macht, die in der »Produktion der Hybridisierung« (production of hybridization) wirke, zu analysieren (ebd. 35). Diese Aussage ist insofern wichtig, als sich daran die Frage anschließen lässt, ob Bhaba einen konstruktivistischen oder einen »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt. Und dies wiederum ist wichtig, um zu beurteilen, mit welchem Subjektbegriff sein Hybridkonzept verbunden ist. Dazu ist zunächst auf seine Kritik an »Western post-structuralists« hinzuweisen. Er schreibt, es sei notwendig, eine »theory of ›hybridization‹ of discourse and power that is ignored by Western post-structuralists who engage in the battle for ›power‹ as the purists of difference« zu entwickeln (vgl. ebd. 34). Deutlich distanziert er sich von »westlichen Poststrukturalisten«. Auch wenn er vorschlägt, die »Wirkung« der Kolonialmacht zu analysieren, scheint dies eher auf einen sozialkonstrukti30 In der Folge wird in der feministischen Diskussion zwar häufig von »brüchigen Identitäten« die Rede sein (vgl. Min-ha 1996), die neue Erzählung der Cyborg hat aber nur bei den »Cyborg-Feministinnen« Anklang gefunden. 161
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vistischen als einen »dekonstruktivistischen« Ansatz hinzuweisen, denn wie oben aufgezeigt, ist die Wirkungsanalyse nur für erstere wichtig. Gleichzeitig plädiert er aber für eine Analyse der Macht des Diskurses, durch die das Hybride als »Effekt« hervorgebracht werde, und dies deutet auf einen »dekonstruktivistischen« Ansatz hin. Aber was genau meint er mit effect? Bezeichnet er damit die Wirkung von Handlungen oder Konstruktionen oder die Wirkung der Macht im Sinne Foucaults, die produktiv und formativ ist? Es fällt schwer, dies eindeutig zu entscheiden, zumal er nicht deutlich zwischen dem Hybriden als Produkt (oder »Effekt«) und dem Prozess der Hybridisierung unterscheidet. Dies kann Absicht sein, es könnte sein, dass er absichtsvoll nicht zwischen fact und fiction unterscheidet. Das wiederum würde bedeuten, dass er wie Haraway einen konstruktivistischen Ansatz vertritt. Dagegen spricht jedoch, dass für Bhaba die koloniale Macht so offensichtlich ist, dass er das Hybride als Realität – und nicht als Konstruktion – beschreibt. Aber bedeutet dies nicht, dass er weder einen konstruktivistischen noch einen »dekonstruktivistischen«, sondern einen realistischen Ansatz vertritt? Wenn man Bhabas Kritik an »westlichen Poststrukturalisten« betrachtet, fällt auf, dass er diese kritisiert, weil er es nicht für möglich hält, das Hybride in diesem Ansatz zu theoretisieren. Seine Kritik ist insofern berechtigt, als sowohl in Foucaults als auch Butlers Schriften das Hybride kaum vorkommt. Aber bedeutet dies, dass es in diesem Ansatz grundsätzlich nicht theoretisiert werden kann? Diese Frage ist in Hinblick auf meine Forschungsfrage wichtig. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass ich es prinzipiell für möglich halte, dass es dazu aber notwendig ist, den »dekonstruktivistischen« Ansatz zu erweitern. Wie diese Erweiterung vorzunehmen ist, werde ich später darlegen. Hier ist noch zu erwähnen, dass ich von Bhaba die Anregung, das Hybride im Zusammenhang mit dem Machtaspekt zu betrachten, übernommen und darauf geachtet habe, das Entstehen von Hybridformen nicht durch die freie Wahl der Subjekte, sondern durch »die Macht« zu erklären, also das Hybride im Rahmen der Handlungsmöglichkeit, nicht der Handlungsfähigkeit des Subjekts zu betrachten. Noch ein weiterer Aspekt sei erwähnt: Sowohl Haraway und Butler als auch Bhaba sehen in der »Subversion« eine Möglichkeit zur Veränderung. Bhaba z.B. schreibt, das Hybride sei auch das Feld für das Eingreifen: »It reveals the ambivalence at the source of traditional discourses on authority and enables a form of subversion, founded on that uncertainty, that turns the discursive conditions of dominance into the grounds of intervention.« (Ebd. 35) Er spricht also ähnlich wie Haraway (und später Butler) von der Notwendigkeit des Eingreifens und der Subversion. Doch wie geschieht dies? Es fällt auf, dass sie selbst unter162
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schiedliche Strategien einsetzen. Haraway z.B. wählt im Manifest wie auch in Situiertes Wissen eine ironische Darstellungsweise. Für sie ist die Ironie ein Mittel, das Alte zu untergraben, es unglaubwürdig zu machen. Die Ironie steht also im Dienste der Dekonstruktion und der Subversion. Butler wiederum schlägt in Gender Trouble die Parodie vor. Diese sei »eine Produktion, die effektiv – d.h. in ihrem Effekt – als Imitation« auftrete (vgl. GT 203), durch sie werde die Bedeutung des Originals verschoben und der Mythos der Ursprünglichkeit selbst imitiert (vgl. ebd.). Sie selbst schreibt aber weder ironisch noch parodistisch, sondern schlägt dies (nur?) für das Handeln im Alltag vor. Bei Bhaba dagegen ist kein Hinweis darauf zu finden, dass eine Subversion durch ironische oder parodistische Mittel zu erreichen sei. Gleichwohl deutet er an, dass durch die subversive Wiederholung das Original erschüttert und ein Sprechen des Widerstands möglich werde (vgl. ebd. 34).31
Exkurs: Das Subjekt im »Orientalismus-Diskurs« Da ich die Frage, ob Bhaha einen konstruktivistischen oder »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt, unbeantwortet gelassen habe, möchte ich dieser in einem Exkurs in Bezug auf Edward Saids Orientalismus nachgehen, denn seine Analyse war und ist für die postkolonialen Studien (in Verbindung mit Bhabas Hybridkonzept) wegweisend. Da in diesen inzwischen eine Präferenz für die »poststrukturalistische Methodologie« zu beobachten ist (vgl. Slemon 2001), lässt sich vermuten, dass in den Postcolonial ähnlich wie in den Gender Studies häufig eine (m.E. problematische) Mischform aus einem sozialkonstruktivistischen und »dekonstruktivistischen« Ansatz zu finden ist. Nun schreibt Said selbst, dass er in Anlehnung an Foucaults methodologische Ausführungen in Archäologie des Wissens den Orientalismus als Diskurs analysiert habe. Seine Arbeit wird in diesem Sinne als Diskursanalyse gelesen. Nachdem sich aber gezeigt hat, dass Haraway keinen »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt, weil sie nicht wie Foucault vom »Tod des Subjekts« ausgeht, sondern an der »Stifterfunktion« des Subjekts (und seinen konstruktiven Fähigkeiten) festhält, lässt sich fragen, ob auch Said dem Subjekt konstruktive und kreative Fähigkeiten zuschreibt.
31 Dies wird Butler in Hate speech ähnlich formulieren: Indem das Wort, das verwundet, wiederholt und in einem veränderten Kontext durch die Verwundeten selbst eingesetzt werde, könne eine gegenläufige Bewegung eingeleitet werden (vgl. Hs 229f.). 163
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Um dies zu klären, ist zunächst festzuhalten, dass Saids Analysematerial neben wissenschaftlichen auch literarische und politische Texte umfasst.32 Diese Texte bilden die Daten für seine Analyse des Orientalismus-Diskurses. Aber analysiert er diese in der von Foucault beschriebenen Weise? Wie oben aufgezeigt, zitiert Foucault Autoren aus den verschiedenen Epochen, um die Veränderung des Diskurses zu belegen. Also lässt sich nun fragen, ob Said anhand der Texte verschiedener Autoren die Veränderungen des Diskurses aufzeigt oder ob er aufzeigt, dass von diesen neue Diskurse gestiftet wurden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass er die Werke der Orientalisten nicht einheitlich erklärt, wie sich an zwei Beispielen aufzeigen lässt. Einerseits betrachtet er Sacey, wenn er dessen besondere Leistung für die Etablierung der Orientalistik und den »Orientalismus« hervorhebt (vgl. 2003: 123ff.)33, als »Urheber« oder »Stifter« des Diskurses, andererseits beschreibt er Renan als »a figure who must be grasped, in short, as a type of cultural and intellectual praxis, as a style of making Orientalist statements within what Michel Foucault would call the archive of his time« (ebd. 130). Er erklärt das Schreiben dieses Orientalisten also durch die Zeit, den Zeitgeist oder den Diskurs. Allerdings gibt Said selbst den Hinweis, dass Foucault nicht die Originalität oder Urheberschaft der einzelnen Autoren betrachtet habe: »Such texts can create not only knowledge, but also the very reality they appear to describe. In time such knowledge and reality produce a tradition, or, what Michel Foucault calls a discourse, whose material presence or weight, not the originality of a given author, is really responsible for the texts produced out of it.« (Ebd. 94)
In der Einleitung weist Said außerdem daraufhin, dass Autoren jeweils in soziale Kontexte eingebunden und damit der Macht unterworfen seien: Europäer oder Amerikaner, die heute über den Orient forschten, seien immer schon der »Macht des Orientalismus« unterworfen (vgl. ebd. 23). Hier erscheint das Subjekt also als ein der Macht unterworfenes (subjected). Daraus folgert er aber nicht, dass Subjekte nur innerhalb des Diskurses sprechen können, sondern er folgert umgekehrt, dass die Au-
32 Auch Haraway bezieht sich (ca. zehn Jahre später) auf literarische (Science-Fiction-)Texte, obwohl sie die wissenschaftlichen für die zentralen hält. Und auch Butler wird in Körper von Gewicht ausführlich auf »erzählende Dichtung« (KvG 189ff. und 231ff.) zurückgreifen. 33 Sacey sei »the originator, whose work represents the field’s emergence and its status as a nineteenth-century discipline with roots in the revolutionary Romanticism« (2003: 130). 164
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toren damit eine besondere Verantwortung für das, was sie schreiben, hätten: »It meant and means being aware, however dimly, that one belongs to a power with interests in the Orient, and more important, that one belongs to a part of the earth with a definite history of involvement in the Orient almost since the time of Homer.« (Ebd. 11) Said verschiebt also Foucaults Gedanken des Unterworfen-Seins des Subjekts, denn er spricht von der Zugehörigkeit und Teilhabe an der Macht (»that one belongs to a power«). Die Autoren haben für ihn also teil an der Macht des Westens, der alten Kolonialmächte, sie haben eine machtvolle Position und damit Deutungsmacht. Insofern deutet sich an, dass Said wie Haraway dem Autor-Subjekt mehr Verantwortung zuschreibt, als es nach Foucaults Ansatz möglich ist. In der Einleitung ist weiterhin eine Aussage zu finden, die als Antwort auf die Frage nach dem Subjektbegriff bei Said zu betrachten ist: »Yet unlike Michel Foucault, to whose work I am greatly indebted, I do believe in the determining imprint of individual writers upon the otherwise anonymous collective body of texts constituting a discoursive formation like Orientalism.« (Ebd. 23) Deutlich schreibt er den »individuellen Autoren« Einfluss und Wirkung zu. Außerdem schreibt er, Foucaults Annahme, dass der individuelle Text wenig zähle, habe sich »empirisch« nicht bestätigen lassen: »Foucault believes that in general the individual text or author counts for very little; empirically, in the case of Orientalism (and perhaps nowhere else) I find this not to be so.« (Ebd.) Dagegen lässt sich jedoch anführen, dass empirisch stets nur das zu bestätigen ist, was im Modell angenommen wird. Said kann empirisch sozusagen gar keine Bestätigung für Foucaults Aussage finden, wenn er im Modell von der Handlungsfähigkeit, den konstruktiven Fähigkeiten des Subjekts – als Autor wie als Alltagsmensch – ausgeht. Umgekehrt formuliert: Da er nicht wie Foucault davon ausgeht, dass das Subjekt dem Diskurs immer schon unterworfen ist, kann er dem Subjekt Handlungs(und Schuld-)fähigkeit zuschreiben. Insofern ist zu folgern, dass Said, auch wenn er sich auf Foucault beruft, keinen »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt. Er betrachtet zwar den Orientalismus als Diskurs, aber er definiert – ähnlich wie Haraway – den Diskurs letztlich als ein Feld, in dem um (Definitions- und Deutungs-)Macht gerungen wird. Und ähnlich wie Haraway betrachtet er Macht als Deutungsmacht und spricht in diesem Sinne von der Verantwortung der Autoren. Oder anders, aus der Perspektive »von unten« formuliert: Ihm geht es um die permission to narrate, die diejenigen, die in diesem Orientalismus-Diskurs beschrieben werden, nicht haben. Und in diesem Sinne knüpft Spivak später an Said an und beschreibt die Unmöglichkeit der Subalternen zu sprechen, wie ich oben aufgezeigt habe. 165
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Damit lässt sich folgern, dass Saids für die postkolonialen Studien so wichtige Analyse des Orientalismus-Diskurses keine diskurstheoretische Analyse im Sinne Foucaults ist, denn er deutet an entscheidender Stelle, d.h. dort, wo es um die Ablehnung der Stifterfunktion, um den »Tod« des Subjekts geht, Foucaults Ansatz um. Diese Umdeutung ist nicht nur bei Said zu finden. Vielmehr ist die oben aufgezeigte Subsumtion des diskurstheoretischen Ansatzes unter das Etikett des Konstruktivismus Symptom für diese weit verbreitete Praxis. Und dies macht es umso verständlicher, warum Butler sich bemüht hat, den Ansatz Foucaults für eine neue feministische Theoriebildung zu nutzen. Im »Streit um Differenz« plädiert sie Für ein Sorgfältiges Lesen, um vorzubeugen, dass Foucaults Ansatz erneut konstruktivistisch umgedeutet wird. Es lässt sich aber auch zeigen, dass sie, weil sie am Konstruktionsbegriff festhält, nur schwer diese Missverständnisse vermeiden kann. Bevor ich dies aufzeige, sei noch erwähnt, dass Foucault auch für sich selbst nicht die Stifterfunktion in Anspruch nimmt: »Anstatt der Urheber des Diskurses zu sein, wäre ich im Zufall seines Ablaufs nur eine winzige Lücke und vielleicht sein Ende.« (OD 9)34 Ähnlich schreibt auch Butler, sie spreche letztlich nicht als »Ich«, sondern von einer Subjektposition her, die im Diskurs vorgegeben sei:35 »Das ›Ich‹ ist ein Zitat der Stelle des ›Ichs‹ in der Rede, wobei jene Stelle eine gewisse Priorität und Anonymität besitzt hinsichtlich des Lebens, das sie beseelt: Sie ist die geschichtlich revidierbare Möglichkeit eines Namens, die mir vorhergeht und über mich hinausgeht, ohne die ich jedoch nicht sprechen kann.« (KvG 310)
Außerdem weist sie darauf hin, dass sie nicht im Besitz der eigenen Worte sei: »Es ist eine der zwiespältigsten Implikationen der Dezentrierung des Subjekts zu sehen, wie das eigene Schreiben zum Ort einer notwendigen und unvermeidlichen Enteignung wird. […] Nicht im Besitz der eigenen Worte zu sein ist jedoch von Anfang an gegeben, denn das Sprechen ist in manchen Hinsichten stets das Sprechen eines Fremden/einer Fremden durch sich selbst und als sie selbst.« (Ebd. 331f.)
34 Konersman bezeichnet Foucault als »Philosophen mit der Maske« (1997). M.E. setzt Foucault nicht (verschiedene) Masken auf, vielmehr »verbirgt« er sein Ich, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass er für sein Schreiben keine Stifterfunktion in Anspruch nimmt. 35 Vgl. auch SD 56 und KvG 175. 166
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Die Ablehnung der Stifterfunktion bezieht sich also nicht nur abstrakt auf die Konstitution des Subjekts in der Theorie und Methodologie, sondern auch auf ihre eigene Position als Autorin. Wichtiger als ihre konsequente Bewertung des eigenen Sprechens sind in diesem Zusammenhang ihre Ausführungen zum Konstruktionsbegriff, die nun noch einmal betrachtet werden sollen, um ihr Verständnis von »Dekonstruktion« genauer nachzeichnen zu können.
Butlers Umdeutung des Konstruktionsbegriffs In Körper von Gewicht kritisiert Butler – in einem Kapitel mit der Überschrift »Von der Konstruktion zur Materialisierung« (KvG 24ff.) – verschiedene Versionen des Konstruktivismus, zum einen den sozialen Konstruktivismus, der zwischen sex und gender unterscheide, zum anderen den radikalen linguistischen Konstruktivismus: »Geht die erste Version des Konstruktivismus davon aus, dass sich die Konstruktion deterministisch vollzieht, womit menschliches Handlungsvermögen als Farce deklariert wird, dann versteht die zweite den Konstruktivismus so, dass ein voluntaristisches Subjekt vorausgesetzt wird, das sein soziales Geschlecht durch instrumentelles Handeln zustande bringt. In diesem letzteren Fall wird unter einer Konstruktion eine Art manipulierungsfähiger Kunstgriff verstanden, eine Konzeption, die nicht nur ein Subjekt voraussetzt, sondern genau das voluntaristische Subjekt des Humanismus wieder rehabilitiert, das der Konstruktivismus ehedem in Frage stellen wollte.« (Ebd. 28)
Insbesondere die zweite Kritik lässt sich auf Haraways Ansatz beziehen, denn deutlich kritisiert Butler die Annahme eines handelnden, konstruierenden Subjekts und die Aufladung des Konstruktionsbegriffs. Die Konstruktion habe den Platz eines gottähnlichen Handlungsvermögens eingenommen, das nicht nur alles das verursache, sondern auch zusammensetze, was sein Gegenstand sei: »Es ist die göttliche performative Äußerung, die das, was sie benennt, entstehen lässt und erschöpfend konstituiert. Denn wenn etwas konstruiert ist, heißt das nach dieser Auffassung von Konstruktion, dass es durch jenen Prozess geschaffen und bestimmt ist.« (Ebd.) Obwohl sie anmerkt, dass das, was sie vorhabe, »paradoxerweise« kein Konstruktivismus mehr sei, distanziert sie sich nicht von diesem Begriff. Allerdings weist sie darauf hin, dass die Debatte zwischen Konstruktivismus und Essentialismus das Entscheidende an ihrem Ansatz nicht erfasse:
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DER IRRTUM IM GESCHLECHT
»Es ging nie darum, dass ›alles diskursiv konstruiert ist‹, diese Aussage gehört zu einer Art von diskursivem Monismus oder Linguistizismus. Er bestreitet die konstitutive Kraft des Ausschlusses, der Auslöschung, der gewaltsamen Zurückweisung und Verwerflichmachung und deren aufsprengende Wiederkehr gerade unter den Bedingungen diskursiver Legitimität.« (Ebd. 30)
Einerseits setzt sie alle oben genannten Gegensätze zwischen Essentialismus und Antiessentialismus bzw. zwischen Realismus und Konstruktivismus außer Kraft – hierzu habe ich oben aufgezeigt, dass Butler einen Ansatz im Auge hat, der weder der einen noch der anderen Seite zuzurechnen sei, und habe deshalb den Begriff »Dekonstruktivismus« vorgeschlagen – andererseits scheint sie aber den »Dekonstruktivismus« als eine besondere Form des Konstruktivismus zu betrachten. Dies gilt es nun zu problematisieren. Im »Streit um Differenz« hat Butler Mühe, ein Verständnis von »Konstruktion« einzufordern, das ihrem Anliegen entspricht, weil sie, so scheint es mir, den Begriff in einer besonderen Bedeutung verwendet. Dies wird z.B. an der Stelle deutlich, wo sie aufzeigt, wie »die Konstruktion des Geschlechts« zu analysieren sei: »Die Konstruktion des Geschlechts arbeitet mit den Mitteln des Ausschlusses, und zwar so, dass das Menschliche nicht nur in Absetzung gegenüber dem Unmenschlichen produziert wird, sondern durch eine Reihe von Verwerfungen, radikalen Auslöschungen, denen die Möglichkeiten kultureller Artikulation regelrecht verwehrt wird. Daher reicht es auch nicht aus zu behaupten, dass menschliche Subjekte konstruiert seien, denn die Konstruktion des Menschlichen ist ein differentieller Vorgang, der das mehr und das weniger ›Menschliche‹, das Unmenschliche und das menschlich Undenkbare erzeugt. Diesen ausgeschlossenen Orten fällt die Rolle zu, das ›Menschliche‹ als dessen konstitutives Außen zu begrenzen und diese Grenzen als andauernde Möglichkeit ihrer Durchbrechung und Reartikulation heimzusuchen.« (Ebd., Hervorh. im Original)
Hier ist der »Ausschluß« herausgehoben. Damit wird deutlich, dass der Begriff »Konstruktion« bei Butler eine Bedeutung hat, die mit der oben aufgezeigten Definition des »Bauens« durch »Konstrukteure« nichts gemeinsam hat. Während ich oben vorgeschlagen habe, »Konstruktion« nur in diesem Sinne zu verwenden (weil die in diesem Begriff enthaltene Metapher des Bauens nicht zu löschen ist), ist nach Butler mit diesem Begriff ein »differentieller Vorgang«, in dem das »mehr oder weniger Menschliche«, das »Unmenschliche« und das »menschlich Undenkbare« erzeugt werde, gemeint. Wichtig ist, dass sie hier eine Matrix beschreibt
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und dabei anzeigt, dass das Subjekt an seiner Konstruktion nicht beteiligt ist: »Wenn das Geschlecht konstruiert ist, dann ist es nicht von einem ›Ich‹ oder ›Wir‹ konstruiert, das in irgendeinem räumlichen oder zeitlichen Sinne ›vor‹ jener Konstruktion liegt. […] Das Ich [geht] diesem Prozess der Entstehung von Geschlechtsidentität weder voraus, noch folgt es ihm nach, sondern entsteht nur innerhalb der Matrix geschlechtsspezifischer Beziehungen und als diese Matrix selbst.« (Ebd. 29)
Mit »Konstruktion« meint sie also einen Vorgang, der dem Subjekt vorausgeht. Damit klärt sich, warum sie behauptet, das Subjekt sei als »Effekt« zu betrachten: Ein Individuum kann nur innerhalb dieser Matrix als Subjekt in Erscheinung treten. Es muss im Feld des »Menschlichen« sprechen, um als menschlich gelten zu können. Das heißt auch: Butler plädiert dafür, die (Konstruktion der) Matrix des »Menschlichen« wie des »Unmenschlichen« und des »menschlich Undenkbaren« zu analysieren. So weist sie daraufhin, dass (der Prozess der) Konstruktion oft in der Weise (miss)verstanden werde, dass an die Stelle des Subjekts »unpersönliche Kräfte wie etwa die Kultur oder der Diskurs oder die Macht« träten: »Oft heißt es [bei Verteidigern wie bei Kritikern der Konstruktion], es gebe Strukturen, die das Subjekt konstruieren, unpersönliche Kräfte wie etwa die Kultur oder der Diskurs oder die Macht, wobei diese Begriff den grammatischen Ort des Subjekts besetzen, nachdem man ›den Menschen‹ von seinem Platz vertrieben hat. In einer solchen Sicht wird der grammatische und der metaphysische Platz des Subjekts beibehalten, selbst wenn der Kandidat, der diesen Platz besetzt, zu rotieren scheint. […] Unter einem solchen Gesichtspunkt wird der Diskurs oder die Sprache oder das Soziale personifiziert, und in der Personifizierung wird die Metaphysik des Subjekts wiederum konsolidiert.« (Ebd. 31)
Sie macht also deutlich, dass »Konstruktion« ohne Subjekt zu denken sei, und weist darauf hin, dass auch der Diskurs nicht als »Konstrukteur« zu betrachten sei: »In der Aussageform ›der Diskurs konstruiert das Subjekt‹ wird die Subjekt-Position der grammatischen Formulierung denn auch beibehalten, obwohl die Stellen von Subjekt und Diskurs vertauscht sind. Konstruktion muss mehr bedeuten als eine derart simple Umkehrung der Begriffe.« (Ebd.) Es sei von entscheidenden Bedeutung, »dass die Konstruktion weder ein einzelner Akt noch ein kausaler Prozess, der von einem Subjekt ausgeht und in einer Anzahl festgelegter Wirkungen endet«, zu betrachten sei, vielmehr sei »Konstruktion selbst 169
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ein zeitlicher Prozess, der mit der laufenden Wiederholung von Normen operiert; im Verlauf dieser unentwegten Wiederholung wird das biologische Geschlecht sowohl hervorgebracht als auch destabilisiert« (ebd. 32). Durch die passive Satzkonstruktion zeigt sie zwar an, dass es da kein Subjekt gibt, das »konstruiert«, gleichzeitig fordert diese Formulierung geradezu heraus zu fragen, durch wen denn dann das Hervorbringen und Destabilisieren geschieht. Aber gerade dies führt zu Missverständnissen. Butler weist auch darauf hin, dass die Personifizierung der Macht auf einer »Fehllektüre Foucaults« beruhe: »Es gibt da keine Macht, die handelt, sondern nur ein dauernd wiederholtes Handeln, das Macht in ihrer Beständigkeit und Instabilität ist.« (Ebd.) Wenn Foucault die Macht als Einwirkung, als »Handeln auf Handlungen« definiert (1994: 255), liegt es zwar nahe, dies in der Weise zu verstehen, dass »die Macht« wie eine Person betrachtet wird, aber dies sei, so kritisiert Butler m.E. zu Recht, ein Missverständnis. Bei Foucault tritt die Macht nicht an die Stelle des Menschen, sie »konstruiert« nicht, sondern gibt den Rahmen für die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts vor, das dementsprechend nur wiederholen, nicht neu erschaffen kann. Wie steht es dann mit dem Begriff »Dekonstruktion«, dem Butler eine zentrale Bedeutung in ihrem Ansatz einräumt? Im »Streit um Differenz« zeigt sie an, dass dieser kein »Verneinen oder Abtun« beinhalte: »Dekonstruieren meint nicht verneinen oder abtun, sondern in Frage stellen und – vielleicht ist dies der wichtigste Aspekt – einen Begriff wie ›das Subjekt‹ für eine Wieder-Verwendung oder einen Wieder-Einsatz öffnen, die bislang noch nicht autorisiert waren.« (SD 48) Sie weist also darauf hin, dass es ihr um einen anderen, neuen Subjektbegriff gehe, ein Subjekt, das nicht außerhalb der Machtbeziehungen stehe und das selbst nicht »konstruieren«, sondern nur wiederholen könne. Aber müsste das Wiederholen dann nicht eher durch ein »re-« angezeigt werden? Durch das Präfix »de-« wird zwangsläufig das Infragestellen einer Gebäudevorstellung ausgedrückt, weil die Konstruktionsmetapher immer schon eine (dreidimensionale) Gebäudevorstellung evoziert. Halten wir also fest: »Konstruktion« und »Dekonstruktion« sind, wenn sie auf die Analyse der dem Subjekt vorausgehenden Matrix bezogen sind, irreführende Metaphern. Da Butler nicht auf die Konstruktionsmetapher verzichtet, wundert es nicht, dass sie missverstanden und konstruktivistisch umgedeutet wurde (und wird). Um zu verstehen, welche Art von Analyse sie vorschlägt, sind noch weitere Ausführungen zum »Ausschluss« zu betrachten, denn dieser Begriff ist von herausgehobener Bedeutung: »Sobald wir verstanden haben, dass Subjekte durch Ausschließungsverfahren gebildet werden, ist es 170
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politisch notwendig, die Verfahren dieser Konstruktion und Auslöschung nachzuzeichnen.« (Ebd. 47) Mit dem Nachzeichnen der »Verfahren dieser Konstruktion und Auslöschung« ist nicht die Rekonstruktion der Konstruktionsprozesse durch Subjekte gemeint, vielmehr hat sie eine Analyse der Ausschließungsprozeduren, die »da« sind, bevor jemand spricht (und eine Subjektposition einnimmt), im Auge. Mit »Verfahren der Konstruktion und Auslöschung« ist also die Analyse der Matrix gemeint, denn der Ausschluss erfolgt in der Matrix selbst. Diese entscheidet darüber, wer überhaupt als »menschlich« Geltung beanspruchen kann und was als »unmenschlich« und »menschlich undenkbar« aus dieser Matrix ausgeschlossen ist. Den Gedanken der Ausschließung übernimmt Butler von Foucault. In Ordnung des Diskurses schreibt er, er habe die Ausschließungsfunktion »für einen bestimmten Zeitraum bereits untersucht: es handelte sich um die Grenzziehung zwischen Wahnsinn und Vernunft in der Epoche der Klassik« (ODs 39). Außerdem schreibt er, dass die Prozeduren der Ausschließung nicht nur über Verbote reguliert würden, sondern über »eine Grenzziehung und eine Verwerfung« (vgl. ebd. 13). Dies zeigt er nicht nur in Bezug auf Wahnsinn und Vernunft, sondern auch in Bezug auf das Wahre und das Falsche auf: »Auf der Ebene eines Urteils innerhalb eines Diskurses ist die Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen weder willkürlich noch veränderbar, weder institutionell noch gewaltsam. Begibt man sich aber auf eine andere Ebene, stellt man die Frage nach jenem Willen zur Wahrheit, der seit Jahrhunderten unsere Diskurse durchdringt, oder fragt man allgemeiner, welche Grenzziehung unseren Willen zum Wissen bestimmt, so wird man vielleicht ein Ausschließungssystem (ein historisches, veränderbares, institutionell zwin36 gendes System) sich abzeichnen sehen.« (Ebd. 13f.)
Foucaults Analyse des Diskurses ist also vor allem eine Analyse der Ausschließungssysteme. Diese will er in der Positivität analysieren. Dies gelingt ihm, indem er sukzessive vergangene Diskurse analysiert und vergleicht, denn im historischen Rückblick lässt sich feststellen, was im Vergleich zu späteren Diskursen in früheren ausgeschlossen war. Hier gibt es jedoch einen Unterschied: Während Foucault vergangene Diskurse analysiert, will Butler eher aktuelle Diskurse analysieren. Und da sie keine Vergleiche verschiedener Diskurse im Auge hat, ist es 36 In seinen historischen Analysen hat er vor allem drei große Ausschließungssysteme beschrieben: das »verbotene Wort«, die »Ausgrenzung des Wahnsinns«, den »Willen zur Wahrheit«. Vor allem letzteres bezeichnet er als »gewaltige Ausschließungsmaschinerie« (vgl. OD 17). 171
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schwierig sich vorzustellen, wie der Ausschluss analysiert werden soll. Dies gilt es später genauer zu betrachten. Alle Fragen der methodischen Umsetzung dieses Ansatzes werde ich im nächsten Kapitel behandeln. Hier ist festzuhalten, dass Butler nicht das Aufbauen oder Aufgebaute, sondern gerade umgekehrt, das aus den Konstruktionen Ausgeschlossene untersuchen will. Außerdem ist festzuhalten, dass Foucault und Butler nicht (wie zunächst vorgeschlagen) als Vertreter des »Dekonstruktivismus« zu bezeichnen sind, denn zur Bezeichnung ihres Ansatzes sollte die Konstruktionsmetapher vermieden werden, weil sie eine »Gebäude«-Vorstellung evoziert, die irreführend ist. Welche andere Bezeichnung ist dann möglich? Da der Begriff »Poststrukturalismus« zu weit ist, begnüge ich mich damit, sie als Vertreter eines »diskurstheoretischen Ansatzes« zu bezeichnen.
Zusammenfassung In diesem Kapitel standen die Begriffe »Konstruktion« und »Dekonstruktion« und »(De-)Konstruktivismus« im Mittelpunkt der Betrachtung. Zunächst wurde aufgezeigt, dass es einen Streit zwischen »Realisten« und »Konstruktivisten« gibt, der große Ähnlichkeit mit dem feministischen Streit um Essentialismus hat, weil hier die Voraussetzung von »rohen Tatsachen« diskutiert wird. Dann wurde die Position der Radikalen Konstruktivisten skizziert und aufgezeigt, dass für diese die Annahme der individuellen Konstruktion der Wirklichkeit wichtig ist. Um darauf hinzuweisen, dass der Poststrukturalismus nicht mit dem Radikalen Konstruktivismus verwechselt werden sollte, wurde die diametral entgegen gesetzte Perspektive auf das Subjekt herausgearbeitet: Während Radikale Konstruktivisten vom Subjekt ausgehen, wird das Subjekt von Poststrukturalisten als »Effekt« betrachtet. Während in ersteren machtkritische Überlegungen nicht möglich sind, sind diese in letzteren von zentraler Bedeutung. Außerdem wurde argumentiert, dass aufgrund dieser Unterschiede der poststrukturalistische Ansatz nicht dem Konstruktivismus zuzurechnen und allenfalls als »Dekonstruktivismus« zu bezeichnen ist. Dann wurde anhand der Ausführungen Hackings dargestellt, dass der Begriff »Konstruktivismus«, auch wenn vor allem Radikale Konstruktivisten sich selbst als »Konstruktivisten« bezeichnen, als ein Oberbegriff für den Radikalen und verschiedene Versionen des Sozialkonstruktivismus zu verwenden ist, denn beiden Arten des Konstruktivismus liegt die Annahme zugrunde, dass die Wirklichkeit von Subjekten konstruiert wird. Beide haben sozusagen eine »Wirklichkeitsfor172
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schung« im Auge, auch wenn im Radikalen Konstruktivismus von der individuellen und nur im Sozialkonstruktivismus von der sozialen Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgegangen wird. Beide unterscheiden sich auch darin, dass nur im Sozialkonstruktivismus sowohl die Konstruktionen als auch die Wirkungen der Konstruktionen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Insofern ist der Sozialkonstruktivismus (anders als der Radikale Konstruktivismus) immer auch »Wirkungsforschung«. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen »konstruktivistischen« Ansätzen lassen sich schematisch folgendermaßen darstellen: Konstruktivismus = »Wirklichkeitsforschung« Radikaler Konstruktivismus
»Dekonstruktivismus« Poststrukturalismus
Sozialkonstruktivismus = »Wirkungsforschung«
Dadurch konnte herausgearbeitet werden, dass Butler weder einen radikal- noch einen sozialkonstruktivistischen, sondern einen »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt. Außerdem konnte aufgezeigt werden, dass Haraway, deren Arbeiten ähnlich einflussreich für die feministische Diskussion waren und sind wie Butlers, keinen »dekonstruktivistischen«, sondern einen konstruktivistischen Ansatz vertritt, denn sie geht von der Handlungs- und Konstruktionsfähigkeit des Subjekts aus und betrachtet es nicht als »Effekt«. Auch wenn nicht geklärt wurde, ob Bhaba, dessen Hybridkonzept zunehmend an Bedeutung gewinnt, einen konstruktivistischen oder »dekonstruktivistischen« Ansatz vertritt, wurde in einem Exkurs aufgezeigt, dass Edward Saids Analyse des Orientalismus-Diskurses, die wegweisend für die postkolonialen Studien war, nicht als eine »dekonstruktivistische«, d.h. diskurstheoretische Analyse im Sinne Foucaults zu bezeichnen ist. Abschließend wurde aufgezeigt, dass viele Irritationen über diese Ansätze, die sowohl in den feministischen als auch in den postkolonialen Studien zu finden sind, durch Butlers Argumentationen nicht geklärt wurden, sondern eher Nahrung erhalten haben, denn sie hält am Konstruktionsbegriff fest und schiebt ihm eine Bedeutung unter, die der Begriff (als Metapher für das Aufbauen und/oder das Gebäude) nur schwer tragen kann. Dies gilt auch für den ebenfalls metaphorischen Begriff »Dekonstruktion«, der, wenn er die Analyse der Ausschließungsproze173
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duren, durch die Subjekte gebildet werden, bezeichnen soll, kaum angemessen ist. Diesen Befund habe ich abgesichert, indem ich aufgezeigt habe, dass Foucault in seiner Analyse vergangener Diskurse die Analyse von Ausschließungssystemen vorgenommen hat. Dabei wurde auch deutlich, dass noch genauer zu klären ist, wie eine »dekonstruktivistische«, d.h. diskurstheoretische Analyse, in der die Ausschließung untersucht werden soll, vorzunehmen ist. Dies ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
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DISKURSTHEORIE
UND
D I S K U R S AN AL Y S E
Dieses Kapitel handelt von der Frage, ob und wie Interviewtexte mit dem diskurstheoretischen Ansatz zu analysieren sind. Es besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil werden auf der Grundlage der im vorausgehenden Kapitel erarbeiteten Unterschiede zwischen einem sozialkonstruktivistischen und einem diskurstheoretischen Ansatz einige Anhaltspunkte für eine solche Methode vorgestellt. Dann werde ich aufzeigen, wie ich durch die Kritik an anderen ForscherInnen und anhand der Ausführungen Butlers das »Werkzeug« für eine diskurstheoretische Analyse auch von Interviewtexten entwickelt habe. Dabei wird sich zeigen, dass die von ihr vorgeschlagene Analyse der Imperative sich mit der von Foucault vorgeschlagenen Analyse der Formationsregeln deckt. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird zu verdeutlichen sein, dass das »Werkzeug« nicht ausreicht und der diskurstheoretische Ansatz zu erweitern ist, damit der Pluralität der Diskurse Rechnung getragen werden kann und Aussagen zu (Misch- und) Hybridformen gemacht werden können.
Eine »dichotome Tabelle« Um den Ertrag der Überlegungen zu »Konstruktion« und »Dekonstruktion« für das empirische Arbeiten genauer zu bestimmen, sind in einer »dichotomen Tabelle« (Haraway) einige Begriffe, die entweder für die sozialkonstruktivistische oder die diskurstheoretische Perspektive wichtig sind, einander gegenübergestellt.
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DER IRRTUM IM GESCHLECHT
sozialkonstruktivistisch
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diskurstheoretisch
Wirklichkeit Gemeinschaft Wirkung Normen
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Diskurs »Feld« »Effekt« Matrix der Intelligibilität
soziale Konstruktion Handlungsfähigkeit (Re-)Konstruieren (interaktiv) Herstellen Erfinden (Kreativität)
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diskursive Konstruktion Handlungsmöglichkeit »Wiederholen«, »Zitieren«
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Verschieben
rekonstruktiv Tiefe interpretativ
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»dekonstruktiv« (Ober-)Fläche (nicht-interpretativ)
Hier sind alle Begriffe des diskurstheoretischen Ansatzes, die noch unklar sind und für die noch Klärungsbedarf besteht, in Anführungszeichen gesetzt. Die ersten vier Begriffspaare sind im vorausgehenden Kapitel bereits behandelt worden. Dann sind einige Begriffe aufgeführt, die sich auf das Subjekt und sein Handeln beziehen. Schließlich sind drei Begriffspaare genannt, die sich im engeren Sinne auf die Methodik beziehen, aber bisher nur beiläufig erwähnt wurden. Diese Übersicht ist zu kommentieren: Während sozialkonstruktivistische Ansätze zu erkunden versuchen, wie es möglich ist, dass diese oder jene Konstruktion als selbstverständlich oder gar natürlich erscheint, setzt der diskurstheoretische Ansatz genau umgekehrt an. Es geht nicht um den konstruktiven Charakter der Wirklichkeit, sondern um eine Analyse (der Macht) des Diskurses. Folglich wird nicht eine soziale Gemeinschaft oder Gesellschaft, deren Mitglieder die Konstruktion der Wirklichkeit teilen, sondern ein Diskurs als »Feld« vorausgesetzt. In sozialkonstruktivistischen Ansätzen geht es auch um die Analyse der Wirkung der Konstruktionen. Dieser Aspekt ist im diskurstheoretischen Ansatz kaum von Bedeutung, denn die Folgen des Handelns der Subjekte werden kaum berücksichtigt. Vielmehr wird das Subjekt selbst als »Effekt« betrachtet. (Wie dies genauer vorzustellen ist, ist noch zu klären.) In sozialkonstruktivistischen Ansätzen wird die Stabilität der Konstruktion der Wirklichkeit über ein Normengefüge erklärt. Zwar spricht auch Butler von Normen, doch für sie ist die Annahme einer Matrix der Intelligibilität wichtig, denn sie legt
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DISKURSTHEORIE UND DISKURSANALYSE
fest, was »menschlich«, »unmenschlich« und »menschlich undenkbar« ist und über sie erfolgt die Ausschließung. Auch wenn oben deutlich geworden ist, dass der Konstruktionsbegriff im diskurstheoretischen Ansatz leicht zu Missverständen führt, ist hier zum einen »soziale Konstruktion«, zum anderen »diskursive Konstruktion« angeführt, wobei letzteres ohne Akteur zu denken ist, denn nur in sozialkonstruktivistischen Ansätzen wird das Subjekt als »Konstrukteur«, das diese Konstruktionen (mit anderen) hervorbringt, betrachtet. Während in diesem die Handlungsfähigkeit des Subjekts vorausgesetzt wird, wird im diskurstheoretischen Ansatz das Handeln des Subjekts stets unter dem Aspekt der begrenzten Handlungsmöglichkeit, die durch die Matrix der Intelligibilität bestimmt ist, gedacht. Wenn in sozialkonstruktivistischen Ansätzen von der »Stifterfunktion« des Subjekts ausgegangen wird, wird angenommen, dass das Subjekt Konstruktionen nicht nur »rekonstruiert«, sondern auch neue erfinden kann. Im diskurstheoretischen Ansatz wird dagegen davon ausgegangen, dass das Subjekt nur »wiederholen« bzw. »zitieren« und gegebenenfalls die diskursiven Konstruktionen »verschieben« kann. Als letztes sind Begriffe zur Methodik angeführt: Wenn in (sozial-) konstruktivistischen Ansätzen das Handeln/Sprechen der Subjekte als Konstruieren betrachtet wird, folgt daraus, dass die Methode rekonstruktiv angelegt ist. Die Konstruktionsprozesse werden nachgezeichnet, um Aufschluss darüber zu gewinnen, wie die Konstruktionen entstehen, oder es wird von den Konstruktionen, den Produkten, dem »Aufgebauten« ausgegangen, um zu erkunden, welche Wirkungen sie haben. Wenn demgegenüber die diskurstheoretische Methode als »dekonstruktiv« bezeichnet wird, so ist zwar noch nicht geklärt, wie die Analyse vorzunehmen ist. Es ist jedoch schon deutlich geworden, dass sie »machtkritisch« angelegt ist und die Regulierungsverfahren, also die Verfahren, durch die die Ausschließung erfolgt, untersucht werden. Das Begriffspaar »Tiefe vs. (Ober-)Fläche« ist aufgeführt, um anzudeuten, dass in der Diskursanalyse der Diskurs in seiner Positivität, nicht in seiner »Tiefe«, d.h. in dem, was das Gesagte bedeutet, ausgeleuchtet wird.1 Dies werde ich weiter unten detaillierter darzustellen. Zuvor möchte ich jedoch noch auf das Problem der Pluralität der Wirklichkeiten hinweisen, denn es ist zu fragen, ob im diskurstheoretischen Ansatz von der Pluralität der Diskurse auszugehen ist und ob in der Diskursanalyse differente Diskurse zu analysieren sind: Während das Subjekt in sozialkonstruktivistischen Ansätzen immer schon als Mitglied einer Gemeinschaft
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Dieser Punkt betrifft die wichtigste Umstellung in meinem methodischen Vorgehen (vgl. MB, Kap. 2.3.) 177
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konzipiert wird, wird es im diskurstheoretischen Ansatz eher als singuläres Subjekt betrachtet. Zwar wird die Vielzahl der Subjekte einkalkuliert, aber dies wird nicht in Hinblick auf das Miteinander bzw. die Kämpfe zwischen den Subjekten um die Definitionsmacht, sondern im Hinblick auf das Unterworfen-Sein aller Subjekte unter die Macht des Diskurses betrachtet: Das (einzelne) Subjekt steht immer schon – wie alle anderen und mit allen anderen – »drinnen«, d.h. im Feld des Diskurses. Während es in sozialkonstruktivistischen Ansätzen ohne weiteres möglich ist, von der Pluralität der Wirklichkeiten auszugehen bzw. immer schon impliziert ist, dass es eine Vielzahl von gesellschaftlichen Wirklichkeiten gibt, ist die Annahme der Pluralität der Diskurse im diskurstheoretischen Ansatz nicht ohne weiteres möglich, denn wenn das Subjekt »Effekt« des bzw. eines Diskurses ist, bringt bei einer Vielzahl von Diskursen jeder Diskurs eine bestimmte Art von Subjekt als »Effekt« hervor. Kann das Subjekt dann nur in einem Diskurs sprechen? Oder kann es in mehreren Diskursen gleichzeitig sprechen? Aber kann es dann noch »Effekt« des bzw. eines Diskurses sein? Hier ist der für die Diskurstheorie wichtige Gedanke des Unterworfen-Seins des Subjekts unter die Macht des Diskurses auf jeden Fall beizubehalten und dementsprechend der Gedanke, dass Subjekte zwischen Diskursen wählen können, zu vermeiden.
K r i t i k a n d i s k u r s t h e o r e t i s c h e n An a l ys e n Diskursanalyse als hermeneutisches Verfahren? In der »dichotomen Tabelle« ist angedeutet, dass eine »dekonstruktive« Analyse »nicht interpretativ« verfährt. Dies beinhaltet die Behauptung, dass eine diskurstheoretische Analyse nicht dem »interpretativen Paradigma« und den hermeneutischen Verfahren zugerechnet werden kann. Doch dies steht im Widerspruch zur gängigen Praxis in der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre. So schreiben z.B. Hitzler und Honer in ihrer Einleitung zum Sammelband Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, in dem auch ein Beitrag zur Diskursanalyse zu finden ist, dass alle präsentierten Verfahren darauf abzielten, »methodisch kontrolliert durch den oberflächlichen Informationsgehalt des Textes hindurchzustoßen zu tieferliegenden (d.h. eben: in gewisser Weise ›latenten‹ bzw. ›verborgenen‹) Sinn- und Bedeutungsschichten und dabei diesen Rekonstruktionsvorgang intersubjektiv nachvollziehbar zu machen bzw. nachvollziehbar zu halten« (1997: 22f.). Zielen die Analysen, die Foucault vorgelegt hat und deren Methode er insbesondere in Archäologie des Wis178
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sen beschrieben hat, wirklich darauf ab, zu »tieferliegenden Sinn- und Bedeutungsschichten hindurchzustoßen«? Foucault hat dezidiert Stellung bezogen gegen die Vorstellung des »In-die-Tiefe-Gehens«: »In den Beschreibungen, deren Theorie ich gerade darzulegen versuchte, handelt es sich nicht darum, den Diskurs zu interpretieren, um durch ihn eine Geschichte des Referenten zu zeichnen.« (AW 71, Hervorh. U.M.) Die Abgrenzung von interpretativen Ansätzen zieht sich wie ein roter Faden durch den Text. So schreibt er z.B., die Archäologie sei »keine interpretative Disziplin« (ebd. 198). Einen Diskurs zu analysieren bedeute, sich an der Oberfläche des Textes zu halten, und die Positivität dessen, was gesagt wurde, zu beschreiben: »Eine Menge von Aussagen nicht als die geschlossene und übervolle Totalität von Bedeutungen zu beschreiben, sondern als eine lückenhafte und zerstückelte Form; eine Menge von Aussagen nicht als in Bezug zur Innerlichkeit einer Absicht, sondern gemäß einer Streuung der Äußerlichkeit; eine Menge von Aussagen zu beschreiben, nicht um darin den Augenblick oder die Spur des Ursprungs wiederzufinden, sondern die spezifischen Formen einer Häufung, bedeutet gewiss nicht das Hervorbringen einer Interpretation, die Entdeckung einer Fundierung, die Freilegung von Gründungsakten. Es bedeutet auch nicht die Entscheidung über eine Rationalität oder das Durchlaufen einer Teleologie, sondern die Feststellung dessen, was ich gerne als eine Positivität bezeichnen würde. Eine diskursive Formation zu analysieren, heißt also, eine Menge von sprachlichen Performanzen auf der Ebene der Aussagen und der Form der Positivität, von der sie charakterisiert werden, zu behandeln; oder kürzer: es heißt den Typ von Positivität eines Diskurses zu definieren.« (Ebd. 182)
Der Begriff »Positivität« steht in gewissem Sinne im Gegensatz zu »Interpretation«, denn während durch die Interpretation der »Reichtum« dessen, was in der Tiefe der Texte enthalten ist oder sein könnte, freigelegt werden soll, soll nach Foucault in der Positivität des Diskurses die »Armut« aufgefunden werden (vgl. ebd. 170). Diese »Armut« würde man in den Interpretationen von Texten kompensieren, statt sie zum Ausgangspunkt zu nehmen: »Interpretieren ist eine Weise, auf die Aussagearmut zu reagieren und sie durch die Vervielfachung des Sinns zu kompensieren; eine Weise, ausgehend von ihr und trotz ihrer zu sprechen. Aber eine diskursive Formation zu analysieren heißt, das Gesetz der Armut zu suchen, ihr Maß zu nehmen und ihre spezifische Form zu bestimmen.« (Ebd. 175)
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Foucaults Aussagen gegen die interpretative Methode sind also recht eindeutig. Doch Reiner Keller, der Verfasser des Beitrages »Diskursanalyse« in dem oben genannten Sammelband, insistiert auf der Zurechnung der Diskursanalyse zu hermeneutischen Verfahren und behauptet dies ausdrücklich gegen Foucaults eigene Aussagen: »Mit großem rhetorischen Aufwand hat auch Foucault seine Arbeiten ›jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik‹ (Dreyfuß/Rabinow 1987) verortet. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass Diskursanalysen notwendig hermeneutische Ansätze sind, für die die Welt das ›Ensemble der durch Texte eröffneten Bezüge‹ […] darstellt. Sie implizieren selbst da Textauslegungen, wo sie sich in erster Linie auf formale Strukturen oder materiale Praktiken konzentrieren, und bewegen sich damit im ›Paradigma der Textinterpretation‹.« (1997: 327)
Keller weist zwar darauf hin, dass die wissenschaftliche Interpretationsarbeit noch eine »mehr oder minder unreflektierte Komponente« sei (ebd. 328), er betont aber auch, dass die Diskursanalyse dazu beitrage, »gesellschaftliche Ontologisierungen zu hinterfragen, die Wirklichkeit zu ›entzaubern‹ und als konstruierte – und damit auch anders mögliche – zu entdecken« (ebd.): »Der Diskursanalyse geht es darum, Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinnstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen beziehungsweise kollektiven Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren.« (Ebd. 319)2
Dies ist nach meinen Ausführungen nicht Sinn und Zweck der Diskursanalyse im Foucaultschen Sinne. Ihr geht es weder um die »Entdeckung« des konstruktiven Charakters noch um die Analyse der Herstellungsprozesse der Wirklichkeit, sondern um die der Regulierungsverfahren. Doch Keller schreibt: »In ›Die Ordnung des Diskurses‹ führt Foucault den Gedanken aus, daß Diskurse unmittelbar mit Ermächtigungs- und Ausschlußkriterien verkoppelt sind, die mögliche Sprecher von nicht möglichen Sprechern unterscheiden und damit ›Subjekt-Positionen‹ konstituieren. Mit seinem Begriff der ›diskursiven Praktiken‹ wird darauf verwiesen, daß spezifische Denk- oder Deutungs2
Da Keller seinen Beitrag mit dem Hinweis auf Foucaults »chinesische Tierklassifikation« beginnt (ebd. 309), erweckt er den Eindruck, in seiner Beschreibung der Diskursanalyse gehe es vor allem um die Beschreibung der Diskursanalyse Foucaults, auch wenn er auf die unterschiedlichen Arten der Diskursanalyse hinweist.
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schemata mit spezifischen, sie stützenden Handlungsschemata verknüpft sind. Im Unterschied zu den Arbeiten Foucaults rückt die diskursanalytische Traditionslinie des Symbolischen Interaktionismus vor allem das Handeln von kollektiven Akteuren in den Vordergrund.« (Ebd. 314, Hervorh. im Original)
Hier weist er zwar daraufhin, dass durch Ausschlüsse mögliche »Sprecher« bzw. »Subjekt-Positionen« (ein zentraler Begriff dieses Ansatzes, wie ich weiter unten aufzeigen werden) von nicht möglichen unterschieden werden, aber er verknüpft den Begriff der diskursiven Praktiken mit »Denk- und Deutungsschemata«. M.E. sind diskursive Praktiken nicht auf die von einem Subjekt realisierten Rede und »Handlungsschemata« zu beziehen, sondern nur auf die »Regelmäßigkeiten für Positionen der Subjektivität«, denn Foucault schreibt: »Man wird also darauf verzichten, im Diskurs ein Phänomen des Ausdrucks zu sehen. […] Man wird darin eher ein Feld von Regelmäßigkeiten für verschiedene Positionen der Subjektivität sehen. […] Es ist ein Raum der Äußerlichkeit, in dem sich ein Netz von unterschiedlichen Plätzen entfaltet.« (AW 82)
Nun ist in Rechnung zu stellen, dass Keller den Begriff »Diskursanalyse« nicht nur für Foucaults Methode verwendet. In der oben zitierten Aussage ist zu erkennen, dass er einen Unterschied zwischen zwei Arten der Diskursanalyse macht, der Foucaultschen auf der einen und der interaktionistischen auf der anderen Seite. Es ist aber auch zu erkennen, dass er nicht darauf eingeht, dass der Foucaultsche Diskurs-Begriff sich auf eine »Menge von Aussagen« (und nicht auf Deutungen und Bedeutungen) bezieht. Indem er Foucaults Methode den hermeneutischen Verfahren zurechnet, schiebt er dem Diskurs-Begriff eine Bedeutung unter, bei der das Unterworfen-Sein des Subjekts ausgeblendet wird. Wenn Keller behauptet, »die diskursive Bedeutungsproduktion qua Sprache« erfolge in je spezifischen »diskursiven Praktiken« (1997: 317) und »die Lebenswelt des Alltags« sei in modernen Gesellschaften vielfach durch Diskurse »mitkonstituiert«, ist zu erkennen, dass er Diskurse als Äußerungsformen unter anderen, die die Subjekte auswählen, betrachtet. Außerdem schreibt er: »Individuen sind weder die völlig freien Gestalter der Diskurse, noch sind sie ihnen ausgeliefert. Als Repräsentanten diskursiver Kreuzungen stehen sie in einem komplexen Feld von Ermöglichung und Begrenzung. Aus diesem Wechselspiel heraus erhalten Diskurse ihre Dynamik.« (Ebd. 318)
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Sind die Subjekte wirklich als »Repräsentanten diskursiver Kreuzungen« zu betrachten? Auch von anderen AutorInnen wird das Subjekt als »Kreuzungspunkt von Diskursen« aufgefasst, wie gleich zu zeigen sein wird. Wird dabei nicht das Verhältnis von Subjekt und Diskurs sozusagen umgekehrt zu Foucaults Unterwerfungsgedanken dargestellt? Dies gilt es zu klären. Hier ist noch zu ergänzen, dass Keller die für Foucault so wichtige Analyse der Macht als Analyse der »Definitionsmacht« auffasst, denn wenn er schreibt, Macht sei »im Sinne einer sich auf unterschiedlichste Ressourcen stützende Macht der Definition zu analysieren« (ebd. 316), betrachtet er sie nicht im Sinne Foucaults als »Namen, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (WW 114), sondern als Definitionsmacht von Akteuren, die z.B., wie Haraway aufgezeigt hat, als Wissenschaftler um die Durchsetzung ihrer Erzählungen streiten. Die Analyse der Macht nach Foucault kann jedoch nicht auf der Ebene der Akteure bzw. der Interaktionen angesiedelt sein. Kellers Darstellung der Diskursanalyse ist also wenig hilfreich für ein genaueres Verständnis der Art und Weise, wie eine Analyse von Texten nach Foucault vorzunehmen ist. Zu kritisieren ist vor allem, dass er dem Anliegen Foucaults, den humanistischen Subjektbegriff zu verabschieden und eine andere, neue Art der Analyse von Texten zu entwickeln, nicht Rechnung trägt. Offensichtlich liest er Foucaults Texte sozialkonstruktivistisch. Dies ist m. E. eine Folge von oder ein Symptom für die weit verbreitete Zurechnung des Foucaultschen Ansatzes zum Konstruktivismus.
Das Subjekt als »Kreuzungspunkt« von Diskursen? Die Metapher der Kreuzung ist in vielen Texten zu finden, auch bei Foucault: »Weit häufiger hat man es mit mobilen und transitorischen Widerstandspunkten zu tun, die sich verschiebende Spaltungen in eine Gesellschaft einführen, Einheiten zerbrechen und Umgruppierungen hervorrufen, die Individuen selbst durchkreuzen, zerschneiden und umgestalten, in ihrem Körper und in ihrer Seele abgeschlossene Bezirke abstecken.« (WW 117f., Hervorh. U.M.)
Es scheint auf den ersten Blick, als würde auch er voraussetzen, dass Diskurse durch das Individuum hindurch ziehen. Bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich, dass er hier von »Umgruppierungen« und Verschiebungen von Widerstandspunkten spricht, die auch in den Individuen stattfinden können. Er zeigt damit also an, dass die Bruchlinien eines 182
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Diskurses auch in den Individuen verlaufen können, denn diese Aussage steht in einem Kontext, in dem er Widerstandsformen als Bestandteile des Diskurses beschreibt und deutlich macht, dass »die Welt des Diskurses nicht zweigeteilt [ist] zwischen dem zugelassenen und dem ausgeschlossenen Diskurs oder dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs« (ebd. 122): »Es gibt nicht auf der einen Seite den Diskurs der Macht und auf der anderen Seite den Diskurs, der sich ihr entgegensetzt. Die Diskurse sind taktische Elemente oder Blöcke im Feld der Kräfteverhältnisse.« (Ebd. 123) Die Gegenposition, die jemand gegen die herrschende Meinung einnimmt, sei nicht unabhängig vom, sondern noch geformt durch den Diskurs. Auch in einer Passage in Archäologie des Wissens, in seiner Beschreibung des Archivs, ist vom »Überkreuzen« die Rede: »Die verschiedenen Werke, die verstreuten Bücher, diese ganze Menge von Texten, die einer selben diskursiven Formation angehören – und so viele Autoren, die sich gegenseitig kennen und nicht kennen, kritisieren, für nichtig erklären, ausräubern, sich wieder begegnen, ohne es zu wissen, und hartnäckig ihre vereinzelten Diskurse in einem Gewebe überkreuzen, das sie nicht beherrschen, dessen Ganzes sie nicht wahrnehmen und dessen Ausmaß sie schlecht ermessen –, alle diese Gestalten und diese verschiedenen Individualitäten kommunizieren nicht durch die logische Verkettung der Propositionen, die sie vorbringen […]; sie kommunizieren durch die Form der Positivität ihres Diskurses.« (AW 184, Hervorh. U.M.)
Hier erklärt er, dass die unterschiedlichen, bisweilen auch gegensätzlichen »vereinzelten Diskurse« aufeinander bezogen sind, und zwar einfach dadurch, dass sie zur selben diskursiven Formation gehören. Wichtig ist, dass er an dieser Stelle den Diskursbegriff im Plural verwendet, und zwar nicht in dem Sinne, wie ich ihn oben als Problem für die Diskursanalyse angedeutet habe, auch nicht im Sinne einer »Menge von Äußerungen«, sondern im umgangssprachlichen Sinne von discours = »Rede« verwendet. Er macht nämlich deutlich, dass die »verschiedenen Individualitäten« Aussagen hervorbringen, die, so gegensätzlich sie auch erscheinen mögen, durch den Diskurs geformt sind, denn durch den Diskurs sei vorab bestimmt, was sagbar ist und was nicht. Deshalb schreibt er im Folgenden, man könne in der »Dichte der diskursiven Praktiken« »Systeme« erkennen. Diese »Aussagensysteme« bezeichnet er als »Archiv«: Das Archiv sei »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht« (ebd. 187). Auch wenn hier nicht weiter darauf eingegangen werden kann, wie im einzelnen Foucaults Termini der »diskursiven
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Formation«, des »Archivsystems«, der »Archäologie« und »Genealogie« zu verstehen sind, so ist doch festzuhalten, dass er eine Diskursanalyse als »die Beschreibung der diskursiven Formationen, die Analyse der Positivitäten, das Ermitteln des Aussagefeldes« (ebd. 190) versteht. Das bedeutet, dass das Feld der Aussagen als System untersucht werden soll. Dass diese Analyse sich auch auf die Subjektposition bezieht, lässt sich an folgender Aussage ablesen: »Wenn eine Proposition, ein Satz, eine Menge von Zeichen als ›geäußert‹ bezeichnet werden können, dann also nicht, insofern es eines Tages jemand gab, der sie vorbrachte oder irgendwo ihre provisorische Spur niederlegte; sondern insofern die Position des Subjekts bestimmt werden kann. Eine Formulierung als Aussage zu beschreiben besteht nicht darin, die Beziehungen zwischen dem Autor und dem, was er gesagt hat (oder hat sagen wollen oder, ohne es zu wollen, gesagt hat) zu analysieren; sondern darin, zu bestimmen, welche Position jedes Individuum einnehmen kann und muss, um ihr Subjekt zu sein.« (Ebd. 139)
So ist hier festzuhalten, dass Foucault nicht davon ausgeht, dass Diskurse sich in einem räumlich ausgedehnten Subjekt kreuzen. Vielmehr insistiert er umgekehrt darauf, dass der Diskurs als ein Feld von Äußerungen zu analysieren ist, dass es in diesem Feld Schnittpunkte, Überkreuzungen gibt und dass an diesen Schnittpunkten Positionen gebildet werden, die jemand einnehmen muss, um als Subjekt Geltung beanspruchen zu können. Auch Butler spricht von »Kreuzungen«. Um aufzuzeigen, dass Butler in eben diesem Sinne an Foucault anknüpft, ist eine Stelle aus Körper von Gewicht anzuführen: »Diese Analyse will deutlich machen, dass eine Ökonomie der Differenz Berechtigung hat, in der die Matrizen, die Knotenpunkte (crossroads), an denen unterschiedlichste Identifikationen gebildet und verschoben werden, ein Revidieren jener Logik des ausgeschlossenen Widerspruchs erzwingen, nach der die eine Identifizierung immer nur auf Kosten einer anderen erkauft wird.« (KvG 168)
Die crossroads sind Knotenpunkte, an denen Linien sich kreuzen. Nach Butler werden an diesen Punkten »Identifikationen gebildet und verschoben«. Das heißt, dass an diesen Punkten die Subjektpositionen zu finden sind, zumal Butler schreibt, dass diese »Identifikationen« nicht auf die Identität des Subjekts zu beziehen seien: »Solche Fragen zu stellen heißt, nach wie vor die Frage nach der ›Identität‹ zu stellen, aber nicht mehr nach der Identität als einer zuvor errichteten Position 184
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oder einer einheitlichen Entität, sondern als Teil einer dynamischen Landkarte der Macht, in der Identitäten gebildet und/oder ausgelöscht, eingesetzt und/ oder lahmgelegt werden.« (Ebd. 168)
Die Metapher der »dynamischen Landkarte« bezieht sich auf die Ebene des Diskurses, d.h. auf die Ebene, auf der die Ausschließungsprozeduren stattfinden. Auf dieser Landkarte sind sozusagen die Straßen eingezeichnet, und an den Punkten, an denen diese sich kreuzen, sind die Positionen zu finden, die die Subjekte einnehmen müssen, um Intelligibilität beanspruchen zu können. Werden Positionen eingenommen, die nicht im Schnittpunkt der Linien liegen, können keine Identitäten gebildet werden, denn diese Positionen werden als unmöglich abgewiesen, »ausgelöscht«.
Exkurs: Maihofers »Gebäude-Subjekt« An dieser Stelle möchte ich auf den Ansatz von Andrea Maihofer eingehen, denn im Gegensatz zu vielen anderen rechnet sie Foucaults Ansatz nicht dem Konstruktivismus zu3 und begründet ihre »Präferenz für eine diskurstheoretische gegenüber einer konstruktivistischen bzw. dekonstruktivistischen Perspektive« ausführlich (vgl. 1994: 237). Allerdings betrachtet auch sie das Subjekt als »Kreuzungspunkt«. Dies ist genauer zu betrachten. Sie kritisiert konstruktivistische Ansätze, insbesondere die Rede von der »diskursiven Konstruktion« bei Butler,4 denn darin sei die unterschiedliche »Existenzweise« eines Körpers, einer gesellschaftlichen Institution, eines Textes oder eines Gedankens begrifflich nicht präsent. Das führe dazu, dass die historisch entstandene, gelebte »existentielle bzw. materielle Realität« des Geschlechts sowie des Geschlechtskörpers gleichsam idealistisch verschluckt und Geschlecht/ Geschlechtlichkeit insgesamt zu einem diskursiv produzierten Effekt, zu einem bloß ideologischen Bewusstseinsphänomen werde (vgl. 1995: 52). Auf diese Weise würden Geschlecht und Körper zu »einer bloßen Fiktion oder Illusion« (ebd. 76). Um weder auf die »materialistische Sei3
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Gleichzeitig bezeichnet sie aber Butlers Ansatz als »dekonstruktivistisch«. Sie ist also nicht der Meinung, dass Butler den Foucaultschen Ansatz aufnimmt. Außerdem habe ich oben bereits die Vermutung geäußert, dass sie mit einem Praxisbegriff operiert, der eher an Bourdieus Habitus-Konzept als an Butlers Konzept der Performativität orientiert ist (vgl. Kap. Grundannahmen). Butler habe in Gender Trouble einige frühere Überlegungen weiterentwickelt, und zwar »in einer diskurstheoretischen bzw. semiologischen Perspektive […] oder genauer: in einer eigentümlichen Mischung von beidem.« (1995: 45) 185
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te zu rutschen« (ebd. 76) noch auf die »idealistische«, die keine materielle körperliche Realität mehr anerkenne, schlägt sie vor, Geschlecht als »hegemonialen Diskurs« und als »gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise« zu begreifen (ebd. 80). Dazu knüpft sie an Foucault an. Er habe gezeigt, dass das moderne Subjekt sich durch bestimmte soziale Praktiken wie die Praxis des Geständnisses entwickelt habe. In diesem Vorgang sei der Körper zu einem »Körper mit einem Innenraum« geschaffen worden: »Die Seele spaltet den Körper. Es entsteht das, was dann Innerlichkeit genannt wird bzw. umgekehrt äußere Körpergrenzen. Aus diesem Grunde auch dreht Foucault das christlich-theologische Bild vom Körper als Gefängnis der Seele um: die Seele hat den Körper gefangen.« (Ebd. 50) An dieser Stelle kritisiert sie, Butler gehe zu weit über Foucault hinaus, denn bei ihr verflüchtige sich der Körper »zu etwas Immateriellem, Intelligiblem, Fiktivem« (ebd. 50). Ihr ist insofern zuzustimmen, als Butler, wenn sie vom Körper als einer »phantasmatischen Konstruktion« (GT 214) spricht, allzu leicht missverstanden werden kann (vgl. oben). Doch an der Reihe »Immaterielles, Intelligibles, Fiktives« zeigt sich, dass Maihofer Butler missversteht: Der Begriff »Intelligibilität«, der im Wortsinne »Verstehbarkeit« bedeutet, ist hier fehl am Platz, denn er bezeichnet nicht etwas »Immaterielles« oder »Fiktives«. Bei Butler ist er auf die Unterscheidungen zwischen »menschlich vs. unmenschlich vs. menschlich undenkbar« bezogen ist (vgl. oben). Es ist also ein zentraler Begriff für den Ausschließungsgedanken, denn nur wenn jemand als »verstehbar« gilt, kann er als Subjekt sprechen. Über das Kriterium der »Verstehbarkeit« funktionieren die Ein- und Ausschließungsprozesse. Auch an anderer Stelle zeigt sich im Zusammenhang mit der Kreuzungsmetapher, dass Maihofer nicht nur Butlers, sondern auch Foucaults Ansatz missversteht bzw. umdeutet, und zwar dort, wo sie ihre Kritik an der »konstruktivistischen Perspektive« in der »Metaphorik« des Bauens formuliert: »Damit ist eine Metaphorik gewählt, als ob es lediglich um den Bau und die Wahrnehmung einer Fassade ginge, nicht um das Gebäude selbst. […] Aus Sorge, in einen Geschlechteressentialismus oder eine Geschlechterontologie zu verfallen, wird Geschlecht in Darstellungen und Wahrnehmungen aufgelöst, wird die Rede über das Gebäude durch die über die Fassade ersetzt. Eine ›Frau‹ oder ein ›Mann‹ zu sein, bleibt auf diese Weise den Individuen letztlich äußerlich. […] Doch geschlechtliche Individuen sind, um in dieser Metaphorik zu bleiben, das Gebäude selbst (einschließlich der Fassade); das heißt, sie ›haben‹ eine historisch entstandene ›körperliche und seelische Realität und Materialität‹.« (1995: 83)
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Möglicherweise ist Maihofers Beschreibung des Individuums als »Gebäude« ein Zugeständnis an (sozial-)konstruktivistische Metaphern. Diese lassen sich nicht immer vermeiden, und auch bei Foucault und Butler sind sehr viele bildhafte Ausdrücke zu finden. Aber die Metaphern des diskurstheoretischen Ansatzes bezeichnen keine dreidimensionalen Räume, sondern eindimensionale Linien bzw. zweidimensionale Flächen. Sie (be-)zeichnen keine gestalthaften Körper, sondern graphische Strukturen. Indem Maihofer aber von einem »Gebäude-Subjekt« ausgeht, muss sie das Verhältnis von Subjekt und Diskurs sozusagen umgekehrt zu Butler und Foucault formulieren: Das Subjekt ist in ihrem Ansatz gewissermaßen ein Raum, durch den Diskurse – wie Straßen – hindurch ziehen. Dies wird besonders deutlich, wenn sie auf das Beispiel einer türkischen Migrantin in Deutschland hinweist, denn dort schreibt sie, die Diskurse seien in einem konkreten Individuum »ineinander verflochten«: »So mag für eine in Deutschland geborene junge Frau türkischer Nationalität der hierzulande hegemoniale Geschlechterdiskurs für die Konstituierung ihres ›Frau‹seins kaum, der in der Türkei hegemoniale hingegen fast ungebrochen relevant sein; es kann aber auch das Umgekehrte der Fall sein oder ein kompliziertes wechselseitiges Modifikationsverhältnis bestehen. Zudem kann dies in verschiedenen Bereichen ihres Lebens, zu Hause oder in der Schule, unterschiedlich sein. Ebenso ist es möglich, dass sie zwar hinsichtlich ihres Glaubens sehr traditionell orientiert ist, nicht hingegen, was ihr ›Frausein‹ anbetrifft und so fort. Es gilt, jeweils genau zu analysieren, wie in einem konkreten Individuum die verschiedenen gesellschaftlichen Diskurse ineinander verflochten sind und welchen Grad von Verallgemeinerbarkeit dies besitzt.« (Ebd. 107, Hervorh. U.M.)
Maihofer hat also auch die Situation von MigrantInnen, die bei Foucault und Butler außer Acht gelassen wird, im Auge. Wenn sie dabei aber vom Sich-Überlagern und Sich-Kreuzen verschiedener Diskurse im Subjekt ausgeht, so lässt sich dies kaum mit Foucaults Ansatz vereinbaren, zumal sie dabei auch von »Menschen an sich« und von »unverwechselbaren konkreten einzelnen« spricht: »Allerdings gehen die Individuen in ihrer Existenz als ›männliche‹ oder ›weibliche‹ Individuen nicht auf. Sie sind immer auch und zugleich ›Menschen an sich‹ sowie Angehörige einer spezifischen Klasse, Kultur oder ›Rasse‹ (ebenfalls historisch spezifische gesellschaftlich-kulturelle Existenzweisen). Und nicht zuletzt sind sie immer unverwechselbare konkrete einzelne.« (Ebd. 105)
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Sie merkt zwar an, dass das Verhältnis zwischen individueller Einzigartigkeit und dem hegemonialen Diskurs noch weiter auszuarbeiten sei, aber sie unterstreicht den Gedanken, dass sich »Geschlecht« »in der Ausübung von verschiedenen ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Denk-, Gefühls- und Körperpraxen« konstituiere und reproduziere (vgl. ebd. 107). Folglich sieht sie die Möglichkeit der Veränderung »in der jeweils individuellen Einzigartigkeit, die einen je eigenen, mal konformistischen, mal mehr, mal weniger kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten und eine je individuelle Transformation geschlechtlicher Existenzweisen erlaubt.« (Ebd. 108) Auf den ersten Blick lässt sich hier eine Ähnlichkeit zu Butlers Konzept der subversiven Wiederholung erkennen (vgl. unten). Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass sie am traditionellen Subjektbegriff festhält, wenn sie von der »individuellen Einzigartigkeit« spricht. Das heißt: Auch wenn sie den Subjektbegriff Foucaults ausführlich diskutiert und zur Grundlage ihres Konzepts des »hegemonialen Diskurses der Geschlechterdifferenz« wählt – und obwohl sie ausführlich auf Foucaults Arbeiten zu Sexualität und Wahrheit Bezug nimmt und darauf hinweist, dass Foucault einen bestimmten Subjekttypus beschreibt – übersieht sie offensichtlich, dass er sich hierzu einer bestimmten Methode bedient. Dies lässt sich deutlich an ihrer Definition des Diskursbegriffs ablesen: »Im Anschluss an Foucault verstehe ich Diskurs als Denk-, Gefühls- und Handlungsweisen, Körperpraxen, Wissen(schafts)formen, Institutionen, Machtund Herrschaftsverhältnisse, Naturverhältnisse, Kunst, Architektur, innere Struktur von Räumen etc.« (Ebd. 80)
Dann fügt sie hinzu: »Meist sind Diskurse eine Kombination von alldem.« (Ebd.) Sie arbeitet also mit einem recht ungeklärten DiskursBegriff.
»Erzählende« Diskurse im Subjekt? Um Anhaltspunkte dafür zu finden, ob und wie die Diskursanalyse im Sinne Foucaults und Butlers auf Interviewtexte anzuwenden ist, ist auf Gesa Lindemanns Aufsatz Die Konstruktion der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Konstruktion (1994) einzugehen, denn sie beschreibt dort, wie verschiedene Ansätze auf einen Interview-Text anzuwenden sind.5 Zunächst zu ihrem Anliegen: 5
Nur selten macht sich ein Forscher/eine Forscherin die Mühe, die unterschiedlichen Perspektiven der Ansätze in ihrer Wirkung auf die Analyse eines konkreten Textes aufzuzeigen.
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Lindemann will die »konstruktivistischen« Ansätze von Goffmann, Garfinkel und Butler »enger miteinander ins Gespräch bringen« (1994: 115)6 und prüfen, was sie jeweils leisten. Dazu stellt sie an die »Interpretationen«(!) zwei »Leitfragen«: »Wie ist das Verhältnis der Konstruierenden zum Konstruktionsprozeß?« und »Wie werden Konstruktionen als etwas unhintergehbar Wirkliches erfahren?« (Ebd. 116) Es ist zu vermuten, dass sie bei diesen Fragen zu einer kritischen Bewertung der »konstruktivistischen« Ansätze gelangt. Das Ergebnis sei deshalb vorweg genannt: Alle drei Ansätze könnten das Problem »der unhintergehbaren Wirklichkeit der Geschlechterbinarität nicht lösen« (vgl. ebd. 133). Nur mit Plessner, also mit dem phänomenologischen Ansatz, sei es möglich, den Gedanken, dass der Konstruktionsprozess ein leiblicher sei, hinein zu nehmen. Letztlich hält sie also alle drei Ansätze nicht für angemessen zu zeigen, dass Konstruktionen als etwas Reales und Unausweichliches erfahren werden. Dies überrascht nicht, denn die von ihr formulierten Fragen nach der »unhintergehbaren Wirklichkeit« »passen« nicht zum Ziel des diskurstheoretischen Ansatzes, die Ausschließungsprozeduren zu analysieren, d.h. die Grenzen der Erfahrung, die das Subjekt überhaupt machen kann, zu beschreiben. Sie gehen aber auch am Bemühen der sozialkonstruktivistischen Ansätze, nämlich zu zeigen, wie der Anschein der Natürlichkeit entsteht, warum also für das Subjekt das, was es erfährt, real ist, vorbei. Die Wirklichkeitserfahrungen der Subjekte lassen sich nicht als Argument gegen die konstruktivistischen Ansätze anführen, denn gerade diese wollen sie erklären. Für Lindemann aber ist die Annahme, dass das Individuum, weil es einen Leibkörper habe, die Wirklichkeit leiblich, authentisch erfahre, schließlich geschehe in diesem raumhaften Körper, in diesem Ich in Raum und Zeit etwas, unverzichtbar: Eine Person sei stets »eine räumlich gespürte Ausdehnung« (ebd. 136), sie erfahre sich »hier-jetzt als etwas Raumhaftes und Begrenztes« (ebd. 137). Trotz dieser Kritik an ihrer zirkulären Argumentationsweise ist es hilfreich, genauer zu betrachten, wie sie Butlers Ansatz auf eine konkrete Textpassage anwendet, zumal sie m.W. die einzige Forscherin ist, die bisher versucht hat, einen Interviewtext nach ihrer Methode zu analysieren.7
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Wenn sie Goffmann, Garfinkel und Butler als Vertreter der unterschiedlichen »konstruktivistischen« Ansätze betrachtet, ist zu erkennen, dass auch sie Butler dem Konstruktivismus zurechnet. Zwar ist es verwunderlich, dass sie darin kein Problem sieht, aber es ist ihr anzurechnen, dass sie schon sehr früh, kurz nachdem Gender Trouble auf Deutsch erschienen war und Butlers Thesen gerade Verwirrung in den Gender Studies ausgelöst hatten, die praktische Umsetzung dieses Ansatzes überhaupt versucht hat. 189
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Lindemann beginnt den Abschnitt, in dem sie (unter der Überschrift »Butlers unendliche Geschichte«) Butlers Methode in der Anwendung zeigt, folgendermaßen: »Sie [Butler, U.M.] versteht das Subjekt als einen Kreuzpunkt von Diskursen, die die je spezifische subjektive Erfahrungsposition konstituieren. Als Kreuzpunkt ist das Subjekt aber auch ›die stets vorhandene Möglichkeit eines bestimmten Prozesses der Umdeutung‹ (Butler 1993: 45).« (1994: 128) Sie zeigt auf, dass für Butler die Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten des Subjekts durch den Diskurs konstituiert werden und dass nach Butler das Subjekt nichts Neues erfinden, sondern nur »umdeuten« kann. (In meiner »dichotomen Tabelle« erscheint dies als »Verschieben«.) Das heißt, sie weist darauf hin, dass das Subjekt nicht als Urheber, »Stifter« zu betrachten ist. Aber sie schreibt stattdessen dem Diskurs bzw. den Diskursen kreative Fähigkeiten zu. Dies gilt es genauer zu zeigen. Lindemann erklärt, Butler betrachte die Subjekte vor allem als sprachlich Handelnde, die, in dem sie sprechen, einen Sinn hervorbringen, sodass sie die Erfahrungen machen, die sie beschreiben (vgl. ebd. 129). Dann zeigt sie auf, dass nicht von der Aktivität des Subjekts auszugehen sei: »Es gibt nur noch die Erzählung eines Ereignisses, in der dessen Sinn hergestellt wird. Es geht also darum, wie Karin im Prozess des Erzählens als eine Frau erzeugt wird, die die Erfahrungen gemacht hat, die sie beschreibt. Da Vergangenheit immer nur im Rahmen solcher Umdeutungsprozesse zugänglich ist, ist sie weniger das, was geschehen ist, als das, was – im Modus der Nachträglichkeit – geschehen sein wird. Das Interview erweist sich dabei als Konstruktion einer transsexuellen Entwicklungsperspektive: Karin schildert eine Art Offenbarung, die dazu geführt hat, dass sie jetzt auf eine neuartige und vor allem ›authentischere‹ Weise Frau ist.« (Ebd. 129)
Hier wird deutlich, dass Lindemann das »Interview« – genauer müsste es heißen: die Darstellung der Interviewten – als eine (Geschichte der) Konstruktion betrachtet, diese aber nicht dem Subjekt, sondern dem Diskurs zurechnet. Auch wenn Lindemann schreibt, im Sprechen des Subjekts werde bisweilen auch ein unvorhergesehener, neuer Sinn erzeugt, geht sie nicht davon aus, dass die Erzählerin eine Geschichte konstruiere, vielmehr nimmt sie an, dass der Diskurs bzw. die Diskurse diese erzeugten. Mit anderen Worten: Der Diskurs wird als »Konstrukteur« bzw. die Diskurse werden als »Konstrukteure« betrachtet: »Der Konstruktionsprozess ist in diesem Sinne ein Zusammentreffen diskursiv hergestellter Positionen, die – gemäß Butler – durch eine fortlaufende Rekombination zitiert und umgedeutet werden. Wobei die Umdeutung keine Leistung 190
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des Subjekts, auch nicht eines hinzutretenden subjektiven Moments wäre, sondern ein Resultat des spezifischen Aufeinanderbezogenseins der involvierten Elemente.« (Ebd. 131)
Noch deutlicher wird dies in ihrer überspitzten Formulierung: »Überspitzt könnte man sagen: Die Diskurse erzählen sich unendliche Geschichten von einem geschlechtlichen Subjekt, das glaubt, es wäre deren Urheber.« (Ebd.) M.E. ist ein Interviewtext nach Butler nicht als eine »Erzählung«, die von einem Diskurs oder mehreren Diskursen gegeben wird, zu betrachten. In der Analyse, die sie vorschlägt, ist nicht darauf zu verzichten anzunehmen, dass da ein Subjekt spricht, eine Darstellung gibt. Es ist also nicht angemessen, wenn Lindemann meint, in Butlers »Interpretation« des Interviewtextes würden Diskurse anstelle des Subjekts sprechen. Dies ist der wichtigste Kritikpunkt an Lindemanns Ausführungen zur Textanalyse nach Butler. Ein weiterer ist, dass Lindemann nicht zwischen Ereignis und Darstellung unterscheidet und deshalb eine (problematische) »Entwicklungsperspektive« aus dem Interviewtext herausliest. Die Textpassage, an der sie diese aufzeigt, handelt von einer unheimlichen Begegnung K.s mit drei Männern im Park. Dazu schreibt Lindemann, diese Begegnung habe ihr ein tieferes Wissen über das Frausein vermittelt. Die tiefere Wahrheit der Parkbegehungsregel sei schließlich zu einer »unbezweifelbaren Objektivität« (ebd. 130) geworden, »etwas, das außerhalb von Karin« liege und von ihr nicht manipuliert werden könne, das sie hinnehmen müsse: »Es steht nicht mehr in Karins freiem Willen, was sie tun oder lassen kann, sondern das neue weibliche Verhalten hat eine Macht über sie, der sie sich unterwerfen muss.« (Ebd. 131) Hier nimmt sie Bezug auf die für Butler und Foucault so wichtige Analyse der Macht. Dabei geht sie aber davon aus, dass die »Parkbegehungsregel« zunehmend Macht über Karin gewonnen habe. Sie analysiert also nicht die Macht des Diskurses, die das Subjekt als »Effekt« hervorbringt, sondern sie geht davon aus, dass der Text zeige, wie die Diskurse sich allmählich des Subjekts bemächtigen. Außerdem kann Lindemann nicht mehr überzeugend erklären, dass K. schließlich darstellt, sie sei doch durch den Park gegangen. Betrachten wir dazu die Textpassage genauer. Zunächst beendet K. ihre Darstellung der Begegnung im Park folgendermaßen: »Und
das war eben, seitdem das mit diesen drei Typen passiert ist, also ist ja eigentlich nix passiert, aber irgendwie doch, also es ist jetzt so, dass ich das, ich meine diesen Park, also da durchzugehen, dass ich das nicht mehr mache, geht irgendwie nicht mehr.« (Lindemann 1994: 117)
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Wenn K. hier sagt »geht irgendwie nicht mehr«, entsteht ein Widerspruch zu ihrer Darstellung eines dritten Ereignisses, die am Ende der von Lindemann gebotenen Textpassage steht: »Einmal, da hatte ich es total eilig, weil ich in der B. (Name der Kneipe) verabredet war und spät dran war – bin ich nicht um den Park drumrum, sondern durchgegangen. Ich bin sowieso etwas schneller gegangen, weil ich es eilig hatte, aber dann im Park, ich bin immer schneller, fast gerannt, weil ich einfach Schiß hatte.« (Ebd.)
Lindemann löst diesen Widerspruch dadurch, dass sie schreibt, »das neue Wissen über das Bedrohtsein von Frauen« sei inzwischen derart tief in ihr verankert, dass »ihr Körper selbständig zu reagieren« beginne, wenn sie sich anders verhalte. Dadurch entstehe am Ende des Interviewausschnitts »eine authentisch besetzte weibliche Subjektposition« (ebd. 131). M.E. ist die Subjektposition bei Butler und Foucault nicht dynamisch zu verstehen: Weder entsteht sie im Laufe einer Erfahrung, noch im Laufe einer Darstellung, vielmehr ist sie »da«, bevor jemand spricht. Damit ist angedeutet, dass ich es für möglich halte, Butlers Ansatz auf einen konkreten Interviewtext anzuwenden, und erste Anhaltspunkte dafür gefunden habe, wie eine Darstellung diskursanalytisch zu betrachten ist: K. versucht in ihrer Darstellung, sich in die Matrix der Intelligibilität einzuordnen und Geltung als »Frau« zu beanspruchen. In diesem Sinne handelt die Textpassage vom Bemühen bzw. der Schwierigkeit Karins, als intelligibles Subjekt, als Jemand zu gelten. Dass ihr dies gelingt, erscheint fraglich. Jedenfalls ist Lindemanns Begriff der Authentizität hier fehl am Platz. Es ist zwar noch nicht geklärt, wie Butlers Methode im Einzelnen auf einen Text anzuwenden ist, aber es zeigt sich deutlich, dass das Subjekt nicht als »Kreuzpunkt« unterschiedlicher diskursiver Strukturen, die es durchkreuzen (und sich dabei gegenseitig Geschichten erzählen), zu betrachten ist. Während Lindemann, wenn auch auf andere Weise als Keller und Maihofer, Diskurse als Linien versteht, die durch ein räumlich ausgedehntes Subjekt hindurchgehen, halte ich es für notwendig, auf jeden Fall auf die Annahme eines »Gebäude«-Subjekts zu verzichten. Um die Handlungsmöglichkeit des Subjekts zu untersuchen, ist von der Notwendigkeit auszugehen, dass es im Diskurs spricht und eine Position nimmt, die im Diskurs vorgegeben ist, und andernfalls von Ausschließung bedroht ist.
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Wiederholen als »Effekt« des Befehls bei Butler Um diese Lesart abzusichern, sind noch einmal Butlers Schriften genauer zu betrachten. Zwar wird die Aussicht, in diesen Anleitung für das methodische Vorgehen zu finden, von vielen skeptisch beurteilt,8 doch dort müssten mehr oder weniger verborgene Hinweise zu finden sein, denn jede Theorie enthält eine Modellannahme, und im Modell liegt zugleich der Schüssel für das Vorgehen bei der Analyse. Für das diskurstheoretische Modell Butlers (bzw. Foucaults) gibt es inzwischen drei wichtige Anhaltspunkte: die Annahme eines Diskurses als Feld, einer Matrix der Intelligibilität als Raster und einer Subjektposition am Kreuzpunkt der Linien im Feld. Nun ist vor allem zu klären, wie der »Ausschluss«, der sozusagen an die Stelle der Konstruktion in sozialkonstruktivistischen Ansätzen tritt, vorzustellen ist. Im Sinne der »dichotomen Tabelle« geht es also um die Klärung der Begriffe »Wiederholen«, »Zitieren« und »Verschieben« anstelle des »Konstruierens«. Über die Klärung dieser Begriffe Butlers müsste Aufschluss über die Methode der Diskursanalyse zu gewinnen sein.9 In der Einleitung zu Gender Trouble schreibt Butler, es sei ihr Anliegen, »den Vorgang der diskursiven Produktion« von sex und gender aufzuzeigen und »jene Machtverhältnisse« aufzudecken, die den »Effekt« eines vordiskursiven Geschlechts (sex) hervorbringen (vgl. GT 24). Diese Produktion sei zu analysieren, um die Möglichkeiten für das »Eingreifen«, für die Intervention in diese Verfahren zu erkunden. Am Ende von Gender Trouble schreibt sie, es gehe um die kritische Aufgabe, »Strategien der subversiven Wiederholung auszumachen« (ebd.
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Hirschauer z.B. schreibt, ihre methodologischen Ausführungen blieben »dunkel und tautologisch« und seien nur wenig hilfreich für eine Umsetzung in ein empirisches Forschungsdesign (vgl. 1995: 73). Im Übrigen macht Rainer Diaz-Bone in seiner 2003 erschienenen Sammelbesprechung deutlich, dass es bislang nicht gelungen sei, aus der Diskurstheorie Foucaults eine ausgearbeitete Methodologie zu entwickeln und »die Grounded Theory bislang die am weitesten mit der Diskursanalyse vermittelte Methodologie« sei (2003). Butlers Modell ist insofern schwierig zu erkennen, als sie, ähnlich wie Foucault, zwar ausführlich darstellt, wie die Analyse nicht vorzunehmen ist – sie beschreibt bzw. kritisiert z.B. ausführlich die Verengungen, Verkürzungen, Naturalisierungen im feministischen Diskurs – ihr eigener Ansatz wird dadurch aber eher verdeckt. So ist z.B. in Gender Trouble der Text insgesamt so strukturiert ist, dass der größte Teil aus Kritik besteht und nur im letzten Teil ihr Neuansatz deutlich wird. Daher erschien es mir sinnvoll, vom letzten Abschnitt in Gender Trouble, in dem sie die Möglichkeiten zur politischen Veränderung, zum »Eingreifen« beschreibt, auszugehen. 193
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216), denn in die repetitiven Praktiken dieses Bezeichnungsfeldes einzutreten, sei keine Wahl, weil das Ich, das hier angeblich eintrete, immer schon »drinnen« sei. Es gebe keine mögliche Tätigkeit außerhalb der diskursiven Verfahren. Deshalb sei die Frage nicht, ob, sondern wie wiederholen (vgl. ebd. 217). Wie oben bereits erwähnt, schlägt sie eine subversive Wiederholung in der Parodie und Travestie vor. Hier ist zunächst darzustellen, dass dieser Vorschlag wenig hilfreich ist für die Methodik der Analyse, denn sie verlässt hier die diskursive Ebene und bezieht die Performanz nicht auf das Sprechen, sondern auf das Darstellen (auf einer Bühne). Um herauszufinden, warum sie diesen Wechsel der Ebene vornimmt und ob er zwingend ist, ist ihr Vorschlag der parodistischen Wiederholung genauer zu betrachten.
Theatralische performances und die Performanz Butler sieht die Möglichkeit zur Veränderung »in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt« (GT 207), denn durch die »Unstimmigkeit zwischen vorausgesetzter Geschlechtsidentität (gender) und Darstellung, sex und Darstellung (performance)« könne die grundlegende Kontingenz in der Beziehung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) aufgezeigt werden (vgl. ebd. 202). Durch die »parodistischen Stile« würden die Bedeutungen der Geschlechtsidentität in Bewegung gebracht (vgl. ebd. 203). Nun ist aber die »parodistische Wiederholung« keine diskursive, sondern ein körperliche. Statt also die Möglichkeiten in der Veränderung des Sprechens des Subjekts zu suchen, sucht sie sie in der des »leiblichen Stils«. Dies erklärt sich zunächst dadurch, dass sie die Einschreibungen in die Körperoberflächen analysieren und ihnen den Anschein des Natürlichen nehmen will: »Ebenso wie die Körperoberflächen als das Natürliche inszeniert werden, können sie umgekehrt zum Schauplatz einer unstimmigen, entnaturalisierten Performanz werden, die den performativen Status des Natürlichen selbst enthüllt.« (Ebd. 214) Aber überzeugend ist dies nicht, denn anhand ihrer eigenen Aussagen lässt sich aufzeigen, dass für sie Sprache kein »äußerliches Instrument oder Medium« ist (ebd. 211). Außerdem hält sie (wie Haraway) »ein Aufgreifen von Werkzeugen, dort, wo sie liegen« (ebd. 213) für notwendig. Wenn »jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs steht«, und »die Handlungsmöglichkeit in der Möglichkeit anzusiedeln (ist), diese Wiederholung zu variieren«, dann ist damit offensichtlich eine diskursive Wiederholung gemeint. Warum weicht sie dann auf »leibliche« Werkzeuge aus? War194
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um verlässt sie hier die diskursive Ebene? Sie macht mit Monique Wittig die »Performanz der Geschlechtsidentität« als Stelle zum Eingreifen aus, und sucht nun nach bestimmten Formen der Wiederholung, die »wirklich störend bzw. wahrhaftig verstörend wirken« könnten: »Welche Performanz in welchen Kontexten zwingt uns, erneut die Stelle und die Stabilität von Männlichkeit und Weiblichkeit zu betrachten? Und welche Art von Performanz der Geschlechtsidentität entlarvt den performativen Charakter der Geschlechtsidentität selbst und setzt ihn so in Szene, dass die naturalisierten Kategorien der Identität und des Begehrens ins Wanken geraten?« (Ebd. 204)
Sie gibt die Antwort, indem sie folgendermaßen fortfährt: »Wenn der Körper kein ›Seiendes‹ ist, sondern eine variable Begrenzung, eine Oberfläche, deren Durchlässigkeit politisch reguliert ist, eine Bezeichnungspraxis in einem kulturellen Feld der Geschlechter-Hierarchie und der Zwangsheterosexualität – welche Sprache bleibt dann noch, um diese leibliche Inszenierung – die Geschlechtsidentität, die ihre ›innere‹ Bedeutung auf ihrer Oberfläche darstellt – zu verstehen?« (Ebd.)
Ihre Frage (»Welche Sprache bleibt dann noch?«) ist skeptisch formuliert und enthält im Grunde eine negative Antwort: Es bleibe keine Sprache mehr. Und deshalb scheint sie eine Lösung, einen Ausweg nur in der Verschiebung der leiblichen Performanzen zu sehen. An dieser Stelle spricht sie dann vom »leiblichen Stil«: »Betrachten wir also die Geschlechtsidentität beispielsweise als einen leiblichen Stil, gleichsam als einen ›Akt‹, der sowohl intentional als auch performativ ist, wobei der Begriff ›performativ‹ auf eine inszenierte, kontingente Konstruktion der Bedeutung verweist.« (Ebd. 205) Daraus folgert sie weiter, dass, wenn die Geschlechtsidentität nicht als Gegebenes, sondern als »Akt« oder Prozess betrachtet werde, der Glaube »an die Natürlichkeit und Notwendigkeit der Konstruktion« (vgl. ebd. 206) erschüttert und »die zeitliche und kontingente Grundlosigkeit dieses Grundes« aufgezeigt werden könne (vgl. ebd. 207). Hier legt sie Wert auf die Unterscheidung zwischen »Performanz« und »Ausdruck«.10 Beim Begriff »Ausdruck« wer-
10 »Die Unterscheidung zwischen Ausdruck und Performanz ist zentral: Wenn die Attribute und Akte der Geschlechtsidentität, die verschiedenen Formen, in denen ein Körper seine kulturelle Bezeichnung zum Vorschein bringt oder produziert, performativ sind, gibt es keine vorgängig existierende Identität, an der ein Akt oder Attribut gemessen werden könnte. Es gibt dann weder wahre noch falsche, weder wirkliche noch verzerrte Akte 195
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de immer noch von der Annahme einer »wahren« (oder »falschen«) Identität ausgegangen, während »Performanz« auch ohne diesen »Grund« auskomme. Bedauerlich ist nur, dass sie hier nicht mehr darauf eingeht, dass die Performanz nicht zwangsläufig eine leibliche ist, obwohl sie doch aufzeigt, dass Identitäten durch die »diskursiven Produktionsverfahren« erzeugt werden und sie diese analysieren und in diese »eingreifen« will. Diesen Wechsel der Ebene von der diskursiven zur körperlichen Performanz behält sie in Körper von Gewicht bei. Dort zeigt sie ebenfalls am Schluss die Lösung über »darstellerische Realisierung« (performance) an.11 Offensichtlich sieht sie aber inzwischen die Schwachstelle ihrer Argumentation, denn hier fragt sie: »Wie lässt sich also die Trope, vermittels derer der Diskurs als ›performativ realisierend‹ (performing) beschrieben wird, mit dem theatralischen Sinn von darstellerischer Realisierung (performance), für den offenbar der übertriebene Status der geschlechtlichen Normen zentral ist, verbinden?« (KvG 325) Sie sucht also nach einer Verbindung zwischen Diskurs und »darstellerischer Realisierung«. Dabei zeigt sie auf, dass jede/jeder einzelne von »uns« gezwungen sei, derartige »darstellerische Realisierungen« zustande zu bringen: Sie würden nicht gewählt, sondern bestimmt durch den Zwangscharakter dieser Normen, die gleichwohl nicht immer wirksam seien, sondern fortwährend von ihrer eigenen Unwirksamkeit heimgesucht würden. Zwar spricht sie hier von »Normen«, aber dass diese im diskurstheoretischen Sinn als Matrix zu verstehen sind, lässt sich an ihrer Umdeutung des Begriffs »Zeichen« erkennen: Das, was z.B. im drag, also in der »übertriebenen Version« von »Frau«, »darstellerisch realisiert« werde, sei »das Zeichen« der Geschlechtsidentität, und dieses Zeichen sei »nicht dasselbe wie der Körper, den es figuriert«, der jedoch ohne es nicht gelesen werden könne (vgl. ebd.). Dann folgt eine Aussage, die unverständlich erscheint: »Das Zeichen, verstanden als ein Geschlechter-Imperativ – ›Mädchen!‹ – liest sich nicht so sehr wie eine Zuschreibung denn als ein Befehl, und als solcher erzeugt er seine eigenen Widersetzlichkeiten.« (Ebd.) Das »Zeichen« der Geschlechtsidentität soll als »Befehl« verstanden werden? Warum spricht sie hier vom Imperativ oder Befehl? Sie erklärt weder, von wem der Befehl erteilt wird, noch an
der Geschlechtsidentität, und das Postulat einer wahren geschlechtlich bestimmten Identität enthüllt sich als regulierende Fiktion.« (GT 208) 11 Vielleicht hängt es mit der doppelten Bedeutung des Begriffs performance im Englischen, der sowohl »Ausführung« als auch »Vorstellung« meint, zusammen, dass sie so leichtfüßig vom diskurstheoretischen PerformanzBegriff zum theatralischen performance-Begriff wechselt? 196
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wen er gerichtet wird. Dies lässt sich jedoch über ihre spätere Veröffentlichung Haß spricht (1998) klären.
Geschlechtsidentität als Befehl Während Butler in Gender Trouble und Körper von Gewicht – wohl aufgrund ihrer Kritik am naturalen Verständnis des (weiblichen) Körper in den Gender Studies – die Möglichkeit zur Veränderung im leiblichen Handeln, in »darstellerischen Realisierungen« sieht, zeigt sie in Haß spricht auf, dass eine Veränderung auf der diskursiven Ebene notwendig und möglich sei. Hier geht es um die verletzende Rede, die hate speech. Diese sei nicht zu verbieten, weil dann »auch der Zensor gezwungen sei, das Sprechen zu wiederholen, das er verbieten möchte« (Hs 59). Selbst ein Verbot würde also der weiteren Zirkulation der hate speech eher dienen als sie verhindern. So wie sie in Gender Trouble und in Körper von Gewicht aufgezeigt hat, dass die Handlungsmöglichkeit nur in der Wiederholung gegeben sei, macht sie hier deutlich, dass die von hate speech Betroffenen nicht umhin könnten, die verletzende Rede zu wiederholen: Die Wiederholung sei zwar ein ärgerliches, jedoch viel versprechendes Instrument (vgl. ebd. 60). Nun hat sich ihre Perspektive auf die Wiederholung insofern verändert, als sie nun untersucht, wie der Sprechakt der hate speech als weniger effektiv und zugleich offener für eine Erneuerung und Subversion zu denken sei: »Ist also eine Wiederholung denkbar, die den Sprechakt von den ihn stützenden Konventionen ablösen kann und damit seine verletzende Wirksamkeit eher in Verwirrung bringt als konsolidiert?« (Ebd. 35) Auch hier weist sie auf den »Zitatcharakter« des Sprechens und die zweifelhafte Annahme einer »Autonomie im Sprechen« hin: »Autonomie im Sprechen ist, soweit sie existiert, durch eine radikale und ursprüngliche Abhängigkeit von der Sprache bedingt, deren Geschichtlichkeit die Geschichte des sprechenden Subjekts in alle Richtungen übersteigt.« (Ebd. 47) Allerdings unterscheidet sie nun zwischen performativen Sprechakten und Darstellungen (performances). Diese seien nicht gleichzusetzen, denn wenn z.B. jemand offen seine Homosexualität erkläre, sei der performative Akt die Erklärung, nicht die Homosexualität (vgl. ebd. 38).12 Außerdem schränkt sie nun die Bedeutung der »performativen Äußerung« ein: Es seien solche Handlungen, die eine bestimmte Kette von Effekten auslösen. »Sprachlich Handeln bedeutet nicht zwangsläufig, auch Effekte hervor12 Außerdem führt sie als Beispiel an, dass durch die »Repräsentation/Darstellung« von Sexualpraktiken in der AIDS-Aufklärung weder AIDS verbreitet, noch zu irgendeiner Art von Sexualität aufgerufen werde (vgl. Hs 39). 197
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zurufen, und in diesem Sinne ist ein Sprechakt nicht immer ein effektiver Akt.« (Ebd. 31) Es ist nicht unwichtig, dass sie »performativ« nun im Sinne von »folgenreich« verwendet, wie an folgender Aussage zu erkennen ist: »Die performative Äußerung ist nicht nur eine rituelle Praxis; sie ist eines der einflussreichsten Rituale, mit denen Subjekte gebildet und reformuliert werden.« (Ebd. 26) Butler bezieht sich hier auf Austins Theorie des Sprechakts,13 »performativ« ist also nicht als Adjektiv zu dem für den diskurstheoretischen Ansatz so wichtigen Performanzbegriff zu verstehen, es sind hier vielmehr Äußerungen gemeint, die das bewirken, was sie sagen (wie z.B. »Ich taufe dich«). Es sind also nicht alle sprachlichen Äußerungen gemeint, sondern nur diejenigen, die im Rahmen einer rituellen Handlung geäußert werden. Butler folgert nun, dass die Benennung eine der effektivsten performativen Äußerungen sei. Aus der Perspektive der von der hate speech Betroffenen schreibt sie: »In den fortwährenden Anrufungen des gesellschaftlichen Lebens wiederholt sich eine grundlegende Unterordnung und damit die Szene der Handlungsmacht. Ich habe einen bestimmten Namen erhalten, und weil ich einen Namen erhalten habe, bin ich in das sprachliche Leben eingeführt worden: Das heißt, ich beziehe mich durch die Sprache, die andere mir gegeben haben, auf mich selbst – wenn auch nie genau in denselben Begriffen, die meine Sprache nur nachahmt. Die Bezeichnungen, die man uns beilegt, decken sich selten mit denen, die wir selbst wählen. Doch diese Bezeichnungen, die wir nie wirklich wählen, machen das möglich, was wir weiterhin als ›Handlungsmacht‹ bezeichnen können, nämlich die Wiederholung der ursprünglichen Unterordnung zu anderen Zwecken, deren Zukunft zum Teil noch offen ist.« (Ebd. 61)
Hier geht Butler auf die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten aufgrund einer Bezeichnung, die dem Subjekt von Anderen gegeben wird, auf das Unterworfen-Sein des Subjekts unter den Diskurs ein.
13 Butler versucht, »eine Brücke zwischen Austins und Althussers Theorien zu schlagen«. (Hs 43) Da nach Althusser der Sprechakt dem Subjekt vorausgehe, die »Anrufung« das Subjekt erzeuge (ebd. 41) und auch nach Austin das Subjekt »niemals völlig einzigartig«, sondern »in gewissem Sinne hier eine überlieferte Reihe von Stimmen, ein Echo von anderen, in Gestalt des ›Ich‹« spreche (ebd. 43), hält sie dies für möglich. Indem sie später aufzeigt, dass auch bei Foucault die Existenz, das Leben des Subjekts abhängig sei von der Sprache, dass »das sprechende Subjekt durch die Sprache, die er oder sie spricht, konstituiert« werde und die Sprache die Bedingung seiner oder ihrer Möglichkeit der Existenz und nicht bloß sein oder ihr Ausdrucksinstrument sei (ebd. 46), kehrt sie zu dem für die diskurstheoretische Analyse wichtigen Performanzbegriff zurück. 198
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Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass in der Wiederholung die Möglichkeit zur Veränderung bestehe. An dieser Stelle zeigt sich nun eine Lösung für das Problem, wie die Geschlechtsidentität als »Befehl« zu verstehen ist: Wäre es nicht möglich, auch die Zuordnung zur Geschlechtskategorie, also z.B. die Bezeichnung »Frau«, als Namen zu betrachten? Verhält es sich bei diesem »Namen« nicht ähnlich wie bei den diskriminierenden »Namen« der hate speech? Ist dies nicht auch eine Bezeichnung, die ich selbst nie wirklich gewählt habe, die mir schon gegeben ist, bevor ich sie auf mich beziehe? Bestimmt dieser Name, diese Bezeichnung nicht immer schon meine Handlungsmöglichkeit? Ist meine Handlungsmöglichkeit durch die Bezeichnung »Frau« nicht bereits festgelegt, bevor ich spreche? In diesem Sinne würde sich klären, warum sie in Körper von Gewicht schreibt, die Annahme des Geschlechts sei von Anfang an »unfrei« (vgl. KvG 36). Es ließe sich auch klären, warum das Subjekt nicht Urheber des Diskurses ist: Ich habe keine »souveräne Macht« über das, was ich sage (vgl. Hs 55), weil ich nur das sagen kann, was dieser Name mir zu sagen erlaubt. »Durch den Namen werden die Möglichkeiten des sprachlichen Lebens ebenso eröffnet wie verworfen.« (Ebd. 64) Dann sind meine Handlungsmöglichkeiten begrenzt durch diesen Befehl, der meine Identität erzeugt. Damit klärt sich, wie Butlers Aussage, die Geschlechtsidentität sei ein »Befehl« oder »Imperativ«, zu verstehen ist: »Mädchen« oder »Frau«, »Junge« oder »Mann«, diese Bezeichnungen sind zugleich Imperative, die die Bedingungen für die Handlungsmöglichkeiten, ja, die Bedingungen für die Existenz des Subjekts festlegen. Ich habe zu sprechen nach dem Imperativ, der meine Identität anleitet.14 Nun eröffnet sich eine neue Perspektive: Wenn Butler schreibt, »dass sich die Handlungsmacht von den Beschränkungen in der Sprache herleitet« (ebd. 65), bedeutet dies nicht nur, dass sie von den begrenzten Handlungsmöglichkeiten ausgeht, es bedeutet auch, dass der Spielraum für das Handeln in der Ausführung dieses Befehls zu suchen ist, denn sie schreibt, wir müssten »die Formen des Sprechens, die sich an der Grenze zum Unsagbaren halten« erkunden, ein »Sagen des Unsagbaren« wagen: »Denkt man an die Welten, die eines Tages denkbar, sagbar und lesbar werden könnten, so zeigt sich, dass sich das Gebiet des sprachlichen Überlebens nur durch ein ›anstößiges Vergehen‹ erweitern lässt, das auch die Er-
14 In einer späteren Veröffentlichung weist Butler selbst darauf hin, dass der Name, der auch als »symbolischer Befehl« zu verstehen sei, auch auf »gesellschaftliche Kategorien« wie »Frau« (!), »Jude«, »Schwarzer«, »Schwuler« oder »Chicana« zu beziehen sei (vgl. PM 91f.). 199
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schließung des Verworfenen und das Sagen des Unsagbaren umfasst.« (Ebd.) Hier wird nicht nur der Weg, den Butler für eine politische Veränderung vorschlägt, sichtbar, es ist auch zu erkennen, dass die Annahme eines Befehls wichtig ist für ihr Modell: Der Befehl reguliert die Identität, das »Sprechen als«. Damit klärt sich auch das Konzept des »Wiederholens«. Der Begriff meint weniger eine Wiederaufnahme von bereits Gesagtem, sondern eher ein unentwegtes Ausführen des Befehls. Anders formuliert: Das, was als Wiederholung erscheint, ist eine Folge dieser unentwegten Ausführungen eines Befehls. Nun zeigt sich, dass das letzte Kapitel in Gender Trouble »Von der Parodie zur Politik« auch in der Weise gelesen werden kann, dass sich die »Strategien der subversiven Wiederholung« auf die diskursive Ebene beziehen lassen, denn dort schreibt sie: »Die kritische Aufgabe besteht eher darin, Strategien der subversiven Wiederholung auszumachen, die durch solche Konstruktionen ermöglicht werden, und die lokalen Möglichkeiten der Intervention zu bestätigen, die sich durch die Teilhabe an jenen Verfahren der Wiederholung eröffnen, die Identität konstituieren und damit die immanente Möglichkeit bieten, ihnen zu widersprechen.« (GT 216)
Außerdem schreibt sie, es gelte, »die Identität als Praxis, und zwar als Bezeichnungspraxis zu verstehen«, und dies bedeute, »die kulturell intelligiblen Subjekte als Effekte eines regelgebundenen Diskurses zu begreifen« (ebd. 212). Die Subjekte sind insofern »Effekte« eines Diskurses, als sie eine »Folgeerscheinung« sind: »Sagt man, dass das Subjekt konstituiert ist, so bedeutet dies einfach, dass das Subjekt eine Folgeerscheinung bestimmter regelgeleiteter Diskurse ist, die die intelligible Anrufung der Identität anleiten. Das Subjekt wird von den Regeln, durch die es erzeugt wird, nicht determiniert, weil die Bezeichnung kein fundierender Akt, sondern eher ein regulierter Wiederholungsprozeß ist, der sich gerade durch die Produktion substantialisierter Effekte verschleiert und zugleich seine Regeln aufzwingt. In bestimmter Hinsicht steht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs; daher ist die ›Handlungsmöglichkeit‹ in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren.« (Ebd. 213, Hervorh. im Original)
Das Subjekt wird hier zwar als »Folgeerscheinung« bezeichnet, dies ist aber nicht, wie in sozialkonstruktivistischen Ansätzen, als Folge in der Zeit, auf der Handlungsebene zu verstehen, sondern mehr oder weniger atemporal. Jedenfalls liegt der »Befehl« nicht auf derselben Ebene wie 200
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die Handlung. Er bewirkt zwar, dass das Sprechen wie ein Wiederholen erscheint, aber er reguliert das Sprechen, bevor jemand spricht. Dadurch klärt sich auch der Zusammenhang zwischen den Befehlen oder Regeln und der Matrix der Intelligibilität: Der Subjektstatus ist nur im Rahmen der Regel zu behaupten. Es gibt nicht unendlich viele Möglichkeiten, als Subjekt zu sprechen, sondern nur bestimmte, denn ein Subjekt »entsteht« gerade »durch die Unterdrückung bestimmter Möglichkeiten des Sprechens« (vgl. SD 130). Es wird insofern durch den Diskurs konstituiert, als es nur dann als intelligibles Subjekt gelten kann, wenn es sich in die Matrix der Intelligibilität einordnet, und das heißt nun, wenn es im Rahmen des durch den Befehl erzeugten Feldes spricht. Wenn Butler schreibt, die Anweisung, eine gegebene Geschlechtsidentität zu sein, vollziehe sich »auf diskursiven Bahnen« (GT 213), weist sie zwar darauf hin, dass durch die Koexistenz oder Überschneidung unterschiedlicher Anweisungen die Möglichkeit einer vielschichtigen Rekonfiguration und Wieder-Einsetzung entstehe, dann aber folgert sie: »Es gibt kein Subjekt, das dieser Überschneidung vorausgeht und vor seinem Eintritt in das von Konflikten geprägte kulturelle Feld seine ›Identität‹ bewahrt. Es gibt nur ein Aufgreifen von Werkzeugen dort, wo sie liegen.« (Ebd.) Das heißt zum einen, dass die Annahme eines Subjekts vor dem Feld – erst recht die Annahme eines räumlich ausgedehnten Subjekts, in dem sich Diskurse kreuzen – nicht möglich ist. Es heißt zum anderen, dass die Überschneidung sich auf die Regeln und nicht auf die Überschneidung von Diskursen bezieht: »Als substantivische Identität zu gelten ist zudem eine mühsame Aufgabe, da diese Erscheinungen durch ein Regelsystem erzeugte Identitäten sind. Das heißt: Sie beruhen auf der ständigen und wiederholten Aufrufung der Regeln, die die kulturell intelligiblen Verfahren der Identität bedingen und einschränken.« (Ebd. 212)
Hier versucht sie, sozusagen komplexe Identitäten – sie nennt die (wenig überzeugenden) Beispiele »eine gute Mutter, ein heterosexuell begehrenswertes Objekt, ein tüchtiger Arbeiter« (ebd. 213) – zu beschreiben. Diese würden an den Schnittpunkten der Regeln gebildet, denn sie folgert, »die Koexistenz oder Überschneidung dieser diskursiven Anweisungen bringe die Möglichkeit einer vielschichtigen Rekonfiguration« hervor (vgl. ebd.). Lässt sich dies auch auf die Regeln verschiedener Diskurse beziehen? Immerhin weist sie an anderer Stelle auf Diskurse im Plural als »geschichtlich spezifische Organisationsformen der Sprache« hin:
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»Als geschichtlich spezifische Organisationsformen der Sprache präsentieren sich die Diskurse im Plural, sofern sie im zeitlichen Rahmen koexistieren und unprädizierbare und ungewollte Überschneidungen instituieren, aus denen spezifische Modalitäten diskursiver Möglichkeiten erzeugt werden.« (Ebd. 212)
Lässt sich dies vielleicht auch auf das Sprechen in mehreren Diskursen, z.B. auf die »komplexe Identität« der türkischen Migrantin in Maihofers Beispiel beziehen? Dies wird später zu klären sein. Hier ist noch darauf hinzuweisen, dass für Butler die Art der Ausführung des Befehls wichtig ist. Am Ende von Körper von Gewicht erwähnt sie eher beiläufig, in Spiegelstrichen eingefügt, Normen seien nicht als gehorsamst zu befolgende Befehle, sondern als Imperative aufzufassen, »die ›zitiert‹, verdreht, vermasselt (queered) und als heterosexuelle Imperative plastisch gemacht werden müssen« (ebd. 326). Diese Stelle ist nicht nur insofern wichtig, als sie hier die Möglichkeit für das »Eingreifen« aufzeigt – die Frage der Subversion werde zu der »Frage des Zunutzemachens der Schwäche in der Norm, zu einer Angelegenheit des Ausfüllens der Praktiken ihrer Reartikulation« (ebd.) – wichtig ist vor allem, dass sie aufzeigt, dass Befehle nicht nur »gehorsamst«, sondern auch mehr oder weniger ungehorsam ausgeführt werden können. Das heißt: Durch die Annahme einer »Distanz« zwischen dem Imperativ und seiner Ausführung ist es ihr möglich anzunehmen, dass es verschiedene Arten der Wiederholungen gibt. Damit ergibt sich auch ein neues Verständnis des »Verschiebens« oder »Eingreifens«: Wenn sie nämlich davon ausgeht, dass die Veränderung nur durch ein »Sagen des Unsagbaren« möglich ist, dann ist impliziert, dass ein Verschieben sozusagen nur bei einer »ungehorsamen« Ausführung des Befehls erreicht werden kann. Ich werde später aufzeigen, dass Butler zwischen korrektgehenden Wiederholungen, die der gehorsamen Ausführung des Befehls entsprechen, und fehlgehenden Wiederholungen, die sozusagen eine ungehorsame oder »lockere« Ausführung des Befehls implizieren, unterscheidet.15 Hier ist zunächst zusammenfassend festzuhalten, dass in Butlers Modell die Annahme eines Befehls oder einer Regel, die das »Sprechen als« anleitet, zentral ist. Um abzusichern, dass das Wiederholen und Verschieben bei Butler sich durch die Annahme eines Befehls erklären lässt, ist nun zu prüfen, ob auch Foucault annimmt, dass Subjekte nach Befehlen sprechen.
15 Dass diese Unterscheidungen wichtig sind für das methodische Vorgehen, habe ich während meiner empirischen Arbeit auf der Suche nach den Regeln des Sprechens herausgefunden (vgl. unten und vgl. MB Kap. 3.3.7.2). 202
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Der Befehl und die Regeln bei Foucault Im ersten Kapitel habe ich aufgezeigt, dass Foucault in seiner Analyse des Begehrenssubjekts davon spricht, dass »wir alle« an den Befehl, den Sex zu erkennen, sein Gesetz und seine Macht an den Tag zu bringen, gebunden seien: »Das Sexualitätsdispositiv hat ›den Sex‹ als begehrenswert konstituiert. Und dieser ›Begehrens-Wert‹ des Sexes bindet jeden von uns an den Befehl, ihn zu erkennen, sein Gesetz und seine Macht an den Tag zu bringen.« (WW 187) Es scheint also, dass Butlers Befehlskonzept nicht ihre eigene Erfindung ist, sondern sie es von Foucault übernimmt. Bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich, dass Foucault von der Errichtung des Imperativs spricht: »Es ist ein Imperativ errichtet worden, der fordert, nicht nur die gesetzeswidrigen Handlungen zu beichten, sondern aus seinem Begehren, aus seinem gesamten Begehren einen Diskurs zu machen. […] Die christliche Seelsorge hat aus der Aufgabe, alles was sich auf den Sex bezieht, durch die endlose Mühle des Wortes zu drehen, eine fundamentale Pflicht gemacht.« (Ebd. 31)
Der Sex sei »zu einer Sache des erschöpfenden Sagens« geworden, es habe eine »Diskursivierung« des Sexes stattgefunden:16 »Ob subtiles Bekenntnis oder autoritäres Verhör, der Sex, raffiniert oder bäurisch, muss gesagt werden. Ein großer polymorpher Imperativ unterwirft gleichermaßen den anonymen Engländer wie den armen lothringischen Bauern, von dem die Geschichte wollte, dass er Jouy hieß.« (Ebd. 46) Wenn Foucault hier von der Errichtung eines polymorphen Imperativs, dem alle in den abendländischen Gesellschaften unterworfen seien, spricht, so bedeutet dies noch nicht, dass er immer und überall das Sprechen als Ausführen von Befehlen betrachtet. Zwar ist in Der Wille zum Wissen zu erkennen, dass er das Wirken der Macht als ein Regelsystem, das dem Subjekt Regeln auferlegt, versteht – »die Macht handelt, indem sie die Regeln ausspricht: […] Die Macht spricht, und das ist die Regel.« (ebd. 104) – , dass er also eine Verbindung zwischen Macht und Regel herstellt, doch da es ihm dabei um die juridische Macht, d.h. um die Macht, die in den Gesetzen stecke, um die »negative Vorstellung der Macht« geht, ist es schwierig, von hier aus zu folgern, dass er grundsätzlich das Sprechen der Subjekte als Sprechen nach Regeln betrachtet. Immerhin ist deutlich zu erkennen, dass er es gerade deshalb für not16 M.E. hat seine These von der »Diskursivierung« des Sexes zu Missverständnissen geführt, denn in dieser verwendet er einen Diskursbegriff, der »Rede« oder Versprachlichung meint und nicht »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören« (AW 156). 203
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wendig hält, eine »andere Theorie der Macht zu entwickeln« und »den Sex ohne das Gesetz und die Macht ohne den König zu denken« (vgl. ebd. 113). Allgemeiner lässt sich feststellen, dass Foucault in seinen drei Bänden zu Sexualität und Wahrheit zwar der Entstehung dieses Imperativs nachgeht, dass aber die Antwort auf die Frage, ob er immer schon davon ausgeht, dass Subjekte nach Befehlen sprechen, letztlich abhängig davon ist, wie sein Spätwerk gelesen wird. Einige behaupten, er habe seine Methode, die er in Ordnung des Diskurses und in Archäologie des Wissens dargelegt habe, selbst nicht angewandt, seine Archäologie sei gescheitert (vgl. Dreyfuss/Rabinow 1994: 105ff.), oder er habe sich später von der Analyse der Macht ab- und der Analyse der Selbsttechniken zugewandt, der »Unterwerfungsgedanke« sei später zunehmend in den Hintergrund getreten. Doch ähnlich wie Bröckling, Krasmann und Lemke gehe ich davon aus, dass Foucaults Interesse für Selbsttechnologien keinen Abschied von der Machtanalytik oder ihre Aufgabe zugunsten der Ethik, sondern eine Erweiterung und Verfeinerung der Untersuchung von Machtmechanismen bedeutet (vgl. 2000: 29). Und mit Schmid bin ich der Meinung, dass Foucault keineswegs die Archäologie aufgibt, sondern dass Archäologie und Genealogie in einem Ergänzungsverhältnis stehen17, zumal er im Rückblick auf sein Lebenswerk schreibt, die Analyse der Macht habe im Dienste der Analyse des Subjekts gestanden: »Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung.« (1994: 243) Diese beiden Richtungen erkenne ich in seinen drei Bänden Sexualität und Wahrheit: Einerseits beschreibt er »archäologisch« die unterschiedliche Akzentuierung in den jeweils untersuchten Zeiträumen, andererseits »genealogisch« die langsame Formierung der Selbsthermeneutik und die Herausbildung des »polymorphen Imperativs«.18 Ganz offensichtlich geht auch Butler nicht davon aus, dass Foucaults Methodologie der Archäologie gescheitert sei, vielmehr nimmt sie gerade seine methodologischen Schriften zum Ausgangspunkt und entwickelt aus diesen eine Lesart, in der seine Ausführungen nicht sozialkonstruktivistisch umgedeutet werden.19 Um aufzuzeigen, dass sie ihr 17 »Archäologie« meint also die (synchrone) Analyse vergangener Diskurse in einer bestimmten Epoche, und die »Genealogie« die (diachrone) Analyse der Abfolge und Verschiebung zeitlich aufeinander folgender Diskurse. 18 Dass sich, wenn er einerseits Kontinuitätsannahmen ablehnt, andererseits selbst die Kontinuität des Imperativs aufzeigt, ein Widerspruch ergibt, habe ich oben aufgezeigt (vgl. Kap. Projektidee). 19 Allerdings weist Butler in einer neueren Veröffentlichung darauf hin, dass Foucault später die Beichte umgedeutet habe (KeG 118). Dies ändert aber 204
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Konzept des Befehls und der Regeln von Foucault übernimmt, möchte ich einige Aussagen Foucaults zum Diskurs, zum Subjekt und zur Subjektposition anführen. Foucault beschreibt die Aufgabe der Archäologie folgendermaßen: »Sie versucht, nicht die Gedanken, die Vorstellungen, die Bilder, die Themen, die Heimsuchungen zu definieren, die sich in den Diskursen verbergen oder manifestieren; sondern jene Diskurse selbst, jene Diskurse als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken.« (AW 198)
Hier wird deutlich, dass Foucault den Regeln eine herausragende Bedeutung gibt, denn wenn er schreibt, Diskurse seien »als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken« zu definieren, impliziert dies die Annahme, dass Diskurse durch Regeln strukturiert sind. Angemerkt sei, dass er hier von Diskursen im Plural spricht. An anderer Stelle spricht er aber von dem Diskurs als »Praxis«: »Der Diskurs [ist] eine komplexe und differenzierte Praxis, die analysierbaren Regeln und Transformationen gehorcht.« (Ebd. 301) Um also einen Diskurs als »eine Menge von Aussagen, die zur selben diskursiven Formation gehören« (ebd. 156) zu analysieren, ist es notwendig, die Formationsregeln herauszufinden, die diese Menge zusammenhalten und die die diskursive Praxis steuern. Die diskursive Formation ist das allgemeine Aussagesystem, dem eine Gruppe sprachlicher Performanzen gehorcht (ebd. 169). Da eine Aussage keine Einheit sprachlichen Typs ist (vgl. ebd. 154), sondern »eine Aussage zu einer diskursiven Formation« gehört »wie ein Satz zu einem Text und eine Proposition zu einer deduktiven Gesamtheit« (ebd. 170), gilt es, diese Regeln, denen die sprachlichen Performanzen gehorchen, herauszufinden. Das Auffinden der Regeln steht also im Mittelpunkt seiner Diskursanalyse.20 Foucault formuliert seine Methode in Abgrenzung von herkömmlichen Analysen, die vom »schöpferischen Subjekt« ausgehen: »Sie [die Archäologie, U.M.] definiert Typen und Regeln von diskursiven Praktiken, die individuelle Werke durchqueren, die mitunter sie völlig bestimmen und sie beherrschen, ohne dass ihnen etwas entgeht, mitunter aber nur nichts an meiner Behauptung, dass sie in der großen Linie bei Foucault keine Veränderung sieht, denn sie zeigt hier auch auf, dass es für Foucault (wie für Adorno) wichtig sei zu zeigen, dass »Normen« nicht nur verhaltensleitend, sondern auch dafür entscheidend seien, »wer und was als menschliches Subjekt gilt« (vgl. ebd. 114) . 20 Auch Dreyfuss und Rabinow betonen dies in ihrem Abschnitt »Von den Möglichkeitsbedingungen zu den Existenzbedingungen«, allerdings bevor sie vom »Scheitern der Archäologie« sprechen (vgl. 1994: 86ff.). 205
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einen Teil davon beherrschen. Die Instanz des schöpferischen Subjekts als raison d’etre eines Werkes und Prinzip seiner Einheit ist ihr fremd.« (Ebd. 199)
Das »Werk« sei nicht Schöpfung eines (genialen) Geistes, Produkt eines schöpferischen Subjekts, es zeige sich darin nicht das Neue eines genialen Geistes, vielmehr sei es als eine von »Typen und Regeln« durchzogene und zugleich präfabrizierte Äußerung zu betrachten. Auch an anderer Stelle bestimmt er das Subjekt umgekehrt zur herkömmlichen Vorstellung: Man dürfe sich das Subjekt der Aussage nicht als mit dem Autor der Formulierung identisch vorstellen »weder substantiell, noch funktional« (ebd. 138), es sei vielmehr als eine »leere Funktion«, als ein »leerer Raum« vorzustellen (vgl. ebd. 130), und »die absolut neutrale, gegenüber der Zeit, dem Raum, den Umständen indifferente Position, die jedes Individuum« einzunehmen habe (vgl. ebd. 137). Es sei eine Position des »man sagt«, aber dieses »man« sei nicht in der Weise zu verstehen, dass da »eine große anonyme Stimme durch die Diskurse eines jeden spräche«, sondern es sei als »das Gebiet, das mit bestimmten Figuren, mit bestimmten Schnittpunkten den besonderen Platz des sprechenden Subjekts anzeigt, das den Namen eines Autors erhalten kann« (vgl. ebd. 178). Das »sprechende Subjekt« ist also das Individuum, das den Platz, der im Diskurs vorgegeben ist, einnimmt (oder auch nicht). An dieser Stelle zeigt sich, dass er zwischen Individuum und Subjekt unterscheidet: Wenn er vom Subjekt spricht, meint er das intelligible Subjekt, das nach der Matrix »verstehbar«, »vernünftig« ist. Durch diese Unterscheidung tritt der Aspekt, dass das Individuum sich und andere nur innerhalb eines bestimmten Wahrheitsregimes anerkennen kann, dass also die Bedingungen seiner Existenz im Diskurs vorgegeben sind, hervor. Dies lässt sich durch einige Aussagen in Ordnung des Diskurses verdeutlichen: »Das unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen: an seinem Horizont steht vielleicht nur das, was an seinem Ausgangspunkt stand – das bloße Rezitieren.« (OD 20)21 Dann folgert er: »Das Neue ist nicht in dem, was gesagt wird, sondern im Ereignis seiner Wiederkehr.« (Ebd.) Hier wird deutlich, dass Foucault das Hervorbringen eines Textes oder einer Aussage nicht als Erfinden, sondern als Wiederholen, »Rezitieren« betrachtet. Wenn er dann Bezug nimmt auf seine Kritiker, die behaupten, dass der Autor doch existiere, dass also doch von der Stifterfunktion
21 Hier erscheinen also die Begriffe »Wiederholen« und »Rezitieren«, die Butler später verwenden wird und die ich in meiner »dichotomen Tabelle« für das Sprechen eingetragen habe. 206
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des Subjekts auszugehen sei,22 deutet er an, dass die Autor-Funktion in gewissem Sinne wie die Subjektposition, nämlich als Platz, den jemand einnimmt, wenn er/sie spricht, bzw. den er/sie einnehmen muss, wenn er/sie als intelligibles Subjekt gelten will, zu verstehen ist: »Es wäre sicherlich absurd, die Existenz des schreibenden und erfindenden Individuums zu leugnen. Aber ich denke, dass das Individuum, das sich daranmacht, einen Text zu schreiben, aus dem vielleicht ein Werk wird, die Funktion des Autors in Anspruch nimmt. Was es schreibt und was es nicht schreibt, was es entwirft, und sei es nur eine flüchtige Skizze, was es an banalen Äußerungen fallen lässt, – dieses ganze differenzierte Spiel ist von der AutorFunktion vorgeschrieben, die es von seiner Epoche übernimmt oder die es seinerseits modifiziert.« (Ebd. 21)
Foucault fügt an dieser Stelle hinzu: »oder die es seinerseits modifiziert«. Damit weist er darauf hin, dass der Autor nicht zwangsläufig in der Autor-Funktion aufgeht, dass er also nicht nur das schreiben bzw. wiederholen kann, was er »von seiner Epoche übernimmt«, sondern dass er das Übernommene zugleich auch verändern kann. So wie er im oben angeführten Zitat anzeigt, dass Typen und Regeln von diskursiven Praktiken, die individuelle Werke durchqueren, diese »mitunter völlig bestimmen und sie beherrschen«, »mitunter aber nur einen Teil davon beherrschen« (AW 199), macht er hier deutlich, dass das Schreiben oder Sprechen nicht immer nur Wiederholen ist, sondern dass im Wiederholen auch ein Modifizieren möglich ist. Diesen Aspekt nimmt Butler später in ihrer Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten der Wiederholung auf: Wiederholen sei nicht immer korrektes Zitieren, bisweilen könne es auch fehlgehen, sich vermasseln. Und insofern sieht sie in der fehlgehenden Wiederholung den Anknüpfungspunkt für Veränderungen, Modifizierungen, Transformationen. Bevor ich aufzeige, wie sich diese für die empirische Analyse wichtigen Begriffe in einem Modell zusammenführen lassen, möchte ich noch darauf hinweisen, dass Foucault auch von »banalen Äußerungen« spricht. Daran ist zu erkennen, dass er nicht nur literarische Werke eines Autors, sondern auch sein alltägliches Sprechen im Auge hat. Dies ist als ein Indiz dafür zu betrachten, dass Foucaults methodologische Ausführungen sich nicht nur auf literarische oder wissenschaftliche Texte, sondern auch auf alltägliche Äußerungen beziehen lassen. Demnach müssten sie auch auf das Sprechen während eines Interviews und damit auf die Analyse von Interviewtexten zu beziehen sein. Allgemeiner lässt 22 Oben im Kapitel »(De-)Konstruktion« habe ich aufgezeigt, dass auch Haraway und Said dieses Argument gegen Foucault ins Feld führen. 207
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sich formulieren, dass Foucault zwar vergangene Diskurse analysiert hat, dass aber seine Methodologie nicht auf die Analyse vergangener Diskurse zu beschränken ist. Wenn Butler also seine Ausführungen auf die Analyse aktueller Diskurse überträgt, erscheint dies zwar prinzipiell möglich, es wird sich aber zeigen, dass sich bei der Analyse aktueller Diskurse einige Probleme ergeben. Hier ist festzuhalten, dass Butler, wenn sie davon ausgeht, dass Subjekte nach Befehlen sprechen, dies von Foucault übernimmt. Sie entwickelt sozusagen kein eigenes Modell, sondern präzisiert das Foucaultsche Diskurs-Modell und wendet es auf die Analyse der Geschlechtsidentität an.
D a s d i s k u r s t h e o r e t i s c h e M o d el l Anhand einer graphischen Darstellung ist Foucaults und Butlers Modell zu veranschaulichen: Regel
Feld des Sagbaren Feld des Unsagbaren
Feld des Ungedachten
In diesem Modell gibt es sozusagen zwei Ebenen: Eine obere Ebene, auf der die Regel liegt, und eine untere Ebene, auf der das Feld bzw. die Felder liegen. Dies erscheint notwendig, um auf die »Distanz« zwischen dem Befehl und seiner Ausführung hinzuweisen. Die Regel ist wie eine Lichtquelle dargestellt, die zwei Felder erzeugt, ein inneres und ein äußeres Feld. Dies gilt es zu erläutern. Im inneren Feld ist die »intelligible Behauptung eines Ich« möglich, wie Butler schreibt. Um dieses Feld herum muss ein weiteres Feld gelagert sein, denn Butler unterscheidet zwischen einer »intelligiblen Behauptung eines Ich«, die durch die Re208
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geln ermöglicht wird, und der Behauptung eines Ich, die »unintelligibel« ist. Wenn die »intelligible Behauptung des Ich« nur in dem Feld, das durch die Regel erzeugt wird, möglich ist, ist auch ein Feld für die unintelligible Behauptung vorzusehen. Es muss angezeigt werden können, dass das Ich sich bei der ungehorsamen, lockeren Ausführung des Befehls nicht in demselben Feld einordnet bzw. eingeordnet wird wie bei der gehorsamen Ausführung. Um die Annahme der zwei Felder zu plausibilisieren, möchte ich eine Passage aus Gender Trouble anführen, in der Butler auf die »marginale kulturelle Möglichkeit«, eine gesellschaftliche Identität zu behaupten, eingeht und dies in Feldmetaphern beschreibt. In Bezug auf die Bisexualität formuliert sie: »Die Bisexualität […] erweist sich in Wirklichkeit als eine Konstruktion innerhalb der Bedingungen dieses konstitutiven Diskurses, als Konstruktion eines ›Außen‹, das nichtsdestoweniger ›innen‹ ist, also nicht als eine Möglichkeit jenseits der Kultur, sondern als konkrete kulturelle Möglichkeit, die als unmöglich abgewiesen und (um)beschrieben wird. Was unter den Bedingungen einer existierenden kulturellen Form ›undenkbar‹ und ›unsagbar‹ bleibt, ist nicht unbedingt dasselbe wie das, was in dieser Kultur von der Matrix der Intelligibilität ausgeschlossen ist. Im Gegenteil: nicht die ausgeschlossene, sondern gerade die marginale kulturelle Möglichkeit ruft Schrecken und zumindest den Verlust der Sanktionierung hervor. Als praktizierende/r Homosexuelle/r keine gesellschaftliche Anerkennung zu finden, bedeutet, eine mögliche gesellschaftliche Identität zu verlieren oder eine zu erhalten, die grundsätzlich sehr viel weniger sanktioniert ist. Das ›Undenkbare‹ gehört also vollständig in die Kultur hinein; vollständig ausgeschlossen ist es hingegen von der herrschenden Kultur.« (GT 121)
Hier macht sie deutlich, dass das Undenkbare und Unsagbare nicht unbedingt dasselbe sei wie das Ausgeschlossene. Dies ist zunächst überraschend.23 Es lässt sich aber klären, wenn man berücksichtigt, dass hier sozusagen von zwei Bereichen des »Undenkbaren« die Rede ist: Sie spricht zum einen von einem Bereich in einer Kultur bzw. in einem Dis-
23 Außerdem überrascht es, dass Butler hier die Matrix der Intelligibilität auf »Kultur« – und nicht auf »Diskurs« – bezieht. Also setzt sie hier »Kultur« an die Stelle von »Diskurs«. Diese Praxis kritisiert sie in Körper von Gewicht bei anderen (KvG 31). Weiterhin fällt auf, dass Butler von »der herrschenden Kultur« spricht, also zwischen »herrschender« und »marginaler Kultur« bzw. zwischen Dominanzkultur und Subkulturen in einer Gesellschaft unterscheidet, ohne weiter auszuführen, wonach diese vorzunehmen ist. 209
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kurs, nämlich einem Außen, dass »nichtsdestoweniger ›innen‹« sei, zum anderen von einem Bereich, der vollständig außen sei. Sie macht also deutlich, dass das Ausgeschlossene insofern Bestandteil des »Innen« ist, als es zwar die konkrete Möglichkeit gibt, für sich den Subjektstatus zu reklamieren, jedoch auf die Gefahr hin, dass dieser Status des Subjekts als unintelligibel bewertet, d.h. abgewertet wird. Also meint die »marginale kulturelle Möglichkeit« das Sprechen auf eine Weise, die zwar noch vage von den Regeln angeleitet ist, die aber vom Ausschluss bedroht, gefährdet ist. Also geht es um einen Grenzbereich zwischen dem Sagbaren und dem vollständig Ausgeschlossenen. Es lässt sich zeigen, dass sie die Unterscheidung zwischen einem »Außen im Innen« und einem absoluten »Außen« von Foucault übernimmt, und zwar an Foucaults Mendel-Beispiel. In Ordnung des Diskurses stellt Foucault die Frage, warum die Biologen des 19. Jahrhundert nicht gesehen hätten, »dass das, was Mendel sagte, wahr ist« (OD 24). Diese beantwortet er damit, »dass Mendel von Gegenständen sprach, dass er Methoden verwendete und sich in einen theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche fremd waren« (ebd.). Er habe zwar die Wahrheit gesagt, aber er habe nicht »›im Wahren‹ des biologischen Diskurses seiner Epoche« gesprochen (vgl. ebd. 25). Allgemeiner formuliert er: »Es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss.« (Ebd.) Er unterscheidet also zwischen dem »wilden Außen«, das dem »Außen des Innen« bei Butler entspricht, und dem Raum, in dem man »im Wahren« ist, dem Feld des »Innen« bei Butler. Dabei macht er deutlich, dass zwischen beiden eine Grenze verläuft, die von einer »diskursiven Polizei« bewacht werde. Durch diese, so schreibt er, werde die »Verknappung der sprechenden Subjekte« geregelt, und er führt weiter aus: »Niemand kann in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht gewissen Erfordernissen genügt, wenn er nicht von vornherein dazu qualifiziert ist.« (Ebd. 26) Dazu sei angemerkt, dass das Eintreten in die »Ordnung des Diskurses« sich zwar auf den Diskurs bezieht, dass mit l’ordre du discours aber auch das Eintreten in das durch die Regel erzeugte Feld, das Feld des Sagbaren, gemeint sein kann, denn der französische Begriff l’ordre bedeutet sowohl »Ordnung« als auch »Befehl«.24 Insofern kann Foucaults Aussage auch in der Weise gelesen werden, dass ein Sprechen im »Raum des wilden Außen«, also eine ungehorsame Ausführung des Befehls im Sinne Butlers, zwar möglich ist, dass aber, da der Sprecher da24 Vgl. dazu Konersmann 1997: 73ff. 210
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bei nicht »im Wahren« ist, er das Unsagbare sagt. Und so wie er nach Foucault damit rechnen muss, von der »diskursiven Polizei« disqualifiziert zu werden, erfährt er nach Butler einen »Schrecken« und den »Verlust der Sanktionierung« (vgl. unten). Aus diesen Aussagen von Foucault und Butler ist zu folgern, dass das Feld des Unsagbaren noch im Bereich des durch die Regel erzeugten Feldes liegt. (Um anzuzeigen, dass es ein Außenbereich ist, ein Feld also, in dem die intelligible Behauptung des Ich nicht möglich ist, habe ich in der Graphik eine gestrichelte Linie gewählt.) Das Feld ist zwar noch durch die Regel begrenzt, aber es ist ein »gefährdetes« Feld. Diesem Feld sind alle Aussagen, bei denen der Imperativ »verdreht« oder »vermasselt« wird, zuzuordnen. Es ist das Feld der verworfenen, abgewiesenen Identitäten, das gleichwohl denkbar ist. Es ist das »Feld des Unsagbaren« insofern, als das Gesagte zwar »verstehbar«, aber (als Aussage eines intelligiblen Subjekts) nicht erlaubt ist. Damit ergibt sich folgende begriffliche Klärung: Das innere Feld ist das Feld des »Wahren«, des Sagbaren, des »Menschlichen«, das »Innen«, das Feld für die gehorsame Ausführung des Befehls. Das äußere Feld ist das Feld des »wilden Außen«, des »Unsagbaren«, des »Unmenschlichen«, das »Außen des Innen«, das Feld für die ungehorsame Ausführung des Befehls. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sowohl Foucault als auch Butler den Begriff »Ausschluss« oder »Ausschließung« in doppelter Bedeutung verwenden. Beide beziehen ihn sowohl auf die Ausschließung aus dem Sagbaren – sie verwenden ihn also für die Grenzziehung zwischen dem Feld des Sagbaren und dem Feld des Unsagbaren – als auch für die absolute Ausschließung, nämlich die Grenzziehung zwischen dem Feld des Unsagbaren und dem Feld des Undenkbaren. Eben deshalb hält Butler es für notwendig darauf hinzuweisen, dass das Undenkbare und Unsagbare nicht vollständig im Außen, sondern im Außen des Innen liege. Da, wie oben dargestellt, Butler eine Matrix der Intelligibilität mit den Feldern des »Menschlichen«, des »Unmenschlichen« und des »menschlich Undenkbaren« annimmt, so ist hier darauf hinzuweisen, dass das dritte Feld in dieser Graphik nur ex negativo zu erkennen ist: Es ist das nach außen hin nicht zu begrenzende offene Feld, weil die Möglichkeiten des Denkens als prinzipiell offen anzunehmen sind. Es lässt sich inhaltlich nicht bestimmen bzw. nur ex negativo erschließen. (Dies erklärt auch, warum es bei Butler kaum vorkommt.) Es ist die zone du non-pensée, die, wie Konersmann aufzeigt, in Foucaults Diskurstheorie von zentraler Bedeutung ist (vgl. 1997: 77). Sie dient dazu anzuzeigen, dass es Grenzen des Denkbaren gibt. Das heißt, die Analyse des Diskurses bezieht sich zwar auf die Positivität des Gesagten, aber das Gesagte 211
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wird analysiert, um zu einer Aussage sowohl darüber zu gelangen, was sagbar und unsagbar ist, als auch darüber, was undenkbar ist, also gar nicht gedacht werden kann. Dadurch scheint zumindest in Umrissen und sehr vage die Möglichkeit eines anderen Denkens auf. Deshalb schreibt Foucault: »Da, wo das anthropologische Denken nach dem Sein des Menschen oder seiner Subjektivität fragte, lässt sie [die Archäologie, U.M.] das Andere und das Außen aufbrechen.« (AW 190) Das Feld des Undenkbaren ist insofern ein wichtiges Element der Diskurstheorie, weil diese im Grunde immer schon vor dem Hintergrund des Anliegens, »die Aktualität aufzuklären über ihre eigene Denkbarkeit und Undenkbarkeit« (Schmid 2000: 157), zu verstehen ist. In Ordnung des Diskurses schreibt Foucault zur Ausschließungsfunktion: »Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind – mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und währt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht.« (OD 39)
Hier zeigt sich deutlich, dass die Positivität vor dem Hintergrund des Feldes des Ungedachten bzw. des Undenkbaren zu verstehen ist. Es zeigt sich aber auch, dass Foucault die Grenzen des Diskurses als Grenzen einer Kultur bestimmt. Wie im ersten Kapitel bereits aufgezeigt, bezieht Foucault seine historischen Analysen auf »unsere«, d.h. die »abendländische« Kultur und analysiert »unsere« Kultur als Diskurs. Heißt dies, dass nach der Ablehnung des Kulturbegriffs an seine Stelle der Diskursbegriff zu setzen ist? Dies wird später zu prüfen sein. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass in jeder diskurstheoretischen Analyse von den drei Feldern des Sagbaren, des Unsagbaren und des Ungedachten bzw. Undenkbaren auszugehen ist. Wenn also Foucault schreibt, er untersuche die »Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses«, die »von außen« als Ausschließungssysteme wirken (vgl. ebd. 17), so geht es in der Diskursanalyse darum zu untersuchen, was sagbar, was nicht sagbar und was undenkbar ist. Da die Regeln die Möglichkeit des Subjekts, überhaupt in Erscheinung zu treten, als intelligibles Subjekt zu gelten, bestimmen, ist die Analyse der Regeln wichtig, um herauszufinden, was für das intelligible Subjekt sagbar bzw. unsagbar ist.
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Z u m Au f f i n d e n d e r R e g e l n d e s S p r e c h e n s Anhand dieses Regel-Modells ist Aufschluss über die Methode zu gewinnen, denn nun ist zu erkennen, wie bzw. wo die Regeln zu finden sind: Sie sind aus den Äußerungen, die im Feld des Sagbaren liegen, abzuleiten, denn alle anderen sind nur vage, locker durch die Regel angeleitet, es sind im Grunde un-regelmäßige Äußerungen. Aber woran ist zu erkennen, in welchem Feld eine Äußerung liegt? Wodurch lassen sich Äußerungen, die im Feld des Sagbaren liegen, von Äußerungen, die im Feld des Unsagbaren liegen, unterscheiden? Um dies zu klären, ist zunächst aus Butlers Ausführungen eine Typologie der »Wiederholungen« zu entwickeln.
Die Typologie der Wiederholungen Wie oben aufgezeigt, hält Butler eine Veränderung durch eine subversive Wiederholung für möglich. Da sie in Haß spricht schreibt, dass diese nur durch ein »Sagen des Unsagbaren« zu erreichen seien, ist zu folgern, dass subversive Wiederholungen im Feld des Unsagbaren liegen. Dies deckt sich mit Foucaults Aussage, dass Mendel, der von Gegenständen sprach, die »der Biologie seiner Epoche fremd waren«, nicht »im Wahren«, sondern im »Raum eines wilden Außen« gesprochen habe. Da dieser bei Foucault dem Feld des »Außen im Innen« bei Butler entspricht, also das Feld des Unsagbaren gemeint ist, lässt sich ableiten, dass Mendel, der das Denken in der Biologie verändert hat, damals das Unsagbare gesagt haben muss und deshalb von seinen Zeitgenossen als ein »Monster« betrachtet wurde: »Mendel war ein wahres Monster, weshalb die Wissenschaft von ihm nicht sprechen konnte. Hingegen hatte Schleiden, 30 Jahre früher, indem er, mitten im 19. Jahrhundert, aber gemäß den Regeln des biologischen Diskurses, die pflanzliche Sexualität leugnete, lediglich einen disziplinierten Irrtum formuliert.« (OD 25)
Deutlich weist Foucault darauf hin, dass sein Sprechen un-regelmäßig war, dass er also den Befehl nicht gehorsamst, sondern »ungehorsam« ausgeführt hat. Hier zeigt sich jedoch eine Differenz zwischen Butlers Konzept der Subversion und Foucaults Beschreibung des un-regelmäßigen Sprechens: Butler schreibt in Gender Trouble, die Frage der Veränderung sei eine Frage der Art der Wiederholung (vgl. GT 217), und in Körper von Gewicht, die Frage der Subversion sei eine »Angelegenheit des Ausfüllens der Praktiken der Reartikulation« (KvG 326). 213
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Daran ist zu erkennen, dass die subversive Wiederholung eine Wiederholung ist, die nicht nur zufällig, sondern absichtsvoll fehlgeht bzw. dass der Imperativ absichtsvoll ungehorsam ausgeführt wird. Aber ist es möglich anzunehmen, dass das Subjekt mit Absicht eine fehlgehende Wiederholung hervorbringt? Muss dann nicht beim Subjekt die Einsicht in die diskursiven Produktionsverfahren und Machtverhältnisse vorausgesetzt werden? Kann es diese Einsicht haben? Mir scheint, dass, wenn Butler dem Subjekt eine Absicht zugesteht, sie Gefahr läuft, eben das Subjekt, das sie verabschieden wollte, wiedereinzuführen. Es besteht also eine methodologische Schwierigkeit, eine subversive Wiederholung anzunehmen. Bei Foucault ist der Aspekt der absichtsvollen Modifikation kaum zu finden, wie sich am Mendel-Beispiel verdeutlichen lässt: Foucault zeigt zwar, dass Mendel durch sein »Sagen des Unsagbaren« eine Veränderung der Vorstellungen seines Faches bewirkt habe. Ob dies seine Absicht war, dazu macht Foucault keine Aussage (vgl. OD 24). Er spricht eher von Modifikationen und Transformationen oder vom Wechsel des Maßstabs im Laufe der Geschichte:25 »Es musste der Maßstab gewechselt werden, es musste eine ganz neue Gegenstandsebene in der Biologie entfaltet werden, damit Mendel in das Wahre eintreten und seine Sätze (zu einem großen Teil) sich bestätigen konnten.« (Ebd. 25) Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass Foucault die Veränderungen im Rückblick auf die Geschichte beschreibt: »Die Beschreibung des Archivs entfaltet ihre Möglichkeiten ausgehend von Diskursen, die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein; ihre Existenzschwelle wird von dem Schnitt gesetzt, der uns von dem trennt, was wir nicht mehr sagen können, und von dem, was außerhalb unserer diskursiven Praxis fällt.« (AW 189f.)
Da er nicht aktuelle, sondern vergangene Diskurse, von denen er durch eine »Existenzschwelle« getrennt ist, analysiert, erscheinen bestimmte »individuelle Werke« oder Autoren im Rückblick als »Abstoßungspunkte«26, an denen sich Veränderungen der Diskurse festmachen lassen. (Insofern besteht in seiner Analyse nicht die Gefahr, dass er das Subjekt vor dem Feld wiedereinführt.) Nun spricht Butler nicht nur von subversiven Wiederholungen. Neben den absichtsvoll fehlgehenden Wiederholungen spricht sie auch von Wiederholungen, die ohne Absicht und zufällig fehlgehen, die sich sozu25 Vgl. dazu oben den Exkurs zum »Orientalismus«-Diskurs. 26 In seinem Aufsatz Die »Gouvernementalität« bezeichnet Foucault Machiavellis Il principe als einen »Abstoßungspunkt« (vgl. 2000: 42). 214
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sagen hinter dem Rücken und ohne Absicht der Sprecher selbst vermasseln, denn sie schreibt, dass Imperative »›zitiert‹« oder »verdreht, vermasselt (queered)« werden. Hier ist ein Spielraum für verschiedene Arten der Ausführung des Befehls angedeutet: Das »Zitieren« bezieht sich allem Anschein nach auf die gehorsame Ausführung des Befehls. Es sind regelgemäße Wiederholungen gemeint, die dem Feld des Sagbaren zuzuordnen sind. Mit »Verdrehen« und »Sich-Vermasseln« wiederum sind Wiederholungen gemeint, die un-regelmäßig sind und im Feld des Unsagbaren liegen. Da Butler ungehorsame Ausführungen des Befehls als »fehlgehende Wiederholungen« bezeichnet, ist ein Gegensatz zu »korrektgehenden Wiederholungen« impliziert. Dieser Begriff taucht bei ihr zwar nicht auf, er ergibt sich aber als logische Konsequenz, zumal sie zwischen einem Wiederholen, durch das die Verhältnisse destabilisiert werden, und einem Wiederholen, durch das die Verhältnisse stabilisiert werden, unterscheidet. Dies wird insbesondere am Ende von Körper von Gewicht deutlich: Die Wiederholung sei nicht notwendigerweise eine »bejahende Resignifikation«, also eine die Verhältnisse stabilisierende Wiederholung, und die subversive Wiederholung, also die absichtsvoll fehlgehende Wiederholung, sei destabilisierend (vgl. KvG 330f.). Wenn sie zwischen bejahender und verneinender Resignifikation bzw. stabilisierenden und destabilisierenden Wiederholungen unterscheidet, muss sie auch einen Gegensatz zum »Fehlgehen« annehmen: Das Gegenteil der fehlgehenden Wiederholung ist die korrektgehende Wiederholung. Es ist eine »bejahende Resignifikation« insofern, als durch sie die diskursive Produktion stabilisiert wird. Sie ist insofern affirmativ, als, da der Imperativ »zitiert«, der Befehl gehorsamst ausgeführt wird, eine Modifikation oder Transformation kaum zu erwarten ist. Allerdings besteht eine Schwierigkeit, in der Praxis zwischen bejahender und verneinender Resignifikation zu unterscheiden. Hierauf weist Butler selbst am Ende von Körper von Gewicht hin, denn nun fragt sie: »Wie können wir um den Unterschied zwischen der Macht, die wir fördern, und der Macht, die wir bekämpfen, wissen?« (Ebd. 331) Das Subjekt sei immer schon in die Machtbeziehungen, mit denen es sich anlegen wolle, »verwickelt« (ebd.). Man bewege sich stets in der Macht, selbst wenn man gegen sie sei. Dies sei die Bedingung des Handelns selbst. Eine »reine Opposition« sei unmöglich, und die »Ressourcen«, die zur Veränderung eingesetzt werden, seien unweigerlich »unrein«. Die »Wirkungen performativer Äußerungen, verstanden als diskursive Hervorbringungen« könnten von denjenigen, die sie äußern oder schreiben, nicht kontrolliert werden, da solche Hervorbringungen nicht im Besitz der äußernden Person seien. »Sie fahren ungeachtet ihrer Autoren mit der Signifikation fort und 215
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manchmal entgegen den wertvollsten Absichten ihrer Autoren.« (Ebd.) Diese Aussage bezieht sie auch auf ihr eigenes Schreiben: Nicht im Besitz der eigenen Worte zu sein, sei von Anfang an gegeben, denn das Sprechen sei »die melancholische, andauernde Wiederholung einer Sprache, die man niemals gewählt hat, die man nicht als ein Instrument, das nur verwendet zu werden braucht, vorfindet, von der man aber gewissermaßen verwendet wird, in der man enteignet wird als die instabile und fortdauernde Bedingtheit des ›man‹ und des ›wir‹, die ambivalente Bedingung der Macht, die bindet.« (Ebd. 332) Hier wird noch einmal deutlich, dass sie das Hervorbringen von performativen Äußerungen (im diskurstheoretischen Sinne von »performativ«) als Wiederholen betrachtet. Wenn sie nun darauf hinweist, dass auch die subversive Wiederholung nicht zwangsläufig destabilisierend wirke, so lässt sich hier vielleicht folgern, dass Butler, obwohl sie die subversive Wiederholung sozusagen politisch als Weg zur Veränderung der Machtverhältnisse vorschlägt, die Wirkung dieser gleichwohl skeptisch beurteilt. Dies ist insofern konsequent, als sie über Wirkungen eigentlich keine Aussage machen kann. Da Wirkungen nur rückblickend festgestellt werden können, ist es in einer synchronen Betrachtung eigentlich nicht möglich zu entscheiden, ob durch eine subversive Wiederholung eine Veränderung eingeleitet wird oder nicht. Jedenfalls ist die subversive Wiederholung im Grunde eine fehlgehende Wiederholung, von der angenommen wird, dass sie eine verändernde Wirkung haben wird oder haben könnte. Aber diese Möglichkeit ist nach Foucault bei allen fehlgehenden Wiederholungen gegeben. So ist hier festzuhalten, dass die Typisierung einer Äußerung als »subversive Wiederholung« problematisch ist.27 Die verschiedenen Arten der Äußerungen, wie Butler sie beschreibt, der Äußerungen im Feld des Sagbaren einerseits, im Feld des Unsagbaren andererseits, lassen sich in einer »Typologie der Wiederholungen« folgendermaßen zusammenzufassen: (Um zu verdeutlichen, dass ich Butlers Terminologie z.T. umformuliert und ergänzt habe, habe ich ihre Begriffe in Anführungszeichen gesetzt.)
27 In meiner Untersuchung habe ich diese Art der Wiederholung deshalb sehr vorsichtig benutzt und eher die Vor- und Nachteile ausgelotet: Einerseits scheint sie notwendig zu sein, denn in den Daten zeigt sich, dass manche SprecherInnen mehr oder weniger bewusst das Unsagbare sagen. Andererseits erweist sich das Konzept der subversiven Wiederholung wegen der Voraussetzung einer Intention des Subjekts als problematisch. 216
DISKURSTHEORIE UND DISKURSANALYSE
Äußerung im Feld des Sagbaren
Äußerung im Feld des Unsagbaren
»Zitieren« korrektgehende Wiederholung
»Verdrehen«, »Sich-Vermasseln« »fehlgehende Wiederholung« - zufällig fehlgehend - absichtsvoll fehlgehend = »subversiv« verneinende Resignifikation »destabilisierende Reartikulation« ungehorsame Ausführung des Befehls un-regelgemäße Äußerung
»bejahende Resignifikation« stabilisierende Reartikulation gehorsame Ausführung des Befehls regelgemäße Äußerung
Damit ist zu der Frage, wie zu entscheiden ist, ob es sich bei einer konkreten Äußerung um eine korrekt- oder fehlgehende Wiederholung handelt, zurückzukehren. Dass die Forscherin sich dabei nicht auf ihre Intuition oder den common sense verlassen kann, ist deutlich zu erkennen: Sie ist selbst in die Machtverhältnisse, die sie analysiert, »verwickelt«. Während es bei der Analyse vergangener Diskurse aufgrund der zeitlichen Distanz, der »Existenzschwelle«, eher möglich ist zu entscheiden, ob eine Äußerung heute noch sagbar ist, ist dies bei der Analyse aktueller Diskurse kaum möglich.28 Welche Möglichkeit gibt es dann? Hierzu gibt es bei Butler einen wichtigen, wenn auch versteckten Hinweis:
Der Rückgriff auf die Interaktionsebene Butler weist (in dem oben angeführten Zitat zur Aufteilung der Felder) darauf hin, dass »die marginale kulturelle Möglichkeit«, d.h. das Sagen des Unsagbaren, »Schrecken und zumindest den Verlust der Sanktionierung« hervorruft (vgl. GT 121). Sie deutet an, dass dieser »Schrecken« eine Reaktion auf eine fehlgehende Wiederholung ist. Diese löst bei dem/derjenigen, der/die diese Wiederholung gibt, aus Sorge, als unintelligibles Subjekt ausgegrenzt zu werden, Schrecken aus und/oder sie wird von anderen sanktioniert. Auch bei Foucault ist dieser Gedanke zu finden, denn er schreibt, dass man »im Wahren« nur dann sei, »wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss« (OD 25). Er deutet also an, dass man, wenn
28 Dies wird m.E. bei Gouvernementalitätsstudien, in denen der aktuelle Diskurs bzw. aktuelle Diskurse analysiert werden, zu wenig berücksichtigt. Vgl. Pieper/Gutiérrez Rodríguiez 2003. 217
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man dieser Polizei nicht »gehorcht«, mit Strafe rechnen muss. Daraus wiederum ist für die Analyse zu folgern, dass an der Reaktion der Sprecher auf das, was sie selbst gesagt haben, oder an der Reaktion von anderen auf das Gesagte zu erkennen sein muss, ob eine Äußerung sagbar ist oder nicht. Hierzu ist die Interaktion, das Miteinander-Sprechen mehrerer Subjekte zu betrachten. Und so habe ich in meiner empirischen Untersuchung auf die »Kontexte« der Äußerungen bzw. auf Komplikationen in der Interaktion geachtet.29 An dieser Stelle ist aber zu fragen: Ist die Analyse der Reaktion auf eine Äußerung in einer diskurstheoretischen Analyse überhaupt möglich? Handelt es sich, wenn die Reaktion auf das Gesagte mit in die Analyse einbezogen wird, nicht um die Analyse von Wirkungen? Wie oben aufgezeigt, sind Wirkungen nur in sozialkonstruktivistischen Analysen, in denen die Subjekte als Konstrukteure betrachtet werden, zu thematisieren, aber nicht in diskurstheoretischen. Das Problem lässt sich als ein Dilemma formulieren: Einerseits ist eine diskurstheoretische Analyse offensichtlich nur möglich in Verbindung mit einer Interaktionsanalyse, weil nur durch die Analyse des sozialen Prozesses während des Interviews das Sagbare vom Unsagbaren unterschieden werden kann (und nur dadurch die Regeln des Sprechens herausgefunden werden können). Andererseits wird in dieser eigentlich nur das (singuläre) Sprechen des Subjekts fokussiert. Eine Kombination oder »Mischung« dieser beiden Analysen ist methodologisch problematisch, weil beide von einer unterschiedlichen Konstitution des Subjekts ausgehen. Hierfür ist folgende »Lösung« vorzuschlagen: Es handelt sich zwar um eine Kombination beider Analysen, aber im Grunde nicht um eine Kombination beider Ansätze. Die diskurstheoretische Analyse wird nicht als (konstruktivistische) Interaktionsanalyse durchgeführt, sondern es gibt eine Abfolge der beiden: Die diskurstheoretische folgt auf die interaktionstheoretische. Das heißt: Die diskurstheoretische Analyse ist im Grunde eine Re- oder Meta-Analyse, es ist ein Analyseverfahren, in dem bereits bearbeitete Daten auf neue Weise analysiert werden.
29 Da ich bei der Planung meiner Untersuchung bereits vorgesehen hatte, die Interviewtexte auf zwei Ebenen zu analysieren: zum einen auf der Interaktionsebene, auf der die sozialen Prozesse zwischen Interviewten und Interviewer während des Interviews, zum anderen auf der Darstellungsebene, auf der die Darstellungen der Irrtümer im Geschlecht gegeben werden (vgl. MB, Kap. 1.1.2.), konnte ich nun schnell feststellen, dass die Komplikationen, die ich durch die interpretative Arbeit herausgefunden hatte, der Interaktionsebene zuzurechnen waren. Dabei zeigte sich auch, dass diese häufig durch das Lachen (»Strafen«) der Interviewerin entstanden. 218
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Möglicherweise gilt dies nicht nur für die Analyse von Interviewtexten, sondern viel allgemeiner für jede Diskursanalyse. Hat nicht auch Foucault in Sexualität und Wahrheit einen neuen Blick auf die Geschichte, die von anderen bereits geschrieben wurde, geworfen? Er schreibt gegen die »Repressionshypothese«, nämlich die Behauptung oder Deutung, dass die Sexualität aufgrund der Leibfeindlichkeit des Christentums unterdrückt worden sei und endlich befreit werden müsse. Das heißt: Er liest die Daten, die andere Forscher vor ihm bereits diskutiert, kommentiert und aus denen sie eine Hypothese entwickelt haben, auf neue Weise, indem er sie unter einem neuen Blickwinkel ordnet. Unter der Annahme, dass das Subjekt nicht das ist, für das es sich hält, sondern eine Position ist, die jedes Individuum einnehmen muss, wenn es als intelligibel gelten will, kann er die Konstitution des Subjekts ohne Essenz bestimmen. Er kann die Grundlosigkeit des Grundes, die Begrenztheit des Intelligibilitätshorizonts aufzeigen. Insofern lässt sich folgern, dass die Diskurstheorie einen Horizont eröffnet, in dem auch das Undenkbare als »unendlicher Horizont im endlichen« zumindest vage aufscheint.30 Während die Theorie des Diskurses diesen Horizont als Möglichkeit, das bislang Ungedachte denkbar zu machen, abstrakt zu beschreiben versucht, ist die diskurstheoretische Analyse dementsprechend eine Forschung, die anhand historischer, wissenschaftlicher schriftlicher Texte (oder auch anhand mündlicher banaler Äußerungen) den Horizont des Denkbaren, also des Sagbaren und des Unsagbaren, inhaltlich aufzufüllen versucht. Indem die Regeln aufgefunden werden, nach denen Subjekte Intelligibilität beanspruchen, können die historischen wie aktuellen Bedingungen der Existenz des Subjekts aufgezeigt werden. Dies kann in der empirischen Forschung aber nur dann gelingen, wenn dabei auf Daten, die zuvor mit Methoden, die dem diskurstheoretischen Ansatz fremd sind (und deren Grundlagen in der Diskurstheorie anzweifelt werden), zurückgriffen wird. Möglicherweise lässt sich dadurch erklären, dass die Diskursanalyse nach Foucault so häufig mit Methoden durchgeführt wird, die mit seiner Methodologie nur schwer zu vereinbaren sind.31 Es gibt noch einen weiteren, methodolo30 »Indem er [Foucault, U.M.] die Geschichte des Denkens schreibt, zeigt er die Grenzen des Denkens auf, das die Grenzen möglicher Erfahrung a priori zu bestimmen dachte.« (Schmid 2000: 372) 31 Vgl. dazu die Sammelbesprechung von Dias-Bone (2003). Wenn die Diskursanalyse zur Zeit häufig mit der grounded theory kombiniert wird, so ist zu fragen, ob dabei eine Analyse, die ausschließlich mit der Methode der grounded theory erarbeitet wurde, als diskurstheoretische Analyse ausgegeben wird, oder ob Ergebnisse, die mithilfe der Methode der grounded theory erarbeitet wurden, anschließend in einer diskurstheoretischen Perspektive überarbeitet werden. 219
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gisch vielleicht sogar wichtigeren Aspekt. Dieser betrifft die Pluralität der Regeln und der Diskurse.32
Zur Pluralität der Regeln und der Diskurse Im Folgenden gilt es aufzuzeigen, dass der diskurstheoretische Ansatz zu erweitern ist: Zum einen sind in der Theorie mehrere Diskurse in Rechnung zu stellen, zum anderen ist in der Analyse zu berücksichtigen, dass das Sprechen des Subjekts nicht zwangsläufig nur als (korrekt- oder fehlgehende) Wiederholung in einem Diskurs zu analysieren ist. Doch zunächst sind einige Bemerkungen zur Pluralität der Regeln in einem Diskurs vorauszuschicken.
Die Hierarchie der Regeln Wie aufgezeigt, präzisiert Butler die Diskurstheorie Foucaults insofern, als sie anhand seiner Ausführungen einen Neuansatz für die feministische Theoriebildung entwickelt, um die Kategorie »Geschlecht« zu analysieren, ohne sie als selbstverständlich oder natürlich vorauszusetzen. Ihre wichtigste von Foucault übernommene Annahme ist dabei die, dass das Subjekt immer schon im Feld, »drinnen« ist. Das Subjekt muss sich in die Matrix der Intelligibilität einordnen, damit es als Subjekt überhaupt in Erscheinung tritt. Es ist insofern »Effekt« des Diskurses, als es nur dann als intelligibles Subjekt gelten kann, wenn es nach den Regeln, die seine Identität anleiten, spricht. Nun gilt es, die Annahme der Pluralität der Regeln genauer zu prüfen: Ist in einer diskurstheoretischen Analyse eine Regel oder sind mehrere Regeln herauszufinden? Einerseits geht Butler von der Pluralität der Regeln aus, andererseits betrachtet sie Identität als »Befehl«, nicht als Befehle. Auch Foucault spricht einerseits in seinen methodologischen Arbeiten von den (Formations-)Regeln im Plural, andererseits in seinen historischen Arbeiten vom Imperativ des Alles-Sagens im Singular. Dies lässt sich insofern klären, als in der Diskurstheorie von einer Vielzahl von Regeln (deren Zahl gleichwohl nicht unendlich ist), ausgegangen und angenommen wird, dass diese miteinander in einer Beziehung stehen, die sich als hierarchisch beschreiben lässt. Jede dieser Regeln beschreibt auf eine bestimmte Weise, was als intelligibel gilt. Dabei scheinen einige eher allgemeiner, andere eher spezieller Art zu sein. Das
32 Auf diesen Aspekt bin ich bei der Anwendung des diskurstheoretischen Ansatzes während meiner empirischen Arbeit gestoßen. An dieser Stelle habe ich also von der Empirie aus Rückfragen an die Theorie gestellt. 220
DISKURSTHEORIE UND DISKURSANALYSE
bedeutet für die Analyse, dass, auch wenn nur eine Regel untersucht werden soll, unter Umständen auch andere (unter- oder übergeordnete) Regeln zumindest vage zu erkennen sein können. Es kommt also auf die Forschungsfrage an, ob eine allgemeine oder eher eine spezielle Regel herausgefunden werden soll. Dazu sei hier ein Hinweis auf meine Untersuchung gegeben: Aufgrund meiner Forschungsfrage ging es um das Auffinden der Regeln, die das Sprechen als »Frau« und als »Mann« anleiten. Es handelt sich auf den ersten Blick um die Suche nach zwei Regeln. Wie sich aber während der Untersuchung herausstellte, sind diese beiden Regeln so eng miteinander verknüpft, dass von einem »Regelpaar« zu sprechen ist: Um sich in die Matrix der Intelligibilität einordnen zu können, ist es notwendig, als »Frau« oder als »Mann« zu sprechen. Das heißt zugleich auch, dass die Norm der Zweigeschlechtlichkeit sich diskurstheoretisch als eine Regel formulieren lässt, die ungefähr lautet: Wenn du als intelligibles Subjekt gelten willst, dann musst du dich entscheiden, ob du als »Frau« oder als »Mann« gelten willst. An dieser Stelle ist zu fragen, ob auch die Norm, das heterosexuelle Begehren zu bekunden, als Regel zu betrachten ist.33 Wie an dem oben angeführten Zitat Butlers zur »Bisexualität« (GT 121) zu erkennen ist, handeln ihre Ausführungen auch von der Schwierigkeit der Homosexuellen, eine gesellschaftliche Identität zu erlangen. Wenn sie aufzeigt, dass die Bisexualität wie die Homosexualität eine »Konstruktion« des »Außen im Innen« sei, dass also jemand weder als »Frau« noch als »Mann« als intelligibles Subjekt gelten könne, wenn er oder sie ein homosexuelles Begehren bekunde, lässt sich folgern, dass sie behauptet, dass – unabhängig davon, ob jemand als »Frau« oder als »Mann« spricht – nur das heterosexuelle Begehren »sagbar« ist. Aber ist dies eine universale Regel?34 Hier taucht die Frage nach der Annahme der Pluralität der Diskurse auf.
33 Butler geht davon aus, dass das System der Zweigeschlechtlichkeit und das der »Zwangsheterosexualität« sich wechselseitig bedingen: »Die Instituierung einer naturalisierten Zwangsheterosexualität erfordert und reguliert die Geschlechtsidentität als binäre Beziehung, in der sich der männliche Term vom weiblichen unterscheidet. Diese Differenzierung vollendet sich durch die Praktiken des heterosexuellen Begehrens. Der Akt, die beiden entgegengesetzten Momente der Binarität zu differenzieren, führt dazu, dass sich jeder der Terme festigt bzw. jeweils eine innere Kohärenz von anatomischem Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Begehren gewinnt.« (KvG 46) 34 In der empirischen Untersuchung habe ich herausgefunden, dass es im westlichen Diskurs nicht möglich ist, als »Frau« überhaupt ein Begehren zu bekunden (vgl. unten). 221
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Die Pluralität der Diskurse bei Foucault und Butler Auch wenn Foucault den Begriff »Diskurs« nicht einheitlich verwendet,35 bezieht sich die Diskurstheorie, wie er sie entwirft, auf einen Diskurs im Singular. Dies zeigt sich schon daran, dass in seiner methodologischen Schrift im Titel Die Ordnung des Diskurses (bzw. im Original L’ordre du discours) der Diskursbegriff im Singular auftaucht. Es ist auch an seinen Definitionen abzulesen: »Auf die allgemeinste und unentschiedenste Weise bezeichnet er [der Terminus Diskurs, U.M.] eine Menge von sprachlichen Performanzen.« (AW 156) »Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben Formation gehören.« (Ebd. 170) »Der Diskurs, zumindest so, wie er von der Archäologie analysiert wird, das heißt auf der Ebene der Positivität […] ist nicht eine Sprache plus ein Subjekt, das die Sprache spricht. Es ist eine Praxis, die ihre eigenen Formen der Verkettung und der Abfolge besitzt.« (Ebd. 241)
Es zeigt sich aber vor allem in der inneren Logik der Theorie: Das Subjekt kann »Effekt« nur eines Diskurses sein, denn wenn es nur innerhalb der Matrix der Intelligibilität zum Vorschein kommen kann – und es nicht möglich ist, innerhalb eines Diskurses mehrere Matrizes der Intelligibilität anzunehmen – sind die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts durch den Diskurs (und nicht durch die Diskurse) begrenzt. Das Subjekt wird als eine leere Position in einem Diskurs betrachtet. Wie steht es dann mit der Annahme der Pluralität der Diskurse? Ist es möglich, auch wenn in der Theorie von einem Diskurs ausgegangen wird, das RegelModell auf mehrere Diskurse zu übertragen? Ist es möglich, statt von der Pluralität der Kulturen von der Pluralität der Diskurse auszugehen? Wie bereits deutlich wurde, unterscheidet Foucault zwischen den Gesellschaften, die eine Wissenschaft des Sexes (scientia sexualibus) und denen, die eine Liebeskunst (ars erotica) entwickelt haben. Dabei geht er davon aus, dass mehrere Gesellschaften einer Kultur zugehören, denn er spricht von den »abendländischen Gesellschaften«, von »uns« 35 Foucault weist selbst auf seinen uneinheitlichen Gebrauch des Diskursbegriffs hin (vgl. AW 156). Er verwendet ihn auch für fachspezifische Diskurse: »So werde ich von dem klinischen Diskurs, von dem ökonomischen Diskurs, von dem Diskurs der Naturgeschichte, vom psychiatrischen Diskurs sprechen können.« (Ebd.) Aber auch dabei wählt er den Diskursbegriff im Singular, und auch diese analysiert er als eine »Menge von Aussagen«. Ich folgere daraus, dass die fachspezifischen Diskurse als Unterdiskurse, nämlich diskursive Formationen, in einem großen Diskurs zu betrachten sind. 222
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und »unserer Kultur«. Daran ist zu erkennen, dass für ihn Kulturen als Diskurse zu analysieren sind. Anders formuliert: Er geht von der Differenz der Kulturen aus und analysiert diese als Diskurse. In diesem Sinne zeigt er auf, dass die Regel des Alles-Sagens keine universale, sondern eine bestimmte Regel, nämlich eine Regel des westlichen Diskurses ist.36 Butler kritisiert wie Foucault Universalitätsannahmen (vgl. oben). Auch sie geht von der Pluralität der Kulturen und dementsprechend der Diskurse aus (vgl. GT 212), denn sie spricht auch von den Matrizes der Intelligibilität im Plural. Nun weist sie allerdings auch darauf hin, dass »Diskurs« nicht einfach an die Stelle von »Kultur« zu setzen sei (vgl. KvG 31). Dies könnte in der Weise gelesen werden, dass sie kritisiert, dass Kulturen als Diskurse analysiert werden. In meiner Lesart verhält es sich jedoch umgekehrt. Mit dieser Aussage versucht sie, die »Fehllektüre Foucaults« zu korrigieren und deutlich zu machen, dass die Diskurstheorie von einer anderen Konstitution des Subjekts ausgeht als die gängigen Kulturtheorien. In diesen wird Kultur als ein von Menschen geschaffenes System betrachtet, und das heißt: Sie gehen von der Handlungsfähigkeit des Subjekts aus. Das Subjekt steht also »vor« dem Feld. Es ist zwar auch von der Macht der Kultur bzw. der Traditionen, denen das Subjekt sich beugen müsse, die Rede, es wird aber auch angenommen, dass das Subjekt sich dieser Macht widersetzen, sie durchbrechen, neue kulturelle Formen entwickeln, u.U. auch kulturelle Elemente »mischen« kann. Demgegenüber geht die Diskurstheorie, wie oben aufgezeigt, gerade nicht von den konstruktiven Fähigkeiten des Subjekts aus. Halten wir also fest: So wie in den Kulturtheorien die Pluralität der Kulturen angenommen wird, wird von Foucault und Butler die Pluralität von Diskursen irgendwie vorausgesetzt. Hier fällt jedoch auf, dass beide diese nicht systematisch berücksichtigen. Foucault erwähnt an keiner Stelle, wie der Pluralität und Gleichzeitigkeit der Diskurse (Kulturen) in der Analyse Rechnung zu tragen ist. Seine methodologischen Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Analyse (der Formationsregeln und Aussagesysteme) eines Diskurses. Auch bei Butler sind dazu keine Hinweise zu finden. Obwohl sie betont, dass sie nicht behaupte, es gebe eine einzige Matrix der Geschlechterbeziehungen (vgl. KvG. 30f.), geht sie nicht darauf ein, wie die anderen Matrizes in der Analyse zu berücksichtigen sind und vor allem, wie die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts zu beschreiben sind, wenn von mehreren Diskursen ausge-
36 Ich habe allerdings oben auch darauf hingewiesen, dass Foucaults Ausführungen zu anderen Kulturen sehr vage bleiben. 223
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gangen wird. Muss es sich nacheinander in die unterschiedlichen Matrizes einordnen? Hier zeigt sich eine Leerstelle in der Diskurstheorie, die dringend aufzufüllen ist, denn die Reduktion der Analysen auf nur einen Diskurs hat weit reichende Folgen: Wenn in der Theorie die Pluralität der Diskurse nicht berücksichtigt wird, bleiben die Analysen allzu leicht auf den westlichen Diskurs beschränkt, sodass in der Folge wiederum die Ergebnisse universalisiert werden. Die Pluralität der Diskurse ist noch aus einem anderen, vielleicht wichtigeren Grund zu berücksichtigen: Es ist davon auszugehen, dass sich in Zeiten der Globalisierung die Diskurse verschachteln, ineinander schieben, sich überlappen (vgl. Schiffauer 1997: 165ff.). Dieses Ineinandergreifen ist mit den bestehenden Mitteln der Diskursanalyse nicht zu beschreiben, denn bezogen auf das Sprechen der Subjekte bedeutet dies, dass sie unter Umständen in zwei (oder mehreren) Diskursen gleichzeitig sprechen (müssen). Bevor ich aufzeige, wie ich das »Werkzeug« der Diskursanalyse erweitert habe, möchte ich festhalten, dass ich dafür plädiere, das Kulturkonzept durch das Diskurskonzept zu ersetzen. Man mag an dieser Stelle einwenden, dass ich damit die Kritiken, die ich oben im zweiten Kapitel aufgezeigt habe, übergehe und sozusagen durch die Hintertüre die kulturelle Differenz(behauptung) wieder einführe. Deshalb möchte ich betonen, dass diese Kritik den entscheidenden Punkt der Kritik am Kulturkonzept missversteht. Wie oben aufgezeigt, werden Differenzannahmen kritisiert, weil sie im Sozialen zur Diskriminierung führen. So ist der entscheidende Kritikpunkt Abu-Lughods, dass das Kulturkonzept eine soziale Hierarchie »miteinschmuggelt«, weil die Unterscheidung zwischen Gruppen von Menschen als selbstverständlich, quasi natürlich erscheint: Durch die »Trennung zwischen Gruppen von Menschen« (1996: 22) kann die Hierarchisierung und Diskriminierung nicht vermieden werden, weil die Klassifikation impliziert, dass diesen Gruppen von Menschen eine »zweite Natur«, die ihr Handeln bestimmt, gemeinsam ist.37 Dies kann aber nicht gegen die Annahme der Pluralität der Diskurse vorgebracht werden, denn wie inzwischen hinlänglich deutlich geworden ist, kann die Diskurstheorie auf jegliche Bestimmung (der Natur) des Subjekts verzichten und stattdessen das Subjekt als eine »leere Position« beschreiben. Das Diskurskonzept dient gerade dazu, »eine Methode der Analyse zu definieren, die von jedem Anthropologismus frei ist« (AW 28). Anders formuliert: Auch wenn »Diskurs« – wie »Kul37 Zu Verdeutlichung sei hinzugefügt: Es macht einen Unterschied, ob die Hierarchie im Gegensatz Tag vs. Nacht oder Mann vs. Frau betrachtet wird. Nur bei letzteren geht es um Gruppen von Menschen, und nur diese reagieren auf diese Klassifikationen, wie Hacking aufzeigt. 224
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tur« – ein Einheitsbegriff ist, so bezeichnet er keine Einheit von menschlichen Gruppen oder Gemeinschaften, sondern ein Feld. Folglich impliziert die Annahme der Pluralität der Diskurse keine Unterscheidung menschlicher Gruppen aufgrund einer gemeinsamen »Essenz« oder »Natur«. Diese Annahme ist also gegen die Essentialismus-Kritik gefeit. Damit ist aber noch nicht das Problem, wie in der Analyse die Verschachtelung der Diskurse in Rechnung zu stellen ist, gelöst. In einem Exkurs möchte ich zunächst aufzeigen, wie ich in meiner Untersuchung auf das Problem, die Grenzen der Diskurse festzulegen, gestoßen bin und wie ich dies gelöst habe.
Exkurs: Zu den »Grenzen« der Diskurse Während meiner empirischen Arbeit hatte ich die Vermutung, dass auf der Interaktionsebene zu erkennen sein könnte, in welchem Diskurs gesprochen wird bzw. dass interaktiv verhandelt wird, nach welchen Regeln Intelligibilität zu beanspruchen ist. Hier zeigte sich jedoch, dass der Rückgriff auf die Interaktionsebene nicht zur Klärung, sondern zur Problematisierung meiner bisherigen Annahmen führte: Hatte es sich zunächst als hilfreich erwiesen, durch die Analyse der Reaktion auf eine Äußerung zu klären, ob diese sagbar oder unsagbar ist, stieß ich nun auf das Problem, dass auch die Reaktion durch die Regel eines Diskurses bestimmt ist. Genauer: Die »strafende« Reaktion der Interviewerin erklärt sich nicht aufgrund einer universalen, sondern einer bestimmten Regel, in den meisten Fällen der des Alles-Sagens im westlichen Diskurs (vgl. MB, Kap. 3.3.5.1.). Außerdem zeigte sich, dass einige SprecherInnen, und zwar nicht nur die, die »gestraft« werden, unsicher darüber sind, in welchem Diskurs sie sprechen. Nun könnte diese Unsicherheit durch die Anlage meiner Untersuchung bedingt sein: Es scheint, dass ich, indem ich den SprecherInnen die Sprachwahl zwischen dem Türkischen und dem Deutschen gelassen habe, damit bereits signalisiert habe, dass nicht festgelegt ist, in welchem Diskurs zu sprechen ist.38 Aber vielleicht tritt durch die Möglichkeit der Sprachwahl das Phänomen (bzw. das Problem für die diskurstheoretische Analyse), dass auch in
38 Zwar können nur diejenigen, die beide Sprachen sprechen, zwischen den Sprachen wählen. Das bedeutet aber nicht, dass die Unsicherheit darüber, in welchem Diskurs gesprochen wird, nur bei zweisprachigen auftauchen kann. Dies wird in der Auswertung der Antworten auf die zweite Interviewfrage (bei der Frage nach Irritationen zum Körper) deutlicher als bei der ersten Interviewfrage nach dem Irrtum im Geschlecht einer Person. Im Rahmen dieser Arbeit beziehe ich mich jedoch nur auf die Analyse der Antworten auf die erste Frage. 225
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
zwei Diskursen gleichzeitig zu sprechen ist bzw. gesprochen werden kann/muss, überhaupt erst hervor? Bei genauerer Betrachtung zeigte sich, dass die Entscheidung für die Wahl des Türkischen oder Deutschen völlig unabhängig davon ist, in welchem Diskurs gesprochen wird bzw. nach welcher Regel Intelligibilität zu beanspruchen ist. Auch in türkischer Sprache kann nach den Regeln des westlichen Diskurses gesprochen werden und in deutscher Sprache nach denen des muslimischen Diskurses. Dies ist insofern nicht überraschend, als nach Foucault eine Aussage nicht über ihre sprachliche, grammatische oder semantische Struktur zu bestimmen ist (vgl. AW 157f.). Es besteht also kein Zusammenhang zwischen Sprache und Diskurs. Demzufolge sind die Grenzen eines Diskurses nicht entlang sprachlicher Grenzen zu ziehen. Doch diesen Befund gilt es zu unterstreichen, denn auch ich war zunächst davon ausgegangen, dass Sprache und Kultur verzahnt sind (vgl. Kap. Projektidee). Wenn aber die Grenzen eines Diskurses nicht über sprachliche oder territoriale oder andere Grenzen zu bestimmen sind, sind sie dann überhaupt zu bestimmen? Ich habe die Schlussfolgerung gezogen, dass es nicht notwendig ist, diese festzulegen, und dass es viel wichtiger ist, theoretisch die Möglichkeit offen zu halten, dass jemand bisweilen in zwei Diskursen gleichzeitig spricht bzw. sprechen muss: Um als intelligibles Subjekt anerkannt zu werden bzw. ex negativo formuliert: um nicht als unintelligibel abgewertet und ausgegrenzt zu werden, versuchen die SprecherInnen, sich gleichzeitig in zwei Matrizes der Intelligibilität einzuordnen und so zu sprechen, dass ihre Äußerungen in beiden Diskursen im Feld des Sagbaren liegen.
Zur Erweiterung des diskurstheoretischen Ansatzes Um die in meiner Untersuchung auftauchenden Probleme lösen zu können, habe ich das oben vorgestellte diskurstheoretische Modell so erweitert, dass auch die Möglichkeit, dass jemand in zwei Diskursen gleichzeitig spricht, beschrieben werden kann. Dazu habe ich das Feld-Modell verdoppelt und die Felder so ineinander geschoben, dass ein gemeinsames Feld des Sagbaren entsteht.
226
DISKURSTHEORIE UND DISKURSANALYSE
Regel 1
Feld des Sagbaren in beiden Diskursen
Regel 2
Feld des Sagbaren im einen, des Unsagbaren im anderen Diskurs
An dieser Graphik ist zu erkennen, dass bei der Überlappung der Diskurse neben den beiden Feldern des Sagbaren und des Unsagbaren in einem Diskurs drei weitere Arten von Feldern entstehen: ein Feld des Sagbaren in beiden Diskursen, ein Feld des Unsagbaren in beiden Diskursen und ein Feld des Sagbaren im einen, des Unsagbaren im anderen Diskurs. Dadurch lässt sich nun die für einen Diskurs entwickelte Typologie der Wiederholungen ergänzen.
Die erweiterte Typologie Wie oben aufgezeigt, besteht die Typologie der Wiederholungen für einen Diskurs aus korrekt- und fehlgehenden Wiederholungen. Das heißt auch: Äußerungen liegen entweder im Feld des Sagbaren oder im Feld des Unsagbaren eines Diskurses. Wenn Äußerungen nicht nur in Bezug auf die Regel eines Diskurses, sondern gleichzeitig auch in Bezug auf die Regel eines anderen Diskurses zu betrachten sind, ergibt sich folgende erweiterte Typologie: Eine Äußerung kann in Bezug auf beide Regeln korrektgehend, in Bezug auf beide Regeln fehlgehend oder in Bezug auf die eine korrektgehend, in Bezug auf die andere Regel fehlgehend sein. Äußerungen in zwei Diskursen korrektgehend in beiden Diskursen
korrektgehend im einen und fehlgehend im anderen Diskurs
fehlgehend in beiden Diskursen
227
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Sowohl im Feld-Modell als auch in dieser schematischen Darstellung ist zu erkennen, dass bei der Überlappung von Diskursen ein »Mischfeld« entsteht, nämlich ein Feld, das im Feld des Sagbaren im einen, im Feld des Unsagbaren im anderen Diskurs liegt. Bezogen auf die Äußerungen ist dementsprechend eine Kategorie von Äußerungen anzunehmen, die korrektgehend im einen und fehlgehend im anderen Diskurs sind. Deshalb sind bei der Überlappung von zwei Diskursen nicht vier, sondern fünf Arten von Äußerungen anzunehmen. An dieser Stelle habe ich gefragt: Sind derartige Äußerungen vielleicht als hybride Formen des Sprechens zu bezeichnen?
Hybridformen in der Diskurstheorie Wie oben erwähnt, kritisiert Bhaba westliche Poststrukturalisten, weil sie das Hybride nicht in die theoretische Betrachtung einbeziehen (vgl. MB, Kap 3.5.2.). Inzwischen hat sich gezeigt, dass diese Kritik berechtigt ist, weil in der Diskurstheorie bislang nur von einem Diskurs ausgegangen wird. Insofern lohnt es sich zu überlegen, ob und wie in einem erweiterten diskurstheoretischen Ansatz eine Aussage zum Hybriden zu machen ist. Im Begriff des Hybriden ist die Mischung, die Melange enthalten.39 Nun versteht Bhaba das Hybride nicht als eine »Mischung« unterschiedlicher kultureller Elemente, sondern als »Effekt« der Kolonialmacht, wobei er im Hybriden die Möglichkeit zur Subversion sieht (vgl. 2001a: 35). Ich habe daraus gefolgert, dass hybride Formen des Sprechens auf jeden Fall fehlgehend sind, und zwar fehlgehend in Bezug auf beide Diskurse. Es sind also die Formen, die in beiden Diskursen im Feld des Unsagbaren liegen. Sie gehen sowohl in Bezug auf die eine als auch in Bezug auf die andere Regel fehl. Demzufolge habe ich zwischen Hybrid- und Mischformen unterschieden. Während die »Hybridform« in beiden Diskursen im Feld des Unsagbaren liegt, liegt die »Mischform« in beiden Diskursen im Feld des Sagbaren. Der Gewinn dieser Unterscheidung ist folgender: Wenn es für den diskurstheoretischen Ansatz zentral ist, die Ausschließung zu unter39 Oben habe ich erwähnt, dass beim Hybridkonzept von Bhaba nicht klar zu erkennen ist, ob er das Hybride (ähnlich wie bei Haraway) als Wirkung oder eher als »Effekt« der Macht im Foucaultschen Sinne betrachtet. Wenn Bhaba schreibt, das Hybride sei Effekt der Macht der colonizer (2001: 35) und gleichzeitig fordert, dass eine Theorie der Hybridisierung entwickelt werden müsse, um jeglichen Essentialismus (in Bezug auf »race, nation or cultural tradition«) zu vermeiden (ebd. 34), wird das Hybride einerseits im diskurstheoretischen Sinne vorausgesetzt, andererseits als Wirkung im sozialkonstruktivistischen Sinne betrachtet. 228
DISKURSTHEORIE UND DISKURSANALYSE
suchen, das heißt herauszufinden, was sagbar ist und was nicht, würde eine weite Definition der Hybridform gerade diese Unterscheidung überdecken. Angesichts der aktuellen Favorisierung des Hybridkonzepts fällt auf, dass häufig mit einem sehr weiten Begriff des Hybriden gearbeitet wird. So schreibt z.B. Jan Nederveen Pieterse, Globalisierung sei als ein Prozess der Hybridbildung zu betrachten (1998: 87), überall sei Hybridisierung zu beobachten (ebd. 99). Und Chris Barber schreibt in ähnlicher Weise in seinem Reader Cultural Studies, dass Kulturen und Identitäten immer mehr »hybridisiert« würden (vgl. 2000: 222). Zwar unterscheidet Pieterse zwischen »assimilatorischer« und »destabilisierender Hybridbildung« (1998: 107), aber genau aus diesem Grund halte ich es für wichtig, genauer zu unterscheiden und unterschiedliche Begriffe für destabilisierende und restabilisierende Formen bereitzuhalten. Nach meiner Definition ist eine »Mischform« eine »bejahende Reartikulation« oder »stabilisierende Resignifikation« (Butler), die Hybridform dagegen ist eine »verneinende Reartikulation« oder »destabilisierende Resignifikation«. Außerdem lässt sich damit zeigen, dass das »hybride« Sprechen Folgen hat: Wenn jede fehlgehende Wiederholung Schrecken und den Verlust der Sanktionierung hervorruft, ist zu folgern, dass bei fehlgehenden Wiederholungen in Bezug auf zwei Regeln die soziale Existenz doppelt bedroht ist. Das Unsagbare in einem Diskurs zu sagen, bedeutet, eine Position außerhalb des Feldes des »Menschlichen« einzunehmen. Wenn dies schon bei einer fehlgehenden Äußerung in Bezug auf eine Regel Schrecken hervorruft, um wie viel größer ist dann die Bedrohung der Existenz, wenn jemand in zwei Diskursen gleichzeitig außerhalb des Menschlichen spricht! Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass von Hybridformen – nicht jedoch von Mischformen – Veränderungen zu erwarten sind. Um also eine Aussage darüber machen zu können, wie Veränderungen in beiden Diskursen möglich sind, sind in der Analyse die Hybridformen genauer zu betrachten. An dieser Stelle ist jedoch schon darauf hinzuweisen, dass sowohl Misch- als auch Hybridformen erst dann zu analysieren sind, wenn aus der Analyse der korrekt- und fehlgehenden Äußerungen die Regeln herausgefunden worden sind, denn um eine Äußerung als eine korrektoder fehlgehende Wiederholung in Bezug auf zwei Regeln klassifizieren zu können, ist es notwendig, diese beiden Regeln zu kennen. Dieser Gedanke führt zu einem Aspekt, auf den abschließend einzugehen ist.
229
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Zur Möglichkeit der Mischform Mithilfe des Feld-Modells ist zu erkennen, dass nicht zwangsläufig ein Feld des Sagbaren in beiden Diskursen entsteht, sondern nur dann, wenn beide Regeln »ähnlich« formuliert sind. Regel 1
Feld des Unsagbaren in beiden Diskursen
Regel 2
Feld des Sagbaren im einen, des Unsagbaren im anderen Diskurs
Anhand der Graphik wird deutlich, dass, wenn die Regeln sich nicht überlappen, nur ein Schnittfeld des Unsagbaren, nicht aber ein Schnittfeld des Sagbaren entsteht. Daran zeigt sich, dass es auf den Inhalt der Regeln ankommt, ob ein Feld des in beiden Diskursen Sagbaren entsteht. Dies lässt sich an einem Beispiel erläutern: Lautet die eine Regel »Gehen« und die andere »Stehenbleiben«, ist ein Sprechen nach beiden Regeln gleichzeitig nicht möglich. Jemand wird also zwangsläufig das im einen Diskurs Sagbare, das im anderen Diskurs Unsagbare sagen und in letzterem als unintelligibel, »unmenschlich« abgewertet. Daher ist es wichtig, zunächst den Inhalt der Regeln zu analysieren. Nachdem die Regeln bekannt sind, ist zu erkennen, ob sie sich »überschneiden« oder sich widersprechen. Dann ist auch zu bestimmen, ob es möglich ist, dass jemand im westlichen und im muslimischen Diskurs gleichzeitig Geltung als »Frau« bzw. »Mann« beansprucht. Bevor nun im letzten Kapitel die mit diesem »Werkzeug« erarbeiteten Ergebnisse der empirischen Untersuchung vorgestellt werden, sind die Ausführungen in diesem Kapitel zusammenzufassen.
230
DISKURSTHEORIE UND DISKURSANALYSE
Zusammenfassung Nachdem im dritten Kapitel die unterschiedlichen Perspektiven auf das Subjekt in konstruktivistischen Ansätzen und in der Diskurstheorie dargestellt wurden, stand in diesem vierten Kapitel die Frage, ob und wie eine diskurstheoretische Analyse von Interviewtexten vorzunehmen ist, im Mittelpunkt. In einer »dichotomen Tabelle« wurden zunächst die Anhaltspunkte zusammengetragen, die einerseits für eine sozialkonstruktivistische, andererseits für eine diskurstheoretische Analyse wichtig sind. Der wichtigste Befund war dabei, dass eine diskurstheoretische Analyse keine interpretative Analyse ist, sondern sich an der »Oberfläche« der Texte hält. An Kellers, Maihofers und Lindemanns Ausführungen zur Diskursanalyse wurde dann deutlich, dass alle drei, wenn sie (auf unterschiedliche Weise) das Subjekt als Kreuzungspunkt von Diskursen betrachten, das Verhältnis von Subjekt und Diskurs genau umgekehrt zu der von Butler und Foucault beschriebenen Weise formulieren. Um Anleitung für eine diskurstheoretische Analyse zu finden, wurden nun Butlers Schriften noch einmal genauer betrachtet. Es ging vor allem darum zu klären, wie das »Zitieren«, »Wiederholen« (anstelle des »Konstruierens« in konstruktivistischen Ansätzen) vorzustellen ist: Das Wiederholen ist ein »Effekt« des Befehls, nach dem das Individuum sprechen muss, um als intelligibles Subjekt Geltung beanspruchen zu können. Dadurch erklärt sich, dass Butler Geschlechtsidentität als »Befehl« bezeichnet: Jemand kann nur dann als intelligibel, als »Frau« oder »Mann« gelten, wenn er/sie den Befehl ausführt, der die Geltung als »Frau« oder »Mann« im Diskurs reguliert. Anhand der methodologischen Schriften Foucaults wurde dann deutlich, dass Butler ihr Befehlskonzept von Foucault übernimmt. Dieses Befehls- oder Regelkonzept wurde anhand eines RegelModells veranschaulicht. Nach Foucault wie nach Butler werden durch die Regeln drei Felder erzeugt: das Feld des Sagbaren, das Feld des Unsagbaren und das Feld des Undenkbaren. Da sie in ihrem Ansatz davon ausgehen, dass jemand, um als intelligibel zu gelten, im Feld des Sagbaren sprechen muss, war nun zu folgern, dass Äußerungen entweder im Feld des Sagbaren oder im Feld des Unsagbaren liegen. Die Schwierigkeit für die Analyse aber bestand darin herauszufinden, wie an konkreten Äußerungen zu erkennen ist, ob jemand im Feld des Sagbaren oder Unsagbaren spricht. Hier wurde zunächst eine Typologie erstellt, in der die Arten von »Wiederholungen«, die Butler anführt, zu erkennen sind: Korrektgehende Wiederholungen liegen im Feld des Sagbaren, fehlgehende Wiederholungen liegen im Feld des Unsagbaren. Da Butler darauf hinweist, dass das Sagen des Unsagbaren »gestraft« wird, wurde 231
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
deutlich, dass anhand der Reaktion auf das Gesagte die Zuordnung erfolgen kann. Da aber in der diskurstheoretischen Analyse das Sprechen des (singulären) Subjekts – und nicht die Interaktion zwischen verschiedenen Subjekten bzw. die Reaktion von anderen – betrachtet wird, ist es kaum möglich, die Interaktionsanalyse als Bestandteil der Diskursanalyse zu betrachten. Ich habe daraus gefolgert, dass eine diskurstheoretische Analyse von Interviewtexten nicht ohne die Analyse der Interaktion auskommt, also eine Diskursanalyse nur möglich ist nach einer (sozialkonstruktivistischen) Interaktionsanalyse. Die Diskursanalyse ist zwar als eine eigenständige Methode der Sozialforschung zu betrachten, aber im Grunde ist sie eine Re- oder Meta-Analyse, in der bereits bearbeitete Daten auf neue Weise betrachtet werden. Im letzten Teil dieses Kapitels wurde aufgezeigt, dass die Diskurstheorie wie auch das bisher aufgezeigte »Werkzeug« für die Diskursanalyse einer Erweiterung bedarf. Zwar geht Foucault von der Pluralität der Kulturen aus und analysiert diese als Diskurse, aber in seinen methodologischen Ausführungen beschränkt er sich auf den Diskurs im Singular. Weder bei Foucault noch bei Butler sind Hinweise dazu zu finden, wie in der Analyse der Pluralität und Hierarchie der Diskurse Rechnung getragen werden kann und ob und wie das Sprechen in verschiedenen Diskursen vorzustellen ist. Da in Zeiten der Globalisierung die Diskurse längst nicht mehr in getrennten geographischen Räumen (wie Foucault angenommen hat) vorzufinden sind, sondern sich überlappen, und es nicht möglich ist, die Grenzen der Diskurse über territoriale oder sprachliche Grenzen zu bestimmen, ist es umso wichtiger, in der Theorie die Möglichkeit vorzusehen, dass jemand in mehreren, mindestens in zwei Diskursen gleichzeitig Geltung als intelligibles Subjekt beansprucht bzw. beanspruchen muss. Aufgrund meiner konkreten Forschungsfrage habe ich untersucht, inwieweit die Typologie der Wiederholungen ausreicht, und herausgefunden, dass diese so zu erweitern sind, dass Äußerungen auch in Bezug auf zwei Regeln betrachtet werden können: Eine Äußerung kann in beiden Diskursen entweder korrekt- oder fehlgehend sein kann, oder sie kann in einem Diskurs korrektgehend, in einem anderen gleichzeitig fehlgehend sein kann. Um zu vermeiden, dass der Hybridbegriff zu weit gefasst wird (wie es zur Zeit häufig geschieht), wurde vorgeschlagen, ihn für die Äußerungen zu reservieren, die in beiden Diskursen im Feld des Unsagbaren liegen. Für die Äußerungen, die in beiden Diskursen im Sagbaren liegen, habe ich den Begriff »Mischform« vorgeschlagen, um auf die unterschiedliche Funktion der beiden Formen hinweisen zu können: Während Mischformen stabilisierend wirken, können durch Hybridformen Destabilisierungen, Veränderungen, Transformationen ein232
DISKURSTHEORIE UND DISKURSANALYSE
geleitet werden. Da es sich dabei aber um fehlgehende Wiederholungen in Bezug auf zwei Regeln handelt, heißt dies auch, dass jemand, der auf hybride Weise spricht, das Unsagbare in beiden Diskursen sagt und aus beiden gleichzeitig ausgegrenzt wird. Schließlich wurde gefolgert, dass Mischformen, die im Feld des Sagbaren in zwei Diskursen liegen, im Schnittfeld der beiden Regeln liegen müssen und dass dies wiederum bedeutet, dass Mischformen nur dann möglich sind, wenn beide Regeln sich überlappen. Damit zeigte sich, dass es auf den Inhalt der Regeln ankommt, ob sich ein solches Schnittfeld ergibt oder nicht.
233
DIE ERGEBNISSE DER EMPIRISCHEN U N T E R S U C H U N G : Z W E I R E G E L P A AR E
In diesem letzten Kapitel ist aufzuzeigen, welche Regeln ich in der diskurstheoretischen Analyse von Irrtumsdarstellungen herausgefunden habe. Da im »Materialband« ausführlich der Weg, auf dem ich diese erarbeitet habe, beschrieben ist, beschränke ich mich hier darauf, anhand schriftlicher Irrtumsdarstellungen die »Wirkung« der Regeln und die Notwendigkeit der im vorangegangenen Kapitel vorgeschlagenen Erweiterung des diskurstheoretischen Ansatzes aufzuzeigen. Dann wird der Zusammenhang zwischen den Regeln für »Mann« und »Frau« und die in diesen Regelpaaren enthaltene Asymmetrie diskutiert, und daran anschließend wird zu zeigen sein, dass es möglich ist, die Bedingungen für das regelgemäße Sprechen als »Mann« oder »Frau« in zwei Diskursen, also für Mischformen, zu bestimmen. Abschließend wird darzustellen sein, dass in den Ergebnissen dieser Untersuchung zwar einige bestätigende Aspekte für das im ersten Kapitel vorgestellte Modell der Trennungslinien zu finden sind, dass es aber durch das erweiterte diskurstheoretische Feld-Modell zu ersetzen ist.
Die Regeln für »Frau« und »Mann« Wie im einleitenden Kapitel zur Projektidee aufgezeigt, lautete meine (reduzierte) Forschungsfrage: Worin unterscheiden sich die Darstellungen der Wahrnehmung eines fremden Körpers von Deutsch und Türkisch sprechenden Frauen und Männern? Die Antwort auf diese Frage lautet: Die Darstellungen der Wahrnehmung unterscheiden sich darin,
235
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
dass sie nach unterschiedlichen Regeln zustande gebracht werden. Diese Antwort ist jedoch noch kein Ergebnis meiner Untersuchung, denn ich habe mit Foucault und Butler vorausgesetzt, dass es sinnvoll ist, Regeln anzunehmen, weil, solange von der Stifterfunktion des Subjekts (Foucault AW 23) ausgegangen wird, nicht »nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Handlungsfähigkeit« (Butler SD 45) zu fragen ist. Indem ich also vorausgesetzt habe, dass empirische Subjekte nach Regeln sprechen, habe ich ausgehend von Butlers Aussage, dass Geschlechtsidentität ein »Befehl« ist, (durch den Rückgriff auf die in den Interviews enthaltene Interaktionsebene und nach einer Erweiterung des diskurstheoretischen Ansatzes) die unterschiedlichen Regeln, die den Geltungsanspruch als »Mann« bzw. »Frau« im westlichen und im muslimischen Diskurs regulieren, gefunden. Das Ergebnis meiner empirischen Untersuchung ist also nicht, dass ich zwei Regeln für »Mann« und zwei Regeln für »Frau« bzw. zwei »Regelpaare« gefunden habe, sondern dass ich herausgefunden habe, wie diese Regeln lauten. Dieses Ergebnis ist folgendermaßen zusammenzufassen: westlicher Diskurs: • Mw-Regel: Wenn du Geltung als »Mann« beanspruchen willst, dann stelle dar, dass du grundsätzlich Objekte interessiert betrachtet (und ein Begehren) hast und von einem weiblichen Objekt »angenähert« wurdest. • Fw-Regel: Wenn du Geltung als »Frau« beanspruchen willst, dann vermeide darzustellen, dass du Objekte interessiert betrachtet und dich ihnen angenähert hast. (Am besten ist es, du vermeidest darzustellen, dass du »gegangen« bist.) muslimischer Diskurs: • Mm-Regel: Wenn du Geltung als »Mann« beanspruchen willst, dann stelle dar, dass du stets bemüht bist, dich einem weiblichen Objekt anzunähern (um »es« zu machen). • Fm-Regel: Wenn du Geltung als »Frau« beanspruchen willst, dann stelle dar, dass du männlichen Objekten keine Chance gegeben hast, sich dir anzunähern. (Du kannst zwar darstellen, dass du dich einem männlichen Objekt angenähert hast, aber dann musst du auch darstellen, dass du dich gleich wieder entfernt hast.) Die Regeln sind als Konditionalsätze formuliert, um auf die Notwendigkeit für die SprecherInnen, vorgegebene Subjektpositionen einzunehmen, wenn sie als intelligible Subjekte Geltung beanspruchen wollen, hinzuweisen. Dies ist jedoch nicht zwingend, denn sie lassen sich auch 236
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
als »Befehle», als Imperative formulieren, die Anweisungen dafür enthalten, wie als »Frau« oder »Mann« im westlichen oder im muslimischen Diskurs zu sprechen ist. Wenn die Grundform des Imperativs lautet: »Zeig an, dass du dieses oder jenes (nicht) getan hast.«1, sind die Imperative für »Mann« und »Frau« in folgender Weise zu formulieren: westlicher Diskurs: für »Mann«: Zeig, dass du grundsätzlich Objekte interessiert betrachtet hast und von einem weiblichen Objekt angenähert wurdest. • für »Frau«: Zeig, dass du Objekte nicht interessiert betrachtet und dich ihnen nicht angenähert hast. (Am besten zeigst du, dass du nicht »gegangen« bist.)
•
muslimischer Diskurs: • für »Mann«: Zeig, dass du dich stets bemüht hast, dich Frauen(körpern) anzunähern. • für »Frau«: Zeig, dass du Männer(körper)n keine Chance gegeben hast, sich dir anzunähern. (Du kannst zwar zeigen, dass du dich einem männlichen Objekt angenähert hast, aber dann musst du auch darstellen, dass du dich gleich wieder entfernt hast.) Es ist zu betonen, dass ich nicht behaupte, die endgültigen Formulierungen der Regeln gefunden zu haben, zumal ich sie während der empirischen Untersuchung fortlaufend verändert habe.2 Sie sind in einem Prozess entstanden und aus der Analyse einer begrenzten Anzahl von Irrtumsdarstellungen entwickelt. Bei einer größeren Datenbasis, bei der Analyse von Darstellungen zu einem anderen Thema und/oder in anderen Sprachen könnte sich zeigen, dass diese Regeln zu modifizieren und/oder zu ergänzen sind. Das Ergebnis meiner empirischen Untersuchung liegt also nicht in diesen Formulierungen, sondern in den in diesen Regeln formulierten Möglichkeitsbedingungen des »Sprechens als«. Diese lassen sich zusammenfassend folgendermaßen darstellen: 1
2
Hier ist auf die Zeitform hinzuweisen: Da meine Forschungsfrage auf die Darstellung eines (vergangenen) Irrtums bezogen formuliert ist und in den hier analysierten Antworten auf die Interviewfrage Imperfekt-Formen gewählt werden, habe ich, um die Reichweite meiner Ergebnisse einzuschränken, die Regeln auf die Darstellung vergangener Ereignisse bezogen formuliert. Möglicherweise leiten diese vier Regeln aber nicht nur das Darstellen vergangener Ereignisse, sondern allgemeiner das Sprechen (und Handeln) der Subjekte an (vgl. dazu MB Kap. 3.1.3.1.). Dies war notwendig, weil jede Regel nicht nur eine, sondern mehrere Bedingungen für die Geltung als »Frau« bzw. »Mann« enthält und weil ich diese im Laufe der Analyse erst sukzessive herausgeschält habe. 237
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
westlicher Diskurs: »Mann«
»Frau«
•
•
• •
Interessiert-Sein an Fragen des Geschlechts und/oder der Geschlechtlichkeit Interessiertes Betrachten anderer Personen Angenähert-Werden von weiblichen Objekten
statische Position des Subjekts
• •
Nicht-Interessiert-Sein an Fragen des Geschlechts und/ oder der Geschlechtlichkeit Kein interessiertes Betrachten anderer Personen Keine Annäherung an (weibliche oder männliche) Objekte bzw. Vermeidung der Darstellung des Gehens
statische Position des Subjekts (defensive Darstellungsweise)
muslimischer Diskurs: »Mann«
»Frau«
•
•
Finale Annäherung an ein weibliches Objekt
•
dynamische Position des Subjekts
Distanz zu männlichen Objekten Bei Darstellung des Gehens Hinweis auf Wiederherstellung der Distanz
statische oder dynamische Position des Subjekts
In dieser Darstellung fällt die unterschiedliche »Komplexität« der Bedingungen auf. Bevor ich hierauf eingehe, möchte ich erläutern, warum die Anleitung zur Wahl einer statischen oder dynamischen Position des Subjekts als »Quintessenz« aus diesen Regeln zu betrachten ist.
238
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
Die Position des Subjekts und die Subjektposition Alle vier Regeln enthalten mehr oder weniger direkte Anweisungen zur Wahl der Position des Subjekts. Dies ist am deutlichsten bei der MmRegel zu erkennen: Wenn eine »finale Annäherung an ein weibliches Objekt« zum Ausdruck gebracht werden soll, so gelingt dies am besten dadurch, dass jemand darstellt, wie er in Bewegung war und auf ein weibliches Objekt zugegangen ist. Jemand, der im muslimischen Diskurs Geltung als »Mann« beansprucht, wird also mehr oder weniger zwangsläufig eine dynamische Position des Subjekts wählen. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich mithilfe eines Analyse-Rasters herausgefunden habe, dass die Wahl der Position des Subjekts in den Darstellungen nicht zufällig, sondern durch die Regeln bedingt ist (vgl. MB, Kap. 3.2.1.2.). Da das Subjekt entweder »sitzen« (bzw. »stehen«) oder »gehen« (bzw. »in Bewegung sein«) kann, habe ich zwischen einer statischen und einer dynamischen Position unterschieden. Dabei habe ich auch die Position des Objekts berücksichtigt: Es kann ebenso »sitzen« oder »gehen«. Darüber hinaus habe ich den Aspekt der Veränderung im Auge behalten, denn nur wenn eine Veränderung angezeigt wird, ist deutlich zu machen, dass es sich um einen Irrtum gehandelt hat. Diese Aspekte habe ich gebündelt, indem ich unterschieden habe zwischen der Position des Subjekts (statisch vs. dynamisch) und der Relation zwischen Subjekt und Objekt (konstante – sich verringernde – sich vergrößernde Distanz). Indem ich alle Darstellungen nach diesen Aspekten betrachtet habe, konnte ich herausfinden, welche Möglichkeiten häufig gewählt werden und vor allem welche nicht ungestraft gewählt werden, denn durch die Analyse der Interaktionsebene war zu ermitteln, bei welchen Positionen von Subjekt und Objekt Komplikationen entstehen. Daraus konnte ich folgern, welche Subjektpositionen im Feld des Sagbaren bzw. Unsagbaren liegen. Wie hier zu erkennen ist, habe ich einen Zusammenhang zwischen der Position(ierung) des Subjekts in der Darstellung und der für Foucaults Diskurstheorie so wichtigen Subjektposition hergestellt. Dies versteht sich nicht von selbst, denn Foucault verwendet diesen Begriff eher in einem abstrakten Sinn. Wie oben aufgezeigt, ist für ihn das Subjekt eine »leere Funktion« oder ein »leerer Raum« (AW 137). Außerdem beschreibt er den Diskurs als einen »Raum der Äußerlichkeit, in dem sich ein Netz von unterschiedlichen Plätzen entfaltet« (ebd. 82). Die Subjektposition erscheint als ein abstrakter Platz in einem diskursiven Raum oder Feld. Ähnlich geht auch Butler von einer Subjektposition als einer leeren, vom empirischen Subjekt einzunehmenden Position in der Matrix der Intelligibilität aus. Gleichwohl habe ich bei ihr (in einem der 239
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
wenigen konkreten, alltäglichen Beispiele, die sie gibt) einen Hinweis darauf gefunden, dass »die Gewalt des Buchstabens«, »die festgelegt, was Bedeutung hat oder nicht, was im Intelligiblen eingeschlossen ist und was nicht« (SD 53), auch darin liegt, dass eine Sprecherin, die Geltung als »Frau« im westlichen Diskurs beansprucht, nicht »ungestraft« sagen kann, dass sie »gegangen« ist (vgl. unten). So habe ich gefolgert, dass Foucaults Konzept der Subjektposition auch konkret-räumlich zu verstehen und auf die Position des Subjekts in den Darstellungen zu beziehen ist:3 Die Möglichkeitsbedingungen des Sprechens als »Frau« (bzw. »Mann«) bestimmen auch die Möglichkeit, in der Darstellung eines Irrtums für das Subjekt eine bestimmte Position zu wählen bzw. zu vermeiden.4 Was dies für das Sprechen (bzw. Schreiben) bedeutet, lässt sich anhand der am Ende des Kapitels »Grundannahmen« vorgestellten schriftlichen Irrtumsdarstellungen in einem Exkurs aufzeigen.
3
4
Dies erscheint mir auch deshalb möglich, weil Foucault auch ein »Denker des Raums« (vgl. Schmid 2000: 203) ist und in seinem Aufsatz mit dem Titel »Andere Räume« z.B. »eine Beschreibung der verschiedenen Platzierungen« im Raum vorschlägt (vgl. 2001: 25). Vgl. dazu MB, Kap. 3.2.1.1. und 3.2.1.2. Hier ist auch dem Missverständnis, dass das Denken immer schon abstrakt sein müsse, zu begegnen. Kuang-Ming Wu z.B., der das chinesische konkrete Denken dem westlichen abstrakten gegenüberstellt, kritisiert, das westliche verfahre stets losgelöst von der Aktualität und vom Konkreten: »Thinking is, then, as detached from actuality (›abstract‹) as the aeroplane is from the ground.« (1997: 10) Deshalb würde »konkretes Denken« wie ein Oxymoron klingen: »›Concrete thinking‹ sounds like an oxymoron. For we usually take thinking to be by definition abstract and theoretical, and we take whatever concrete to belong to things, not to thinking. […] But it is crucial to remind ourselves that as long as thinking is one of concrete human activities, thinking can naturally be concrete as well, although it often flies off into abstraction.« (Ebd. 17) Inzwischen ist sicher deutlich geworden, dass ich mich stets bemühe, im Konkreten wie auch in der Abstraktion räumlich zu denken.
240
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
Exkurs: Die Regeln in schriftlichen Irrtumsdarstellungen Um die Analyse meines Datenmaterials wenigstens ansatzweise vorzustellen, habe ich nun in den Spalten rechts neben den Irrtumsdarstellungen der Jugendlichen folgende Einträge vorgenommen: • die Schauplätze5, die genannt bzw. angedeutet werden, • die Position, die dem Subjekt (wahrscheinlich) gegeben wird (statisch oder dynamisch) • Auffälligkeiten in der Formulierung. Da ich anhand dieser drei Kriterien auf die Regel, die die jeweilige Darstellung anleitet, geschlossen habe, habe ich diese fettgedruckt darunter eingetragen. Außerdem habe ich durch »M« und »F« angezeigt, welche Angaben die SchülerInnen selbst zu ihrem Geschlecht gemacht haben. Hier wird also sozusagen die Auflösung meiner »blinden« Analyse gegeben. Meine Analyse war »blind« insofern, als ich, da ich aus den oben dargelegten Gründen nicht mehr »essentialistisch« voraussetzen konnte, dass die Interviewten »Frauen« oder »Männer« »sind«, alle Irrtumsdarstellungen zunächst so betrachtet habe, als hätte ich keine Angabe zum Geschlecht der SchreiberInnen erhalten. (Dies ist im Übrigen bei der Antwort Nr. 10 der Fall, denn hier hat der Schreiber/die Schreiberin sein/ihr Geschlecht nicht angegeben.) Alle Angaben, die ich erschlossen habe, die also nicht explizit im Text gegeben werden, habe ich in Klammern gesetzt. Außerdem habe ich Fragezeichen gesetzt, wenn ich eine unsichere Angabe eingetragen habe.
5
Für die Angabe des Ortes, an dem der Irrtum positioniert wird, habe ich absichtsvoll den Ausdruck »Schauplatz« gewählt habe: Es ist eben auch ein Ort oder »Platz«, von dem aus das Subjekt auf das Objekt schaut (vgl. MB, Kap. 2.3.3.) Dieser Begriff taucht auch bei Butler häufig auf, allerdings in einem abstrakten Sinn (vgl. z.B. GT 214). 241
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Tab. 2: Zur Analyse der Antworten der Jugendlichen 1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
242
Ja! Auf der Straße bei einer Schwulen und Le- Straße (stat.?) spen Demonstration. (Sex) Mw
M
Ich saß an einem Samstag in meinem Auto und fuhr die Straße entlang. Die Sonne schien und ein paar Meter vor mir fuhr ein Auto auf der linken Spur. In dem Wagen sah ich lange blonde Haare also fuhr ich ein wenig schneller. Als ich neben dem Wagen fuhr und in das Auto rein sah, habe ich mich ziemlich erschrocken. Es war ein Mann.
M
Autofahrt dyn. »also«
Mm
Ja, das ist mir schon passiert, aber nur auf den (?) (stat.) ersten Blick wenn ich jemanden von hinten sehe. »aber nur« Fw
F
Ja, ich hab einen Mann gesehen, der lange Haa- (?) (stat.) re hatte, ein Mädchengesicht und ziemlich klein. Fw
F
Ja. Ich sah auf der Straße ein Päärchen von Hinten. Eine Person war groß mit kurzen Haaren und die andere klein mit langen Haaren. Die große Person war die Frau, die kleine der Mann.
Straße (dyn.?) »von Hinten« Fw
F
Ja, aber immer nur im Fernsehen! Mal war es eine Frau, die sich zu einem Mann umoperiert hat und mal war es ein Mann der sich zu einer Frau hat umoperiert lassen.
Fernsehen (stat.) »aber immer nur« Fw
F
Ja, sogar schön öfter. Meistens in Bussen oder Bahnfahrt Bahnen. Am häufigsten sind es Frauen, die ich (dyn.) als Männer sehe. Fw
F
Ja ich hab auf der Straße einmal eine auffällig Gekleidete Frau bemerkt. Es hat sich beim genaueren Hinsehen herausgestellt, dass es ein Mann war.
F
Straße (dyn.?) »auffällig« Fw
Ja, hier bei mir in der Siedlung wohnt ein Mäd- Straße? chen, wo ich früher dachte das es ein Junge ist. ??
M
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
10.
11.
12.
Ja, ich habe schon mal einen Mann mit einer ?? »mal« Frau verwechselt. Erst Fw
-
Ja, das ist mir schon einmal passiert bzw. mehr- ?? »einmal« mals Fw
F
Ja, das ist mir schon öfters passiert z.B. bei Leu- ?? ten Männern die sich weiblich anziehen oder an- »öfters« dersherum. Fw
F
13.
Ja, aber selten! (Bei „normalen“ Leuten und bei Straße?(stat.?) Schwulen + Lespen) »aber« Fw F
14.
Ja, auf einer Veranstaltung von Schwulen + Les- Straße (Sex) ben und auf dem Kiez. Mw
F
Ja, zwei mal, ein Mädchen auf der Schule von der ich immer dachte, sie sei ein Junge, traf ich auf der Mädchentoilette und bei einer Person weiß ich bis heute nicht ob Männlein o. Weiblein. Ein/e Schuhverkäufer/in in Bergedorf. Ich habe mit Freunden darüber geräzelt aber keiner weiß es.
1. Toilette (stat.)
F
Ja, ich war mit meiner Freundin in der Stadt und da sahen wir ein Paar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Meine Freundin sagte da plötzlich: „Oh, guck mal ein lesbisches Päärchen.“ Nach wenigen Sekunden drehte sich die eine Person um und wir erkannten, dass es ein Junge war mit langen Haaren. Und gestern, ich saß mal wieder in der Eisdiele und 1-2 Meter von mir entfernt saß jemand mit langen Haaren. Ich wunderte mich nur über die starke Beinbehaarung die bei der kurzen Hose nicht unübersichtlich waren. Anstelle der Frau würde ich sie ja abrasieren aber da es wiederum ein Mann war ist dies wohl sehr ungewöhnlich.
1. Straße (dyn.) (Sex) M/Fw ?
15.
16.
2. Laden (dyn?) »aber« F/Mw?
2. Eisdiele (stat.) »auffällig«
Fw
F
243
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
In dieser Übersicht wird deutlich, dass ich (trotz einiger Fragezeichen) bei fast allen Antworten auf die Regel, nach der die Darstellungen gegeben werden, und damit auf das Geschlecht, das die SchülerInnen angegeben haben, schließen konnte. Dies überrascht insofern, als die Darstellungen sehr kurz sind. Es bestätigt aber umgekehrt, dass es sinnvoll ist, nicht vom Reichtum (und der Handlungsfähigkeit), sondern von der Knappheit der Möglichkeiten, als »Frau« bzw. »Mann« zu sprechen, auszugehen. Dass dadurch der Blick auf das Sprechen sehr verändert ist, lässt sich anhand dieser Darstellungen im Einzelnen genauer darstellen. Dabei möchte ich zunächst hervorheben, dass es wichtig ist, von der Pluralität und der Überlappung der Diskurse auszugehen. Eine dieser 16 Darstellungen, nämlich Nr. 2, ist durch die Mm-Regel angeleitet. Hier erhebt also jemand Anspruch auf Geltung als »Mann« im muslimischen Diskurs. Es wird eine dynamische Subjektposition gewählt. Außerdem wird eine finale Annäherung dargestellt, denn an dem kleinen Wörtchen »also« ist zu erkennen, dass das Subjekt aufgrund der Identifizierung des Objekts als (vermeintlich) weiblich (»lange blonde Haare«) »schneller fuhr«: Ich saß an einem Samstag in meinem Auto und fuhr die Straße entlang. Die Sonne schien und ein paar Meter vor mir fuhr ein Auto auf der linken Spur. In dem Wagen sah ich lange blonde Haare also fuhr ich ein wenig schneller. Als ich neben dem Wagen fuhr und in das Auto rein sah, habe ich mich ziemlich erschrocken. Es war ein Mann.
2.
Autofahrt dyn. »also«
Mm
M
Diese Darstellung ist in Bezug auf die Mm-Regel korrektgehend. Das heißt: In einer Schulklasse (in Deutschland) spricht jemand in deutscher Sprache nach der Regel des muslimischen Diskurses. Daran zeigt sich deutlich, dass der Geltungsbereich eines Diskurses nicht über die Sprache zu bestimmen ist. Anhand dieser Darstellung sind einige Fragen zu formulieren: Warum spricht dieser Sprecher überhaupt nach einer Regel des muslimischen Diskurses? Warum spricht er, wenn er das deutsche Bildungssystem bis zur 11. Klasse durchlaufen hat und Deutsch als oder wie seine Muttersprache spricht, nicht nach der Regel des westlichen Diskurses?6
6
Ob dieser Schreiber auch Türkisch, Arabisch, Persisch oder Urdu (als Erst- oder Zweitsprache) spricht, ob er ein »Migrant« ist, ist nicht zu erkennen. Es ist auch unwichtig. Wichtig ist vielmehr, dass es neben dem
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DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
Hätte er nicht auf hybride Weise sprechen müssen? Wenn nach Bhaba davon auszugehen ist, dass die Macht immer schon Hybridisierung erzeugt, wäre dann nicht zu folgen, dass die Macht des Diskurses im (westlichen) Bildungssystem ihn dazu zwingt, auf hybride Weise zu sprechen? Warum also bringt er keine Hybridform, wie ich sie definiert habe, nämlich eine fehlgehende Wiederholung in Bezug auf beide Regeln, zustande?7 Und warum spricht er so sicher? Warum ist kein »Schrecken« (Butler) zu erkennen?8 Hier ist nicht der Raum, all diese Fragen zu beantworten. Weiter unten werde ich darstellen, dass und warum jemand, der Geltung als »Mann« beansprucht, nicht gleichzeitig im westlichen und im muslimischen Diskurs regelgemäß sprechen kann. Aber erklärt diest, dass er überhaupt nach einer Regel des muslimischen Diskurses spricht? Dies ist jedenfalls ein Aspekt, den ich besonders hervorheben möchte. Auch wenn bei einer schriftlichen Darstellung keine Aussage zur Reaktion von Anderen auf diese Darstellung zu machen ist, also nicht zu erkennen ist, ob diese Darstellung »gestraft« wird, so lässt sich nach den methodologischen Ausführungen im vorangehenden Kapitel folgern, dass Andere, z.B. der Lehrer und/oder seine MitschülerInnen wie selbstverständlich auf seine Darstellung mit einem Lachen reagieren, also dieses Sprechen sanktionieren würden. (Vielleicht hat auch der Leser/die Leserin bei der Lektüre »geschmunzelt«?) Bei der Annahme nur eines Diskurses in der Theorie würde diese Darstellung auch in der Analyse in eben der Weise, wie es im Alltag immer wieder geschieht, als fehlgehende Wiederholung zu bewerten sein. Das heißt: Die Ausgrenzung, die Verweigerung der Anerkennung als intelligibles Subjekt, die dieser Sprecher, wenn er im Alltag auf diese Weise spricht, erfährt, würde durch die Theorie wiederholt, abgesichert und legitimiert. Nur bei der Annahme der Pluralität der Diskurse und der Regeln lässt sich zeigen, dass dieser Sprecher in eben der Weise »vernünftig« und intelligibel
7
8
westlichen Diskurs an einem bestimmten Ort auch andere Diskurse gibt, von denen ich hier nur den muslimischen untersucht habe. Da ich auch ein Interview in deutscher Sprache mit einem Sprecher, der aus Indien stammt, geführt habe und dieser in Bezug auf die Mw- und die Mm-Regel eine fehlgehende Wiederholung gibt, habe ich einen Hinweis darauf, dass er möglicherweise nach einer hier nicht untersuchten anderen Regel bzw. in einem anderen Diskurs spricht (vgl. MB, Kap. 3.4.1.1.). Es gilt, die Pluralität der Diskurse vorauszusetzen, auch wenn ich hier nur zwei Diskurse bzw. die Regeln für »Mann« und »Frau« in zwei Diskursen analysiert habe. Immerhin fällt auf, dass in dieser Darstellung vom »Erschrocken-Sein« die Rede ist. Erschrickt der Sprecher am Ende vielleicht selbst über das, was er gesagt hat? 245
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
nach der Mm-Regel spricht wie der Sprecher in Nr. 1 nach der MwRegel spricht.9 Betrachten wir dazu die Darstellung Nr. 1: Ja! Auf der Straße bei einer Schwulen und Lespen Demonstration. Dass diese Darstellung durch die Mw-Regel angeleitet ist, ist daran zu erkennen, der Sprecher einen Hinweis auf das homosexuelle Begehren der Objekte gibt. (Deshalb habe ich »Sex« in Klammern eingefügt.) Er bringt also das »InteressiertSein an Fragen des Geschlechts und/oder der Geschlechtlichkeit« zum Ausdruck. Zwar erfüllt dieser Sprecher nur zwei von drei Bedingungen der Mw-Regel, gleichwohl ist daraus schon zu folgern, dass der Schreiber Anspruch auf die Geltung als »Mann« im westlichen Diskurs erhebt. Wenn er sein Geschlecht mit »männlich« angibt, habe ich in meiner »blinden« Analyse also das Geschlecht, als das er gelten will, herausgefunden. Dazu noch eine Bemerkung: Einerseits habe ich aufgezeigt, dass die Subjektposition von zentraler Bedeutung ist und die Regeln die Wahl der Position des Subjekts der Darstellung mehr oder weniger vorgeben. Andererseits zeigt sich hier, dass diese (wie in den meisten Darstellungen) nicht genannt wird, sondern nur erschlossen werden kann. (Deshalb habe ich »stat.« oder »dyn.« in Klammern gesetzt und manchmal mit einem Fragezeichen versehen.) Es ist zwar zu erkennen, dass die Darstellung auf der Straße situiert wird, aber es ist nicht deutlich zu erkennen, ob das Subjekt auf der Straße »steht« oder »geht«, denn die Aktivität des Subjekts ist nicht betont. Mehr noch: Da ein Ich in dieser Darstellung nicht vorkommt, scheint es, als sei es in der dargestellten Situation selbst nicht leiblich präsent. Dies scheint ein Merkmal des Sprechens im westlichen Diskurs zu sein.10 Ich habe es jedoch nicht als eine Bedingung für die Geltung als »Mann« oder »Frau« im westlichen Diskurs formuliert, denn es gibt in den mündlichen Äußerungen keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür, dass dies sanktioniert wird. Nun fällt auf, dass die Darstellungen in Nr. 13 und Nr. 14 fast identisch sind mit Nr. 1. Während ich bei Nr. 14 gefolgert habe, dass sie wie Nr. 1 durch die Mw-Regel angeleitet ist – die Schreiberin aber ihr Ge9
Um zu erklären, warum dieser Sprecher nach der Mm-Regel spricht, wird man möglicherweise versuchen, auf ein identitäres Interesse zurückzugreifen. Dies ist im diskurstheoretischen Ansatz schwierig. Ich argumentiere daher eher umgekehrt, dass, so wie es für den Sprecher nicht infrage steht, dass er im muslimischen Diskurs spricht bzw. sprechen kann/muss, die Überlappung der Diskurse vorauszusetzen ist, weil weder geographische und sprachliche Grenzziehungen möglich sind. 10 Dies ist vielleicht auch im Sinne der Vermeidung des konkreten Denkens, das Kung-Ming Wu für das westliche Denken postuliert, zu lesen (vgl. Anm. oben).
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DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
schlecht mit »weiblich« angibt – habe ich bei Nr. 13 gefolgert, dass sie durch die Fw-Regel angeleitet ist: 1.
Ja! Auf der Straße bei einer Schwulen und Le- Straße (stat.?) spen Demonstration. (Sex) Mw
M
13.
Ja, aber selten! (Bei „normalen“ Leuten und bei Straße?(stat.?) Schwulen + Lespen) »aber« Fw F
14.
Ja, auf einer Veranstaltung von Schwulen + Les- Straße (Sex) ben und auf dem Kiez. Mw
F
Dass ich bei Nr. 13 auf die Fw-Regel geschlossen habe, ist darin begründet, dass, auch wenn in allen drei Darstellungen auf »Sex« hingewiesen wird, diese Schreiberin vorausschickt »aber selten!« und dadurch die Häufigkeit des Irrtums einschränkt. Derartige Restriktionen sind Anzeichen für eine »defensive Darstellungsstrategie«, die für die Geltung als »Frau« im westlichen Diskurs notwendig ist. Das heißt: Auch wenn diese Sprecherin das nach der Fw-Regel Unsagbare sagt, indem sie einen Hinweis auf die (Homo-)Sexualität der Objekte gibt – sie hätte ihr »Nicht-Interessiert-Sein an Fragen des Geschlechts und/oder der Geschlechtlichkeit« zum Ausdruck bringen müssen – bedeutet dies nicht, dass ihre Antwort nicht durch die Fw-Regel angeleitet ist, denn auch Darstellungen, die in Bezug auf eine Regel fehlgehen, sind noch durch die Regel angeleitet.11 Dementsprechend ist, wann immer die Häufigkeit eines Irrtums im Geschlecht durch ein »aber nur« (Nr. 3) oder »aber immer nur« (Nr. 6) eingeschränkt wird, zu vermuten, dass dies durch die Fw-Regel bedingt ist. Dadurch lässt sich umgekehrt folgern, dass auch Angaben wie »sogar schon öfter« (Nr. 7) oder »schon öfters« (Nr. 12), in denen die Häufigkeit betont wird, noch durch die Fw-Regel angeleitet sind, auch wenn sie in Bezug auf diese fehlgehen. Dies lässt sich auch an Nr. 12, in der »ein« durchgestrichen und durch »öfters« ersetzt wird, zeigen: »Ja, das ist mir schon ein öfters passiert z.B. bei Leuten Männern die sich weiblich anziehen oder andersherum.« Diese Antwort vermasselt sich durch »öfters«. An den Korrekturen ist dabei möglicherweise die Sorge (und Unsicherheit) der Sprecherin, das
11 Deshalb habe ich in der Tabelle nicht eingetragen, ob die Antworten in Bezug auf eine Regel korrekt- oder fehlgehend sind, sondern nur, durch welche Regel sie angeleitet sind. 247
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Unsagbare zu sagen, zu erkennen. In Nr. 10 führt diese Sorge offensichtlich zum »Abbruch«: 10.
Ja, ich habe schon mal einen Mann mit einer ?? »mal« Frau verwechselt. Erst Fw
-
In »schon mal« ist zwar eine Einschränkung der Häufigkeit des Irrtums angedeutet, da diese aber nicht sehr deutlich ist, hat hier jemand offensichtlich Sorge, das (für »Frau« im westlichen Diskurs) Unsagbare bereits gesagt zu haben oder noch zu sagen. Möglicherweise gibt sie/er deshalb ihr/sein Geschlecht nicht an. Auch an der Darstellung Nr. 15 ist zu zeigen, dass die Antwort zwar durch die Fw-Regel angeleitet ist, aber in Bezug auf diese fehlgeht. 15.
Ja, zwei mal, ein Mädchen auf der Schule von der ich immer dachte, sie sei ein Junge, traf ich auf der Mädchentoilette und bei einer Person weiß ich bis heute nicht ob Männlein o. Weiblein. Ein/e Schuhverkäufer/in in Bergedorf. Ich habe mit Freunden darüber geräzelt aber keiner weiß es.
1. Toilette (stat.) 2. Laden (dyn?) »aber« F/Mw?
F
Die Schülerin beginnt ihre Antwort mit »Ja, zwei mal.« Auch wenn sie die Häufigkeit einschränkt, sind die beiden Darstellungen in Bezug auf die Wahl des Schauplatzes (»Toilette« und »Laden«) eher nicht Fwregelgemäß, weil das »Nicht-Interessiert-Sein an Fragen der Geschlechtlichkeit« und die »Vermeidung der Darstellung des Gehens« nicht gelingen kann. Bei der zweiten Darstellung kann die Schreiberin auf keinen Fall die Bedingung des »Nicht-Interessiert-Sein an Fragen des Geschlechts« erfüllen, denn genau dies beschreibt sie: »bei einer Person weiß ich bis heute nicht ob Männlein o. Weiblein. Ein/e Schuhverkäufer/in in Bergedorf. Ich habe mit Freunden darüber geräzelt aber keiner weiß es.« Beide Darstellungen vermasseln sich also in Bezug auf die Fw-Regel. Sie könnten auch durch die Mw-Regel angeleitet sein. Insofern habe ich ein Fragezeichen gesetzt und damit angedeutet, dass ich bei dieser Darstellung nicht auf das Geschlecht, das die Sprecherin angegeben hat, schließen konnte. Hier ist auch zu erwähnen, dass ich in der Analyse der mündlichen Darstellungen herausgefunden habe, dass bisweilen zwei oder drei Darstellungen gegeben werden, weil die Sprecher versuchen, nach einer fehlgehenden Darstellung dies zu korrigieren, indem sie eine weitere Darstellung geben, die regelgemäß ist. Dies gelingt nicht immer, denn 248
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
wie sich soeben gezeigt hat, vermasselt sich bisweilen auch die zweite Darstellung.12 Anhand der Darstellungen in Nr. 16 lässt sich jedoch zeigen, dass die zweite Darstellung sehr wohl gelingen kann, nachdem die erste fehlgegangen ist. Hier ist auch auf das Problem der absichtsvoll fehlgehenden, subversiven Wiederholung einzugehen. 16.
Ja, ich war mit meiner Freundin in der Stadt und da sahen wir ein Paar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Meine Freundin sagte da plötzlich: „Oh, guck mal ein lesbisches Päärchen.“ Nach wenigen Sekunden drehte sich die eine Person um und wir erkannten, dass es ein Junge war mit langen Haaren. Und gestern, ich saß mal wieder in der Eisdiele und 1-2 Meter von mir entfernt saß jemand mit langen Haaren. Ich wunderte mich nur über die starke Beinbehaarung die bei der kurzen Hose nicht unübersichtlich waren. Anstelle der Frau würde ich sie ja abrasieren aber da es wiederum ein Mann war ist dies wohl sehr ungewöhnlich.
1. Straße (dyn.) (Sex) M/Fw ?
2. Eisdiele (stat.) »auffällig«
Fw
F
Diese Schreiberin wählt in ihrer ersten Darstellung die »Straße« als Schauplatz und schließt dabei nicht aus, dass sie »gegangen« ist. Da sie zudem auf die (Homo-)Sexualität der Objekte hinweist, scheint die erste Darstellung eher durch die Mw- als durch die Fw-Regel angeleitet zu sein, zumal die Sprecherin deutlich macht, dass sie Objekte interessiert betrachtet hat. (Allerdings wählt sie insofern eine geschickte Strategie, als sie nicht sagt, dass sie selbst die Objekte interessiert betrachtet habe, sondern dies der Freundin unterschiebt.) Dann gibt die Sprecherin eine zweite Darstellung, die in Bezug auf die Fw-Regel korrektgehend ist, denn nun wählt sie deutlich eine statische Position des Subjekts (»ich saß«). Außerdem wird nun der Anblick des Objekts durch den Hinweis auf die Auffälligkeit (»starke Beinbehaarung, die bei der kurzen Hose nicht unübersichtlich waren«) plausibilisiert bzw. »entschuldigt«. Es könnte sein, dass es sich bei ihrer ersten Darstellung um eine »subversive«, d.h. um eine absichtsvoll fehlgehende Wiederholung han12 Hier ist darauf hinzuweisen, dass die Darstellungen von Jugendlichen gegeben werden und es daher sein könnte, dass das Sprechen als »Frau« bzw. »Mann« noch nicht immer gelingt. Die Analyse der mündlichen Darstellungen erwachsener SprecherInnen zeigt aber, dass auch diese bisweilen hintereinander zwei oder gar drei sich vermasselnde Darstellungen geben. 249
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
delt. Wie oben aufgezeigt, halte ich es einerseits für problematisch anzunehmen, dass Subjekte absichtsvoll fehlgehende Wiederholungen zustande bringen (weil dem Subjekt eine Intention zugeschrieben wird und damit die Gefahr besteht, dass ein Subjekt vor dem Feld angenommen wird). Andererseits scheint diese Schülerin nicht ohne Absicht zunächst nach der Mw-Regel zu sprechen.13 Vielleicht versucht sie in ihrer ersten Darstellung, auf eine noch nicht legitimierte Weise (Butler), in ihrer zweiten auf eine legitimierte zu sprechen. Dabei ist allerdings zu fragen, ob es sich wirklich um den Versuch einer Veränderung des Sprechens als »Frau« handelt, wenn sie zunächst nach der Regel für »Mann« spricht. Außerdem ist zu fragen, ob, wenn ihre zweite Darstellung in Bezug auf die Fw-Regel regelgemäß, also eine bejahende Reartikulation ist, durch die erste Darstellung das Sprechen als »Frau« (im westlichen Diskurs) destabilisiert werden könnte. Wenn eine absichtsvoll fehlgehende Wiederholung durch eine weitere Darstellung »korrigiert« und dadurch ihre destabilisierende Funktion sozusagen widerrufen wird, ist auch der Stellenwert der subversiven Wiederholung zu betrachten. Anhand dieser Darstellung lässt sich die Schwierigkeit, zwischen absichtsvoll und zufällig fehlgehenden Wiederholungen zu unterscheiden, verdeutlichen. Damit ist zu unterstreichen, dass hier auf jeden Fall Diskussions- und Klärungsbedarf für die diskurstheoretische Methodologie besteht, wie ich oben im Kapitel »Diskurstheorie und -analyse« bereits aufgezeigt habe. Meine Betrachtung der schriftlichen Irrtumsdarstellungen möchte ich mit einem methodologischen Hinweis abschließen. Ich habe diese Darstellungen vorgestellt, um meine Ergebnisse zu veranschaulichen. Dies ist möglich, weil ich herausgefunden habe, dass die Regeln nicht nur für mündliche, sondern auch für schriftliche Darstellungen gelten. Das heißt allerdings nicht, dass ich durch die Analyse dieser Dokumente die Regeln hätte herausfinden können, denn hierfür sind die Reaktionen auf das Gesagte, der »Schrecken« bei den SprecherInnen selbst und/oder die sanktionierenden Reaktionen von anderen, zu betrachten. Da diese in schriftlichen Äußerungen nicht zu erkennen sind bzw. die Interaktionsebene nicht zugegen ist, kann eine diskurstheoretische Analyse, die nach den Regeln des aktuellen Sprechens sucht, erst nach der Analyse von 13 Immerhin gibt sie die längste Antwort. Sie begnügt sich nicht damit, nur kurz und knapp zu antworten, sondern wählt sozusagen eine elaborierte Darstellungsweise. Auch die Art und Weise, wie sie der Freundin das für »Frau« Unsagbare zuschreibt, lässt erahnen, dass sich ihre Darstellung nicht hinter ihrem Rücken, wider Willen vermasselt, sondern dass sie eher absichtsvoll auf eine nicht legitimierte Weise spricht. 250
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
mündlichen Dokumenten erfolgen. Ich bedaure sehr, hier nicht aufzeigen zu können, wie ich die Interviewtexte im Einzelnen analysiert habe. Der größte Teil des »Materialbandes« handelt von der Entwicklung und Anwendung dieses Verfahrens (und insofern bietet er nicht nur anschauliches »Material«, sondern auch Anleitung für die diskurstheoretische Analyse von Interviewtexten). Mir ging es hier vor allem darum aufzuzeigen, welche Ergebnisse mit dem »Werkzeug«, das ich aus dem FeldModell entwickelt habe, zu erzielen sind. Dazu noch eine Bemerkung: Ist es nicht überraschend, dass, obwohl alle Antworten auf den ersten Blick als mehr oder weniger spontane und freie Äußerungen erscheinen, sich diese als »Effekte« der Regeln betrachten lassen? Weder mit einem realistischen Ansatz, in dem »Mann« und »Frau« als am Körper abzulesende Tatsachen, noch mit einem konstruktivistischen Ansatz, in dem Geschlecht als soziale Konstruktion betrachtet wird, können die Bedingungen, die das Sprechen als »Frau« oder »Mann« begrenzen, herausgefunden werden. Dies ist nur möglich, wenn davon ausgegangen wird, dass das Subjekt ein »leerer Raum« ist und die SprecherInnen Subjektpositionen einnehmen müssen, um Geltung als »Frau« oder »Mann«, als intelligibles Subjekt, beanspruchen zu können. Damit kehre ich zurück zur Diskussion der Regeln.
Zur unterschiedlichen »Komplexität« der Regeln An meiner schematischen Darstellung der Bedingungen der Regeln fällt auf, dass die Regeln des westlichen Diskurses mehr Bedingungen aufweisen als die Regeln des muslimischen Diskurses. Die Mw-Regel z.B. enthält die drei Bedingungen »Interessiert-Sein an Fragen des Geschlechts«, »Interessiertes Betrachten anderer Personen« und »Angenähert-Werden von weiblichen Objekten«, während für die Mm-Regel nur die Bedingung »finale Annäherung an ein weibliches Objekt« angeführt wird. Außerdem ist, während die Mm-Regel leicht verständlich ist (und das zu bestätigen scheint, was frau immer schon von »Mann« erwartet), die Mw-Regel eher schwer verständlich (und scheint im Übrigen ähnlich wie die Fw-Regel dem common sense zu widersprechen.) Hier stellt sich die Frage: Warum zeigt sich nur bei den Regeln des westlichen Diskurses diese »Komplexität«, nicht jedoch bei den Regeln des muslimischen Diskurses? Meine Antwort, die im Folgenden plausibilisiert werden soll, lautet: Sie zeigt sich deshalb, weil das Subjekt im westlichen Diskurs als »Begehrenssubjekt« erscheint, im muslimischen Diskurs jedoch nicht. In Kapitel »Projektidee« habe ich aufgezeigt, dass Foucault zwischen Gesellschaften mit einer ars erotica und der »abendländischen« mit einer scientia sexualis unterscheidet. Letztere sei entstanden bzw. 251
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
weiterentwickelt worden, als mit Augustinus die Kämpfe gegen die Begehrlichkeit wichtig wurden. Das Sexualverhalten sei fortan problematisiert worden. Nicht mehr die Ästhetik des Gebrauchs der Lüste, sondern die Erforschung des Begehrens und seine reinigende Hermeneutik (vgl. GL 318), nicht mehr die Verfeinerung des Liebeskunst, sondern die Erforschung des Selbst und des Begehrens sei nun zur Aufgabe jedes Einzelnen geworden. Dabei sei die sexuelle Aktivität selbst »in die Nähe des Übels« gerückt worden (vgl. Ss 306). Da Foucault muslimische Gesellschaften nicht den Gesellschaften mit einer »Liebeskunst« zurechnet, lässt sich folgern, dass in diesen über Sexualität nicht als Begehren, sondern als Praxis gesprochen wird bzw. werden kann: Da die sexuelle Aktivität nicht durch eine augustinische Lehre »in die Nähe eines Übels gerückt« wurde, wie Foucault schreibt, sondern, wie Mernissi schreibt, durch al-Gazali zum »Vorgeschmack auf das Paradies« erklärt wurde (vgl. oben Kap. Projektidee), erscheint das Subjekt im muslimischen Diskurs nicht als ein seine inneren Regungen erforschendes, sondern eher als ein am Vollzug interessiertes Subjekt. Auf diese Weise erklärt sich, dass nach der Mm-Regel auf die »finale Annäherung an ein weibliches Objekt« hinzuweisen ist. »Final« meint hier zweckgerichtet, nämlich im Sinne eines Um-zu-Motivs der Annäherung. Das Subjekt nähert sich einem weiblichen Objekt an, um »es zu machen«, um sexuellen Kontakt zu haben. Es wird damit deutlich, dass der Körper im muslimischen Diskurs sozusagen konkret gedacht oder allgemeiner formuliert: Körperlichkeit in einer anderen Weise gedacht wird als im westlichen Diskurs. Damit lässt sich der Unterschied zwischen der Mw- und der MmRegel erklären: Während nach der Mm-Regel das Bemühen um den Körperkontakt zum Ausdruck gebracht werden soll, soll nach der MwRegel (nur) das interessierte Betrachten angezeigt werden. Da die sexuelle Aktivität »in die Nähe des Übels« gerückt worden ist, kann sie in der Mw-Regel nicht als »Ziel« erscheinen. Zwar soll ein »InteressiertSein an Fragen des Geschlechts und/oder der Geschlechtlichkeit«, also ein Interesse an Fragen des Sexes in der doppelten Bedeutung des Wortes, nicht aber ein Interesse am sexuellen Akt angezeigt werden. Dies scheint die komplexe, wenn nicht widersprüchliche Formulierung der Mm-Regel zu bedingen. In gewissem Sinne habe ich also in meiner Analyse eine Bestätigung für Foucaults Kontinuitätsannahme (»von den Anfängen unserer Zeitrechnung bis heute«) gefunden: Es scheint eine sehr alte Bedingung für die Geltung als intelligibles Subjekt im westlichen, »abendländischen« Diskurs zu sein, nicht über die Praxis, sondern über das Interessiert-
252
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
Sein, das Begehren zu sprechen.14 Dazu ist nun auf die Unterschiede der Regeln für »Mann« und »Frau« einzugehen, denn diese werden bei Foucault weitgehend ignoriert, wie Butler zu Recht kritisiert hat (vgl. GT 11).
D i e As y m m e t r i e i n d e n R e g e l p a a r e n Oben habe ich bereits darauf hingewiesen, dass das System der Zweigeschlechtlichkeit sich als eine den Regeln für »Mann« und »Frau« übergeordnete Regel formulieren lässt (»Wenn du als intelligibles Subjekt Geltung beanspruchen willst, musst du entweder als Mann‹ oder als ›Frau‹ sprechen.«) und dass diese sowohl für den westlichen als auch für den muslimischen Diskurs anzunehmen ist. Hier ist zunächst aufzuzeigen, dass im muslimischen Diskurs die Regel für »Mann« vor der Regel für »Frau« da ist, dass also letztere ersterer nachgeordnet ist.
Das Regelpaar im muslimischen Diskurs Nach meiner Analyse ist im muslimischen Diskurs Geltung als »Frau« zu beanspruchen unter der Bedingung, dass auf die »Distanz zu männlichen Objekten« hingewiesen wird. Diese Bedingung erklärt sich dadurch, dass die Mm-Regel dazu anleitet, ein Bemühen um eine finale Annäherung an ein weibliches Objekt zum Ausdruck zu bringen. Wenn also auf der einen Seite die Geltung als »Mann« davon abhängig ist, dass das Interesse an sexueller Aktivität, am Geschlechtsakt bekundet wird, ist auf der anderen Seite die Geltung als »Frau« davon abhängig, dass angezeigt wird, dass kein Körperkontakt mit einem gegengeschlechtlichen Objekt möglich war, dass also die »finale Annäherung« nicht erfolgt ist oder erfolglos blieb. Die Aufforderung, einen Hinweis auf die (dauerhafte oder wiederhergestellte) Distanz zu männlichen Objekten zu geben, versteht sich vor dem Hintergrund der Mm-Regel. Insofern ist zu folgern, dass die Fm-Regel auf die Mm-Regel »antwortet«. Die Mm-Regel ist sozusagen vor der Fm-Regel da. Dazu eine Bemerkung: In meinem Datenmaterial habe ich Indizien dafür gefunden, dass die Fm-Regel sich verändert bzw. erweitert worden ist (vgl. MB, Kap 3.3.4.). Anders formuliert: Es scheint eine Grund- und eine erweiterte Form dieser Regel zu geben: In der Grundform wird da14 Nach Foucault hat die »Diskursivierung« des Sexes zwar erst im späten 18. Jahrhundert stattgefunden, doch er zeigt auch auf, dass die Aufgabe, sein eigenes Inneres zu erforschen, viel älteren Datums ist (vgl. Kap. 1.3.1.). 253
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
zu aufgefordert anzuzeigen, dass das Subjekt nie gegengeschlechtlichen Objekten begegnet ist, in der erweiterten Regel wird das Zusammentreffen des Subjekts mit einem gegengeschlechtlichen Objekt prinzipiell für möglich gehalten – sowohl das Subjekt als auch das Objekt können eine dynamische Position haben – aber es wird gefordert anzuzeigen, dass es nicht zum direkten körperlichen Kontakt gekommen ist, indem auf die Wiederherstellung der Distanz (durch geçmek »Vorbeigehen«) hingewiesen wird.15 Dieser Befund ist insofern wichtig, als daran abzulesen ist, dass die Bedingungen für den Geltungsanspruch als »Frau« im muslimischen Diskurs sich offensichtlich erweitert haben. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass diese Veränderung nicht bedeutet, dass sich die Struktur des Regelpaares verändert hat, denn auch die erweiterte FmRegel ist noch auf die Mm-Regel bezogen. Unabhängig davon, ob die prinzipielle oder die wiederhergestellte Distanz zu männlichen Objekten anzuzeigen ist, ist die Fm-Regel weiterhin der Mm-Regel nachgeordnet. Dazu ein Gedankenspiel: Die Fm-Regel könnte lauten: »Zeig an, dass du dich männlichen Objekten angenähert hast (um ›es‹ zu machen).« Dann wäre sie symmetrisch zur Mm-Regel formuliert. »Mann« und »Frau« würden gleichermaßen ein Interesse an der Praxis zum Ausdruck bringen. Da dies nicht der Fall ist, ist zu folgern, dass durch die Regel für »Frau« – und nicht durch die für »Mann« – die Einschränkung sexueller Kontakte auf legitime (Ehe-)Partner geregelt wird. Ein weiterer Gedanke: Die Fm-Regel könnte auch lauten: »Zeige an, dass du von männlichen Objekten angenähert wurdest, ihnen aber keine Chance gegeben hast, ›es‹ zu machen.« (Dies ist nach meiner Lesart die Bedeutung der Regel.) Auf diese Weise würde direkt auf die Mm-Regel Bezug genommen. Offensichtlich ist das Anzeigen des Angenähert-Werdens durch männliche Objekte aber keine Bedingung für die Geltung als »Frau« – in den von mir analysierten (Fm-regelgemäßen) Darstellungen wird dies nicht angezeigt – sodass ich gefolgert habe, dass der Zusammenhang zwischen beiden Regeln eher lose geknüpft ist. Beide Regeln enthalten zwar Hinweise auf gegengeschlechtliche Objekte – und daran zeigt sich, dass sie aufeinander bezogen, d.h. komplementär zueinander sind – aber sie enthalten keine Hinweise auf das Handeln dieser Objekte. Dieser Aspekt wird deutlicher bei der Betrachtung des Regelpaars im westlichen Diskurs, denn hier zeigt sich ein Unterschied. 15 Die Annahme der Erweiterung der Fm-Regel macht insofern Sinn, als, wenn das Prinzip der Geschlechtertrennung in muslimischen Gesellschaften zunehmend aufgeweicht wird, wie Mernissi schreibt (vgl. oben Kap. Grundannahmen), sich hier zeigt, dass es für den Geltungsanspruch als »Frau« im muslimischen Diskurs nicht mehr notwendig ist, auf die prinzipielle räumliche Trennung hinzuweisen. 254
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
Das Regelpaar im westlichen Diskurs In den Regeln des westlichen Diskurses wird sowohl für die Geltung als »Mann« als auch für die Geltung als »Frau« gefordert, ein InteressiertSein an Fragen des Geschlechts und/oder der Geschlechtlichkeit anzuzeigen, wenn auch in der Fw-Regel mit umgekehrten Vorzeichen. Dieses Aufrufen und Verneinen des sexuellen Interesses verweist noch auf die »Diskursivierung« des Sexes, die Foucault beschrieben hat:16 Nun hat er auch darauf hingewiesen, dass »die scientia sexualis zumindest in einigen ihrer Dimensionen wie eine ars erotica funktioniert« (WW 90), denn es habe sich eine »›Lust an der Analyse‹ (Analyse im weitesten Sinne des Wortes), die das Abendland seit mehreren Jahrhunderten gelehrt genährt hat)« herausgebildet (vgl. ebd. 91). Dies lässt sich auf das »Begehrenssubjekt« beziehen. Mit diesem Begriff ist weniger das begehrende, als vielmehr das das Begehren analysierende Subjekt gemeint. Die Lust ist nicht auf die sexuelle Praxis, sondern auf die Analyse des sexuellen Begehrens gerichtet. Dies wiederum erklärt den Willen zum Wissen, der in den Darstellungen in Äußerungen wie »Ich hab gerätselt«, »Ich wollte es wissen.«, »Ich war einfach interessiert.« durchscheint. An dieser Stelle klärt sich, warum das (Nicht-)Interessiert-Sein an Fragen des Geschlechts und der Geschlechtlichkeit in der Mw- und FwRegel auftaucht: Die Thematisierung des Begehrens steht im Zeichen der »Lust an der Analyse«, des Wissen-Wollens. Möglicherweise klärt sich damit auch, dass sowohl nach der Mw- als auch nach der Fw-Regel eine statische Position des Subjekts zu wählen ist: Es hängt mit der »Enthaltsamkeit« des Begehrenssubjekts zusammen. Damit angezeigt werden kann, dass das Subjekt den Sex nicht praktiziert, sondern analysiert (und sich dabei in Enthaltsamkeit übt), leiten beide Regeln zur Wahl einer statischen Position an. Hier ist es wichtig festzuhalten, dass auch in der Fw-Regel das Begehrenssubjekt enthalten ist. Auch wenn in der Fw-Regel gefordert wird, kein Interessiert-Sein an Fragen des Geschlechts und der Geschlechtlichkeit und kein interessiertes Betrachten von Personen erkennen zu lassen, wird es zwar negiert, indem es aber überhaupt angeführt wird, wird es dennoch aufgerufen. Noch in einer anderen Hinsicht zeigt sich eine »kontradiktorische Struktur« des Regelpaares im westlichen Diskurs. Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass, wenn nach der Mw-Regel zwar ein Interesse an
16 »Man hat nicht nur den Bereich dessen, was sich über den Sex sagen ließ, ausgebreitet und die Menschen dazu gezwungen, ihn beständig zu erweitern; man hat vor allem den Diskurs an den Sex angeschlossen.« (WW 34) 255
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Fragen des Sexes in der doppelten Bedeutung des Wortes, nicht aber das Interesse, dieses Begehren zu stillen, anzuzeigen ist, durch dieses Andeuten und Verbergen des Interesses am Sex das Sprechen als »Mann« eine erotische Dimension enthält.17 Auffallend ist dabei, dass das »Angenähert-Werden durch ein weibliches Objekt«, das nach der Regel angezeigt werden soll, in den Darstellungen als nicht-intendiert und häufig auch als nicht gewünscht kommentiert wird.18 Vielleicht werden diese Kommentare gegeben, um anzuzeigen, dass kein Interesse an der Praxis bestand. Wichtiger als die Erklärung derartiger Kommentare ist hier der Aspekt, dass, wenn nach der Mw-Regel darzustellen ist, dass das Subjekt von einem weiblichen Objekt »angenähert« wurde, die Mw-Regel eine Aussage zum Handeln weiblicher Objekte enthält. Damit lässt sich zum einen folgern, dass die Fw-Regel auf die Mw-Regel »antwortet«, weil die Anweisung in der Fw-Regel, die Darstellung des »Gehens« zu vermeiden, vor dem Hintergrund der Mw-Regel zu verstehen ist, zum anderen ist zu folgern, dass in der Mw-Regel eine Aussage darüber enthalten ist, wie »Frauen« handeln und dass in der Fw-Regel eine Aussage darüber enthalten ist, wie »Frau« nicht handelt. Das heißt: In der FwRegel wird gefordert, eben die Aktivität, die in der Mw-Regel weiblichen Objekten zugeschrieben wird, zu negieren. Bevor ich auf diese Kontradiktion weiter eingehe, ist festzuhalten: Die Fw-Regel »antwortet« – ähnlich wie die Fm-Regel auf die MmRegel – auf die Mw-Regel. In beiden Diskursen sind die Regeln für »Frau« und »Mann« aufeinander bezogen, und in beiden ist die Regel für »Mann« vor der Regel für »Frau« da. Beide Regelpaare haben eine asymmetrische Struktur, denn die Regel für »Frau« ist nicht spiegelbildlich zu der für »Mann« formuliert. Daraus lässt sich allgemeiner folgern: Die Nachrangigkeit des Terms »Frau« – also die Geschlechterhierarchie – ist in beiden Diskursen durch die Regeln abgesichert. Da die Regeln nur schwer zu verändern sind, folgt daraus auch: Die Aussicht, dass die Geschlechterhierarchie verändert oder aufgehoben werden könnte, ist skeptisch zu beurteilen. Allgemeiner formuliert: Wann immer bzw. in welchem Diskurs auch immer die Regel für »Frau« auf die Regel für »Mann« »folgt«, wird es nur schwer möglich sein, die Nachrangigkeit 17 Die erotische Dimension dieser Regel zeigt sich z.B. daran, dass die Darstellungen häufig an »schwülen« Schauplätzen, wie Bars, Kneipen oder erotischen Bühnenvorstellungen situiert werden. (Drei Darstellungen handeln allein von »Bauchtanz-Vorstellungen«, vgl. MB, Kap. 3.4.3.). 18 In den (Mm-regelgemäßen) Darstellungen sind Äußerungen wie »Hat mir nicht gefallen.«, »Das war zu viel, zu dicht.« zu finden. Mein Datenmaterial reicht aber nicht aus, um zu folgern, dass die (negative) Bewertung des Angenähert-Werdens eine Bedingung für die Geltung als »Mann« im westlichen Diskurs ist. 256
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
des Terms »Frau« zu überwinden. Dass auch bei einer Veränderung der Regel für »Frau« diese Nachrangigkeit nicht zwangsläufig aufgehoben wird, sondern auch erhalten bleiben kann, zeigt sich daran, dass auch die erweiterte Fm-Regel noch der Mm-Regel nachgeordnet ist. Nun gilt es, auf die unterschiedliche Art der Asymmetrie in beiden Regelpaaren hinzuweisen. Während die Asymmetrie des Regelpaares im muslimischen Diskurs darin besteht, dass in der Fm-Regel vage die MmRegel vorausgesetzt wird, zeigt sich die asymmetrische Struktur im Regelpaar des westlichen Diskurses darin, dass die Fw-Regel in Bezug auf die Mw-Regel kontradiktorisch formuliert ist, weil in der Fw-Regel eben die Zuschreibung zum Term »Frau« negiert wird, die in der Mw-Regel enthalten ist. Da die Mw-Regel eine Aussage zum Handeln weiblicher Objekte enthält, ist das Sprechen als »Frau« sozusagen zentriert um die Aufgabe, dieser Bestimmung des Handelns als Subjekt zu widersprechen. Es ist zu vermuten, dass dies die »defensive Darstellungsweise«, die sich als eine Art Bedingung für den Geltungsanspruch als »Frau« im westlichen Diskurs beschreiben lässt, erklärt. Es ist aber noch eine andere Schlussfolgerung zu ziehen: Wenn in der Fw-Regel die in der MwRegel enthaltene Aussage zum Handeln weiblicher Objekte zurückgewiesen wird, ist »Frau« im westlichen Diskurs über die Negation definiert: »Nicht-Interessiert-Sein an Fragen des Geschlechts und/oder der Geschlechtlichkeit«, »kein interessiertes Betrachten anderer Personen«, »keine Annäherung an (weibliche oder männliche) Objekte bzw. Vermeidung der Darstellung des Gehens«. Dies lässt sich auch anders formuliert: So wie die Fw-Regel die einzige Regel ist, die Negationen enthält, ist die Mw-Regel die einzige, die eine Aussage zum Handeln der – weiblichen(!) – Objekte enthält. Durch die Mw-Regel ist der Term »Frau« »markiert«. Weder das »Markiert-Sein« des Terms »Frau« noch das Bestimmt-Sein über die Negation ist universal. Es ist eine Besonderheit der Regeln des westlichen Diskurses. Hierzu ist noch einmal ein Blick auf die feministischen Diskussionen zu werfen. Zuvor ist zusammenfassend festzuhalten, dass in der diskurstheoretischen Analyse, in der die Pluralität der Diskurse vorausgesetzt wird, sich nicht nur zeigt, dass beide Regelpaare eine asymmetrische Struktur aufweisen, sondern auch, dass die Handlungsmöglichkeiten als »Mann« bzw. »Frau« im westlichen Diskurs auf andere Weise begrenzt sind als im muslimischen Diskurs und dass nur im westlichen Diskurs die Regel für »Frau« kontradiktorisch zur Regel für »Mann« formuliert ist.
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DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Der »totalisierende Gestus« bei Butler Der Befund der kontradiktorischen Struktur des Regelpaares im westlichen Diskurs eröffnet eine neue Perspektive auf das feministische Anliegen. Nun lässt sich nämlich folgern, dass es für das Anliegen westlicher Feministinnen zentral sein muss, nicht länger über die Negation definiert zu werden und unabhängig von »männlichen« Zuschreibungen den Subjektstatus zu beanspruchen. Es lässt sich auch folgern, dass dies nicht das Anliegen aller Feministinnen sein kann oder sein sollte. Eine feministische Theorie, die dies nicht berücksichtigt, steht folglich unter dem Verdacht der »Totalisierung« oder Universalisierung. Damit lässt sich auch fragen, ob Butlers Neuansatz für die feministische Theorie diesen westlichen bias überwinden kann. In der Einleitung zu Gender Trouble zeigt Butler auf, dass Beauvoir und Irigaray auf unterschiedlichen Wegen versucht haben, die grundlegenden Strukturen, durch die die Geschlechter-Asymmetrie reproduziert wird, aufzudecken und für Frauen den Subjektstatus zu reklamieren. Während Beauvoir behauptet habe, dass »der weibliche Körper innerhalb des maskulinen Diskurses markiert und der männliche Körper an die Stelle des Universellen gesetzt und unmarkiert« sei, habe Irigaray deutlich gemacht, »dass sowohl das Markierende als auch das Markierte einer maskulinen Weise der Bezeichnung verhaftet« sei und »der weibliche Körper sozusagen aus dem Gebiet des Bezeichenbaren ausgegrenzt« werde (vgl. GT 32). Deutlich zeigt sich hier, wie wichtig für beide Philosophinnen das Problem des »Markiert-Seins« des Weiblichen durch den »maskulinen Diskurs«(!) war. Wenn ich soeben aufgezeigt habe, dass »Frau« nur im westlichen Diskurs durch die Mw-Regel »markiert« und über die Negation definiert ist, so lässt sich kritisieren, dass beide eben dieses Problem im westlichen Diskurs aufgegriffen und als ein universales Problem betrachtet haben. Wie ich im ersten Kapitel aufgezeigt habe, kritisiert Butler den Eurozentrismus bzw. »epistemologischen Imperialismus« in den Ansätzen dieser feministischen Theoretikerinnen: Beauvoir habe den (westlichen) Geist-Körper-Dualismus beibehalten (ebd. 31), Irigaray habe eine monologische maskuline Ökonomie quer durch die ganze Reihe kultureller und geschichtlicher Zusammenhänge behauptet, dabei stelle »das Manko, die spezifischen kulturellen Verfahrensweisen der GeschlechterUnterdrückung (gender oppression) anzuerkennen, selbst eine Art epistemologischen Imperialismus dar«: »Der Versuch, die ›anderen‹ Kulturen als gleichsam bunte Erweiterung eines allumfassenden phallogozentrischen Systems einzuschließen, stellt einen Aneignungsakt dar, der riskiert, die selbsterweiternde Geste des Phallogozentrismus zu wiederho258
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
len.« (Ebd. 33) Wenn Butler fordert, die feministische Kritik müsse einerseits die totalisierenden Ansprüche einer maskulinen Bedeutungsökonomie untersuchen, aber andererseits gegenüber den totalisierenden Gesten des Feminismus selbstkritisch bleiben (vgl. ebd.), der kolonisierende Gestus sei nicht primär oder ausschließlich maskulin, so ist eben diese Forderung auch auf ihren eigenen Neuansatz zu beziehen. Doch auch sie legt eine Lesart des Terms »Frau« vor, die noch bestimmt ist durch das »Markiert-Sein« im westlichen Diskurs, wie ich kurz aufzeigen möchte. Im »Streit um Differenz« gibt Butler das Beispiel eines Vergewaltigungsprozesses, in dem der Klägerin schließlich die Schuld für ihre eigene Vergewaltigung zugeschoben wurde.19 Sie zeigt darin auf, dass das »Zum-Eigentum-des-Mannes-Werden« als »Ziel des ›Geschlechts‹ der Frau« erscheine (vgl. SD 55). Dies ist schon eine überraschende Erkenntnis. Nun wird diese durch die Ergebnisse meiner Untersuchung insofern bestätigt, als in der Regel für »Mann« enthalten ist, dass weibliche Objekte sich annähern. Zwar wird explizit kein Um-Zu-Motiv der Annäherung genannt, aber tendenziell ist darin enthalten, dass es – aus der Perspektive des männlichen Subjekts – das Ziel von »Frau(en)« sei, »zum Eigentum des Mannes zu werden«. Man könnte hier schon wie Beauvoir und Irigaray von einem »maskulinen Diskurs« sprechen, wenn »Diskurs« nicht mehr meint als »Rede«, denn diese Zuschreibung für »Frau« muss in der Rede eines Sprechers, der im westlichen Diskurs Geltung als »Mann« beansprucht, enthalten sein. Damit wird einerseits deutlich, dass Butlers Kritik am »epistemologischen Imperialismus« im Feminismus berechtigt ist, andererseits ist dieselbe Kritik auch auf sie zu beziehen, denn sie gibt keinen Hinweis darauf, dass nur im westlichen Diskurs und nur aufgrund der Mw-Regel das »Zum-Eigentum-desMannes-Werden« als »Ziel des Geschlechts ›Frau‹« erscheint. Man könnte einwenden, sie habe es hier nur versäumt, ihre Ausführungen auf den westlichen Diskurs zu begrenzen, und dies wiege nicht so schwer, weil der Prozess, auf den sie sich bezieht, vor einem US-amerikanischen Gericht stattgefunden habe. Dagegen ist jedoch anzuführen, dass sie ihre Ausführungen gar nicht begrenzen kann, weil sie von einem (universalen) Diskurs, von einem einfachen diskurstheoretischen Regel-Modell ausgeht. Auch wenn sie immer wieder von unterschiedlichen Kulturen und den vielfältigen Formen des »Frau«-Seins spricht, ist zwar zu erkennen, dass sie in irgendeiner Weise davon ausgeht, dass in anderen
19 Dieses Beispiel war hilfreich dafür, dass ich herausfinden konnte, dass die Fw-Regel dazu anleitet, keine dynamische Position des Subjekts zu wählen (vgl. MB Kap. 3.2.3.2.). 259
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
Diskursen andere Regeln für »Frau« (und «Mann«) gelten. Indem sie aber Foucaults Diskurstheorie grundsätzlich nicht kritisiert und keine Erweiterung vorschlägt, kann sie nicht konsequent und systematisch aufzeigen, dass und wie diese unterschiedlichen Regeln für »Frau« in der feministischen Theoriebildung zu berücksichtigen sind. In der Weise, wie sie an Foucault kritisiert, dass er die Geschlechterdifferenz ignoriert habe, hätte sie auch kritisieren können und müssen, dass er die kulturelle Differenz in seinen methodologischen Schriften nicht systematisch berücksichtigt hat. Der »totalisierende Gestus« ist also auch bei Butler zu finden, und er ist letztlich eine Folge der Annahme nur eines Diskurses im theoretischen Modell. Dies ist der methodologische Aspekt der Kritik. Daneben gibt es einen inhaltlichen: In Butlers Ansatz stabilisieren sich sex, gender und Begehren gegenseitig. Dies wird z.B. in ihrer Definition von »intelligibler Geschlechtsidentität« deutlich: »›Intelligible‹ Geschlechtsidentitäten sind solche, die in bestimmtem Sinne Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren stiften und aufrechterhalten.« (GT 38) Zwar weist sie darauf hin, dass Kohärenz und Kontinuität keine logischen oder analytischen Merkmale einer Person seien, sie macht auch deutlich, dass die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) durch die kulturelle Matrix erst entstehe und durch diese bestimmte Identitäten ausgeschlossen werden, »nämlich genau jene, in denen sich die Geschlechtsidentität (gender) nicht vom anatomischen Geschlecht (sex) herleitet und in denen die Praktiken des Begehrens weder aus dem Geschlecht noch aus der Geschlechtsidentität ›folgen‹« (ebd. 39), aber gerade darin zeigt sich, wie eng sie das Band zwischen sex, gender und Begehren knüpft. Das Begehren ist für sie eine Art Konstante in der Theorie. Nach meiner Analyse aber ist es eine Konstante nur im westlichen Diskurs. Nun ist es möglich, dass sie es zwar für eine Konstante hält, gleichzeitig aber davon ausgeht, dass diese nicht überall »wirksam« sei, denn im Zusammenhang mit ihrer Verteidigung der Universalität(sannahme) des Inzesttabus schreibt sie, die These, dass ein Gesetz universell gültig sei, impliziere nicht, dass dieses Gesetz »durch sämtliche Kulturen hindurch in derselben Art und Weise wirksam« sei: »Ein Gesetz als universal zu bezeichnen, kann vielmehr lediglich bedeuten, dass es als ein übergeordneter Rahmen funktioniert, in dem die gesellschaftlichen Beziehungen sich vollziehen.« (Ebd. 119) Dann fügt sie hinzu: »Meine Aufgabe besteht an dieser Stelle nicht darin zu zeigen, dass Kulturen existieren, in denen das Inzesttabu als solches nicht wirksam ist. Ich möchte 260
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
eher die generative Kraft des Tabus […] hervorheben: Das Tabu verbietet und diktiert nicht nur eine bestimmte Form der Sexualität, sondern bringt auch ungewollt eine Vielfalt von Ersatz-Begehren und Identitäten hervor, die keineswegs vorab eingeschränkt sind.« (Ebd.)
Ganz im Sinne Foucaults zeigt sie also auf, dass ein Verbot auch Vervielfältigung bewirke. Wichtig ist an dieser Stelle jedoch, dass sie von einer bestimmten Form der Sexualität im Zusammenhang mit dem Begehren und der Vielfalt der Ersatz-Begehren spricht. Sie unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Arten der Akzentuierung der Sexualität, nämlich wie Foucault zwischen der ars erotica und der scientia sexualis, sondern setzt das Begehren (desire) mit bestimmten Formen der Sexualität mehr oder weniger gleich. Dies wird in einer neueren Veröffentlichung noch deutlicher. Dort zeigt sie einerseits auf, dass es nach Foucault »kein Begehren ohne Gesetz« gebe, andererseits versäumt sie es auch hier, ihre Aussage zur Entstehung des Subjekts einzuschränken: Wenn sie schreibt, das Subjekt werde »gebildet durch das Verbot einer Sexualität, ein Verbot, das zugleich diese Sexualität und auch das Subjekt formt, das ihr Träger sein soll« (PM 99), unterstellt sie, dass jedes Subjekt durch das Verbot eines Begehrens gebildet werde, denn sie meint das Verbot der Homosexualität, einer bestimmten Art des Begehrens, nicht der Praxis. Dies entspricht dem gängigen Sprachgebrauch (im westlichen Diskurs), in dem mit den Begriffen Homo-, Hetero- oder Bisexualität eher das Begehren als die Praxis bezeichnet wird. Und dies erklärt sich wiederum dadurch, dass der Sex »diskursiviert« wurde, dass seit langem nicht der »Gebrauch der Lüste«, sondern die »Lust an der Analyse« entwickelt und schon früh die Praxis in die »Nähe des Übels« gerückt wurde. Jedenfalls lässt sich folgern, dass Butlers Art und Weise der Thematisierung des Begehrens selbst als »Effekt« des westlichen Diskurses zu betrachten ist und dass sie, wenn sie sex, gender und desire so eng verknüpft, den bias in der feministischen Theorie nicht überwinden kann.
E x k u r s : » Al l e s - S a g e n « vs . » S c h ö n - S a g e n « An dieser Stelle möchte ich in einem Exkurs auf einen wichtigen Punkt, in dem sich das Sprechen im westlichen und im muslimischen Diskurs unterscheidet, hinweisen. Dieser betrifft den von Foucault beschriebenen Imperativ des »Alles-Sagens« im westlichen Diskurs, der mehr oder weniger direkt mit seiner Behauptung, dass »wir uns« heute noch als Begehrenssubjekte zu entziffern haben, zusammenhängt. Auch für diesen 261
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Imperativ lässt sich in meinen Daten Bestätigung finden, und so lässt sich anhand der schriftlichen Irrtumsdarstellungen aufzeigen, dass und wie die Regel des »Alles-Sagens« im aktuellen Sprechen im westlichen Diskurs wirkt: Es fällt kaum auf, dass in allen Darstellungen, die nach der Mw- oder Fw-Regel gegeben werden, als erstes ein »Ja« steht. (In der Antwort in Nr. 1 steht gar ein Ausrufungszeichen.) Da, wenn gleich darauf ein Irrtum dargestellt wird, dies gleichbedeutend ist mit einer positiven Antwort, ist das Ja-Sagen eigentlich sozusagen überflüssig. Wenn es dennoch gegeben wird, lässt sich vermuten, dass es sich vor dem Hintergrund der Aufforderung, alles zu sagen, versteht. Umgekehrt erklärt dieser Imperativ auch, dass keine negativen Antworten gegeben werden. Es scheint, dass er auch dazu anleitet, auf keinen Fall »Nein« zu sagen. In den mündlichen Irrtumsdarstellungen wird dies noch deutlicher: In den Darstellungen, die durch die Mw- oder Fw-Regel angeleitet sind, sind keine Nein-Antworten zu finden, wohl aber in den Darstellungen, die durch die Mm- oder Fm-Regel angeleitet sind (vgl. MB, Kap. 3.3.4.). Letzteres erklärt sich dadurch, dass im muslimischen Diskurs kein Imperativ des Alles-Sagens und folglich auch kein Verbot des Nein-Sagens zu finden ist. Auch wenn dies nicht Gegenstand meiner Forschungsfrage war, habe ich deshalb genauer betrachtet, ob im muslimischen Diskurs vielleicht eine andere Regel, die sozusagen oberhalb der Regeln für »Mann« und »Frau« anzusiedeln ist, zu finden ist. Dabei bin ich zu folgendem Ergebnis gelangt. Im muslimischen Diskurs gibt es offensichtlich – analog zur Regel des »Alles-Sagens« im westlichen Diskurs – eine Regel des »SchönSagens«. Auch dies lässt sich anhand der schriftlichen Antworten, nämlich der Darstellung Nr. 2, veranschaulichen: Dies ist die einzige Darstellung mit einer positiven Atmosphäre (»die Sonne schien«) und einer positiven Beschreibung des Objekts (»lange blonde Haare«). Zwar werden hier nicht, wie in einigen mündlichen Darstellungen, positive Adjektive gewählt – dort ist z.B. des Öfteren von gut aussehenden Transvestiten, von schick gekleideten Frauen oder Männern oder auch von einer eng anliegenden Stretchhose, durch die der hübsche Hintern des Mannes zu sehen war, die Rede – gleichwohl ist zu erkennen, dass der Anblick des Objekts nicht kritisch, sondern eher wohlwollend beschrieben wird. (Dies wird noch deutlicher, wenn diese Darstellung mit der der Sprecherin in Nr. 16 verglichen wird: Sie betont ihren kritischen Blick auf das Objekt, indem sie angibt, sie hätte dem Objekt das Abrasieren der Beinhaare, wenn es denn eine Frau gewesen wäre, vorgeschlagen.) Die positive Färbung der Darstellungen im muslimischen Diskurs lässt sich offensichtlich auf einen Imperativ zurückführen, der sich – ähnlich wie der Imperativ des Alles-Sagens – aufgrund religiöser Institu262
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tionen herausgebildet hat. Im »Materialband« wird dieser ausführlich beschrieben (vgl. MB, Kap. 3.4.1.) Hier möchte ich nur erwähnen, dass die Regel des »Schön-Sagens« in direktem Zusammenhang mit der Aufforderung zum hoúgörü, zum Schön-Sehen, die nach der Überlieferung der Prophet Mohammed den Gläubigen immer wieder gegeben hat, steht. Mir scheint, dass diese Regel eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt des Kollektivs, der umma im Großen wie der Familie im Kleinen, hat, denn sie fordert dazu auf, andere nicht kritisch, sondern wohlwollend zu betrachten. Sowohl der Imperativ des »Alles-Sagens« im westlichen Diskurs als auch der Imperativ des »Schön-Sagens« im muslimischen Diskurs scheinen also sehr alten Datums zu sein. Beide zeigen sich in meiner Analyse nur am Rande. Gleichwohl möchte ich, bevor ich abschließend die Möglichkeit, Mischformen aus den Regeln für »Mann« bzw. »Frau« zustande zu bringen, erörtere, eine Bemerkung zur Möglichkeit der Mischform aus diesen beiden Regeln machen: Auf den ersten Blick scheint eine Mischform aus diesen beiden Regeln möglich zu sein, denn sie widersprechen sich nicht. Es scheint also möglich zu sein, dass jemand auf die Interviewfrage mit »Ja« antwortet und dann eine positiv gefärbte Darstellung gibt. Bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich, dass dies kaum möglich ist: Es wäre nämlich wenig plausibel, dass jemand z.B. nach der Fw-Regel mit »Ja, aber selten« antworten und dann eine Darstellung von einem schönen Objekt gegeben würde. Dann nämlich würde es schwer fallen anzuzeigen, dass frau eine Person nicht interessiert betrachtet hat. Ebenso wäre es unlogisch, wenn jemand nach der Mw-Regel darstellen würde, er sei von einem schönen weiblichen Objekt angenähert worden (und es habe ihm gefallen). Es würde ein kaum zu lösender Widerspruch zum sich-enthaltenden Begehrenssubjekt entstehen. Daran zeigt sich, dass die Regel des Schön-Sagens offensichtlich damit zusammenhängt, dass Sexualität im muslimischen Diskurs als Praxis thematisiert wird (und diese nicht in die »Nähe des Übels« gerückt ist). Umgekehrt wird dadurch deutlich, dass die Regel des AllesSagens offensichtlich eher zu einer negativ als zu einer positiv gefärbten Darstellungsweise anleitet. Es ist also festzuhalten, dass eine Mischform aus diesen beiden Regeln nicht problemlos zustande zu bringen ist und dass es auf den Inhalt der Regeln ankommt, ob dies überhaupt möglich ist.
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Zu Mischformen aus den Regeln Im vorausgehenden Kapitel zur »Diskurstheorie und Diskursanalyse«, in dem ich das »Werkzeug« der Analyse erarbeitet habe, habe ich die »Mischform« als eine Äußerung, die in zwei Diskursen gleichzeitig im Feld des Sagbaren liegt, definiert. Außerdem habe ich aufgezeigt, dass Mischformen nur möglich sind, wenn es einen Schnittpunkt der Regeln gibt, denn um im Feld des Sagbaren in zwei Diskursen sprechen zu können, müssen sich die durch die Regel erzeugten Felder überlappen. Ausgehend von dieser Definition der Mischform lässt sich folgern, dass gleichzeitig im westlichen und im muslimischen Diskurs nur dann Geltung als »Mann« bzw. »Frau« zu beanspruchen ist, wenn es einen Schnittpunkt der Mw- und Mm-Regel bzw. der Fw- und Fm-Regel gibt. Doch nach welchem Kriterium ist zu bestimmen, ob es einen Schnittpunkt gibt oder nicht? Wenn die Subjektposition als die »Quintessenz« aus den Bedingungen zu betrachten ist, ist sie auch als das entscheidende Kriterium für den Schnittpunkt der Regeln zu nehmen. An der Übersicht über die oben herausgefilterten Subjektpositionen ist Aufschluss über die (Un-)Möglichkeit, eine Mischform zustande zu bringen, zu gewinnen: Position des Subjekts Diskurs westlich: muslimisch:
für »Mann«:
für »Frau«:
statisch
statisch
dynamisch
statisch oder dynamisch
Hier zeigt sich, dass es zwar einen Schnittpunkt der Regeln für »Frau« gibt, weil sowohl im westlichen als auch im muslimischen Diskurs eine statische Position des Subjekts gewählt werden kann, dass es aber keinen Schnittpunkt der beiden Regeln für »Mann« gibt. Das bedeutet: Es ist möglich, dass jemand gleichzeitig im westlichen und im muslimischen Diskurs Geltung als »Frau« beansprucht.20 Es ist aber nicht mög-
20 Das bedeutet noch nicht, dass es jederzeit möglich ist, in beiden Diskursen gleichzeitig Geltung als »Frau« zu beanspruchen. Vielmehr zeigt sich in meinem Datenmaterial, wie schwer es Sprecherinnen fällt, so zu sprechen, dass sie weder in dem einen noch in dem anderen Diskurs ausgegrenzt werden (vgl. MB, Kap. 3.3.5.1.). 264
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lich, dass jemand in beiden Diskursen gleichzeitig Geltung als »Mann« beansprucht, weil die Mw-Regel zur Wahl einer statischen, die MmRegel aber zur Wahl einer dynamischen Subjektposition auffordert. Das heißt: Es gibt kein gemeinsames Feld des Sagbaren aus beiden Regeln für »Mann«. Die Folgen können erheblich sein, denn es bedeutet: Jemand kann zwar, wenn er nicht sicher ist, in welchem Diskurs er spricht, versuchen, eine Mischform aus beiden Regeln zustande zu bringen, um in beiden Diskursen als »Mann« Geltung beanspruchen zu können, aber dabei muss er scheitern. Seine Darstellung wird entweder in Bezug auf die Mw-Regel korrekt- und in Bezug auf die Mm-Regel fehlgehend oder umgekehrt in Bezug auf die Mm-Regel korrekt- und in Bezug auf die Mw-Regel fehlgehend sein oder sie wird in Bezug auf beide Regeln fehlgehend sein. Auf jeden Fall muss er damit rechnen, »gestraft« zu werden, weil er in einem der beiden Diskurse das für »Mann« Unsagbare sagt. (Spricht der Schüler in der oben angeführten Irrtumsdarstellung Nr. 2 vielleicht deshalb so deutlich nach der Regel des muslimischen Diskurses für »Mann«?) Die praktischen, politischen Konsequenzen dieser Unmöglichkeit können erheblich sein. Da bereits, bevor jemand spricht, festgelegt ist, was sagbar ist und was nicht (Butler), und damit auch festgelegt ist, dass jemand, der gleichzeitig im westlichen und im muslimischen Diskurs spricht, auf jeden Fall in einem Diskurs das Unsagbare sagt, wenn er Geltung als »Mann« beansprucht, kann dies auch dazu führen, dass er sich um eine »Klärung« der Geltungsbereiche der Diskurse bemüht. Abschließend möchte ich diese politisch bedeutsamen Konsequenzen diskutieren. Zuvor ist eine Zusammenfassung dieses Kapitels zu geben.
Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden die Ergebnisse der diskurstheoretischen Analyse von Interviews zum Irrtum im Geschlecht vorgestellt: Es konnten die Regeln, die den Geltungsanspruch als »Mann« und »Frau« im westlichen und im muslimischen Diskurs regulieren, herausgefunden werden. Dann wurde in einem Exkurs anhand schriftlicher Irrtumsdarstellungen aufgezeigt, dass es anhand dieser Regeln möglich ist, eine Aussage darüber zu machen, als welches Geschlecht die SchreiberInnen Geltung beanspruchen. Dabei wurde auch die Notwendigkeit, den diskurstheoretischen Ansatz so zu erweitern, dass von der Gleichzeitigkeit der Diskurse ausgegangen werden kann, noch einmal deutlich, denn ein Schreiber gibt (in einer Schulklasse in Deutschland) in deutscher Sprache eine Darstellung nach der Regel für »Mann« des muslimischen Dis265
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kurses. Danach wurden die Regeln diskutiert. Zunächst wurde die unterschiedliche Komplexität der Regeln betrachtet: Während die Regeln des muslimischen Diskurses nur eine Bedingung aufweisen, enthalten die Regeln des westlichen Diskurses mehrere Bedingungen. Dieses Geflecht von Bedingungen wurde damit erklärt, dass nach Foucault im »abendländischen« Diskurs das Subjekt »alles« zu sagen und sich als »Begehrenssubjekt« zu entziffern hat, während es im muslimischen Diskurs eher als »Praxissubjekt« erscheint. In einem weiteren Schritt wurde die Struktur der Regeln analysiert. Hier zeigte sich zum einen, dass in beiden Diskursen ein innerer Zusammenhang zwischen der Regel für »Mann« und der für »Frau« besteht und es deshalb sinnvoll ist, statt von einzelnen Regeln von einem Regelpaar zu sprechen. Es wurde zum anderen deutlich, dass in beiden Diskursen die Regel für »Mann« vor der Regel für »Frau« da ist, dass also beide Regeln für »Frau« den beiden Regeln für »Mann« nachgeordnet sind. Insofern lässt sich formulieren, dass sowohl das Regelpaar des muslimischen als auch das Regelpaar des westlichen Diskurses eine asymmetrische Struktur aufweisen. Außerdem wurde herausgearbeitet, dass, während das Regelpaar des muslimischen Diskurses komplementär formuliert ist, das des westlichen Diskurses kontradiktorisch formuliert ist, denn die Regel für »Frau« widerspricht sozusagen der Bestimmung von »Frau«, die in der Regel für »Mann« enthalten ist. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass das »Markiert-Sein« des Terms »Frau« nur im westlichen Diskurs zu finden ist (und nur schwer zu überwinden sein wird, weil dazu die Regel für »Mann« im westlichen Diskurs verändert werden müsste). Hier wurde auch der »totalisierende Gestus« in Butlers Neuansatz einer feministischen Theorie kritisiert: Zum einen kann sie nicht zwischen unterschiedlichen Regeln für »Frau« unterscheiden, weil sie von einem universalen Diskurs ausgeht, zum anderen verknüpft sie sex, gender und desire so eng, dass das »Begehrenssubjekt« noch durchscheint und kein Raum für ein Theoretisieren des »Praxissubjekts« bleibt. Abschließend wurde die (Un-)Möglichkeit für Mischformen diskutiert. Um zu beurteilen, ob es möglich ist, gleichzeitig im westlichen und im muslimischen Diskurs Geltung als »Mann« bzw. »Frau« zu beanspruchen, wurde die Anleitung zur Wahl der Subjektposition genauer betrachtet, denn diese lässt sich als »Quintessenz« der Bedingungen bezeichnen. Dabei wurde deutlich, dass es zwar möglich ist, in beiden Diskursen Geltung als »Frau« zu beanspruchen, nicht aber als »Mann«, denn es ist nicht möglich, gleichzeitig eine statische und eine dynamische Position des Subjekts zu wählen. 266
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Ergebnisse meiner Untersuchung eine weitere Interpretationsebene für die Analyse aktueller politischer »Kämpfe« eröffnen. Da zeigt sich nicht nur, dass der feministische Kampf berechtigt ist, weil die Regeln für »Frau« den Regeln für »Mann« nachgeordnet sind (gleichwohl die Aussicht, dass die Geschlechterhierarchie überwunden werden kann, skeptisch zu beurteilen ist), sondern auch, dass es das zentrale Anliegen westlicher Feministinnen sein muss, die kontradiktorische Struktur im Regelpaar des westlichen Diskurses zu verändern und dass dazu vor allem die Regel für »Mann« verändert werden muss. Die Ergebnisse bieten auch einen neuen Blick auf den islamistischen Kampf. Hängt die Abschottung und Aggression radikaler Islamisten gegen »den Westen« vielleicht mit dem Sich-Überlagern und der Gleichzeitigkeit der Diskurse zusammen? Es könnte sein, dass sie sich aufgrund ihrer Erfahrungen des Ausgegrenzt-Werdens aus dem westlichen Diskurs abschotten und einige von ihnen gewalttätig werden, weil es nicht möglich ist, in beiden Diskursen gleichzeitig als intelligibles Subjekt, als »Mann« zu gelten.21 Nun ist die Mehrzahl der Islamisten moderat und lehnt Gewalt ab. Es ist aber auch bekannt, dass viele Verständnis für radikale haben, und mir scheint, dass auch sie ein Interesse haben, den Geltungsbereich des muslimischen Diskurses zu klären und absichern. Wenn sie z.B. auf der »islamischen Kleiderordnung« insistieren, könnte dies in der Weise gedeutet werden, dass sie durch diese sichtbaren Zeichen sozusagen den Geltungsbereich des muslimischen Diskurses sichern oder überhaupt anzeigen wollen, dass sie auf der Grundlage einer anderen Vernunft (und Matrix der Intelligibilität) sprechen und handeln.22 Ich habe jedenfalls die Vermutung, dass dieser Kampf sehr viel mit dem Sich-Überlagern der Diskurse und der Schwie-
21 Wie sich inzwischen immer deutlicher zeigt, sind es vor allem gut ausgebildete junge Islamisten, die im Westen aufgewachsen bzw. lange gelebt haben und die mit gewalttätigen, terroristischen Mitteln ihre Aggression gegen »den Westen« zum Ausdruck bringen. Aber nur wenige Islamisten sind gewaltbereit 22 Der »Kopftuch-Streit« ist in diesem Sinne auch als Streit um die Möglichkeit, auch in westlichen Gesellschaften nach den Regeln des muslimischen Diskurses Geltung als intelligibles Subjekt zu beanspruchen, zu betrachten. Viel wichtiger als die Diskussion um die Kopfbedeckung von Lehrerinnen und um Sport- und Schwimmunterricht für muslimische Schülerinnen im deutschen Bildungssystem ist dabei, dass radikale IslamistInnen vor allem in muslimischen Gesellschaften einen z.T. auch gewalttätig geführten Kampf gegen diejenigen, die in »ihren« Gesellschaften nicht (mehr) nach den Regeln des muslimischen Diskurses sprechen (und handeln), führen. 267
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rigkeit, in beiden Diskursen gleichzeitig Intelligibilität beanspruchen zu können, zu tun hat. In diskurstheoretischer Perspektive lässt sich also zeigen, dass die unterschiedlichen Regeln für die Geltung als »Mann« oder »Frau« politisch bedeutsame Wirkungen haben, die nicht nur Feministinnen interessieren sollten. Vor allem wird mit dem erweiterten diskurstheoretischen Ansatz das Dilemma sichtbar, in das diejenigen geraten, die in beiden Diskursen gleichzeitig sprechen müssen. Nur mit diesem Ansatz können die Ausgrenzungen, die sie erfahren, wenn oder weil sie das in einem Diskurs Unsagbare sagen, deutlich gemacht werden. Dies ist in Zeiten der Globalisierung ein wichtiges Problem, denn da die weltweite Vernetzung ein Sich-Ineinander-Schieben der Diskurse mit sich bringt, passiert es immer häufiger, dass jemand, auch wenn er/sie das in einem Diskurs Sagbare sagt, sanktioniert wird, weil er/sie gleichzeitig das im anderen Diskurs Unsagbare sagt. Ist es möglich, diese für die Sprecher dilemmatische Situation aufzulösen? Wie sind Veränderungen vorzustellen? Gibt es Möglichkeiten, diese Ausgrenzungen zu vermeiden? Ich möchte meine Ausführungen nicht beenden, ohne wenigstens ansatzweise aufzuzeigen, wie hier Veränderungen zu denken sind. Nach Butler sind Veränderungen durch das Sprechen als »Frau« – und als »Mann« – auf eine Weise, die noch nicht legitimiert ist, zu erreichen. »Die kritische Aufgabe besteht darin, Strategien der subversiven Wiederholung auszumachen, und die lokalen Möglichkeiten der Intervention zu bestätigen, die sich durch die Teilhabe an jenen Verfahren der Wiederholung eröffnen, die Identität konstituieren und damit die immanente Möglichkeit bieten, ihnen zu widersprechen.« (GT 216)
Meines Erachtens ist dieser Lösungsansatz theoretisch wenig überzeugend und praktisch kaum Erfolg versprechend. Zwar ist im Alltag das fehlgehende, »widerständige« Sprechen ständig zu beobachten, wie an den zahlreichen im »Materialband« vorgestellten Irrtumsdarstellungen zu erkennen ist, aber theoretisch ist es schwierig, dieses fehlgehende Sprechen als Strategie der Subversion zu betrachten, weil bei den SprecherInnen eine Einsicht in die Regeln und eine Absicht zur Veränderung vorausgesetzt werden muss. Außerdem erscheint diese Strategie mir praktisch problematisch zu sein, weil SprecherInnen, wenn sie eine fehlgehende Darstellung geben, bereits »gestraft«, ausgegrenzt werden, bevor sie ihre Intelligibilität sozusagen unter Beweis stellen können – selbst wenn sie, wie z.B. die Schreiberin in der schriftlichen Darstellung Nr. 16, zunächst eine fehlgehende, evtl. subversive Darstellung geben 268
DIE ERGEBNISSE: ZWEI REGELPAARE
und dann eine korrektgehende, die Verhältnisse eher stabilisieren als destabilisieren. Nach meinen Überlegungen sind Veränderungen weniger durch ein absichtsvolles Sagen des Unsagbaren, eher schon über die Reaktion auf das Sagen des Unsagbaren vorzustellen. Zwar ist auch meine Reaktion auf das Sagen des Unsagbaren meines Gegenübers, meine positive oder negative Sanktion seines/ihres Sprechens bestimmt durch die Regeln des Diskurses, zwar muss auch ich damit rechnen, »gestraft«, ausgegrenzt zu werden, wenn ich nicht innerhalb der Matrix der Intelligibilität antworte, aber mir scheint, dass die Möglichkeit zur Veränderung eher im Hören, Zuhören, Sprechen-Lassen liegt als im Sprechen. Ausdrücklich sei betont, dass auch der Vorschlag, auf das »Strafen« so weit wie möglich zu verzichten, nicht aus Einsicht des Subjekts in die Regeln des Diskurses gedacht werden kann, denn dann würde wiederum ein (handlungsfähiges) Subjekt vor dem Feld vorausgesetzt23, sondern wohl nur aus dem Wissen des Subjekts um die Pluralität der Wirklichkeiten, Kulturen, Diskurse. In dem Wissen, dass mein Gegenüber ebenso bemüht ist und sich bemühen muss, als intelligibles Subjekt anerkannt zu werden, und weiterhin in dem Wissen, dass es nicht nur eine universale Vernünftigkeit gibt, sondern viele verschiedene, kann ich vielleicht auch eher in Rechnung stellen, dass er/sie auf eine Weise spricht, die mir im ersten Moment unvernünftig, unsagbar erscheint, sodass ich im zweiten Moment meine »strafende« Reaktion »im Zaum halte«. Dies könnte m.E. ein Weg sein, um in Zeiten, in denen die Diskurse sich immer weiter ineinander schieben, vor allem der westliche und der muslimische Diskurs, eine (weitere) Radikalisierung auf beiden Seiten zu verhindern.
23 Ich denke, dass es gerade die Stärke des diskurstheoretischen Ansatzes ist, dass hier die Handlungsfähigkeit des Subjekts nicht vorausgesetzt wird, dass aber dadurch auf der Kehrseite das Problem der Verantwortung des Subjekts schwieriger zu formulieren ist als im sozialkonstruktivistischen: Während in letzteren dem Individuum Verantwortung für seine Konstruktionen und deren Wirkungen zugeschrieben werden kann, ist im diskurstheoretischen Ansatz das Subjekt immer schon eher »entschuldigt«. Wenn es z.B. eine unsagbare Äußerung »straft«, also jemanden ausgrenzt, kann ihm, so scheint mir, kaum Verantwortung für sein ausgrenzendes Handeln zugeschrieben werden. Oder doch? Vielleicht ist dies in weiteren theoretischen Arbeiten genauer zu klären. 269
F AZ I T
Zum Abschluss ist an den Ausgangspunkt meiner Studie zurückzukehren. Im ersten Kapitel habe ich dargestellt, dass ich mit meiner Untersuchung mein Modell der Trennungslinien prüfen wollte. Nun lässt sich aufzeigen, dass in den Ergebnissen der empirischen Untersuchung zwar auch Bestätigung für dieses Modell zu finden ist, dass aber die Defizite und Nachteile umso deutlicher hervorgetreten sind. Bestätigung für das Modell ist darin zu sehen, dass sich in den Regeln des muslimischen und des westlichen Diskurses eine unterschiedliche Akzentuierung des Subjekts finden lässt: Wenn in den Regeln des westlichen Diskurses noch das Begehrenssubjekt durchscheint, ist dies als Bestätigung für die horizontale Trennungslinie insofern zu sehen, als durch diese ausgedrückt werden sollte, dass die Thematisierung geschlechtlicher und sexueller Fragen als Reflexion über eigene innere Regungen erscheint, sodass die Doppelung des Ichs, die in den Irrtumsdarstellungen als Verbergen des Ichs erscheint, ein bestimmendes Moment der westlichen Selbst- und Weltverhältnisse ist (vgl. Kap. Projektidee).1 Gleichzeitig ist Bestätigung für die vertikale Trennungslinie im muslimischen Modell zu finden, weil das Subjekt als »Praxissubjekt« erscheint, das sein Handeln an der Überwindung bzw. Aufrechterhaltung der Distanz zwischen den Körpern orientiert. Es zeigt sich aber auch, 1
Dass sich das Ich (im westlichen Diskurs) zum Gegenstand der Reflexion macht, zeigt sich zwar noch deutlicher bei der Analyse meiner Daten zur zweiten Interviewfrage (zu Irritationen über den eigenen Körper, die ich in dieser Arbeit nicht behandelt habe), aber auch in der Analyse der Darstellung eines Irrtums im Geschlecht einer Person ist zu erkennen, dass das Begehren im Modus des Interessiert-Seins (Mw-Regel) bzw. des NichtInteressiert-Sein (Fw-Regel) thematisiert werden muss. 271
DER IRRTUM IM GESCHLECHT
dass das Modell für die Frage der Geschlechterdifferenz, d.h. wie Subjekte Geltung als »Mann« bzw. »Frau« beanspruchen, wenig hilfreich ist, denn in diesem ist nicht anzuzeigen, dass es unterschiedliche Regeln für »Mann« und »Frau« gibt. Zwar habe ich (in Reaktion auf die Thesen von Laqueur und Honegger) argumentiert, dass Frauen und Männer unterschiedlich »konstruiert« würden, nämlich ersteren eher eine Position unterhalb der Trennungslinie zugeschrieben würde, während Männer eher eine Position oberhalb der Linie für sich in Anspruch nähmen, aber mit diesem Modell wäre kein Aufschluss über die asymmetrische – und im westlichen Diskurs kontradiktorische – Struktur der Regelpaare zu gewinnen. Damit ist auf die Nachteile des Modells einzugehen. In Kapitel »Grundannahmen« habe ich aufgezeigt, dass in meiner Forschungsfrage »Geschlecht« und »Kultur« als (quasi) natürliche Tatsachen vorausgesetzt werden und dass dieser »Essentialismus« zu kritisieren ist. Diese Kritik gilt auch für das Modell: Es ist »essentialistisch« insofern, als Geschlecht als naturgegebene Tatsache und Kultur als quasi-natürliche Gegebenheit vorausgesetzt werden. Außerdem ist es zu statisch, weil weder die Übergänge oder Zwischenformen zwischen beiden »Kulturen« thematisiert werden können, noch angezeigt werden kann, wie Veränderungen stattfinden. Vor allem ist es positivistisch, weil es die Ausschließungsprozeduren, die soziale Ausgrenzungen zur Folge haben, nicht erfassen kann. Dieses Modell hatte die Funktion einer Heuristik. Es sollte deutlich machen, dass es außerhalb des Denkbaren in der westlichen »Kultur« auch andere Erfahrungs- und Denkhorizonte gibt, und die Möglichkeit und Notwendigkeit, unterschiedliche Selbst- und Weltverhältnisse zu denken, veranschaulichen. Dass dabei ein grobes, zu grobes Schema entstanden ist, ist also nicht verwunderlich. Aber bei der Kritik geht es nicht um die Frage, ob das Modell verfeinert und weiter ausgearbeitet werden sollte. Die Kritik ist grundlegender: In diesem Modell kann weder auf die Unterscheidung zwischen »Kulturen« noch auf die Annahme eines Subjekts vor dem Feld, das nach »Bauplänen« seine Wirklichkeit »konstruiert«, verzichtet werden. Das bedeutet zum einen, dass »Kultur« reifiziert und Hierarchisierung in Kauf genommen werden muss, weil der Kulturbegriff auf jeden Fall eine hierarchische Unterscheidung zwischen menschlichen Gruppen »einschmuggelt«. Es bedeutet zum anderen, dass das Subjekt als einem äußerlichen gesellschaftlichen Feld gegenübertretend vorausgesetzt wird und die Machtkonfigurationen, durch die es überhaupt zur Existenz kommt, nicht mehr in die Analyse einbezogen werden können. Deshalb ist zu folgern: Das Modell der Trennungslinien ist durch das diskurstheoretische Feld-Modell zu erset272
FAZIT
zen, denn es zieht all die Kritiken, die ich im zweiten und dritten Kapitel aufgezeigt habe, auf sich. Nun habe ich das Modell im einleitenden Kapitel auch dargestellt, weil es im Nachhinein betrachtet für meine Untersuchung eine wichtige Funktion hatte: Es war hilfreich und wichtig, um die Leerstelle des diskurstheoretischen Modells, nämlich seine Begrenztheit auf einen (universalen) Diskurs, zu erkennen. Diese ist zu kritisieren, weil bei der Annahme nur eines Diskurses die Universalisierungstendenz und – in der Folge in den Analysen – die Ausblendung und Ausgrenzung derjenigen, die nicht im westlichen Diskurs sprechen, begünstigt wird. Außerdem sind, solange Diskursanalysen mit einem einfachen Regel-Modell vorgenommen werden, zwar immer feinere Analysen von – westlichen – Bindestrich-Diskursen zu erwarten, aber keine neuen Perspektiven auf die aktuellen akuten Probleme in der Weltgesellschaft. Erst wenn differente Diskurse angenommen und auch in ihrer Gleichzeitigkeit und in ihrem Überlappen analysiert werden, lässt sich aufzeigen, dass in Zeiten der Globalisierung die Position des Subjekts zunehmend prekär wird und die Gefahr der Ausgrenzung sich sozusagen verdoppelt bzw. vervielfacht. Mit einem erweiterten diskurstheoretischen Modell ist nicht nur die Macht, die (in einem Diskurs) »da« ist, bevor jemand spricht, sondern auch sozusagen eine weitere Ebene der Macht, nämlich die, die sich aus dem Sich-Überlagern der Diskurse ergibt, thematisierbar. Es reicht m.E. nicht, die Veränderungen, Verschiebungen, Vervielfältigungen in einem Diskurs zu analysieren und nebenbei (wie Foucault und Butler) auf andere Kulturen hinzuweisen. Es reicht erst recht nicht, das Entstehen von neuen, hybriden Formen sozialkonstruktivistisch den handelnden Subjekten zuzurechnen, weil dabei ein Subjekt vor dem Feld vorausgesetzt werden muss. Es ist schon notwendig, in der Theorie von der Pluralität der Diskurse auszugehen und anzuzeigen, dass jeder Diskurs bestimmte Subjektpositionen bereithält, andere ausschließt, zumal das Subjekt in diesem Ansatz nicht »Kreuzungspunkt« von Diskursen, sondern eine »leere« Position in einem Diskurs ist. Ausdrücklich sei betont, dass das othering, die Ausgrenzung von Anderen, damit in veränderter Perspektive erscheint. Da davon ausgegangen wird, dass Ausschlüsse da sind, bevor das empirische Subjekt spricht, wird deutlich, dass es mit moralischen Appellen nicht aus der Welt zu schaffen ist. Dies zu zeigen, ist die Stärke des diskurstheoretischen Ansatzes. Zwar hat er insofern eine begrenzte Perspektive auf das Subjekt, als die für die Soziologie zentrale Kategorie des Sozialen mehr oder weniger auf die Analyse der Ausschließungsprozeduren reduziert wird, angesichts der aktuellen Probleme in der Weltgesellschaft er-
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scheint es aber dringend notwendig, gerade diese in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. In meiner Studie habe ich mich darauf beschränkt, das »Werkzeug« für die diskurstheoretische Analyse von Interviewtexten zu entwickeln, (womit ich einen Beitrag zur Diskussion der Diskursanalyse als eigenständiger Methode der qualitativen Sozialforschung leisten möchte). Dies habe ich später so erweitert, dass es auch für das gleichzeitige Sprechen in zwei Diskursen anzuwenden ist. Es bleibt anderen überlassen, das erweiterte diskurstheoretische Modell so auszuarbeiten, dass das Ineinander-Greifen und/oder Sich-Überlagern der Diskurse präziser beschrieben werden kann. Ist dazu eine Hierarchie der Diskurse vorauszusetzen? Oder ist davon auszugehen, dass diese hergestellt wird? Aber wäre dann nicht wiederum auf sozialkonstruktivistische Ansätze zurückzugreifen? Wie steht es mit der Hegemonie des westlichen Diskurses in der Weltgesellschaft? Ist sie überhaupt mit diskurstheoretischen Mitteln zu analysieren? Wenn es darum geht, Machtverhältnisse in globaler Perspektive zu analysieren und zu verändern – dies ist m.E. ein für die Zukunft wichtiges Thema, weil diese selbst noch Themen wie Klimawandel, Ressourcenknappheit, demographischer Wandel, Migration etc. bestimmen – dann ist die Leistungsfähigkeit der Diskurstheorie und -analyse auch und gerade in dieser Perspektive zu diskutieren.
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Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus Oktober 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-807-0
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Marion Mangelsdorf Wolfsprojektionen: Wer säugt wen? Von der Ankunft der Wölfe in der Technoscience
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Carmen Leicht-Scholten (Hg.) »Gender and Science« Perspektiven in den Naturund Ingenieurwissenschaften Juli 2007, 188 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-674-8
Hedwig Wagner Die Prostituierte im Film Zum Verhältnis von Gender und Medium Juli 2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-563-5
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Gender Studies Lutz Hieber, Paula-Irene Villa Images von Gewicht Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA Mai 2007, 262 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-504-8
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Roswitha Muttenthaler, Regina Wonisch Gesten des Zeigens Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen Januar 2007, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-580-2
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