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German Pages 260 Year 2014
Malaika Rödel Geschlecht im Zeitalter der Reproduktionstechnologien
KörperKulturen
Malaika Rödel (Dr. phil.) arbeitet an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Biopolitik, Reproduktionstechnologien, Wissenschafts- und Technikforschung sowie soziologische und feministische Zugänge zu Körper.
Malaika Rödel
Geschlecht im Zeitalter der Reproduktionstechnologien Natur, Technologie und Körper im Diskurs der Präimplantationsdiagnostik
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Inhalt
Danksagung | 9 1.
Einleitung | 11
2.
Die Neubestimmung von Natur und Kultur | 17
2.1 2.2 2.3
Probleme einer polarisierenden Perspektive der Bioethik | 18 Natur und Kultur als gesellschaftliches Verhältnis | 20 Auf der Spur der Dinge – Mit Bruno Latour durch die Netzwerke von Natur und Gesellschaft | 23 »Gebt mir ein Labor!« Wissensproduktion und Netzwerkbildung im Forschungsprozess | 25 Kritik der Moderne | 34 Kritik und feministische Auseinandersetzung | 48 Ausblick Latour oder »Wie lässt sich Reproduktionsmedizin als Netzwerk denken?« | 60
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
3.
Give the feminist a test tube – Feministische Perspektiven auf Reproduktionstechnologien | 63
Reproduktion und Geschlecht | 65 Zum Verhältnis von Natur, Technologie und Körper bei Donna Haraway | 78 3.2.1 Where are we now? Zur Verortung von Wissenschaft und Wissensproduktion | 79 3.2.2 What are we now? – Zur Ko-Produktion von Natur und Gesellschaft | 83 3.3 Where do we go from here? | 90 3.1 3.2
4.
Schnittstelle Reproduktion – Die Präimplantationsdiagnostik | 93
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2
Die Entwicklung der PID | 93 Pränatale Diagnostik | 94 Assistierte Reproduktion – Die Entwicklung der IVF und ICSI | 97 Die PID als Schnittstelle | 102 Die rechtlichen Regelungen und politisch-institutionellen Diskussionen zur PID | 107
4.2.1 Der rechtliche Rahmen und die politischen Entscheidungen bis zum Jahr 2010 | 107 4.2.2 Der rechtliche Rahmen und die politischen Entscheidungen ab dem Jahr 2010 | 110 4.3 Ausblick | 113 5.
Methodischer Zugang | 115
5.1 5.2 5.3
Foucaults Begriff des Diskurses | 116 Methodische Anschlüsse | 119 Forschungsstand und Forschungsdesign | 124
6.
Der Diskurs der PID in der ZEIT (2000-2004) | 129
6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.4
Strukturanalyse | 135 Feinanalyse | 146 Katalog der Feinanalyse und Auswahl der Artikel | 146 Vorstellung der Artikel der Feinanalyse | 148 Auswertung der Feinanalyse | 160 Argumentationen in dem Diskurs der PID | 162 Frauen als Motor der Technologieentwicklung | 163 Status des Embryos und Abtreibung | 168 Frauen als Randfiguren | 172 Zusammenfassende Ergebnisse der Analyse | 174
7.
Neuer Diskurs – Neue Argumente? Der Diskurs der PID in den Jahren 2010 und 2011 | 177
7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.2 7.2.1 7.2.2
Strukturanalyse – Zeiträume und Diskursstränge | 180 Das Urteil – Der zweite Zeitraum | 181 Die Bundestagsabstimmung – Der dritte Zeitraum | 185 Zusammenfassung der Strukturanalyse | 188 Feinanalyse | 189 Die Artikel des zweiten Zeitraumes: Das Urteil | 190 Die Artikel des dritten Zeitraumes: Die Entscheidung im Bundestag 2011 | 194 Auswertung der Feinanalyse | 201 Argumentationsfiguren in dem erneuten Diskurs der PID | 202 Das Leiden der Eltern | 202 PID als sanfte Alternative zur Abtreibung | 206 Das Recht auf ein Kind | 209 Zusammenfassende Ergebnisse der Analyse | 211
7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4
8.
Gen(dered) bodies – Geschlecht im Diskurs der PID | 215
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Natur und Kultur als Ko-Produktion | 216 Der mediale Diskurs der PID | 218 Die Autonomie reproduktiver Entscheidungen | 219 Momente der Naturalisierung | 223 Ausblick | 226 Literatur | 229
Danksagung
Eine Doktorarbeit zu schreiben ist ein langes Unterfangen, bei dem ich sehr viel wissenschaftliche und private Unterstützung erfahren habe, für die ich mich an dieser Stelle bedanken möchte: Ein Stipendium der DFG im Graduiertenkolleg »Öffentlichkeit und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung« hat mir die inhaltlichen und finanziellen Freiräume gewährt, diese Arbeit zu konzipieren und zu beginnen. Katharina Liebsch hat meine Arbeit betreut und mich durch ihr kreatives Mitdenken bis zum Schluss unterstützt. In den Gesprächen mit ihr und ihrem Forschungskolloquium habe ich Anregungen und Hinweise erhalten, um die verschiedenen Aspekte dieser Arbeit zu verfolgen und herauszuarbeiten. Ihren konzeptionellen Ideen ist es geschuldet, dass die zwischenzeitliche rechtliche Änderung der PID mich nicht zur Verzweiflung getrieben hat, sondern vielmehr zu einer interessanten Herausforderung wurde. Am Arbeitsschwerpunkt »Biotechnologien, Natur und Gesellschaft« von Thomas Lemke habe ich von der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit aktuellen Themen aus dem Bereich der Biotechnologie und -medizin profitieren können. Sowohl in Gesprächen mit Thomas Lemke, der diese Arbeit als Zweitgutachter betreut hat, als auch mit KollegInnen im Kolloquium oder zur Mittagspause konnte ich Aspekte meiner Arbeit diskutieren und vertiefen. Ich habe dabei das Glück mit Ulrike Manz, Eva Sänger und Claudia Sontowski Freundinnen und Kolleginnen zu haben, mit denen ich (nicht nur) alle Fragen zur Dissertation besprechen konnte. Ohne ihre kritischen Kommentierungen wäre die Fertigstellung dieser Arbeit nicht nur schwerer gewesen, sie hätte auch deutlich weniger Spaß gemacht. Auch Mario Como, Sarah Dionisius, Torsten Heinemann und Janne Krummbügel haben weite Teile gelesen, wichtige Anregungen für die Überarbeitungen gegeben und mich bei der Abschlussredaktion unterstützt. Und Max Sudhues hat die Gestaltung des Covers übernommen und damit dafür gesorgt, dass es ein schönes Buch wird.
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Meine Freundinnen und Freunde waren geduldig mit mir und haben auf Phasen der »sozialen Versenkung« mit einer warmen Wiederaufnahme und freundlich verpflichtenden Kinoterminen reagiert. Vor allem Martina Sehring, Reinhard Föhrenbach, Mario Como, Felix Silomon-Pflug und Anne-Marie Bernhard haben darüber hinaus mit kulinarischen Einladungen, Urlauben und Ausflügen aber auch »Notfall-Kinderbetreuung« meinen Dissertationsalltag schöner und einfacher gestaltet. Meinen Eltern möchte ich dafür danken, dass sie mich immer in der Entscheidung für die Wissenschaft unterstützt haben und uneingeschränkt davon überzeugt sind, dass ich meinen Weg in dieser finden werde. Gewidmet ist die Arbeit Jan, nicht nur für seine Hilfe bei der Fertigstellung, sondern auch und vor allem, weil er mir über all die Zeit gezeigt hat, dass das Leben neben der Wissenschaft nur so von schönen Abenteuern wimmelt.
1. Einleitung »Wir können nicht einfach für oder gegen die Gentechnologie sein. Unser Problem […] besteht darin, dass viele Menschen wissen wollen, ob sie dafür oder dagegen sein sollen. Sie fragen, wie könnt ihr ohne Klarheit eine politische Bewegung gründen, ohne überzeugende und einfache Positionen, ohne Parolen? Ihnen würde ich entgegen halten, dass wir politische Bewegungen brauchen, für die Komplexität eine Selbstverständlichkeit ist, andernfalls werden wir es gar nicht so weit bringen, politische Bewegungen auf die Beine zu stellen, eben weil es so kompliziert ist.« (HARAWAY 1995C: 121F.)
Am 6. Juli 2010 überrascht der Bundesgerichtshof (BGH) mit einem Urteil, das die Präimplantationsdiagnostik im Rahmen des Embryonenschutzgesetzes für anwendbar erklärt (vgl. Bundesgerichtshof, 06.07.2010). Der BGH entscheidet über den Fall eines Berliner Reproduktionsmediziners, der bei drei Paaren im Rahmen einer künstlichen Befruchtung auch eine genetische Diagnostik am Embryo durchgeführt hat und sich im Anschluss selbst anzeigt. Dieses Urteil markiert eine Kehrtwende in der rechtlichen und ethischen Bewertung der Präimplantationsdiagnostik, denn bis dahin gilt Deutschland im Bereich der Reproduktionsmedizin und der Forschung am Embryo als eines der restriktivsten europäischen Länder. Das Embryonenschutzgesetz verbietet Verfahren wie die Eizellspende oder Leihmutterschaft, und obwohl die Präimplantationsdiagnostik nicht explizit aufgeführt wird, gilt auch sie in dem engen rechtlichen Rahmen des Gesetzes als nicht durchführbar. Wie also erklärt sich dieser Wandel?
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Die Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik (PID) beginnt mit ihrer technischen Möglichkeit. Seit die PID 1989 erstmals erfolgreich durch den Briten Alan Handyside angewendet wurde, ist sie als Diagnostik weiterentwickelt und verfeinert worden. Mit der PID ist es möglich geworden, Embryonen im Rahmen einer künstlichen Befruchtung auf ihre genetische und/oder chromosomale Beschaffenheit zu untersuchen, so dass noch vor der Übertragung in den Uterus der Frau bestimmt werden kann, ob eine Veranlagung zu Erbkrankheiten und/oder Behinderungen vorliegt (vgl. Handyside et al. 1990). Auch das Geschlecht oder die Eignung als Spender kann diagnostiziert werden. Mit der gezielten Auswahl der Eigenschaften des Embryos liefert die PID damit die reproduktionsmedizinische Grundlage für die Vorstellung von »Designer-Babys«. Da dabei die Auswahl zugleich mit dem Ausschluss von Embryonen einhergeht, die aufgrund von Krankheitsdispositionen oder anderen Merkmalen für die Übertragung als nicht geeignet bestimmt werden, steht die PID seit ihrer Entwicklung als selektive Technologie in der Kritik. Die Diskussion um die Einführung der PID avanciert zu Beginn der 2000er Jahre gemeinsam mit der Stammzellforschung zu einer der größten öffentlich geführten ethischen Debatten der BRD, in der beispielhaft die Risiken und Chancen der neuen Gen- und Reproduktionstechnologien verhandelt werden. Im Zentrum der Diskussion steht die Frage, welche Formen des technologischen Zugriffs und der Manipulation bei der »Herstellung« von Nachwuchs legitim sei. Sie geht einher mit einem Abwägen darüber, was wir als »natürlich« am Körper verstehen können und inwieweit sich artifizielle Fortpflanzung als ein »natürlicher Prozess« beschreiben lässt. Dabei findet sich jedoch weder in der medialen Diskussion noch in den Debatten des Bundestages eine Mehrheit zur Einführung der PID. Nachdem die öffentliche Diskussion im Jahr 2004 langsam verebbt, führt das Urteil des Bundesgerichtshofs zu einer Wiederaufnahme der Diskussion und ändert mit seiner Auslegung des Embryonenschutzgesetzes zugleich die rechtliche Landschaft für die Reproduktionsmedizin (vgl. Bundesgerichtshof, 06.07.2010). Auch in den anschließenden Bundestagsdebatten wird deutlich, dass sich die Positionen zur PID verändert haben und sich die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für eine (eingeschränkte) Zulassung der PID ausspricht. Ein Jahr nach dem Gerichtsurteil beschließt der Bundestag im Juli 2011 eine Erweiterung des Embryonenschutzgesetzes, nach der eine Präimplantationsdiagnostik bei schwerem Risiko auf Erbkrankheiten und Behinderungen zulässig ist (vgl. Bundestag, 24.11.2011). Damit verliert sich der restriktive Charakter des Embryonenschutzgesetzes. Versteht man das Urteil bzw. Recht als Ausdruck spezifischer soziohistorischer Konstellationen und Machtverhältnisse, so verweist die Änderung über die Rechtsprechung hinaus auf einen Wandel der diskursiven Formation(en)
E INLEITUNG
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der Gesellschaft (vgl. Foucault 1981: 75f.). In der vorliegenden Arbeit lenke ich den Blick deshalb auf den medialen Diskurs der PID. In diesem lässt sich nachvollziehen, wie die PID in der Öffentlichkeit verhandelt wird und welche Argumente und Akteure dabei zentral sind. Er erlaubt auch eine Analyse davon, wie sich der Wandel in der Beurteilung der PID vollzieht und argumentativ eingebettet wird. Während in der medialen Debatte der Fokus hierbei zumeist auf der Figur des Embryos und seiner ethischen und rechtlichen Bestimmung liegt, lege ich einen Schwerpunkt auf die Analyse von »Geschlecht«: Mich interessiert, wie der Aufbruch tradierter Vorstellungen einer »natürlichen« Reproduktion thematisiert wird und welche Vorstellungen von »Geschlecht« sich dabei wiederfinden lassen. Beide Fragen generieren sich aus einer theoretischen Perspektive auf die Reproduktionsmedizin und schließen an die wissenschaftlichen Debatten um die Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Kultur an. Sowohl in der öffentlichen Debatte als auch in den wissenschaftlichen Diskursen werden die Entwicklungen der Gen- und Reproduktionsmedizin als Aufbruch von Körpergrenzen beschrieben. Programmatisch ist hier die Rede vom »molekularisierten Körper«, der durch den medizinischen und technischen Fortschritt der Molekularbiologie in seine kleinsten Bauteile zerlegt und neu zusammengesetzt werden kann, wodurch sich auch der Blick auf den Körper verändert (vgl. bspw. Kay 2000; Keller/Leipold 1998; Rheinberger 1997). Dieser muss nicht mehr als ein integrales Ganzes wahrgenommen werden, vielmehr können Körperstoffe abgekoppelt und gelöst vom Körper untersucht werden, zirkulieren und gar Mehrwert produzieren (vgl. bspw. Gehring 2006; Kalender 2012). Diese Perspektive findet sich auch in den gentechnologisch angeleiteten Verfahren der Reproduktionsmedizin wieder, die die »Fortpflanzung als Systembaukasten« (Berg 2002: 35) fassen und je nach Ursache abgestimmte Lösungen des Problems anbieten. Wie mit Bezug auf Konzepte der Medikalisierung herausgearbeitet wurde, nimmt der Körper der Frau bzw. der zukünftigen Eltern in der Kinderwunschbehandlung eine DefizitPosition ein, die nur durch die Reproduktionsmedizin behoben werden kann (vgl. Conrad 2007; Berg 2002; Ullrich 2012). Hierbei ist nicht nur ein objektivierender Blick der Medizin auf den (Frauen-)Körper kritisiert worden, im Zuge der Molekularisierung des Körpers beginnt auch eine Auseinandersetzung darum, was am Körper als eine »natürliche« Grundlage bestimmt werden kann und wie weit der Körper durch technologische Eingriffe modifizierbar und manipulierbar ist. Arbeiten der gender studies werfen die Frage auf, welche Materialität dem Körper zukommt und wie sich die Neuverhandlung der Materialität des Körpers auf die Bestimmung von Geschlecht auswirkt (vgl. Kuhlmann/Kollek 2002a; Bath 2005). Dabei kreist die Frage darum, wie sich die Materialität des
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Körpers beschreiben lässt, ohne dabei zugleich auch eine Essentialisierung von Geschlecht vorzunehmen. Hier lassen sich theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Kultur anschließen: In den vergangenen Jahren ist die Frage der Materialität von Körpern und Praktiken virulent diskutiert worden (vgl. bspw. Reckwitz 2003; Alaimo 2008; Coole 2010). Mit einem expliziten Bezug auf die Entwicklung von und den Umgang mit Technologien haben die science and technology studies (STS) den Dualismus von Natur und Kultur in den Blick genommen. Vor allem Arbeiten der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und aus dem Feld der feministischen Wissenschaftskritik zeichnen sich durch den theoretischen und empirischen Versuch aus, die Materialität der Dinge als Bestandteil wissenschaftlicher Praktiken herauszuarbeiten, dabei aber zugleich die Vorstellung einer den Praktiken vorausgehenden »ursprünglichen« Natur zu vermeiden (vgl. bspw. Latour/Woolgar 1986; Haraway 1989, 1995d; Barad 2000; Fausto-Sterling 2000; Latour 2002). Sie bieten für die Analyse der Entwicklungen der Gen- und Reproduktionstechnologien eine Perspektive an, mittels derer sich gerade die These vom Aufbruch der Körpergrenzen analytisch fassen und beschreiben lässt. Diese theoretischen Überlegungen leiten die Fragestellung meiner Arbeit an: In der vorliegenden Untersuchung verknüpfe ich die Neuaushandlung von Natur und Kultur mit der Einführung eines neuen reproduktionsmedizinischen Verfahrens. Am Beispiel des Diskurses um die PID möchte ich in den Blick nehmen, wie sich der Aufbruch der Grenzen von Natur und Kultur in der konkreten Aushandlung und Einführung des Verfahrens darstellt und welche Bedeutung die Kategorie Geschlecht und geschlechtsspezifische Anrufungen in den Aushandlungsprozessen einnehmen. Auch wenn der Fokus auf eine Anwendung der Reproduktionsmedizin zunächst nur eine sehr spezifische und damit eingeschränkte Aussage erlaubt, können die Ergebnisse der Analyse darüber hinaus Hinweise für die Thematisierung und Kritik sowie den weiteren Umgang mit den Entwicklungen der Gen- und Reproduktionsmedizin bieten. Hier wird sich, um ein Ergebnis der Arbeit vorwegzunehmen, gerade »Geschlecht« als eine zentrale Kategorie herausstellen. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Kultur (Kapitel 2 und 3), die Vorstellung des empirischen Gegenstandes und der Diskursanalyse (Kapitel 4, 5, 6 und 7) und eine abschließende Zusammenführung der Ergebnisse (Kapitel 8). Im ersten Teil untersuche ich das Verhältnis von Natur, Technologie und Körper. Meinen Ausgangspunkt bildet die Kritik am bioethischen Diskurs, in dem (zumeist) ein dualistisches Verständnis von Natur und Kultur vorherrscht,
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so dass Körper entweder als den Angriffen der Technologie ausgesetzt beschrieben werden oder die Möglichkeit zur technologischen Verbesserung »natürlicher« Merkmale herausgestrichen wird. Gegen diese dichotome Perspektive auf Natur und Kultur stelle ich im zweiten Kapitel, »Die Neubestimmung von Natur und Kultur«, mit der Akteur-Netzwerk-Theorie einen Ansatz vor, der die gemeinsame Aushandlung beider Pole in den Blick nimmt und Natur und Kultur als ein »ko-produktives« Verhältnis anordnet. Latour legt den Fokus seiner Untersuchungen auf das Verhältnis von Mensch und Technik. Für ihn liegt der »Fehler des dualistischen Paradigmas […] in seiner Definition der menschlichen Natur. Selbst die menschliche Gestalt, unser Körper, ist weitgehend aus soziotechnischen Aushandlungen und Artefakten hervorgegangen. Wer Mensch und Technik als polare Gegensätze denkt, wünscht in Wirklichkeit das Menschliche weg.« (Latour 2002: 262)
Am Beispiel seiner Arbeiten lassen sich zentrale Aspekte und analytische Stärken der Akteur-Netzwerk-Theorie herausarbeiten, aber auch die Grenzen dieses Erklärungsansatzes skizzieren. Das dritte Kapitel, »Give the feminist a test tube – Feministische Perspektiven auf Reproduktionstechnologie«, schließt an die Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Technologie an, verschiebt aber den Fokus auf Geschlecht und vergeschlechtlichte Körper in der Reproduktionsmedizin. Hierbei sollen sowohl Arbeiten zur Reproduktionsmedizin vorgestellt als auch feministische Perspektiven auf das Verhältnis von Natur und Kultur skizziert werden (vgl. bspw. Clarke 1998; Rapp 1999; Thompson 2005; Franklin/Roberts 2006). Einen Schwerpunkt bilden die Arbeiten von Donna Haraway, die Blindstellen der Akteur-Netzwerk-Theorie ausleuchtet und die Analyse des Dualismus Natur/Kultur um die Kategorie Geschlecht erweitert. Sie führt mit der Figur der Cyborg eine Metapher für vergeschlechtlichte Körper im Zeitalter der Gen- und Informationstechnologie ein, in der die Verwobenheit von Natur und Kultur deutlich wird. Darüber hinaus bietet sie mit ihren Forderungen nach der »Situierung« von Wissen(schaft) und der Übernahme von Verantwortung für gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen zugleich einen Maßstab für die Möglichkeit von Kritik an. Das vierte Kapitel, »Reproduktion als Schnittstelle – Die Präimplantationsdiagnostik«, leitet von der theoretischen Analyse zum untersuchten Phänomen über. In ihm skizziere ich die Entwicklung der Präimplantationsdiagnostik und verorte sie vor dem Hintergrund der künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation und Spermieninjektion) und der pränatalen Diagnostik. Dabei stelle ich
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neben medizinischen Aspekten auch die rechtliche Rahmung sowie die Eckpunkte der politisch-institutionellen Debatte in Deutschland vor. Der Schwerpunkt des zweiten Teils der Arbeit liegt auf der Analyse des medialen Diskurses der PID. Im fünften Kapitel »Methodischer Zugang« beschreibe ich mein empirisches Vorgehen, bei dem ich mich an Foucaults diskursanalytischen Arbeiten und dem von Siegfried Jäger entwickelten Konzept der »Kritischen Diskursanalyse« (Jäger 2004) orientiert habe. In den anschließenden Kapiteln sechs und sieben stelle ich meine Analyse des medialen Diskurses der PID vor, die sich in zwei Phasen gliedert: Das sechste Kapitel umfasst die erste Diskursphase von 2000-2004 und bildet damit die öffentliche Diskussion um die Einführung der PID zu Beginn des Jahrhunderts ab, die ich anhand der thematisch einschlägigen Artikel in der »ZEIT« analysiert habe. Im siebten Kapitel untersuche ich die Wiederaufnahme des Diskurses in den Jahren 2010 und 2011. Dieser Zeitraum schließt die Berichterstattung um das Urteil des BGH im Juli 2010 und die folgende Abstimmung zur Gesetzesänderung im Bundestag im Juli 2011 ein. Hierfür habe ich zusätzlich zur »ZEIT« die »Süddeutsche Zeitung« und die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« sowie das Magazin »Der Spiegel« hinzugezogen. Neben der Darstellung der wichtigsten Inhalte und Akteure des Diskurses liegt der Fokus in beiden Phasen auf der Analyse von Argumentationsfiguren, innerhalb derer Frauen und Paare im Diskurs thematisiert werden. Im achten Kapitel, »gen(dered) bodies – Natur, Technologie und Körper im Diskurs der PID«, führe ich die zentralen Ergebnisse der Diskursanalyse und der theoretischen Auseinandersetzung zum Verhältnis von Natur und Kultur zusammen. Hier gilt es abschließend zu klären, ob sich durch den Aufbruch von (Körper-)Grenzen die Vorstellungen von Reproduktion verändern. Welche Rolle nehmen »gen(dered) bodies« und die Kategorie Geschlecht in der Einführung und Durchsetzung einer neuen Technologie ein? Und welche Perspektiven für eine feministische Kritik und/oder Beteiligung an reproduktionsmedizinischen Entwicklungen ergeben sich hieraus?
2. Die Neubestimmung von Natur und Kultur
Die Entwicklung der Gentechnologie bildet gemeinsam mit Informationstechnologie eine der größten technischen Neuerungen der vergangenen Jahrzehnte. Mit der Entschlüsselung der menschlichen DNA, erfolgreichen Versuchen des Klonens oder der Stammzellforschung und zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten symbolisiert sie einen nahezu ungebrochenen medizinischen und technologischen Fortschritt. Nach den anfänglich euphorischen Meldungen, in denen Forschungsergebnisse der Gentechnologie in den Medien als das Ende von Krankheit und Alter gefeiert wurden, sind die Superlative in den vergangenen Jahren weniger geworden (vgl. bspw. Lock 2005). Doch auch wenn bislang die Versprechen hinter das medizinisch und technologisch Mögliche zurückfallen, ist das Vertrauen in die Möglichkeiten der Gentechnologie und die Hoffnung auf Therapierbarkeit oder gar Heilung von vormals nicht behandelbaren Krankheiten geblieben. In diesem Sinne lässt sich die Einführung und Etablierung der Gentechnologie als eine Erfolgsgeschichte erzählen, die nicht zuletzt darin sichtbar wird, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2000 nicht nur durch den Wissenschaftler Craig Venter, sondern auch durch den damaligen USPräsidenten Bill Clinton und den britischen Premierminister Tony Blair bekanntgegeben wurde. Immer wieder hat die Gentechnologie neue Verfahren präsentiert, die bislang unveränderbar erscheinende biologische Konstanten transformieren und damit die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur aufwerfen. So wird sowohl in der wissenschaftlichen als auch öffentlichen Debatte darauf verwiesen, dass die gentechnologischen Entwicklungen zu einem Aufbruch »natürlicher« Grenzen führen. Hier schließe ich mit diesem Kapitel an und untersuche, wie sich die damit einhergehende Neuverhandlung der Grenzen von Natur und Kultur theoretisch fassen lässt. Der Schwerpunkt liegt auf der Vorstellung der Akteur-Netzwerk-Theorie und ihres Analyserahmens für das Verhältnis von Natur und Kultur. Bevor ich diesen vorstelle, möchte ich jedoch auf Probleme der Naturbestimmung innerhalb bioethischer Diskurse hinweisen, die sich
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in den Debatten um die Gentechnologie als zentrale Disziplin für die gesellschaftliche Rahmung der Gentechnologie durchsetzen konnte. Im Anschluss daran werde ich einen holzschnittartigen Überblick über Positionen geben, die Natur als ein gesellschaftliches Verhältnis verstehen, um dann genauer auf die Arbeiten von Bruno Latour als eines Vertreters der Akteur-Netzwerk-Theorie einzugehen. Den Abschluss bildet ein Ausblick, wie sich dieser Theorierahmen zur Beschreibung reproduktionsmedizinischer Entwicklungen einsetzen lässt.
2.1 P ROBLEME EINER DER B IOETHIK
POLARISIERENDEN
P ERSPEKTIVE
In dem Bereich der Reproduktionsmedizin hat sich die Philosophie, genauer die Teildisziplin der Bioethik, als eine Art Begleitwissenschaft etablieren können, die die technologischen und biomedizinischen Neuerungen ethisch beurteilt und rahmt. Dies lässt sich auch am Beispiel der Auseinandersetzung um die Einführung der PID nachvollziehen, in der ein Schwerpunkt auf der Frage liegt, ob es legitim sei, den Embryo auf genetische Krankheiten oder Behinderungen zu testen. Die ethische Diskussion um die PID in Deutschland wird im Jahr 1999 von Peter Sloterdijk eröffnet, der mit seiner Rede »Regeln für den Menschenpark« (Sloterdijk 1999) provokant zur gezielten Nutzung der technologischen Möglichkeiten der PID aufruft. In seiner Replik »Die Zukunft der menschlichen Natur« (Habermas 2001) fordert Jürgen Habermas eine Selbstbeschränkung in der Nutzung der PID, da sie ethische Grundsätze des Umgangs miteinander im Sinne einer Gattungsethik verletze. Dieser Auftakt zu einer öffentlich geführten Debatte, in der um die ethischen, medizinischen und gesellschaftlichen Konsequenzen der PID gestritten wird, verweist auf ein Problem der Diskussion gentechnologischer Neuerungen: Denn obwohl die Bewertungen der PID diametral sind, eint beide Positionen, dass sie in der Argumentation einen Dualismus von Natur und Kultur bestätigen. So zeigt Susanne Lettow am Beispiel von Peter Sloterdijk auf, dass sich die positiven Bewertungen der Gentechnologie mit »maskulin« geprägten Vorstellungen der Naturüberwindung mischen (vgl. Lettow 2003: 58f.). Technologie wird hier zu einer Möglichkeit, den menschlichen Makel – in Form der biologischen Unvollkommenheit – zu überwinden. In diesem Sinne wird der Körper zu einer formbaren und optimierbaren Ressource. Die Kritik an der Gentechnologie, die von unterschiedlichen Positionen formuliert wird, folgt zumeist aus dem Unbehagen über diesen Zugriff auf den Körper, der eine neue Form der Verfügbarkeit über menschliches Leben andeutet. In einer Gegenbewegung versuchen KritikerInnen, Bestimmungen der Natur des
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NATUR
UND
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Menschen vorzunehmen, die vor einem Eingreifen mittels gentechnologischer Verfahren schützen oder hierfür zumindest einen moralischen Rahmen festlegen sollen (vgl. bspw. Braun 2000; Habermas 2001). Der Versuch der Restaurierung der Kategorien führt jedoch leicht zu neuen Essentialisierungen der menschlichen Natur, die in den Diskursen um Geschlecht und Geschlechtsidentitäten mit Mühe aufgebrochen wurden. Beide Perspektiven verbleiben im Dualismus von Natur und Kultur und schreiben eine Natur des Körpers fest, die es wahlweise zu verbessern oder zu beschützen gälte. Diese Perspektive auf die Gentechnologie erweist sich gleich aus mehreren Gründen für eine feministische Analyse und Kritik der Entwicklungen als wenig anschlussfähig: Der Fokus liegt auf der Figur des Embryos, an dessen »zukünftigem« Körper die PID vorgenommen wird. Neben einer grundsätzlichen Kritik an einer isolierten Figur des Embryos, auf die ich an späterer Stelle näher eingehen werde, führt dieser Blickwinkel dazu, dass weitere Aspekte der PID aus dem Fokus geraten und die Technologie nur eine unzureichende Kontextualisierung erfährt. So werden bspw. die medizinischen Risiken für die Frau, deren Körper im Rahmen der künstlichen Befruchtung mit Hormonstimulationen und Eizellentnahme ebenfalls modifiziert wird, vernachlässigt (vgl. auch Kap. 4). Ebenso führt die Fokussierung auf den Embryo und die Diskussion seiner Schutzrechte zu einer Konfliktsituation zwischen dem im bioethischen Diskurs angeführten Recht des Embryos auf Unversehrtheit und der Legitimität des Rechts auf Abtreibung. Ein weiterer Kritikpunkt liegt in der klaren Trennziehung zwischen Natur und Kultur. So haben feministische Theorieansätze in der Auseinandersetzung um die Kategorie Geschlecht den Dualismus scharf kritisiert, da er in einer inneren Beziehung zu geschlechtlich konnotierten Grenzziehungen zwischen männlicher Rationalität und weiblicher Natur stehe und damit einhergehende Hierarchisierungen absichere (vgl. Gransee 2002; Lettow 2011). Auch die Vorstellung eines »natürlichen« geschlechtlichen Körpers ist in die Kritik geraten. Folgt man Judith Butler, so ist die binäre Codierung in männlich/weiblich nicht der »biologischen« Verfasstheit der Körper geschuldet, sondern wird vielmehr in diskursiven Praktiken produziert und in die Körper eingeschrieben (vgl. Butler 1991). Und nicht zuletzt haben Arbeiten der feministischen Wissenschaftskritik in den Blick genommen, wie Geschlecht als Kategorie innerhalb wissenschaftlicher Praktiken (re-)produziert wird. Im Anschluss daran hat sich in den gender studies – auch in einer kritischen Auseinandersetzung mit Butler – eine Diskussion darum entwickelt, wie wir Natur verstehen können, wenn wir sie weder als »ursprünglich« noch vollständig als »sozial geformt« definieren wollen. Gerade die letzte Fragestellung führt zu theoretischen Ansätzen, die ein Verständnis von Natur, Technologie und Körper entwickeln, das nicht in die Dicho-
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tomie der »ursprünglichen« und unberührten Natur versus Technologie als kultureller Prozess zurückfallen und somit Anschlusspunkte für eine feministische Kritik bieten.
2.2 N ATUR UND K ULTUR V ERHÄLTNIS
ALS GESELLSCHAFTLICHES
Ein wichtiger theoretischer Ansatzpunkt für die Auflösung dieses Dualismus findet sich bereits in den Ausführungen Adornos und Horkheimers zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft. In der Kritik an der Vorstellung der Naturbeherrschung verweisen sie auf die Aufspaltung in Geist und Natur, welche zu einer Verneinung der eigenen Natur führt und sich in die Identitätsbildung des Subjektes mit einschreibt. In der »Dialektik der Aufklärung« beschreiben Horkheimer und Adorno die Auswirkungen dieses Prozesses: »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengungen, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.« (Horkheimer 1997: 40)
In ein solches Naturverständnis eingebettet, symbolisiert Technologie die Überlegenheit des Menschen über (seine) Natur; Natur wird zum Repräsentanten des Anderen und Beherrschten. Ausgehend von der hegemonialen Vorstellung der Korrespondenz von Weiblichkeit mit Natur und Passivität auf der einen und Männlichkeit mit Kultur und Aktivität auf der anderen Seite zeigt Adorno auf, dass die Beherrschung der Frau der Beherrschung der Natur analog ist: »Als Repräsentantin der Natur ist die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft zum Rätselbild von Unwiderstehlichkeit und Ohnmacht geworden« (ebd.: 79). Adorno und Horkheimer stellen eine vermittelnde Perspektive des »Eingedenken der Natur im Subjekt« (ebd.: 47) gegenüber und beschreiben Natur und Gesellschaft als konstitutiv verflochten. Sie fordern zu einer Reflexion des eigenen Verhaftet-Seins in der Natur auf, da sich hieraus ein Verständnis von Natur entwickeln ließe, das nicht die Emanzipation von der Natur deklariert und damit in Formen der Naturbeherrschung umschlägt, sondern vielmehr einen Ausblick auf eine herrschaftsfreie Gestaltung von Naturverhältnissen ermögliche (vgl. auch Görg 1999: 126f.). In der kritischen Theorie verbleibt es zugleich bei einem Ausblick. Adorno entzieht sich einer genauen Bestimmung der Natur und ver-
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weist stattdessen auf die »Nicht-Identität« (Adorno 1966: 16, 310) der Natur. Damit entwirft er einen Begriff von Natur, der sich quasi als eine Negativfolie an aktuelle Ausgestaltungen der Naturverhältnisse legen lässt. Es ist das Wissen darum, dass andere gesellschaftliche Naturverhältnisse möglich wären, das eine herrschaftsfreie Natur denkbar macht, ohne sie zugleich, in einem positivistischen Umschlag, zu bestimmen. Diese Überlegungen führen zu aktuellen Theorieansätzen, die das Verhältnis von Natur und Kultur beleuchten. In den vergangenen Jahrzehnten ist ein dualistisches Verständnis nicht nur in Bezug auf die Konstruktion von Geschlecht in die Kritik geraten. Sowohl in der poststrukturalistischen Theoriebildung als auch in den science and technology studies ist die soziale Konstruktion von Natur in den Blick genommen worden. Als ein Effekt der gentechnologischen Forschung und Entwicklung ist die Zunahme von Prozessen der Naturalisierung beschrieben worden, die sich an ganz unterschiedlichen Feldern nachvollziehen lassen. Gerade im Bereich der Reproduktion wird deutlich, dass dem Biologischen im Rahmen gentechnologischer Verfahren eine neue Erklärungsmacht zugesprochen wird und es bspw. in Fragen der Abstammung eine zentrale Bedeutung erhält. So verweisen Gerichtsurteile zur Offenlegung der Spenderdaten bei vormals anonymen Samenspenden oder die Nutzung von DNA-Tests bei Familienzusammenführung darauf, dass hier Verwandtschaft auf ein genetisches Konzept rekurriert (vgl. bspw. Lemke/Rödel 2011; Heinemann/Lemke 2013). Diese Entwicklung lässt sich als eine zunehmende »Genetifizierung« (i.O. geneticization) beschreiben, in der Fragen der Zugehörigkeit oder die Ausbildung individueller Eigenschaften auf genetische Ursachen zurückgeführt werden und damit nicht (mehr) sozial gerahmt werden (Lippman 1998). Ähnliches zeigt sich in Erklärungen für die Entstehung von Krankheiten bis zu Charaktermerkmalen (vgl. bspw. Lemke 2006; Arni 2012). Im Anschluss an Foucaults Begriff der Biopolitik zeigen die Arbeiten, dass die Festschreibung natürlicher Merkmale mit einer individualisierenden Tendenz einhergeht, indem die Verantwortlichkeit für die genetische Ausstattung beim einzelnen Subjekt liegt. Einen etwas optimistischeren Ausblick gibt Rabinows Konzept der Biosozialität (vgl. Rabinow 2004). Auch Rabinow konstatiert eine Zunahme der Bedeutung von genetischem Wissen um die eigene körperliche Verfasstheit. Er beschreibt dieses jedoch nicht über die Perspektive einer Naturalisierung des Sozialen, sondern vielmehr als eine Sozialisierung der Natur, sprich als Biosozialität. Biosozialität verweist hier auf die Möglichkeit neuer sozialer Zugehörigkeiten, die sich gerade aus einer gemeinsam geteilten Natur ergeben und sich dabei
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nicht an Kategorien wie Nation und Ethnie orientieren (müssen). 1 Für Rabinow entsteht mit der Entwicklung der Genetik und der daraus folgenden Möglichkeit, den Körper in seinen kleinsten Teilen zu verändern, ein qualitativ neues Verhältnis von Natur und Kultur. Er beschreibt es als ein Wechselspiel, in dem Natur gleichermaßen artifiziell würde wie Kultur natürlich und somit die Trennung beider Bereiche aufgehoben wird (vgl. ebd.: 139). 2 In beiden Perspektiven, also der Genetifizierung des Sozialen und der Biosozialität, verweist damit die Beschreibung dessen, was als natürlich verstanden wird, immer auch auf gesellschaftliche Konstruktionen von Natur. Eine dritte Perspektive auf Natur und Kultur bieten Arbeiten aus dem Feld der science and technology studies. Dieser relativ junge Ansatz in der Wissenschaftsforschung entsteht in den 70er Jahren und hinterfragt die grundlegende Trennung zwischen den Bereichen der Natur und Naturwissenschaften und der Gesellschaft und Soziologie. Die Arbeiten von Shapin und Schaffer zur Entwicklung der Boyle’schen Luftpumpe (vgl. Shapin und Schaffer 1985), Bloors Entwurf des strong programme (vgl. Bloor 1976) sowie Aufsätze von Pinch und Bijker (vgl. Bijker et al. 1987) oder Knorr-Cetina (vgl. Knorr-Cetina 1981) zeigen exemplarisch eine neue Forschungsperspektive auf, in der die soziale Konstruktionsleistung in der Entstehung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse oder neuer Technologien in den Vordergrund rückt. Sie etablieren eine sozialkonstruktivistische Perspektive im Bereich der Wissenschaftsforschung, die nicht nur die scheinbar neutralen und objektiven Ergebnisse der (Natur-)Wissenschaft entzaubert, sondern auch das, was wir als Natur verstehen, als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse markiert. Diese Zuwendung zum Feld wissenschaftlichen Arbeitens und die Hinterfragung der Objektivität der Ergebnisse (natur-)wissenschaftlichen Forschens hat zugleich selbst eine Debatte darum entfacht, ob wissenschaftliche Ergebnisse und die Natur einen objektiven und von sozialen Faktoren unabhängigen Charakter haben oder sowohl wissenschaftliche Forschung als auch unser Verständnis von Natur immer relativ zu dem soziohistorischen Kontext als konstruktive Gestaltungsprozesse verstanden werden müsse – eine Auseinandersetzung, die als die sogenannten science wars vor al-
1
Als Beispiel führt er Selbsthilfegruppen von seltenen Krankheiten (sogenannte orphan diseases) an, die sich über Ländergrenzen hinweg organisieren, um die Erforschung und Entwicklung von Medikamenten zu finanzieren, die für die Pharmaindustrie aufgrund einer zu kleinen Abnehmermenge ökonomisch nicht attraktiv ist (vgl. Rabinow 2004: 143f.).
2
Für Anschlüsse und Kritik an Rabinows Konzept vgl. bspw. Liebsch und Manz 2007; Wehling et al. 2007; Kliems 2008; Beck 2011; Lemke 2013.
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lem in den USA unter den Schlagwörtern Realismus vs. Relativismus ausgetragen wurde (vgl. Bammé 2004). In diesem Kontext bildet sich ab Mitte der 80er Jahre die Akteur-NetzwerkTheorie (ANT) als ein weiterer Strang der science and technology studies heraus. In den Arbeiten der bekanntesten VertreterInnen Madeleine Akrich, Michel Callon, John Law und Bruno Latour entwickeln diese mit der Figur des Netzwerkes ein neues Modell zur Beschreibung von Natur, Technologie und Gesellschaft, das die dichotomen Positionen zwischen Realismus und Relativismus überwinden helfen soll. Sie beschreiben Netzwerke als komplexe Gebilde, die aus »physischen Materialien, Texten, Menschen, Organisationen, Anweisungen, geografischen Widerständen usw.« (Degele 2002: 127) bestehen können. Damit setzt die ANT einen neuen Akzent: Im Modell des Netzwerkes ist eine klare Zuordnung zur Sphäre des Sozialen oder der Natur unmöglich, da auch den beteiligten Artefakten und (nicht-)menschlichen Wesen Handlungsfähigkeit zugesprochen wird. Ziel des Ansatzes ist es, Gesellschaft und Natur weder als rein natürlich noch sozial zu verstehen, sondern als geteilten Prozess des Netzwerkens, um so den Konflikt zwischen einer Überbetonung der Natur oder der Technologie aufzulösen. Wie gut ihr dies gelingt, werde ich im Folgenden am Beispiel der Arbeiten von Bruno Latour untersuchen.
2.3 AUF
DER S PUR DER D INGE – DURCH DIE N ETZWERKE VON UND G ESELLSCHAFT
M IT B RUNO L ATOUR N ATUR
»Go web. Fly. Up, up, and away web! Shazam! Go! Go! Go web go! Tally ho!« (SPIDERMAN)
Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) bietet einen Entwurf zur Neubestimmung des Natur-Kultur-Verhältnisses und bemüht sich dabei eine Mittlerposition im Streit um Realismus und Relativismus einzunehmen. In diesem Kapitel möchte ich die zentralen Perspektiven und theoretischen Setzungen dieser Position vorstellen. Dafür werde ich mich im Folgenden primär auf Bruno Latour beziehen, der die Analyse des Verhältnisses von Natur und Kultur in seinen Arbeiten ins Zentrum stellt. Latours Arbeiten sind jedoch selbst Teil des wissenschaftlichen Netzwerkes der ANT und oftmals in Co-Autorenschaft mit Madeleine Akrich,
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Michel Callon, John Law oder Steve Woolgar entstanden, so dass sie den gemeinsamen Forschungs- und Theoriekontext der Akteur-Netzwerk-Theorie widerspiegeln. In den Studien von Bruno Latour liegt ein Schwerpunkt auf der Konstruktion und Produktion von Wissen über die Natur und die Objekte der Wissenschaft. Ihm gelingt es dabei, aufzuzeigen, wie Wissenschaftsobjekte in und durch den Forschungsprozess hergestellt werden und wie durch die Integration in bestehende und/oder den Ausbau neuer Netzwerke neues Forschungswissen gesellschaftliche Relevanz erlangt. Neu an seiner Beschreibung ist zum einen die Figur des Netzwerkes, zum anderen sein Verständnis von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren im Forschungsprozess. Indem er auch nichtmenschlichen Akteuren Handlungsfähigkeit zuspricht, hebt er das übliche Subjekt-Objekt-Verhältnis auf und erlaubt eine grundlegend andere Darstellungsweise von Forschung und Forschungsobjekt, die nicht dem doppelten Dualismus aktives Forschungssubjekt und passives Forschungsobjekt folgt. Dieser Perspektivenwechsel führt zu einem veränderten Verständnis der Natur, der nicht mehr die Wahrheit »entlockt« wird, sondern die selbst als Akteur sichtbar wird. Die Akteur-Netzwerk-Theorie zeigt auf, wie im Forschungsprozess neues Wissen über technologische und natürliche Objekte durch eine Vielzahl beteiligter Akteure und Aktanten entsteht, zu denen auch die Natur selbst gezählt werden muss. Natur und Gesellschaft bilden dann sozusagen beiderseits ein gemeinsames Resultat des Netzwerktreibens (vgl. Callon 2006c). Dem Verständnis von Natur sowie menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren geht Latour auch in seinen Analysen der Moderne und dem Entwurf eines symmetrischen Verhältnisses von Natur und Akteuren nach, die seinen zweiten inhaltlichen Schwerpunkt bilden. Vor allem in »Wir sind nie modern gewesen« (Latour 2008) kritisiert er die dualistische Vorstellung von Natur und Technologie und verweist stattdessen auf Phänomene, die sich einer klaren Grenzziehung entziehen. Mit den Begriffen der »Arbeit der Reinigung« und der »Arbeit der Übersetzung« entwickelt er zugleich ein analytisches Instrumentarium, um die Prozesse der Grenzziehung in den Blick zu nehmen. Latours Arbeiten bieten somit für die polarisierten Debatten um die humane Gentechnologie einen alternativen Zugang zur Bestimmung von Natur und Kultur und umgehen die Schwierigkeiten einer dualistischen Setzung. Um seiner Perspektive zu folgen, untersuche ich in diesem Kapitel zwei zentrale Aspekte seiner Arbeit: Erstens die Wissensproduktion und Netzwerkbildung im Forschungsprozess und zweitens seine Kritik der Moderne und der damit einhergehenden Etablierung von Dualismen. Im Anschluss daran werde ich die wissenschaftliche Kritik an und feministische Auseinandersetzung mit Latour vorstel-
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len und mit der Frage verbinden, inwieweit dieser Ansatz für eine Beschreibung und Beurteilung der humanen Gentechnologie genutzt werden kann. Dabei gilt es auch zu prüfen, wie sich die Kategorie Geschlecht in den Ansatz der ANT integrieren lässt. 2.3.1 »Gebt mir ein Labor!« Wissensproduktion und Netzwerkbildung im Forschungsprozess Einen Schwerpunkt der Akteur-Netzwerk-Theorie bildet die Wissenschaftsforschung, in der Latour und seine MitstreiterInnen Wissenschaft selbst zum Forschungsfeld erklären und durch (teilnehmende) Beobachtungen im Labor und in der Feldforschung die Entstehungsprozesse wissenschaftlichen Wissens und technischer Innovationen untersuchen. In ihrem Buch »Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts« protokollieren Bruno Latour und Steve Woolgar teils im Sekundenrhythmus die Arbeitsvorgänge, Kommunikation und Geschehnisse im Labor und eröffnen einen Einblick in die alltäglichen Gewohnheiten und das Arbeitsleben der beobachteten Wissenschaftler, die sie in ihrem »natural habitat« (Latour/Woolgar 1986: 274) untersuchten. Mit ihrem Bemühen um eine an ethnografische Studien angelehnte Untersuchung der Produktion von wissenschaftlichen Fakten verschieben die Autoren den Fokus damit weg von der Analyse der Auswirkungen neuer Technologien, wie man es bspw. in der Risikofolgenabschätzung findet, und nehmen anstelle dessen den »Produktionsprozess« von Wissenschaft selbst in den Blick, den sie kritisch reflektieren wollen (vgl. ebd.: 282). Ihr Ziel ist es, die »Black Box« Wissenschaft zu öffnen, denn »although our knowledge of the external effects and receptions of science has increased, our understanding of the complex activities which constitute the internal workings of scientific activity remains undeveloped« (ebd.: 17). In unterschiedlichen Arbeiten gehen Latour und seine KollegInnen immer wieder der Frage nach, wie wissenschaftliche Ergebnisse produziert werden und welche Entitäten in die Produktion mit eingebunden sind. Charakteristisch ist dabei der Blick in das Labor. 3 Sowohl in der gemeinsamen Untersuchung mit
3
Die ANT untersucht wissenschaftliche Praktiken auch außerhalb des Labors und zeichnet bspw. an der Landvermessung und Kartografierung im Amazonasgebiet (Latour 2002), an der Erforschung der Kammmuscheln (Callon 2006b) oder der Expansion Portugals (Law 1987) die Wissensproduktion nach. Sie verweisen dabei ebenso wie im Umgang mit technischen Artefakten im Alltag in Form von Türöffnern, Anschnallaufforderungen oder Schlüsselanhängern (vgl. bspw. Latour 1996) auf die
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Steve Woolgar als auch in seinen späteren Arbeiten zu Pasteur (vgl. Latour 1988, 2002, 2006b) nutzt Latour das Labor als Synonym wissenschaftlicher Forschung und untersucht, anhand welcher Praktiken im Rahmen von Laborversuchen wissenschaftliche Fakten und Wissensbestände entstehen. Mit Louis Pasteur nimmt Latour zugleich einen der bekanntesten französischen Biologen und Mediziner in den Blick, der nicht nur in Frankreich auch heute noch für seine Entwicklung von Impfstoffen und der Pasteurisation geehrt wird. Latour rekonstruiert an den wissenschaftlichen Erfolgen Pasteurs, der Entdeckung von und Impfung gegen Milzbrand und Entwicklung der Pasteurisation, dessen Forschungsarbeit und arbeitet eine alternative Beschreibung des Zustandekommens der Ergebnisse heraus, die ich im Folgenden als Beispiel der Arbeitsweise von Bruno Latour skizzieren möchte. An diesem Beispiel lassen sich zentrale begriffliche Kategorien und theoretische Perspektiven in Latours Arbeit und zugleich Grundzüge der Akteur-Netzwerk-Theorie deutlich machen: Die Figur des Netzwerkes als epistemologisches und ontologisches Modell, die Auflösung der Grenze zwischen einer makro-sozialen Ebene und der Mikroebene der Laborwissenschaften, die Umdefinition der Handlungsfähigkeit und die daraus resultierende Ausweitung des Akteursbegriffs auf menschliche und nicht-menschliche Akteure und schließlich die Begriffe der »Übersetzung« und der »Inskription«. Arbeiten im Netzwerk In seinem Aufsatz »Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den Angeln heben« 4 (Latour 2006b) und seinem Buch »The Pasteurization of France« (Latour 1988) stellt Latour die Geschichte der Entdeckung der Mikrobe, die Milzbrand verursacht, und ihre Beherrschung durch die Entwicklung eines Impfstoffes durch Pasteur vor. Als im Frankreich des 19. Jahrhunderts Milzbrand ausbricht, untersucht Louis Pasteur die Ursachen für die Entstehung der Tierseuche. Landwirte wie Tierärzte stehen vor einem Rätsel, warum Milzbrand immer wieder auftritt, da die Krankheit keinem einsichtigen Muster zu folgen scheint. Um einen Überblick über den Verlauf und das Ausmaß der Erkrankung zu erhalten, die in landwirtschaftlichen Betrieben auftritt, besuchen Pasteur und seine Assistenten zuerst die Bauernhöfe, wo sie Proben entnehmen, den landwirtschaftlichen Alltag protokollieren und mit Landwirten und Tierärzten sprechen. Mit diesem Wissen ausgestattet reist Pasteur mit den Proben zurück nach
grundlegende netzwerkartige Struktur und die geteilte Handlungsträgerschaft der Akteure in diesen Prozessen. 4
Der Text erschien im Original bereits 1983 unter dem Titel »Give me a Laboratory and I Will Raise the World« (Latour 1983).
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Paris und transferiert den Erreger in sein Labor. In der Mikroebene des Labors entdeckt er die Mikrobe, die den Milzbrand auslöst, und es gelingt ihm durch eine Reihe von Testverfahren und Versuchen, ein wirksames Mittel gegen die Krankheit zu entwickeln. Latour folgt in seiner Darstellung der Erfolge Pasteurs nicht der Erzählung einer neuen Entdeckung, sondern beschreibt stattdessen, wie es Pasteur gelingt, das Phänomen Milzbrand »beherrschbar« zu machen. In Latours Beschreibung nimmt Pasteur eine Verschiebung bzw. »Transformation« des Phänomens vor, indem er es von der Makroebene der französischen Landwirtschaft auf die Mikroebene des Labors umsiedelt. Erst im Labor gelingt es Pasteur zu analysieren, wie sich die Krankheit überträgt, und dabei die Mikrobe als Krankheitsverursacher zu isolieren, um anschließend an ihr Mittel zur Eindämmung der Seuche zu testen. Latour beschreibt die Folgen dieser Größenänderung: »The difference made by the laboratory is small yet crucial. In it the power ratio is reversed; phenomena, whatever their size – infinitely great or infinitely small – are retranslated and simplified in such a way that a group of men can always control them. Whatever the size of the phenomena, they always end up in transcriptions that are easy to read and about which a few individuals who have everything within sight argue. This can be regarded as a miracle of thought but as far as I am concerned, the simplicity of the procedures by which the balance of forces is reversed is even more extraordinary.« (Latour 1988: 74)
Der spezifische Raum des Labors erlaubt es, den Maßstab der Phänomene so zu variieren, dass Dinge sichtbar und lesbar werden. So durchläuft die Mikrobe im Labor einen Prozess, in dem ihr eine spezifische Bedeutung zugewiesen wird und der von Latour als ein »Inskriptionsprozess« definiert wird. 5 In diesem wird
5
Latour bezeichnet die Lesbarmachung von Phänomenen als Inskription. Dank der Inskription »ist jedes Ding, worüber man zu sprechen hat, nicht nur sichtbar, sondern auch lesbar, und von wenigen sachverständigen Menschen kann leicht darauf verwiesen werden« (Latour 2006b: 128). Zugleich ist der Prozess der Inskription kein neutraler: Wie Latour ausführt, geht es bei der Inskription darum, eine Bedeutung so zu verfestigen, dass diese als Oberfläche der Inskription lesbar ist. Ziel sei es, den Text so zu verändern, dass die Anzahl der Gegenargumente begrenzt sei und dadurch die Bedeutung festzulegen und einzuschreiben. Latour beschreibt die Bedeutungsverschiebung durch den Inskriptionsvorgang an einem Beispiel: »Wenn man eine Modalität von ›es ist sehr wahrscheinlich, dass A gleich B ist‹ zu ›X hat gezeigt, dass A gleich B ist‹ verändert, genügt dies zur Formulierung einer wissenschaftlichen Tatsa-
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sie als Auslöser der Krankheit bestimmt, womit zugleich die Verbindung von der Infektion mit dem Milzbrand-Bazillus und dem Auftreten der Krankheit verfestigt wird. Mit dem Transfer in das Labor verändert Pasteur damit das Verhältnis von »innen« und »außen« und leitet laut Latour eine Umwandlung der Kräfte ein: »›außerhalb‹ waren die Tiere, Bauern und Tierärzte schwächer als der unsichtbare Anthrax-Bazillus; innerhalb des Laboratoriums von Pasteur wird der Mensch stärker als der Bazillus; als Folge davon ist der Wissenschaftler in seinem Labor im Vorteil gegenüber dem lokalen, gewissenhaften, erfahrenen Tierarzt.« (Latour 2006b: 109)
Diesen Vorteil nutzt Pasteur: Es gelingt ihm, seine Arbeit im Labor als eine Erklärung von Viehseuchen und Epidemien bekannt zu machen und Landwirte und Tierärzte für seine Forschung zu interessieren (ebd.: 112). Damit seine Forschung jedoch als erfolgreich anerkannt wird, muss er seine Ergebnisse und die Wirkung des Impfstoffes auch außerhalb des Labors beweisen. Hier beschreibt Latour eine zweite »Transformation«: Pasteur verlagert die Bedingungen seines Labors in die Landwirtschaft und führt dort als öffentlichen Versuch und Beweis eine Impfung an Tieren durch. 6 Auf einem Modellbauernhof, den Pasteur so transformiert, dass er in Bezug auf Hygiene und Sauberkeit wesentlichen Laborkriterien genügt, demonstriert er die Wirkung des Impfstoffes anhand der Immunität der geimpften Tiere gegen die Krankheit und weist auf diese Weise nach, dass der Impfstoff außerhalb des Labors eingesetzt werden kann. Zugleich hat er durch die Einladung der »größten Massenmedien der damaligen Zeit« (ebd.: 114) auch die öffentliche Berichterstattung über seine Forschung sichergestellt. Im Anschluss an den Erfolg des Feldexperiments wird die Impfung gegen Milzbrand in der französischen Landwirtschaft eingeführt und dient der Eindämmung
che« (ebd.: 125). »In Science in Action« definiert Latour Inskriptionsinstrumente als jedes »set-up«, das eine visuelle Darstellung des wissenschaftlichen Textes erlaubt, bspw. auch Diagramme, Graphen etc. (vgl. Latour 1987: 68). Die Inskription selbst ist dann »the final layer in a scientific text« (ebd.). 6
Latour beschreibt Pasteurs Vorgehen als geschickte Inszenierung: Pasteur führt sein Experiment auf einem ausgesuchten Bauernhof in Pouilly le Fort durch, wo er die Wirkung seines Impfstoffes an einer Gruppe von Tieren demonstrieren will. Dazu führt Pasteur die Impfung nur an einem Teil der Tiere durch und infiziert nach erfolgreichen Impfverläufen alle Tiere mit dem Milzbrand-Bazillus. Seine Prognose, dass nur die geimpften Tiere eine Infektion überleben werden, bestätigt sich und wird wie eine Prophezeiung verstanden (vgl. Latour 2006b: 114).
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und Prophylaxe von Milzbrand. Pasteur ist dabei als Mikrobiologe offiziell zum Experten der Tierseuche geworden. Ihm ist es gelungen, folgende Losung zu installieren: »Wenn Sie ihre Tiere vor Anthrax schützen wollen, bestellen Sie Impfstoff im Pasteur-Laboratorium« (ebd.: 115). Unterstützt wurde diese Entwicklung vom Aufkommen der Statistik, die dokumentierte, wie sich der Verlauf von Milzbrand nach der Einführung des Impfstoffes veränderte und Krankheitsfälle abnahmen, und damit die Verbindung von Impfstoff und der Eindämmung von Anthrax belegte (vgl. ebd.: 115) 7. Die beiden Transformationsmomente, die Latour in der Arbeit Pasteurs beschreibt, verweisen auf einen signifikanten Wechsel in den Dimensionen der Mikro- und Makroebene: Das Verhältnis von »innen« und »außen« wandelt sich ebenso wie der Maßstab des Phänomens Milzbrand. Als Effekt zeigt sich für Latour, dass die Grenze zwischen der Mikro- und Makroebene keine statische Trennung der Bereiche begründet, sondern vielmehr als fließende Grenze verstanden werden muss. Anstelle einer klaren Abgrenzung zwischen den Bereichen der Mikrobiologie und der französischen Gesellschaft, zwischen der Analyse der Mikrobe in der Petrischale unter dem Mikroskop im Labor und der (gesundheits-)politischen Steuerung der französischen Landwirtschaft betont Latour, dass gerade am Beispiel Pasteurs deutlich wird, dass es sich nicht um zwei getrennte Sphären handelt (Latour 1988: 91). Wie Latour beschreibt, modifiziert Pasteur »in seiner äußerst wissenschaftlichen Arbeit, im Inneren des Laboratoriums […] aktiv die zeitgenössische Gesellschaft« (Latour 2006b: 119), indem er einige ihrer wichtigsten Akteure verschiebt und die Mikrobe als neue Kraft in Frankreich einführt. Latour stellt uns daher Pasteur nicht nur als Wissenschaftler vor, sondern betont die politische Dimension seiner Arbeit. Um die Kontrolle über die Mikrobe nicht zu verlieren, werden die Regeln des Labors sukzessiv in die Gesellschaft übertragen; der Erlass von Hygienevorschriften zeugt ebenso von einer neuen Gewichtung wie die Einplanung von Abwasserkanälen in der Stadtplanung oder die Übernahme in alltägliche Routinen wie das Händewaschen. Im landwirtschaftlichen und medizinischen Bereich etablieren sich Schutzimpfungen, die als neues Verfahren zur Kontrolle von und Vorsorge vor Infektionskrankheiten eingesetzt werden. Mit der Entdeckung der Mikrobe verändern sich damit die Strukturen der französischen Gesellschaft, die sich unter
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Foucault beschreibt die Einführung der Statistik ebenfalls als einen grundlegenden Wandel im 19. Jahrhundert, der zu neuen Formen der Regierung und Bevölkerungspolitik führt. Durch die statistische Erfassung der Bevölkerung entstehen neue Kontrollund Regulationsformen der Bevölkerung, bspw. in Formen der Geburtenerfassung, der Einrichtung von Spitälern und Kliniken etc. (vgl. Foucault 1977).
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der Perspektive von Hygiene und Krankheitseindämmung neu formiert. Spätestens diese Entwicklung macht die Unterscheidung zwischen Labor und Gesellschaft obsolet. In seiner Rekonstruktion von Pasteurs Arbeit zeigt Latour, dass die Entwicklung der Impfung nicht das alleinige Ergebnis eines einsamen Forschungsprozesses im Labor ist. Er beschreibt den Forschungsprozess Pasteurs stattdessen als ein Netzwerk aus unterschiedlichen Akteuren, das erst in der Analyse und einer Auflistung der einzelnen Schritte und Forschungsphasen sichtbar wird. Als Teil dieses Netzwerkes führt Latour Tierärzte, Bauern, erkrankte und geimpfte Tiere und die Mikrobe an, die sich in Gelatine gebannt untersuchen lässt, aber auch die Statistik und Massenmedien, die den Erfolg der Impfung bestätigen (vgl. Latour 1988: 82). Als Ergebnis dieses Netzwerkes etabliert sich ein Wissen über die Ursachen und den geeigneten Umgang mit Milzbrand, das von allen Akteuren geteilt und eben dadurch stabilisiert und universalisiert wird. Pasteur ist in diesem Netzwerk der Teilnehmer, dem es am erfolgreichsten gelingt, sein Interesse so zu »übersetzen«, dass dieses auch für die anderen Akteure zu ihrem Interesse wird. Dies gelingt ihm nach Latour vor allem durch die oben beschriebenen Transformationen und Maßstabsveränderungen in seinem Laboratorium, durch die Pasteur sich zum glaubhaften Sprecher der Mikrobe macht (vgl. Latour 2006b: 120). Gleichwohl ist er aber nicht der einzige Akteur, dem Handlungsfähigkeit zukommt: Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie ist die Mikrobe nicht nur ein Forschungsobjekt, das von Pasteur unter dem Mikroskop entdeckt wird. Latour beschreibt die Mikrobe des Milzbrand-Bazillus als eine neue Kraft der französischen Gesellschaft, als einen Agenten und Akteur in dieser (vgl. ebd.: 120). Der Begriff des Akteurs Dies verweist auf eine zentrale theoretische Setzung: In der ANT wird der Begriff der Handlungsfähigkeit nicht an menschliche Subjekte geknüpft. Handlung wird nicht als die Ausführung einer intentionalen Entscheidung definiert, die ein autonomes Subjekt voraussetzt, sondern als »eine Reihe von Performanzen gegenüber Herausforderungen und Prüfungen« (Akrich/Latour 2006: 399). In diesem Sinne ist eine Handlung eine Umsetzung oder Veränderung im Rahmen von Handlungsprogrammen, die mittels einer »Abfolge von Zielen, Schritten und Intentionen« (Latour 2006d: 486) dazu dienen, einen Akteur zu beschreiben. Ein Beispiel dafür bietet die Entdeckung der Mikrobe durch Pasteur: Die Mikrobe handelt im Sinne der ANT, indem sie im Labor zu einer Veränderung des Versuchsablaufes beiträgt. Sie (re-)agiert in den verschiedenen Versuchen Pasteurs und führt zu unterschiedlichen Ergebnissen. So »entdeckt« Pasteur die Hefemik-
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robe, weil er graue Flecken sieht, aus denen er ihre Existenz schlussfolgert. Darauf aufbauend führt er weitere Versuche durch, in denen er die Aktionen der Hefemikrobe untersucht. Diese wird über ihre (Re-)Aktionen in den Versuchen beschrieben und definiert. Handlungsfähige Akteure sind demnach »entities that do things« (Latour 1992: 241). Dieser Begriff des Akteurs schließt explizit menschliche und nicht-menschliche Akteure ein. Zwar unterscheidet Latour in einigen seiner Arbeiten zwischen dem Begriff »Akteur« als menschlich handelnder Akteur und dem Begriff des Aktanten als nicht-menschlichem Handelnden. 8 Er betont jedoch in seinen Texten, dass der Begriff »Akteur« kein exklusiver Begriff für Menschen sei, sondern vielmehr Akteure durch ihr Verhalten zu definieren seien (vgl. Latour 2002: 372). Latour verknüpft den Status des Aktanten mit der Stellung, die die Entität in der Präsentation eines Forschungsprozesses einnimmt: »I propose to call whoever and whatever is represented actant« (Latour 1987: 84, Herv. i. O.). Demgegenüber definiert er »Akteure als alles, was einen anderen in einem Versuch verändert« (Latour 2001: 285). Akteure sind demnach eine spezifische Form von Aktanten, die mit einem (zumeist anthropomorphen) Charakter ausgestattet sind (vgl. Akrich/Latour 2006: 400). Die Unterscheidung verweist gleichwohl auf eine Hierarchisierung in Repräsentant und Repräsentiertes, die zwar nicht zwingend entlang der Grenze von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren verläuft, diese aber zumeist doch bestätigt. Auch wenn Latour die Frage der Repräsentation und die damit einhergehende Differenzierung in Aktant und Akteur nicht in allen seinen Arbeiten anwendet, erscheint mir diese zentral, um den Aspekt der Hierarchisierungen im Netzwerk einzufangen. Im Beispiel der Erforschung des Milzbranderregers
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Sowohl den Begriff des Akteurs als auch den Begriff des Aktanten entlehnt die ANT aus der Semiotik. Ersterer bezeichnet »jede Diskurseinheit, die eine Rolle innehat« (Callon 2006c: 77), letztere jenes Wesen, »das in einer Szene auftritt, solange es nicht bereits eine figurative oder nicht-figurative Rolle (wie ein ›Bürger‹ oder eine ›Schusswaffe‹) zugeschrieben bekommen hat« (Latour 1998: 35). Trotz des Changierens der Begriffe wird deutlich, dass die Unterscheidung in Akteur und Aktant keine essenzielle Differenz markiert und sowohl menschliche als auch nicht-menschlich Handelnde einschließen kann. Latour ist jedoch bewusst, dass der Begriff des Akteurs im Alltagsgebrauch zumeist auf Menschen beschränkt bleibt. Für ihn ist die tradierte Trennung in Objekt und Subjekt die Ursache dafür, dass wir den Dingen keinen Akteursstatus zusprechen, die aus der »panischen Furcht entstehe, den Menschen auf ein Ding reduziert« (Latour 2001: 110) zu sehen. Er beschreibt anstelle dessen sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Wesen als soziale Akteure, die miteinander ein Kollektiv bilden.
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wird eben durch jene Unterscheidung in Repräsentant und Repräsentiertes festgelegt, wer zum »Sprecher« des Netzwerkes avanciert. Auch Michel Callon untersucht in einem Aufsatz zur Erforschung der Kammmuschel zentral den Effekt der Repräsentation. Er beschreibt, wie die Forscher im Prozess der Problembestimmung und Analyse des Rückgangs der Kammmuscheln in der St. BrieucBucht zu einem »obligatorischen Passagepunkt« (Callon 2006b: 149) werden. Auch in diesem Beispiel gelingt es den Forschern sich als die Experten und damit als Sprecher des Problems zu etablieren, indem sie eine Reihe von erfolgreichen Übersetzungen mittels Verschiebungen verfestigen. Der Begriff des Passagepunkts verdeutlicht bildlich die zentrale Position, die den Sprechern eines Netzwerkes zukommt. Auch in diesem Beispiel zeigen sich zwei Hierarchisierungen, die mit dieser Setzung einhergehen: Zum Ersten etablieren sich die Wissenschaftler als Experten im Netzwerk und grenzen sich damit von den übrigen Akteuren ab, in diesem Fall Forschern, die nicht in der Bucht gearbeitet haben, Fischern vor Ort und den Kammmuscheln. Zum Zweiten verfestigt auch hier die Unterscheidung in Repräsentant und Repräsentiertes die Grenze zwischen Tier und Mensch. Deutlicher als Latour benennt Callon den Effekt, den »Übersetzung« hier einnimmt: »Übersetzung ist der Mechanismus, durch den die soziale und die natürliche Welt fortschreitend Form annehmen. Das Resultat ist eine Situation, in der bestimmte Entitäten andere kontrollieren. Will man verstehen, was die Soziologen Machtbeziehungen nennen, muss man den Weg beschreiben, durch den die Akteure definiert, assoziiert und gleichzeitig verpflichtet werden, ihren Allianzen treu zu bleiben.« (Callon 2006b: 170)
Indem in der Akteur-Netzwerk-Theorie der Begriff der Handlung als Performanz definiert wird, zeigen sich in der Analyse von Netzwerkprozessen eine Vielzahl von neuen Akteuren/Aktanten, die sonst nicht im Sichtfeld der Forschung erscheinen. Am Beispiel Pasteurs kann der Forschungsprozess und -erfolg als ein Prozess geteilter Handlungsträgerschaft beschrieben werden, als dessen Endprodukt die Mikrobe und der Impfstoff erscheinen. Was aber bedeutet dieses Modell schließlich für die Mikrobe? Wird diese in Latours Beschreibung erst im Forschungsprojekt entdeckt und sozial konstruiert, so dass die Akteur-NetzwerkTheorie sich als eine Spielart des Sozialkonstruktivismus darstellt, oder reicht das Modell des Netzwerkes darüber hinaus? In »The Pasteurization of France« versucht Latour eine Antwort auf die Frage zu geben, ob die Milzbrand-Mikrobe schon vor Pasteurs Forschung existierte, oder ob sie vielmehr erst durch den Forschungsprozess hervorgebracht wurde.
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»Once the statistical apparatus that reveals the danger of anthrax and the efficacy of the vaccine, has been stabilized, once at the Institut Pasteur the procedures for weakening, conditioning, and sending the vaccine microbe has been stabilized, once Pasteur has linked his bacillus with each of the movements made by ›anthrax‹, then and only then is the double impression made: the microbe has been discovered and the vaccine is distributed everywhere.« (Latour 1988: 93)
Seine Antwort verweist auf den Prozess des Netzwerkes und dessen Geschichte, die alle Entitäten, die in das Netzwerk eingebunden sind, tragen. In diesem Sinne gibt es für Latour keine vorgängige Mikrobe; die Frage sei mit der Vorstellung verknüpft, dass es ein »dort draußen an einem Endpunkt wartendes Ding« (Latour 2002: 182) gäbe, das nur auf seine Entdeckung warte. Gerade jene Modellfigur (natur-)wissenschaftlicher Forschung ersetzt die Akteur-Netzwerk-Theorie durch die Figur netzwerkartiger Forschungsprozesse. Dass wir trotzdem von der Mikrobe als einer Substanz mit festen Grenzen und Eigenschaften sprechen und sie als wissenschaftliche Tatsache definieren, gründet nach Latour darin, dass wissenschaftliche Ergebnisse als Fakt und damit universales Ergebnis außerhalb von Raum und Zeit angeordnet werden und im »sicheren Hort einer unhistorischen Natur verwahrt« werden (ebd.: 190). Am Beispiel von Pasteurs Forschung wird jedoch deutlich, dass gerade jene Herstellung eines sicheren Ortes der Natur mit verschiedenen Problemen einhergeht. So führt die Unterscheidung in entdeckenden Wissenschaftler und entdeckter Entität/Natur zu einer Hierarchisierung und blendet sozio-historische Aspekte aus dem Forschungsprozess ebenso aus wie gemeinsam geteilte Aktivität im Netzwerkprozess. Gerade mit dem Modell der geteilten Aktivität der ANT lässt sich eine Spur der Eigendynamik der Mikrobe aufzeigen, die über eine sozialkonstruktivistische Vorstellung der Bearbeitung der Natur hinausreichen kann. Inwieweit der Natur damit Handlungsträgerschaft und Eigendynamik zukommt, möchte ich im nächsten Kapitel genauer untersuchen. Wie die Figur des Akteurs zeigt, werden im Modell des Netzwerkes tradierte Grenzziehungen wie die zwischen Subjekt und Objekt überschritten und neu besetzt. Dabei kommt den Dingen und nicht-menschlichen Wesen eine neue Relevanz zu. Eine Konsequenz dieses Modells ist es, dass die Bereiche Natur und Gesellschaft nicht mehr klar zu trennen sind, sondern vielmehr als Prozess eines gemeinsamen Netzwerkens verstanden werden müssen. Während sich Netzwerkprozesse in konkreten Beispielen eingebettet gut nachvollziehen lassen, bringt diese Perspektive als Theorieentwurf zur Beschreibung der Gesellschaft einige offenen Fragen mit sich, denen ich im nächsten Abschnitt nachgehen möchte.
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2.3.2 Kritik der Moderne Bruno Latour folgt der Spur der Laborstudien und fragt nach Bedingungen einer Gesellschaft, in der das Verhältnis von Subjekt und Objekt nicht dualistisch organisiert ist, sondern vielmehr die Dinge als Teil der Gesellschaft vertreten werden. Er entwickelt seine Theorie einer symmetrischen Anthropologie aus einer Kritik an der Moderne, deren Struktur und Aufbau er vor allem in seinem Essay »Wir sind nie modern gewesen« (Latour 2008) analysiert und hinterfragt und in seinen neueren Arbeiten »Das Parlament der Dinge« (Latour 2001) und »Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft« (Latour 2007) näher ausführt. In diesen Arbeiten verlässt Latour die Ebene der mikrosoziologischen Beschreibung und stellt die Akteur-Netzwerk-Theorie als eine neue Theorie des Sozialen vor, die mithilfe der analytischen Figur des Netzwerkes einen umfassenden Zugang zur Analyse gesellschaftlicher Probleme bietet und dabei übliche Dichotomien vermeidet. Durch die Auflösung und Überschreitung der Grenzziehungen von Natur und Gesellschaft, Menschen und Nicht-Menschen etc. sollen mithilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie die Blindstellen bisheriger theoretischer Entwürfe ausgeleuchtet werden. Diesen alternativen Zugang zum Verständnis von Natur und Gesellschaft möchte ich im Folgenden näher untersuchen. Als zentrale Aspekte werde ich mich dabei auf die Konstruktion von Grenzen und die Nachzeichnung von Grenzverläufen konzentrieren, für die Latour mit der »Arbeit der Reinigung« und der »Arbeit der Übersetzung« ein begriffliches Analyseinstrument bereitstellt. In seinem Essay »Wir sind nie modern gewesen« (Latour 2008) illustriert Latour am Beispiel des Ozonloches die Verstricktheit der Bereiche Wissenschaft, Natur und Gesellschaft: »Das Ozonloch ist zu sozial und zu narrativ, um wirklich Natur zu sein, die Strategie von Firmen und Staatschefs zu sehr angewiesen auf chemische Reaktionen, um allein auf Macht und Interessen reduziert werden zu können, der Diskurs der Ökosphäre zu real und zu sozial, um ganz in Bedeutungseffekten aufzugehen.« (Latour 2008: 14)
Latour nutzt das Beispiel um zu verdeutlichen, dass sich aktuelle Problemstellungen einer eindeutigen Zuordnung verweigern. Während Kritikformen, die sich auf einzelne Aspekte konzentrieren, wesentliche Momente in der Auseinandersetzung um das Ozonloch nicht erfassen, gelingt es nach Latour erst über die Perspektive des Netzwerkes das Phänomen in seiner Komplexität zu erschließen. Mithilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie ließen sich jedoch nicht nur die verschiedenen Teilaspekte verbinden, vielmehr treten die Grenzziehungen selbst in den
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Blick und würden in ihrer Funktion analysierbar. 9 Latour stellt uns diese Grenzziehungen als Charakteristikum der Moderne vor. 10 So markiert die Dichotomie von Kultur und Natur den Beginn der Moderne und führt zu einer grundlegenden Verschiebung der Perspektiven auf die Welt: Der moderne Mensch wird nicht als Teil der Natur definiert, sondern die Unterscheidung zwischen der Welt der Menschen und der Nicht-Menschen, d.h. der Natur, Objekte und Tiere, ist signifikant für die Moderne (vgl. ebd.: 22). Latours Analyse der Moderne zeigt ein verschachteltes Bild, das voll von Widersprüchlichkeiten ist. Zentral arbeitet Latour zwei Dichotomien heraus, die er vertikal und horizontal anordnet (s. Abbildung 1). Als erste Dichotomie führt Latour die vertikale Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen an, diese ergänzt er um eine zweite Dichotomie, die horizontal verläuft und somit das Schaubild um eine dritte zugrunde liegende Ebene erweitert. Die Grenze verläuft hier zwischen der »Arbeit der Reinigung« und der »Arbeit der Übersetzung«. Während die Arbeit der Reinigung »zwei vollkommen getrennte ontologische Zonen« (ebd.: 19) herstellt und damit die Dichotomie zwischen Menschen und Nicht-Menschen überwacht und unterstützt, bringt die Arbeit der Übersetzung »Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur« (ebd.) hervor. Diese Hybriden sind Grenzgänger, die sich weder eindeutig der Natur noch der Kultur zuordnen lassen und deren Existenz durch die Arbeit der Reinigung und durch die klare Trennung in menschliche und nicht-menschliche Wesen nicht vorgesehen ist. Während auf der vertikalen Ebene eine klare Trennbarkeit praktiziert wird, entstehen auf der horizontalen Ebene »unterhalb« der Aufteilung die Mischwesen, die gerade die nicht eindeutige Zuordbarkeit zu einer Sphäre charakterisiert (vgl. ebd.: 20).
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Latour kritisiert die Begrenztheit der disziplinär gebundenen Erklärungsansätze innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. So hätten Natur- bzw. Neurowissenschaften, Soziologie und Philosophie unterschiedliche Kritikformen hervorgebracht, die zwar sehr wirkungsvoll seien, durch die jeweiligen disziplinären und theoretischen Perspektiven gelänge es jedoch nur Teilaspekte der Welt zu erklären (vgl. Latour 2008: 13). Sie verblieben mit den Kritikformen der Naturalisierung, Sozialisierung und der Dekonstruktion innerhalb eines disziplinär geprägten Zuganges und könnten nur eine begrenzte Reichweite der Kritik entfalten.
10 Der Begriff der Moderne wird von Latour nicht genauer definiert. Als Teil der Entstehung der Moderne verweist Latour sowohl auf den Humanismus als auch auf die Entwicklungen in der Wissenschaft und der politischen Philosophie ab der Mitte des 17. Jahrhunderts (vgl. Latour 2008: 48).
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Abbildung 1: Reinigungs- und Übersetzungsarbeit
(Quelle: Latour 2008: 20)
Und eine weiter reichende These schließt Latour an: Die Hybriden breiten sich nicht nur aus, sie waren vielmehr immer existent (vgl. ebd.: 68f.). Die klare Grenzziehung zwischen Natur und Kultur, die die Grundlage der Moderne bildet, geht immer mit der Ebene der Übersetzung einher, in der die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur aufgelöst wird und stattdessen die Verknüpfungen und das Herausbilden neuer Mischwesen betont werden. Latours These, wir seien nie modern gewesen, verweist auf die Gleichzeitigkeit beider Dichotomien. Wir sind demnach nie modern gewesen, weil die eindeutige Grenzziehung zwischen Natur und Kultur nicht existiert, sondern vielmehr immer erst mühsam sozial hergestellt werden muss (vgl. ebd.: 64). Indem Latour gerade die Verbindung von Reinigungs- und Übersetzungsarbeit in den Blick nimmt, reicht seine Kritik über den Dualismus von Natur und Kultur hinaus und bietet eine neue Perspektive auf die Moderne und ihre Konstitutionsbedingungen. Die Perspektive des Netzwerkes ermöglicht es, die zugrunde liegende Hybridität zu erkunden und diese selbst als eine Grundlage der Moderne und des Dualismus von Natur und Kultur zu verstehen. Die Unterscheidung in die »Arbeit der Übersetzung« und die »Arbeit der Reinigung« erweitert nicht nur die Kritik, Latour vollführt hier eine signifikante epistemologische Wende, die die wissenschaftliche Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Kultur grundlegend in Frage stellt. 11 Seine beiden Theoriepfeiler, die »Arbeit der Reinigung« als Etablierung
11 Latour vollführt diese Wende nicht alleine: Die empirischen Arbeiten der AkteurNetzwerk-Theorie beschreiben die Auflösung einer klaren Objekt-Position, wenn sie nicht-menschliche Wesen oder Dinge als Akteure definieren. Außerdem arbeitet die
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einer Trennlinie zwischen Natur und Gesellschaft und die »Arbeit der Übersetzung« und damit einhergehend den Begriff der Hybridität, werde ich im Folgenden vorstellen. Die Etablierung der Dualismen Die Etablierung des Dualismus zwischen Natur und Kultur wird durch gesellschafts- und wissenschaftstheoretische Neuerungen eingeleitet und unterstützt, von denen Latour zwei Ansätze als zentrale Beispiele der Veränderung anführt: Erstens die Entstehung der modernen Naturwissenschaften und die damit einhergehende Perspektive auf Natur als künstliche Konstruktion im Labor anhand der Arbeiten von Robert Boyles. Zweitens die Entwicklung einer politischen Philosophie, die Gesellschaft als Ergebnis eines Vertrages beschreibt und damit als Konstruktion der Menschen am Beispiel der Vertragstheorie von Thomas Hobbes. 12 Für einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaftsgeschichte stellt Latour den Naturwissenschaftler Robert Boyle vor, der im 17. Jahrhundert den Zusammenhang von Druck und Volumen eines Gases in seinen Versuchen mit einer Luftpumpe untersucht. Bei der Durchführung der Versuche integriert Boyle zweierlei Formen von Zeugen in den Forschungsprozess. Zum einen legt das Forschungsobjekt selbst Rechenschaft ab: So setzte Boyle zur Verdeutlichung des Vakuums und der Notwendigkeit von Sauerstoff Vögel in die Vakuumglocke, die erstickten, wenn der Sauerstoff abgepumpt wurde. Zum anderen zieht er weitere Zeugen hinzu, die den Versuchsaufbau nachvollziehen und den Ablauf beobachten sollen. Ihre Bestätigung wandelt das Ergebnis des Versuchs in einen Fakt um, es wird durch Zeugen sozusagen verifiziert und objektiviert (vgl. Latour 2008: 29). Boyle leitet mit der Integration fachkundiger Zeugen die Entstehung des empirischen Stils in der Wissenschaft ein und etabliert zugleich das Labor als Entstehungsraum wissenschaftlicher Ergebnisse in der Gesellschaft. Dass die Entstehung des Labors weitreichende Auswirkungen auf die Struktur der Gesellschaft hat, zeichnet Latour bereits in »Pasteurization of France« (Latour 1988) nach, indem er zeigt, wie der Forschungsprozess, Forschungsaufbau und die Präsentation der Ergebnisse von Pasteur Wissenschaft und Gesellschaft verändern. Die Übertragung des Labors auf die Gesellschaft verweist aber zu-
feministische Wissenschaftskritik, hier vor allem Donna Haraway, ebenfalls an einem alternativen Verständnis der Subjekt-Objekt-Kategorien. 12 Nicht zufällig bezieht sich Latour damit auf Steven Shapins und Simon Schaffers Studie »The Leviathan and the Air Pump« (1985), beansprucht aber, ihre Position weiter zu entwickeln.
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gleich auf eine Setzung im Verhältnis von Natur und Kultur: Natur wird hier als zu erkundende Ressource verstanden, die im Labor untersucht und in gewisser Weise beherrscht wird. Latour schreibt hierzu: »Er [Boyle; Anm. MR] erfindet das Laboratorium, in dem artifizielle Maschinen Phänomene von A bis Z erzeugen. Obwohl die in dieser Weise erzeugten Fakten artifiziell, kostspielig und schwer reproduzierbar sind, und die Anzahl der glaubwürdigen und geschulten Zeugen klein, repräsentieren diese Fakten die Natur wirklich so, wie sie ist. […] Kleine Gruppen von Gentlemen lassen die Naturkräfte Zeugnis ablegen und bezeugen sich gegenseitig, dass sie das wortlose Verhalten der Objekte übersetzen und nicht verfälschen. Mit Boyle und seinen Nachfolgern fangen wir an zu verstehen, was eine Naturkraft ist: ein stummes, aber mit Sinn begabtes oder versehendes Objekt.« (Latour 2008: 41f.)
Der Natur können damit im Labor ihre Geheimnisse entlockt werden, sie wird zu etwas, das kontrolliert und in gewisser Weise auch hergestellt werden kann. Durch den Versuchsaufbau und den Einsatz technischer Geräte wird Natur als Untersuchungsgegenstand in einer spezifischen Form modifiziert und hervorgebracht. Die Arbeit des Forschers und der Zeugen schafft nicht nur wissenschaftliche Fakten, sie garantieren auch, dass Natur als Forschungsobjekt einen eigenen Bereich bildet, und als Bereich des Nicht-Menschlichen von der Welt der Menschen getrennt ist. Im Labor findet damit eine bedeutende Transformation von Natur statt: Mithilfe von technischen Geräten und der Arbeit des Forschers werden Fakten und Naturgesetze über die Beschaffenheit der Natur produziert. Die Natur wandelt sich somit zu einem Objekt, das durch wissenschaftliche Forschung bestimmt werden kann. Zugleich aber ist die Natur, die im Labor bestimmt wird, bereits ein Resultat des Forschungsprozesses, an dem neben dem Forscher auch technische Geräte beteiligt sind. Anders gesagt: Während der Forscher im Labor die Natur untersucht und versucht, ihre Gesetzmäßigkeiten zu entschlüsseln, modifiziert er sie zwangsläufig. Er präsentiert als Ergebnis ein allgemeines Naturgesetz, dessen Geltung er erst durch die Konstruktion der Natur im Labor nachweisen kann. Latour verweist auf diese Paradoxie innerhalb der Beweisführung (vgl. ebd.: 41). Aus der Perspektive des Netzwerktheoretikers repräsentiert die Natur, die im Labor entschlüsselt wird, immer schon ein Netzwerk aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, an dessen Herstellung neben dem Forscher und den Zeugen auch die Versuchsaufbauten und das Forschungsobjekt beteiligt sind. Die Perspektivenverschiebung, die Latour in seinen Laborstudien und expliziter in »Wir sind nie modern gewesen« beschreibt, bedingen grundlegende epistemologische Verschiebungen: Die Übertragung des Modells des Netzwerkes auf den Wissensprozess im Labor über-
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schreitet Logiken von Ursache und Wirkung und die Unterscheidung von Objekt und Subjekt. Doch gerade diese Abgrenzungen werden laut Latour von Boyle vorgenommen. Mit der Einführung der modernen Naturwissenschaften und des empirischen Stils vollzieht Boyle eine Form der Reinigungsarbeit zwischen Natur und Kultur und stabilisiert die Grenzziehung zwischen beiden Bereichen. Zeitgleich zu den Arbeiten Boyles findet ein zweiter paradigmatischer Wechsel in der Gesellschaftstheorie statt. Während Boyle die Natur und das Labor konstruiert, vollzieht Thomas Hobbes 1651 einen ebenso bedeutenden Wechsel in der politischen Philosophie. Hobbes entwickelt in seinem Hauptwerk »Leviathan« (Hobbes 1996) die Idee, dass ein Vertrag, den alle Bürger mit dem Souverän eingehen, die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung bildet. Er lehnt theologische Begründungen für Gesellschaft ab und proklamiert anstelle dessen eine politische Philosophie, in der sich die Menschen aus Vernunft und Egoismus gegen den reinen Naturzustand eines »Krieges eines jeden gegen jeden« wenden und versuchen, eine friedliche Gesellschaft aufzubauen, von der sie sich ein Leben in Wohlstand und ohne permanente Bedrohung erhoffen (vgl. ebd.: 108). Hobbes stellt drei Gesetze der Natur auf, die von jedem Einzelnen fordern, sich erstens um Frieden zu bemühen, zweitens einen Teil der individuellen Rechte aufzugeben, um eine Gemeinschaft zu ermöglichen, und drittens eingegangene Verträge einzuhalten (ebd.). Die bürgerliche Gesellschaft beruht darauf, dass der Bürger seine Rechte qua Vertrag an den Souverän abtritt, der dafür die Einhaltung der Gesetze kontrolliert und garantiert. Die Gültigkeit des Rechts und daraus resultierend des Friedens erfolgt für Hobbes aus der Angst vor Bestrafung durch die Zwangsgewalt des Souveräns (vgl. ebd.: 263f.). Seine Figur des Leviathan und die Beschreibung der Gesellschaft als Ergebnis eines Vertrags etablieren die Idee einer bürgerlichen Gesellschaft, in der auch der Souverän nicht mehr durch Gottes Gnaden, sondern durch den vorangegangenen Vertragsabschluss eingesetzt wird. Wie Latour schreibt, gibt es bei Hobbes »kein göttliches Recht, keine höhere Instanz mehr, auf die sich der Souverän berufen könnte« (ebd.: 30). Parallel zur epistemologischen Wende Boyles symbolisiert Hobbes für Latour eine gesellschaftstheoretische Wende. Er etabliert eine Sicht auf Gesellschaft, die sich als Konstruktion der Menschen präsentiert und in der es gelingt, den Naturzustand zu überwinden. Natur bildet somit einerseits die Grundlage für die Gesellschaft, denn auf der Basis des Naturzustandes entwickeln sich erst die Grundzüge einer bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Latour 2006a: 202). Andererseits wird Natur deutlich von der Gesellschaft unterschieden, die die Überwindung des Naturzustandes symbolisiert, so dass Natur als außerhalb der menschlichen Konstruktion liegender Bereich markiert wird, der von der Gesellschaft getrennt ist und ihr quasi vorausgeht (vgl. Latour 2008: 45).
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Die Stabilität der Gesellschaft resultiert für Hobbes daraus, dass die Menschen als freie Bürger einwilligen, die Gesetze und die Macht des Leviathans anzuerkennen. Die Gesellschaft konstruiert sich damit aus einem sozialen Akt heraus. Latour kritisiert diese Vorstellung und verweist darauf, dass die Gesellschaft durch die Dinge, Objekte und Gegenstände, die sie integrieren kann, geprägt und stabilisiert wird, da diese ihr »Konsistenz und Dauer« (ebd.: 45) verleihen. In dem gemeinsamen Aufsatz von Michel Callon und Bruno Latour »Die Demontage des großen Leviathans« (Callon 2006c) pointieren die Autoren die Macht des Souveräns folgendermaßen: »Hobbes verschweigt, dass das, was den Souverän furchteinflößend und den Vertrag feierlich macht, lediglich der Palast, von dem aus er spricht, die ihn umgebenden, gut ausgerüsteten Armeen und die ihm dienenden Schriftgelehrten mit ihren Geräten sind.« (Callon 2006c: 82)
Die Gesellschaft und die Gültigkeit der Gesetze ist in dieser Leseweise folglich nicht nur das Ergebnis eines Vertragsabschlusses, vielmehr hängt die Stabilisierung der Gesellschaft, oder spezifischer der Gesellschaftsordnung, von der Integration der Dinge, der Objekte ab. Sie verfestigen das »soziale Band« (Latour 2008: 147). Wie bereits bei seiner Beschreibung der Arbeit von Boyle verweist Latour auf die Konstruktion der Grenze zwischen Gesellschaft und Natur, die Hobbes vornimmt, und betont auch hier die Widersprüchlichkeit des Entwurfes, da Hobbes ausgehend vom Naturzustand sein Modell von Gesellschaft entwickelt, diese dann aber als rein menschliche Konstruktion vorstellt (ebd.: 41). Beide Entwicklungen haben zu signifikanten Änderungen geführt. Die Form der »Reinigungsarbeiten«, die Boyle und Hobbes vorgenommen haben, prägen bis heute unsere Vorstellung einer unabhängigen Wahrheit über die Natur und das Forschungsobjekt sowie des rational und verantwortlich entscheidenden Rechtssubjekts und etablieren damit die Unterscheidung der Bereiche. Die beiden paradigmatischen Verschiebungen durch Hobbes und Boyle dienen Latour zur Illustration der Entstehung und Struktur der Moderne. 13 Diese
13 An späterer Stelle verweist Latour darauf, dass diese beiden Ansätze nur den Beginn einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem »Reich der Mitte« (Latour 2008: 76), den Hybriden, bilden. Latour kritisiert skizzenhaft Ansätze (Kant, Hegel und Marx sowie phänomenologische Ansätze), die sich mit diesem Themenbereich auseinander gesetzt haben. Latours Kritik an diesen verschiedenen philosophischen Perspektiven verbleibt skizzenhaft. Zieht man jedoch seine eigene Position hinzu, so ließe sich als
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Trennung zwischen »Naturwelt – obwohl vom Menschen konstruiert – und Sozialwelt – obwohl von den Dingen zusammengehalten« (ebd.: 46) wird mit dem Beginn der Moderne installiert und durch die Reinigungsarbeit aufrechterhalten. Nicht nur die internen Widersprüche blieben dabei ausgeblendet, auch die diametrale Beschreibung und Definition von Natur und Gesellschaft im Vergleich beider theoretischer Konzeptionen sei durch die Trennung beider Bereiche nicht sichtbar. Die »Verfassung der Moderne«, die Latour skizziert, beinhaltet damit drei Garantien, die in sich widersprüchlich sind: »1. Garantie: Auch wenn wir die Natur konstruieren, ist es als konstruierten wir sie nicht. 2. Garantie: Auch wenn wir die Gesellschaft konstruieren, ist es, als konstruierten wir sie nicht. 3. Garantie: Natur und Gesellschaft müssen absolut getrennt bleiben von der Arbeit der Vermittlung.« (Latour 2008: 45, Abb. 2)
Die Arbeit der Reinigung bildet ein zentrales Merkmal der Moderne und ist notwendiger Bestandteil ihrer Funktionsweise. Die drei Garantien erlauben es gerade in ihrer Widersprüchlichkeit ein heterogenes Set von Kritiken und theoretischen Ansätzen zur Erklärung der Welt zu nutzen. Solange durch die dritte Garantie die Trennung von Natur und Gesellschaft aufrechterhalten wird, findet die Arbeit der Vermittlung – und damit das Entstehen der Hybriden – nicht sichtbar und artikulierbar statt. Vielmehr können die Hybriden sich unterhalb der Trennung ausweiten und vermehren und die Widersprüchlichkeiten entziehen sich einer Artikulation. 14
gemeinsamer Kritikpunkt die fehlende Eigendynamik der Dinge bzw. des Pols der Natur herausfiltern. Denn während Latour das Verhältnis von Subjekt und Objekt als ein symmetrisches neu formuliert, integrieren die angeführten Ansätze zwar Natur in ihren Analyserahmen, lösen aber das Hierarchieverhältnis zwischen gestaltendem Subjekt und gestalteter Natur nicht (vollends) auf. 14 Latour führt als eine zusätzliche und vierte Garantie die Sperrung von Religion bzw. eines abwesenden Gottes an (vgl. Latour 2008: 47). Auch bei der vierten Garantie des gesperrten Gottes ist das Wechselspiel aus Immanenz und Transzendenz virulent. Die Vorstellung von Religion und der Bezug auf Gott verändern sich in der Modernen in einer Weise, die Latour als doppelte Sperrung beschreibt: Gott wird nicht mehr zur Erklärung der Natur und Gesellschaft herangezogen, sondern wandelt sich zum transzendenten Gott, der Wissenschaft und Gesellschaft äußerlich ist und als Begründungsfigur für beide Bereiche gesperrt ist. Zugleich vollzieht sich eine Transformation der Religion von der Begründung für Sozialität und Legitimität gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Aussagen hin zu einem »individuellen und spirituellen« (ebd.: 48)
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Die Flexibilität der Garantien, deren Wechselspiel aus Immanenz und Transzendenz, ermögliche eine Anrufung je nach Gegenstand und Problem (vgl. ebd.: 49); Natur oder Gesellschaft können so flexibel als Referenz gewählt werden, um auf neue Problemstellungen zu antworten. Das variable Zusammenspiel, das durch die scharfe Trennungslinie der Bereiche aufrechterhalten und garantiert wird, ermöglicht für Latour den Erfolg der Moderne, denn dadurch lassen sich eine Vielzahl von Erklärungen und Begründungen finden – ohne dass diese dabei in sich konsistent seien müssen. Das Gewimmel der Hybriden Trotzdem gerät die Moderne, die von Latour als flexibles und erfolgreiches Modell vorgestellt wird, zunehmend in die Krise. Dies liegt, so Latours Gegenwartsdiagnose, darin begründet, dass sich die Hybriden unter der Oberfläche so zahlreich vermehrt haben, dass sie eine klare Trennbarkeit von Natur und Gesellschaft in Frage stellen. Die Existenz von Hybriden gefährdet die Gültigkeit der »Verfassung der Moderne«, zugleich bilden die Hybriden eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg der Moderne. Wie also mit den Hybriden umgehen? Latour führt uns zur Antwort dieser Frage zu den »Vormodernen« 15, jene,
Verständnis von Gott und Religion, das Glauben zu einer privaten Angelegenheit jedes Bürgers erhebt und als Bewertungsmaßstab für eine individuelle Beurteilung von Entwicklungen herangezogen werden kann. Als solcher dient der »gesperrte Gott« qua Spiritualität einer Form innerer Schiedsbarkeit, die eine Anrufung ermöglicht, ohne zugleich Religion als einen allgemein gültigen Bewertungsmaßstab zu erhalten. Diese vierte Garantie erhält Transzendenz als Schiedsstelle, falls die Gesetze der Natur und der Gesellschaft in Konflikt geraten sollten und erlaubt damit eine Auflösung des Konfliktes (vgl. Latour 2008: 47 oder ebd.: 188), ohne deren Widersprüchlichkeit gewahr werden zu müssen. 15 Latour greift den Begriff der Vormodernen vom englischen Ethnologen und Anthropologen Jack Goody auf. Dieser nutzt zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen der Kultur der Moderne und anderen Kulturen den Begriff »große Trennung« (i.O. grand dichotomy). Goody verweist in seinem Buch »The Domestication of The Savage Mind« (1977) darauf, dass durch die Nutzung von Begriffspaaren wie domesticated und savage (domestiziert und wild) oder entwickelt und primitiv eine Unterscheidung in traditionelle und moderne Gesellschaften vorgenommen wird, die zwar zu einer deutlichen Wir-Sie-Distinktion führe, aber keine ausreichende Erklärung für die kognitiven Veränderungen einer Gesellschaft bieten würde. Er möchte anstelle einer Reproduktion der Dualismen analysieren, wie sich die Unterschiede in den Gesellschaften erklären lassen und untersucht dafür die Entwicklung des Schreibens und die Ein-
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die durch die Unterscheidung in modern und nicht-modern als die Anderen gekennzeichnet werden. 16 Im Unterschied zu der Trennung in Natur und Gesellschaft, sind für die Vormodernen beide Bereiche verknüpft. Hybriden werden als Mischwesen aus »Göttlichem, Menschlichem und Natürlichem« (Latour 2008: 58) angesehen und mit Namen definiert, es wird darauf geachtet, dass ihre Ausweitung begrenzt bleibt. Die Vormodernen wissen um die Bedeutung der Hybriden; in ihrem Verständnis, so argumentiert Latour, ändert die Entstehung der Hybriden die Ordnung von Gesellschaft und Natur, so dass sie nicht zahllos vermehrt werden könnten (vgl. ebd.: 58f.). Während in der Vormoderne gerade durch die Verknüpfung von sozialer und natürlicher Ordnung Hybriden wahrgenommen und reguliert wurden, sind sie in der Moderne durch ihre NichtSichtbarkeit unregulierbar geworden. Nun will Latour nicht zurück in die Vormoderne. Zwar will er ihr Verständnis für die Hybriden aus »Natur und Gesellschaft, aus Ding und Zeichen« (ebd.: 177) erhalten, aber er weiß auch um die Vorteile der analytischen Unterscheidung der Moderne in Natur(en) und Gesellschaft(en), die die Vorstellung einer »äußeren Wahrheit und eines Rechtssubjektes« (ebd.) erst ermöglicht hat. Latour verweist an unterschiedlichen Stellen sei-
führung des lautmalerischen Alphabets. Dieses habe durch seine einfache Lernbarkeit die Fähigkeit zum Schreiben und Lesen unterstützt und damit Formen der Demokratisierung, Systematisierung und Historizität erleichtert, indem bspw. Gesetze einsehbar wurden und durch die Geschichtsschreibung ein Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entstand (vgl. Goody 1977). 16 Latour nutzt den Begriff der großen Trennung, um die Unterscheidung in Moderne und Vormoderne zu fassen. Wichtig für sein Verständnis der Vormoderne ist es, auf die Gleichzeitigkeit hinzuweisen: Die Vormodernen hören nicht mit dem Beginn auf zu existieren, aber sie werden mit der Entstehung der Moderne als vormodern definiert. Nach der modernen Verfassung werden sie als vormodern kategorisiert, wenn sie an der Verknüpfung von Natur und Gesellschaft und der Beschreibung von Hybriden als bspw. Ahnen, Monster oder Götter festhalten (vgl. Latour 2008: 58). Dass die Zuschreibung in modern und vormodern auch die Kräfte- und Herrschaftsverhältnisse beschreibt, wird deutlich, wenn Latour bei der Ausweitung der modernen Welt auf die Kolonialgeschichte des Abendlandes verweist (vgl. ebd.: 54). Er zeigt aber auch die besondere Rolle der Wissenschaft auf, die die Etablierung der Moderne und die Hierarchisierung der großen Trennung stabilisiert, indem er schreibt: »Hätten die Abendländer nichts weiter getan, als Handel zu treiben und zu unterjochen, so hätten sie sich von den anderen Händlern und Eroberern nicht unterschieden. Aber sie haben eben die Wissenschaft erfunden, eine Aktivität, die etwas völlig anderes ist als Eroberung und Handel, Politik und Moral« (Latour 2008: 130).
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nes Essays auf das Entstehen neuer Wissenschaftssysteme und Gesellschaftstheorien, die sich als weitreichende Netzwerke ebenso im Zuge der Moderne entwickelt haben wie neue Maschinen, Technologien und Hybriden (vgl. ebd.: 178f.). Durch die Moderne wurde ein Entwicklungspotential ausgelöst, dass Latour keinesfalls aufgeben will, da eine neue Größenordnung der Netzwerke entstanden sei. Sein Ziel ist die Integration der Hybriden in die »Verfassung der Moderne«, die damit um die Ebene einer sichtbaren Übersetzungsarbeit erweitert würde, die nicht mehr diametral zur Reinigungsarbeit angesiedelt ist. Diese Verfassung ließe sich dann nicht mehr als Verfassung der Moderne beschreiben, sondern vielmehr als ein Amalgam, das die Potentiale der Moderne mit dem Wissen um die Hybriden verbindet und von Latour als »Nichtmoderne« (ebd.: 176) bezeichnet wird. 17 In einer Verfassung der Nichtmoderne ändern sich die Positionen von Natur und Gesellschaft und von Übersetzungs- und Reinigungsarbeit. Während die Verfassung der Moderne asymmetrisch organisiert war, indem sie zwischen dem oberen sichtbaren Bereich der Dualismen und der Reinigungsarbeit und der horizontal und verdeckten Arbeit der Übersetzung und der Entstehung der Hybriden unterschieden hat, rückt in Latours Vorstellung der Nichtmoderne die Figur des Netzwerkes und des Reichs der Mitte in das Zentrum. In Latours Theoriemodell sind die Hybriden an der Entstehung der gesellschaftlichen Realität als Akteure beteiligt, ohne dass sie sich im Sinne eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes in gesellschaftliches Handeln auflösen ließen. Die Hybriden, die Latour in Anschluss an Michel Serres auch als Quasi-Objekte bezeichnet (vgl. ebd.: 70f.), sollen damit eine Antwort auf Probleme des Sozialkonstruktivismus und der Naturalisierung bilden, da sie sich in keine der beiden Erklärungen vollständig einpassen ließen. Sie seien weder allein eine soziale Konstruktion noch rein
17 Latour nutzt den Begriff Nichtmoderne sehr bewusst und grenzt sich damit explizit gegen die Begriff der Antimoderne und Postmoderne ab. Während er an den Antimodernen eine »lächerliche Vorstellung von Vergangenheit und Tradition« (vgl. Latour 2008: 178) und die Verneinung technologischen Fortschritts kritisiert, schätzt er an den Postmodernen zunächst, dass sie die Krise der Moderne gespürt und theoretisch erschlossen haben und mit der Dekonstruktion eine nützliche Theoriefigur zur Verfügung stellen (vgl. ebd.: 176). Zugleich sieht er aber in der Fixierung auf Sprache eine unzulässige Reduktion, die Postmoderne und ANT deutlich voneinander unterscheidet. »Darin besteht auch die Trennlinie zwischen dem Postmodernismus, der glaubt, dass seine Aufgabe darin besteht, Vielfalt zu einer Welt aufzunehmen, die übermäßig durch ›große Erzählungen‹ vereinheitlicht sei, und der ANT, die empfindet, dass Vielfalt eine Eigenschaft der Dinge ist, nicht der Menschen, die sie interpretieren.« (Latour 2007: 203, Anm. 62)
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natürlich (vgl. ebd.: 88). Zwar nutzt Latour für seine Definition der Hybriden mehrfach den Ausdruck Mischwesen, er macht aber zugleich deutlich, dass er diese nicht einfach als eine Mischung aus Natur und Gesellschaft ansieht, die sich aus den beiden Teilen zusammensetzen und sich auch in dieses rückübersetzen ließen. Vielmehr besitzen Hybriden einen eigenen Charakter. Latour beschreibt die Figur der Hybriden als einen Mittler, der erschafft, »was er übersetzt, mit gleichem Recht wie die Entitäten, zwischen denen er seine Mittlerrolle spielt« (ebd.: 105). In seinem Aufsatz »Der Berliner Schlüssel« (Latour 1996) expliziert er die Rolle des Mittlers an dem Beispiel des Generalschlüssels eines Hauswartes. Mit diesem kann der Hauswart nicht nur den Hauseingang auf und zu schließen, sondern auch festlegen, dass die Hausbewohner, die nachts den Eingang nutzen, ihren Schlüssel nur aus dem Schloss ziehen können, wenn sie die Tür wieder verschließen, während tagsüber ein einfaches Zuziehen der Tür ausreicht (ebd.: 45). Mittels des Schließmechanismus und des Generalschlüssels des Hauswarts wird hiermit ein Handlungsprogramm für die Hausbewohner festgelegt. Latour beschreibt den besonderen Schlüssel des Hauswartes als Mittler, der Teil dieses Handlungsprogramms ist: »Der Sinn ist nicht vor der technischen Vorrichtung da. Das Zwischenglied war nur Mittel zum Zweck, während der Mittler gleichzeitig Mittel und Zweck ist. Wenn der Stahlschlüssel kein bloßes Werkzeug mehr ist, gewinnt er die ganze Dignität eines Mittlers, eines sozialen Akteurs, eines Agenten, eines Aktiva.« (Latour 1996: 49)
Versteht man in Latours Sinne die Hybriden selbst als Handlungsträger, so wird deutlich, warum die moderne Verfassung nicht nur um sie ergänzt werden kann, sondern sich die gesamte Architektur der Verfassung ändert. In der Erweiterung des Begriffs des Akteurs auf die Hybriden zeigt sich die Konsequenz des Entwurfes. Latour löst die Dualismen nicht zur einer Seite hin auf, vielmehr schüttelt er sie so durcheinander, dass sie sich nicht mehr in die dichotomen Beschreibungen der modernen Verfassung einpassen lassen. Wenn der Stahlschlüssel kein bloßes Werkzeug sondern ein Akteur ist, dann lässt er sich weder als natürliches, wenn auch unbelebtes Objekt verstehen, noch als kulturelle Errungenschaft, die durch die Herstellung und Formung des Materials einen Sinn eingeprägt bekommen hat. Die Kategorien der Natur und des Sozialen/der Gesellschaft scheinen nicht mehr im üblichen Gebrauch verwendet werden zu können. Latour entwickelt eine grundsätzlich andere Perspektive. Er versteht weder Natur noch Gesellschaft als vorgegebene Entitäten, sondern beschreibt ihr Verhältnis als Resultat von Vermittlungsarbeit: »Natur und Gesellschaft sind nicht zwei entgegengesetzte Transzendenzen, sondern ein und dieselbe, die aus der
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Arbeit der Vermittlung entspringen« (Latour 2008: 117). Mit Latour müssen wir daher sowohl unser Verständnis von Natur als von Gesellschaft als ein Produkt des Netzwerkens verstehen. Die Definitionen von menschlich und nichtmenschlich, natürlich und sozial sind ein Ergebnis der Praxis des Netzwerkens, des Reichs der Mitte: »Wir brauchen unsere Erklärungen nicht mehr an den beiden Formen Objekt und Subjekt/Gesellschaft festmachen: Diese sind vielmehr die partiellen und bereinigten Resultate der zentralen Praxis, welche uns allein interessiert. Auch in der von uns gesuchten Erklärung werden Natur und Gesellschaft enthalten sein, aber als Endresultate, nicht als Ausgangspunkt. Die Natur dreht sich, aber nicht um das Subjekt/die Gesellschaft. Sie dreht sich um das Dinge und Menschen produzierende Kollektiv. Das Subjekt dreht sich, aber nicht um die Natur. Es dreht sich um das Kollektiv, aus dem heraus Menschen und Dinge erzeugt werden. Endlich ist das Reich der Mitte repräsentiert. Naturen und Gesellschaften sind seine Satelliten.« (Latour 2008: 106)
Mit dem Begriff Naturen/Kulturen (ebd.: 138) beschreibt Latour das Gebilde, das im Ergebnis als bereinigte Praxis unser Verständnis einer wahren Natur und sozial gebildeten Kultur/Gesellschaft prägt und hervorbringt. 18 Die Kollektive, die Latour hier nennt, bilden die Netzwerke, in denen die Bedeutungen von Natur und Gesellschaft ausgehandelt werden. In deren Zentren, das Reich der Mitte, will Latour vordringen, um von dort zu beobachten, wie sich die Vielzahl der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure aufteilen und als Natur oder Gesellschaft mobilisiert werden. Durch die Figur des Netzwerkes versucht Latour den Dingen und ihrer Materialität gerecht zu werden, indem er ihre Rolle als Stabilisatoren der Gesellschaft und als aktive Akteure vorstellt, die nicht lediglich diskursiv überzogen werden, sondern Akteure im Netzwerk sind. Wenn La-
18 Latour gibt in »Das Parlament der Dinge« den Anspruch der Symmetrie, wie er ihn in »Wir sind nie modern gewesen« entfaltet, auf und stellt eine reduzierte Form der Symmetrie vor. Er selbst bewertet seinen früheren Versuch in einer Fußnote gar als naiv und schreibt: »In meiner Untersuchung der Modernen wollte ich die Anthropologie ›symmetrisch‹ machen, so dass sie nicht mehr eine Natur und mehrere Kulturen absorbieren mußte, sondern ›Naturen/Kulturen‹, wie ich es damals nannte, die auf einer anderen Grundlage als auf der alten universalen Natur vergleichbar geworden waren. Der Ausdruck war ungeschickt und der Versuch naiv, denn Artefakte bleiben Artefakte, auch wenn sie symmetrisiert werden« (Latour 2001: 352, Anm. 27). In dieser späteren Lesart bildet die Natur damit einen Mitspieler in der Gestaltung der Gesellschaft, der jedoch von der Einigung auf die Spielregeln ausgeschlossen bleibt.
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tour Technik als stabilisierte Gesellschaft beschreibt (vgl. Latour 2006c), so sind an dieser Form der Stabilisierung immer nicht-menschliche Wesen und die Materialität der Dinge beteiligt. Sozialität ist für Latour eine Kategorie, die nicht auf menschliche Wesen begrenzt ist, sich nicht einmal auf Lebewesen begrenzen lässt. Sein Verständnis des Sozialen schließt die Dinge als Handlungsträger mit ein, wie sich bspw. an der Figur der Hybriden, der Mittler zeigt. Durch die Betonung der Handlungsfähigkeit der Dinge bilden diese keine passive Masse, die diskursiv überzogen und zu Natur geformt wird. So kann Boyle nicht jede Form der Natur im Labor herstellen, wie künstlich die Herstellung der Natur zugleich auch sein mag. Das Zusammenspiel von Boyle und seinen Objekten bringt das Ergebnis erst hervor, er ist von der Mitwirkung der Forschungsobjekte und Artefakte abhängig. Erst über die Reinigungsarbeit wird sein Wirken als wissenschaftliche Praxis definiert, der es gelingt, Naturgesetze und damit ein wahres Wissen über die Natur aufzuzeigen. Latour hat in seinen Studien immer wieder zu zeigen versucht, dass an diesem Prozess alle Akteure, menschliche wie nichtmenschliche, beteiligt sind (vgl. bspw. Latour 1988). Doch obwohl er dabei die Materialität der Dinge und ihren stabilisierenden Charakter betont, scheint Latour keine Vorstellung einer ursprünglichen und zugrunde liegenden Wesenheit der Dinge zu haben. Auch die Natur wird in diesem Zusammenspiel der beteiligten Akteure und Artefakte geprägt, ja scheint erst in diesem als separierter Bereich zu entstehen. Die Differenz zwischen Latours Naturbegriff und der sozialkonstruktivistischen Vorstellung einer diskursiv strukturierten Natur liegt in der Betonung der Eigendynamik der Entitäten und in der Gleichzeitigkeit der Konstruktion von Naturen/Kulturen, die weder der Natur noch der Kultur eine Vorrangstellung einräumt (vgl. Latour 2008: 140f.). Sowohl das Wissenschaftssubjekt als auch das -objekt werden in den Praktiken wissenschaftlicher Forschung konstruiert und im Ergebnis als klar zu unterschiedene Entitäten hervorgebracht. Seiner Forderung nach Symmetrie bezieht sich auf eben jene Inklusion der Dinge, die deren aktive Beteiligung theoretisch ernst nimmt. Im Sinne einer symmetrischen Anthropologie müsse daher nicht das Ergebnis des Prozesses von einem der beiden Pole aus beobachtet werden, sondern vielmehr vom Reich der Mitte ausgehend analysiert werden, welche »Dimension der Mobilisierung« (ebd.: 140) für die Konstruktion von Naturen und Kulturen ausgebildet werden. Anders formuliert: Durch welche Praktiken werden Natur und Kultur, Menschen und Nicht-Menschen konstruiert und definiert? Latour bietet mit seinen theoretischen Überlegungen eine Alternative zu dem Dilemma, die Materialität der Natur zu behaupten, ohne zugleich eine Essenz der Natur festzuschreiben. Was Latour mit einer Leichtigkeit beschreibt, die oftmals
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mehr an fiktionale Erzählungen erinnert als an wissenschaftliche Arbeiten, beinhaltet eine radikale Verschiebung und Neudefinition soziologischer Begriffe. Während die Moderne in der Philosophiegeschichte mit der Entstehung der Aufklärung, des Humanismus und demokratischer Regierungsformen verknüpft ist, entwirft Latour eine alternative Erzählung der Moderne und wählt mit der Einführung der Begriffe der Reinigungs- und Übersetzungsarbeit ein neues Vokabular, um auch sprachlich Dualismen zu überwinden. In seinem Entwurf verlieren Gegenüberstellungen und örtliche Bestimmungen wie natürlich – sozial oder global – lokal zunehmend ihren Sinn, weil Latours Modell weder einen marginalen Rand noch ein Zentrum vorsieht (vgl. Latour 2008: 164). Netzwerke erstrecken sich überall im Raum, sie können über ihre Größe und über ihr Potential der Umwandlung in »Black Boxes« charakterisiert werden. Sie unterscheiden sich in der Art der Zusammensetzung und der Verteilung der in sie eingebundenen Materialitäten, nicht aber in ihrer Entstehungsweise der »Koproduktion« (ebd.: 143). Nimmt man Latours Position ernst, so folgt daraus eine Schwierigkeit für Formulierung von Kritik: Wenn Maschinen und Technologien nicht als Gegenpart zur Natur zu verstehen sind, sondern diese vielmehr in einem Zusammenspiel von Natur und Gesellschaft entstehen, so lässt sich ihre Entwicklung weder als Bedrohung noch als Überwindung der Natur verstehen. Die Entstehung einer neuen Technologie als Entstehung eines neuen Hybriden zu fassen, erfordert auch eine Form der Kritik, die den hybriden Charakter von Natur und Gesellschaft bereits mit reflektiert, ohne in eine Überbetonung der Technologie oder der Natur umzukippen. 2.3.3 Kritik und feministische Auseinandersetzung In der vorgestellten Kritik an der Moderne, der Einführung von Hybriden und (nicht-)menschlichen Akteuren oder der Ablehnung einer Unterscheidung von Mikro- und Makroebenen zeigt sich, dass die ANT mit grundlegenden Kategorien der soziologischen Theorie bricht. Entsprechend kontrovers sind die Arbeiten von Latour und seinen KollegInnen in den vergangenen Jahren rezipiert und diskutiert worden. 19 In der Diskussion zeichnen sich einige Kritikpunkte ab, die
19 Während die ANT und die Arbeiten Bruno Latours in anglo-amerikanischen Ländern breit rezipiert wurden und sich die science and technology studies (STS) im akademischen Feld als Teildisziplin etablieren konnte, ist die Rezeption in Deutschland bis in die 1990er Jahre sehr langsam vonstattengegangen. Mittlerweile ist Bruno Latour in der deutschen (Wissenschafts-)Soziologie zu einem Teil des Kanons geworden, davon
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auch im Rahmen dieser Arbeit von Relevanz sind: Bietet die ANT eine Alternative zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen und löst die Dichotomie von Natur/Kultur nicht (einseitig) zur Kultur auf? Kann Latour einen Standpunkt der Kritik beibehalten oder ist die ANT ein relativistischer Theorieansatz? Und lassen sich die Verfestigung von Ungleichheitsstrukturen bei der Einführung neuer Technologien mittels der ANT erklären? Die Akteur-Netzwerk-Theorie schreibt sich mit ihrem Bemühen, Dualismen aufzulösen, in den Konflikt um die Objektivität von Wissenschaft ein. Wie eingangs vorgestellt, bemühen sich Bruno Latour, Michel Callon oder John Law darum, in der Auseinandersetzung um Realismus und Sozialkonstruktivismus eine dritte Option jenseits der Dichotomie von Natur und Kultur aufzuzeigen. Latour gibt mit Begriffen wie das »Reich der Mitte« (Latour 2008: 106) und »Naturen/Kulturen« (ebd.: 138) eine Beschreibung jener dritten Möglichkeit, die sich weder zum Pol der Natur noch zum Pol der Kultur auflösen lässt. Nichtsdestotrotz steht auch die Akteur-Netzwerk-Theorie in der Kritik, eine weitere Spielart des Sozialkonstruktivismus zu sein (vgl. bspw. Kneer/Schroer 2009: 28; auch
zeugen bspw. die Vergabe des Siegfried Unseld-Preises an Latour im Jahr 2008, dessen Jury ihn als Erneuerer der Sozialwissenschaften bezeichnete, sowie die Verleihung des Kulturpreises der Münchener Universitätsgesellschaft 2010. In den vergangenen Jahren sind Einführungen zu Latour, eine Reihe von Aufsätzen und Sammelbände erschienen, die sich mit dem Theoriewerk Latours auseinandersetzen (vgl. Moebius 2005; Voss/Peuker 2006; Bammé 2008; Kneer 2008b; Ruffing op. 2009; Schmidgen 2011). Ebenso mehren sich Forschungsarbeiten, die sich explizit mit Latours Theorieansatz auseinandersetzen (vgl. bspw. Rammert/Schulz-Schaeffer 2002; Weber 2003). Bislang liegen jedoch einige seiner »Klassiker« aus dem Bereich der Laborstudien nicht im Deutschen vor, bspw. »Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts« (1979) und »Science in Action. How to follow Scientists and Engineers through Society« (1987) als auch »The Pasteurization of France« (1988). Eine erste Zusammenstellung von zentralen Aufsätzen der Akteur-Netzwerk-Theorie findet sich in dem Sammelband »ANThology. Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie« (2006), der neben Latour auch Aufsätze von Madeleine Akrich, Michel Callon und John Law beinhaltet. Dass die Akteur-Netzwerk-Theorie trotz dieser verzögerten Rezeption keine Leerstelle in der deutschen Wissenschaftssoziologie bildet, liegt neben einem innovativen Ansatz sicherlich an der breiten Diskussion, die sich sowohl in deutschen als auch in englischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften nachvollziehen lässt. Die Rezeptionsverzögerung hat allerdings den interessanten Effekt, dass die ANT in der deutschsprachigen Debatte erst auftauchte, als durch Law bereits die Post-ANT-Phase ausgerufen wird (vgl. Law/Hassel 1999).
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Winner 1993; Amsterdamska 1990; Kulka 2000). Es gilt also zu klären, ob die ANT ihrem Anspruch gerecht wird und eine alternative theoretische Perspektive anbieten kann oder sie vielmehr innerhalb eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes verbleibt. Die Nähe zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen in den science and technology studies ist zweifelsohne gegeben. Gerade in der Laborstudie »Science in Action« beziehen sich Latour und Woolgar auf Bloor und sein Konzept des strong programme und auch in »Wir sind nie modern gewesen« nutzt Latour mit der Studie von Shapin »Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life« (1985) einen Klassiker der sozialkonstruktivistischen Wissenschaftskritik. Ebenso wird seine Sympathie mit dem Projekt der Postmoderne bei Latour deutlich (vgl. Latour 2008: 176f.). Diese Nähe zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen wird von Teilen der Kritik zum Anlass genommen, die ANT als eine Spielart des Sozialkonstruktivismus und nicht als eigenständigen Theorieansatz zu interpretieren. So werde mit der Ausweitung des Handlungsbegriffs und der Beschreibung von netzwerkförmigen Prozessen ein Begriff der Natur bedient, der diese als Endprodukt sozialen Handelns darstelle. Wie ich zu zeigen versucht habe, gehen Latour und Callon in ihren Arbeiten über eine Vorstellung der Natur als passiv zu überformende Einheit hinaus. Wenn Callon uns Muscheln als aktive Akteure im Netzwerkprozess vorstellt oder Latour Mikroben als Partizipanten der Forschung von Pasteur beschreibt, so bildet sich ein anderes Verständnis von Natur heraus. Natur, hier vertreten durch die nichthumanen Akteure, wird als ein aktiver Agent beschrieben, der an dem Prozess teilnimmt. Der Ansatz der ANT unterscheidet sich damit substantiell von einer sozialkonstruktivistischen Lesart, definiert man diese als die diskursive Überziehung und soziale Herstellung der Natur. Nicht-menschlichen Akteuren und Dingen wird in der ANT eine Eigendynamik zugesprochen, die sie den Netzwerkprozess aktiv mitgestalten lässt (vgl. auch Passoth 2006). Im folgenden Zitat von Latour zur Eigendynamik der Dinge wird die Differenz zwischen einer sozialkonstruktivistischen und einer netzwerktheoretischen Position deutlich: »Außer zu ›determinieren‹ und als bloßer ›Hintergrund für menschliches Handeln‹ zu dienen, könnten Dinge vielleicht ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort.« (Latour 2007: 124)
Die ANT versucht also eine Alternative zu einer dualistischen Setzung von Natur und Kultur zu bieten, ohne sich selbst in naturalistischen oder sozialkonstruktivistischen Ansätze zu verfangen. Das geht jedoch mit einem Preis einher: Die Aufgabe der Unterscheidung von Makro- und Mikrostrukturen, wie sie uns La-
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tour bspw. in seiner Arbeit über Pasteur vorstellt, führt dazu, dass es keinen erhöhten Standort »außerhalb« gibt, von dem sich Kritik formulieren ließe (vgl. Holzinger 2009: 531). Wenn wir nur noch Netzwerke haben, in denen neues Wissen, Tatbestände und soziale Fakten erst entstehen und ausgehandelt werden, und auch die Unterscheidung in Makro- und Mikroebenen als ein Produkt der Reinigungsarbeit im Netzwerkprozess vorgestellt wird, stellt sich die Frage, wie Kritik und Gesellschaft eigentlich noch zu denken und zu formulieren wären. Daran schließt auch die Frage an, ob der Vorwurf an die ANT, mit der Aufgabe eines externen Standortes und der Ausweitung des Handlungsbegriffes auf nichtmenschliche Wesen und Dinge eine relativistische Theorie zu sein, berechtigt ist. Wie also ist Kritik von Seiten der Akteur-Netzwerk-Theorie möglich? In einem Zeitschriftenaufsatz von 2004 fragt Latour, inwieweit er selbst mit dazu beigetragen habe, dass wissenschaftlichem Wissen keine universale Gültigkeit mehr zukomme und sich anstelle dessen Formen des Revisionismus (i.O. instant revisionism) durchsetzen (vgl. Latour 2004: 227). Wenn so offensichtliche Entwicklungen wie die Erderwärmung oder die Anschläge auf das World Trade Center 2001 grundsätzlich in Frage gestellt würden oder gar als Verschwörungen von Wissenschaftlern oder CIA und Mossad dargestellt würden, zeige dies, dass auch für Kritik kein sicherer Grund mehr bestehe (vgl. ebd.: 226). Latour plädiert in diesem Aufsatz für eine Erneuerung des Empirismus und schlägt vor, eine »stubbornly realistic attitude« (ebd.: 231) zu entwickeln, die sich nicht den Tatsachen (»matters of fact«), sondern vielmehr den wichtigen Angelegenheiten (»matters of concern«) verpflichtet fühlt. Mit dem Begriff der »matters of concern« versucht er den Doppelcharakter der Dinge einzufangen und deutlich zu machen, dass über die Beschreibung von Tatsachen hinaus die Dinge noch von einer zweiten Ebene bestimmt werden. Er schreibt: »A thing is, in one sense, an object out there and, in another sense, an issue very much in there, at any rate, a gathering. To use the term more precisely, the same word thing designates matters of fact and matters of concern.« (Latour 2004: 233; Herv. i.O.)
Diesen Doppelcharakter der Dinge gilt es für Latour näher zu untersuchen. Die Fähigkeit zur Kritik ist damit auch in diesem Text zuallererst einer genauen Beobachtung geschuldet. Darüber hinaus führt Latour jedoch mit den »matters of concern« eine neue Figur der Kritik ein. In Anlehnung an Donna Haraway, die in ihren Arbeiten immer wieder die Verantwortung von WissenschaftlerInnen betont (vgl. bspw. Haraway 1995a), versucht Latour einen Maßstab für »gute« Wissenschaft zu finden. Seine vorgeschlagene Form des Realismus bzw. des erneuerten Empirismus soll jenen »matters of concern« nachgehen und sich dabei
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der Verantwortung der Untersuchung bewusst sein. So sei das Ziel des deskriptiven Tools eben nicht die Entlarvung, »but to protect and care« (Latour 2004: 232). Mit der Formulierung dieses wissenschaftlichen Ethos bemüht sich Latour um eine Unterscheidung zwischen einer revisionistischen Infragestellung von wissenschaftlichen Ergebnissen und/oder gesellschaftlichen Ereignissen auf der einen Seite und der wissenschaftlichen Analyse und Kritik von Wissensproduktion auf der anderen Seite. Die Reformulierung der Kritik soll sozusagen den Boden der Kritik wieder herstellen und bleibt vermittelt über den Begriff der Dinge anschlussfähig an Latours weitere Arbeiten. Passoth unterstreicht, dass Latours Vorschlag, sich anstelle der Moderne oder Postmoderne für die Nichtmoderne zu entscheiden, deutlich mache, dass es Latour das Nachvollziehen einer »historisch und kulturell bedingten Gewordenheit von Phänomenen« (Passoth 2006: 48) gehe, die sich an empirischem Material orientiert und menschliche und nicht-menschliche Aktanten und ihre Widerständigkeiten einbeziehe. In dieser Gewordenheit von Phänomenen scheint ein Moment auf, das sich auf darin abbildende Strukturen und Machtbeziehungen analysieren ließe. Latour selbst versteht Realität als Punkt in einer Erzählung, an deren Aufrechterhaltung und Stabilisierung permanent gearbeitet werden müsse, bspw. durch die Umwandlung von verbundenen Akteuren in »Black Boxes« (vgl. Latour 2006c: 384). Herrschaft selbst könne nicht gelagert werden, sondern müsse eingesetzt, in »Black Boxes« umgewandelt, repariert und erhalten werden und vollzieht sich somit in Praktiken (vgl. ebd.). Callons Studie zum erfolglosen Versuch der Electricité de France (EDF), ein Elektromobil für die Nutzung in der Stadt zu entwickeln und damit Lärm und Abgase des Verbrennungsmotors aus der Stadt zu verdrängen, gibt ein Beispiel dafür, wie es Renault als Akteur gelingt, den Plan zu torpedieren und durch die erfolgreiche Darstellung und Umwandlung der Losung, dass Verbrennungsmotoren die leistungsfähigeren und besseren Motoren seien, die Forschung in eine andere Richtung zu leiten (vgl. Callon 2006a: 183). In der konkreten Analyse von Netzwerken und ihrer Etablierung biete die Akteur-Netzwerk-Theorie damit durchaus einen Rahmen an, der es erlaubt zu prüfen, wie sich Akteure gegen andere durchsetzen und erfolgreiche Netzwerke etabliert oder auch verteidigt werden können. Gleichwohl bleibt die AkteurNetzwerk-Theorie gegenüber Strukturen, die dazu führen, dass einige Akteure sichtbarer sind als andere, zumindest kurzsichtig. Es fehlt eine theoretische Fassung von Macht- und Herrschaftsstrukturen, die nur als Asymmetrien im Netzwerkprozess analysierbar werden. Diese Leerstelle der ANT ist von unterschiedlicher Seite kritisiert worden. Kneer bspw. betont, dass es Latours Kritik der Moderne an einem Verständnis von deren strukturellen Eigenheiten fehle. Latour nutze lediglich einen semantischen Begriff der Moderne, der strukturelle Verän-
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derungen, auf deren Beobachtung die Soziologie ziele, ausblende (vgl. Kneer 2008a: 267). Ebenso wird die »Kleinformatigkeit« (Keller/Lau 2008: 316) der ethnomethodologischen Arbeiten der (frühen) Akteur-Netzwerk-Theorie kritisiert, da diese sich zwar zur Beschreibung von Phänomenen eigne, aber eine theoretische Fassung vernachlässige. Keller und Lau betonen außerdem, dass die von Latour vorgenommene Entgrenzung zwischen dem Sozialen und der Natur sowie die Symmetrisierung von Menschen mit nicht-menschlichen Wesen und Dingen problematisch sei, da dadurch soziale Differenzierungen nivelliert würden, obwohl sie zugleich einen konstitutiven Bestandteil der Netzwerke bildeten (vgl. ebd.: 326). 20 Latour untersuche zwar die Nachteile der Grenzziehung, vernachlässige aber die Kehrseite von Entgrenzungsprozessen, die ebenfalls Machtund Herrschaftsphänomene begründen. Mit dem Verweis auf entgrenzte Arbeit(sweisen) zeigen die Autoren, dass eine aktive Grenzziehung auch ein Widerstandsmittel gegen Vereinnahmung sein kann (vgl. ebd.: 333f.). Sie weisen darauf hin, dass mit der Auflösung von Grenzziehungen und der Aufgabe eines intentional handelnden Akteurs die Grundlage für kritische Theorien und daran anschließende politische Forderungen fehle: »Die Enthierarchisierung der Natur-Gesellschaftspolarität hat so ihren Preis: Aus den Blick geraten die Ausbeutung der Natur ebenso wie die Herrschaft der Menschen über Menschen, Tiere, Artefakte oder der Ausschluss von Menschen aus soziotechnischen Netzwerken. Wo auf den Begriff der Intentionalität und Machtförmigkeit von Handlungen verzichtet wird, kann nicht länger Anklage erhoben werden – denn wer sollte dem Ozonloch den Prozess machen? Es gibt in einer solchen Position keinen kritischen Standpunkt zur Struktur und zu den Resultaten des Netzwerkes.« (Keller/Lau 2008: 329)
Die Kritik zeigt pointiert die Schwachstellen der Akteur-Netzwerk-Theorie auf, die aufgrund eines fehlenden Begriffes von Strukturen und Machtverhältnissen
20 Die Ausweitung des Begriffs des Akteurs und damit die Aufgabe eines intentionalen Handlungsbegriffs ist eine der umstrittensten Neuerung der ANT. Werner Rammert und Ingo Schulz-Schäfer haben in der deutschsprachigen Debatte einen graduellen Handlungsbegriff eingebracht, der verschiedene Grade von Handlungen definiert. Er ermöglicht bspw., dass zwischen den Handlungen, die Intentionalität, Selbstbewusstsein und/oder Verantwortung aufweisen und technischen Wiederholungen bspw. von Maschinen unterschieden werden kann (vgl. Rammert/Schulz-Schaeffer 2002). Somit wird es möglich, zwischen menschlichem und maschinellem Handeln zu differenzieren, gleichzeitig wird damit aber eben jene Grenzziehung wieder eingeführt, weshalb diese Konzeption meines Erachtens nicht mit dem Ansatz der ANT kombinierbar ist.
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entstehen. Zwar ist die ANT nicht ganz zahnlos, gelingt es doch mit ihrem methodischen Werkzeug sich die Grenzziehungspraktiken innerhalb eines Netzwerkes genauer anzusehen. Sie bietet damit aber zugleich nur eine Innenperspektive, die Aufschluss darüber geben kann, welche Akteure mittels welcher Praktiken das Netzwerk prägen. Somit entsteht zugleich unweigerlich ein blinder Fleck in Bezug auf Akteure, die es nicht ins Netzwerk geschafft haben. Diese Kritik an Latour und der Akteur-Netzwerk-Theorie ist ebenfalls von der feministischen Wissenschaftskritik geäußert und in Bezug auf die Ausblendung von Geschlechterverhältnissen weitergeführt worden. Zum einen ist Latour für seinen Fokus auf die Erfolgsgeschichten der Wissenschaft kritisiert worden. Während es eine Strategie feministischer Autorinnen ist, Randfiguren und alternative Perspektiven innerhalb des Wissenschaftsbetriebs vorzustellen und deren Beteiligung an Forschungsprozessen herauszuarbeiten, 21 bezieht sich Latour mit Pasteur, Hume oder Hobbes auf die etablierten Akteure in der Wissenschaftsgeschichte. Für Susan L. Star erklärt sich die Auswahl damit, dass sich anhand erfolgreicher Forscher besonders eindrücklich die Wirkungsweise der ANT demonstrieren ließe. Gelänge es, die Arbeit eines als Genie angesehen Forschers wie Pasteur mittels der ANT zu erklären, so beweise sich dieser Ansatz quasi als unbegrenzt einsetzbar (vgl. Star 1985: 315f.). Zugleich blende diese wiederholte Rezeption jedoch ein weiteres Mal alternative Akteure und Perspektiven aus (vgl. auch Haraway 1995b; Weber 2003; Lindemann 2009). Hier schließt ein weiterer Kritikpunkt an: Nicht nur perpetuiere die ANT Erfolgsgeschichten, sie vernachlässige mit diesem Fokus auch die Frage, warum sich bestimmte Netzwerke durchsetzen und stabilisieren, während andere bei diesem Versuch schei-
21 Ein schönes Beispiel hierfür ist die Arbeit von Ruth Hubbard über Rosalind Franklin, die sich wie ein Wissenschaftskrimi liest: Franklin gelingt am Kings College London die erste Röntgenaufnahme der DNA und damit die bildliche Darstellung, die als Doppelhelix zum Sinnbild der DNA wird. Nahezu zeitgleich arbeiten auch die Forscher Watson und Crick an der Erforschung der DNA in Oxford und bemühen sich ein Modell dafür zu erstellen. Während dieser Arbeit erhalten sie Einblick in die Forschungsarbeiten von Franklin und sehen dabei auch die Röntgenaufnahmen. Ihr Modell, das erstmals in einem Aufsatz in Nature veröffentlicht wird, gleicht in der Struktur der Doppelhelix von Franklins Aufnahme. Während Watson und Crick als Entdecker der DNA in die Geschichte eingehen und dafür später einen Nobelpreis erhalten, sind Franklins Arbeiten weitestgehend unbekannt. Hubbard bemüht sich, Franklins Anteil an der Entdeckung und Darstellung der DNA deutlich zu machen und so die Facetten der Geschichte über die Entdeckung der DNA zu erweitern (vgl. Hubbard 2003).
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tern (vgl. Star 1991). Susan L. Star weist darauf hin, dass mit der Etablierung von (neuen) Netzwerken immer auch Ausschlüsse einhergehen, und illustriert dies an zwei Beispielen: Bereits eine Allergie gegen Zwiebeln erschwert ihr das Essen bei McDonalds, die nicht auf Sonderwünsche (hier das Weglassen der Zwiebeln) eingerichtet sind, und markiert sie als Sonderfall (vgl. ebd.: 37). Ihr zweites Beispiel einer präoperativen Transsexuellen, die sich scheinbar außerhalb der dichotomen Geschlechterkategorien Mann-Frau befinde, macht deutlich, wie grundlegend in der Gesellschaft eine zweigeschlechtliche Struktur vorgegeben ist. Star stellt an diesem Beispiel vor, dass es für Transsexuelle kaum möglich sei, sich nicht einer der beiden Geschlechtskategorien zuzuordnen, und das eine eindeutige Ausweisung von den weiteren Akteuren im Kontext einer Geschlechtsumwandlung, bspw. Kliniken, Therapeuten und Krankenkassen, immer wieder verlangt werde. Das Außerhalb bilde eine »high tension zone« (ebd.: 46) und damit quasi den Nullpunkt zwischen den Dichotomien. Dies erscheint einerseits äußerst reizvoll, weil es sich einer Zuordnung entzieht, gleichwohl ist es als ein dauerhafter Zustand bzw. eine Verortung kaum möglich, wie andere Arbeiten zu dem Thema Transsexualität gezeigt haben (vgl. bspw. Lindemann 1993; Klöppel 2010). Stars Anliegen ist es, mit ihren Beispielen deutlich zu machen, dass sich Netzwerke nicht völlig frei im Raum entfalten, sondern sich entlang spezifischer Konstellationen und Kategorien entwickeln. Sie fordert ein, dass sowohl die Stabilisierung von Netzwerken über lange Zeit als auch die Mannigfaltigkeit (i.O. multiplicity) der Akteure, die in eine Vielzahl unterschiedlicher Netzwerke eingebunden sind, theoretisch reflektiert wird. Sie zeigt am Beispiel der roten Ampel als Symbol für »Halt« im Straßenverkehr auf, dass diesem Netzwerk zwar eine Wahl vorausging, dass der Charakter der Wahl und damit der Übereinkunft auf eine Geltung aber häufig kaum noch deutlich sei (Star 1991: 40). Große Netzwerke führen demnach dazu, dass sich Festlegungen, Wissensbestände und Praktiken verfestigen und als Wahrheit erscheinen. Sie führen zu Stabilisierungen, die nicht nur schwer aufzubrechen sind, sondern auch den Charakter der anfänglichen Einigung nicht mehr als deutliche Markierung bei sich tragen. Oder wie Gad und Jensen es beschreiben: »The categorizations we take most for granted are precisely embedded in our most stable networks« (Gad/Jensen 2009: 58). Während das bei einem Signalsystem im Verkehr mit wenigen Schwierigkeiten verbunden scheint, zeigen sich in den Grenzziehungen von Geschlecht oder zwischen Tier und Mensch die Fallstricke einer solchen Praxis. Es gelte daher nach Star, die unsichtbaren Praktiken und Identitätspolitiken aufzuzeigen, die die Mitgliedschaft in einem Netzwerk ermöglichen oder den Ausschluss begrün-
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den. Die Frage laute: »Who carries the cost of distribution, and what is the nature of the personal in network theory?« (Star 1991: 44) Stars Kritik zielt damit auf die Ausblendung von Ausschlüssen in der Akteur-Netzwerk-Theorie, die sich auch entlang von Geschlechtergrenzen bewegen. Dass Geschlecht in der Forschung eine relevante Rolle spielt, ist in den Arbeiten von Evelyn Fox Keller (1985), Donna Haraway (1989) und Sandra Harding (1991) deutlich geworden. Feministische Wissenschaftskritik hat mit unterschiedlichen methodologischen und theoretischen Ansätzen aufzeigen können, dass in der Produktion (natur-)wissenschaftlichen Wissens und im Zugang zu Forschungseinrichtungen und -mitteln die Kategorie Geschlecht virulent ist. Hieran schließt eine weitere Problemstelle an: Im Zentrum von Latours Kritik steht der Ausschluss der nicht-menschlichen Wesen und Dinge aus der Verfassung der Moderne. Arbeiten aus den Bereichen der postcolonial und gender studies haben indes eindrucksvoll aufgezeigt, dass die Moderne mitnichten alle Menschen (von Beginn an) einschließt und sich in ihr Grenzziehungen und Ausschlüsse entlang der Triade race, class, gender zeigen (vgl. bspw. Spivak 1988; Harding 2008). Arbeiten zur Geschichte der Frauenbewegung belegen nicht nur, dass die Errungenschaften der Moderne lange Zeit nicht für Frauen, Kinder oder Sklaven gegolten haben, sondern die Moderne auch nach der rechtlichen Gleichstellung durch ungleiche Arbeitsteilung und patriarchale Gesellschaftsstrukturen gekennzeichnet bleibt (vgl. bspw. Honegger 1991; Gerhard 2009). Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten gerät Latours Darstellung der Moderne in eine Schieflage. Im Nachspüren der Grenzverläufe wird deutlich, dass die von Latour beschriebene Grenzziehung zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen in sich weniger eindeutig erscheint und es auch bereits oberhalb der Horizontalen der Reinigungsarbeit, um in Latours Bild der Moderne zu bleiben, Kämpfe darum gibt, wer als Träger von Rechten gilt. Will man Frauen nicht zu Hybriden erklären, so scheint die Trennung in Natur und Kultur nicht nur entlang von menschlichen vs. nicht-menschlichen Wesen und Artefakten zu verlaufen. Der »Primat des Technischen« in Latours Arbeiten scheint dazu zu führen, dass strukturelle Ungleichheiten innerhalb der Gruppe der menschlichen Akteure aus dem Blick geraten (vgl. Haraway 1995d; Weber 2003). Auch methodologisch ist die ANT in die Kritik geraten. Donna Haraway kritisiert, dass die Studien der ANT und die Arbeiten Latours im Besonderen eine Reflexion der eigenen Forscherposition vermissen lassen (Haraway 1997). Obwohl die methodische Vorgehensweise sich an ethnologischen Forschungsmethoden anlehnt, fehlt eine klare Darstellung der eigenen Forschungsbeteiligung. Dies ist umso erstaunlicher, da die ANT gerade die scheinbare Neutralität der
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Wissensproduktion durch eine genauere Beschreibung von Forschungsprozessen und -interessen zu ersetzen sucht. Die Kritik feministischer Wissenschaftstheoretikerinnen zielt somit ebenfalls auf das Fehlen eines analytischen Instrumentes, um Macht- und Herrschaftsverhältnisse wahrzunehmen. Es bleibt die Frage, ob man Latour mit dieser Kritik gerecht wird. Er selbst distanziert sich von theoretischen Suchbewegungen nach Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnissen, da dieser Fokus den Blick beschränke. Anstelle eines Aufspürens einer singulären Perspektive geht es ihm um die Beschreibung komplexer Prozesse. So schreibt er in »Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft«: »Es gibt keinen globalen, alles umfassenden Ort, an dem beispielsweise die Kommandozentrale der Strategic Air Commando, das Wall-Street-Handelsparkett, die Wasserverschmutzungskarte, das Volkszählungsbüro, das Pressebüro des Vatikans sowie die Vereinten Nationen versammelt und zusammengefasst werden könnten.« (Latour 2007: 329f.)
Anstelle einer solchen zentralen Schaltstelle der Macht sei es Aufgabe der Soziologie, ein Panorama 22 freizulegen, das nicht dem Aufspüren von Machtrelationen folgt, sondern sich anstelle dessen darum bemüht, die Genese von Phänomenen zu beschreiben. »Ihre [Soziologen; Anm. MR] Aufgabe besteht darin, ein künstliches Experiment einzurichten – einen Bericht, eine Geschichte, eine Erzählung, eine Beschreibung – , in dem diese Vielfalt voll entfaltet werden kann« (ebd.: 318). Latours Fokus liegt damit auf der Ermöglichung einer anderen Erzählung, in welcher alle Akteure – und hiermit sind bei ihm vor allem die nichtmenschlichen Akteure und technische Artefakte gemeint – sichtbar werden. Während er sich zentral mit der Einrichtung des Dualismus von Natur und Kultur befasst und den dadurch entstehenden Anthropomorphismus kritisiert, vernachlässigt er jedoch Ausschlüsse, die ebenfalls entlang der Grenze von Natur und Kultur gezogen werden und im Falle von race oder gender gerade durch ihre Darstellung als natürliche Differenz markiert und verfestigt werden. Die oben angeführten Beispiele zeigen, dass die ANT ohne ein Analysetool, dass die Verfestigung und Entstehung von Ungleichheitsstrukturen erklären kann, kaum über die Beschreibung der Entstehung einzelner Netzwerke hinausreichen kann und gegenüber Aus- und Einschlüssen erstaunlich kurzsichtig bleibt.
22 Den Begriff des Panoramas entleiht sich Latour von Deleuze, um einen spezifischen Überblick zu beschreiben.
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Es erstaunt, dass die Kritik feministischer Wissenschaftstheoretikerinnen nahezu keinen Eingang in die Arbeiten Latours findet, obwohl er mit diesen im Austausch steht. Donna Haraway findet hierfür deutliche Worte: »Der selbe blinde Fleck, eine Läsion der Netzhaut verursacht durch den alten phallozentrischen Heliotropismus, den Latour in anderen Zusammenhängen z.B. in seiner schneidenden Kritik an Moderne und Postmoderne durchaus vermieden hat, scheint dafür verantwortlich sein, dass die social studies of science als organisierter Diskurs nicht für nötig befunden haben, die letzten zwei Jahrzehnte feministischer Forschung zur Kenntnis zu nehmen.« (Haraway 1995d: 190; Herv. i. O.)
Dies hat sich auch ein weiteres Jahrzehnt später nicht geändert. Während Latour über die Kritik feministischer Ansätze weitestgehend hinwegzugehen scheint, nimmt John Law diese explizit auf und bemüht sich in der Einleitung seines Sammelbandes »A sociology of monsters. Essays on power, technology and domination« (Law 1991) um mögliche Antworten. Law verweist darauf, dass es nie das Ziel der ANT war, männliche Forscherfiguren zu heroisieren, sondern gerade anhand von Figuren wie Pasteur gezeigt werden sollte, dass sie erst über ein Netz von Allianzen und heterogenen Materialitäten zu dem großen Forscher werden (ebd.: 12). Pasteur als Genie bildet damit das Endprodukt eines Netzwerkes. Gleichzeitig räumt Law ein, dass es an einer kritischen Distanz fehlt: »We take on their categories. We see the world through their eyes. We take on the point of view of those whom we are studying.« (ebd.: 11) 23 Er nimmt die Kritik an dieser Perspektive auf, betont jedoch, dass es für ein Verständnis der modernen Welt nicht ausreiche, sich auf die missglückten Versuche zu konzentrieren. Sein Plädoyer richtet sich darauf, das Wechselspiel zwischen Qualität und Quantität der Netze genauer zu analysieren. Dies hieße, sich anzusehen, ob quantitative Unterschiede wie eine größere Verbreitung bzw. Ausdehnung des Netzes zu qualitativen Unterschieden führen. 24 Law bietet eine Differenzierung
23 Vgl. hierzu auch das Argument von Birgit Peuker, wonach die Unterscheidung der ANT zwischen empirischen Konzepten und den darin auffindbaren Eigenbeschreibungen der Akteure und den eigenen analytischen Begriffen deutlicher und transparenter ausfallen müsse (vgl. Peuker 2006). 24 Law gibt ein Beispiel aus der Computerindustrie: IBM und Acron, beides amerikanische Unternehmen, haben ähnliche Produkte auf dem Markt, die in Qualität und Preis nicht weit auseinanderliegen. IBM gelingt aber die größere Verbreitung, ihre Produkte werden von mehr Leuten gekauft und bieten dadurch eine größere Kompatibilität, was wiederum dazu führt, dass sie vermehrt gekauft werden (Law 1991: 14).
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an, die die Entstehung und Verhärtung von Unterschieden erklären soll und für die Akteur-Netzwerk-Theorie eine Neuerung darstellt: Dass größere Netzwerke nicht nur einfach größer und weitreichender sind, sondern sich a) auch qualitativ von kleineren Netzwerken unterscheiden können und b) diese Differenz eine Folge der Größe sein kann. »Which means, if we concentrate as we have much of STS, on this [quantity; Anm. MR] alone, that we are liable to miss out on some of the ways in which quantity is (reversibly) transmuted into quality. Or, to put it differently, we will miss out on the ways in which the great distributions are laid down and sustained.« (Law 1991: 14)
Erinnern wir uns an das oben genannte Beispiel des Elektroautos, so ließe sich zu Callons Überlegungen ergänzen, dass es Renault erfolgreich gelingt, den quantitativen Vorteil eines größeren Netzwerkes gegen die Idee des Elektroautomobils einzusetzen. Die ANT steht damit vor der Herausforderung, ein Analysetool für Ausschlüsse und Verfestigungen von Strukturen zu entwickeln. Ohne ein solches scheint es kaum möglich, dass Latour seinem Anspruch, eine umfassende Erklärung der Welt zu geben, 25 gerecht werden könnte. John Law zeigt, dass die Analyse von Machtstrukturen durchaus in den Forschungsrahmen der ANT integrierbar ist. Callons Arbeit zur Durchsetzung des Verbrennungsmotors bietet ebenso wie sein Aufsatz mit Bruno Latour über »Die Demontage des großen Leviathans« (Callon 2006c) einen Ausblick, wie sich Akteure durchsetzen und Strukturen verfestigen. Führen sie dort den Palast des Souveräns und seine Kanonen an, so ließe sich eine solche Erzählung auch als eine geschlechts- und herkunftssensible vorstellen, die aufzeigt, wie durch verfestigte Strukturen und Kategorien bspw. Frauen im Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen werden. Es gilt Latours Motto »follow the
25 Dies mag zuerst ironisch klingen, die neueren Arbeiten Latours »Das Parlament der Dinge« und »Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft« tragen jedoch diesen Anspruch offen in sich. Während er in »Wir sind nie modern gewesen« nur einen Ausblick auf eine Welt gibt, in der die Dichotomie zwischen Natur und Gesellschaft aufgehoben ist, stellt er mit der politischen Ökologie ein Konzept vor, in der eben jene Trennung überwunden scheint und entwirft eine neue Ontologie. In seiner Rezension zu »Das Parlament der Dinge« fragt Nicholas J. Rowland pointiert: »Is this book about how Latour wants to save the planet with STS? I think so.« (Rowland 2005: 953)
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actors« zu erweitern und gerade den Akteuren zu folgen bzw. Aufmerksamkeit zu widmen, die es nicht oder nur mit Mühe ins Netzwerk geschafft haben. 2.3.4 Ausblick Latour oder »Wie lässt sich Reproduktionsmedizin als Netzwerk denken?« Was also bietet Latour uns mit seinem Ansatz an? Latour entwickelt in seinen Arbeiten ein neues und alternatives Verständnis von Natur und Technologie, vor dessen Hintergrund auch die Entwicklungen der (humanen) Gentechnologie neu beschrieben und analysiert werden können. In seiner grundlegenden Kritik an der Trennung von Natur und Gesellschaft verdeutlicht er, dass wir mit der Vorstellung einer außerhalb der Gesellschaft liegenden und nur auf die Bearbeitung wartenden Natur einerseits und einer sozial geformten und hergestellten Technologie andererseits einen reduzierten Blick auf Natur und technologische Entwicklungen werfen und dabei spezifische Charakteristika aus dem Blickfeld geraten. Diese Verengung der Perspektive führt erstens zu einer Hierarchisierung, die je nach der Positionierung zu einer Überhöhung des Sozialen und damit des technologischen Fortschritts oder zu einem Primat der Bewahrung einer ursprünglichen Natur führe (vgl. Latour 2001). Beide Positionen würden dabei jedoch verkennen, dass die beiden Ebenen der Gesellschaft und der Natur stets miteinander verwoben seien und daher der Widerspruch bereits als ein konstruierter verstanden werden muss. Mit seinem Begriff der Reinigungsarbeit liefert Latour zugleich ein begriffliches Instrumentarium, das eben jene Herstellung von Differenz als Prozess beschreibbar macht. Der zweite Effekt dieser reduzierten Perspektive zeigt sich in der Ausblendung der Aktivität der Dinge. Die Dichotomie zwischen Natur und Kultur negiert Formen des gemeinsamen Handelns, wie sie uns von Latour bspw. in seinen Laborstudien vorgestellt werden. Anstelle komplexer Netzwerke, in denen sich die Handlungsträgerschaft auf menschliche und nicht-menschliche Wesen und Artefakte verteilt, wird Handlungsfähigkeit nur dem Menschen zugesprochen. In Analogie zum Eurozentrismus kritisiert Latour diesen Effekt der Trennung in Natur und Kultur als anthropozentrisch. Er setzt eine praxeologische Perspektive entgegen, in der die Beteiligung aller Akteure und Artefakte sichtbar wird und Prozesse der technologischen Innovationen, Naturereignisse oder gesellschaftliche Entwicklungen nicht mehr in klar zugeordnete und abgegrenzte Sphären aufgeteilt werden. So erlaubt es sein Analyseinstrumentarium, neue technologische Entwicklungen vor dem Hintergrund eines Handelns als gemeinsame Praktik zu erfassen und zu untersuchen und damit die üblichen Zuschreibungen von Natur und Technologie zu umgehen.
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Diese Perspektivenerweiterung ist gerade für den Bereich der humanen Gentechnologie ein zentraler Einsatzpunkt. Wie ich eingangs zu zeigen versucht habe, bilden sich in den Auseinandersetzungen um die Chancen und Risiken der humanen Gentechnologie jene dualistischen Positionen zwischen Natur und Technologie ab, in denen Natur als ein außenliegender Bereich festlegt wird. Latours Figur des Netzwerkes ermöglicht es, jene Grenzziehung zwischen den Bereichen zu überwinden. Dies führt bei der Analyse und Erklärung neuerer technologischer Entwicklungen im Bereich der humanen Gentechnologie zu einer signifikanten Veränderung der Beschreibung: Im Verständnis Latours lassen sich die neuen reproduktionsmedizinischen Anwendungen wie bspw. die Präimplantationsdiagnostik (PID) als ein Hybrid beschreiben, an dem eine Vielzahl von Akteuren beteiligt sind: ReproduktionsmedizinerInnen, KinderwunschpatientInnen, Eizellen, Spermien, Eizellen- und SpermaspenderInnen, Mikroskope, Genanalyser, Petrischalen, Pinzetten, Hormone, PolitikerInnen, Ethikkommissionen, Zeitungen usw. Listet man die gesamte Gemengenlage auf, so wird deutlich, dass eine klare Zuordnung der Bereiche Natur und Gesellschaft nahezu unmöglich wird. Sind Eizellen natürlich, wenn sie unter der Vergabe von Hormonen künstlich stimuliert anreifen und mittels medizinischer Geräte entnommen und weiter verarbeitet werden? Sind sie nur sozial, wenn sie spezifische Eigenschaften mitbringen, die den Umgang mit ihnen anleiten und damit auch die Möglichkeiten reproduktionsmedizinischen Anwendungen (mit)strukturieren? Oder lassen sie sich genauer und besser beschreiben, wenn wir den Begriff des Hybriden von Latour nutzen? Für eine Beschreibung und eine Kritik der Präimplantationsdiagnostik bieten Latours Begriffe des Hybriden und der Reinigungsarbeit eine Hintergrundfolie, die eine differenzierende Skizzierung und nicht-reduktive Bewertung dieser Technologie erlaubt. Anstelle einer Zuordnung zu entgegengesetzten Polen zeigt sich gerade in der Figur des Netzwerkes die Verwobenheit von Natur, Technologie und Gesellschaft. Diese Verschiebung entlastet eine Untersuchung daher von dem Appell, sich auf eine Seite zu schlagen und entweder für die Natur oder Technologieentwicklung zu argumentieren. Sie eröffnet darüber hinausgehend erst den Raum für alternative Fragestellungen, die an die PID und die Diskussion um sie herangetragen werden können.
3. Give the feminist a test tube – Feministische Perspektiven auf Reproduktionstechnologien »It always comes back to the biological flavor of the important words. The word is made flesh in mortal naturecultures.« (HARAWAY 2007: 100) »Sex, Sexualität und Reproduktion sind zentrale Akteure in den Mythensystemen der Hochtechnologie, die unsere Vorstellungen der individuellen und gesellschaftlichen Möglichkeiten bestimmen.« (HARAWAY 1995A: 58)
Die Frage danach, wie Natur und Gesellschaft zusammenhängen und welches Verständnis wir von Natur haben, ist auch für die Frauen- und Geschlechterforschung zentral. Wie das vorherige Kapitel gezeigt hat, geht mit dem Dualismus von Natur und Kultur eine hierarchische Trennziehung einher, mittels derer nicht nur die Seite der Kultur als aktive und progressive gestärkt wird, sondern zugleich die Natur als Ursprüngliches festgeschrieben wird. Feministische Theoretikerinnen aus den Feldern der Wissenschaftsgeschichte und -forschung sowie der Körpergeschichte haben gezeigt, dass die Bestimmung der Natur dabei eng mit der Vorstellung einer Natur der Frau verbunden ist (vgl. Merchant 1987; Keller 1995; Scheich 1996). In den Auseinandersetzungen um die Kategorie Geschlecht liegt ein Fokus auf der Kritik des Körper-Geist-Dualismus, der geschlechtlich konnotierte Grenzziehungen zwischen männlicher Rationalität und weiblicher Natur bekräftigt und damit einhergehende Hierarchisierungen festigt
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(vgl. Haraway 1988; Harding 1991; Orland/Rösler 1995; Keller/Longino 1996; Keller 1998). Wie weitreichend die Zuschreibungen des männlichen Subjekts als rational und objektiv versus der emotional und subjektiv geprägten Frau sind, zeigt sich nicht nur im gender gap in den Wissenschaften, sondern vor allem in den wissenschaftlichen Praktiken. Der dort zu findende Anspruch an Objektivität als Werturteilsfreiheit wird von Seiten feministischer Wissenschaftskritik als ein nicht einlösbares Ideal beschrieben, dass seine Wirkmächtigkeit gerade daraus bezieht, dass es die normativen Annahmen der Forscherperson verdeckt. Hier zeigt sich – vor allem in Ansätzen, die auch eine Netzwerkperspektive einnehmen – eine Verbindungslinie zu Latour. Gleichwohl reicht die feministische Perspektive über Latour hinaus und nimmt Geschlecht und geschlechtliche Verkörperungen als eine zentrale Kategorie in den Fokus. So wird nicht nur die Grenzziehung problematisiert, vielmehr wird grundsätzlich hinterfragt, wie unser Verständnis von zwei biologischen Geschlechtern entsteht und an körperliche Merkmale gebunden wird. Nachdem in der feministischen Theoriebildung lange der sex/gender-Unterscheidung gefolgt wurde und sich die Bemühungen darauf konzentrierten, aufzuzeigen, dass das soziale Geschlecht eine variable Kategorie ist, gerät seit Ende der 80er Jahren zunehmend auch sex als biologisches Geschlecht ins Blickfeld. Hier sind die Arbeiten von Judith Butler »Körper von Gewicht« und »Das Unbehagen der Geschlechter« zu nennen, in denen sie in den 90ern die Vorstellung einer wie auch immer gearteten Natur der Frau radikal in Frage stellt. Ihre These ist, dass die binäre Codierung in männlich/weiblich nicht der »biologischen« Verfasstheit der Körper geschuldet ist, sondern vielmehr in diskursiven Praktiken produziert und in die Körper eingeschrieben wird (Butler 1991: 27). Butlers Konzept der Performativität von Praktiken bildet für Arbeiten, die sich mit Heteronormativität und/oder geschlechtlichen Verkörperungen beschäftigen, einen zentralen Ansatzpunkt, hat aber durch die Konzentration auf diskursive Aspekte in der feministischen Debatte auch eine breite Diskussion um die Frage nach der Materialität körperlicher Praktiken aufgeworfen und eine grundlegende Kritik an der Fokussierung auf Sprache mit sich gebracht. Hier können Arbeiten aus dem Bereich der feministischen Wissenschaftsforschung eine Alternative anbieten, da sie die Frage (nach) der Zweigeschlechtlichkeit anders fassen: Sie stellen in den Fokus, wie Materialität von Körpern als weibliche oder männliche in Forschungsprozessen in den Blick genommen und Geschlecht bestimmt wird. Dabei möchte ich vor allem auf Arbeiten hinweisen, in denen das Spannungsverhältnis von Materialität und Forschungspraxis ausgelotet und als ein gegenseitiger Produktionsprozess beschrieben wird (vgl. bspw. Haraway 1989; Oudshoorn 1994; Fausto-Sterling 2000; Barad 2007).
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In beiden Perspektiven zeigt sich Geschlecht zum einen als strukturierendes Merkmal, zum anderen als eine verhandelbare und damit grundsätzlich veränderbare Kategorie. Wie aber passt dies mit Vorstellungen von Reproduktion und Geschlechtskörpern zusammen, die gerade im Bereich der Reproduktionsmedizin so eindeutig erscheinen? Im folgenden Kapitel möchte ich die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Gesellschaft aus einer feministischen Perspektive aufnehmen und um die Kategorie Geschlecht erweitern. Gerade im Bereich der Reproduktionsmedizin lässt sich zeigen, wie diese Kategorien ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen. Reproduktion(smedizin) bildet ein Amalgam, in das grundlegende gesellschaftliche Vorstellungen von Natur, Technologie und Geschlecht ebenso einfließen, wie geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Trennungen in privat und politisch, Anrufungen an autonome Subjekte etc. Um diese einzelnen Stränge zu entwirren, werde ich zuerst das Verhältnis von Reproduktionsmedizin und Geschlecht näher bestimmen, um in Anschluss daran theoretische Perspektiven auf eine Neufassung von Natur, Technologie und Körper zu skizzieren. Hierbei werde ich mich zentral auf die Arbeiten von Donna Haraway beziehen. Den Abschluss bilden Überlegungen darüber, welche Kritik und Analyse der Reproduktionsmedizin feministische Perspektiven ermöglichen und wo sie Spielräume und Möglichkeiten für Interventionen und Neugestaltung aufzeigen.
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Bei der Auseinandersetzung um die Frage nach der natürlichen Basis von Geschlecht und seiner sozialen Konstruktion ist der Bereich der Reproduktionsmedizin besonders »kniffelig«: Unser Verständnis von weiblichen und männlichen Körpern ist zentral mit der Vorstellung von Fortpflanzungsorganen verbunden. Und so galt bis zur Geburt des ersten Kindes von Thomas Beatie, der 1998 als erster Mann schwanger wurde, der Satz, dass Frauen eben die Kinder bekommen. Während in der feministischen Theoriebildung die Konstruktion der Kategorie Geschlecht untersucht wird, scheint gerade in Hinblick auf Fragen der Reproduktion das Alltagsverständnis von Frauen ein anderes zu sein, und so konstatiert Fox Keller zum linguistic turn: »Versucht man jedoch, Frauen zu sagen, sie seien diskursiv konstruiert, werden sie einfach auf ihren Körper und Kinder zeigen, im Vertrauen darauf, mit dieser Geste das letzte Wort zu haben.« (Keller 1996: 42)
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In der Reproduktionsmedizin wird der Frauenkörper nicht auf Ambivalenzen und Offenheiten hin ausgeleuchtet, sondern aufgrund seiner biologischen Fähigkeit zur Reproduktion (Leihmutterschaft, Eizellspende etc.) bzw. seiner Dysfunktionalität markiert, wenn er diese im Fall von einer IVF oder PID nicht von alleine ausüben kann. Gleichzeitig, und hier zeigt sich die Ambivalenz des Potenzials der Reproduktionsmedizin, bricht diese tradierte Setzungen zur Natur der Frau auf, erlaubt die Manipulation von Nachwuchs und ermöglicht mit Samen- und Eizellspende oder Leihmutterschaft neue Formen von Familien, die nicht auf die klassische heterosexuelle Kernfamilie beschränkt bleiben. Bei der Aushandlung und Bewertung der neuen genetischen und reproduktionsmedizinischen Entwicklungen schließen damit zwei Fragen nach dem Verhältnis von Natur, Technologie und Geschlecht an: Welche Vorstellungen von Natur und der Natur der Frau begleiten die Reproduktionsmedizin und inwieweit finden sich hierin Änderungen und Brüche zu tradierten Vorstellungen? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich zuerst den Weg feministischer Positionen zur Reproduktionsmedizin nachzeichnen und dabei die theoretischen Fragezeichen skizzieren, um im Anschluss mit Donna Haraway nach Antworten zu suchen: Die Entstehung der Reproduktionsmedizin wird von Beginn an von feministischen Theoretikerinnen begleitet. Schon vor dem ersten Retortenbaby Louise Brown, das am 25. Juli 1978 nach einer erfolgreichen In-vitroFertilisation geboren wurde, bezieht sich Shulamith Firestone in ihrem Buch »The dialectic of Sex« positiv auf die Reproduktionsmedizin und fordert die »Befreiung der Frau von der Tyrannei der Fortpflanzung durch jedes nur mögliche Mittel« (Firestone 1975: 225). Für Firestone liegt die Grundlage der Unterdrückung der Frau in ihrer Biologie, genauer in ihrer Reproduktionsfähigkeit. Schwangerschaft ist für sie »barbarisch« und »die zeitweilige Deformation des menschlichen Körpers für die Arterhaltung« (ebd.: 219). Aus diesem Grund setzt sie lange, bevor sich die Reproduktionsmedizin etabliert, bereits große Hoffnungen in deren Entwicklung. Ihre These ist, dass durch die Reproduktionsmedizin der Makel der biologischen Reproduktion überwunden werden kann und dadurch die Befreiung der Frau erst möglich wird. Ihre Vorstellung der Befreiung ist damit direkt gekoppelt mit der Überwindung der »Natur der Frau« 26.
26 Firestone beruft sich in ihrem Entwurf einer anderen Gesellschaft auf Simone de Beauvoir und materialistische Theorieansätze. Ihr Naturverständnis kommt dabei nicht über die materialistischen Klassiker hinaus: Die Überwindung der Natur führt bei ihr zur Befreiung der Frau.
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Was 1970 noch als Zukunftsvision gegolten haben muss, findet immer mehr seine Umsetzung in den Laboren. Insofern kommt Firestone eine fast visionäre Rolle zu, wenn sie bereits von der künstlichen Gebärmutter spricht, an deren Entwicklung Forscherteams heute arbeiten (vgl. Knight 2002; Schoberer et al. 2012). Firestones Entwurf für eine andere Form der Gesellschaft, in welcher die Unterdrückung der Frau durch die Möglichkeiten der Reproduktionstechnologien aufgehoben werden kann, bildet einen imposanten Beginn der Auseinandersetzung von Feministinnen mit der Reproduktionsmedizin. Ihre zentrale Absage an die Reproduktionsfähigkeit, die einhergeht mit einem nicht geringen Fortschritts- und Technologieoptimismus, hat aber auch eine Reihe von Kritik losgetreten, die die feministische Debatte letztlich bis heute prägt. Firestone wurde vorgeworfen, dass sie die Machtverhältnisse innerhalb der wissenschaftlichen Entwicklung vernachlässigt und damit die »repressive« Seite der Reproduktionsmedizin ausblende. Hilary Rose und Jalna Hammer fragen kritisch, warum Firestone gerade wissenschaftlichen Fortschritt als Verbündeten der Frau verstehe, da die Wissenschaft nicht nur eine Männerdomäne bilde, sondern eng mit nationalstaatlichen und ökonomischen Interessen verknüpft sei (vgl. Rose 1976: 107). Sie stellen die Entwicklung der Reproduktionsmedizin anstelle dessen in den Kontext von Reproduktionskontrolle auf der Ebene der Bevölkerung. Besonders Ökofeministinnen und marxistische Stimmen kritisierten an Firestone, dass sie das Besondere der weiblichen Natur nicht anerkennt bzw. die starke Verschränkung der Ausbeutung der Natur mit der Ausbeutung der Frau verkennt (vgl. Mies 1985; Merchant 1987). Nach dieser Argumentationslinie werden Reproduktionstechnologien eingesetzt, um männliche Vorherrschaft zu sichern, und bilden somit einen weiteren Punkt in der Unterdrückung der Frau. Bis heute repräsentieren diese beiden Einschätzungen der Reproduktionsmedizin die Spannungspole der feministischen Auseinandersetzung, wenngleich sich die theoretischen Begründungen und Bezugnahmen im Zuge des linguistic turn sowie sozialkonstruktivistischen, poststrukturalistischen und queerfeministischen Ansätzen geändert haben. Die Analyse der Reproduktionsmedizin und der damit einhergehenden Öffnung vormals statisch erscheinender natürlicher Grenzen basiert wesentlich auf dem Verständnis von Natur und Technologie, das hierbei zugrunde gelegt wird, und der Vorstellung der Materialität des Körpers. Und so ist die Frage nach der Natur des weiblichen Körpers und damit einhergehende Hierarchisierungen ins Zentrum der (feministischen) Diskussion gerückt. Ellen Kuhlmann und Regine Kollek schreiben in ihrem Buch »Die Konfiguration des Menschen« dazu:
68 | G ESCHLECHT IM Z EITALTER DER REPRODUKTIONSTECHNOLOGIEN »Wie die Zusammenhänge zwischen sozialen Konstruktions- und Konstitutionsprozessen und einer wie auch immer ausformulierten Materialität des Körpers zu denken und zu gestalten wären, diese Frage avanciert zum ›Grundsatzstreit‹ – nicht nur – in der feministischen Debatte. Die Heftigkeit, mit der insbesondere die Kontroversen um Judith Butler (1990, 1993) ausgetragen werden, verweist darauf, dass die Frage der Materialität des Körpers einen neuralgischen Knoten feministischer Theoriebildung tangiert.« (Kuhlmann/Kollek 2002b: 10)
Der technologie-euphorischen Position Firestones stehen Arbeiten gegenüber, die deutlich zeigen, wie Wissenschaft selbst in und an der Herstellung von Geschlecht beteiligt ist, und somit einen ungebrochenen Technikeuphemismus verunmöglichen. Gleichzeitig zeigen sie, dass ein Bezug auf die besondere Natur der Frau und die Vorstellung eines »natürlichen« Frauenkörpers höchst problematisch ist, und brechen damit auch mit ökofeministischen Positionen und weiten Teilen phänomenologischer Ansätze. Im Folgenden möchte ich Arbeiten vorstellen, die das Verhältnis von Wissenschaft, Geschlecht und Körper näher ausleuchten, und dabei aus drei unterschiedlichen Perspektiven analysieren, wie sich die Vorstellung eines geschlechtlichen Körpers etabliert. Als ersten Aspekt werde ich einen kurzen Ausblick auf historische Arbeiten geben, die untersuchen, wie unser modernes Körperverständnis entsteht und dabei (zumeist) auf ein diskursives Konzept von Körper rekurrieren. Als zweites folgen feministische Arbeiten im Umfeld der science and technology studies, die sich die Verbindung von wissenschaftlichen Praktiken und körperlicher Materialität ansehen. Den dritten Strang bilden Arbeiten, die den Bereich der Reproduktionsmedizin in den Fokus stellen und die Effekte der diagnostischen und technologischen Verfahren auf Frauen beschreiben. In den Bereichen der Wissenschafts- und Körpergeschichte sind eine Reihe von Arbeiten entstanden, in denen WissenschaftlerInnen nachzeichnen, wie sich zum Ende des 17. Jahrhunderts ein neues Verständnis des menschlichen Körpers herausbildet. Mit der Entwicklung der modernen Medizin und Anatomie wird der Blick ins Körperinnere möglich: Die Anatomie des Menschen, körperliche Abläufe, die Funktion von Organen oder die Entstehung von Krankheit können in neuer Weise bis in die Zellstruktur analysiert und definiert werden. Im Zuge der Professionalisierung der Medizin steigt diese zu der Disziplin auf, die als einzige gültiges und objektives Wissen über unsere Körper generieren kann und sich damit gegen andere Disziplinen oder Berufsstände wie bspw. Hebammen durchsetzt (vgl. Duden 2002b). Der moderne Körper ist jedoch nicht nur angewiesen auf die Expertise der Medizin, er wird auch zu einem vergeschlechtlichten Körper. Mit Verweisen auf die Arbeiten von Foucault untersuchen die Auto-
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rInnen, wie sich ein neues medizinisches Wissen über den Körper etabliert, das zu einer »Biologisierung der Weiblichkeit« (Honegger 1989: 148) führt. Die Geschlechterdifferenz wird als biologische Grundlage und exklusives Unterscheidungssystem hervorgehoben und durch den Blick ins Körperinnere ebenso verfestigt, wie durch die konträre Bestimmung von Genitalen und die geschlechtsspezifische Bestimmung von physischen und psychischen Eigenschaften (vgl. bspw. Foucault 1977; Duden 1987; Honegger 1989; Laqueur 1990; Klöppel 2010; Voß 2010). 27 Butlers radikale Absage an eine biologische Grundlage von sex siedelt sich somit im Kontext von einer Reihe von Arbeiten an, die die Vorstellung eines natürlichen Gewordenseins des geschlechtlichen Körpers hinterfragen und stattdessen herausarbeiten, dass unser modernes Körperverständnis ein soziohistorisches und kulturell spezifisches Verständnis darstellt. Als gemeinsame These der Arbeiten lässt sich zusammenfassen, dass wir – unabhängig von dem historischen Gewordensein – unsere Körper als geschlechtliche verstehen und unser Erleben von Körperprozessen unhintergehbar durch medizinische Erklärungen und Atlanten geprägt ist. Somit ist das, was wir am Körper als natürlich verstehen, immer schon geprägt durch diskursive Praktiken und Wissensbestände (der Medizin). Als Reaktion und Kritik ist eine Debatte um die Frage entstanden, ob Geschlecht etwas ist, was nur diskursiv hergestellt und performt wird, oder nicht doch biologische Grundlagen die Unterscheidung in weibliche und männliche Körper begründen. 28
27 Die neueren Arbeiten von Ulrike Klöppel und Heinz-Jürgen Voß relativieren dabei die Beschreibung einer eindeutigen Durchsetzung des Zwei-Geschlechter-Modells in der Medizin, wie es von Laqueur vorgestellt wurde. So zeigt Klöppel am Beispiel von Intersexualität auf, dass sich die Medizin im 17./18. Jahrhundert zur Beschreibung von Intersexualität sowohl auf ein Kontinuum- als auch ein Differenzmodell von Geschlecht bezogen hat (vgl. Klöppel 2012). 28 Theoretikerinnen wie Gesa Lindemann, Paula Irene Villa und Ulle Jäger versuchen in ihren Ansätzen, das diskursive Verständnis von Körper um die Ebene des Leibes zu erweitern und damit vor allem die Ebene der Körpererfahrung und des Körperfühlens mit einzubeziehen. Sie greifen dabei auf phänomenologische Ansätze – hier vor allem Plessner – zurück. Die Differenzierung in Körper haben und Leib sein nimmt die Kritik an sozialkonstruktivistischen und poststrukturalistischen Ansätzen auf. Sie verweist auf eine Materialität und Erfahrungsebene des Körpers, die nicht beliebig variabel ist und eine Eigendynamik besitzt. Hierdurch soll das eigene Verständnis/Fühlen des Körpers auch theoretisch fassbar gemacht werden. Im Bereich der Biomedizin wird das leibliche Erleben als eine Stellschraube gegen die Instrumentalisierung des
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Auch im zweiten Feld der science and technology studies sind eine Reihe von Arbeiten angesiedelt, die die Verschränkung von wissenschaftlicher Praxis und einem geschlechtlichen Körperverständnis zeigen. Die Anthropologin Emily Martin zeigt in ihrer Analyse wissenschaftlicher Texte und Bücher, die für das Medizinstudium genutzt werden, dass die Beschreibungen von Eizellen und Spermien mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen einhergehen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass »the picture of the egg and the sperm drawn in popular as well as scientific accounts relies on stereotypes central to our cultural definitions of male and female« (Martin 1991: 485). In ihrer Analyse kann sie zeigen, dass der Eizelle feminine Charakteristika zugeschrieben werden, so wird sie als »large and passive« (ebd.: 489) beschrieben, während die Eigenschaften des Spermiums mit »streamlined«, »active« und »strong« angegeben werden (ebd.). Auch Fausto-Sterling untersucht in »Sexing the Body« (2000) am Beispiel von Intersexualität die Bemühungen der Medizin, Intersexualität in ein Modell der Zweigeschlechtlichkeit ein- und anzupassen. Intersexualität wird als ein medizinisches Problem gefasst, dass als Abweichung von der Norm zu männlichem oder weiblichem Geschlecht beschrieben wird und mit chirurgischen Eingriffen und/oder der Gabe von Hormonen behandelt wird. Medizinische und wissenschaftliche Praktiken zielen somit darauf, abweichende Geschlechtsformen an die zwei Geschlechter anzupassen und in dem etablierten Rahmen von Zweigeschlechtlichkeit intelligibel zu machen. Ähnlich argumentiert Nelly Oudshoorn, wenn sie untersucht, wie der hormonelle Geschlechtskörper entsteht, der über weibliche und männliche Hormone differiert wird (Oudshoorn 1994). Die Autorinnen beschreiben somit einerseits, wie wissenschaftliche Praktiken von einer dichotomen Vorstellung von Geschlecht geprägt sind und Ge-
Körpers eingesetzt. So liegt gerade in der Differenz zwischen einer genetischen bzw. medizinischen Beschreibung des Körpers und dem eigenen sinnlich-subjektiven Erfahrungen des Selbst für Regine Kollek die entscheidende Perspektive für einen Widerstand gegen die Humangenetik (vgl. Kollek 2002a: 119f.). Anders als in cyberfeministischen und netzwerktheoretischen Ansätzen zieht die Unterteilung in somatischen Komplex einerseits und Ort des Körperwissens andererseits im Körper aber zugleich eine Trennscheide ein, die zu der Kritik einer erneuten Essentialisierung geführt hat. Auch wenn sich die Autorinnen gegen eine essentialistische Lesart des Leibbegriffes sperren würden, bringt meines Erachtens bereits das Vokabular die Präsenz eines vor- bzw. außerdiskursiven mit sich. Die Differenzierung in Körper haben und Leib sein legt die Ebene der Affekte und des Spürens des Körpers als das Eigene des Körpers bzw. des Leibes nahe, während die diskursiven Einschreibungen den Körper bzw. das Körperwissen betreffen.
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schlecht dabei bis in die Mikrobiologie unserer Körper eingeschrieben wird, sie verweisen jedoch zugleich auf Ambivalenzen in diesen Prozessen. FaustoSterling nimmt die Absage Butlers an eine biologische Grundlage von Geschlecht zum Anlass, deutlich zu machen, dass Geschlecht auch biologisch keineswegs eine eindeutige bzw. zweideutige Kategorie ist. Mit Verweis auf Intersexualität oder widersprechende Tests zur Geschlechtsbestimmung betont sie, dass das Zweigeschlechtermodell den biologischen Grundlagen des Körpers nicht gerecht wird (vgl. Fausto-Sterling 1992, 2000). Als Biologin betont sie die Notwendigkeit, sich mit der Biologie zu beschäftigen, diese ist bei ihr nur deutlich heterogener als es eine dualistische Perspektive zulässt. Sie lädt dazu ein, Körper als sich etwas Entwickelndes zu verstehen und den Dynamiken zu folgen, die sich aus dem Zusammenspiel von Körpern, Wissenschaft und soziohistorischer Situation ergeben (Fausto-Sterling 2012: XIII). Bei Fausto-Sterling müssen technologischer Fortschritt und wissenschaftliche Forschung somit nicht zwangsläufig zu weiteren Festschreibungen führen, sie könn(t)en ganz im Gegenteil alternative Vorstellung von Geschlecht fördern: »Gender systems change. As they transform, they produce different accounts of nature. Now at the dawn of a new century, it is possible to witness such change in the making. We are moving from an era of sexual dismorphism to one of variety beyond number two. We inhabit a moment in history when we have the theoretical understanding and practical power to ask a question unheard of before in our culture: ›Should there be only two sexes?‹« (Fausto-Sterling 2000: 77)
Die dritte Perspektive lenkt den Blick auf die Reproduktionsmedizin selbst. In empirischen Arbeiten zeigt sich, dass die Sorgen vor einem objektivierenden Zugriff auf Frauen und Frauenkörper durch die Reproduktionsmedizin durchaus berechtigt sind: Die Reproduktionsmedizin führt Frauen in die hierarchische Struktur der Medizin, in der sie auf Expertenwissen angewiesen sind. In dieser werden sie mit weitreichenden diagnostischen und technologischen Möglichkeiten der Kinderwunschbehandlung und Schwangerschaftsvorsorge konfrontiert. Rayna Rapp hat darauf verweisen, dass Frauen sich dabei häufig mit Entscheidungen zum Umgang mit Technologien konfrontiert sehen, die gesellschaftlich selbst noch umstritten sind, und so zu »moralischen Pionierinnen« (Rapp 1987) werden. So bringen Verfahren wie die Fruchtwasseruntersuchung nicht nur neues Wissen, sondern auch Entscheidungskonflikte mit sich, in denen sich Frauen zu der Beschaffenheit des Fötus verhalten und darüber entscheiden müssen, die Schwangerschaft abzubrechen oder fortzusetzen. Rapp verortet die Amniozentese als Teil reproduktiver Technologien in einem Feld der »stratified
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reproduction« (Rapp 1999: 312) und setzt damit die technologischen Möglichkeiten zur diagnostischen Kontrolle während der Schwangerschaft in den weiteren Kontext sozialer und gesellschaftlicher Hierarchieverhältnisse. »Stratified reproduction is reproducing far more than individual babies: It is a lens through which we can see how representations of pregnancy and parenting, gender relations, socioeconomic futures and collective as well as familial aspirations for the next generation are also being reproduced.« (Rapp 1999: 311)
Die Reproduktionsmedizin und gerade ihre diagnostischen Möglichkeiten führen demnach zu spezifischen Repräsentationen und Wissensformen der Schwangerschaft. Einen zentralen Aspekt bildet dabei der Umgang mit dem Risiko. Nicht nur hat sich das Erleben der Schwangerschaft »Vom Schwangergehen in ›guter Hoffnung‹ zur Schwangerschaft als Risiko-Management«, so ein Vortragstitel von Barbara Duden, gewandelt. Die Diagnostik in der Schwangerschaft geht mit einem hohen Maß an Verunsicherungen einher, das paradoxerweise gerade aus den Möglichkeiten zur frühen Diagnostik von Krankheitsrisiken entsteht. Thomas Lemke zeigt, wie über die vermeintliche Sicherheit, die genetische Testverfahren versprechen, Risiken produziert werden. Er beschreibt, wie sich im Zuge der Genetifizierung der Gesellschaft eine »Regierung der Risiken« (Lemke 2000: 230) herausbildet, die die Subjekte zu einem vorsorgenden Umgang mit ihren Risiken anleitet. Über die Angebote der genetischen Diagnostik in der Schwangerschaft werden Frauen dazu angerufen, sich über ihr Risiko zu informieren und sich verantwortlich zur genetischen Beschaffenheit ihres Nachwuchses zu verhalten (ebd.: 255). Die Arbeit von Silja Samerski macht deutlich, wie ein verantwortungsvoller Umgang aussehen sollte. In ihrer Beobachtung von genetischen Beratungssituationen zeigt sie, wie Frauen und Paaren das Krankheitsrisiko ihres Kindes mittels statistischer Berechnungen vermittelt wird. Sie beschreibt auch, wie ihnen dabei die Verantwortung zugewiesen wird, einen vernünftigen Umgang mit dem Risiko zu wählen, der zumeist die Entscheidung für ein Testverfahren inkludiert (Samerski 2002). Mit der Etablierung und Standardisierung von pränatalen (genetischen) Diagnoseverfahren verbindet sich der Appell an Schwangere und Paare, sich möglichst früh über die Beschaffenheit des Embryos zu informieren, und es wird nahezu unmöglich, sich nicht zu diagnostischen Verfahren zu verhalten (vgl. auch Duden 2002a; Waldschmidt 2002; Mahjouri 2004; Lowry 2004; Williams et al. 2005; Lindner 2010; Sänger et al. 2013). Neben der Etablierung von diagnostischen Verfahren erschließen reproduktionsmedizinische Verfahren den weiblichen Körper in neuer Weise. Adele
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Clarke untersucht, wie sich die Reproduktionsmedizin im letzten Jahrhundert als neue Disziplin etabliert, und erklärt den Erfolg gerade durch die Verbindung von Kontrolle und Ermöglichung von Reproduktion (Clarke 1990, 1998). Frauen bzw. Frauenkörper bilden für Kontrazeptiva und künstliche Befruchtung die Zielpunkte reproduktionsmedizinischer Eingriffe (Clarke 1998: 276). Sie beschreibt am Beispiel von Kontrazeptiva, wie die Sexualität von Frauen und ihre Reproduktionsfähigkeit medikalisiert und in ein technisches Problem überführt werden, das von Experten zu lösen ist. Dabei wandelt sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts das Verständnis von Kontrazeptiva von der Geburtenkontrolle zur Familienplanung und legt somit eine Weiche für die argumentative Anschlussfähigkeit der Kinderwunschbehandlung (vgl. ebd.: 204). Clarke betont, dass sich die individuelle Entscheidung für oder gegen ein Kind mit bevölkerungspolitischen Aspekten verbindet und die Reproduktionsmedizin quasi mitanleitet, wann und unter welchen Umständen Kinder erwünscht sind (vgl. ebd.). Sie bestimmt Reproduktionsmedizin in Anschluss an Foucault als disziplinäre Technologie (ebd.: 205). Auch Dorothy Roberts leuchtet die Differenzen in den Anrufungen zur Reproduktion auf und verweist darauf, dass sich hochtechnologisierte, ausdifferenzierte Reproduktionsbehandlungen und kaum ausreichende hygienische Bedingungen für einen Kaiserschnitt zeitgleich gegenüber stehen. Unterschiede in den Möglichkeiten und Aufforderungen, Kinder zu bekommen, sowie die dafür vorgesehenen medizinisch-technologischen Verfahren würden ein »reproductive caste system« (Roberts 2009: 784) abbilden, in dem weiße Frauen eindeutig bevorzugt würden. 29 Michelle Murphy beschreibt ähnliche Entwicklungen am Beispiel der Erwartung, dass mit besserer Bildung von Frauen und Mädchen die Geburtenrate in postkolonialen Gesellschaften sinkt. Sie zeigt, wie sich in diesem »girl effect« die Vorstellung einer Ökonomisierung des Lebens in Form der Förderung von Humankapital mit Konzepten der Familienplanung verbinden, so dass eine niedrige Geburtenrate als Ausdruck einer hohen
29 Dass sich gerade im Bereich der Reproduktion rassistische und sexistische Ideologien finden lassen sowie Distinktionen, welche Frauen Kinder bekommen soll(t)en, überrascht wenig. Maria Mies zeigt dies bereits 1987 auf (vgl. Mies 1987). Eine aktuelle Form dieser »Bevölkerungspolitik« stellt Susanne Schultz vor. Sie arbeitet für den bundesdeutschen Kontext heraus, dass die Einführung des Elterngeldes von normativen Modellen der Familie begleitet wird. So sollen auf der einen Seite Frauen mit hohem Ausbildungsniveau dazu animiert werden, sich für Kinder zu entscheiden, und finanzielle Ausfälle durch das Elterngeld abgemildert werden, während auf der anderen Seite Frauen in der Arbeitslosigkeit und mit niedrigem Lohnniveau deutlich weniger Anreize geboten werden (vgl. Schultz 2012).
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gesellschaftlichen Produktivität gilt (vgl. Murphy 2011: 30f.). Mit dem Begriff der »distributed reproduction« (ebd.) verbindet sie körperliche Aspekte der Reproduktion mit gesellschaftlichen Ökonomisierungsprozessen. Sie betont, dass Reproduktion nicht auf eine Fähigkeit von (menschlichen) Körpern reduzierbar sei, sondern sich in »reproduktiven Formationen« vielmehr zeige, dass Reproduktion durch gesellschaftspolitische, ökonomische und technologische Entwicklungen geprägt ist (vgl. ebd.: 27). In diesen zumeist an Foucault anschließenden Perspektiven liegt ein Schwerpunkt darauf, wie sich durch technologische und medizinische Entwicklungen das Wissen um Schwangerschaft und die Beschaffenheit des Embryos verändert. Sie verknüpfen den Wandel im Erleben und Verständnis von Schwangerschaft durch genetische Diagnostik mit neuen Formen der Verantwortung und Selbstführung und beschreiben die Etablierung der Technologien als Prozesse der Normalisierung und Normierung. Die Ansiedlung der Reproduktionsmedizin im Feld von Gouvernementalität und Biopolitik ermöglicht die Analyse von Verschiebungen und Transformationsprozessen im Diskurs und betten diese deutlich in Machtstrukturen und Hierarchieverhältnisse ein. Mit dem Fokus auf der diskursiven Durchsetzung neuer Körpermodelle liegt der Schwerpunkt jedoch nicht auf der konkreten Aushandlung des Verhältnisses von Natur, Technologie und Körper sondern auf den diskursiven Auseinandersetzungen um jene. So betonen diese Ansätze zu Recht die normierenden Aspekte der Reproduktionsmedizin, vernachlässigen damit aber andererseits auch Potentiale für neue, alternative Vorstellungen von Schwangerschaft und Reproduktion. Wieder etwas anders liegt der Fokus in ethnografischen Arbeiten, die an die science and technology studies anschließen. Dort liegt ein Schwerpunkt darauf, wie sich durch die neuen Reproduktionstechnologien die Begriffe von Familie und Elternschaft verändern und neue Formen der Verwandtschaft entstehen. Marilyn Strathern hat mit Bezug auf die englische Gesellschaft hinterfragt, wie sich Verwandtschaft verändert, wenn sie die Folge von bewusst zu fällenden Entscheidungen in medizinischen Verfahren von Reproduktionsprozess wird (vgl. Strathern 1992: 34). Sie verbindet diese Frage mit einer grundsätzlichen Kritik an der tradierten Vorstellung einer »natürlichen Familie« (i.O. natural family) und biologischer Elternschaft, über die soziale Beziehungen naturalisiert würden. Sarah Franklin nimmt Stratherns Analyse auf, nach der »natürliche Verwandte« immer schon einen Hybriden bilden, der sich aus biologischen und sozialen Verwandtschaftsverhältnissen zusammensetzt (vgl. Franklin 1995: 178), und untersucht an unterschiedlichen Beispielen von der Präimplantationsdiagnostik bis zum Klonschaf Dolly, wie neue Verwandtschaftsbeziehungen und Arten entstehen und dabei die Grenzen zwischen Natur und Kultur überschreiten.
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Franklin folgt in ihren Arbeiten diesen Veränderungen und fragt, »what happens to sex, breeds, species, and reproduction when genealogy is retemporalized and respatialized« (Franklin 2007: 33). Ihre Arbeiten sind geprägt von einer theoretischen Mischung aus poststrukturalistischen Anschlüssen an Foucaults Überlegungen zu Biopolitik und Gouvernementalität und Ansätzen aus den STS und feministischen Wissenschaftstheorien. So beschreibt sie einerseits die Gestaltung der Reproduktionsmedizin als eine neue Form der genetischen Gouvernementalität (i.O. new genomic governmentality), die Fragen der Reproduktion unter die Prämissen der Überwachung und Steuerung von »Leben« ordnet (Franklin et al. 2000: 189). Die Entwicklung der Gentechnologie führt demnach zu einer Genetisierung der Biologie, in Folge derer sich die Genetifizierung und Individualisierung der Natur bzw. unserer Körper beobachten lasse (vgl. ebd.: 189). Für den Bereich der Reproduktionstechnologien zeichnet Sarah Franklin nach, wie Entscheidungen individualisiert werden. So beschreibt sie, wie sich die Präimplantationsdiagnostik in den Gesprächen von Ärzten, Klinikpersonal und Paaren mit Kinderwunsch von einer diagnostischen genetischen Technologie zu einer individuell und bewusst zu fällenden Entscheidung im Rahmen von Reproduktionsfragen wandelt (vgl. Franklin 2003: 76). 30 Wie Franklin betont, werden in der Beschreibung und Durchführung der PID das abstrakte technische Verfahren mit der intimen Entscheidung im Reproduktionsprozess verknüpft, ein Prozess, den sie als Sozialisierung der PID definiert (vgl. ebd.). Technologien wie die PID führen zu einer Um- bzw. Neuformung der menschlichen Reproduktion, indem sie »Unsicherheit in Wissen, Unsichtbarkeit in Form und genetische Risikokalkulationen in klinische Entscheidungen darüber, welcher Embryo transferiert wird« (ebd.: 81, Übersetzung MR), verwandeln. 31 Trotz dieser scheinbaren Überführung von Unsicherheiten in Sicherheiten charakterisiert Franklin reproduktive Technologien als »hope technologies« (Franklin/Roberts 2006: 213), da sie nur die Möglichkeit auf zukünftige Kinder versprechen (können). Hier zeigt sich zudem ein Bruch zwischen dem statistischen Erfassen von Erfolgsquoten
30 Auch Charlotte Ullrich zeigt in ihrer Arbeit zur reproduktionsmedizinischen Praxis in Deutschland, wie der Wunsch nach einem Kind im Rahmen der Erstgespräche in Reproduktionskliniken in ein medizinisch behandelbares Problem überführt wird, an dessen Lösung die Paare aktiv mitarbeiten (sollen). Sie beschreibt, wie sich durch Ratschläge zu einer gesunden Lebensführung und Verhaltensänderung die medizinische Behandlung des Kinderwunsches ausweitet und die »Lebenswelt [der Paare, M.R.] weitgehend medikalisiert« (Ullrich 2012: 29) wird. 31 Im Orginal lautet das Zitat: »[…] uncertainty into knowledge, invisibility into form, and genetic risk ratios into clinical decisions about which embryo to transfer.«
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der Kliniken und dem singulären und absoluten Ergebnis für prospektive Eltern (ebd.). Andererseits ermöglichten die neuen Reproduktionstechnologien jedoch auch ganz neue Genealogien, da sie die Verknüpfung von Reproduktion von Sexualität lösen und darüber hinaus den Raum für Vorstellungen von Familie jenseits der tradierten Kleinfamilie öffnen (vgl. Franklin et al. 2000; Franklin 2003). In-vitro-Fertilisation, Stammzellforschung und andere Verfahren aus dem Bereich der Reproduktionsmedizin und Embryonenforschung stehen dabei nicht nur für die Behandlung von KinderwunschpatientInnen, sie haben auch zu einem vermehrten Wissen und zunehmender Akzeptanz für Hybride und neue Verwandtschaftsverhältnisse geführt (vgl. Beck 2007; Franklin 2012; Knecht et al. 2012: 18f.). Franklin betont, dass es gerade mittels technologischer Möglichkeiten wie IVF oder PID möglich werde, einen Begriff von »natürlicher Reproduktion« aufzubrechen und dabei deutlich zu machen, dass »natürlich« oder »biologisch« hier immer auf eine sozial gesetzte Norm verweisen, für die sie den Begriff der »bionormativity« (Franklin/Roberts 2006: 176) einführt. 32 Dieser zweiten Perspektive gehen bspw. auch Charis Thompson und Laura Mamo nach (Thompson 2005; Mamo 2007). Sie untersuchen den Umgang mit und die Aneignung der Reproduktionsmedizin von homosexuellen, vorrangig lesbischen, Paaren. Thompson arbeitet dabei heteronormative Setzungen des Personals in US-amerikanischen Reproduktionskliniken heraus, die eine stabile, heterosexuelle Beziehung als Standard setzen. Um an dieser Setzung festhalten zu können, würde im Umgang mit homosexuellen Paaren oder Alleinerziehenden die Frage der sexuellen Orientierung und Partnerschaft explizit ausgeklammert (vgl. Thompson 2005: 86). Des Weiteren zeigt Thompson geschlechtsspezifische Setzungen im Rahmen reproduktionsmedizinischer Behandlungen auf. Sie macht deutlich, dass die Kinderwunschbehandlung zwar als Behandlung des Paares kommuniziert wird, aber zentral am Körper der Frau ansetzt. Neben der Markierung des Frauenkörpers nach Alter und ethnischer Herkunft werden dabei Zuschreibungen und Definitionen von (einer guten) Mutterschaft vorgenommen (vgl. ebd.: 145ff.). Auch der Prozess der Samenspende ist neben der Kategorisierung nach der Herkunft mit Männlichkeitsvorstellungen verknüpft, die bis zum Applaus für eine erfolgreiche Samenspende reichen können. Thompson zeigt in ihrer Arbeit, dass die Geschlechterkategorien in den Behandlungsprozessen ausgehandelt und mit Bedeutung gefüllt werden. In ihrer Analyse führt der
32 Franklin definiert bionormativity als das, »what is considered to be biologically normal« (Franklin/Roberts 2006: 176).
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Aufbruch einer »natürlichen Reproduktion« zu einer erneuten Naturalisierung und damit verbunden einer Normalisierung der Reproduktionsmedizin: »One way to stabilize shifting notions of what is natural and normal around reproduction is to compensate with extremely conservative or stereotypical – parodic – understandings of sex, gender, and kinship.« (Thompson 2005: 142)
In ihren Interviews mit KinderwunschpatientInnen wird deutlich, dass die Konzepte von Elternschaft bzw. die Gewichtung von sozialer und biologischer Elternschaft eng mit der eigenen Situation verknüpft sind. Je nachdem, wie sich die Zusammensetzung der »biologischen Bauteile« in der Kinderwunschbehandlung gestaltet, ob dabei bspw. die eigene Eizelle oder eine Eizellspende genutzt werden, lassen sich mehr oder weniger starke Verweise auf die Prägung durch die biologischen, genetischen Grundlagen oder wahlweise die soziale Umwelt finden. 33 Thompson beschreibt dies als eine »strategische Naturalisierung« (Thompson 2001). Ihrer Analyse nach zeigt sich in den Aushandlungsprozessen von der Bedeutung der biologischen und sozialen Elternschaft, dass Natur und Kultur hier als ein ko-produktives Verhältnis beschrieben werden müssen, da sich diese weder zur Seite des Sozialen noch des Biologischen auflösen lassen, sondern sich vielmehr zwischen den Polen von Natur und Kultur spannen (Thompson 2005: 176). Die feministischen Arbeiten zu Reproduktionsmedizin und Geschlecht zeigen, dass die Bestimmung dessen, was am (Frauen-)Körper und an der Fortpflanzung als »natürlich« gilt, keinesfalls selbstverständlich ist. So unterschiedlich die theoretischen Hintergründe der Ansätze sind, sie führen auf die eine oder andere Weise immer wieder zu der Frage nach dem Verhältnis von Natur, Technologie und (Frauen-)Körper zurück. Im Bereich der Biomedizin, und besonders in der Reproduktionsmedizin, bildet die Frage nach der Materialität unserer Körper aber auch der wissenschaftlichen Praktiken und medizinischen Verfahren den Nexus, in dem die verschiedenen Aspekte und Perspektiven zusammenlaufen. Donna Haraway setzt an dieser Schnittstelle an. Ihre Arbeiten bieten einen theoretischen Rahmen für die Analyse von Geschlechterverhältnissen in der Biome-
33 Thompson hat Frauen interviewt, die sich im Prozess der Schwangerschaft befinden oder eine Leihmutter darin begleiten. Dabei gibt es unterschiedliche biologische Settings: Erstens Leihmütter, die mit der eigenen Eizelle oder der Eizelle der zukünftigen Mutter schwanger sind, und zweitens Schwangere, die eine Eizellspende genutzt haben (vgl. Thompson 2001).
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dizin und Gestaltungsräumen in den Transformationsprozessen, den ich im Folgenden vorstellen möchte.
3.2 Z UM V ERHÄLTNIS VON N ATUR , T ECHNOLOGIE K ÖRPER BEI D ONNA H ARAWAY
UND
Als Donna Haraway »A Cyborg Manifesto« (1985) veröffentlicht, schafft sie damit eine theoretische »Kultfigur« der feministischen Wissenschafts- und Technikforschung. Sie publiziert ihr Manifest ein Jahr nachdem Arnold Schwarzenegger in »Der Terminator« einen Androiden aus der Zukunft verkörpert und mit dieser Figur das mediale Bild des Cyborgs als Mischwesen von kybernetischen und menschlichen Körperbauteilen langfristig prägt. Haraway setzt eine Figur der Cyborg entgegen, die sich nicht durch Muskelkraft und Männlichkeitsperformance auszeichnet, sondern vielmehr durch die Verbundenheit mit ihrer Umwelt und einem Bewusstsein für die eigene Verletzlichkeit. Ihr hybrider Charakter ist nicht übermenschlich, sondern symbolisiert heutige Lebensverhältnisse, in denen menschliche Körper, Lebens- und Arbeitsbedingungen zutiefst mit Technologie verstrickt sind und sich gegenseitig bedingen. Das Cyborg-Manifest charakterisiert Haraways Arbeitsweise: Es ist nicht nur ein sehr politischer Text, wie der Begriff des Manifests deutlich macht, sondern es ist eine Art Gegenerzählung für den Umgang mit Technologie. Haraways Texte sind besiedelt von Mischwesen aus science fiction, mythischen Sagen und indianischen Märchen. Neben der Cyborg lernen wir trickster und Koyoten, aber auch Chimären wie die OncoMouse kennen. Sie stehen für den Versuch von Haraway, eine neue Erzählung zu beginnen, in der sie die üblichen Dualismen hinter sich lässt und anstelle dessen eine ko-produktive Perspektive auf Natur und Technologie entwickelt. Ähnlich wie Latour bemüht sich Haraway um Verbindungspunkte anstelle von Grenzziehungen. Ihre Theorieperspektive weist aber zugleich deutlich über die ANT hinaus. Die für diese Arbeit zentralen Differenzen möchte ich im Folgenden herausarbeiten: Erstens die Situierung des Wissens und der ForscherInnen und zweitens die Ko-Produktion von Natur und Gesellschaft unter Einbeziehung der Kategorie Geschlecht und des Begriffs der Verantwortung. Neben theoretischen Differenzpunkten unterscheiden sich die Arbeiten Haraways zentral durch ihren offen politischen Charakter: Haraway versteht Wissenschaft machen nicht nur analytisch als eine Form der Politik, Wissenschaft ist bei ihr eine politische Praktik, und dies wird sowohl in ihrer Schreibweise als auch in Bezugnahmen auf konkrete politische Bewegungen wie die der women of color und die Frauenbewegung deutlich. Ihr Ziel ist dabei nicht
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weniger als eine »bessere Darstellungen der Welt, d.h. ›Wissenschaft‹« (Haraway 1995e: 90). 3.2.1 Where are we now? Zur Verortung von Wissenschaft und Wissensproduktion Donna Haraways Arbeiten siedeln sich in den Feldern der science and technology studies und feministischen Wissenschaftskritik an. Sie untersucht wissenschaftliche Praktiken auf ihre grenzziehenden Effekte und beschreibt dabei, wie Geschlecht in diesen Praktiken verankert ist. Haraway teilt die Annahme, dass Wissenschaft nicht objektiv ist, wenn Objektivität als die neutrale Erkenntnis von Naturgesetzen verstanden wird. Sie bezieht sich einerseits auf Arbeiten von Sandra Harding und ihren Ansatz der standpoint theory, andererseits auf science and technology studies, hier vor allem auf die Arbeiten der Akteur-NetzwerkTheorie. In den Standpunkttheorien werden die Wissensproduktion durch wissenschaftliche Praktiken und der Begriff der Objektivität kritisch hinterfragt. Harding und andere verweisen darauf, dass gerade über das obige Verständnis von Objektivität reale gesellschaftliche Machtverhältnisse ausgeblendet werden, die Wissenschaft mit prägen (vgl. Harding 1994; Schiebinger 2001; Harding 2004). Harding fordert eine neue Form der Objektivität, in der die soziale Verortung der Wissenschaft mit bedacht wird (Harding 1994: 159). Erst die Anerkennung des eigenen historischen, soziologischen und kulturellen Relativismus von Wissenschaft sowie die explizite Förderung von kritischer Wissenschaft ermögliche so etwas wie Objektivität. Harding dreht also die Forderung nach einer neutralen und objektiven Forschungsperspektive um und betont, dass im Gegenteil erst dann eine Form der Objektivität erreicht werden könne, wenn die subjektiven Bedingungen und soziale Verortung transparent gemacht werden. Hierfür führt Harding den Begriff der strengen Objektivität ein (vgl. ebd.: 165). Ihre zweite Bedingung für eine kritische Wissenschaft sind »integrierte Außenseiter« (ebd.: 167). Harding sieht bei Personen, die nicht durch Geschlecht und Herkunft privilegierte Wege in die Wissenschaft hatten, ein Potenzial für neue Perspektiven auf die Wissenschaft und ihre Ausschlusskriterien, vor allem aber für einen sensibleren Blick auf die normativen Setzungen, die mit einem einfachen Begriff der Objektivität einhergehen. Ihr Ziel ist eine Wissenschaft und Geschichte von »unten«, für die bei Harding besonders Frauen prädestiniert sind, da sie sozusagen als Verliererinnen im Geschlechterkampf keine Geschichte der Sieger erzählen können (vgl. ebd.). Die grundsätzliche Forderung der sozialen Verortung von Wissenschaft und die Kritik an der Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen durch eine entsubjektivierte Vorstellung von Objektivität überzeugen in Har-
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dings Ansatz, der jedoch an anderer Stelle seine Schwäche offenbart. Aus der marxistischen Theorie kommend, schreibt sie der Seite der »Schwachen« per se ein emanzipatives Potential zu und bestimmt so weniger privilegierte Standpunkte als diejenigen, die eine bessere Sicht und damit auch kritischere Wissenschaft versprechen. Haraway nimmt die Kritik an einer fehlenden Situierung der Forscherperson auf und folgt in ihrem Aufsatz »Situiertes Wissen« (Haraway 1995e) in vielen Punkten Sandra Harding. Sie betont die Notwendigkeit der Verortung von Wissensansprüchen: Wissenschaft in ihrer herkömmlichen Form der universalen Geltungsansprüche charakterisiert sie als Totalisierung, in der mittels der Distanzierung des Wissenssubjekts verdeckt würde, dass es sich immer um eine partiale Perspektive handelt bzw. handeln muss (ebd.: 84). Haraway nutzt Metaphern aus der Optik, um begrifflich zu fassen, wie diese partielle Perspektive zu gestalten sei. Sie beschreibt bisherige Wissenschaftspraxis als »göttlichen Trick, alles von nirgendwo sehen zu können« (ebd.: 81). Gegen diesen universalen Blick führt sie zwei Kritikpunkte an: Erstens schließt sie an die sozialkonstruktivistische und postmoderne Kritik an einer universalistischen Erzählung an. Beide haben erfolgreich universale Wahrheitsansprüche und Hierarchiestrukturen in der Wissenschaft hinterfragt und dabei aufgezeigt, dass Wissenschaft konstruiert, was sie zu entdecken vorgibt. Sie bekräftigt, dass in wissenschaftlichen Forschungsprozessen eine dualistische Perspektive vorherrscht, die das Andere markiert und als Abgrenzung zur Norm deutlich macht, während das universalistische Selbst unmarkiert bleiben konnte (vgl. ebd.: 87). Diese entsubjektivierte Perspektive auf Wissenschaft ermöglicht, dass für die Folgen des Erforschten keine Verantwortung übernommen werden muss. Zugleich resümiert Haraway, dass sozialkonstruktivistische und dekonstruktivistische Ansätze zwar erfolgreich Wissenschaft als männlich-hierarchisches Unternehmen kritisiert haben, dass dabei aber vernachlässigt wurde, selbst neue Ansätze für wissenschaftliches Arbeiten zu forcieren. So effektiv die Kritik gewesen sei, sie hat nach Haraway noch keinen ausreichenden Effekt auf Wissenschaft im Allgemeinen gehabt, da an den »Spieltischen« (ebd.: 77) der Wissenschaft – ungeachtet der bisherigen Kritik – weiter um die alten Wahrheiten gespielt würde. Hier bemüht sich Haraway mit ihrem zweiten Punkt anzusetzen: Sie bringt über die Metaphern der Optik und den Begriff der Vision die Netzwerkperspektive und den Körper in die Kritik mit ein. Haraway verweist darauf, dass wir die Welt nicht unverstellt oder ursprünglich sehen können, sondern sie uns vermittelt über technologische Artefakte wie die Fotolinse, das Mikroskop oder Teleskop erschließen (vgl. ebd.: 82f.). Unser Sehen ist bedingt durch technische Artefakte und moderne Wissensbestände. In dieser Metaphorik der Vision bleibend, be-
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schreibt Haraway die Sicht von einer partiellen Perspektive als breitgefächerter und heterogener als eine Sicht vom »göttlichen Standpunkt« aus. Der partielle Blick erlaubt es für Haraway nicht nur die eigene Position zu reflektieren, sondern auch ein Gespür für Hindernisse und Ausschlüsse zu entwickeln. Sie benutzt den Begriff der Diffraktion, also der Lichtbeugung, um diesen Aspekt deutlich zu machen: In der Optik tritt eine Diffraktion dann auf, wenn eine Lichtwelle auf ein Hindernis trifft und durch dieses umgeleitet wird. Haraway greift auf, dass dabei nicht nur das Hindernis deutlich wird, sondern eine Beziehung zwischen der Lichtwelle und dem Hindernis entstehe. Das Hindernis wirft das Licht nicht nur zurück, wie es bei einer Reflexion der Fall wäre, sondern lenkt den weiteren Verlauf des Lichtstrahls mit. »Diffraction is a mapping of interference, not of replication, reflection, or reproduction. A diffraction pattern does not map where differences appear, but rather maps where the effects of difference appear.« (Haraway 1992: 300)
Während der Begriff der Reflexion einen externen Standpunkt erlaube, verortet sich die Forscherperson mit dem Begriff der Diffraktion innerhalb (i.O. within) der Geschehnisse. Sie setzt sich nicht aus einer universalistischen Perspektive zusammen, sondern aus den Visionen von vielen und erlaubt somit einen dezentrierteren, heterogeneren und vollständigeren Blick. Nicht nur gibt es keine singuläre Perspektive aus der alles erkennbar ist, die Positionierungen der Sehenden ist hier auch notwendig, um das Bild vollständig zusammensetzen zu können. Das Bild der Vision und des Blicks markiert neben der sozialen Verortung auch, dass Wissenschaft durch körperliche Praktiken von WissenschaftlerInnen entsteht und damit immer an ein Subjekt und dessen Erfahrungen gebunden ist (vgl. Haraway 1995e: 89). Im Feld der Wissenschaftskritik bietet Haraway damit eine Ergänzung bzw. Erweiterung an: Sie bezieht nicht nur körperliche Erfahrungen mit ein, sondern definiert Körper bzw. hier die körperliche Praktik des Sehens als Produkt eines Netzwerkprozesses, an dem Wissenschaft und Technologie beteiligt sind. Somit füllt sie gleich zwei Leerstellen: Sie erweitert die STS um die Ebene des Körpers, und die feministischen Wissenschaftstheorien werden von Aktanten und Technologien bevölkert. Dass die Körper dabei immer Spuren der sozialen Verortung tragen und diese somit einen Teil der körperlichen Praktiken des Wissenschaftsmachens bilden, macht Haraway in all ihren Arbeiten explizit. Gerade an den markierten Körpern von Frauen, Kolonialisierten und Arbeitern, die von den unmarkierten und als Norm gesetzten weißen, männlichen Körpern abweichen, lässt sich die Konstruktion von Körpern durch Wissenschaft nachzeichnen:
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»The marked bodies of race, class, and sex have been at the center, not the margins, of knowledge in modern conditions. […] The biological body is historically specific; the biological organism is a particular cultural form of appropriation-conversation, not the unmediated natural truth of the body.« (Haraway 1989: 289)
Haraway sucht in »Situiertes Wissen« wie Harding nach einem Kriterium für eine bessere Wissenschaft und scheint dieses in der Reflexion der eigenen sozialen Position und Beteiligung an Forschungsprozessen zu finden. Indem der oder die WissenschaftlerIn selbst als Teil des Forschungsprozesses sichtbar wird, wird deutlich, dass sie an dem Prozess mitwirken und somit auch für die Ergebnisse der Forschung Verantwortung (mit)tragen. Auch sie führt an, dass eine Perspektive von unten eine bessere Sicht verspreche, warnt aber zugleich davor, diese allzu sehr zu romantisieren, da es keine unschuldige und eindeutige Position oppositioneller Geschichte gäbe (vgl. Haraway 1995e: 86). Eine kritische Vision ist bei ihr geprägt durch Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit sowie der Positionierung in einem »geschlechtsspezifisch differenzierten sozialen Raum« (ebd.: 90). Über den Körper verknüpfen sich dabei epistemologische Fragen danach, was wir erkennen und wissen können und wie Wissensprozesse gestaltet sind, mit ontologischen Perspektiven auf das (Er-)Leben von Menschen (vgl. ebd.: 89). Diese Konstellation wird noch deutlicher in Haraways späterem Buch »Modest_Witness« (Haraway 1997). Hier bezieht sich Haraway auf Karen Barad und ihre Begriffe von intra-action und agential realism, um auf die Verwobenheit von epistemischen und ontologischen Fragen zu verweisen (vgl. bspw. Haraway 2008: 165). Barad prägt in ihren Arbeiten den Begriff der Onto-Epistemologie, um die Verschränkung von Epistemologie und Ontologie zu verdeutlichen. Mit Bezug auf das Atommodel des Physikers Nils Bohr entwirft sie ein Modell des agential realism zur Beschreibung unserer Erkenntnis- und Seinsprozesse. Diese nehmen ihren Ausgang in Phänomenen, in denen ontologisch nicht trennbare, miteinander handelnde (i.O. intra-acting) Komponenten wirken (vgl. Barad 2003: 815). Erst durch einen »agential cut« findet innerhalb des Phänomens eine Grenzziehung statt, die bspw. zur Unterscheidung in Objekt und Subjekt führt. Ähnlich wie bei Latour sind Subjekt und Objekte also Ergebnisse eines Prozesses, hier des Phänomens anstelle des Netzwerkes. Anders als Latour verweist Barad jedoch darauf, dass es sich bei diesen Prozessen um materielldiskursive Praktiken handelt, die immer verkörpert sind. Oder, um in Barads Sprache zu bleiben, immer durch einen »apparatus of bodily production« (ebd.: 816) getragen sind. Haraway nimmt dieses Modell auf und beschreibt Realität
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nach Barad als die materiellen Konsequenzen von spezifisch gewählten Apparaten der körperlichen Produktion (vgl. Haraway 1997: 116). Haraways Vision einer guten und kritischen Wissenschaft verbindet damit epistemologische und ontologische Fragen. Sie lenkt die Perspektive auf materielle, semiotische und politische Praktiken und fordert eine kritische Reflexion der eigenen Forschungstätigkeit (vgl. Campbell 2004). Kirsten Campbell bestimmt Haraways Arbeit als eine politische Intervention in die science studies, in der sie über den Begriff der Praktiken eine andere Form der Repräsentation von Wissenschaft vorstellt (vgl. ebd.: 177). Da diese Praktiken immer als körperliche Praktiken gelesen werden müssen, bietet Haraway für den Bereich der Reproduktionsmedizin eine Alternative und Erweiterung, indem sie die Körper der Frauen in den medizinischen Anwendungen und technologischen Verfahren sichtbar werden lässt. Wissenschaft ist bei Haraway (zumeist) eine sprachliche Praktik, in der besonders über das Schreiben Bedeutungen generiert werden. Hier schließt sie explizit an Latours und Woolgars »Laboratory Life« (Latour/Woolgar 1986) an. Wissenschaftliche Diskurse prägen aber zugleich das alltägliche Leben, strukturieren unsere Körper und legen fest, was als Natur gilt, und sind damit ein Ausdruck von Macht (vgl. Haraway 1989: 289). Ihr Verständnis von Wissenschaft bricht somit mit tradierten Dualismen von Subjekt und Objekt und bestimmt wissenschaftliches Arbeiten neu. Diese Perspektive hat auch für die Bestimmung dessen, was wir als Natur verstehen, weitreichende Konsequenzen. Als Biologin untersucht sie verschiedene Bereiche der Naturwissenschaften und zeigt dabei auf, wie soziale Vorannahmen im Zuge des Forschungsprozesses naturalisiert werden. Im Folgenden möchte ich daher skizzieren, wie Haraway dieses Verhältnis bestimmt, welche Rolle Natur bei ihr spielt und wie wir mit Natur verbunden sind. 3.2.2 What are we now? – Zur Ko-Produktion von Natur und Gesellschaft Auf Haraways Weg zu einer anderen Gesellschaft und Wissenschaft steht an zentraler Stelle ein neues Verständnis von Natur und Gesellschaft. Und obwohl die Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft eine der wichtigsten Stellschrauben in Haraways Arbeiten darstellen, macht es ihr ironischer Schreibstil nicht immer ganz einfach, ihr Konzept genauer zu bestimmen. In den folgenden Abschnitten möchte ich daher versuchen, ihre Perspektive näher zu fassen (zu bekommen).
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Haraway untersucht in ihren Arbeiten das moderne Verständnis von Natur sowie dessen Wandel durch die Entwicklung der Gen- und Reproduktionstechnologien. In der Moderne ist das Naturverständnis dualistisch geprägt und die Natur bildet den Gegenpol zur Gesellschaft. Natur dient einerseits als Rohstoff für die Gesellschaft bzw. deren materielle Grundlage, andererseits aber auch als Erklärung und »Modell für menschliches Handeln« (Haraway 1995b: 376). Haraway stellt in ihren Arbeiten unterschiedliche Bereiche aus den (Natur-)Wissenschaften vor, in denen es gelungen ist, eine stabile Erzählung über die Geschichte der Natur zu etablieren (vgl. Haraway 1989: 4). In ihrer Analyse des Naturverständnisses und der Arbeitsweisen der Primatologie zeigt sie, wie die Primatologie den Rahmen einer ursprünglichen Natur und Ursprungsgeschichte absteckt, vor der sich die Menschheit entfaltet (ebd.). Ihre Untersuchung macht deutlich, dass sich in den Beschreibungen der Natur der Primaten eine Vielzahl historisch-spezifischer Zuschreibungen und Geschlechterstereotypen finden lassen. So gehen mit der Bestimmung des biologischen Verhaltens der Primaten zugleich Analogien von Weiblichkeit und der Natur der Frau einher. Wieder bleiben in dieser Erzählung die Positionen der Wissenschaftler unmarkiert und erheben so den (weißen) Mann und Wissenschaftler zum »eye of God« (ebd.: 9) und Ausgangspunkt für die Identität des modernen Subjekts. Die Arbeiten von Primatologinnen zeige jedoch, dass sich auch andere Ursprungsgeschichten erzählen lassen: In ihren Beschreibungen des Zusammenlebens von Primaten finden sich abweichende Perspektiven auf Sexualität und Reproduktionsverhalten. Statt geschlechtliche Arbeitsteilungen, männliche Dominanz und Konkurrenzverhalten als biologische Veranlagung zu naturalisieren, beobachten sie Fürsorge und Zärtlichkeit (vgl. ebd.: 279ff.). Am Beispiel der Primatologie wird deutlich, dass das, was als Natur gilt, nicht eindeutig ist, sondern vielmehr abhängig von ForscherInnenperspektiven und sozio-historisch spezifischen Setzungen ist. Haraway bemüht sich um alternative Ursprungsgeschichten, in denen sie das Verhältnis von Natur und Kultur, Mensch und Tier weniger hierarchisch und dualistisch beschreibt. Sie führt den Begriff der »companion species« (Haraway 2007), also der begleitenden Species oder Gefährten ein, um auf die Verbundenheit von Menschen und Tieren hinzuweisen und erweitert das Verständnis von Evolution von einem survival of the fittest zu einem der gegenseitigen Angewiesenheit. Als Beispiel dienen ihr vorrangig (Haus-)Tiere, die in vielfältiger Weise als unsere Gefährten fungieren und relevante Aufgaben im Alltag übernehmen, wenn sie als Blinden-, Rettungs- oder Hütehunde arbeiten (vgl. Haraway 2007, 2008). Haraway betont auch hier die Verbundenheit anstelle von Grenzziehungen. Das Hundetraining mit ihrer Hündin Cayenne dient als Beispiel dafür, wie sich Spezies als Gefährten treffen und in eine Kommunikation treten, die beide
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Seiten verändert und Vertrauen abverlangt (vgl. Haraway 2008: 221). Sie verweist darauf, dass wir von Beginn an von unserer Umwelt abhängig sind und mit ihr gemeinsam unsere Welt gestalten. Wieder kritisiert sie damit die Geschichte der Menschheit als eine Geschichte der Emanzipation des (männlichen) Menschen von der Natur, und beschreibt diese stattdessen als Ko-Evolution und KoDomestizierung und damit als das Produkt vieler und verschiedener Akteure: »[…] domestic arrangements between human beings and other animals as always the imposition of human domination, […] the history of co-domestication is a multispecies phenomenon. It’s not that we domesticated them and turned them into instruments for our ends, but these are co-evolutions of ourselves and other organisms we live with.« (Williams 2010: 161)
Der Begriff des Gefährten negiert dabei die Grenze zwischen Menschen und Tieren nicht, auch wenn Haraway die gegenwärtigen Grenzverläufe in Frage stellt. Sie verweist stattdessen auf die Asymmetrie im Verhältnis, die sich in einem unterschiedlich starken Aufeinander-angewiesen-Sein von Mensch und Tier zeige. So nehmen Menschen in diesem Verhältnis fast ausschließlich die Führungsposition ein, nichtsdestotrotz entstehe ein gutes Verhältnis von Mensch und Tier jedoch gerade aus einem bewussteren und verantwortlichen Umgang miteinander, der einen sensiblen Umgang mit den Hierarchieverhältnissen ausdrücke (vgl. Haraway 2008: 263). Die Beschäftigung mit Grenzverläufen zwischen Tier und Mensch und ihre Weise, die Erschließung der Natur durch Wissenschaft zu beschreiben, zeigt deutlich, dass Haraway ein dualistisches Verhältnis von Natur und Gesellschaft sowie die Vorstellung einer von der Natur emanzipierten Menschheit ablehnt. Begriffe der Ko-Evolution und Ko-Domestikation verweisen stattdessen darauf, dass sie dieses Verhältnis als einen netzwerkartigen Prozess beschreibt, an dem menschliche und nicht-menschliche Akteure teilhaben. Haraway selbst konstatiert, dass sich das tradierte Verständnis von Natur mit dem Aufkommen der technosciences zu wandeln beginnt. Durch biomedizinischen und (gen)technologischen Fortschritt würden die Grenzen zwischen natürlich/künstlich implodieren. Haraway lotet das Verwischen der Grenzen aus, betont aber zugleich, dass im gesellschaftlichen Verständnis die grundlegende Unterscheidung von Natur/Kultur nicht aufgehoben sei. Vielmehr sei es den Technowissenschaften gelungen, die Natur in ihrer Künstlichkeit und Herstellbarkeit wiederum zum Rohstoff einer »Naturalisierung der Technoscience« (Haraway 1995b: 376; Herv. i. O.) zu machen. So bildet Natur weiterhin die materielle Grundlage gesellschaftlicher Prozesse, ist aber zugleich zerlegbar, formbar und
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konstruierbar und damit nur noch anpassungsfähiger an die gesellschaftlichen Bedürfnisse. Am Beispiel des Embryos oder der OncoMouse zeigt sie, dass im Zuge der Technoscience Körper bis in die molekulare Ebene hin neu programmiert werden können und dabei Zugehörigkeiten zu Spezies nebensächlich werden (vgl. Haraway 1997: 79ff.). Die OncoMouse hat keinen ursprünglichen Körper, sondern bildet das Produkt eines Forschungsprozesses. Ihr wurde als Chimäre ein Brustkrebsgen eingepflanzt, um an ihr Wirkungsweise und vor allem Heilmittel für den Menschen zu erforschen. Indem sie patentiert werden kann, symbolisiert sie zugleich eine Verschiebung von der Gattung zur kommerzialisierbaren Marke mit Eigentumsrechten. Auch ihr natürliches Habitat bildet nicht die Natur, sondern das Labor. Somit verkörpert die OncoMouse auf allen Ebenen eine »nature of no nature« (Haraway 1997: 102), in der die Begriffe artifiziell und natürlich zusammenfallen. Und obwohl die OncoMouse im Labor und genetisch modularisierbar entsteht, stellt sie für Haraway kein passives Objekt im Forschungsprozess dar. Stattdessen wirke sie im Forschungsprozess mit und trage zu dessen Erfolg bei. So hat die Natur bzw. materielle Grundlage in den technosciences nach wie vor eine grundlegende Bedeutung. Sie bildet nicht nur den Rohstoff, den die technosciences formen, zerlegen und neu zusammensetzen, sondern ist vielmehr ein Kooperationspartner: »The corporatization of biology could not have happened if mice and molecules did not cooperate too, and so they and their kind were actively solicited to enter new configurations of biological knowledge.« (Haraway 1997: 96f.)
Während in den technosciences gerade aufgrund der künstlichen Machbarkeit die Beherrschungsfantasien über die Natur neu formuliert werden, setzt Haraway gegen die Vorstellung der Natur als Baukasten ein Bild der Natur als Agentin, die aktiv an der Aushandlung und Entstehung beteiligt ist. Sie charakterisiert das Verhältnis von Natur und Gesellschaft als eines der »Ko-Produktion«: »If the world exists for us as ›nature‹, this designates a kind of relationship, an achievement among many actors, not all of them human, not all of them organic, not all of them technological. In its scientific embodiments as well as in other forms nature is made, but not entirely by humans; it is a co-construction among humans and non-humans.« (Haraway 1992: 297)
Mit dem Begriff der Ko-Produktion bemüht sich Haraway, sowohl Probleme des Relativismus als auch der Essentialisierung zu umgehen. Sie betont, dass uns Natur nicht vordiskursiv zugänglich ist, sondern sich immer über Diskurse ver-
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mittelt darstellt. Ihr Begriff des Diskurses ist dabei kein rein linguistischer, sondern sie beschreibt Diskurse selbst als materielle Praxis, durch die Bedeutungen konstituiert werden (vgl. Haraway 1989: 111). Um in der Beschreibung der Natur als aktiven Part in Aushandlungsprozessen nicht selbst eine Essentialisierung der Natur vorzunehmen, bestimmt sie Natur als Negatives und Nicht-Repräsentierbares (vgl. Haraway 1995d: 49). Diese Figur der Negation, die sich auch in den Arbeiten der Frankfurter Schule findet, ermöglicht es, Natur nicht als vordiskursiv zu verstehen, ohne jedoch im Umkehrschluss Natur ausschließlich als sozial konstruiert wahrzunehmen. Was als Natur oder natürlich gilt ist demnach immer das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, an dem nicht nur Menschen beteiligt sind: »Wenn es natürliche Organismen gibt, dann müssen wir uns bewußt sein, daß Organismen nicht geboren werden; vielmehr werden sie in weltverändernden technowissenschaftlichen Praktiken durch bestimmte kollektive AkteurInnen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten hergestellt.« (Haraway 1995d: 14)
In Haraways Verständnis von Natur zeigen sich viele Anknüpfungspunkte zu den Arbeiten Bruno Latours, aber es werden auch die Punkte deutlich, in denen sie über Latours Ansatz hinausweist. So bleibt die Forderung der Situierung für das Verständnis des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft zentral. Haraway untersucht die Implosion der Grenzen von Natur und Kultur als einen Prozess, indem die Aushandlung dessen, was als natürlich und artifiziell, menschlich und nicht-menschlich gilt, neu vorgenommen wird. Sie nutzt den Begriff der Implosion zur Beschreibung einer historisch-spezifischen Praktik (der technosciences) und verbindet ihre Diagnose mit der Forderung, in die Neuaushandlung dessen, was wir als Natur verstehen, zu intervenieren (vgl. Haraway 1997: 68). Dabei zielt sie explizit nicht auf das Bewahren einer ursprünglichen bzw. technologisch nicht erschlossenen Natur, wie es als Abwehrhaltung gegen die Entwicklung der Reproduktionsmedizin in einigen feministischen Überlegungen zu finden ist. Sie fordert, sich die Konstruktion der Grenzverläufe und die Geschichte um die Transformationsprozesse genauer anzusehen und alternative Erzählungen zu entwickeln. Dieser Aufgabe kommt sie in ihrem anfangs erwähnten CyborgManifest nach, das sich als feministische Intervention in die Neuaushandlung der Grenzen zwischen Natur, Technologie und Körper lesen lässt. Dort stellt sie der Vorstellung einer Übernahme eines natürlichen Körpers durch (gen-)technologische Entwicklungen die Figur der Cyborg gegenüber, die eine Metapher für Körper bildet, die immer künstlich und natürlich zugleich sind und Spuren von Technologie tragen. Die Cyborg bildet bei ihr keine Zukunftsversion, sie symbo-
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lisiert unsere gegenwärtigen (und mittlerweile bereits vergangenen) Lebensbedingungen. »Die Maschine ist kein es, das belebt, beseelt oder beherrscht werden müßte. Die Maschinen sind wir, unsere Prozesse, ein Aspekt unserer Verkörperung. Wir können für Maschinen verantwortlich sein; sie beherrschen oder bedrohen uns nicht. Wir sind für die Grenzen verantwortlich, wir sind sie.« (Haraway 1995a: 70)
Auch hier zeigt sich damit wieder die Verbindung epistemologischer und ontologischer Fragestellungen: Haraway definiert Cyborgs als unsere Ontologie und uns damit zugleich als Mensch-Maschine-Hybriden (vgl. ebd.: 34). Ihr Text ist von Ambivalenzen getragen, in denen sie sowohl die objektivierenden Zugriffe auf den (Frauen-)Körper und globale Ausbeutungsverhältnisse in der Herstellung neuer Technologien herausarbeitet, als auch das Potential zur Umgestaltung und Veränderung von Herrschaftsverhältnissen beschwört. Sie beschreibt die Transformationsprozesse der alten Dichotomien als eine neue »Informatik der Herrschaft« (ebd.: 48), in der die Überwachung der Subjekte und der Zugriff auf ihre Körper durch technologische Möglichkeiten eine neue Qualität erlangt, stellt aber zugleich explizit den Ausblick gegenüber, dass sich der Wandel der Dichotomien für einen Aufbruch bisheriger Zuschreibungen nutzen lässt. Haraways Arbeiten, vor allem das Manifest für Cyborgs und ihr Aufsatz zu situiertem Wissen sind Teil des Kanons feministischer Wissenschaftskritik geworden. Mit der Figur der Cyborg hat sie die »Galionsfigur« für einen Theoriestrang des Cyberfeminismus geliefert, in dessen Zentrum neue Arbeiten zum Verhältnis von Mensch und Maschine stehen sowie Neuerungen in und durch Informationstechnologien und Robotik (vgl. bspw. Braidotti 1994; Plant 1997; Kember 2003; Wajcman 2004). Auch in den aktuellen feministischen Theoriediskussionen um new feminist materialism bildet Haraways Ansatz einen der wichtigsten Bezugspunkte. Ihr Bemühen, einen nicht-essentialisierenden Begriff von Natur zu entwickeln, ohne Natur dabei auf eine soziale Konstruktion zu reduzieren, ließe sich als Kern der Auseinandersetzung um new materialism zusammenfassen (vgl. Alaimo 2008; Coole 2010). Karen Barad, deren Ansatz des agential realism eine der zentralen Theoriefiguren in der Debatte bildet, bezieht sich explizit auf Donna Haraway (vgl. Barad 2003, 2007). Sie nimmt den Begriff der Diffraktion auf und entwickelt ihn zu einem methodologischen Modell weiter (vgl. Barad 2007: 71ff.). In ihrem Konzept des agential realism »sind Wissen, Denken, Messen, Theoretisieren und Beobachten materielle Praktiken des Intra-Agierens innerhalb von und
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als Teil der Welt« (Barad 2013: 57). In diesen materiellen Praktiken beschreibt sie die Perspektive der Diffraktion als ein (methodisches) Instrument, mittels dessen Prozesse daraufhin ausgelotet werden können, wie und wo Interferenzen entstehen, welche Differenzen von Bedeutung sind und welche Beteiligung Materialität an und in diesen Prozessen einnimmt (vgl. ebd.: 56f.). 34 Während Haraway uns ironisch durch die Welt der technoscience begleitet, nimmt Barad ihre LeserInnen in die Tiefen der Physik mit. Beide Ansätze eint jedoch, dass sie die Reformulierung eines Begriffs der Natur bzw. Materialität auch zu einem neuen Begriff der Ontologie führt. In Haraways Beschreibungen der Ko-Produktion, der Figur der Cyborg oder der nicht-menschlichen Gefährten wird dies implizit deutlich (vgl. auch Schneider 2005: 70, 86). Indem sie Natur mittels des Begriffs der Ko-Produktion als »konstruiertes und konstruierendes« (Weber 2003: 141) fasst, formuliert sie dabei auch unsere Ontologie neu. Wie in den Arbeiten Latours knüpft die Perspektive des Netzwerkes epistemologische und ontologische Fragestellungen zusammen. Barad wiederum entwirft explizit ein neues Konzept der onto-epistem-ology, das sie wie folgt ausführt: »Practices of knowing and being are not isolable; they are mutually implicated. The separation of epistemology from ontology is a reverberation of metaphysics that assumes an inherent difference between human and nonhuman, subject and object, mind and body, matter and discourse. Onto-epistem-ology – the study of practices of knowing and being – is probably a better way to think about the kind of understandings that we need to come to terms with how specific intra-actions matters.« (Barad 2007: 185)
Auch Barads Zielpunkt ist es, eine neue Perspektive auf die Wissenschaft und Welt zu entwickeln, die die Leerstelle von Materialität in sozialkonstruktivisti-
34 Astrid Deuber-Mankowsky weist allerdings darauf hin, dass Barad und Haraway den Begriff der Diffraktion aus unterschiedlichen Motivationen heraus nutzen und sich somit deutlich unterscheiden: »[…] während Barad Diffraktionsmuster als fundamentale Bestandteile der ontologischen Beschaffenheit einer prozesshaft gedachten Weltwerdung versteht und Diffraktion als ein Quantenphänomen sieht, das den Fall der klassischen Metaphysik explizit macht, birgt Diffraktion für Haraway die Möglichkeit, Differenzen in Anlehnung an Trinh T. Minhha’s Konzept der ›inappropriate/d others‹ nicht als das Andere des einen, sondern als Effekt eines relationalen Gefüges zu denken und darauf aufbauend: auf eine neue Weise neue (Lebens-)Geschichten zu entwerfen« (Deuber-Mankowsky 2007: 89). Haraway zielt nach Deuber-Mankowsky also weniger auf den Entwurf einer neuen Ontologie als vielmehr auf neue Perspektiven und (Repräsentations-)Räume.
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schen Ansätzen schließt. Sie beschreibt Materialität nicht als etwas Vorgängiges und Ursprüngliches, sondern als ein Werden innerhalb von materiell-diskursiven Phänomenen. In den Phänomenen, die sie als »constitutive for reality« (Barad 2003: 817) bestimmt, entstehen Entitäten durch das Intra-agieren miteinander. Grenzziehungen sind bei ihr ein beständiger Prozess innerhalb der Phänomene, die sich aus dem gegenseitigen In-Beziehung-Setzen ergeben. Die Begriffe des Werdens (i.O. becoming) und des Intra-agierens sind zentral für ihr Konzept, das im Gegensatz zu einer Vorstellung des Interagieren nicht zwei externe Entitäten beschreibt, die miteinander in Kontakt treten, sondern die Praxis der Grenzziehung selbst als Teil des Entstehungsprozess von Entitäten fasst (vgl. Schwennesen/Koch 2009). Diese Vorstellung einer dynamischen Ontologie beschreibt menschliche Körper und Subjekte weder als Ursprüngliches noch als diskursiven Effekt. Für Barad bilden unsere Körper vielmehr einen »part of the world in its open-ended becoming« (Barad 2003: 821). Wie sich dieses Werden gestaltet, welche Praktiken der Grenzziehungen und Verkörperungen darin möglich werden, ist dabei auch abhängig von einer verantwortlichen Wissenschaft: »We are responsible for the world in which we live not because it is an arbitrary construction of our choosing, but because agential reality is sedimented out of particular practices that we have a role in shaping. Which material-discursive practices are enacted matters for ontological as well as epistemological reasons: a different material-discursive apparatus materializes a different agential reality […].« (Barad 2000: 237)
Sie schließt hiermit an Haraways Anliegen an, für die aus der Feststellung, dass (wissenschaftliche) Praktiken unser Sein und unsere Materialität bestimmen, die Verantwortung folgt, Praktiken zu entwickeln, die es der un/an/geeigneten Anderen erlauben, sichtbar zu werden (vgl. Bath 2013: 111).
3.3 W HERE
DO WE GO FROM HERE ?
Die theoretische Auseinandersetzung darüber, wie sich die Materialität unserer Körper und das Verhältnis von Natur, Technologie und Körper beschreiben lassen, bildet für die Analyse und Kritik der Reproduktionstechnologien eine notwendige Ressource. In den vorgestellten Arbeiten wird deutlich, dass die Entwicklung der Reproduktionsmedizin und -technologien von einer Reihe von Ambivalenzen begleitet werden. So tragen technologische Möglichkeiten der IVF, Ei- und Samenspende oder PID zwar zur Auflösung einer Vorstellung von »natürlicher Reproduktion« bei und beschreiben diese als artifizielle und tech-
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nisch vermittelte Prozesse, in der konkreten Aushandlung lassen sich jedoch heteronormative und geschlechtsspezifische Anrufungen finden (vgl. bspw. Thompson 2005). In den Behandlungssituationen führen die diagnostischen Möglichkeiten dazu, dass sich die Paare und zukünftigen Eltern mit Fragen des Risikomanagements für die Schwangerschaft und um die genetische Beschaffenheit ihres Nachwuchses auseinandersetzen müssen (vgl. bspw. Rapp 1999). Und auch der Körper der Frau wird durch die Entwicklungen der Reproduktionsmedizin nicht weniger markiert, sondern vielmehr zum Zielpunkt reproduktionsmedizinischer Eingriffe, die seine »biologische Besonderheit«, die Fähigkeit zur Reproduktion, erhalten, verbessern oder herzustellen bemüht sind (vgl. Berg 2010). Vor diesem Hintergrund erscheint die emphatische Begrüßung der Reproduktionstechnologien durch Firestone naiv, während sich die kritischen Stimmen in der Frauenbewegung, die von Beginn an die Reproduktionsmedizin mit ihren diagnostischen Möglichkeiten als einen Angriff auf die Körper der Frauen und ihre Selbstbestimmung sahen, zu bestätigen scheinen: »For us women, for nature, and for the exploited people of the world, this development is a declaration of war. Genetic and reproductive engineering is another attempt to end selfdetermination over our own bodies.« (Klein 1988, zit. nach Mahjouri 2004: 2)
In den Arbeiten Haraways findet sich jedoch eine dritte Alternative, sich zur Reproduktionstechnologie zu positionieren. Mithilfe ihres begrifflichen Instrumentariums der Ko-Produktion von Natur und Gesellschaft rückt sie die Aushandlungen um die Technologien und damit einhergehende Grenzziehungen in den Fokus. Folgt man ihrem Ansatz, gilt es, die Transformationsprozesse um die neuen Reproduktionstechnologien auf ihre Brüche hin zu untersuchen und dabei sowohl Momente der Instrumentalisierung als auch emanzipatives Potential aufzuzeigen. Sie bietet uns ein Verständnis von Körpern als materiell-semiotische Knotenpunkte an, mittels dessen wir die materiellen und diskursiven Grundlagen unserer Körper beschreiben und prüfen können, wie dieses sich durch Reproduktionsmedizin verändern. Und obwohl sie selbst deutlich Kritik an gentechnologischen Entwicklungen und der Reproduktionsmedizin formuliert, sucht sie immer wieder nach Möglichkeiten einer positiven Besetzung dieser Prozesse: »Ich glaube nicht, daß wir Begriffe und Praxen brauchen, die sich auf die Illusion eines natürlichen Körpers beziehen. Ich glaube, daß wir die Vorstellungskraft und die reale Macht brauchen, unsere eigenen Grenzlinien in die Welt zu zeichnen.« (Haraway 1995d: 174)
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Dieses Aufzeigen und Aushalten der Ambivalenzen bewahrt davor, die Bewertung einseitig zu einer technikeuphorischen oder pessimistischen Position hin aufzulösen. Es zeigt aber auch, dass in den Auseinandersetzungen um die Gentechnologie und Reproduktionsmedizin nicht nur um die Bewertung der Technologie gerungen wird, sondern auch darum, wie wir unsere Körper, Technologien und Gesellschaft zukünftig verstehen und gestalten. Dieser Perspektive möchte ich im zweiten Teil der Arbeit folgen. Wie das Kapitel deutlich gemacht hat, ist die Verknüpfung von Reproduktion und Geschlecht durch die Entwicklung der Reproduktionstechnologien nicht aufgelöst worden, befindet sich aber in einem Wandel. Nach wie vor nimmt die Kategorie Geschlecht dabei eine zentrale Bedeutung im Feld der Reproduktion(smedizin) ein, auch – oder vielleicht besser gerade – weil sie im Zuge der Entwicklungen neu verhandelt wird. Wie diese Neuverhandlung aussieht und ob sich darin Momente der Auflösung geschlechtsspezifischer Zuschreibungen und/oder (Re-)Konfigurationen von Geschlechtergrenzen finden lassen, werde ich am Beispiel des medialen Diskurses um die Präimplantationsdiagnostik untersuchen.
4. Schnittstelle Reproduktion – Die Präimplantationsdiagnostik
Am Beispiel der humangenetischen Anwendungsverfahren im Bereich der Reproduktionstechnologien lassen sich zentrale Aspekte dieser Arbeit untersuchen. Die vorherigen Kapitel haben gezeigt, dass mit den Entwicklungen der humanen Gentechnologien zunehmend die Grenze von Natur und Technologie verwischt. Gerade im Bereich der Reproduktionsmedizin sind neue Verfahren entstanden, die das Verständnis von Reproduktion als natürlichem Prozess aufbrechen und erweitern. Zugleich wurde in den feministischen Perspektiven auf die Reproduktionstechnologie deutlich, dass der Bereich der Reproduktion vielfältig mit der Konstruktion der Geschlechterverhältnisse verknüpft ist und auf scheinbar natürliche biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern verweist. In diesem Kapitel soll der Fokus von der theoretischen Aushandlung auf die Technologien selbst verschoben werden. In dem Set der neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin werde ich den Fokus auf die Präimplantationsdiagnostik (PID) legen, einer genetischen Diagnoseform, die im Kontext der In-vitro-Fertilisation (IVF) entwickelt wurde. Im Folgenden möchte ich die Entwicklungsgeschichte und das Verfahren der PID vorstellen sowie die rechtlichen Regelungen und politisch-institutionellen Entscheidungen zur PID in der BRD. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf den medizinischen und rechtlichen Rahmungen der PID. Eine ausführliche Darstellung der inhaltlichen Argumente gebe ich in der anschließenden Diskursanalyse.
4.1 D IE E NTWICKLUNG
DER
PID
Die Präimplantationsdiagnostik ist eine Anwendung der Reproduktionsmedizin, mit der es möglich wird, die genetische Beschaffenheit des Embryos im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation (IVF) zu prüfen. Sie führt damit zwei unterschiedliche
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Entwicklungen der Reproduktionsmedizin zusammen: die pränatale Diagnostik am Embryo und die medizinische Hilfe bei unerfülltem Kinderwunsch. Im Folgenden werde ich die pränatale Diagnostik und künstliche Befruchtung als Hintergrund für die Entwicklung der PID skizzieren, um daran anschließend die Entwicklung und Anwendungsfelder der PID vorzustellen. 4.1.1 Pränatale Diagnostik Das Spektrum der Untersuchungen im Bereich der Schwangerschaft ist durch moderne medizinische Verfahren und Diagnosetechniken zunehmend erweitert worden. Wenngleich Barbara Duden zu Recht darauf hinweist, dass bereits das Hörrohr der Hebamme eine medizinisch-technische Untersuchung darstellt, sind seit den 60er Jahren eine Vielzahl an invasiven und nicht-invasiven Methoden der Schwangerschaftsvorsorge und -untersuchung hinzugekommen, die den wachsenden Katalog der pränatalen Diagnostik bilden. Eine der weitreichendsten Entwicklungen in der pränatalen Diagnostik ist die Einführung des Ultraschalls. Seit Ende der 50er Jahre ermöglicht die Ultraschalluntersuchung als bildgebendes Verfahren, den Embryo in der Schwangerschaft sichtbar zu machen und auf Auffälligkeiten zu untersuchen. 35 In den Mutterschutzrichtlinien sind drei Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft vorgesehen, aber über 70% der Schwangeren nutzen (mindestens) eine weitere Untersuchung zum Ausschluss von Fehlbildungen (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – BZgA: 10). Neben der Kontrolle der Lage des Embryos und dem frühen Erkennen von Mehrlingsschwangerschaften dient die Ultraschalluntersuchung diagnostischen Aspekten. 36 Weiterentwicklungen der Ultraschalltechnologie haben
35 Ein weiteres nicht-invasives Verfahren bildet der Triple-Test. Hierfür wird das Blut der Schwangeren auf drei Bestandteile hin untersucht: ein vom Embryo produziertes Eiweiß (Alpha-Fetoprotein) und zwei Hormone (Oestriol, Humanes Choriongonadotropin). Unter Berücksichtigung der Anamnese und dem Alter der Schwangeren soll dann die Wahrscheinlichkeit bestimmt werden, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen. Allerdings ist dieses Verfahren wegen seiner hohen Fehlerquote stark in der Kritik. 36 Bei der Untersuchung der Nackenfalte, die meist in der 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt wird, wird geprüft, ob eine Verdickung bzw. Flüssigkeitsansammlung im Nacken (Nackenödem) erkennbar ist, die auf das Vorliegen einer Trisomie 21 (Down-Syndrom) oder eines Herzfehlers hinweisen kann. Ein Nackenödem kann sich jedoch im Verlaufe der Schwangerschaft auch zurückbilden. Ebenso wird der Embryo
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über die Jahre zu einer deutlich verbesserten Diagnostik geführt, die immer früher und treffsicherer Auffälligkeiten finden kann. Mit dem Bluttest »Praenatest« der Firma Lifecodexx ist 2012 ein nichtinvasives Verfahren auf den Markt gekommen, das Auskunft über die genetische Beschaffenheit des Embryos geben kann. Indem fötales DNA-Schnipsel aus dem Blut der Mutter gefiltert werden, lässt sich mit einer Blutabnahme prüfen, ob beim Embryo chromosomale Schädigungen vorliegen. Für den deutschen Markt beschränken sich die Anbieter auf die Analyse der Trisomien 13, 18 und 21. Es wird jedoch erwartet, dass zukünftig weitere chromosomale und genetische Anomalien erfasst werden können. Schon jetzt wird der Test zur Bestimmung des Geschlechts des Kindes beworben (vgl. LifeCodexx 2014). Als Zeitrahmen werden die 12. bis 33. Schwangerschaftswoche angegeben, was wiederum eine Anpassung an deutsche rechtliche Regelungen zur Abtreibung darstellt, da der Test in den USA bereits ab der 10. Woche durchgeführt werden kann. 37 Die Kosten für den Test werden bislang nicht regulär von den Krankenkassen bezahlt. Schwangere können ihn jedoch als eine individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) im Verlauf der Vorsorgeuntersuchungen durchführen lassen und in Einzelfällen sind die Kosten bereits übernommen worden. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Test verbreiten wird, da er ohne eine Beteiligung der Krankenkassen mit rund 595 Euro für viele Paare zu kostspielig sein dürfte (vgl. Henn/Schmitz 2012). Die Verbindung von genetischer Information und nicht-invasiven Verfahren ist eine neue Entwicklung im Bereich der pränatalen Diagnostik, die vorher nur mittels invasiver Methoden möglich war. 38 Neben diesen nicht-invasiven Verfahren sind seit Ende der 70er Jahre zunehmend auch invasive Verfahren hinzugekommen, die bei Patientinnen mit auffälligen Befunden der Ultraschalluntersuchung oder anderen Risikofaktoren
in der Untersuchung auf die Entwicklung der Organe und mögliche Fehlbildungen kontrolliert, bspw. auf Spina bifida (offener Rücken), Nierenzysten und Herzfehler. 37 Damit kann der Test nicht im Rahmen der Fristenlösung bis zur 12. Woche der Schwangerschaft durchgeführt werden. Innerhalb dieses Zeitrahmens wäre eine Abtreibung nach einem verpflichtenden Beratungsgespräch straffrei möglich (vgl. StGB, § 218). 38 Das Deutsche Ärzteblatt spricht gar von einem Paradigmenwechsel der Pränataldiagnostik, da es nun ohne ein Risiko für Mutter und Embryo möglich wird, die genetische Beschaffenheit zu bestimmen (Henn/Schmitz 2012). Während das Ärzteblatt die Risikoarmut des Verfahrens lobt, kritisieren Behindertenverbände und das Gen-ethische Netzwerk die Zunahme der vorgeburtlichen Selektion des Down-Syndroms (vgl. bspw. Sänger 2012).
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empfohlen werden. Als Risikofaktoren gelten dabei das Alter der Mutter ab 35 Jahre und/oder des Vaters über 45 Jahre, bekannte Erbkrankheiten in der Familie sowie eigene genetische Erkrankungen, bereits zwei oder mehr erfolgte Aborte, schwere Erkrankungen während der Schwangerschaft (Röteln, Virusinfektionen) und Medikamenteneinnahme sowie Alkohol- und/oder Drogenabhängigkeit (vgl. Bundesärztekammer 1998: A-3239f.). Liegt einer oder mehrere dieser Risikofaktoren vor oder wünschen sich die Frau bzw. Eltern den Ausschluss bestimmter Erkrankungen, so kann über eine Chorionzottenbiopsie (Untersuchung der Plazenta), Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung), Nabelschnurpunktion oder Fetoskopie der Embryo direkt untersucht werden. In Deutschland werden meistens eine Amniozentese, seltener eine Chorionzottenbiopsie als Verfahren (vgl. Wiedebusch 1997: 129) gewählt. Beide Verfahren sind nicht ganz ohne Risiko für die Schwangere und den Embryo, in den Richtlinien zur pränatalen Diagnostik wird das Risiko für eine Fehlgeburt mit 0,5 bis 1 Prozent angegeben (Bundesärtzekammer 1998: A-3240). Im Rahmen des Eingriffes kann es außerdem in sehr seltenen Fällen bei der Entnahme von Fruchtwasser oder Gewebeproben der Plazenta zu einer Verletzung des Embryos kommen. Zur Häufigkeit der invasiven Pränataldiagnostik gibt es nur wenige Zahlen, da diese nicht zentral gesammelt werden. Für die Schweiz und Österreich liegen Studien vor, die einen Bereich um 10% der Schwangerschaften angeben, die invasive Diagnostik nutzen (vgl. Wieser 2006; Basille et al. 2009). Im Bundesland Bayern sind die Raten der Schwangerschaften, bei denen eines der beiden angeführten invasiven Diagnoseverfahren vorgenommen wurde, im Zeitraum von 1987 bis 2002 von 3,4% auf 9,5% gestiegen (vgl. Lenhard 2003). Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA 2006) haben sogar 11,4% der Schwangeren eine Amniozentese und 3,3% eine Chorionzottenbiopsie durchführen lassen (vgl. BZgA 2006: 10). Seit der Einführung der Diagnosemöglichkeiten haben sich diese stetig ausgeweitet. Da bereits das Alter als Risikofaktor gilt, wird die Diagnose durch das steigende Alter der Schwangeren häufiger empfohlen (vgl. Lenhard 2003). Verstärkend kommt die Verfeinerung der Ultraschalltechnik, bspw. durch 3-D-Technik, hinzu. In der Studie der BZgA wird darauf verwiesen, dass sich jüngere Schwangere zwar zumeist gegen eine invasive Untersuchungsmethode entscheiden, dafür aber vermehrt die nichtinvasiven Diagnoseverfahren zur Absicherung nutzen (vgl. BZgA 2006). Doch auch dies führt letztlich zu einer Ausweitung der invasiven Diagnostik, weil sich jetzt auch jüngere Frauen nach dem niedrigschwelligen Frühscreening bei auffälligen Befunden einer Fruchtwasseruntersuchung unterziehen (vgl. Wieser 2006). Zugleich steht die pränatale Diagnostik trotz einer Ausweitung ihrer Nutzung seit Beginn ihrer Entwicklung in der Kritik. In Studien wurde herausgearbeitet,
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dass sich im Zuge der Diagnosemöglichkeiten sowohl das gesellschaftliche Verständnis als auch das individuelle Empfinden von Schwangerschaft verändert haben und »Schwangerschaft als Risiko« wahrgenommen wird (vgl. Duden 2002a). In ihrer Studie »Technisierung der ›normalen‹ Geburt – Interventionen im Kreißsaal« in Niedersachsen konnten Clarissa Schwarz und Beate Schücking ein Ansteigen der als »Risikofälle« eingestuften Geburten von 29,9% im Jahr 1987 auf 74% im Jahr 1999 nachweisen (vgl. Schücking 2004). Auch in aktuelleren bundesweiten Auswertungen der Geburtshilfe werden bei über 74% der geborenen Kinder Geburtsrisiken angegeben (Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung GGMBH 2009: 1.3). Ebenso sind bei 74% aller schwangeren Frauen Schwangerschaftsrisiken im Mutterpass angegeben worden (vgl. Schücking 2004: 23). Mit der Wertung von Schwangerschaft als Risikoschwangerschaft verändert sich auch das individuelle Erleben. Irmgard Nippert hat untersucht, wie das Angebot der pränatalen Diagnostik von Frauen aufgenommen und bewertet wird und welche Konsequenz es für den Umgang mit der eigenen Schwangerschaft hat. Sie gibt an, dass 70,7% Prozent der befragten Frauen der Äußerung zustimmten, dass sie vor dem Ergebnis der (invasiven) PND das Gefühl gehabt hätten, eine Distanz zu der Schwangerschaft halten zu müssen, da es durch das Ergebnis Probleme geben könne (vgl. Nippert 1997: 112). Für weitere 52,7% ging diese Distanz so weit, dass sie eine »ausgesprochene Abneigung« (ebd: 112) hatten, bereits Umstandskleider zu kaufen, bevor das Ergebnis der Untersuchung vorlag. Die Erfahrung von Schwangeren scheint sich durch die Einführung von invasiven Verfahren und die Ausweitung des Ultraschalls zunehmend gewandelt zu haben. Wie im vorherigen Kapitel zu feministischen Perspektiven auf die Reproduktionsmedizin deutlich wurde, sind die neuen Diagnoseverfahren eingebettet in eine zunehmende Ausweitung von Selbstkontrolle und Anrufungen von Risikovermeidung (vgl. hierzu exemplarisch Lemke 2000; Waldschmidt 2002). Nichtsdestoweniger werden die Möglichkeiten der Diagnose als Zugewinn an Autonomie verstanden (vgl. Nippert 1997: 113) und die Verfahren aktiv von Frauen nachgefragt (vgl. Kuhlmann 2002). 4.1.2 Assistierte Reproduktion – Die Entwicklung der IVF und ICSI Eine Grundlage für die Entwicklung der PID bilden die Verfahren der assistierten Reproduktion, die zur Behandlung von Fertilitätsproblemen bei Männern und Frauen eingeführt wurden. Die hierbei zentralen Anwendungen der In-vitroFertilisation (IVF) und der intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) stellen den Rahmen dar, innerhalb dessen eine PID durchgeführt wird.
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Die In-vitro-Fertilisation ist in den 70er Jahren in England als Behandlung bei unerfülltem Kinderwunsch von dem Biologen Robert Edwards in Zusammenarbeit mit dem Gynäkologen Patrick Steptoe entwickelt worden (vgl. BerlinInstitut für Bevölkerung und Entwicklung 2007: 23). Im Rahmen einer künstlichen Befruchtung werden der Frau nach vorangegangener hormoneller Stimulation in der Follikelpunktion mehrere Eizellen unter Narkose entnommen. Den Eizellen wird in einem Reagenzglas oder in der Petrischale männliche Samenflüssigkeit hinzugefügt und sie werden in einem Wärmeschrank gelagert. Im Rahmen der ersten 24 Stunden wird kontrolliert, ob eine Befruchtung und eine erste Zellteilung stattgefunden hat. Entwickeln sich hieraus erfolgreich Embryonen, werden diese drei bis fünf Tage nach der Eizellenentnahme in den Uterus der Frau transferiert. Eingesetzt wird dieses Verfahren bei verschiedenen Sterilitätsproblemen der Frau, bspw. bei Störungen der Eierstockfunktionen oder Endometriose (Gebärmutterschleimhaut, die außerhalb der Gebärmutter wuchert), bei männlicher Infertilität durch anatomische Störungen (z.B. Hodenhochstand), hormonellen Störungen oder Fehlfunktionen der Keimdrüsen, die eine Spermieninjektion oder Samenspende notwendig machen, aber auch bei ungeklärter Infertilität. Neben den biologischen Ursachen wird als ein weiterer zentraler Grund das gestiegene Alter der Paare mit Kinderwunsch sowie das steigende Alter bei der ersten Schwangerschaft angegeben, das mit sinkender Fertilität einhergehe. Hier wird vorrangig auf den Rückgang der unbeschädigten Eizellen der Frau verwiesen, der mit zunehmendem Alter eine Schwangerschaft unwahrscheinlicher mache (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2007). Ziel des Verfahrens ist es, Paaren mit Fertilitätsproblemen zu genetisch eigenem Nachwuchs zu verhelfen. 1976 wurde von Patrick Steptoe und Robert Edwards das erste Mal über eine Schwangerschaft nach einer IVF berichtet, die aber als Eileiterschwangerschaft nicht erfolgreich war (vgl. Hehr 2003). Die erste Geburt und damit der Abschluss einer erfolgreichen Schwangerschaft nach dieser Methode sorgte 1978 für Schlagzeilen, als Louise Brown in England geboren wurde. Seitdem ist die IVF stetig weiterentwickelt und verfeinert worden. Nachdem in Deutschland das erste durch IVF gezeugte Kind 1982 in Erlangen zur Welt kam, hat sich die IVF auch hier etabliert. Mittlerweile gibt es über 120 Reproduktionszentren, die sich auf die Behandlung von Eltern mit Kinderwunsch spezialisiert haben und die IVF anbieten. Diese werden im D.I.R, dem Deutschen IVF Register, aufgeführt, das seit 1995 die Daten der Zentren nahezu vollständig erfasst und sammelt und sie in einem Jahresbericht publiziert sowie im Internet zur Einsicht zur Verfügung stellt. Seit der Entwicklung der IVF sind weltweit über fünf Millionen Kin-
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der mit Hilfe dieses Verfahrens geboren worden (vgl. ESHRE 02.07.2012), davon um die 200.000 in Deutschland (vgl. D.I.R 2011). Die IVF und ihre Aus- wie Nebenwirkungen werden seit ihrer Entstehung ambivalent diskutiert. Die IVF bietet Frauen und Paaren die Möglichkeit schwanger zu werden, trotz Fertilitätsproblemen oder im Fall von alleinstehenden Frauen und lesbischen Paaren mittels Samenspende. In Deutschland ist die Nutzung sehr stark reglementiert und wird von den Reproduktionszentren bis auf sehr wenige Ausnahmen nur für heterosexuelle Paare angeboten. Alleinstehende und homosexuelle Paare sind daher für die Durchführung einer IVF weitestgehend auf das Angebot ausländischer Klinken angewiesen. Noch strikter ist die Kostenübernahme durch die Krankenkassen geregelt, die eine Übernahme nur für verheiratete Paare vorsehen und zudem seit der Gesundheitsreform 2004 nur noch 50% der Kosten für maximal drei IVF übernehmen. 39 Beide Positionen sind durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bekräftigt worden: 2007 entschied das BVerfG, dass die Sorge für die Kinder in einer Ehe besser gewährt sei und damit die ausschließliche Förderung von verheirateten Paaren gerechtfertigt sei (vgl. Bundesverfassungsgericht, 28.02.2007). Auch die Verfassungsklage eines Paares, das auf die vollständige Übernahme der Kosten geklagt hatten, ist mit der Begründung abgelehnt worden, dass es sich bei einem unerfüllten Kinderwunsch nicht um eine Krankheit handele, und somit die Kosten nicht vollständig auf die Versicherten umgelegt werden müssen (vgl. Bundesverfassungsgericht, 27.02.2009). Mittlerweile liegt ein Entwurf des Bundesrates vor, nachdem die Länder weitere 25% der Kosten übernehmen sollen, um so die Kosten der Behandlung zu schmälern (vgl. Bundesrat 15.09.2011). Ungeachtet der vielzähligen Einschränkungen und finanziellen Belastungen hat sich die IVF etabliert und so fanden im Jahr 2009 insgesamt 67.935 IVF-Vorgänge statt (vgl.
39 Die Gesundheitsreform hat die Situation für verheiratete Paare mit Kinderwunsch zum Negativen verschoben. Wurden vorher die Kosten für bis zu vier Behandlungen komplett von den Kassen übernommen, ist die Beteiligung auf 50% der Kosten für drei Behandlungen reduziert worden. Diese Übernahme ist jedoch auch nur dann gesetzlich zugesichert, wenn das Paar die Altersbegrenzung nicht überschreitet. Diese liegt bei Frauen zwischen 25 und 40 Jahren, bei Männern zwischen 25 und 50 Jahren. Die Kosten für eine IVF werden mit ca. 3.000 Euro und 3600 Euro mit Mikroinsemination angegeben. Diese rechtliche Entwicklung hat auch Konsequenzen für die Nutzung der IVF gehabt. In der Studie des Berliner Instituts »Ungewollt kinderlos« (2007) wird darauf hingewiesen, dass 2003 die Zahl IVF-Behandlungen in der BRD erst stark zugenommen haben, dann aber seit 2004 rückläufig seien (vgl. Berliner Institut 2007: 40). Hierfür werden die gesetzlichen Regelungen verantwortlich gemacht.
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D.I.R 2011: 15). 40 Dies bildet sich auch in der Geburtenstatistik ab, so werden mittlerweile über 1% der Kinder in Deutschland nach einer erfolgreichen IVF geboren (vgl. Sütterlin/Hoßmann 2007; Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag 2010). Neben dem Zugang zur IVF stehen vor allem die Nebenwirkungen der Behandlung in der Kritik. Zwar hat sich die anfängliche Befürchtung, dass Kinder, die außerhalb des Mutterleibes gezeugt werden, Schäden davon tragen, nicht bestätigt, aber die IVF geht mit gesundheitlichen Risiken für die Frau und psychischen Belastungen der Paare einher. Die »kontrollierte ovarielle Hyperstimulation« der Frau dient als Teil der Behandlung dazu, in einem Zyklus der Frau mehr als eine Eizelle heranreifen zu lassen, um so bei der Follikelpunktion mehrere Eizellen entnehmen und für die IVF nutzen zu können. Die Hyperstimulation durch Hormone lässt die Eierstöcke dabei um ein mehrfaches ihrer normalen Größe anschwellen, in seltenen Fällen tritt hierbei eine Überreaktion der Eierstöcke auf, das ovarielle Hyperstimulations-Syndrom (OHSS). Bei dem OHSS wird zwischen einer leichten, mittelschweren und schweren (kritischen) Form unterschieden. In seiner schweren Form kann das OHSS zu einer zystischen Vergrößerung der Eierstöcke führen, die nicht nur äußerst schmerzhaft ist, sondern auch mit einer Reihe von Komplikationen (Thrombosen, Embolien, Nierenversagen) einhergehen kann, die Krankenhausaufenthalte notwendig machen und in Einzelfällen lebensbedrohlich seien können (vgl. Büro für TechnikfolgenAbschätzung beim Deutschen Bundestag 2010: 107). Für die schwerste Form des OHSS III sind im Jahr 2011 insgesamt 137 Fälle und damit eine Quote von 0,33% im D.I.R angegeben (vgl. D.I.R 2011: 29). Während im Deutschen Ärzteblatt von 2004 die damalige Rate des Überstimulations-Syndroms von 0,65% als geringes Komplikationsrisiko angegeben wird (vgl. Felberbaum 2004: A 100), verweist Kollek auf einen Artikel der Zeitschrift »Human Reproduction«, in welchem OHSS als »eine durch Ärzte in gesunden Patientinnen verursachte Epidemie« (vgl. Kollek 2002b: 58) beschrieben wird. Auch bei der Entnahme der Eizellen mittels einer Hohlnadel durch die Scheide können Komplikationen auftreten. Im D.I.R werden für fast 80% aller Komplikationen vaginale und intraabdominale Blutungen angeführt, in 5,23% der Fälle ist dabei eine stationäre Behandlung, in 4,9% der Fälle eine operative Behandlung notwendig (vgl. D.I.R 2011: 29). Zusätzlich zu den Risiken im Verlauf der Behandlung geben Studien als mögliche Folgen der Hormonbehandlung ein gestiegenes Risiko für Krebserkrankungen, vorrangig für Brust- und Eierstockkrebs, an (vgl. van Leeuwen et al. 2011). Deutlich schwerer zu erfassen sind die psychischen Belastungen wäh-
40 Hier sind die IVF mit ICSI und Kryo-Transfer ebenfalls enthalten.
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rend der Behandlungen, die gerade bei einem erfolglosen Ausgang zu Depressionen führen können (vgl. Sonnenmoser 2006; Büro für TechnikfolgenAbschätzung beim Deutschen Bundestag 2010; Volgsten et al. 2010). Im Verhältnis zu den angeführten Risiken stehen die Erfolgsquoten für eine künstliche Befruchtung, die je nach Zentrum leicht variieren können. Im Durchschnitt liegt die Chance, bei einer IVF schwanger zu werden, in der BRD um 30% (vgl. D.I.R 2011: 15). Es sind also um die drei Behandlungszyklen für eine Frau oder ein Paar notwendig, um schwanger zu werden. Die tatsächliche Geburtenrate ist jedoch deutlich niedriger, sie liegt bei 17,5% (vgl. ebd.: 10). Für den Erfolg einer IVF werden das Alter der Frau und des Mannes sowie weitere Faktoren wie Nikotinkonsum und Übergewicht als Risikofaktoren angegeben, d.h. mit steigendem Alter sinken auch die Erfolgschancen einer IVF, so dass prozentual mehr Versuche für eine Schwangerschaft notwendig sind. Im D.I.R wird ab dem Alter von 36 Jahren für die Frau eine sinkende Erfolgschance angegeben (vgl. ebd.: 20). Daneben besteht bei einer künstlichen Befruchtung ein erhöhtes Risiko auf eine Mehrlingsschwangerschaft, da für eine höhere Erfolgsquote der IVF zumeist zwei (jedoch maximal drei) Embryonen in den Uterus der Frau transferiert werden. An den Zahlen des D.I.R lässt sich nachvollziehen, dass mit steigender Anzahl der transferierten Embryonen auch die Zahl der Mehrlinge ansteigt, so ist die Chance, Zwillinge zu bekommen mit über 30% bei einer IVF deutlich erhöht (vgl. ebd.). Mit einer Mehrlingsschwangerschaft erhöhen sich die Risiken für eine Frühgeburt, einen Kaiserschnitt und niedriges Geburtsgewicht. Daneben betont Kollek die Belastung für die Eltern, vor allem für die Frauen, die mit dem erhöhten Aufwand der Versorgung von zwei oder mehr Säuglingen einherginge (vgl. Kollek 2002b: 64). Eingebettet in das Verfahren der IVF wurde mit der Entwicklung der intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) eine Technik entwickelt, die gezielt männliche Infertilität überwinden soll. Bei der ICSI wird ein Spermium mithilfe einer Mikromanipulationsnadel direkt in die Eizelle gespritzt, so dass bspw. eine schlechte Qualität der Spermien die Verschmelzung nicht negativ beeinflusst (vgl. ebd.: 57). Das Risikopotential für diese Methode ist umstritten, diskutiert wird im Rahmen der ICSI vor allem, ob »die Tatsache, dass Spermien, die unter normalen Umständen keine Befruchtung erzielen könnten« (Felberbaum 2004: A 99), negative Auswirkungen auf die auf diese Weise gezeugten Kinder haben könnte. Auch hier liegen unterschiedliche Daten vor. Während laut der Zahlen des D.I.R die Zahl der Fehlbildungen nicht höher liegt, liegt laut der »Deutschen ICSI-Fellow-Up-Studie« eine Erhöhung um 1,27% vor, die sich aber auch aufgrund von vermehrten Risikofaktoren bei den Anwendungen der ICSI ergeben, bspw. ein erhöhtes Alter der Mutter (vgl. ebd.: A 100). Auch eine australische
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Studie zeigt eine Erhöhung der Fehlbildungsrate bei der Nutzung von ICSI an (vgl. Davies et al. 2012). Nichtsdestoweniger hat sich die ISCI im Rahmen der IVF fest etabliert und führt seit 2002 sogar vor einer »einfachen« IVF (vgl. Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag 2010: 50). Die IVF stellt damit ein umfangreiches Verfahren zur Behandlung von unerfülltem Kinderwunsch zur Verfügung, das sowohl weibliche als auch männliche Infertilität behandelbar macht. Die Risiken und Nebenwirkungen der Hormongabe liegen gleichwohl ausschließlich auf Seiten der Frauen, dies ist vor allem von feministischer Seite wiederholt kritisiert worden (vgl. bspw. Ullrich 2012). 4.1.3 Die PID als Schnittstelle Ende der 80er Jahre wird das Verfahren der künstlichen Befruchtung um eine Diagnosemöglichkeit erweitert. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) soll bereits bei der Durchführung einer IVF eine Untersuchung der befruchteten Eizelle bzw. des Embryos im Frühstadium auf genetische oder chromosomale Defekte ermöglichen und so eine spätere pränatale Diagnostik erübrigen. Die PID findet im Rahmen einer IVF und zumeist einer ICSI statt. Mittels ihr wird die befruchtete Eizelle daraufhin untersucht, ob genetische Krankheiten und/oder Chromosomen-Defekte vorliegen. Erst nach diesem Check werden die Eizellen, bei denen kein Befund vorliegt, in den Uterus der Frau transferiert (vgl. Kollek 2002b: 31). Die PID verbindet damit die genetische Diagnose mit der In-vitroFertilisation und bildet eine der Schlüsseltechnologien im Bereich der Reproduktionsmedizin. Sie ist nicht nur die Technologie, die mit den Vorstellungen von Designer-Babys und der gezielten Auswahl von Merkmalen einhergeht, sondern sie soll auch dazu dienen, die Erfolgsquoten einer IVF zu verbessern. Die Anwendung einer PID ist technisch aufwendig und auf ein enges Zeitfenster begrenzt, so dass sie vorrangig in spezialisierten Zentren durchgeführt wird, in denen reproduktionsmedizinische und humangenetische Expertise zusammenfließen. Im Verhältnis zur IVF und ICSI nimmt die Nutzung der PID relativ langsam zu. Der Londoner Humangenetiker Handyside und sein Team melden 1990 die Geburt des ersten Kindes, bei dem eine PID durchgeführt wurde und das Geschlecht vorab festgestellt worden war (vgl. Handyside et al. 1990). Zwei Jahre später berichten sie von der ersten Geburt eines Kindes, das auf genetische Auffälligkeit untersucht wurde (vgl. Handyside et al. 1992). Bis 1998 sind ca. 200 Kinder nach einer PID geboren worden. Danach steigen die Zahlen deutlich an. In ihrem letzten Bericht gibt die »European Society of Human Reproduction and Embryology« (ESHRE) für das Jahr 2009 insgesamt 5641 durchgeführte Diagnosen in den erfassten europäischen Zentren an und 2010
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sind allein in Großbritannien 121 Kinder nach einer PID geboren (vgl. Goossens et al. 2012). Ein Grund für die Zunahme dürfte in der Verbesserung der technologischen Möglichkeiten und dem Anstieg der diagnostizierbaren Krankheiten und Diagnoseverfahren liegen. So können mittlerweile über 100 unterschiedliche genetische Merkmale und Krankheiten mit einer PID diagnostiziert werden (vgl. Ihde 2010). Doch auch die wachsende Erfahrung von Reproduktionszentren, die dieses Verfahren anbieten, sowie die europaweite Richtlinie zur Durchführung der PID von der ESHRE führten zu einer Etablierung und Qualitätskontrolle des Verfahrens (vgl. Verlinsky et al. 2004; Harton et al. 2010). Nichtsdestoweniger ist die PID ein sehr aufwendiges Verfahren, das nach wie vor nicht von allen Reproduktionszentren angeboten werden kann. Die PID wird im Rahmen der IVF vorgenommen, die zumeist auch eine ICSI beinhaltet. 41 In der Regel wird der Embryo am dritten Tag nach der In-vitroFertilisation untersucht und befindet sich im Achtzellstadium. Dem Embryo werden ein bis zwei Zellen entnommen, die zur genetischen und chromosomalen Analyse genutzt werden. 42 Die Zellen sind zu diesem Entwicklungszeitpunkt noch totipotente Embryonalzellen, wodurch sich für die BRD ein Konflikt mit dem Embryonenschutzgesetz ergibt, auf welchen ich an späterer Stelle eingehen werde. Die Anzahl der Zellen, die pro Embryo entnommen werden können, ist begrenzt, und so erfordert das Verfahren eine sehr genaue Durchführung, um Fehlversuche zu vermeiden. Da der Embryo im Rahmen der IVF zwischen dem dritten bis fünften Tag in den Uterus der Frau transferiert werden sollte, um eine hohe Chance auf eine Einnistung und Schwangerschaft zu haben, müssen die Diagnoseverfahren, die alleine sechs bis acht Stunden benötigen, in einem schmalen Zeitfenster durchgeführt werden. Bei der Durchführung der PID wird zwischen der Untersuchung auf Chromosomenauffälligkeiten und der Diagnostik genetischer Krankheiten unterschieden. 43 Im Rahmen der Chromosomendiag-
41 Laut Kollek wird die ICSI im Rahmen der PID nicht nur zur Überwindung eingeschränkter männlicher Infertilität, sondern auch zur Sicherheit der Ergebnisse eingesetzt, die durch mehrere männliche Spermien verfälscht werden könnten (vgl. Kollek 2002b: 35). 42 Die Entnahme der Zellen scheint die weitere Entwicklung des Embryos nicht zu gefährden. Im Vergleich mit einer Kontrollgruppe von Kindern, die (nur) nach einer künstlichen Befruchtung geboren wurde, wurden keine signifikanten Unterschiede festgestellt. Vielmehr bestand sogar ein Risiko für ein niedriges Geburtsgewicht als für Kinder nach einer ICSI (vgl. Desmyttere et al. 2011: 289f.). 43 Während im englischsprachigen Diskurs zwischen der genetischen Diagnostik (PGD) und einem Screening (PGS) nach chromosomalen Abweichungen auch sprachlich dif-
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nostik wird der Embryo auf die Geschlechtschromosomen x und y sowie numerische Chromosomenaberrationen untersucht. Gezielt gesucht wird nach den häufigsten Chromosomen 13, 18 und 21, um bspw. Trisomie 21 bzw. das DownSyndrom auszuschließen. 44 Die Feststellung des Geschlechts kann dazu dienen, Erbkrankheiten, die an die Geschlechtschromosomen gebunden sind, zu vermeiden. So treten einige Krankheiten, die auf dem x-Chromosom liegen, nur dann auf, wenn sie nicht durch ein zweites x-Chromosom ausgeglichen werden, und kommen daher fast ausschließlich bei männlichen Kindern vor, bspw. das Norrie-Syndrom 45 oder die Bluterkrankheit 46. Bei der Auswahl eines weiblichen Embryos würde damit das Krankheitsrisiko umgangen. Des Weiteren wird das Screening bei Patientinnen eingesetzt, die bereits mehrere Fehlgeburten hinter sich haben oder durch ihr Alter ein erhöhtes Risiko für ein Kind mit Chromosomenanomalie haben (vgl. Taranissi et al. 2005). Zugleich fällt bei der Geschlechtskontrolle auch Intersexualität als chromosomale Veränderung auf. Kollek weist darauf hin, dass das Verfahren nicht immer zu einer genauen Identifizierung der Chromosomen führt, da bspw. die Chromosomenspreizung fehlschlagen kann oder der Embryo bei der Biopsie zerstört wird (vgl. Kollek 2002b: 47). Neben der Chromosomendiagnostik haben sich Verfahren der genetischen Diagnostik etabliert, mittels derer die Zellen direkt auf monogenetische Erkrankungen und/oder prädiktiv auf Krankheitsdispositionen untersucht werden (vgl.
ferenziert wird, wird in Deutschland beides unter dem Begriff der Präimplantationsdiagnostik (PID) zusammengefasst. 44 Die am häufigsten verwendeten Verfahren sind die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) oder das präimplantative genetische Screening (PGS). Für eine Übersicht und Beschreibung dieser und weiterer Verfahren vgl. Sermon et al. 2004. 45 Das Norrie-Syndrom ist ein Erbdefekt, der zumeist nur bei Jungen auftritt. Träger des Syndroms sind häufig von Blindheit und starker Schwerhörigkeit betroffen. Ist die Mutter Trägerin des Defekts, liegt die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit an ein männliches Kind weiterzugeben, bei 50%. 46 Frauen bekommen die Bluterkrankheit in der Regel nicht. Der Defekt liegt zwar auf dem x-Chromosom, kann aber durch das zweite x-Chromosom zumeist ausgeglichen werden. Da dieses zur Korrektur bei Männern fehlt, liegt hier das Risiko für die Weitergabe bei einem männlichen Embryo deutlich höher. Ist die Mutter Trägerin des Defekts, liegt die Wahrscheinlichkeit einer Weitergabe an ein männliches Kind auch hier bei 50%.
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Nippert 2006: 6). 47 Mithilfe dieser hochempfindlichen Verfahren können bspw. Mukoviszidose, Chorea Huntington oder die Sichelzellenanämie nachgewiesen werden, aber auch das BRAC1-A Gen, das eine Veranlagung zu Brustkrebs anzeigt (vgl. Harper et al. 2010a: 2691f.). Gerade aufgrund des wenigen vorhandenen Materials und des engen Zeitfensters, das keine Reproduzierbarkeit der Testergebnisse erlaubt, ist eine sichere Diagnose im Rahmen der PID grundsätzlich schwieriger als bei einer PND (vgl. Krones 2009: 147). 48 Als eine dritte Option hat sich in Deutschland die Polkörperdiagnostik entwickelt. Diese Diagnostik untersucht die sogenannten Polkörper, Abschnürungen aus der Eizelle, die sich während des Eisprungs und nach der Befruchtung der Eizelle bilden, und für die weitere Entwicklung nicht mehr gebraucht werden. Sie enthalten jedoch einen haploiden Chromosomensatz, anhand dessen die Chromosomenweitergabe von Seiten der Mutter getestet werden kann (vgl. van der Ven et al. 2008). Da die Polkörperdiagnostik zeitlich vor der Verschmelzung der Zellkerne von Samen und Eizelle ansetzt, liegt qua definitionem noch kein Embryo vor. Gleichzeitig ist das Verfahren eingeschränkter als eine PID, die am Embryo ansetzt und damit auch die Weitergabe von Veranlagungen durch die väterliche Seite prüfen kann. Neben der Selektion von Krankheiten soll die PID helfen, die Ergebnisse einer IVF zu optimieren und gleichzeitig die Mehrlingsraten zu senken. Da für einen Großteil der Fehlgeburten im Laufe einer Schwangerschaft Chromosomenfehler verantwortlich gemacht werden, die mit steigendem Alter der Frau und des Mannes zunehmen, soll die Prüfung der Eizellen auf Chromosomendefekte das Risiko eines Aborts mindern (vgl. Taranissi et al. 2005; Ulcova-Gallova 2012). Durch den Ausschluss von Embryonen mit Chromosomenstörungen soll damit die Chance erhöht werden, bei einer IVF schwanger zu werden. Zugleich ließe sich so die Zahl der Mehrlingsgeburten senken, da die Übertragung von nur ein oder maximal zwei Embryonen nicht die Erfolgsquote einer IVF schwächen würde (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2007: 27). Auch hier gibt es Diskussionen darum, wie hilfreich die PID bei diesem Ziel ist. Die Hoffnung auf eine signifikante Verbesserung der Erfolgsquote scheint bislang nicht bestätigt zu sein. So liegt die Quote für eine Schwangerschaft laut der Da-
47 Die am häufigsten angewendeten Verfahren bilden hier die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) und die genetische Präimplantation-Haplotypisierung (PGH). 48 Nach Kollek unterscheiden sich die Fehlerquoten je nach Studien, lägen aber zwischen 2,5% bis 27% bei der Geschlechtsbestimmung und bei der Untersuchung von Monogendefekten wie der Mukoviszidose zwischen 7% bis 36% (vgl. Kollek 2002: 50f.).
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tensammlung der »European Society of Human Reproduction and Embryology« (ESHRE) bei 21,73%, während die Quote der Mehrlingsschwangerschaften mit 37% der Geburten deutlich erhöht bleibt (Harper et al. 2010a). 49 Andererseits liegen Untersuchungen vor, nach denen sich gerade bei Frauen über 35 Jahren die Chancen auf eine erfolgreiche Schwangerschaft deutlich verbessert haben, wenn sie neben der IVF auch eine PID vorgenommen haben (vgl. Kollek 2002b: 99). Während einige HumangenetikerInnen daher empfehlen, bei Frauen ab Ende 30 die PID einzusetzen und so auch die oben beschriebenen Vorteile einer verbesserten Schwangerschaftsrate und verringerter Mehrlingsraten zu nutzen (vgl. Delhanty 1993), verweisen andere darauf, dass der Nachweis einer signifikanten Verbesserung bislang noch ausstehe (vgl. Harper et al. 2010b). Neben den bereits angeführten Anwendungsbereichen bietet die PID die Möglichkeit, den Embryo nach bestimmten Merkmalen auszuwählen. So ist in einigen Ländern die Auswahl nach Geschlecht erlaubt, ohne dass hiermit ein Krankheitsrisiko umgangen werden soll (Klinkhammer 2004). Und es ist diagnostisch möglich geworden, die Embryonen auf ihre Eigenschaft als (Stammzell-)SpenderIn zu untersuchen, so dass Embryonen als sogenannte saviour siblings gezielt ausgesucht werden, um für kranke Geschwister als Spender zu dienen (vgl. Dickens 2005; Murphy 2010). Die gezielte Auswahl nach Kriterien wie der Spendertauglichkeit oder des Geschlechts zeigt damit auch das Potential der PID auf, das über die Selektion von Krankheiten hinausreicht. Vielmehr deutet sich hier an, dass nicht nur der Wunsch nach Gesundheit des Kindes einen Entscheidungsgrund bei der Auswahl des Embryos darstellen muss. Diese in der PID angelegte Möglichkeit einer gezielten Auswahl nach gewünschten Kriterien bildet den Anwendungsbereich, der mit Metaphern wie »shopping in the genetic supermarket« oder »Designer-Babys« bezeichnet wird. Im Gegensatz zur Pränataldiagnostik, die während der ersten Schwangerschaftsmonate durchgeführt wird, dient die PID noch vor dem Eingehen 50 einer Schwangerschaft dazu, ein Wissen um die genetische Beschaffenheit des Kindes
49 Die European Society of Human Reproduction and Embryology (ESHRE) wurde 1997 eingerichtet und sammelt seitdem Daten für Screening- und Diagnoseanwendungen der PID. Sie hat bis 2012 elf Berichte publiziert. 50 Ich benutze den Begriff »Eingehen« um zu markieren, dass die Schwangerschaft im Kontext der IVF und PID weder zufällig zustande kommt noch durch den Reproduktionsmediziner/die Reproduktionsmedizinerin hergestellt wird, sondern vielmehr auf der bewussten Entscheidung von den Frauen und Paaren beruht, schwanger werden zu wollen. Mit dieser Entscheidung begeben sie sich in eine strukturierte Abfolge von Behandlungsschritten, die bereits mit der Hormonstimulation beginnt.
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zu generieren, geht aber in ihren Anwendungsmöglichkeiten zugleich über eine reine Selektion von Krankheiten hinaus. Zusammenfassend können drei Anwendungsbereiche bzw. Ziele der PID bestimmt werden: Erstens die Selektion von Embryonen mit genetischen und/oder chromosomalen Auffälligkeiten, zweitens die Verbesserung der Erfolgsquote einer IVF bei gleichzeitiger Reduzierung von Mehrlingsschwangerschaften und drittens die Auswahl von Embryonen nach gewünschten Eigenschaften.
4.2 D IE
RECHTLICHEN R EGELUNGEN UND POLITISCH INSTITUTIONELLEN D ISKUSSIONEN ZUR PID
Die rechtliche Situation in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren komplett geändert. Bis zum Jahr 2010 galt die PID im Rahmen des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) als nicht zulässig und Deutschland war im europäischen Vergleich eines der Länder mit besonders strikten Regelungen zur Reproduktionsmedizin. Im Jahr 2010 ändert sich jedoch die rechtliche Regelung zur PID durch ein Urteil des Bundesgerichtshofs. Da die spätere Diskursuntersuchung sowohl im Zeitraum des Verbots und der Neuregelung angesiedelt ist, werde ich für beide Phasen die rechtlichen Regelungen vorstellen. 4.2.1 Der rechtliche Rahmen und die politischen Entscheidungen bis zum Jahr 2010 Während sich in den meisten europäischen Ländern die PID als Verfahren der Reproduktionsmedizin etabliert und rechtlich zulässig ist, verhinderte das Embryonenschutzgesetz lange Zeit eine Anwendung dieser Diagnoseform in Deutschland. 51 Das Embryonenschutzgesetz (ESchG), das 1990 zur Regelung
51 Die PID ist nach der Gesetzesänderung in Deutschland nur noch in drei europäischen Ländern verboten (Italien, Schweiz und Österreich). Einige Länder, bspw. Luxemburg, haben keine eindeutige Regelung der PID. In den meisten Ländern ist jedoch die Untersuchung auf genetische Krankheiten und chromosomale Abweichungen erlaubt. Differenzen finden sich hier bei dem jeweiligen Umgang mit einer weitreichenden Nutzung der PID: So unterliegt das Testen für »savior siblings« strengeren und national unterschiedlichen Auflagen bspw. der Zustimmung einer Ethikkommission oder anderen Formen der nationalen Kontrolleinrichtungen. Nur in den Niederlanden und Deutschland ist das Testen auf die Spenderfähigkeit uneingeschränkt verboten. Alle europäischen Länder eint wiederum, dass sie eine Auswahl nach Geschlecht aus ande-
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für den Umgang mit Embryonen – vorrangig in Bezug auf In-vitroFertilisationen – beschlossen wurde, bildet den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen humangenetische Anwendungen in der Reproduktionsmedizin stattfinden können und enthält Regelungen, die lange Zeit so interpretiert wurden, dass eine PID rechtlich ausgeschlossen wurde. Zwei Passagen kommt in Bezug auf die Anwendung der PID dabei besondere Bedeutung zu: So wird mit bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft, wer »es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt« (ESchG 1990: §1). Des Weiteren wird festgelegt, was als missbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen zählt: »Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer Frau vor Abschluss seiner Einnistung in die Gebärmutter entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt, erwirbt oder verwendet, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft« (ESchG 1990: §2). Die letztlich jedoch wichtigste Bestimmung des Gesetzes ist die Begriffsbestimmung, ab welchem Stadium rechtlich ein Embryo vorliegt bzw. von diesem gesprochen werden kann. Laut ESchG gilt die befruchtete Eizelle ab dem Moment der Kernverschmelzung als Embryo (vgl. Paragraph 8) und schließt damit die PID bis auf die Verfahrensvariante der Polkörperdiagnostik aus. Das ESchG erweist sich – ähnlich wie in der Diskussion um die Forschung an Stammzellen – als ein restriktiver rechtlicher Rahmen, der für die Einführung neuer Verfahren der humanen Gentechnologie, die auf die Forschung oder Diagnose von und an (totipotenten) Eizellen zielen, geändert werden müsste. Nicht zuletzt deshalb sind die Stammzellenforschung und die PID zu den zwei zentralen bioethischen Debatten um die Nutzen und Risiken der Humangenetik avanciert, innerhalb welcher sich KritikerInnen wie BefürworterInnen um die rechtliche wie ethische Legitimation der Anwendung stritten und streiten. Die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung verhindert eine schrittweise Einführung durch die medizinische Praxis und erfordert die Auseinandersetzung und das Herstellen von Mehrheiten, die für den Erhalt oder die Änderung plädieren. Welche Relevanz dem rechtlichen Rahmen in der Diskussion zukommt, zeigt sich an der Polkörperdiagnostik. Da diese Variante der PID durch die Regelungen des ESchG nicht explizit ausgeschlossen wird, wird die Polkörperdiagnostik von deutschen ReproduktionsmedizinerInnen auch vor der Änderung im Jahr 2011 angewendet. Zugleich taucht dieses Verfahren nur an den Rändern der Diskussion auf, wird
ren Gründen als zur Krankheitsprävention ablehnen (vgl. Brown/Middleton 2005; Kneer/Schroer 2009).
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aber bspw. vom Nationalen Ethikrat als mögliche Anwendung empfohlen (vgl. Nationaler Ethikrat 16.06.2004). Zu Beginn der 2000er Jahre wird die PID intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert und sowohl die Enquete-Kommission Recht und Ethik in der Medizin als auch der von Gerhard Schröder einberufene Nationale Ethikrat beschäftigen sich mit der Frage, ob die PID als Verfahren in der BRD erlaubt werden sollte und inwieweit sie mit dem ESchG vereinbar sei. Beide Beratungsgremien haben den grundsätzlichen Auftrag, die Entwicklungen der Gentechnologie zu verfolgen und den Bundestag als unabhängige Sachverständige bei der Beurteilung und Gesetzgebung zu beraten. 52 Während beide Beratungsgremien für die Einführung der PID zuerst eine Änderung des ESchG für notwendig halten, unterscheiden sie sich in ihren Empfehlungen. Die Enquete-Kommission rät in ihrem Abschlussbericht von 2002 mehrheitlich dazu, an dem Verbot der PID festzuhalten und die entsprechende Passage zur In-vitro-Fertilisation um die PID zu präzisieren (vgl. Enquete-Kommission 2002: 111). Der Bericht verweist auf Risiken der Ausweitung der PID, so bezweifelt die Kommission, dass es dauerhaft möglich sei, die PID auf einen festen Katalog zu beschränken und sieht in der Diagnose am Embryo eine Verletzung an dessen Menschenwürde (vgl. ebd.). Der Nationale Ethikrat, der von Gerhard Schröder 2001 einberufen wurde, plädiert stattdessen für eine begrenzte Zulassung der PID (vgl. Nationaler Ethikrat 2003). Er empfiehlt die Zulassung der PID für Paare mit einem hohen Risiko für genetische oder chromosomale Störungen sowie für infertile Paare, falls eine Untersuchung auf eine Chromosomenstörung ihre Erfolgsrate erhöhen kann (vgl. ebd.: 106f.). Des Weiteren schlägt er die Begrenzung auf wenige lizenzierte Zentren sowie die Einführung einer zentralen Kontrolle und eine umfassende Beratung der Paare vor (ebd.). Der Bundestag hat sich im Zuge der Berichte beider Beratungsgremien mit der PID auseinandergesetzt. In einer ausführlichen Bundestagsdebatte im Jahr 2001 entscheiden sich die Parlamentarier mehrheitlich gegen eine Einführung der PID (vgl. Deutscher Bundestag 2001). Die Stellungnahme des Ethikrates 2003 verändern das Mehrheitsverhältnis dabei ebenso wenig wie die Plenar-
52 Der Nationale Ethikrat wurde am 2. Mai 2001 durch einen Beschluss der rot-grünen Regierung eingesetzt und stand unter der Kritik, im Gegensatz zu der vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission nicht dem Parlament, sondern vielmehr der Regierung zuzuarbeiten. Bis ins Jahr 2007 arbeitet der Nationale Ethikrat, im Februar 2008 löst sich der Rat auf und wird im April 2008 durch den Deutschen Ethikrat ersetzt. Seine Mitglieder werden sowohl von der Bundesregierung als auch dem Bundestag vorgeschlagen und vom Präsidenten des Bundestages berufen.
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debatte über einen Gesetzesentwurf der FDP im Jahr 2005 (vgl. Deutscher Bundestag 2005). Allerdings macht die Aussprache deutlich, dass das Fehlen eines Reproduktionsmedizingesetzes bemängelt wird. 4.2.2 Der rechtliche Rahmen und die politischen Entscheidungen ab dem Jahr 2010 Im Jahr 2010 ändert sich die rechtliche Lage durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) grundlegend. Dieser verhandelt am 6.7.2010 die Klage eines Reproduktionsmediziners aus Berlin, der sich nach der Durchführung von drei Präimplantationsdiagnostiken selbst angezeigt hatte. Der Mediziner Matthias Bloechle hatte in den Jahren 2005 und 2006 bei drei Paaren eine PID durchgeführt, die ein erhöhtes Risiko auf die Weitergabe einer Chromosomenanomalie hatten. Eine der Patientinnen hat bereits ein Kind mit einer schweren Behinderung, eine andere zwei Fehlgeburten und eine Abtreibung aufgrund der festgestellten Anomalie hinter sich (vgl. Bundesgerichtshof, 06.07.2010). In Absprache mit den Paaren führte Bloechle an den Embryonen die PID durch und transferierte nur Embryonen ohne Auffälligkeiten und führt so bei einer seiner Patientinnen eine erfolgreiche Schwangerschaft und die Geburt eines gesunden Mädchens herbei. Wichtig ist hier, dass Bloechle den Embryonen die Zellen erst am fünften Tag entnahm. Zu diesem Zeitpunkt sind die Zellen des Embryos bereits im Blastozystenstadium und damit nicht mehr totipotent, 53 sondern pluripotent. Die Embryonen, die positive Testergebnisse hatten, werden von ihm nicht weiter kultiviert und sterben in der Petrischale ab. Nach diesen drei Anwendungen der PID zeigt sich Bloechle selbst an. Der Fall wird zuerst am Berliner Landgericht verhandelt, das Bloechle im Mai 2009 freispricht (vgl. Rose 2009). Das Berliner Landesgericht sieht in der Durchführung keinen Widerspruch mit dem ESchG, da das Ziel der Anwendung in der Herbeiführung einer Schwangerschaft lag (ebd.). Nachdem die Staatsanwaltschaft Revision einlegt, wird der Fall 2010 vor dem Bundesgerichtshof neu verhandelt. Der BGH folgt in seinem Urteil dem Beschluss des Berliner Landesgerichtes und hält fest, dass die Präimplantationsdiagnostik keine »strafbare Verwendung menschlicher Embryonen« (Bundesgerichtshof, 06.07.2010) darstelle. Auch der BGH verweist darauf, dass die Unter-
53 Die Unterscheidung in toti- und pluripotent verweist auf das Entwicklungspotential der Zellen: Aus einer totipotenten Zelle können sich alle Zellformen entwickeln, u.U. somit auch ein weiterer Embryo. Pluripotente Zellen haben immer noch ein weites Entwicklungspotenzial, da sie noch nicht auf eine spezifische Zellentwicklung festgelegt sind. Sie können sich aber nicht mehr in einen Embryo entwickeln.
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suchung von dem Wunsch getragen gewesen sei, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Ebenso wird die Entnahme von Zellen des Embryos nicht als Schädigung gewertet, da es sich bereits um pluripotente Zellen handelt, aus denen sich kein Embryo mehr hätte entwickeln können (vgl. ebd.: Abs. 27). Dass die nicht weiter kultivierten Embryonen abstarben, stellt in der Lesart des Gerichtes keinen Verstoß dar, da diese weder gegen den Willen der Patientinnen transferiert werden können, noch vom Arzt eine Kryoaufbewahrung verlangt werden kann (vgl. ebd.: Abs. 27, 46ff.). Zudem sieht das Gericht einen Wertwiderspruch zwischen dem Schutz des Embryos in vivo und in vitro, da das Verbot der Diagnostik im Widerspruch zu dem Recht auf eine PND und der Möglichkeit zur (Spät-)Abtreibung stehe (vgl. ebd.: Abs. 30). Für den zukünftigen Umgang mit der PID fordert der BGH den Gesetzgeber auf, eine klare rechtliche Regelung zu erlassen. Das Urteil stellt eine grundlegende Umorientierung in der Auslegung des ESchG dar und zeigt, wie offen für Neuinterpretationen selbst sehr strikte Bestimmungen zur Reproduktionsmedizin sein können. Bis zu dem Urteil galt die PID als unvereinbar mit dem geltenden ESchG. Dass diese Auslegung unstrittig war, zeigt sich zum einen darin, dass die beiden Beratungsgremien des Bundestages, die Enquete-Kommission für Recht und Ethik in der Medizin sowie der Nationale Ethikrat, in ihren Empfehlungen klar davon ausgegangen sind, dass es für eine Anwendung der PID erst einer Änderung des ESchG bedürfe (vgl. Enquete-Kommission 2002: 27; Nationaler Ethikrat 2003). Zum anderen verweist auch die Polkörperdiagnostik darauf, dass eben jene Umgehung der Untersuchung am Embryo als notwendig angesehen wurde, um überhaupt eine Diagnostik vornehmen zu können. Indem das Gericht auf die Absicht der Herstellung einer Schwangerschaft fokussiert und die Diagnostik an nicht mehr totipotenten Zellen nicht explizit als Diagnostik am Embryo festlegt, öffnet es die Räume für eine andere Auslegung. Bettina Bock von Wülfingen beschreibt hier einen Wandel von einem dogmatischen Embryo zu einem Leistungs-Embryo, da in dem Urteil deutlich würde, dass nun auch Qualitätseigenschaften – nämlich das Versprechen, sich zu entwickeln – an die Bestimmung und den daraus resultierenden Schutz des Embryo geknüpft würden (Bock von Wülfingen 2012). Im Anschluss an das Gerichtsurteil folgt eine erneute (politische) Auseinandersetzung, die ein Jahr später in die Abstimmung um einen Gesetzesentwurf für die PID mündet. Da ich die inhaltlichen Argumente im Zuge der folgenden Diskursanalyse ausführlicher vorstelle, möchte ich hier nur das Prozedere und die drei Entwürfe skizzieren: Mit dem Urteil des BGH war die Anwendung der PID nicht mehr strafbar, zugleich fehlte jedoch eine Bestimmung, in welchem Rah-
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men die PID zukünftig angewendet werden sollte. Kurz, es galt zu klären, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen die PID durchgeführt werden darf. Die Bundestagsabgeordneten haben sich im April und Juli 2011 mit dieser Frage ohne Fraktionszwang auseinandergesetzt und in der ersten und zweiten Lesung drei außerfraktionelle Entwürfe debattiert: Im Dezember 2010 wurde ein erster Gruppenantrag von Petra Sitte (Die Linke), Jerzy Montag (Bündnis 90/Die Grünen), Carola Reimann (SPD), Peter Hintze (CDU/CSU) und Ulrike Flach (FDP) vorgestellt. In diesem wird eine eingeschränkte Freigabe der PID gefordert, wenn aufgrund genetischer Dispositionen der Eltern »eine hohe Wahrscheinlichkeit auf eine schwerwiegende Erbkrankheit« (Flach et al. 2011) besteht. Unter der Vorgabe einer Beratung für die Eltern und dem Votum einer Ethikkommission soll eine PID in lizenzierten Zentren möglich sein. Gegen diese Öffnung wird im Februar 2011 ein zweiter Gruppenantrag der Abgeordneten Birgit Bender (Die Grünen) und Johannes Singhammer (CSU) vorgestellt, die sich für ein klares Verbot der PID aussprechen und somit die rechtliche Neuregelung der PID nutzen wollen, um die Interpretationsmöglichkeiten des ESchG, die zum Urteil des BGH geführt haben, zu schließen (vgl. Bender et al. 2011). Ein dritter Entwurf der Abgeordneten um Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), René Röspel (SPD) und Priska Hinz (Grüne) sieht einen Kompromiss vor. Sie wollen die PID grundsätzlich verbieten, aber für die Fälle, in denen die genetische Disposition der Eltern zu einer Fehl- oder Totgeburt führen würde, auf eine Strafverfolgung verzichten (vgl. Hinz et al. 2011). Bereits nach der zweiten Lesung am 7. Juli 2011 liegt für den ersten Entwurf um die Hintze-Gruppe eine Mehrheit vor. Damit wird die Präimplantationsdiagnostik eingeschränkt erlaubt und der Absatz 3 des ESchG erweitert. Auch der Deutsche Ethikrat hatte im Vorfeld der Entscheidung erneut für eine eingeschränkte Freigabe für Paare mit einem erhöhten Risiko auf die Weitergabe schwerer Erbkrankheiten votiert (vgl. Deutscher Ethikrat 2011). In seiner Empfehlung betont der Rat, dass es Eltern mit dem Risiko auf die Weitergabe von Behinderungen oder genetischen Krankheiten möglich sein müsse, ein Kind zu bekommen und hierfür zum Ausschluss von Krankheiten die PID nutzen zu können (vgl. ebd.: 80f.). Nach der erfolgreichen Abstimmung im Bundestag beginnt die Arbeit an der Implementierung des Gesetzes, die wiederum von Auseinandersetzungen begleitet wird. So wird am ersten Entwurf einer Verordnung zur PID des Bundesgesundheitsministers Daniel Bahr kritisiert, dass die Kriterien für die zertifizierten Zentren und die Zusammensetzung der Ethikkommission unklar seien und insgesamt zu viele Zentren vorgesehen seien (vgl. Klinkhammer 2012). Kritische Verbände und Nichtregierungsorganisationen wie das Gen-ethische Netzwerk
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kritisieren zudem, dass nicht ausreichend sichergestellt sei, dass die PID auf schwerwiegende Erbkrankheiten begrenzt bleibt, und bemängeln das Fehlen einer einheitlichen Aufsicht durch eine Ethikkommission anstelle von mehreren Ethikkommission für die jeweiligen Zentren (vgl. bspw. Gen-ethisches Netzwerk, 15.11.2012). Auch die Länder formulieren einen Widerspruch, einigen sich schließlich aber auf einen Entwurf, in dem die Zahl der Zentren begrenzt wurde. Am 1. Februar 2013 wird der PID-Verordnung, die 12 Monate später in Kraft tritt, schließlich auch im Bundesrat zugestimmt. Ein Jahr später wird zum 1. März 2014 das Zentrum für Humangenetik am Ambulanzzentrum des UKSH am Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) Lübeck als erstes Zentrum für PID zugelassen. Somit ist jetzt für Paare in Deutschland möglich, eine PID legal durchführen zu lassen, wenn sie das Risiko für eine schwere Erbkrankheit tragen.
4.3 AUSBLICK Seit ihrer Entwicklung hat sich die PID in nahezu allen europäischen Ländern als Verfahren im Rahmen einer künstlichen Befruchtung etabliert und nimmt hierbei eine Schlüsselstellung ein. Sie verbindet die künstliche Befruchtung mit der Diagnostik am Embryo und ermöglicht nicht nur die Auswahl von gesunden Embryonen, sondern ebenso nach Merkmalen wie dem Geschlecht und der Eignung als Spender. Damit ist die PID zwar einerseits weit entfernt von Vorstellungen eines Designer-Babys, bei dem auf die Intelligenz, Sportlichkeit oder Haarfarbe Einfluss genommen wird, andererseits zeigt sich hier eine neue Qualität der Gründe bei der Auswahl von Embryonen, die über die reine Hoffnung auf eine gesunde Entwicklung des Kindes hinausreichen. Die PID kann also bereits heute mehr als nur ein »Qualitätscheck« sein. Nichtsdestoweniger bildet die PID schon aufgrund ihrer aufwendigen und teuren Analyse bislang kein standardmäßig durchgeführtes Verfahren in der Reproduktionsmedizin. Hier bleibt es spannend zu beobachten, ob es mit der PID signifikant gelingt, die Erfolgsraten einer IVF zu verbessern, was vor allem von dem Screening auf Chromosomenanomalien erwartet wird. Verbindet man dies mit dem zunehmend steigenden Alter von Patientinnen der Kinderwunschzentren, zeigt sich, dass sich hier – ähnlich wie bei der Fruchtwasseruntersuchung – ein wachsender Markt für die Durchführung einer PID ergäbe. So gibt bspw. die HFEA als Grund für ein Chromosomenscreening im Rahmen einer IVF ein gestiegenes Risiko auf Anomalien ab 35 Jahren an (vgl. HFEA).
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In Deutschland ist die PID rechtlich und politisch nach langer Diskussion und trotz eines restriktiven ESchG legalisiert worden. Wichtig bleibt, dass die rechtliche Änderung des Status der PID nicht in Folge der politischen und ethischen Diskussion um die PID stattgefunden hat, sondern sie auf der Selbstanzeige des Reproduktionsmediziners gründet. Trotzdem wird in dem Gerichtsurteil und im späteren Beschluss des Bundestages deutlich, dass sich das Verständnis der Anwendung der PID und die Definition des Embryos verändert haben, wenn mittels der Differenzierung zwischen totipotenten und pluripotenten Zellen die Untersuchung am Embryo im Rahmen des ESchG möglich wurde. In den folgenden Kapiteln der Arbeit werde ich diesen Verschiebungen im Verständnis nachgehen und den medialen Diskurs der PID untersuchen.
5. Methodischer Zugang
Vor dem Hintergrund der beschriebenen medizinischen und rechtlichen Entwicklungen findet in Deutschland die öffentliche Debatte um die Präimplantationsdiagnostik statt. Vor allem zu Beginn dieses Jahrtausends zeichnet sie sich dadurch aus, dass sich neben JournalistInnen auch WissenschaftlerInnen, ReproduktionsmedizinerInnen und PolitikerInnen direkt zu Wort melden und so die wissenschaftliche Debatte zu großen Teilen in den (Qualitäts-)Medien geführt wird. Um das komplexe Feld der medialen Auseinandersetzung um die Präimplantationsdiagnostik strukturieren zu können und zu prüfen, welche Bedeutung die Kategorie Geschlecht und geschlechtsspezifische Anrufungen in den Aushandlungsprozessen einnehmen, habe ich die Debatte um die Einführung der PID diskursanalytisch untersucht. Dabei habe ich drei Zeiträume festgelegt, um so den geänderten rechtlichen Bedingungen gerecht zu werden: Der erste Zeitraum reicht von 2000 bis 2004 und bildet damit die große öffentliche Debatte um die PID ab, die im Anschluss an die Rede Peter Sloterdijks begonnen hat (vgl. Sloterdijk 1999). Der zweite Zeitraum liegt im Jahr 2010 und gibt die (medialen) Reaktionen auf das Urteil des BGH wieder. Und der dritte Zeitraum im Jahr 2011 schließlich umfasst die Bundestagsdebatte und die Abstimmung über eine Änderung des ESchG. Da der zweite und dritte Zeitraum zeitlich und thematisch eng beieinander liegen, fasse ich diese beiden Teile in der Analyse als Wiederaufnahme des Diskurses zusammen. Im folgenden Kapitel stelle ich meinen methodischen Zugang vor. Dafür beginne ich mit einer Skizzierung der diskurstheoretischen Arbeiten Michel Foucaults, um in Anschluss hieran die Methode der Diskursanalyse sowie den Forschungsstand und mein eigenes Forschungsdesign zu beschreiben.
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5.1 F OUCAULTS B EGRIFF
DES
D ISKURSES
In seinen genealogischen Arbeiten geht Michel Foucault der Produktion und Entstehung von Wissen sowie den damit einhergehenden Machtstrukturen nach. An Beispielen der Medizin, der Psychiatrie, der Sexualität, der Schule und des Gefängnisses untersucht Foucault in historischen Analysen, wie sich neue Formen des Wissens herausbilden und Subjekte und ihre Körper durchziehen. Foucault etabliert einen Begriff des Diskurses, der diesen als die Konstruktion und Vermittlung von Deutungs- und Handlungsmustern beschreibt, die sich im Feld der gesellschaftlichen Praxen, Institutionen und historischen Prozesse ansiedeln (vgl. Bublitz 2003: 50). Im Diskurs bilden sich Gegenstände und Praktiken für das soziale Handeln aus, so dass Diskurse als gegenstandskonstituierende und strukturierende Praktiken verstanden werden können (vgl. Keller 2005a). Sie stellen »gleichzeitig Machtinstrument und -effekt« (Foucault 1977: 122) dar, in welchen sich Macht und Wissen ineinander fügen. Der Diskurs produziert aber auch Machtbeziehungen, indem er Gegenstände und Praktiken des sozialen Handelns hervorbringt, und schafft somit soziale Wirklichkeit. In der Archäologie des Wissens (Foucault 1981) unternimmt Foucault den Versuch, die verschiedenen Ebenen und Aspekte des Diskurses zu ordnen und aufzuzeigen, wie sich im Diskurs (wiederkehrende) Regelmäßigkeiten finden lassen. Er führt Formationsregeln und diskursive Beziehungen als Begrifflichkeiten ein, die die diskursive Praxis strukturieren und mittels derer sich Spezifka eines Diskurses beschreiben lassen. Die Formationsregeln werden von Foucault als »Existenzbedingung […] in einer diskursiven Verteilung« (ebd.: 58) definiert und in vier Dimensionen gegliedert – Gegenstände, Äußerungsmodalitäten, Begriffe und Strategien –, anhand deren Regelmäßigkeit der Anordnung zueinander eine diskursive Formation ablesbar wird. Des Weiteren beschreibt Foucault diskursive Beziehungen als ein Bündel von Beziehungen, das es ermöglicht, Gegenstände zu benennen, zu behandeln, zu analysieren und zu klassifizieren und damit den »Diskurs selbst als Praxis« (ebd.: 70) zu verstehen. Das Ergebnis einer Analyse dieser Beziehungen legt nicht eine a priori bestehende Struktur oder das Wesen der Gegenstände frei, die es nur nachzuzeichnen gälte, im Gegenteil: »[…] man wird schließlich verwiesen auf die Herstellung von Beziehungen, die die diskursive Praxis selbst charakterisiert; und man entdeckt auf diese Weise keine Konfiguration oder Form, sondern eine Gesamtheit von Regeln, die einer Praxis immanent sind und sie in ihrer Spezifität definieren.« (Foucault 1981: 71)
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Weder die Formationsregeln noch die diskursiven Beziehungen können mit dem Begriff des Diskurses gleichgesetzt werden, sie spezifizieren vielmehr Facetten des Diskurses. Diskurse sind dann als »Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (ebd.: 74) und damit nicht reduzierbar sind auf die Zeichen, die sie verwenden. Das Spezifische des Foucaultschen Begriffes liegt in der produktiven Bestimmung der Diskurse, die selbst historisch spezifische Praxen und Gegenstände hervorbringen und damit über ein linguistisches Verständnis hinausreichen. Paula-Irene Villa definiert den Diskursbegriff nach Foucault als »ein Ensemble von Sprechweisen und sprachlich-begrifflichen Vorstellungen, die für eine Epoche typisch beziehungsweise konstitutiv sind. Diskurse beziehen sich immer jeweils auf ein Objekt (zum Beispiel Körper, Sexualität, Wissenschaft), das sie in spezifischer Weise konstruieren. Diskurse haben wirklichkeitserzeugende Wirkungen, indem sie nur bestimmte Begriffe für Objekte hervorbringen.« (Villa 2003: 158)
Foucault verzichtet darauf, Diskurse als homogene Gebilde zu beschreiben, vielmehr betont er die Wechselhaftigkeit und Brüchigkeit eines Diskurses, in welchem sich eine Vielzahl von (widersprüchlichen) Positionen und Strategien wieder finden. Ebenso lehnt er es ab, einen Diskurs als primären zu beschreiben. Dem Versuch einer einheitlichen Definition entzieht sich Foucault, vielmehr wandelt sich sein Begriff des Diskurses im Rahmen seines Werkes. Von der Archäologie des Wissen, wo sich die strukturierteste Lesart findet und Foucault die Formationsregeln von Diskursen thematisiert, zu einem Begriff des Diskurs in seinen genealogischen Arbeiten, den er in »Die Ordnung des Diskurses« (Foucault 2003) näher ausführt und bei welchem er sich auf politische, ökonomische und soziale Faktoren und damit einhergehende Ausschlüsse konzentriert. Hier schreibt er: »Ich setze voraus, das in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, seine unberechenbare Ereignishaftigkeit zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.« (Foucault 2003: 11)
Während er in »Die Ordnung des Diskurses« (ebd.) die Beschreibung des Verhältnisses von Diskurs und Macht unter einer starken Fokussierung auf Ausschlüsse und Verknappung vornimmt, ergänzt er diesen Fokus auf primär negative Mechanismen in späteren Arbeiten um positive Mechanismen (Foucault
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1978: 107). Trotz der unterschiedlichen und sich wandelnden Perspektiven auf den Diskurs in seinem Werk lassen sich die oben beschriebenen Eckpunkte als eine Konstante seines Diskursbegriffes herausarbeiten. In Anlehnung an Foucault verstehe ich »Diskurs« daher im Folgenden als eine gesellschaftliche Korrelation, in welcher zu spezifischen historischen Begebenheiten Bedeutungen ausgehandelt werden und Subjekte sich zugleich konstituieren wie sie konstituiert werden. Der Bezug auf den Diskursbegriff erscheint für eine feministische Untersuchung nicht zuletzt aufgrund seiner Beschreibungen des Subjekts und des Körpers als (Teil-)Produkte diskursiver Formationen und Machtmechanismen förderlich (Foucault 2003: 29f.), welche mithilfe der Diskursanalyse zugleich sichtbar und beschreibbar werden. Eine besondere Position kommt hierbei dem Körper zu, der eine Art Scharnierfunktion innehat. Im Körper bilden sich Machtverhältnisse und Normierungsansprüche als Sediment des Diskurses ab und durchziehen ihn, zugleich bringt der Körper jedoch selbst Praktiken hervor. Diese Ambivalenz lässt sich in Foucaults Arbeiten verfolgen. In »Überwachen und Strafen« (Foucault 1994) beschreibt Foucault die Wirkungsweise und Etablierung der Disziplinarmacht. Mit der Geburt des Gefängnisses, der Schule und des Militärs wird der Körper zum Zielpunkt von Disziplinierungsprozessen und -praktiken, er wird durch gezielte räumliche Anordnungen, Überwachung und Übung ausgerichtet und so als Symbol und Ausdruck der (durchgesetzten) Disziplinarmacht geformt. In »Der Wille zum Wissen« (Foucault 1977), dem ersten Band der dreiteiligen Untersuchung zu Sexualität und Wahrheit, untersucht Foucault die »›Diskursivierung‹ des Sexes« (ebd.: 21). Auch hier geht er der Frage nach, wie Macht verkörpert wird bzw. die Körper durchzieht und von ihnen hervorgebracht wird, verschiebt den Fokus zugleich aber. Am Beispiel der Geschichte des Sexes verdeutlicht er, dass zwar mit dem Wissen um Sexualitätsweisen Praktiken hervorgebracht werden. Er beschreibt jedoch keine eindimensionale Beziehung, sondern untersucht vielmehr, wie sich im Rahmen der Geständnispraxis das Subjekt über sexuelle Praktiken und Wünsche selbst erkennt und konstituiert. Gegenüber der Vorstellung einer repressiven Macht, die auf das Subjekt und seinen Körper einwirkt, betont Foucault die positive Wirkung von Macht, die dazu bestimmt sei »Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten« (ebd.: 163). Der Körper erfährt in diesem Kontext eine Intensivierung und »Aufwertung als Wissensgegenstand und als Element in den Machtverhältnissen« (ebd.: 129), er wird zugleich über den Sex zum »Chiffre der Individualität« (ebd.: 174). Foucault zeigt in dieser Untersuchung auf, wie sich Machtdispositive zentral an den Körper schalten, und damit auch an seine Empfindungen, Lüste
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und Begehren (vgl. ebd.: 180f.). Auch wenn die Machtdispositive am Körper ansetzen, wird er nicht ausschließlich als deren Einschreibefläche verstanden. Hannelore Bublitz verweist darauf, dass der Körper weder als apriorisch vorausgesetzt noch als reines Resultat von Diskursen und Praktiken skizziert werden kann, sondern vielmehr als ein Bestandteil dieser verstanden werden muss (vgl. Bublitz 2001). Diese Lesart legt auch ein Zitat von Foucault in einem Interview nahe: »Ich suche zu zeigen, wie die Machtverhältnisse in die Tiefe des Körpers materiell eindringen können, ohne von der Vorstellung der Subjekte übernommen zu werden. Wenn die Macht den Körper angreift, dann nicht deshalb, weil sie zunächst im Bewußtsein der Leute verinnerlicht worden ist. Es gibt ein Netz von Bio-Macht, von somatischer Macht, die selbst ein Netz ist, von dem aus die Sexualität entsteht als historisches und kulturelles Phänomen, innerhalb dessen wir uns gleichzeitig wiedererkennen und verlieren.« (Foucault 1978: 108f.)
Dieses Netz ist nicht vom Körper zu trennen, sie sind vielmehr konstitutiv ineinander verschlungen.
5.2 M ETHODISCHE ANSCHLÜSSE Obwohl Foucault in seinen Arbeiten Ergebnisse von Diskursanalysen präsentiert und sich sowohl in der »Archäologie des Wissen« (1981) als auch in »Die Ordnung der Diskurse« (2003) explizit mit dem Verständnis und den Beschreibungsebenen von Diskursen auseinandersetzt, liefert er über begriffliche Bestimmungen hinaus kein Instrumentarium zur konkreten Vorgehensweise bei einer Analyse. Für die Einführung der Diskursanalyse als einer neuen Forschungsmethode bestand die Herausforderung darin, eine Werkzeugkiste für das methodische Vorgehen zu konzipieren und wissenschaftlich zu etablieren. Im Anschluss an Foucault sind daher unterschiedliche Ansätze der Diskursanalyse ausgearbeitet worden, welche den Fokus auf das Herausarbeiten und Sichtbarmachen von Strukturen legen. Rainer Diaz-Bone charakterisiert die Methode folgendermaßen: »Aufgabe der Diskursanalyse ist, eine den Individuen nicht einsichtige Regelmäßigkeit (die der Formationsregeln) innerhalb einer diskursiven Praxis für eine analysierende Praxis intelligibel zu machen, d. h. rekonstruierend zu verstehen.« (Diaz-Bone 1999: 126f.)
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Die am weitesten ausgearbeiteten Anschlüsse an Foucault finden sich in neueren methodischen Ansätzen der Sprachwissenschaften und der Wissenssoziologie. Die Arbeiten Jürgen Links zur Kollektivsymbolik und das von Siegfried Jäger repräsentierte Konzept der Kritischen Diskursanalyse des Deutschen Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) legen den Schwerpunkt darauf, sprachliche Deutungsmuster in Diskursen herauszuarbeiten (vgl. Jäger 2004; Link 2006). Neben diesen linguistischen geprägten Zugängen hat sich in den letzten Jahren das Konzept der Wissenssoziologischen Diskursanalyse von Reiner Keller etablieren können (Keller 2005b). Für die Analyse von Mediendiskursen eignet sich vor allem das Konzept der Kritischen Diskursanalyse, da Siegfried Jäger und das DISS einen Schwerpunkt auf (Print-)Medien gelegt haben. Im Folgenden werde ich zuerst diesen Ansatz skizzieren und wichtige Eckpunkte der Methode vorstellen, um im Anschluss daran mein eigenes Vorgehen zu beschreiben. Die Kritische Diskursanalyse basiert auf den theoretischen Überlegungen von Michel Foucault und Jürgen Link, zieht aber zudem die Tätigkeitstheorie von Alexis N. Leontjew 54 hinzu. Siegfried Jäger hat mittels der Kritischen Dis-
54 Alexis N. Leontjew entwickelt seine Tätigkeitstheorie als Reaktion auf eine Krise der Psychologie, die seines Erachtens Resultat einer Aufspaltung in »eine human- und eine naturwissenschaftliche, eine beschreibende und eine erklärende Richtung« (Leontjew 1982: 9) ist. Er versteht Tätigkeit als den Zusammenhang von Denken, Sprechen und Handeln und beschäftigt sich in seiner Arbeit »Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit« (ebd.) mit »inneren« bewusstseinsmäßigen Formen der Tätigkeit ebenso wie mit Formen der »praktischen« sinnlich-konkreten Tätigkeit. Mittels eines so gefassten Konzepts der Tätigkeit versucht Leontjew, das Subjekt-Objekt-Verhältnis kritisch zu reflektieren und neu zu bestimmen. Jäger verweist darauf, dass Leontjew die Voraussetzung der Menschwerdung nicht in das Bewusstsein oder das Denken lege, sondern vielmehr in die Tätigkeit als eben deren Grundlage und pointiert: »Am Anfang stand nicht das Wort, sondern die Tat« (Jäger 2004: 83). Der Begriff der Tätigkeit löst damit für Jäger einige zentrale Probleme: Die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, in welcher die Tätigkeit als eine Form der Vermittlung(sarbeit) die Subjektwerdung erklären könne, und ein Verständnis von Diskursen, in dem diese als Produkt menschlicher Tätigkeit und Arbeit aufgefasst werden (vgl. ebd.: 110f.). Zudem stellt Jäger die Tätigkeitstheorie als eine mögliche Bindestelle zwischen den Disziplinen der Linguistik und der Soziologie vor, da sie den Zusammenhang von Sprache, Individuum und Gesellschaft verdeutliche. Er bezieht sich auf die Tätigkeitstheorie, um sie zur »Überbrückung der Kluft zwischen Subjekt und Diskurs zu nutzen und die Frage zu beantworten, wie sich das Subjekt im Diskurs und durch den Diskurs konstituiert einerseits, und wie Diskurs als historisches Produkt menschlicher Tätigkeit konstituiert wird und
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kursanalyse einen methodischen Ansatz entwickelt, den er als »Bereitstellung eines Verfahrens zur Analyse von Diskursen« (Jäger 2004: 12) versteht und der als interdisziplinäres Programm der Linguistik und Soziologie angeordnet werden kann. Im Anschluss an Link wird Diskurs hier verstanden als »eine institutionell verfestigte Redeweise, insofern eine solche Redeweise schon Handeln bestimmt und verfestigt und also auch schon Macht ausübt« (vgl. Link 1983a: 60). Nach Jäger konstituieren Diskurse Subjekte und werden durch die Subjekte im Prozess ihrer arbeitsteiligen Tätigkeit durch die Zeit aufrechterhalten und tradiert. Jäger definiert Diskurse daher als geregelten und strukturierten »Fluss von Wissen durch die Zeit« (Jäger 2004: 129), in dem zu spezifischen Zeiten spezifisches Wissen ausgehandelt wird. Dieser Ansatz der Diskursanalyse legt den Schwerpunkt der Untersuchung damit auf die Verbindung von Wissen und Macht und analysiert, was historischdiskursiv als Wahrheit gilt und erzeugt wird, und in welcher Weise sich hierbei Regeln und Strukturen (wieder-)finden lassen (vgl. ebd.). Jäger betont, dass Diskurse nicht bloß passiv Regeln und Strukturen repräsentieren, sondern vielmehr eine aktive Praxis bilden: Er versteht Diskurs »selbst als gesellschaftliche und Gesellschaft bewegende Kraft« (ebd.: 23). Für die Aufrechterhaltung und die Entwicklung der Diskurse spielen die (Print-)Medien eine zentrale Rolle und bilden das »Brennglas, das vorhandenes Wissen ›spezifisch‹ bündelt und dieses Wissen an ein Massenpublikum weitergibt« (ebd.: 19). Das Verständnis der Medien in der Kritischen Diskursanalyse ist jedoch keines, das von einer reinen Abbildarbeit der Medien ausgeht, die wissenschaftliche Diskurse nur einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und in gewisser Weise übersetzen. In ihrer Untersuchung verweisen Siegfried und Margret Jäger darauf, dass die Printmedien nicht nur einen »verbal-diskursiven Teil des biopolitischen Dispositivs« (ebd.: 306) repräsentieren, sondern auch an der Produktion und Reproduktion des Dispositivs beteiligt sind. Sie betonen, dass die Printmedien eine Diskursebene darstellen, »durch die der Alltagsdiskurs nachhaltig geprägt wird« (ebd.: 5) und in welcher die Themen wissenschaftlicher und politischer Diskurse aufgenommen und aufbereitet werden. Einerseits stellen die Printmedien die wissenschaftliche Debatte vor und öffnen sie für eine öffent-
Macht ausüben kann« (ebd.: 21). Neben Foucault, dessen Verständnis von Diskursanalyse als Gesellschaftsanalyse bestimmt werden kann, nutzt Jäger die Tätigkeitstheorie, um das Verhältnis zwischen Sprache und Gesellschaft stärker zu fokussieren und füllt somit die von ihm kritisierte Lücke zwischen der Linguistik und der sozialen Praxis, indem er die Analyse der sprachlichen Ebene mit Elementen der Gesellschaftsanalyse verknüpft.
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liche Diskussion. Sie bereiten das schwer zugängliche Spezialwissen in spezifischer Weise auf und transferieren es somit in den Alltag. Andererseits setzen sie selbst Schwerpunkte, schaffen durch die Berichterstattung diskursive Ereignisse und geben hiermit die Argumentationslinien medial vor (vgl. ebd.: 19). Dabei legen sie auch die Weise fest, wie über Ereignisse berichtet wird. Margret Jäger u.a. erinnern daran, dass über die mediale Vermittlung Ereignisse im Rahmen von Normalität und Abweichung angesiedelt werden und damit zugleich definiert werde, was als normal gelten könne (vgl. ebd.: 21). Hier wird ein weiterer Bezug zu Jürgen Links Arbeiten über den Normalismus deutlich. Die Kritische Diskurstheorie nimmt das Modell der »normalistischen Kurvenlandschaft« 55 von Jürgen Link auf und verweist darauf, dass mit der Definition dessen, was als normal gilt, auch der Bereich des Nicht-Normalen oder Anormalen festgelegt wird. Link geht in seinen Arbeiten der Frage nach, wie Normalität erzeugt wird, was als normal im Diskurs erscheint und durch welche diskursiven Mittel das Verständnis von Normalität geprägt wird. Am Beispiel des Modells der »Kurve zur Normalverteilung« verdeutlicht Link, wie in dem Diskurs Vorstellungen von Normalität verankert sind und durch den Einsatz von Infografiken, Statistiken etc. geprägt werden: »›Normalitäten‹ im engen Sinne von auf Verdatung gegründeten, statistischen tingiertem Orientierungswissen gibt es […] im Wesentlichen erst seit dem etwa 1800 Jahrhundert im Okzident. Hier bildete das Regime systematischer Verdatung aller relevanten massenhaften gesellschaftlichen Handlungen sowie deren wissenschaftlich-statistische Aufbereitung so etwas wie ein historisches Apriori des Normalismus. Normalitäten in diesem engen Sinne sind also mehr oder weniger breite ›normal ranges‹ die sich zwischen meistens zwei Normalitätsgrenzen an den ›Extremen‹ um die ›Mitte‹ der verschiedenen statistischen Durchschnittswerte herum erstrecken.« (Gerhard et al. 2001: 7)
In dieser Konzeptionierung bilden Normalitäten ausgedehnte »Landschaften« mit engeren oder breiteren Übergangszonen zur »Anormalität«, so dass der Bereich des Außen konstitutiver Bestandteil von Normalität ist. Link versucht mit
55 Besonders hervorzuheben sind hier vor allem die Veröffentlichungen von Jürgen Link »Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird« (Link 2006) und die drei Bände der DFG-Forschungsgruppe »Leben in der Kurvenlandschaft. Flexibler Normalismus in Arbeitsleben und Alltag, Medien und belletristischer Literatur«, die in der Reihe »Diskursivitäten. Literatur. Kultur. Medien« erschienen sind (vgl. Gerhard 2001: 7).
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seinem Ansatz die Theorieperspektive Foucaults zu ergänzen und im Hinblick auf den Begriff des Normalismus Normalität und ihre Herstellung zu präzisieren. 56 Siegfried Jäger greift die Arbeiten zum Normalismus von Jürgen Link auf und erweitert diese um die Analyse dessen, was in einer Gesellschaft als »normal« gilt und damit auch formuliert und gesagt werden kann. Er beschreibt die Untersuchung des Sagbarkeitsfeldes als eine Aufgabe der Diskursanalyse: »Diskursanalyse erfaßt somit auch das jeweils Sagbare in seiner qualitativen Bandbreite bzw. alle Aussagen, die in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit geäußert werden (können), aber auch die Strategien, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder auch eingeengt wird, etwa Verleumdungsstrategien, Relativierungsstrategien, etc. Das Auftreten solcher Strategien verweist oft auf Aussagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft nicht sagbar sind, da es besonderer ›Tricks‹ bedarf, wenn man sie doch äußern will. Das Sagbarkeitsfeld kann durch direkte Verbote, Einschränkungen, Anspielungen, Implikate, explizite Tabuisierungen aber auch durch Konventionen, Vereinheitlichungen, Bewusstseinsregulierungen etc. eingeengt oder auch zu überschreiten versucht werden. Der Diskurs als ganzer ist die regulierende Instanz; er formiert Bewusstsein.« (Jäger 2004: 130)
In einer zugehörigen Fußnote werden die oben genannten Strategien als Argumentationsstrategien angeführt (vgl. ebd.: 130). Anhand dieser lässt sich nach Jäger untersuchen, wie unterschiedliche Positionen und Argumente in den Diskurs eingebracht werden und was als sagbar gilt. Für den Bereich der Diskurse um die Reproduktionsmedizin wäre das Feld des Sagbaren durch moralische Normen und rechtliche Regelungen des Umgangs mit dem Embryo vorbestimmt. Ebenso prägen die historischen Erfahrungen der Eugenik im Nationalsozialismus
56 In seinem Hauptwerk »Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird« (Link 2006) stellt er zwei Mechanismen des Normalismus vor und beschreibt ihre Funktion. Erstens den Protonormalismus, der langfristig und statisch wirkende Grenzziehungen festlegt und mit Zwang und eindimensionalen (Unterdrückungs-)Verhältnissen der »Dressur und Repression« (Link 1995: 28) assoziiert wird, die auf das Subjekt einwirken. Dieser wird zunehmend durch flexibel-normalistische Strategien ersetzt, die Link mit der Fähigkeit zur Selbst-Normalisierung verbindet. Im Rahmen des Flexibilitäts-Normalismus herrscht kein eindimensionaler Druck vor, sondern die Subjekte können frei wählen und die Grenzen der Normalität selbst verschieben, solange diese insgesamt im Rahmen der gesellschaftlichen Vorstellungen von Normalität bleiben (vgl. ebd.).
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die bundesdeutsche Debatte und bilden wichtige Bezugspunkte, welche die Gefahr der Selektion und des Missbrauchs der gentechnologischen Möglichkeiten symbolisieren. Auch sie bestimmen das Sagbarkeitsfeld mit, indem sie einerseits einen ungebrochen positiven Bezug auf die Gentechnologie ohne die Reflexion von (möglichen) negativen Auswirkungen in Frage stellen und andererseits die Begriffe der Selektion und der Eugenik negativ konnotiert sind. Zuletzt möchte ich die Kollektivsymbole als eine zentrale Analysekategorie der Kritischen Diskursanalyse vorstellen. Wie eingangs geschrieben, greift Jäger in seiner Ausarbeitung die methodischen Überlegungen von Jürgen Link auf. Dieser beschreibt Kollektivsymbole als Bestandteil eines Systems synchroner Symbole oder »symbolischer sinnbildergitter« (Link 1982: 11, i. O.), das sich über die Diskurse zieht, sie verknüpft und zusammenkittet. Dieses Konzept ist von der Kritischen Diskursanalyse aufgenommen und weiterentwickelt worden. Das DISS analysiert Diskurse auf dort verwendete Kollektivsymbole bzw. »kulturelle Stereotypen« (Jäger 2004: 134), die innerhalb eines kulturellen Zusammenhangs genutzt werden und die verschiedenen Diskursstränge zusammenhalten und vernetzen. So haben sie auch in der Analyse der Medienberichterstattung um die Biowissenschaften gezeigt, wie bspw. mittels des »Fortschritts-Zuges« (Jäger 1997: 134) die Eigendynamik und das Erfolgsversprechen der biotechnologischen Forschung symbolisiert wird. An anderer Stelle wird die »symbolische Codierung des Körpers als Maschine« (ebd.: 21) vorgestellt, so dass der Körper analog zu technischen Daten über Funktionsstörungen, Messwerte und Weiterentwicklungen beschrieben werden kann und damit selbst messbar, kontrollierbar und verbesserbar wird. Auch in der medialen Diskussion um die PID werden Kollektivsymbole eingesetzt. So haben Katharina Liebsch und Ulrike Manz im Diskurs der PID die »schiefe Ebene« oder den »Dammbruch« als bildliche Verweise für die Gefahren der Überschreitung ethischer Grenzen herausgearbeitet (Liebsch/Manz 2007: 70f.). So eindrucksvoll die Arbeiten hierzu sind, habe ich mich dennoch gegen eine Analyse der Kollektivsymbole entschieden, da diese sich primär auf die ethische Diskussion und die Figur des Embryos beziehen und somit den Fokus meiner Analyse verschoben hätten.
5.3 F ORSCHUNGSSTAND UND F ORSCHUNGSDESIGN Für die methodische Ausgestaltung der folgenden Analyse bilden die Arbeiten von Siegfried Jäger einen zentralen Bezugspunkt, allerdings schließe ich primär an seine Analyse von Argumentationsstrategien an. Meine Fragestellung an den medialen Diskurs der PID ist, wie geschlechtsspezifische Aspekte und »Ge-
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schlecht« in diesem thematisiert werden. Vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen zum Aufbrechen des Dualismus von Natur und Kultur und der sich durch die Reproduktionsmedizin erweiternden Vorstellungen von Reproduktion möchte ich prüfen, ob sich auch in der öffentlichen Diskussion eine Veränderung von Geschlechtergrenzen und geschlechtsspezifischen Zuschreibungen finden lässt. Damit verschiebe ich zugleich den Fokus der inhaltlichen Debatten auf spezifische Aspekte des Diskurses. Mit der Analyse von Argumentationsstrategien gelingt es jedoch, das gesammelte Material auch anhand dieser spezifischen Fragestellung auszuwerten. In der Analyse des Diskurses um die PID in den Jahren 2000 bis 2004 und 2010 bis 2011 habe ich die Argumentationsfiguren herausgearbeitet, in denen Frauen und Paare im Diskurs auftauchen. Meine genaue Vorgehensweise sowie den Katalog, mit dem ich die Artikel erfasst habe, stelle ich zu Beginn der Auswertung und damit anhand meines Materials vor. In der deutschsprachigen Debatte haben diskursanalytische Ansätze und Forschungsperspektiven in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Mit einem spezifischen Fokus auf die humane Gentechnologie sind hier vor allem die folgenden Arbeiten zu nennen: Jürgen Gerhards und Mike Steffen Schäfer vergleichen die Diskurse um die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes in den USA und Deutschland und arbeiten dabei heraus, welche wissenschaftliche und medizinische Deutungen die jeweiligen Diskurse dominieren (Gerhards/Schäfer 2006). 57 Sigrid Graumann untersucht »Die Rolle der Medien in der öffentlichen Debatte zur Biomedizin« (Graumann 2003) und mahnt an, dass ethische Aspekte und die Perspektiven von Behinderten in der Debatte nicht ausreichend berücksichtigt werden. Katharina Liebsch und Ulrike Manz untersuchen die Umsetzung und Vermittlung von Expertenwissen der Gentechnologie im Kontext der Schule. Sie gehen der Frage nach, wie gentechnologische Wissenskomplexe in der Schule angeeignet werden und welche Inhalte dabei übernommen und transportiert werden (Liebsch/Manz 2007). Anne Waldschmidt untersucht die Diskurse um die Humangenetik auf verschiedenen Ebenen und berücksichtigt dabei ebenfalls geschlechtsspezifische Aspekte. Sie analysiert die Expertendiskurse der genetischen Beratung und arbeitet Transformationen in den Beratungskonzepten der Humangenetik zwischen 1945 und 1990 heraus (Waldschmidt 1996). Des Weiteren hat sie die Kampagne der Aktion Mensch »1000 Fragen« und deren Onlineforum analysiert und – gerade bei letzterem – die alltagsweltliche Ausei-
57 Neben der BRD und den USA geben sie zudem einen Ausblick auf die Diskurse in Frankreich, Großbritannien und Österreich.
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nandersetzung um bioethische Fragen in den Blick genommen (vgl. Waldschmidt 2009). Auf zwei Arbeiten möchte ich gesondert hinweisen, da sie ebenfalls die Präimplantationsdiagnostik in den Blick nehmen: Bettina Bock von Wülfingen untersucht in »Genetifizierung der Zeugung« (2007) den Diskurs um die Reproduktionsmedizin auf Verschiebungen und diskursive Entwicklungen zu dem Umgang mit Sterilität und beobachtet dabei den Wandel des Begriffes der Zeugung und die Verwendung von Metaphern. Mit Anschluss an Foucaults Konzept der Biomacht und Gouvernementalität untersucht sie Szenarien der Selbst- und Fremdbestimmung sowie der Bestimmung von Gesundheit. Sie fragt, wie diese sich in der Thematisierung von Sterilität und Zeugung verändern und im Diskurs (neu) besetzt werden. Dafür analysiert sie Artikel deutscher Qualitätszeitungen und Magazine im Zeitraum von 1995-2003, die zu verschiedenen reproduktionsmedizinischen und/oder gentechnologischen Verfahren erschienen sind. Das Themenspektrum reicht hier von künstlicher Befruchtung und Spermieninjektion über Eizellspende, Präimplantationsdiagnostik und Keimbahntherapie bis zu Klonierung und Stammzellforschung. Es gestaltet sich schwierig, klare Anknüpfungspunkte zu finden, denn durch den Fokus auf die Zeugung und die Heterogenität der untersuchten Anwendungen bleibt unklar, welche ihrer Ergebnisse sich explizit auf die PID beziehen. Die Analyse meines Materialkorpus zeigt jedoch sehr deutlich, dass es für die Argumentation im Diskurs einen signifikanten Unterschied macht, ob die Anwendung (wie im Fall der IVF) bereits legalisiert und etabliert ist oder (wie im Fall der PID) um die Legalisierung noch mit Verweis auf die Instrumentalisierung des Embryos gerungen wird. Dies erklärt vielleicht konträre Ergebnisse: So verweist Bock von Wülfingen in ihrer Analyse auf das Motiv des »Leidens« am unerfüllten Kinderwunsch (vgl. ebd.: 280). Dieses Motiv findet sich auch in meinem Material wieder, entfaltet sich aber erst in einem Zeitabschnitt, der nicht mehr in ihren Erfassungszeitraum fällt. Und auch das von ihr festgestellte Aufbrechen von Geschlechtergrenzen und Heterosexualität im Diskurs (vgl. ebd.: 262f.) lässt sich mit meinen Ergebnissen – leider – nicht vereinbaren. Ebenfalls einen Fokus auf die PID nimmt Julia Diekämper in ihrer Arbeit »Reproduziertes Leben« (2011) ein. Sie vergleicht den deutschen Diskurs der PID mit der französischen Debatte und arbeitet dabei Überschneidungen und Unterschiede heraus. Sie siedelt ihre Arbeit vor den theoretischen Überlegungen Foucaults an und stellt die PID als eine neue Technologie im Zeitalter der »Biomacht« vor, die auf die Organisation und Verbesserung des Lebens zielt. Diekämper fokussiert auf die ethische und rechtliche Debatte und beschreibt einen Wandel von der »Heiligkeit des Lebens« zu einer »Ethik des Heilens« (ebd.:
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195). Im Rahmen des Ländervergleichs arbeitet sie heraus, dass eine Homogenisierung europäischen Rechtes aufgrund unterschiedlicher diskursiver Konstellationen in beiden Ländern nicht zu erwarten ist, und stellt die Universalisierbarkeit des Schutzes des Embryos in Frage. Obwohl Diekämper mit der Frage nach der »Verrechtlichung der Reproduktion« eine andere Fragestellung an den Diskurs der PID heranträgt, finden sich Schnittstelle zu der vorliegenden Arbeit. So arbeitet sie ebenfalls heraus, wie sich die Beschreibung des »Rechts auf ein Kind« (vgl. ebd.: 289) im Diskurs etabliert. Leider endet ihre Analyse im Jahr 2010 und vollzieht damit den Wandel in der öffentlichen Diskussion sowie die rechtliche Neuregelung im Jahr 2011 nicht bzw. nur teilweise mit. Die oben angeführten Arbeiten zeigen die Weite des möglichen Themenspektrums einer Diskursanalyse zum Bereich der Gentechnologie an und liefern zugleich unterschiedliche Designs einer Diskursanalyse. Mit einem starken Fokus auf die ethischen Debatten, bildet die Aushandlung von Geschlechterverhältnissen in den meisten Arbeiten eine Leerstelle, die nicht systematisch untersucht wird. Hier setze ich mit der folgenden Diskursanalyse an: Die mediale Auseinandersetzung um die Präimplantationsdiagnostik bietet ein Beispiel für die Einführung und »diskursive Etablierung« einer reproduktionsmedizinischen Anwendung, aber auch dafür, wie Vorstellungen von »Geschlecht« und geschlechtlichen Körpern in den Diskursen um die Reproduktionsmedizin verhandelt werden. In den anschließenden Kapiteln untersuche ich daher den Diskurs der PID in den Jahren 2000 bis 2004 sowie seine Wiederaufnahme »Neuer Diskus – neue Argumente?« in den Jahren 2010 und 2011. Ich werde hierbei chronologisch vorgehen, um nachzuvollziehen, wie sich der Wandel in der Bewertung der PID vollzieht und wo sich Verschiebungen und Brüche, aber auch Kontinuitäten in der Argumentation markieren lassen.
6. Der Diskurs der PID in der ZEIT (2000-2004)
Die ZEIT auf dem deutschen Pressemarkt: Selbstverständnis, Leserschaft und Media-Daten Die erste Ausgabe der ZEIT am 21.2.1946 markiert den Auftakt zu einer erfolgreichen Zeitungsgeschichte. Damals gründeten Gerd Bucerius, Lovis H. Lorenz, Ewald Schmidt und Richard Tüngel DIE ZEIT in Anlehnung an die Vorbilder »The Times« und »Le Temps« mit dem Entschluss zum »politischen und moralischen Engagement« (Janßen/von Kuenheim/Sommer 2006: 12) im Nachkriegsdeutschland. Im Mai 1946 tritt Marion von Dönhoff als ein weiteres Mitglied der Redaktion bei, die sie als spätere Chefredakteurin und Herausgeberin bis 2002 mit prägte. Bekannt wurde die ZEIT in den 40er Jahren vor allem durch eine kritische Kommentierung der Besatzungspolitik. Unter dem Gründungsverleger Gerd Bucerius wird die ZEIT zu einer liberal-kritischen und wertkonservativen Zeitung aufgebaut, deren Alleineigentümer er bis zum Jahre 1996 bleibt. Der langjährige Autor Karl-Heinz Janßen schreibt über die ersten Jahre: »Dennoch huldigten die ZEIT-Leute der ersten Stunde einem althergebrachten Patriotismus. Ihre Grundpositionen war national und liberal im guten, alten Sinne der Demokraten von 1948. Fern von parteipolitischen Einordnungen träfe auch das Wort liberalkonservativ zu. (Der Begriff wertkonservativ war noch nicht gebräuchlich.) Von Anbeginn ist der ZEIT dem Recht und der Wahrheit verpflichtet. Sie setzt (neue) alte Werte.« (Janßen/von Kuenheim/Sommer 2006: 26)
Der liberalen Einstellung bleibt die ZEIT bis heute verbunden und führt diese Position auch nach Wechsel der Herausgeberschaft und der Chefredakteure wei-
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ter. 58 In den vergangenen 60 Jahren ist die ZEIT zur größten überregionalen und wöchentlich erscheinenden Qualitätszeitung angewachsen, die sich auf dem deutschen Pressemarkt behaupten konnte und sich mit ansteigenden Verkaufszahlen auch entgegen des Trends der vergangenen Jahre zum LeserInnenschwund entwickelt hat. 59 Als eine Reaktion auf die sinkenden Verkaufszahlen der 90er Jahre werden in der ZEIT ab dem Ende des Jahrzehnts einige Umstrukturierungen und Personalwechsel vorgenommen. So werden das Feuilleton und einzelne Ressorts neu besetzt und/oder aufgewertet und die Herausgeberschaft und ZEIT-AutorInnen teils durch Ruhestand, teils durch Neubesetzungen verjüngt. Die Leserschaft scheint es der ZEIT zu danken. So sind seit 2001 nicht nur die Verkaufszahlen gestiegen, laut des sozio-demografischen Profils, das die ZEIT in ihren Media-Daten anführt, verfügt sie auch über eine relativ junge, gut gebildete und besserverdienende Leserschaft. So haben 56% Prozent der ZEIT-LeserInnen Abitur und/oder einen Studienabschluss, 49% der LeserInnen sind zwischen 20 bis 49 Jahre alt, womit die ZEIT über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegt, und 45% der LeserInnen verfügen monatlich über 3000 Euro und mehr (vgl. Media-Daten 2006). Die LeserInnen der ZEIT gehören zur oberen Mittelklasse und Bildungselite und sind, wie Karl-Heinz Janßen anführt, keine Modernitätsmuffel: »Jeder zweite Leser bezeichnet sich als PC-Fortgeschrittener und hat mindestens zwei Computer im Haushalt. Und ZEIT-Leser sind aufgeklärte Wechselwähler.« (Janßen/von Kuenheim/Sommer 2006: 431)
58 Im Untersuchungszeitraum sind als Herausgeber tätig: Theo Sommer (bis 2000), Gräfin von Dönhoff (bis 2002), Josef Joffe (ab 2000), Michael Naumann (ab 2001) und Helmut Schmidt. Bei den Chefredakteuren haben sich in der Untersuchungszeit zwei Wechsel ergeben. Giovanni di Lorenzo übernimmt im August 2004 den Posten des Chefredakteurs von der vorherigen Doppelspitze Michael Naumann und Josef Joffe, die seit 2001 nicht mehr nur Herausgeber, sondern auch Chefredakteure waren. Diese wiederum lösen Roger de Weck ab, von dem sich die ZEIT Ende 2000 trennte. 59 Laut den Media-Daten entwickelt sich die Auflage und die Leserreichweite im Auswertungszeitraum positiv von 1,38 Mio. Personen und 445.389 Exemplaren im Jahr 2000 zu 1,43 Mio. Personen und 483.726 Exemplare im Jahr 2005. Damit wirtschaftete sich die ZEIT auch aus der Krise, die in den 90er Jahre mit sinkenden Verkaufszahlen begonnen hatte und seit Mitte der 90er dazu geführt hatte, dass die ZEIT rote Zahlen schrieb (vgl. Janßen/von Kuenheim/Sommer 2006: 394). Ihr gelingt es, diesen positiven Trend auch im späteren Untersuchungszeitraum 2010 und 2011 fortzusetzen. Im Jahr 2010 ist die ZEIT mit 1,63 Mio. LeserInnen und 502.418 Exemplaren die Qualitätszeitschrift mit der höchsten Reichweite (vgl. AWA 2010).
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Für eine Untersuchung der öffentlichen Debatte über die Präimplantationsdiagnostik in den Printmedien bietet sich die ZEIT aus mehreren Gründen an. Sie nimmt zum ersten eine zentrale Position unter den deutschen Qualitätszeitungen ein und ist im Untersuchungszeitraum 2000 bis 2004 die größte wöchentlich erscheinende Qualitätszeitung in der BRD. Zweitens zeichnet die ZEIT gerade ihr liberales Selbstverständnis aus und der Versuch, aktuelle Themen aufzunehmen, Debatten öffentlich zu führen und zu beginnen. Marion von Dönhoff hat die Aufgabe der ZEIT wie folgt formuliert: »Wir müssen die Emotionen rationalisieren. Wir müssen gegenhalten, wenn sich die Leute zu viel aufregen, und wir müssen anfeuern, wenn sie stumpfsinnig dasitzen und immer noch nicht begriffen haben, daß etwas Ungehörtes vorgeht.« (Janßen/von Kuenheim/Sommer 2006: 339)
Schaut man sich die Publikation an, mithilfe derer die ZEIT Werbeträger ansprechen möchte, so findet sich auch dort der Anspruch der ZEIT kurz und programmatisch zusammengefasst wieder: »Die ZEIT ist Deutschlands führende meinungsbildende Wochenzeitung. […] Fundierte Hintergrundberichte, gründlich recherchierte Fakten und genaue Analysen machen DIE ZEIT zu einer wichtigen Informationsquelle. DIE ZEIT setzt Themen, bezieht Positionen, diskutiert Perspektiven und prägt Meinungen.« (Preisliste Nr.51, gültig ab 01.01.2006)
Dieser Anspruch der ZEIT lässt sich im Bereich der humanen Gentechnologie beobachten und nachvollziehen. Mit der Aufwertung und Ausweitung des Ressorts »Wissen«, das nach dem Ressort »Politik« zum meistgelesenen Teil der ZEIT wurde, geht auch eine ausführliche Berichterstattung und Kommentierung der neuen Entwicklungen der Gentechnologie einher (vgl. Janßen/von Kuenheim/Sommer 2006: 405f.). Einen Startpunkt zu einer gesteigerten Beschäftigung mit diesem Thema bildet die Debatte von Habermas und Sloterdijk. Der Abdruck der Elmauer Rede »Regeln für den Menschenpark« von Peter Sloterdijk in der ZEIT (Sloterdijk 1999) und die daran anschließende Diskussion zwischen Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas finden über die ZEIT hinaus eine breite Kommentierung und bestimmen Ende 1999 die bioethische Diskussion in der BRD. Die ZEIT fördert diese Debatte, indem sie neben den beiden Kontrahenten weitere WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen um einen Beitrag bittet und gemäß dem liberalen Selbstverständnis unterschiedliche Perspektiven und Standpunkte zur Wort kommen lässt. Sigrid Graumann zeigt in ihrer Untersuchung über »Die Rolle der Medien in der öffentlichen Debatte zur
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Biomedizin« (Graumann 2003) auf, wie die sogenannte Sloterdijk-Debatte von der ZEIT begonnen wird (vgl. ebd.: 221). In ihrer Studie wird deutlich, dass die ZEIT wiederholt Expertendebatten über die neuen Entwicklungen der Biomedizin initiiert und kontinuierlich über eben jene berichtet hat. Graumann nutzt den Begriff der Expertendebatte zudem, um zu betonen, dass die Diskussion nicht in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, sondern vielmehr direkt in der ZEIT und weiteren deutschen Qualitätszeitschriften und -zeitungen, bspw. der FR, der FAZ, der SZ und dem Spiegel, geführt worden sei und somit die »akademische Debatte […] im O-Ton in den öffentlichen Medien geführt« (ebd.: 220) wurde. Bei der Analyse der ZEIT finden sich daher neben festangestellten und freien RedakteurInnen der Zeitung eine Vielzahl von WissenschaftlerInnen, MedizinerInnen und PolitikerInnen, die sich mittels eines Artikels oder eines Interviews in der Debatte zu Wort melden. Das Vorgehen in der Habermas-SloterdijkDebatte lässt sich auf weitere Diskussionen im Feld der humanen Gentechnologie übertragen und zeigt auf, dass die ZEIT nicht nur bemüht ist, den öffentlichen Diskurs zur PID abzubilden und die Diskussion zu fördern, sondern zugleich auch die Publikation zu sein, in welcher der Diskurs begonnen und geführt wird. Der Auswertungszeitraum Der Auswertungszeitraum von 2000-2004 setzt unmittelbar nach der HabermasSloterdijk-Debatte ein, die bereits eine recht breite wissenschaftliche Kommentierung erfahren hat. 60 In diesem Zeitraum sind alle Artikel, in welchen Präimplantationsdiagnostik oder die Kurzform PID angeführt wird, in den Analysekorpus aufgenommen. Insgesamt finden sich in dem Analysezeitraum 71 Texte in der ZEIT. Den größten Anteil an diesen Texten bilden Artikel in den Ressorts Wissen, Politik und dem Feuilleton, als weitere Textformen finden sich Interviews und Kommentare sowie Leserbriefe. Die Anzahl der Publikationen pro Jahr variiert dabei sehr stark. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit der PID liegt in der ZEIT deutlich auf dem Jahr 2001 mit 33 gefundenen Artikeln und damit nahezu der Hälfte des vorliegenden Auswertungsmaterials. Auch im Jahr 2000 und 2002 finden sich noch einige Artikel zur PID, während die Berichterstattung in den Jahren 2003 und 2004 deutlich nachlässt.
60 Eine ausführliche Auseinandersetzung findet sich bspw. bei Heinz-Ulrich Nennen (2003).
D ER D ISKURS DER PID IN DER ZEIT
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Tabelle 1: Anzahl der Artikel zur PID in der ZEIT von 2000-2004 Gesamtanzahl
2000
2001
2002
2003
2004
71
12
33
15
9
2
Bei dem Schwerpunktjahr 2001 fällt auf, dass die Artikel sich auf die ersten neun Monate verteilen. In den Monaten Mai, Juni und Juli wird der Großteil der Artikel publiziert und ab der Mai-Ausgabe vom 17.5.2001, Nr. 21, erscheinen bis zur Juli-Ausgabe vom 05.07.2001, Nr. 28, pro Ausgabe zwei oder mehr Artikel, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der PID beschäftigen. In diesen Zeitraum fällt am 31.05.2001 die 173. Sitzung des Bundestages, auf deren Tagesordnung als Top 4 die »Vereinbarte Debatte zu Recht und Ethik der modernen Medizin und Biotechnologie« aufgeführt ist. Die unterschiedliche Dichte von Texten kann dabei im Jahr 2001 als Ausdruck der Aktualität des Themas gewertet werden, das in diesem Zeitraum auf der institutionellen, politischen Ebene diskutiert wird. Die ZEIT nimmt neben der politischen Ebene auch weitere Ereignisse zum Anlass von Artikeln. Sowohl um Skandalmeldungen des ersten Versuchs eines geklonten menschlichen Babys als auch um die Berichte und Entscheidungen der Beratungsgremien »Enquete-Kommission Recht und Ethik in der Medizin« oder des Ethikrates häufen sich die Publikationen. Diese diskursiven Ereignisse strukturieren die Debatte und zeigen auf, an welchen Punkten der Debatte ein besonders deutliches öffentliches Interesse bestand und/oder hergestellt wurde. Der Untersuchungszeitraum schließt dabei wichtige diskursive Ereignisse ein. Erstens einen Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer vom 24.2.2000. In diesem wird eine Indikationsregelung für PID bei Paaren vorgeschlagen, für deren »Nachkommen ein hohes Risiko für eine bekannte und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht« 61. Der Entwurf gab Anlass zur Diskussion und Auseinandersetzung mit den rechtlichen und ethischen Belangen der PID und bietet zugleich einen immer wieder auftauchenden Referenzpunkt in den Artikeln. Zweitens und drittens schließt der Zeitraum die Berichte bzw. Stellungsnahmen der Enquete-Kommission »Recht und Ethik in der Medizin« sowie des Ethikrates zur PID ein. Die Enquete-Kommission der 14. Wahlperiode »Recht und Ethik der modernen Medizin« veröffentlicht am 14. Mai 2002 ihren Schlussbericht, gab aber bereits im November 2000 eine Stellungnahme zur PID ab und hält im März 2001 eine öffentliche Dialog-Veranstaltung zum Thema »Umgang mit ge-
61 Siehe http://www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/Richtidx/PraeimpEntwurf/10 Diskuss.html (Stand Januar 2010).
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netischen Daten« im Senatssaal der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Der Ethikrat, der etwas später als die Enquete-Kommission eingesetzt wurde, hat sich vor allem 2002 und 2003 mit der PID beschäftigt. Neben tagesaktuellen Meldungen und den Berichten der Beratungsgremien bilden Bundestagsdebatten und Reden von PolitikerInnen einen Bezugspunkt in den Artikeln. So wurden neben der oben angeführten Bundestagsdebatte bspw. die Reden des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau auf dem Kongress »Differenz anerkennen – Ethik und Behinderung« der Katholischen Akademie in Berlin (gehalten am 5.12.2003) und die Rede von Brigitte Zypries »Vom Zeugen zum Erzeugen? Verfassungsrechtliche und rechtspolitische Fragen der Bioethik« beim Humboldt Forum der Humboldt Universität zu Berlin (gehalten am 29. Oktober 2003, Zypries 2003) kommentiert. Erfassung der Artikel und Vorgehensweise Mit Hilfe der Diskursanalyse soll untersucht werden, welche Relevanz geschlechtsspezifischen Zuschreibungen in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen über die neuen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten zukommt. Die ZEIT bildet diesen Diskurs als Expertendiskurs ab, und führt eine Vielzahl der Argumente und Akteure in diesem Diskurs an. Sie kann daher als ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses um die PID gewertet werden. Mit dem Fokus auf die PID greift die Untersuchung zudem eine Technologie auf, die außerhalb des Mutterleibes ansetzt und somit Spielräume für alternative Erklärungs- und Beschreibungsweisen von Schwangerschaft und Kinderwunsch bietet, da sie nicht notwendig mit einem Verständnis von Schwangerschaft als natürlichem Prozess des weiblichen Körpers verknüpft ist. Gleichzeitig kann die Technologie nicht losgelöst vom (weiblichen) Körper betrachtet werden, da die PID eingebettet ist in eine vorangegangene Eizellenentnahme und Spermaspende und einer auf die Diagnose folgende Implementierung der befruchteten Eizelle(n) in den Uterus der Frau. Die PID ermöglicht damit einerseits die Öffnung neuer Erklärungs- und Deutungsräume, steht aber zugleich in einer Tradition der medizinischen Organisation und Überwachung der Schwangerschaft. Die Diskursanalyse ist so angelegt, dass die Vorgehensweise und die Fragestellung ermöglichen sollen, an dieser Bruchstelle einzuhaken. Die folgenden drei Fragen haben dabei die Analyse bestimmt und die Struktur- und Feinanalyse angeleitet: 1. Wie werden Frauen und Frauenkörper in den Artikeln beschrieben? 2. Lassen sich geschlechtsspezifische Ansprüche finden? 3. Wenn ja, in welchen Argumentationsmodellen?
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Gemäß den Vorgaben der Kritischen Diskursanalyse wurde das Material der ZEIT einer Struktur- und einer Feinanalyse unterzogen. Während die Strukturanalyse darauf zielt, einen Überblick über das Material zu geben, die hierin angeführten Positionen zusammenzufassen und thematisch zu ordnen, wird mittels der Feinanalyse eine genaue Untersuchung an einer Auswahl der Artikel vorgenommen, die die unterschiedlichen Positionen im Diskurs repräsentieren. Die Zusammenführung beider Ergebnisse zeigt geschlechtsspezifische Argumentationen und Konstruktionen auf und bettet sie in die zentralen Positionen des Diskurses ein. Im Folgenden werden zuerst die Ergebnisse der Strukturanalyse und die ausgewählten Artikel für die Feinanalyse vorgestellt, um im Anschluss die zentralen Argumentationsmodelle zu beschreiben.
6.1 S TRUKTURANALYSE Für die Aufbereitung und Auswertung des Materials habe ich zuerst alle Artikel mittels einer Maske erfasst. Diese beinhaltet neben den Informationen zu Ausgabe, Autor, Titel, Textart und Ressort auch eine Skizze des Inhalts, eine stichpunkthafte Aufzählung der Argumente und auffällige sprachliche Verwendungen sowie eine erste Einschätzung, ob der Text sich zur Feinanalyse eignet. Die PID bildet im weiten Feld der Humangenetik zwar ein überschaubares Terrain, verbindet aber dennoch sehr unterschiedliche Problem- und Fragestellungen miteinander, die sich über ethische Fragen zum Status des Embryos bis zur Diskussion der BRD als Wissenschafts- und Forschungsstandort erstrecken. Bei der Aufnahme der Artikel wurde deutlich, dass sich thematische Stränge unterscheiden lassen und dass mit dem jeweiligen Strang auch spezifische inhaltliche und argumentative Schwerpunkte des Textes verbunden sind. In einem zweiten Schritt sind daher die Artikel den jeweiligen Strängen zugeordnet und tabellarisch erfasst worden. Falls eine Zuordnung nicht eindeutig möglich war, sind die Hauptstränge des Artikels gekennzeichnet worden. Insgesamt lassen sich fünf Stränge unterscheiden, die im Folgenden vorgestellt werden sollen: 1) Status des Embryos, 2) wissenschaftliche Verfahren und Anwendungen, 3) Politik und Wissenschaftspolitik, 4) ExpertInnenberatung und 5) Perspektiven der AnwenderInnen. Einen der thematischen Hauptstränge der Auseinandersetzung in der ZEIT bilden Fragen nach dem Status des Embryos. Darunter fallen sowohl ethische Fragestellungen über den Wert menschlichen Lebens im embryonalen Status und
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Argumentationen zu dem Zeitpunkt des Beginns menschlichen Lebens als auch rechtliche Fragen, die sich mit dem Embryonenschutzgesetz und dem Beginn der Menschenwürde auseinandersetzen. In einer Vielzahl der Artikel verschränken sich ethische und rechtliche Fragestellungen, bspw. wenn der Beginn des menschlichen Lebens als Beginn des Schutzes der Menschenwürde definiert wird. Die Auseinandersetzung um die Bestimmung des Beginns des menschlichen Lebens und den Beginn des rechtlichen Schutzes des Lebens verläuft entlang der Frage, ob ein Embryo bereits als Mensch anerkannt wird oder ihm zwar die Potenzialität des Menschwerdens zukommt, er aber noch nicht den unteilbaren Schutz der Menschenwürde trägt. Letztere Position würde eine Öffnung des ESchG zulassen, da sie einen Konflikt zu Artikel 1 des Grundgesetzes umgehen würde. Neben den ZEIT-AutorInnen melden sich in diesem Strang Rechtswissenschaftler und Philosophen wie Reinhard Merkel, Jürgen Habermas und Robert Spaemann u.a. zu Wort und nehmen zu aktuellen Anlässen Stellung. Robert Spaemann bspw. reagiert in seinem Artikel »Die Freiheit der Forschung oder Schutz des Embryos?« (Spaemann 2003) auf die Humboldt-Rede von Zypries mit einem Plädoyer für den Schutzanspruch des Embryos. Spaemann, der in der Debatte wiederholt gegen die Anwendung der PID und Stammzellenforschung argumentiert, steht mit anderen Autoren für eine grundsätzliche Kritik an der humanen Gentechnologie und einem Instrumentalisierungsverbot des Embryos (vgl. auch Leicht 2000; Assheuer/Jessen 2002; Jessen 2003). Neben dieser Position findet sich in der ZEIT auch das Plädoyer für die gegenteilige Position: So betont Volker Gerhardt, dass aus der Potenzialität, ein Mensch zu werden, eben noch nicht folge, dass der Embryo dieselben Schutzrechte genieße, und weist darauf hin, dass zwischen dem ESchG und der Abtreibungsregelung ein Missverhältnis herrsche (vgl. Gerhardt 2003b; darüber hinaus Merkel 2001; Lau 2002). Die ZEIT bildet in diesem Strang zentrale philosophische und rechtliche Positionen der bundesdeutschen Debatte ab und stellt hierbei die ethischen Aspekte der PID ins Zentrum. Für die übergeordnete Fragestellung der Diskursanalyse ist besonders das Verhältnis vom Schutz des Embryos und der geltenden Abtreibungsregelung interessant. Wie ich im Folgenden zeigen werde, werden beide in der Debatte zumeist gegeneinander argumentiert. Einen weiteren thematischen Hauptstrang bilden Fragen nach den wissenschaftlichen Verfahren und medizinischen Anwendungen. In den Artikeln dieses Stranges werden neue technische Anwendungen erläutert und Verfahrenstechniken und -abläufe präsentiert. Die PID wird hierbei entweder gemeinsam mit anderen neuen humangenetischen Technologien vorgestellt oder bildet den Schwerpunkt des Artikels. WissenschaftlerInnen kommen in Artikeln oder Interviews selbst
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zu Wort, stellen ihre Arbeitsbereiche in der Humangenetik vor und formulieren ihre Erwartungen an die Technologie. Dabei stellen sie auch die Ängste und Wünsche von Patientinnen und ihren Partnern dar, die sich aufgrund von Unsicherheiten oder erblicher Vorbelastung eine PID wünschen, und beschreiben ihre eigene Position, die sie stellenweise in schwierige ethische Entscheidungssituationen führt. Während ausländische ReproduktionsmedizinerInnen auf neue ethische Fragestellungen wie die Möglichkeit von sogenannten Retterkindern verweisen, werden von ihren deutschen KollegInnen Schwierigkeiten angesprochen, die sich aus der restriktiven rechtlichen Lage durch das ESchG für die Forschung und Anwendung im Bereich der PID ergeben. Dies wird zumeist mit der Forderung nach Forschungsfreiheit und staatlicher Unterstützung verbunden (vgl. bspw. Bahnsen 2002). Da in einigen Artikeln der Fokus auf der Praxis anderer Länder liegt, vermittelt dieser Strang zugleich einen Eindruck von möglichen Praxismodellen der PID. So werden bspw. die Regelungen in Großbritannien und Frankreich vorgestellt, beides Länder, in denen staatliche Gremien bzw. Ethikkommissionen mit unabhängigen Mitgliedern eingerichtet wurden (vgl. Haug 2001; Hénard 2001; Schnabel 2001; Spiewak 2004). Diese haben sowohl eine Beratungsfunktion in Entscheidungsprozessen darüber, welche gentechnologischen Anwendungen erlaubt sind und werden sollen, als auch eine Wächterund Kontrollfunktion für die Reproduktionszentren und -kliniken. 62 Der selektive Charakter der PID wird in den Artikeln und Interviews nicht geleugnet, sondern als ein Problem anerkannt und diskutiert. ReproduktionsmedizinerInnen und WissenschaftlerInnen verweisen jedoch auf die Grenzen der Diagnostik und damit einhergehender Selektion, da die Auswahl des Embryos nach Eigenschaften durch die Komplexität der DNA nur sehr begrenzt möglich sei (vgl. Bahnsen 2000). Der Schwerpunkt dieses Stranges liegt deutlich auf der Darstellung der Möglichkeiten und der Anwendungsgebiete der PID. Kritischere Positionen zur PID beschränken sich auf wenige Passagen und Artikel, in welchen aufgrund des se-
62 In Großbritannien wurde der Grundstein für die »Human Fertility and Embroyology Authority (HEFA)« mit der ersten künstlichen Befruchtung gelegt. Die HEFA ist ein staatliches Gremium ohne Weisungsgebundenheit seitens der Regierung, dessen Mitglieder sich aus PhilosophInnen, AnwältInnen, Priestern und JournalistInnen zusammensetzen. Die HEFA lizenziert sämtliche Forschungsvorhaben und praktischen Anwendungen in der Reproduktionsmedizin (vgl. Spiewak 2004). In Frankreich wurde im Dezember 2003 eine Novellierung der nationalen Gesetzgebung zur Bioethik beschlossen, die »nah am britischen Vorbild« (Haug 2001) die Einrichtung einer Kontrollbehörde für die Reproduktionsmedizin vorsieht.
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lektiven Grundcharakters der PID auch eine eingeschränkte Zulassung als problematisch angesehen und/oder neue ethische Schwierigkeiten durch die sich ausweitenden Möglichkeiten des Screenings befürchtet werden. Ullrich Bahnsen führt in seinem Artikel »Check im Eikern« (Bahnsen 2002) an, dass selbst Verfechter der Diagnose nachdenklich würden: »Die PID werde in Situationen eingesetzt, die ›niemals vorher als Grund für eine vorgeburtliche Diagnostik betrachtet wurden‹, bekennen Testpapst Verlinsky und seine Mitstreiter« (ebd.). Der dritte Strang lenkt die Perspektive auf Politik und Wissenschaftspolitik. In diesem Strang verbinden sich zwei Bereiche. Einerseits werden ökonomische Argumente für oder wider die PID gewichtet und in Verbindung mit dem Ausbau und der Sicherung von Deutschland als Wissenschaftsstandort angeführt. Hierbei werden neue Forschungsbereiche, aber auch Forschungshindernisse, an zentraler Stelle der Embryonenschutz, mit dem Verweis auf internationale Konkurrenzfähigkeit und der Sicherung hochqualifizierter Arbeitsplätze im Inland angeführt. In »Gen wir Geld holen!«, einem Artikel von Jutta Hoffritz und Andreas Sentker in der ZEIT 42/2000, wird die Förderung der Gentechnologie durch die Bundesregierung vorgestellt und positiv besprochen: »Musterschüler Deutschland: In keinem anderen Land Europas wird mehr in die Genbranche investiert. Nirgendwo auf dem Kontinent gibt es mehr einschlägige Unternehmen, nirgends werden so viele Patente eingereicht« (ebd.). Auch wenn die AutorInnen vor allzu positiven Erwartungen warnen, folgen sie dem Aufbruchscharme, den die Gentechnologie zur Jahrtausendwende ausstrahlt, und verweisen auf die Rückkehr von deutschen Fachkräften aus den USA, Börsengängen biotechnischer Unternehmen und den Ausbau des regionalen Ballungsraums der Gen-Branche in Martinsried bei München. Andererseits werden in diesem Strang die Positionen der Parteien und einzelner PolitikerInnen vorgestellt und diskutiert. Die ZEIT weist eine kontinuierliche Berichterstattung und Kommentierung von parlamentarischen Debatten und Beschlüssen auf und veröffentlicht und/oder kommentiert Reden von PolitikerInnen. Gerhard Schröder wird in seiner Funktion als Kanzler als eine zentrale Figur vorgestellt, die durch die Berufung des Ethikrates und die Kritik an der restriktiven Stammzellenregelung versucht, einen politischen und gesellschaftlichen Konsens für eine (eingeschränkte) Nutzung der Stammzellenforschung und der PID zu finden. In vielen Artikeln finden sich Verweise auf die forschungsfreundliche Position Schröders (vgl. Hofmann 2001c). Die Rede von Johannes Rau wird als eine Gegenposition gewertet, als Widerspruch gegen »eine Lockerung der Grenzen des Erlaubten« (Hofmann 2001b). Auch bei der bereits oben angeführten Humboldt-Rede »Vom Zeugen zum Erzeugen? Verfassungsrecht-
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liche und rechtspolitische Fragen der Bioethik« der damaligen Justizministerin Brigitte Zypries wird eine Verbindung zu Schröders Position hergestellt. Als Kritik an Zypries wird angeführt, dass sie »nach einer hidden agenda« (Hartung 2003) agiere und sich »gegenüber dem Kanzler« (ebd.) profiliere. Auf die Rede folgen drei Artikel, in welchen sowohl die Position Zypries’ vorgestellt wird, als auch von den Philosophen Robert Spaemann und Volker Gerhardt als externe Experten aus zwei unterschiedlichen Perspektiven eine Antwort formuliert wird. 63 Die Abbildung unterschiedlicher Positionen charakterisiert den Anspruch der ZEIT gerade in Bezug auf die politische Berichterstattung über die PID. Es werden Für- und Widersprecher in den Parteien sowie parteibezogene Positionierungen zur Gentechnologie vorgestellt, wodurch in diesem Strang eine recht große Bandbreite von Argumenten diskutiert wird. Einen zentralen Diskussionspunkt bilden hierbei die Fragen nach Forschungsfreiheit und Zukunftsfähigkeit versus den Schutz des Embryos und einem Verbot der Instrumentalisierung von ungeborenen Leben, welches durch das ESchG gesichert werden soll. Eng verbunden mit diesem Strang sind Fragen der Politikberatung und Beratungsgremien. Im vierten Strang, der ExpertInnenberatung, werden die eingerichteten Beratungsgremien und ihre demokratische Legitimation diskutiert sowie Entscheidungen der Enquete-Kommission und des Ethikrates vorgestellt.
63 Klaus Hartung beschäftigt sich als Zeit-Redakteur in »Embryonenschutz im Streit: Die Pragmatikerin« mit der Humboldt-Rede von Brigitte Zypries, in welcher sie sich auf die PID, therapeutisches Klonen und die Stammzellenforschung bezieht. Er zeichnet ein Portrait von Zypries und nennt (politische) Gründe für die Rede, die das noch relativ neue Stammzellengesetz hinterfragt bzw. die Debatte neu eröffnen will (vgl. Hartung 2003). Zwei Wochen später reagiert Robert Spaemann mit seinem Artikel »Freiheit der Forschung oder Schutz des Embryos?« auf die Rede von Zypries und lehnt die Stammzellenforschung eindeutig ab (vgl. Spaemann 2003). In der folgenden Ausgabe findet sich mit »Die Frucht der Freiheit« eine Antwort auf die Rede und die dadurch ausgelösten Reaktionen von Volker Gerhardt, der sich in zehn Punkten kritisch zu dem Verbot der Stammzellenforschung äußert und neben einer philosophischen Herleitung der personalen Integrität und der Verbindung von Freiheit und Person vor allem die Widersprüche in der Debatte sowie den Umgang mit den Befürwortern, welchen moralische Motive aberkannt würden, kritisiert (vgl. Gerhardt 2003b). Diese Abfolge verweist zugleich auf die Verknüpfung der einzelnen Stränge, da Gerhardt und Spaemann als einzelne Artikel dem Strang »Status des Embryos« zuzuordnen sind, durch den Bezug auf die Rede von Zypries aber zugleich wichtige Positionen in diesem Strang einnehmen.
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Die Expertenberatung als einen eigenen Strang zusammenzufassen, kommt stellenweise einer heuristischen Trennung nah. Durch die Beratungsfunktion für das Parlament und Ausschüsse ist hier eine große inhaltliche Nähe zu den diskutierten Fragen auf der politischen Ebene gegeben. Zugleich liegt ein Schwerpunkt der inhaltlichen Auseinandersetzung in den Beratungsgremien auf Fragen des Embryonenschutzes. Da die Mitglieder der Gremien jedoch als ExpertInnen für die medizinische, rechtliche und ethische Einschätzung der PID gelten und ihnen hiermit eine spezifische SprecherInnenposition im Diskurs zukommt, ist es sinnvoll, dies zu trennen. Nicht zuletzt aufgrund der Besetzung der Gremien finden sich sehr heterogene Positionen wieder. Regine Kollek äußert sich als stellvertretende Vorsitzende des Ethikrates und Wissenschaftlerin ablehnend zur PID und ihrem selektiven Charakter (vgl. Sauerer 2004), sieht aber die PolkörperDiagnostik als eine vertretbare Methode an, da die Möglichkeiten einer Selektion sich in engen Grenzen hielten. In einem vorherigen Interview äußert sie sich zur Kritik an dem nicht demokratisch legitimierten Ethikrat, da dieser eine direkte Einrichtung der Exekutive sei, unterstreicht jedoch die Notwendigkeit, die Diskussion in diesem Rahmen weiterzuführen und dabei Fragen aufzunehmen, die im Rahmen der Enquete-Kommission nicht ausreichend diskutiert worden seien (vgl. Schuh 2001). Neben Regine Kollek finden sich in der ZEIT weitere Mitglieder der Beratungsgremien wieder. Volker Gerhardt meldet sich mit einer Antwort auf die Rede von Zypries selbst zu Wort und wird mit einem ausführlichen Portrait von Jörg Lau in dem Artikel »Unheimlicher Vernunftapostel« (Lau 2002) als Mitglied des Ethikrates vorgestellt. Lau begrüßt das Plädoyer Gerhardts, eine maßvollere Einschätzung der Risiken und Chancen der Gentechnologie vorzunehmen, und polemisiert, dass es in der Debatte bereits reiche, »dass jemand überhaupt den Chancen der neuen Technik nachgehen will, um ihn zu diskreditieren« (ebd.). Wolfgang van den Daele, ebenfalls Mitglied des Nationalen Ethikrates, setzt sich in seinem Artikel »Zeugung auf Probe« mit dem Argument auseinander, dass eine Einführung der PID eine Ausweitung der Diskriminierung von Behinderten begünstige, und versucht aufzuzeigen, dass die »Selektion vor der Geburt und die Diskriminierung nach der Geburt unabhängige Phänomene sind« (Daele 2002), die sich nicht gegenseitig beeinflussen. Margot von Renesse wird als Vorsitzende der Enquete-Kommission Recht und Ethik ausführlich vorgestellt. Jan Roß beschreibt sie in seinem Artikel »Streit um Embryonenschutz. Altmodisch fortschrittlich« (Roß 2001), der am Tag der Parlamentsdebatte erscheint, als eine moralisch integre Person, der es gelänge in der Debatte ein »Grundgefühl von Achtung und Vertrauen« (ebd.) herzustellen. Ihr
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Entwurf, die PID zwar als rechtswidrig, unter bestimmten Bedingungen jedoch straffrei zu fassen, den sie gemeinsam mit Andrea Fischer 64, damals noch Gesundheitsministerin, eingebracht hat, kann als das Ergebnis eines Prozesses gewertet werden, der mit dem Symposium über Fortpflanzungsmedizin des Gesundheitsministeriums 2000 65 begann. In dem Artikel »Was kann, was darf der Mensch? Chancen und Grenzen vorgeburtlicher Diagnostik« wehren sich von Renesse und Fischer gegen den Vorwurf, ihr Vorschlag, bei der PID ähnlich vorzugehen wie bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, sei ein Schleichweg, »der den Gesetzesgeber in eine schizophrene Situation bringe« (Fischer/Renesse 2001). Sie plädieren dafür, die doppelte Situation von Frau und Embryo ernst zu nehmen und – parallel zum Schwangerschaftsabbruch – weder das »vorgeburtliche menschliche Leben noch das Leben seiner Mutter« (ebd.) zu vernachlässigen. Die Unauflösbarkeit der Konfliktsituation wird ihres Erachtens in der Konstruktion »rechtswidrig, aber straffrei« auf- bzw. eingefangen. Die Beispiele der beiden Beratungsgremien machen deutlich, wie sehr die an sich unabhängigen Gremien mit machtpolitischen und parteiinternen Auseinandersetzungen auf anderen Ebenen verknüpft sind. Sowohl Andrea Fischer als auch Margot von Renesse haben sich in der eigenen Partei mit ihrer Position starker Kritik ausgesetzt. Bereits die Einsetzung von Renesse als Vorsitzende der Enquete-Kommission wird als politischer Kraftakt vorgestellt, so bedurfte es »einiger Mühen der SPD-Fraktionsführung, dem Gremium diese ideologisch quer stehende Vorsitzende aufzudrücken« (Roß 2001). Die Diskussionen um die
64 Andrea Fischer, ehemalige Gesundheitsministerin von 1998 bis 2001, tritt am 9. Januar 2001 in Folge der BSE-Krise von ihrem Amt zurück, ebenso wie der damalige Minister für Landwirtschaft, Karl-Heinz Funke. Ihr Ministerium wird mit Ulla Schmidt neu besetzt und wechselt somit von einem Ministerium der Grünen zu einem der SPD. 65 Das dreitägige Symposium »Fortpflanzungsmedizin in Deutschland« findet im Mai 2000 in Berlin auf Einladung der damaligen Gesundheitsministerin statt, die hiermit eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Entwicklungen und Probleme der Fortpflanzungsmedizin beginnen möchte. Zu dem öffentlichen Symposium wurden ÄrztInnen, Sozial- und NaturwissenschaftlerInnen, JuristInnen, EthikerInnen und VertreterInnen der Behindertenselbsthilfe eingeladen. Die breite Öffnung des Symposiums wird bspw. von Sigrid Graumann explizit gelobt, die in einem Bericht zum Symposium schreibt: »Dies war wohl das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ExpertInnen, PolitikerInnen und VertreterInnen der Behindertenhilfe- sowie der Frauenbewegung auf ›gleicher Augenhöhe‹ diskutiert haben.« (Sigrid Graumann 2003: 240)
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Einrichtung des Ethikrates wiederum zeigen, welche politische Relevanz der Besetzung der Gremien zugesprochen wird. Den für meine Fragestellungen interessantesten Strang bilden die Perspektiven auf die AnwenderInnen: Unter den Begriff AnwenderInnen fasse ich diejenigen Frauen und/oder Paare, die sich zu einer Durchführung der PID entschlossen haben. In den Artikeln dieses fünften Stranges werden die subjektiven Hintergründe und Wünsche vorgestellt, die zu der Entscheidung für die PID geführt haben. Zudem wird aus der Perspektive der AnwenderInnen der Prozess von der Entscheidung bis zur konkreten Anwendung beschrieben. Die Artikel erscheinen im Ressort »Wissen« oder dem Dossier und bieten für die Analyse geschlechtsspezifischer Zuschreibungen die deutlichsten Bilder, auch wenn die Anzahl der Texte hinter die anderen Stränge zurückfällt. Auffällig ist eine Differenzierung zwischen Beispielen aus den europäischen Ländern und den USA: In Artikeln, deren (Haupt-)Fokus auf Ländern in Europa liegt, werden in individuellen Beispielen die Gründe vorgestellt, warum Frauen und Paare sich für eine PID entscheiden. Dabei werden die Autonomie der PatientInnen und das persönliche Schicksal bzw. die persönlichen Beweggründe der AnwenderInnen betont, die sich aufgrund von Krankheitserfahrungen, erblichen Belastungen oder unerfülltem Kinderwunsch für die Durchführung einer PID entschließen. In Beispielen aus der BRD werden die Schwierigkeiten aufgezeigt, die sich für die AnwenderInnen und ÄrztInnen durch das Verbot der PID ergeben. So können die AnwenderInnen eine PID nur im Ausland vornehmen lassen, was nicht nur erhöhte Kosten bedeute, sondern ebenso auch eine höhere psychische und physische Belastung (vgl. Sauerer 2004). ÄrztInnen dagegen fehle durch das Verbot nicht nur die Möglichkeit, Praxis und Erfahrung in diesem Bereich der Reproduktionsmedizin sammeln zu können, sondern sie würden damit auch davon abgehalten, ihren PatientInnen zu helfen (vgl. Spiewak 2002). Die europäischen Reproduktionszentren und Kliniken werden primär als Dienstleistungseinrichtungen beschrieben, die ein breites Angebot von Anwendungen bereithalten sowie über einen sehr professionellen Grad der Öffentlichkeitsarbeit verfügen und mit mehrsprachigen Internetseiten und deutschsprachigen MitarbeiterInnen auch auf deutsche PatientInnen eingestellt seien (vgl. ebd.). In den Beschreibungen der USA dagegen wird zumeist eine Anwendungspraxis der PID vorgestellt, die regelloser und weitreichender in der Instrumentalisierung menschlichen Lebens sei. In dem ausführlichen Artikel »Das Land der Kindermacher« (Böhm 2001) werden unterschiedliche Bereiche der Reproduktionsmedizin in Kalifornien/USA vorgestellt. Die Autorin Andrea Böhm zeichnet ein Bild vom Arbeitsalltag amerikanischer Samenbanken und Leihmutteragentu-
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ren und betont dabei die ökonomischen Aspekte und rechtlichen Regelungen, die sich aus neuen Familienverhältnissen ergeben. Die Organisation der Reproduktion unter Gesetzen der Marktwirtschaft wird von der Autorin kritisch beurteilt: »Nirgendwo sonst auf der Welt ist es erlaubt, mit Samen und Eizellen nach den Regeln von Angebot und Nachfrage Geschäfte zu machen. Bloß meiden die Vermittlungsagenturen Sprache und Symbole des Marktes. Die Websites der Zwischenhändler nennen sich Mothergoose oder Hellobaby und sind optisch eingehüllt in eine rosablaue Idylle mit Störchen, Babys und Blümchen.« (Böhm 2001)
In diesem und weiteren Berichten über die Reproduktionsmedizin in den USA wird deutlich gemacht, welche ethischen Probleme eine fehlende Regulierung der Reproduktionstechnologien mit sich trägt. Die Werbung von Samenbanken mit Spendern von amerikanischen Eliteuniversitäten, farbiger Sortierung der Proben nach ethnischer Herkunft, aber auch die hormonellen und körperlichen Belastungen einer Eizellenspende oder Leihmutterschaft, deren finanzielle Entschädigung zur notwendigen oder gewünschten Ergänzung des Einkommens genutzt wird, werden als Nebeneffekte der amerikanischen Praxis des »anything goes« (ebd.) vorgestellt. Anhand des Beispiels eines tauben, lesbischen Paares mit dem Wunsch, ein Kind zu zeugen, das ebenfalls taubstumm sein soll, werden die Widersprüche zwischen individuellen Wünschen der Eltern und ethischen und gesellschaftlichen Ansprüchen bei der Reproduktionsmedizin pointiert (vgl. Viciano/Spiewak 2002). Während bei den Beispielen aus Europa gerade mit Bezug auf die Autonomie der PatientInnen reproduktionsmedizinische Anwendungen gerechtfertigt werden, dienen die amerikanischen Beispiele zumeist als Negativfolie eines ethisch nicht rückgebundenen Primates der PatientInnenautonomie. Auch sind die individuellen Beispiele nicht in gleicher Weise von persönlichem Leid getragen, wie dies bei dem Fokus auf europäische bzw. deutsche Paare der Fall ist. Die Aufteilung in die vorgestellten Stränge bietet im Rahmen der Diskursanalyse eine Möglichkeit zur Strukturierung des Materials und verschafft einen Überblick über die inhaltlichen Schwerpunkte der Debatte um die PID. Zwar lassen sich nur die wenigsten Artikel ausschließlich einem Strang zuordnen, aber mit diesem Vorgehen wird deutlich, ob die unterschiedlichen Stränge gleichermaßen bedient werden oder sich eine klare Gewichtung finden lässt, welche Fragestellungen überhaupt aufgenommen werden etc. Für den Untersuchungszeitraum liegt der Schwerpunkt in der ZEIT auf der Auseinandersetzung mit dem ethischen und rechtlichen Status des Embryos und damit einhergehenden rechtlichen
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Fragen zum Verhältnis von ESchG, Menschenwürde und/oder Forschungsfreiheit. Argumente des Stranges »Status des Embryos« finden sich jedoch auch in anders zugeordneten Artikeln. Die ethische und rechtliche Verhandlung des Status des Embryos bildet eine der zentralen Auseinandersetzungen in der Debatte um die PID und wird dadurch auch für weitere Aspekte zu einem wichtigen Bezugspunkt. Die Ebene der Politik und Wissenschaftspolitik bildet den zweitgrößten Strang und wird ebenfalls ausführlich in der ZEIT vorgestellt. In den Artikeln dieses Stranges finden sich wiederholt Bezüge und Beurteilungen der rechtlichen Situation und des Status des ESchG, nicht nur weil die Ebene der Politik den Bundestag als das wichtigste Organ der Legislative mit einschließt. In den beiden Strängen »Status des Embryos« und »Politik und Wissenschaftspolitik« findet sich die Hauptzahl der Artikel, gefolgt von dem Strang der Wissenschaft und medizinischen Verfahren, der ExpertInnenberatung und, als Strang mit der geringsten Anzahl der Artikel, der Perspektive der AnwenderInnen. Zusammenfassend lässt sich der Diskurs der PID in der ZEIT als »anspruchsvoll wissenschaftlich fundiert« (Jäger 2004: 178) kennzeichnen. Die ZEIT kommt ihrem liberalen Selbstverständnis nach und bildet die zentralen Positionen innerhalb der bundesdeutschen Debatte ab. Dabei nimmt sie aktuelle Entwicklungen und Diskussionen auf der wissenschaftlich-medizinischen und politischen Ebene auf und nutzt diese auch als Anlass zu einer gehäuften Berichterstattung. Auch wenn sie sich einer direkten Wertung enthält, lässt sich eine leichte Tendenz zu einer Befürwortung der PID ablesen. Die Verweise auf Forschungsmöglichkeiten, die Betonung der Wünsche der Eltern und nicht zuletzt die Anführung der bereits etablierten Praxis in einem Großteil der europäischen Staaten sowie der USA entkräften zwar die ebenfalls angeführten Gegenstimmen nicht vollends, zeigen aber dennoch eine Positionierung im Diskurs auf. Die Häufung einer Argumentation für einen pragmatischen Umgang mit der Technologie bei einem durch ethische Gremien kontrollierten, eingeschränkten Zugang lässt sich als Positionierung der ZEIT auslegen. Dagegen scheint einer uneingeschränkten Freigabe der PID auch der Großteil der ZEIT-RedakteurInnen nicht zuzustimmen. Dies wird gerade in den Beschreibungen der Praxis in den USA sehr deutlich, bei der ein Schwerpunkt auf den Negativeffekten einer uneingeschränkten Freigabe im Bereich der Reproduktionsmedizin liegt. Gleichzeitig fällt auf, dass nicht alle Positionen im gleichen Maße repräsentiert werden. Die Perspektive von Behindertenverbänden und feministische Positionierungen zu dem Bereich der PID finden nur marginal Eingang in den Diskurs der ZEIT. So gibt es nur einen Artikel, in welchem Behinderte in einem Streitgespräch direkt zu Wort kommen und nicht über sie gesprochen wird
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(Schnabel 2001a). In diesem Artikel mit der Überschrift »Hättest Du mich abgetrieben?« diskutieren Gisela Steinert, die an Parkinson erkrankt ist, und Christian Judith, von Geburt an körperbehindert, mit den ZEIT-Redakteuren Ulrich Schnabel und Urs Willmann über mögliche Auswirkungen der PID und ihre Ängste und Wünsche bezüglich der Genforschung. Steinert und Judith sind in Selbsthilfegruppen organisiert und leiten mit ihren konträren Positionen das Gespräch, in dem zentrale Fragen zu den möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen der Diagnose diskutiert werden. Herr Judith argumentiert gegen die PID und Stammzellenforschung, da er eine Verringerung der Akzeptanz von Behinderung befürchte und mahnt an, dass Begriffe wie »schwere genetische Erkrankungen« einerseits zu »schwammig« (ebd.) seien, andererseits nicht die teilweise hohe Lebensqualität von Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind, wiedergeben. Er verwehrt sich einem Verständnis von Behinderung als Krankheit. Steinert dagegen bestimmt ihre Diagnose »Parkinson» als Krankheit und betont, dass sie sich wünsche, gesund zu werden (vgl. ebd.). Diese unterschiedlichen Perspektiven auf die eigene Situation begründen ebenfalls eine differenzierende Haltung hinsichtlich der Zulässigkeit, aus medizinischen Gründen abzutreiben oder eine PID vornehmen zu lassen. Wenngleich beide Abtreibung an sich legitim finden, kritisiert Judith deutlich eine Selektion aufgrund von Krankheitsmerkmalen und spricht sich auch gegen eine Einführung der PID aus, während Steinert sich für die Möglichkeit der Mutter ausspricht, abwägen zu können, ob sie ein Kind mit Behinderung möchte (vgl. ebd.). Auch feministische Positionen sind in dem Diskurs der ZEIT nur sehr begrenzt vertreten. Elisabeth von Thadden verweist in ihrem Artikel »Ohne Frauen kein Embryo« (Thadden 2001) darauf, dass nicht nur die weibliche Lebenswirklichkeit in der Debatte zu kurz käme, sondern auch die weiblichen Stimmen in der Debatte keine feministische Perspektive einbringen. Diese Kritik findet sich auch bei Regine Kollek, die in ihrem Interview betont, dass der »Erfahrungshorizont von Frauen – an deren Körpern diese Techniken ja in erster Linie ansetzen« (Schuh 2001), schon durch die Besetzung des Beratungsgremiums Ethikrat nicht ausreichend repräsentiert würde, ebenso wie eine größere Beteiligung von Behindertenverbänden von ihr angemahnt wird (vgl. ebd.). Die Kritik von Elisabeth von Thadden lässt sich auf den Diskurs in der ZEIT übertragen. Obwohl gerade auf der Ebene der Politik und der Beratungsgremien mit Heide Zypries und Herta Däubler-Gmelin als Justizministerinnen, Andrea Fischer als Gesundheitsministerin, Angela Merkel als CDU-Vorsitzende sowie Margot von Renesse als Vorsitzende der Enquete-Kommission Recht und Ethik und Teil der SPD-Fraktion sowie Regine Kollek als stellvertretende Vorsitzende eine Vielzahl von Frauen vertreten sind, fehlen explizit feministische Positionen.
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Gleichzeitig ließe sich gerade in Bezug auf die vertretenen Ministerien kritisch hinterfragen, ob die Besetzung des Gesundheitsministeriums und des Justizministeriums nicht selbst gewissen geschlechtsbezogenen Zuschreibungen folgt und somit die Anführung von Frauen in diesem Kontext eher Ausdruck einer Besetzungspolitik bei den Kabinetten widerspiegelt als eine gezielte Anfrage von PolitikerInnen. 66 Die Strukturanalyse zeigt zudem auf, dass sich in nahezu allen Strängen Artikel finden, in welchen Frauen und/oder Frauenkörper nicht auftauchen. Die Ausnahme bildet hier der Strang mit der Perspektive auf die AnwenderInnen, in welchem Frauen und ihre individuellen Beweggründe explizit im Fokus stehen. Für die Analyse ergibt sich daraus die Schwierigkeit, dass sich die Artikel nicht in gleichem Maße für eine Feinanalyse eignen, zugleich aber auch das Fehlen der Perspektive auf Frauen und Frauenkörper mit erfasst und reflektiert werden muss.
6.2 F EINANALYSE 6.2.1 Katalog der Feinanalyse und Auswahl der Artikel Während die Strukturanalyse einen Überblick über das Material ermöglicht, dient die Feinanalyse dazu, Argumentationsfiguren der Artikel herauszuarbeiten und zu untersuchen, wie die Leitfragen 67 an das Material in den einzelnen Artikeln beantwortet werden. Bei der Erarbeitung des Katalogs zur Feinanalyse liegt daher der zentrale Fokus auf der Analyse der Argumentation und der Untersuchung, welche Verweise auf Frauen und Frauenkörper sich in den Artikeln finden. Daneben werden auffällige sprachliche Wendungen und Metaphern erfasst. Mittels des unten angeführten Katalogs sind alle Artikel der Feinanalyse untersucht worden.
66 Im Untersuchungszeitraum bis Ende 2004 fällt auf, dass sowohl in den beiden Kabinetten Schröders als auch im Kabinett Merkel die Ministerien Justiz, Gesundheit und Familie durch Ministerinnen besetzt waren, während die Ministerien Wirtschaft, Innen und Auswärtiges, denen am meisten öffentliche Präsenz und Wichtigkeit eingeräumt wird, durch Minister besetzt waren. 67 Zur Erinnerung seien die Leitfragen noch mal angeführt: 1. Wie werden Frauen und Frauenkörper in den Artikeln beschrieben? 2. Lassen sich geschlechtsspezifische Ansprüche finden? 3. Wenn ja, in welchen Argumentationsmodellen?
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Katalog der Feinanalyse: 1.1 Begründung der Auswahl des Artikels 1.1.1 Autor 1.1.2 Anlass des Artikels, wenn er sich auf ein besonderes Ereignis bezieht 1.1.3 Welchem Strang ist der Artikel zugeordnet? 1.2 Textoberfläche 1.2.1 Gliederung des Artikels in Sinneinheiten 1.2.2 Im Artikel angesprochene Themen 1.3 Diskursive Mittel 1.3.1 Art und Form der Argumentation 1.3.2 Logik und Komposition: Wie folgen Abschnitte aufeinander, gibt es eine Argumentationsfigur? 1.3.3 Verwendung von Metaphern, Bildlichkeit und Anspielungen 1.3.4 Auffällige sprachliche Verwendungen 1.3.5 Referenzbezüge: Berufungen auf Wissenschaften, Angaben über die Quellen des Wissens o.Ä. 1.4 Inhaltlich-ideologische Aussagen 1.4.1 Welche Bilder über Frauenkörper und Frauen finden sich in dem Artikel? 1.4.2 Gibt es geschlechtsspezifische Anrufungen und wenn ja, innerhalb welcher Argumentation? 1.5 Sonstige Auffälligkeiten 1.6 Zusammenfassung Für die Auswahl der Artikel bin ich in drei Schritten vorgegangen: Als ersten Schritt habe ich bereits eine Auswahl der Artikel bei der Strukturanalyse vorgenommen und vermerkt, wenn Frauen, Frauenkörper oder geschlechtsspezifische Konstruktionen in diesen Texten thematisiert werden. Nach Abschluss der Strukturanalyse habe ich zweitens eine Auswahl unter den möglichen Artikeln getroffen und dabei darauf geachtet, dass aus jedem Strang zwei, in einem Fall drei Artikel vorliegen, die die prägnanten Positionen der unterschiedlichen Stränge wiedergeben/beinhalten. Hierbei wurde innerhalb eines Stranges versucht, unterschiedliche und/oder konträre Positionen abzubilden.
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Bei der Strukturanalyse wurde deutlich, dass in einer Vielzahl von Artikeln die Perspektive auf Frauen und Frauenkörper nicht mit angeführt wird. Dies führt zu einer Schwierigkeit, die vor der Vorstellung der ausgewählten Artikel benannt werden muss: Durch den Fokus der Diskursanalyse auf die (Re)Konstruktion von Geschlecht folgt die Feinanalyse nicht der Herausarbeitung der Argumentationen für und wider eine Einführung der PID, vielmehr sollen explizit geschlechtsspezifische Argumentationen in dieser Debatte sichtbar gemacht werden. Bei der Auswahl werden daher Artikel bevorzugt, die deutliche Benennungen von geschlechtlich codierten Wünschen und Bildern aufzeigen. Damit werden Geschlechtszuschreibungen präsenter, als sie es im Diskurs der ZEIT sind. Die oben erwähnte Schwierigkeit, dass Frauen und Frauenkörper in einigen Artikeln nicht erwähnt oder häufig nur beiläufig angeführt werden, wird hierdurch verdeckt. Um diese Umgewichtung durch die Vorgehensweise transparent zu machen, werde ich mich bei der Zusammenführung der Ergebnisse der Struktur- und Feinanalyse explizit mit der Ausblendung von Frauen und Frauenkörpern beschäftigen. Der Korpus der Feinanalyse setzt sich aus insgesamt elf Artikeln zusammen, mittels derer die unterschiedlichen Positionen im Diskurs der ZEIT zur PID repräsentiert werden können; dabei wurden die oben angeführten Kriterien beachtet. Im Folgenden werden die einzelnen Artikel, ihre inhaltlichen Schwerpunkte und besondere Auffälligkeiten vorgestellt. 6.2.2 Vorstellung der Artikel der Feinanalyse Aus dem Strang »Status des Embryos« wurden zwei Artikel ausgewählt, die die beiden zentralen Positionen zur Bewertung von und zum Umgang mit embryonalem Leben zusammenfassen. Der Philosoph Robert Spaemann argumentiert in seinem Artikel »Freiheit der Forschung oder Schutz des Embryos?« (Spaemann 2003) gegen eine Nutzung embryonalen Lebens durch die PID und Stammzellenforschung und beruft sich in seiner Argumentation auf den Schutz der Menschenwürde, die bereits dem Embryo zukomme. Der zweite Artikel »Die Abtreibungsfalle« (Merkel 2001) von Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg und ehemaliger Redakteur der ZEIT, formuliert die Gegenposition und betont die therapeutischen Ziele der Stammzellenforschung, die moralisch mehr Gewicht hätten als die Schutzrechte des Embryos. Die Argumentation beider Artikel beschäftigt sich zentral mit der Frage, ob dem Embryo bereits das Grundrecht der Menschenwürde zukommt. Aus der unterschiedlichen Beantwortung leiten sich differente Setzungen des Verhältnisses
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von Embryonenschutz und Forschungsfreiheit ab. Robert Spaemann betont, dass es unmöglich sei, zwischen Lebensrecht und Menschenwürde zu entscheiden, daher dürften die Grundrechte der Forschung das Lebensrecht des Embryos nicht einschränken: »Wenn es ein Lebensrecht des Embryos gibt, dann heißt das: Forschung darf sich auf seine Verwertung so wenig erstrecken wie auf andere menschenverbrauchende Experimente« (Spaemann 2003). Während bei Spaemann der Schutz des Embryos als Schutz der Menschenwürde oberste Priorität hat, kommt dem Embryo bei Merkel nur Schutz auf Grund seines Potentials zu, Mensch werden zu können. Hierdurch wird sein Schutz gegen die therapeutischen Ziele der Stammzellenforschung und den Wunsch der Eltern nach einem gesunden Kind abwägbar. Beide Artikel verweisen auf ethische Postulate der Gesellschaft, während Spaemann sich aber vor allem auf philosophische Ansätze der Ethik bezieht, dient Merkel die Rechtsordnung als Anknüpfungspunkt seiner Argumentation. Stilistisch ist die Argumentation in beiden Artikeln gut strukturiert, konsistent und nachvollziehbar. In der Auseinandersetzung um den Status des Embryos taucht die Perspektive auf Frauen und Frauenkörper in beiden Artikeln an zwei thematischen Punkten auf: Zum einen in Bezug auf die Wünsche der Eltern bzw. Frauen, ein möglichst gesundes Kind zu bekommen, zum anderen in dem Vergleich der Situation der Abtreibung mit dem Verbot der Forschung an Embryonen durch das ESchG. Spaemann betont in seinem Artikel, dass die PID den Konflikt, der in einer Schwangerschaft zwischen den Interessen der Frau und dem Embryo bestehe, erst künstlich herbeiführe und die doppelte Situation der Schwangerschaft, in welcher sich Frau und Embryo den Körper der Frau teilen, und aus welcher sich die Begründung für eine Abtreibung herleite, nicht bestehe. Auch wenn Spaemann sich nicht gegen die Abtreibungsregelung ausspricht, wird in seiner Argumentation und Wortwahl deutlich, dass er einer generellen Freigabe der Abtreibung ebenso wie der Stammzellenforschung und PID entgegensteht. In Bezug auf die PID schreibt er: »Wenn für 80 Prozent der Amerikaner die genetische Disposition des Embryos zur Fettleibigkeit ein Grund zur Abtreibung wäre, dann kann man sich ausmalen, welches Schlachtfest dort auf uns zukäme.« (Spaemann 2003)
An anderer Stelle spricht er von der »Vernichtung genetisch geschädigter Invitro-Embryonen« (ebd.). Die Begriffswahl Spaemanns macht seine Ablehnung deutlich und ist eindeutig negativ konnotiert. Er kennzeichnet die PID nicht nur als Selektion von Embryonen, sondern als Tötung. Spinnt man den Faden seiner Argumentation weiter, so wird deutlich, dass das Bedürfnis der Frau oder Eltern
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auf ein gesundes Kind keine Legitimation für die PID darstellen kann, da hier das Lebensrecht des Embryos nicht eingeschränkt werden kann und darf. Reinhard Merkel indes beruft sich in seinem Artikel auf die geltende Abtreibungsregelung und versucht anhand dieser aufzuzeigen, dass dem Embryo rechtlich und gesellschaftlich zwar Schutzrechte zugesprochen werden, diese aber different und weniger weitreichend sind als das Recht auf Menschenwürde. Merkel argumentiert, dass bei einem Recht auf Menschenwürde die geltende Abtreibungsregelung nicht legitim sein könne und somit das Lebensgrundrecht des Embryos bereits eingeschränkt sei (vgl. Merkel 2001). Frauen und Paare finden sich bei ihm wiederholt als »Schwangere« (ebd.) im Kontext der Abtreibungsregelung und einmalig als »Eltern« (ebd.), die den Wunsch haben, »die Geburt eines schwer kranken Kindes zu vermeiden« (ebd.). Interessanterweise verweist Merkel in seinem Artikel nicht auf die besondere Situation des geteilten Körpers der Frau bei einer Schwangerschaft, sondern versucht vielmehr aufzuzeigen, dass sowohl in unserem Alltagsverständnis als auch in Bezug auf das Rechtsprinzip der Embryo kein Grundrechtsträger ist. Die Perspektive auf die Frau/Schwangere bleibt hierbei jedoch recht marginal und rückt nur über die Beschreibung der Abtreibungsregelung oder der biologischen/medizinischen Vorgänge ins Blickfeld. Auch die Wünsche der Eltern werden nur an einer Stelle erwähnt, nämlich in seinem Fazit des Artikels: Merkel spricht sich deutlich für die Berechtigung der Wünsche der Eltern auf ein gesundes Kind und die Möglichkeiten der Forschung aus, die er beide höher gewichtet als die Lebensschutzpflichten gegenüber frühsten Embryonen (vgl. ebd.). Seine Begriffswahl in Bezug auf die Abtreibung entspricht dem juristischen Schwerpunkt des Artikels und ist neutral formuliert. Die Auswahl aus dem Strang medizinische Verfahren gestaltete sich schwieriger, da in diesem Strang primär unterschiedliche Verfahren vorgestellt werden, jedoch die Positionen nicht in gleichem Maße konträr sind. Die beiden ausgewählten Artikel unterscheiden sich daher nicht in der grundsätzlich positiven Bewertung der PID, sondern stellen eine amerikanische und deutsche Position vor und haben differente Textformen. Mark Hughes, einer der Entwickler der PID, stellt in »Wunderbare Kräfte« (Bahnsen 2000) in einem Interview die Anwendungspraxis seiner Klinik in den USA vor und berichtet von ethischen Schwierigkeiten und Verpflichtungen, die sich für ihn aus dem Angebot der PID ergeben. Angelika Sauerer stellt in »Das ethisch geprüfte Ei« (Sauerer 2004) das Verfahren der Polkörperdiagnostik vor und verknüpft dies mit einem Bericht über die erste Anwendung in der BRD.
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Das Interview mit Mark Hughes hat einen Vorstoß der PID zum Anlass, da es Hughes und seinem Team gelungen ist, gezielt Embryonen auszuwählen, die sich als mögliche Spender für Geschwisterkinder eignen. Vor diesem Hintergrund beschreibt Hughes die Schwierigkeiten von Frauen und Paaren, die sich an ihn wenden, ihre persönlichen Leidenswege und die ethischen Dilemmata, in denen er sich selbst wiederfindet. Er betont die Verpflichtung als Arzt, zu helfen, und zeigt mit Verweisen auf die Medizingeschichte auf, dass neue medizinische Entwicklungen zu ethischen Fragen führen, für die erst Antworten gefunden werden müssen (vgl. Bahnsen 2000). Die genetische Untersuchung mittels der PID bietet für ihn eine weitere diagnostische Möglichkeit im Rahmen der Schwangerschaft, die bereits etablierte Anwendungen wie die des Ultraschalls und der Fruchtwasseruntersuchung ergänzt. Für ihn gilt: »[…] wenn die Gesellschaft eine Entscheidung über eine Schwangerschaft aufgrund einer ärztlichen Diagnose erlaubt, dann heißt das für mich: Tu es so früh und so präzise wie möglich.« (Bahnsen 2000)
Hughes verwehrt sich ausdrücklich dagegen, den Versuch, Eltern durch die Selektion Leid zu ersparen, mit einem gezielten Design des Kindes zu verwechseln und betont, dass hierfür weder die Möglichkeiten der Wissenschaft noch das zeitliche Fenster der Diagnostik ausreichend seien (vgl. ebd.). Angelika Sauerer beschreibt in ihrem Artikel die verschiedenen Perspektiven auf die Polkörperdiagnostik. Sie stellt zum einen mittels eines Schaubildes die Anwendung der Polkörperdiagnostik vor, setzt aber im Artikel einen Schwerpunkt auf den Erfahrungsbericht der Frau, die die Polkörperdiagnostik vornehmen ließ. Neben wissenschaftlichen Erläuterungen der Methode lässt sie mit Regine Kollek auch eine Vertreterin des Ethikrates zu Wort kommen, die die Polkörperdiagnostik aufgrund ihres eingeschränkten Wirkungsbereichs für gerade noch akzeptabel hält (vgl. Sauerer 2004). Beide Texte thematisieren die Abtreibungsregelung als Widerspruch zum ESchG. Hughes fragt zu Beginn des Interviews (scheinbar) irritiert nach, warum das Ende einer Schwangerschaft nach mehreren Wochen möglich sei, nicht aber die Auswahl eines Embryos. Wie bereits das oben zu findende Zitat verdeutlicht, hält er die PID für ethisch unbedenklicher als eine Fruchtwasseruntersuchung (vgl. Bahnsen 2000). Und auch Sauerer zieht eine eindeutige Analogie zwischen PND und PID und markiert hierbei, dass »das Leben eines 16 Wochen alten
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Embryos weniger geschützt [sei] als das einer befruchteten Eizelle« (ebd.). 68 In beiden Texten werden die Anwendung und Möglichkeiten einer PID über individuelle, subjektive Beispiele erläutert. Die Primate der PatientInnenautonomie und der Verpflichtung der Medizin, zum Wohle ihrer PatientInnen zu handeln, werden ebenso in beiden Texten als Teil der Begründung für eine PID angeführt. Eine weitere Perspektive öffnet sich im dritten Strang der Politik und Wissenschaftspolitik, in dem sich eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen finden lässt. Eine polare Gewichtung lässt sich in diesem Strang kaum vornehmen, daher habe ich mich für die Feinanalyse auf zwei Artikel konzentriert, in denen wichtige Akteurinnen auf der politischen Ebene vorgestellt werden und zentrale Diskussionspunkte aufgegriffen werden. In einem Interview, das Andreas Sentker, Gero von Randow und Martin Klingst mit Herta Däubler-Gmelin als (damalige) Justizministerin führen, nennt diese zum einen die politischen und rechtlichen Aufgaben, die im Kontext von Stammzellenforschung und der PID entstehen, trägt aber zum anderen ebenso ihre Positionen zu beiden vor und gibt Gründe an, die ihres Erachtens gegen einen Einführung der PID sprechen (vgl. Sentker 2001). Die Auswahl von DäublerGmelin begründet sich in ihrer Doppelfunktion, die sie im Rahmen der Diskussion um die PID einnimmt. Sie formuliert zum einen eine kritische Position zur PID und weicht damit von der forschungsoffenen und -orientierten Position Schröders ab. Sie formuliert zugleich jedoch auch sehr klare Einwände gegen eine Parallelisierung einer Abtreibung und der Durchführung einer PID (vgl. ebd.), die sich im Diskurs wiederholt findet und auf welche ich an späterer Stelle näher eingehen werde. Der zweite ausgewählte Artikel »Die Schlacht am Rubikon« (Hofmann 2001b) von Gunter Hofmann ist Kommentar der Rau-Rede und Übersichtsartikel zu den parteiinternen Positionen zugleich. Hofmann nimmt die Rede von Johannes Rau zum Anlass, die unterschiedlichen politischen Positionen im Streit um die Embryonenforschung und die PID zu skizzieren und dabei auch parteiinterne Streitigkeiten, vorrangig innerhalb der SPD, vorzustellen. Damit zeichnet dieser Artikel Positionen nach, die im Interview nicht wiedergegeben werden. Däubler-Gmelin diskutiert in ihrem Interview die Frage, ob die Embryonenforschung als Fortschritt betrachtet werden kann, wenn Fortschritt nicht nur als
68 Eine Abtreibung ohne Indikation ist in der BRD nur bis zum Ende der 12. Woche möglich. Der Verweis auf die 16. Entwicklungswoche macht somit deutlich, dass es sich um eine Abtreibung aufgrund einer Indikation handelt, die zumeist in Verbindung mit den Ergebnissen einer PND steht.
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Entwicklung definiert wird, sondern »als das, was den Menschen dient« (Sentker 2001). Sie bindet die Frage der Legitimation von Embryonenforschung an die Möglichkeiten der Heilung. Heilung wird bei ihr nicht als eine zukünftige abstrakte Option verstanden, eventuell Heilungschancen zu finden. Vielmehr verweist sie auf die Möglichkeiten, die Legitimation der PID mit den »Fortschritte[n] auf dem Gebiet der Therapierbarkeit von Krankheiten« (ebd.) zu verknüpfen und greift damit einen Vorschlag auf, den sie bereits in Bezug auf die pränatale Diagnostik unterstützt habe. Ihr oberstes Primat ist der Schutz der Menschenwürde, die vor Fragen der Standortpolitik und/oder Wissenschaftsförderung Vorrang habe. Im Verlauf des Interviews stellt Däubler-Gmelin die eingerichteten Beratungsgremien Enquete-Kommission und Ethikrat vor und geht auf zukünftige und bereits getroffene politische Entscheidungen in diesem Themenbereich ein. Sie betont, dass gerade aufgrund der Gewichtigkeit der Entscheidungen geprüft werden müsse, wie sich diese zur Verfassung verhalten, und fordert eine breite und öffentliche Diskussion. Die Perspektive auf Frauen und Frauenkörper findet sich im Interview in der Kritik Däubler-Gmelins an der »bequeme[n] Parallele« (ebd.) zwischen einer Abtreibung und der Anwendung einer PID. Däubler-Gmelin stellt die geltende Abtreibungsregelung vor und zeigt, dass eine Abtreibung aufgrund der gesundheitlichen Beschaffenheit des Embryos nicht möglich sei, sondern vielmehr Gesundheit und Leben der Mutter im Fokus ständen. Sie verwehrt sich gegen eine Parallelisierung der Abtreibung nach einer positiven pränatalen Diagnostik und einer PID, da im letzteren Fall die Situation des geteilten Leibes nicht vorliege und die Konfliktsituation vielmehr künstlich hergestellt würde. Auffällig ist, dass Däubler-Gmelin von Seiten der Interviewer wiederholt mit eben jener Parallelisierung konfrontiert wird. Gunter Hofmann dagegen versucht in seinem Artikel die unterschiedlichen Positionen in der Berliner Debatte einzufangen und die konträren Standpunkte und Konflikte nachzuzeichnen. Als Aufhänger dient ihm Raus Rede »Differenz anerkennen – Ethik und Behinderung«, in welcher Rau vor einer Lockerung der rechtlichen und ethischen Grenzen in der Embryonenforschung warnt. Hofmann stellt neben Rau auch Däubler-Gmelin und die Grünen, die sich in einem Papier zu den »Eckpunkten für eine Gentechnikpolitik der Bundestagsfraktion« gegen eine Forschung am Embryo und die PID aussprechen, als kritische Stimmen in der Debatte vor (vgl. Hofmann 2001). Der klaren Ablehnung einer Güterabwägung zwischen Forschungsinteressen und dem Lebensrecht des Embryos stellt er, quasi auf der anderen Uferseite des Rubikons, eine forschungsoffenere Position gegenüber, die durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, die beiden führenden CDU-PolitikerInnen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble
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und MinisterInnen der SPD vertreten wird. Hofman beleuchtet vorrangig die Politik Schröders, zeigt mögliche Verbündete, aber auch Interessenkonflikte auf und benennt den Umgang Schröders, die Bioethik als Chefsache zu betrachten, als einen Fehler (ebd.). Der Artikel verdeutlicht unterschiedliche Ebenen und Erwartungen an die PID, die einerseits als Gefahr für die Menschenwürde und als Beginn einer »Wunschkindmentalität« (ebd.) verstanden wird, andererseits als Teil der Biotechnologie eine »Schlüsseltechnologie dieses Jahrhunderts« (ebd.) für Fortschritt und qualifizierte Arbeitsplätze symbolisiert und ebenso mit Hoffnungen auf Heilungschancen verbunden ist. Hofmann unterstreicht nicht nur mit seinem Titel »Die Schlacht am Rubikon«, dass die politische Diskussion um die Chancen und Risiken der Embryonenforschung zu einer Auseinandersetzung unterschiedlicher Lager geworden ist, die die Parteien selbst durchzieht. Die Härte der Auseinandersetzung wird in einer Vielzahl von Kriegsbegrifflichkeiten deutlich, bspw. zitiert er Margot von Renesses Ansicht, dass eine Freigabe der Embryonenforschung in den »Bürgerkrieg« (ebd.) führe. In der Beschreibung der Auseinandersetzung finden sich Bezüge auf Frauen bzw. Frauenkörper innerhalb von zwei Argumenten: erstens in Hinblick auf die »Wunschkindmentalität« (ebd.) und damit das Interesse von Frauen und Paaren an einem gesunden Kind. Würde die PID freigegeben, so sei unklar, wie eine Ausweitung der PID verhindert werden könne. Zweitens in der Wiedergabe einer Argumentation Wolfgangs Schäubles, der gerade aufgrund der fehlenden körperlichen Verbindung mit der Mutter bei der künstlichen Befruchtung auch weniger hohe Schutzansprüche des Embryos für erwägbar hält (vgl. ebd.). In den Artikeln für die Analyse der ExpertInnenberatung werden mit Wolfgang van den Daele und Regine Kollek zwei »ExpertInnen« des Deutschen Ethikrates vorgestellt. Wolfgang van den Daele untersucht in seinem Artikel »Zeugung auf Probe« (Daele 2002) eine mögliche Korrelation der Selektion durch die PID und der Diskriminierung von Behinderten und verneint einen Zusammenhang. In dem Gespräch mit Regine Kollek »Austragen statt töten« (Schuh 2001) diskutiert sie mit Hans Schuh, Andreas Sentker und Elisabeth von Thadden die gesellschaftliche Legitimation biotechnologischer Forschung. Wolfgang van den Daele geht in seinem Artikel nicht der Frage nach dem moralischen Status des Embryos nach, sondern untersucht die möglichen gesellschaftlichen Folgen der PID. Er beruft sich dabei auf zwei Szenarien, die von Seiten der KritikerInnen bei einer Einführung befürchtet werden. Das erste Szenario bildet die Sorge vor einer zunehmenden Selektion von unten. Van den Daele vergleicht die Selektion der PID mit der pränatalen Diagnostik (PND) und schlussfolgert, dass die vorgeburtliche Selektion bereits gesellschaftlich akzep-
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tiert sei und durch die PND in einem weitaus größeren Maße vorgenommen würde, als es im Rahmen der PID und künstlichen Befruchtung zu befürchten sei. Vielmehr läge der »Schatten vorgeburtlicher Selektion« (Daele 2002) über allen Schwangerschaften. Im Rahmen dieses Szenariums beschreibt er, dass sich die verschiedenen Formen der vorgeburtlichen Diagnose – von Ultraschall bis zur Fruchtwasseruntersuchung – als Routine in der Schwangerschaftsvorsorge etablieren konnten und sich damit auch vorgeburtliche Selektion als »gesellschaftliche Praxis etablieren« (ebd.) wird. Allerdings betont er, dass eine Abtreibung aufgrund einer positiven Diagnose nicht wahllos vorgenommen werde und mit einer guten Beratung die Abbruchrate sinke, wenn »Merkmale von geringem Krankheitswert« (ebd.) vorliegen. In seinem zweiten Szenario nimmt er die Befürchtung auf, dass die zunehmende vorgeburtliche Selektion von Behinderung zu einer steigenden Diskriminierung von chronisch kranken und behinderten Menschen führen könnte. Auch diese Entwicklungstendenz verneint van den Daele. Er beruft sich in seiner Argumentation auf zwei Punkte: die Geburt als moralische Wasserscheide und die zunehmenden Rechte von Behinderten, die auf eine gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz verwiesen. Van den Daele versucht mittels Umfragen zu verdeutlichen, dass die Geburt rechtlich wie im Alltagsverständnis die Aufnahme des Kindes in die Gemeinschaft symbolisiere, unabhängig von seiner körperlichen Verfasstheit (ebd.). Eine vorher als legitim empfundene Selektion werde nicht bei bereits geborenen Menschen angewendet. Kommentare gegenüber Eltern von behinderten Kindern, dass ein behindertes Kind heute doch nicht mehr nötig sei, klassifiziert er als taktlos, hält aber die institutionellen Trends entgegen, die zu einer Verbesserung der rechtlichen Situation von Behinderten sowie zu einer gezielteren Förderung geführt haben. Der Bezug auf statistische Entwicklungen und Umfragen ist für die Argumentationsweise van den Daeles charakterisierend; sie dienen ihm zur Untermauerung, Verdeutlichung und als empirischer Beleg seiner Thesen. Die Perspektive auf Frauen und Paare wird von van den Daele in unterschiedlichen Kontexten berücksichtigt. Als Eltern, die die Diagnostik nutzen, weil sie sich ein gesundes Kind wünschen, als Frauen, die sich die Option der Abtreibung eines kranken Kindes offen halten wollen und hierfür die vorgeburtlichen Diagnosen nutzen, und als Eltern von einem behinderten Kind, die sich hierfür rechtfertigen sollen. Im Gespräch der ZEIT-RedakteurInnen mit Regine Kollek finden sich mehrere Themenfacetten, die auch dem Gesprächscharakter geschuldet sind. Zentrale Punkte in dem Gespräch bilden die Besetzung und Aufgabe des Ethikrates und seine fehlende demokratische Legitimation. Kollek bemängelt die Vorgehensweise, sieht aber in der Gründung des Ethikrates zugleich ein Ereignis, das dem Themenbereich »Bioethik« breite öffentliche Aufmerksamkeit zukommen lässt
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(vgl. Schuh 2001). Die ZEIT-RedakteurInnen und Kollek kritisieren die Zusammensetzung, die sowohl zu einer Unterrepräsentation von Frauen führe als auch die Interessenverbände und Selbsthilfegruppen von (potenziell) Betroffenen von neuen Therapien oder selektiver Diagnostik vernachlässige. Kollek begründet ihre ablehnende Haltung zur Forschung an embryonalen Stammzellen mit Argumenten der Wissenschaftskritik: So seien im Zuge der technologischen Entwicklungen Wünsche und Euphorie entstanden, die im Missverhältnis zu realen Unsicherheiten der Stammzellentechnik ständen. Auch »Wissenschaftler sind hier nicht neutral, sondern erzeugen solche Begehrlichkeiten auch aus Eigeninteresse« (ebd.). Kollek drängt daher auf eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um die gentechnologischen Entwicklungen und damit einhergehenden möglichen Veränderungen grundlegender Werte in der Gesellschaft. Sie fordert eine Form der Aufklärung um das tatsächlich Mögliche von Seiten der Wissenschaft anstelle einer Euphorie, die haltlose Versprechen gebe. Neben ihrem Verweis auf die unzureichende Repräsentation von Frauen und einem Aufruf, die Debatte thematisch zu erweitern, bezieht sie sich an zwei weiteren Stellen auf Frauen und Paare. Sie schlägt zum einen vor, dass im Eis lagernde Embryonen, deren Eltern sie nicht mehr nutzen wollen, an kinderlose Paare vermittelt werden könnten (vgl. ebd.). Zum anderen betont sie, dass die Entscheidung über den Umgang mit dem Embryo nicht individuell von der Frau im Rahmen ihrer persönlichen Reproduktionsentscheidung gefällt werden könne, sondern die »ethischen und sozialen Folgen« (ebd.) zu weitreichend seien, als dass man ohne eine gesellschaftliche Grundentscheidung auskomme. Die Artikel mit den meisten Aufführungen von Frauen und Paaren finden sich im letzten Strang der AnwenderInnen. Durch die starke Polarisierung zwischen der Anwendungspraxis in den USA und in Europa, die ich in der Strukturanalyse ausgeführt habe, ergaben sich Schwierigkeiten bei der Auswahl der Texte für die Feinanalyse. Ich habe mich in diesem Strang daher für eine Auswahl von drei Texten entschieden. Zwei der Artikel legen einen Fokus auf die Situation deutscher Paare. Da auch von BefürworterInnen der PID keine mit der US-amerikanischen vergleichbare Regelung gefordert wird, spiegeln Artikel mit der Perspektive auf die AnwenderInnen in der BRD die Argumentationen der bundesdeutschen Debatte wider. Die Artikel, die beide von Martin Spiewak, ZEIT-Redakteur des Ressorts »Wissen«, geschrieben wurden, unterscheiden sich jedoch in dem Fokus auf Frauen und Paare und stellen unterschiedliche Problemebenen vor. Als dritten Artikel habe ich »Im Land der Kindermacher« (Böhm 2001) von Andrea Böhm ausgewählt. Dieser umfangreiche Dossierartikel stellt einzelne Bereiche der kalifornischen Reproduktionsmedizin vor.
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Im ersten Artikel »Schwanger um jeden Preis« (Spiewak 2002) werden unterschiedliche Themen angesprochen: Am Beispiel der Anwenderin Claudia Herbart und Beate Pauli (Name durch den Autor geändert) werden die Verfahren der Eizellenspende und der PID vorgestellt und in Hinblick auf die Schwierigkeiten, die sich durch die deutsche Gesetzgebung ergeben, thematisiert. Die LeserInnen erfahren, wie deutsche Paare die deutsche Gesetzgebung umgehen, indem sie Angebote von Kliniken im europäischen Ausland nutzen, welche Gründe Paare zu diesem Schritt bewegen und ob sie ihr soziales Umfeld informieren oder den Auslandsaufenthalt als Urlaubsreise deklarieren. Am Beispiel einer Klinik im spanischen Sevilla wird einerseits beschrieben, wie Eizellspenderinnen gefunden werden und welche Motive sie für die Spende haben, andererseits wird deutlich gemacht, wie sich Kliniken im Ausland auf deutsche FortpflanzungstouristInnen (vgl. ebd.) einstellen und durch mehrsprachige Internetseiten und deutschsprachige Betreuung gezielt anwerben. Im Artikel wird der Ablauf eines reproduktionsmedizinischen Eingriffes im Ausland am Beispiel der Eizellspende nachgezeichnet, von der (gefällten) Entscheidung über die erste Kontaktaufnahme bis zur Durchführung des Eingriffes. Als zweite reproduktionsmedizinische Anwendung liegt der Fokus auf der PID. Auch hier werden am Beispiel der Patientin Beate Pauli zuerst die Gründe benannt, die zu dem Wunsch, eine PID durchführen zu lassen, geführt haben, des Weiteren werden Kliniken, die sich auf die PID und die Betreuung von ausländischen Patientinnen spezialisiert haben, vorgestellt. Auch hier wird der gesamte Ablauf skizziert. Zusätzlich wird die Kritik der behandelnden (deutschen) GynäkologInnen angeführt: Diese kritisieren die deutsche Rechtslage, die es ihnen verunmögliche, ihren Patientinnen zu helfen und bei der kompletten Behandlung zu begleiten, sowie eine eigene weiterführende Qualifizierung verhindere (vgl. ebd.). Der zweite Artikel »Mutterglück im Rentenalter« (Spiewak 2003) beschäftigt sich mit dem Problem der Unfruchtbarkeit bei Frauen und stellt Fertilitätsprobleme aufgrund des Alters als einen Hauptgrund für einen unerfüllten Kinderwunsch vor. Der Artikel ist Teil der ZEIT-Reihe »Land ohne Leute«, in der Probleme der demografischen Entwicklung besprochen werden. Mittels medizinischer Fakten zur Reproduktion wird die Bedeutung des Alters der Frau für den Erfolg einer Schwangerschaft herausgestellt. Das durchschnittlich gestiegene Alter von Frauen, die sich für eine Schwangerschaft entscheiden, wird in dem Artikel als häufigster Grund für Infertilität angegeben, die auf Seiten der Reproduktionsmedizin zur Entwicklung neuer Behandlungsmöglichkeiten geführt habe (ebd.). Als Formen der Therapie werden die Eizellspende und PID im Rahmen einer künstlichen Befruchtung vorgestellt und damit einhergehende rechtliche und
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medizinische Probleme diskutiert. Ebenso wird ein Ausblick auf die Entwicklung von Methoden geworfen, die für die Lösung des altersbedingten Problems der Unfruchtbarkeit entwickelt werden, um so auch im hohen Alter ein biologisch eigenes Kind zu ermöglichen. Spiewak verweist zum Abschluss nochmals darauf, dass das Alter der Frau bis zur Entwicklung neuer Methoden und der detaillierten Einsicht in die körperlichen Prozesse beim Reifen der Eizellen die entscheidende Komponente für einen erfüllten Kinderwunsch bleibt (ebd.). Im Gegensatz zum vorherigen Artikel führt Spiewak keine detaillierte Beschreibung von individuelle Beispielen und Leidenswegen an, sondern unterstreicht seine Thesen durch die Rekorde bei den Altersangaben von Müttern, die auf ›künstlichem‹ Wege schwanger geworden sind: Die Italienerin Rosanna Della Corte bekam mit Hilfe des Reproduktionsmediziners Severino Antinori mit 62 ihren zweiten Sohn Riccardo, nachdem ihr erster Sohn Riccardo bei einem Unfall gestorben war (ebd.). Ein Bild von Della Corte und ihrem Sohn illustriert zudem den Artikel. In beiden Artikeln stehen Frauen als Nutzerinnen im Fokus. Als sprachliche Auffälligkeit finden sich eine Vielzahl von Zeitmetaphern in dem Artikel »Mutterglück im Rentenalter«, die die zentrale These des Textes stützen und versinnbildlichen. Medizinische Fakten und empirische Daten dienen hier zur Untermauerung der These des Autors und werden durch besonders spektakuläre Beispiele unterstrichen. Anders im Artikel »Schwanger um jeden Preis«, in dem am Beispiel von Einzelpersonen subjektive Wünsche und Erfahrungen zweier Kinderwunschpatientinnen und ihrer Partner geschildert werden. Dabei treten Zahlen und Fakten vor dem individuellen Erlebten in den Hintergrund. Trotzdem macht Spiewak deutlich, dass die Einzelbeispiele nicht Einzelfälle sind, sondern vielmehr eine Entwicklung illustrieren, die er mittels des Begriffes des »Fortpflanzungstourismus« (Spiewak 2002) sowie der Professionalisierung ausländischer Kliniken auf deutsche Kundinnen und Paare mit anführt. Als dritten zusätzlichen Artikel habe ich »Im Land der Kindermacher« (Böhm 2001) von Andrea Böhm analysiert. Dieser mehrseitige Dossierartikel verschiebt den Fokus auf die Praktiken der US-amerikanischen, genauer kalifornischen, Reproduktionsmedizin und stellt dabei unterschiedliche AkteurInnen vor: einen Reproduktionsmediziner, der bereits in den 80ern eine Samenbank einrichtete und heute an der künstlichen Züchtung von Eizellen forscht, einen Direktor der weltweit größten Leihmutteragentur, eine Eizellenspenderin, die mit dem Zuverdienst den Lebensstandard anhebt und die Tilgung der Kreditkartenschulden ermöglicht und eine Leihmutter, die Paaren mit ihrem Kinderwunsch helfen will. Die PID wird hier als nächste Stufe der Reproduktionsmedizin angekündigt, die es erlaube Embryonen nicht nur auf Krankheiten, sondern auch »auf
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Fettleibigkeit, Kleinwuchs oder Veranlagung zur Glatze« (ebd.) zu untersuchen. Der Artikel versucht zu markieren, welche Entwicklungen sich im Bereich der Reproduktionsmedizin ergeben, wenn diese nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage organisiert wird, und legt den Schwerpunkt auf die Seite der (nur zum Teil) professionellen Anbieter. Zugleich gewährt Böhm einen Einblick in die Motive der Frauen, die sich zur Eizellspende und Leihmutterschaft bereit erklären, und beschreibt sowohl die gesundheitlichen Risiken als auch Belastungen durch die medizinische und hormonelle Behandlung und im Fall der Leihmutterschaft anschließenden Schwangerschaft. Der Artikel zeigt die Werbestrategien von Reproduktionszentren und -agenturen auf und markiert dabei, wie sich Hoffnungen auf ein Kind mit bildungselitären und von geltenden Schönheitsnormen durchzogenen Körpernormen in den Versprechen der Agenturen und den Wünschen der Eltern vermischen (vgl. ebd.). Wie wirkmächtig die biologischen Versprechen der Vererbung hierbei sind, zeigt sich darin, dass gutes Aussehen und ein Abschluss an einer Eliteuniversität als erfolgreiche Werbestrategie von Agenturen eingesetzt werden kann und der Besuch einer Eliteuniversität die Preise für Eizellen steigert (vgl. ebd.). Der Artikel stellt mittels der gewählten Personen unterschiedliche Perspektiven der Beteiligten im Rahmen der Reproduktionsmedizin vor und beleuchtet dabei vorrangig die Seite der AnbieterInnen. Die Beschreibung der beiden Frauen, die sich zur Spende ihrer Eizellen oder zur Leihmutterschaft bereit erklären, zeigt dabei sowohl ökonomische Interessen am Beispiel der Eizellenspenderin auf als auch das Bedürfnis zu helfen. Die Belastung des Körpers durch eine Schwangerschaft wird am Beispiel der Leihmutter Trish McLoones deutlich gemacht, die während einer Schwangerschaft mit Zwillingen büschelweise Haare und einen Zahn verloren habe (vgl. ebd.). Während die Schwangerschaft im Bereich der Reproduktionsmedizin sonst als wünschenswertes Ziel vorgestellt wird, um dessen Erreichung Paare mit Kinderwunsch sich bemühen, erfährt sie in diesem Kontext eine Form der Entidealisierung, indem die körperlichen Belastungen für die Frau versinnbildlicht werden. Eine weitere Auffälligkeit des Artikels ist, dass Schwangerschaft nicht mit dem Bedürfnis, Mutter zu sein, verbunden wird, sondern als eine neue Form der Dienstleistung angeführt wird. Am Beispiel der Eizellenspenderin Nicole Dorval wird deutlich, dass die Weitergabe von genetischem Material nicht mit dem Gefühl verknüpft sein muss, die daraus möglicherweise entstehenden Kinder als eigene Kinder zu begreifen: »Mütterliche Gefühle? Nur für meinen Sohn Jesse« (ebd.). Eine weitere Verschiebung findet sich in der Beschreibung der KinderwunschpatientInnen als KundInnen des Angebots. Böhm führt mit Bezug auf den Reproduktionsmediziner Cappy
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Rothman an, dass hierbei neue Formen der Familie entstünden, die sich aus mehreren Elternteilen zusammensetzen: »Zum Beispiel Kinder mit fünf Elternteilen: Samen- und Eizellenspender, Leihmutter und schließlich die Erziehungsberechtigten – alleinstehende Frauen, heterosexuelle Paare, schwule oder lesbische Paare. Eine neue Generation von Hybriden.« (Böhm 2001)
Der starke Fokus auf heterosexuelle Paare, der sich in den in Europa angesiedelten AnwenderInnenbeispielen finden lässt, wird hier durch wiederholte Aufführung von alleinstehenden Frauen und homosexuellen Paaren erweitert. Zugleich wird jedoch die rechtliche Unreguliertheit betont, da es den einzelnen Ländern obliege, die rechtlichen Räume des Möglichen festzulegen, und die starke marktwirtschaftliche Ausprägung, die dazu führe, dass ein Zeugungsvorgang einem »Autoverkauf ähnelt, bei dem man Ausstattung und Extrazubehör ordert« (ebd.). Diese Unreguliertheit scheint dabei einerseits Spielräume für homosexuelle Paare und alleinstehende Frauen zu eröffnen, andererseits aber mit nicht absehbaren ethischen Folgeproblemen einher zu gehen. 6.2.3 Auswertung der Feinanalyse Die Artikel der Feinanalyse verdeutlichen die Heterogenität der unterschiedlichen Positionen und Aspekte, innerhalb derer die PID in der ZEIT aufgeführt und besprochen wird. Sie zeigen jedoch zugleich auch die Schnittstellen der argumentativen Bezüge in den unterschiedlichen Strängen auf. Die Diskussion um den Status des Embryos und seine rechtliche Absicherung bildet einen fast in allen Artikeln der Feinanalyse aufgeführten Bezugspunkt. Lediglich in den Artikeln des Stranges »Perspektive der AnwenderInnen« findet sich dieser Verweis nicht immer. Als weitere rechtliche und ethische Prinzipien werden Forschungsfreiheit und PatientInnenautonomie in der Debatte wiederholt angeführt und sie lassen sich auch in einigen der Artikel der Feinanalyse herausarbeiten. Ebenso werden in einem Teil der Artikel das ESchG und der Schutz der Menschenwürde mit der geltenden Abtreibungsregelung ins Verhältnis gesetzt. Nimmt man die theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft wieder auf, so fällt auf, dass sich in den Artikeln kein hybrides, sondern ein deutlich dualistisches Verständnis findet. Der Embryo wird als eine Entität gesetzt, die es entweder vor den Eingriffen der Technologie zu schützen gilt oder diagnostisch zu kontrollieren und zu verbessern. Dabei scheint die Ursprungsgeschichte des Embryos für die Bewertung seines moralischen Status keine relevante Rolle zu spielen. KritikerInnen betonen ungeachtet seiner Ent-
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stehung im Labor den Schutzanspruch menschlichen Lebens und BefürworterInnen ziehen Parallelen zur dem fehlenden Schutz des Embryos im Rahmen der Abtreibungsregelung. Die Differenz scheint hier also nicht in der Art der (Er-)Zeugung, sondern in einer zeitlichen Unterscheidbarkeit seiner Entwicklung im Verlauf der Schwangerschaft zu liegen. Auch bei der Beschreibung der Gründe von Frauen und Paaren, eine PID durchzuführen, finden sich Verweise auf ein dualistisches Verständnis von Natur und Technologie. So wird den LeserInnen nicht nur ein tiefverankerter Wunsch nach einem biologisch eigenen Kind von Frauen vermittelt, sondern auch auf ein von der Natur vorgesehenes Alter für die Reproduktion verwiesen. Die PID tritt als technologisches Hilfsmittel auf, um Schwierigkeiten bei der Wunscherfüllung zu beheben, auch wenn man sich über die Bewertung und Legitimität der Technologie streiten mag. Sprachlich lassen sich unterschiedliche Konnotation bei der Verwendung des Begriffs der Selektion beobachten. Hier stehen zwei Verwendungen im Diskurs nebeneinander: Die PID wird einerseits als Selektion betitelt, um auf die ethischen Grenzverletzungen und eine mögliche eugenische Verwendung der Diagnose zu verweisen. Gerade von GegnerInnen der PID wird der Begriff der Selektion explizit genutzt, um die grundlegende Kritik an dem Verfahren zu verdeutlichen. Bereits der Titel »Selektion ist nicht akzeptabel« (Sentker 2001) des Interviews mit Herta Däubler-Gmelin zeigt ihre Ablehnung, die durch einen späteren Bezug auf den Nationalsozialismus und seine Vorstellung »der totalen Verfügbarkeit des Menschen« (ebd.) nochmals unterstrichen wird. Auch Robert Spaemann nutzt in seinem Artikel »Freiheit der Forschung oder Schutz des Embryos?« (Spaemann 2003) den Verweis auf die »genetische Selektion« (ebd.), um die Kritik an der PID zu verdeutlichen und zugleich aufzuzeigen, dass die PID sich nicht auf wenige Anwendungen beschränken ließe. Die PID wird als möglicher Anfang von »Selektion« (Hofmann 2001b) angeführt und gerade aufgrund dieser Eigenschaft der Diagnoseform abgelehnt. Die Kritik an der Selektion wird in bestehende ethische Konzeptionen wie den Schutz menschlichen Lebens eingebettet sowie in eine gesellschaftliche Ablehnung von Eugenik, die entweder eine Traditionslinie der genetischen Selektion mit den eugenischen Maßnahmen und Experimenten des Nationalsozialismus nachzeichnet oder die PID als qualitativ neue Form einer Eugenik kennzeichnet. Diesem Verständnis von Selektion wird ein naturwissenschaftlicher und als neutral besetzter Begriff der Selektion entgegengestellt. Ethische und politische Setzungen des Begriffs der Selektion, die gerade im Bereich der Genetik mit einer Kritik an Eugenik einhergehen, werden durch einen Fokus auf die reine Beschreibung des Verfahrens ausgeklammert. Besonders prägnant wird der Begriff der Selektion in dem Text von Wolfgang van den Daele genutzt. Van den Daele
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führt die Selektion bereits im Titel bzw. Untertitel auf: »Zeugung auf Probe. Die nächste Bioethikdebatte: Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist Selektion, aber sie führt nicht zur Diskriminierung Behinderter« (Daele 2002). Insgesamt nutzt er in dem Artikel neunzehn Mal den Begriff der Selektion und sieben Mal »selektiv«. Er charakterisiert die PID als »genetische« (ebd.), »vorgeburtliche« (ebd.) und »eugenische Selektion« (ebd.), wendet sich jedoch explizit gegen die Vorstellung, die PID sei der Beginn »einer Kette von selektiven Strategien, an deren Ende das Lebensrecht behinderter Menschen zur Disposition gestellt wird« (ebd.). Ebenso lehnt er den Vergleich zu den »Menetekeln der Naziverbrecher« (ebd.) ab. In dem Artikel von van den Daele wird die alternative Besetzung des Begriffes »Selektion« deutlich. Gerade im Vergleich zu dem Interview mit Herta Däubler-Gmelin nutzt van den Daele den Begriff bewusst, um darauf aufmerksam zu machen, dass vorgeburtliche Selektion bereits stattfindet und sich zukünftig weiter als gesellschaftliche Praxis etablieren wird, ohne dass hiervon bestehende ethische Prinzipien beeinflusst würden (vgl. ebd.). Die extensive Nutzung des Begriffs »Selektion« in diesem Artikel, die explizit nicht negativ in den historischen Kontext der Eugenik gestellt wird, führt zu einer Umwertung des Begriffs. Selektion dient hier vielmehr der Beschreibung des Verfahrens im Rahmen des humangenetischen Vokabulars. Im Interview mit Mark Hughes wird der Begriff Selektion nur in der Einleitung angeführt, allerdings grenzt Hughes sich im späteren Interview von der Keimbahntherapie ab, da diese im Gegensatz zur PID nicht nur einen Menschen, sondern auch alle seinen Nachkommen ändere und somit »Eugenik« (Bahnsen 2000) sei. Selektion und Eugenik werden hier indirekt als unterschiedliche Begriffe und Praktiken gekennzeichnet. Diese alternative Verwendung des Begriffs der Selektion lässt sich als eine Enttabuisierung beschreiben, die damit der Kritik sozusagen den Stachel zieht. Denn sie ermöglicht, von Selektion im Rahmen einer genetischen Diagnoseform zu sprechen, ohne Bezüge zu einem historisch geprägten Begriff der Eugenik aufzurufen.
6.3 ARGUMENTATIONEN
IN DEM
D ISKURS
DER
PID
Die Debatte um die neue Reproduktionstechnologie PID in der ZEIT in den Jahren 2000 bis 2004 spiegelt die scheinbare Entfernung dieser Technologie vom Frauenkörper wider. Bei der Untersuchung der Fragestellungen, wie Frauen in den Artikeln beschrieben werden und ob sich hierbei geschlechtsspezifische An-
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sprüche finden lassen, schien das Material zuerst deutlich weniger geeignet als angenommen. Frauen und Paare stehen nur in sehr wenigen Artikeln im Fokus, sondern sind stattdessen an den gut bis schlecht ausgeleuchteten Seitenrändern zu finden. Dabei lassen sich jedoch spezifische Argumentationsfiguren im Diskurs herausarbeiten, innerhalb derer sie aufgeführt werden. Erstens werden »Frauen als Motor der Technologieentwicklung« vorgestellt, die Verfahren der Reproduktionsmedizin und genauer der PID explizit nachfragen und einfordern. Zweitens werden sie im Kontext der Debatte um den »Status des Embryos und Abtreibung« angeführt; hier wird das Recht der Frau auf Abtreibung quasi als Gegenpart zu den Schutzrechten des Embryos vorgestellt. Und drittens finden sich »Frauen als Randfiguren« im Diskurs wieder, da in einigen Artikeln kaum mehr als ein Schatten von Frauen und Paaren ausfindig zu machen ist. Diese drei Argumentationsfiguren sollen in den folgenden Abschnitten ausführlicher vorgestellt werden. 6.3.1 Frauen als Motor der Technologieentwicklung Ein zentrales Motiv, innerhalb dessen Frauen in dem Diskurs der PID auftauchen, ist ihre Vorstellung als Protagonistinnen der Technologie. In einzelnen Artikeln und Fragmenten werden Frauen als Nutzerinnen der neuen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten eingeführt und ihre Gründe für die Entscheidung oder den Wunsch, eine PID durchzuführen, vorgestellt. Den Beweggründen, aus denen Frauen sich für eine PID entscheiden, kommt zugleich die Aufgabe zu, die Anwendung zu legitimieren, auch wenn sehr unterschiedliche Gründe angegeben werden. Mit teils sehr persönlich anmutenden Beispielen werden Frauen und Paare vorgestellt, die aufgrund einer Erkrankung oder genetischen Veranlagung die PID nachfragen (möchten). Auch Frauen, die aufgrund ihres Alters nicht mehr auf »natürlichem« Wege schwanger werden konnten, und sich deswegen für eine künstliche Befruchtung und in diesem Rahmen für die PID entschieden haben, sind Gegenstand der Artikel. Beide Begründungen basieren zumeist auf der Annahme, dass der Körper der Frau nicht ohne medizinische Hilfe in der Lage sei, schwanger zu werden. Trotzdem unterscheiden sie sich in der Perspektive, in der die Beispiele dargestellt werden. Liegt der Blickwinkel auf dem Verlust der Fertilität durch Krankheit oder dem Ausschluss einer Erbkrankheit bzw. eines Gendefekts, werden die persönlichen Leidenswege von Frauen und Paaren betont. Ein Beispiel hierfür findet sich in der folgenden Textpassage:
164 | G ESCHLECHT IM Z EITALTER DER R EPRODUKTIONSTECHNOLOGIEN »Sex nach Plan, jahrelange Hormonbehandlungen, sechs Inseminationen, vier künstliche Befruchtungen: Beate Pauli hat sämtliche Eskalationsstufen einer Kinderwunschpatientin hinter sich. Es brachte alles nichts. Das Kinderzimmer im Einfamilienhaus, das für den Nachwuchs bestimmt ist, blieb leer. Das Rätsel, warum sich aus ihren Eizellen nie eine Schwangerschaft entwickelte, löste erst ein humangenetisches Gutachten: Eine Fehlfunktion der Gene lasse den Embryo kurz nach dem Transfer in die Gebärmutter absterben. Aber nicht alle Embryonen sind belastet. Jeder vierte Keimling, rechnete der Genexperte aus, könnte gesund sein.« (Spiewak 2002)
Die PID wird im weiteren Verlauf des Artikels als medizinische Möglichkeit vorgestellt, eben jene gesunde Eizelle ausfindig zu machen und damit eine Schwangerschaft zu ermöglichen. Da dieser Eingriff in Deutschland nicht erlaubt ist, reisen Beate Pauli und ihr Partner hierfür ins Ausland. Die Unsicherheiten des Paares durch die fremde Sprache und einen unbekannten Arzt werden als zusätzlicher Stress angeführt, der sowohl das Ergebnis negativ beeinflussen kann als auch eine Benachteiligung von deutschen Kinderwunschpatientinnen aufzeigt. Dies zeigt sich im indirekten Zitat des Paares: »Warum, fragen sie, muss man solche Torturen auf sich nehmen, wenn man sich doch nur ein Kind wünscht? Warum dürfen wir das Gleiche nicht bei einem uns vertrauten Arzt machen?« (Spiewak 2002)
Die hier vorgestellte Argumentationsfigur verdeutlicht, welche Belastungen für die Hoffnung auf ein eigenes Kind von Frauen und Paaren in Kauf genommen werden. Durch die Behandlung im Ausland ist auch ein höheres Maß an Eigeninitiative gefordert. Dies wird gerade am Beispiel der PID deutlich, da diese in der BRD nicht ein weiteres Angebot des bereits konsultierten Frauenarztes oder Reproduktionsmediziners sein kann, sondern vielmehr von den Frauen und Paaren entschieden wird, für den Wunsch auf ein eigenes Kind auch eine Behandlung im Ausland zu wählen, die zudem selbst finanziert werden muss. Die Argumentationsfigur »Frauen als Motor der Technologieentwicklung« findet sich in weiteren Artikeln, auch wenn die medizinischen Hintergründe und der bisherige Verlauf der Behandlungen leicht variieren. Neben der hier vorgestellten eingeschränkten Fertilität, die mittels der PID behoben werden soll, gibt es auch Beispiele, in denen die Weitergabe einer Erbkrankheit an den Embryo im Zentrum stehen. In einem Artikel über die erste Anwendung der PolkörperDiagnostik in der BRD wird die Geschichte von Beate Weber erzählt, in deren
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Familie das Norrie-Syndrom 69 vorkommt. Beate Weber entscheidet sich zuerst gegen ein Kind, denn sie befürchtet die Krankheit weiterzugeben und lehnt eine Abtreibung nach dem Befund einer pränatalen Diagnostik ab. Trotzdem: »Keine eigenen Kinder zu haben ließ Beate Weber und ihrem Mann keine Ruhe« (Sauerer 2004). Sie entscheiden sich für eine Polkörper-Diagnostik in Deutschland und entgehen auf diesem Weg den Belastungen, die bei einer PID im Ausland hinzukämen. »Dann hätten sie 5000 Euro pro Zyklus (ohne Behandlungskosten) zahlen und viel hin und her reisen müssen. Zusätzlicher Stress wäre das gewesen – und nichts gefährdet den Erfolg einer Schwangerschaft nach künstlicher Befruchtung mehr. ›Ich bin sehr froh, dass mir das erspart geblieben ist,‹ sagt Beate Weber.« (Sauerer 2004)
In einem Interview mit dem französischen Gynäkologen René Frydman über die Novellierung des französischen Bioethik-Gesetzes betont er, dass die PID vor allem Vorteile für die Eltern berge. Er gibt die beiden ersten Fälle, in denen er eine PID durchgeführt hat, als Belege an: »Die Mutter von Valentin, unserem ersten Kind, hatte drei Kinder durch eine tödliche Krankheit verloren. Unsere Diagnose hat verhindert, dass die Eltern noch einmal in diese schmerzhafte Situation geraten. Das zweite Kind, die kleine Lilou, kommt aus einer Familie mit einem hohen Risiko für eine erbliche Geisteskrankheit.« (Haug 2001)
Die hier angeführten Beispiele zeichnen die persönlichen Leidenswege der Frauen und Paare nach und geben den Wunsch nach einem Kind als zentralen Grund für die Durchführung einer PID bzw. Polkörper-Diagnostik an. Die Legitimation für die Anwendung scheint dabei auch auf das vorherige Unglück oder die Schwere des unerfüllten Kinderwunsches zurückführbar zu sein. Die Belastungen, die mit der Behandlung des Kinderwunsches oder der Auseinandersetzung mit diesem einhergehen, werden dabei primär über die Situation der Frau verdeutlicht. Die Beschreibung von Frauen in diesen Artikeln stellt diese als nach-
69 Das Norrie-Syndrom ist ein Erbdefekt, der zumeist nur bei Jungen auftritt. Träger des Syndroms sind häufig von Blindheit und starker Schwerhörigkeit betroffen. Umstritten ist, ob bei Trägern des Syndroms auch ein höheres Risiko zu Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen besteht, die gelegentlich in Kombination auftreten, oder ob diese als Reaktion auf die Sinneseinschränkungen gewertet werden müssen. Ist die Mutter Trägerin des Defekts, liegt die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit an ein männliches Kind weiterzugeben, bei 50%.
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fragende und damit aktive Personen vor, die sich gezielt für die reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten entscheiden. Auch bei der Aufführung von Paaren lässt sich diese Aufteilung wiederfinden, da dort die männlichen Partner fast additiv hinzu treten, aber das Leid und die Vielzahl der Bemühungen über die Frau in der Partnerschaft thematisiert werden. In den letzten beiden Beispielen zeigt sich zudem, dass der Wunsch nach einem Kind auch mit der Vorstellung eines gesunden Kindes verknüpft ist. Hier leuchtet auf, dass Normierungen nach Gesundheit durchaus in diesem Diskurs wirksam sind, auch wenn sie nicht eingefordert werden. Diese Perspektive verändert sich in den Artikeln, in denen das Alter der Frau im Vordergrund der Beispiele für die Nutzung einer PID steht: »Das Alter der Frau ist der wichtigste Indikator, ob es mit dem Kinderwunsch klappt – und der Hauptgrund, warum die Wartezimmer deutscher Fortpflanzungsmediziner voller sind denn je. Daher versuchen auch die Reproduktionsforscher die natürliche Zeugungsfrist immer weiter auszudehnen.« (Spiewak 2003)
Das Zitat zeigt das Alter als zentralen Grund an, aus dem Frauen sich für reproduktionsmedizinische Hilfe entscheiden. Es findet sich in einem Artikel von Martin Spiewak aus dem Jahr 2003, der im Rahmen der ZEIT-Serie »Land ohne Leute« erschien. In dieser Serie, die die unterschiedlichen Phänomene und Probleme einer sich verändernden Altersstruktur der Gesellschaft thematisiert, lenkt Spiewak den Fokus auf das steigende Alter der Frauen bei der ersten Schwangerschaft und die neuen Reproduktionsmöglichkeiten. Bereits der Titel »Mutterglück im Rentenalter. Frauen entscheiden sich immer später für ein Kind – häufig zu spät. Dieser Trend treibt die Reproduktionsmedizin zu absurden Rekorden.«, zeigt die veränderte Lebensplanung von Frauen als das verursachende Problem an und streicht den reaktiven Charakter der Reproduktionsmedizin heraus. Spiewak spielt in dem Artikel mit Metaphern der (Lebens-)Zeit, die auf die biologische Verfasstheit des weiblichen Körpers verweisen. So beginnt der Artikel bspw. mit einer Anzeigenkampagne der Amerikanischen Gesellschaft für Reproduktion, in welcher eine auf dem Kopf stehende Nuckelflasche in Form einer Sanduhr verdeutlichen soll, dass die Jahre der Fruchtbarkeit zeitlich begrenzt sind und verrinnen. Neben der Metapher der Sanduhr wird auch das sprichwörtliche Ticken der »biologischen Uhr« (ebd.) angeführt. Spiewak pointiert in diesem Artikel die Differenz zwischen dem biologisch vorgesehenen Alter für Frauen beim Eingehen einer Schwangerschaft und dem empirisch nachvollziehbaren Wandel zu späteren Geburten. Er stellt die biologisch günstigen
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Zeiten für die Fortpflanzung vor und erklärt, warum mit dem Alter auch Fertilitätsstörungen ansteigen. Eine Aussage des Artikels ist hierbei deutlich herauszulesen: »Wer zu lange mit der Familiengründung wartet, gefährdet seine Fruchtbarkeit.« (ebd.) Für Frauen, die sich zu spät für ein Kind entscheiden, wird die Reproduktionsmedizin als Hilfestellung vorgestellt, die aktiv nachgefragt wird. Mittels der Eizellenspende zeigt Spiewak dabei auch, dass durch »gynäkologische Manipulation die Empfängnis selbst im Großmutteralter« (ebd.) möglich sei. Dass sich die Reproduktionsmedizin an den Interessen der Frauen orientiert, die an altersbedingten Fertilitätsschwierigkeiten leiden, wird in diesem Artikel fast überzeichnet. Die Bildung von Begriffspaaren wie der »schwangeren Rentnerin« (ebd.) oder der »Mutter im Omaalter« (ebd.) irritieren und verweisen zugleich darauf, dass hier gesellschaftliche Vorstellungen vom Alter einer Mutter überschritten und mit Lebensphasen verbunden werden, in welchen Frauen mit Kindern als Großmutter vorgestellt werden. Die Begründungsfigur über das Alter der Frau findet sich in weniger polemischer Form auch in weiteren Artikeln. Sie taucht stellenweise fast nebenbei in einem Halbsatz auf oder wird wie im folgenden Zitat näher ausgeführt und als Begründung reproduktionsmedizinischer Anwendungen herangezogen: »Frauen wollen eine Ausbildung, eine Karriere, bevor sie Kinder bekommen, die Leute heiraten später. Doch unsere Biologie sieht vor, dass wir mit 18 Kinder bekommen. Immer mehr Frauen werden daher in Zukunft medizinische Hilfe bei der Fortpflanzung benötigen.« (Bahnsen 2000)
Der Ausschnitt stammt aus einem Interview mit dem amerikanischen Arzt Mark Hughes, einem der drei Entwickler der PID. Auch dort wird der späte Wunsch der Frauen nach Kindern als ein zentrales Argument für den Einsatz und die Entwicklung von reproduktionsmedizinischen Maßnahmen angesehen. Wie die beiden Ausschnitte zeigen, wird die Entwicklung der Reproduktionsmedizin und speziell der PID als Reaktion auf das erhöhte Schwangerschaftsalter der Frauen erklärt. Im Gegensatz zu dem Bezug auf Frauen, die aufgrund von Krankheit oder genetischer Veranlagung eine PID durchführen lassen, wird hier die eigene Verantwortung für die Infertilität hervorgehoben. Unabhängig von den Gründen, die als Anlass für eine PID angegeben werden, werden Frauen im Rahmen dieses Argumentes nicht als das Ziel oder Opfer von reproduktionsmedizinischen Entwicklungen beschrieben, sondern gegenteilig als Initiatorinnen vorgestellt. Das Argument taucht in unterschiedlichen Strängen auf: Es findet sich sowohl in Artikeln, die die Technologie oder ein-
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zelne Forscher bzw. Forschergruppen vorstellen, als auch in Artikeln, die eine subjektive Vorstellung von Anwenderinnen vornehmen. 6.3.2 Status des Embryos und Abtreibung Eine weitere Argumentationsfigur, innerhalb derer Frauen in dem Diskurs der PID angeführt werden, findet sich in den Diskussionen um das Verhältnis von Abtreibung und Embryonenschutz bzw. Abtreibungsregelung und ESchG. Die Auseinandersetzung um den Status des Embryos bildet die zentrale ethische und rechtliche Diskussion im Diskurs der PID. In einer Vielzahl der Artikel, die sich mit dem Status des Embryos auseinandersetzen, wird neben dem ESchG auch auf die geltende Abtreibungsregelung Bezug genommen. Hierbei wird häufig die rechtliche Absicherung des Embryos im ESchG im Vergleich zur Abtreibungsregelung kontrastiert und teilweise als widersprüchliche rechtliche Situation dargestellt. Im Folgenden gebe ich zuerst einen kurzen Überblick über die vertretenen Positionen und einhergehenden Verläufe der Argumentation, um vor diesem Hintergrund herauszuarbeiten, dass die Anwendung der PID gerade durch die Parallelisierung zur Abtreibung als reproduktionsmedizinische Anwendung vorgestellt wird, die sowohl im Interesse der Frau liege als auch im Vergleich zur Abtreibung weniger belastend sei. Die Verbindung der Diskussion um die PID mit der Diskussion um Abtreibung erfolgt zumeist über eine Gleichsetzung der Abtreibung aufgrund einer medizinischen Indikation nach einer PND und der Verwerfung eines Embryos nach der PID. Deutlich seltener wird die geltende Abtreibungsregelung, nach der ein Schwangerschaftsabbruch (ohne medizinische Indikation) zwar rechtswidrig, aber bis zum 3. Schwangerschaftsmonat straffrei bleibt, als Beispiel dafür angeführt, dass der Schutz des Embryos und damit die Geltung des ESchG nicht gewährt sei. Interessanterweise sind es zumeist gerade die KritikerInnen der PID, die in Bezug auf die Abtreibung sehr vorsichtig in ihren Formulierungen sind und auf die spezifische Situation der Mutter verweisen, die nicht zur Schwangerschaft gezwungen werden könne. Die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin warnt in einem Interview von 2000 vor den »bequemen Parallelen« (Sentker 2001) und wehrt sich gegen die Gleichsetzung unterschiedlicher Ausgangsprobleme: »Und danach ist ein Schwangerschaftsabbruch nur rechtmäßig, wenn eine Indikation, also eine Kollision von Rechtsgütern vorliegt. Es reicht eben nicht, obwohl man das in der Öf-
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fentlichkeit hören kann, dass das Ungeborene eine genetische Belastung oder Krankheit hat. Die embryopathische oder eugenische Indikation ist bewusst abgeschafft, es geht immer um Gesundheit und Leben der Mutter.« (Sentker 2001)
Befürworter der PID dagegen versuchen eine Form der Doppelmoral aufzuzeigen, die Abtreibungen erlaubt, aber die PND verbietet. Sie betonen den Widerspruch, wenden sich aber explizit nicht gegen Abtreibungen. Ein Beispiel für diese Argumentation gibt die folgende Formulierung: »[D]erzeit sind Embryonen im Reagenzglas besser geschützt als im Mutterleib, wo sie durch den Einsatz von Spiralen oder durch Abtreibungen getötet werden dürfen.« (Schuh 2000b)
Die Verbindung beider Diskurse wird zumeist von Seiten der BefürworterInnen vorgenommen. Interessant im Rahmen dieser Arbeit ist diese Diskussion nicht nur, weil das Recht auf Abtreibung eine wichtige Forderung der zweiten Frauenbewegung war, sondern auch, weil im Rahmen der Auseinandersetzung wiederholt auf die Interessen von Frauen verwiesen wird. Dabei variieren die Bezüge, in denen eine Verbindung zur Abtreibung hergestellt wird. Einerseits wird das Zustandekommen der scheinbar rechtlich widersprüchlichen Situation als eine Folge der Abtreibungsregelung aufgeführt, die im Interesse der Frauen lag und liegt, andererseits wird die PID als Möglichkeit vorgestellt, die psychischen und physischen Belastungen einer Abtreibung zu vermeiden. Die erste Argumentation lässt sich an dem folgenden Ausschnitt aus einem Artikel von Wolfgang van den Daele nachvollziehen, der zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied des Ethikrates war. Das Zitat folgt auf einen Abschnitt, in welchem van den Daele anführt, dass Eltern die Entscheidung für oder gegen Abtreibung differenzieren und bei einer guten Beratung die Abtreibungsrate sinkt, wenn »Merkmale von geringem Krankheitswert diagnostiziert werden« (Daele 2002): »Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass Frauen sich die Optionen der Diagnostik für Befunde aus der Hand nehmen lassen, die sie als gravierend empfinden und bei denen sie eine Abtreibung wählen würden. So wurde in den achtziger Jahren die so genannte psychische Indikation für pränatale Diagnostik von jüngeren (in der Regel besser ausgebildeten) Frauen durchgesetzt, bei denen kein altersbedingtes Risiko für eine Chromosomenstörung des Kindes bestand. Die Frauen wollten einfach Sicherheit.« (Daele 2002)
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Ähnlich der Argumentation bei der Technologieentwicklung und -nutzung werden Frauen als Akteurinnen vorgestellt, die sich rechtliche Spielräume geöffnet haben, um in diesem Fall sich ihren Wunsch nach einem gesunden Kind zu erfüllen und sich im gegenteiligen Fall die Option der Abtreibung offen zu halten. 70 Diese Spielräume scheinen in dem Diskurs die weitere restriktive Gültigkeit des ESchG in Frage zu stellen. Durch die Verknüpfung des Rechts auf Abtreibung und der Zulassung der PID scheint auch letzteres im Interesse der Frau zu stehen. Hierdurch gerät eine Ablehnung, das Lebensrecht des Embryos über das Selbstbestimmungsrecht der Frau zu stellen, in Misskredit. Dies bietet einerseits einen Hinweis darauf, warum gerade die KritikerInnen der PID so bemüht sind, diese Verknüpfung zu lösen. Es demonstriert andererseits eine Argumentationsfigur, in der über die Interessen der Frauen eine Legalisierung der PID begründet wird. Auf eine Verbindung greift auch Angela Merkel zurück, wenn sie in einem Interview von 2000 die unterschiedlichen Positionen zur Abtreibung und der PID der Partei Die Grünen kritisiert: »Die Grünen wollten beim Paragrafen 218 vom Lebensschutz nichts wissen, das war für sie reine Emanzipationsfrage, bei der es um die Selbstbestimmung der Frau ging. Bei der PID, wo das Fraueninteresse scheinbar nicht berührt ist, sind die Grünen unglaublich restriktiv.« (Niejahr/Ross 2000)
Auch in weiteren Artikeln finden sich wiederholt Gleichsetzungen des Rechts auf Abtreibung mit der Anwendung von PID, die die Einführung der PID als im Interesse der Frau beschreiben. Martin Spiewak vergleicht bspw. den »Fortpflanzungstourismus« (Spiewak 2002), bei welchem Frauen und Paare für die Anwendung einer PID oder Eizellenspende ins Ausland fahren, mit den früheren Abtreibungsfahrten in die Niederlanden. Und Mark Hughes fragt in seinem Interview direkt zu Anfang nach, ob Frauen in Deutschland abtreiben dürften, wenn der Fötus schwer krank ist. Auf die Antwort des Interviewers: »Natürlich«, führt er aus: »Das ist ja interessant. Man darf eine Schwangerschaft beenden, die schon seit Wochen besteht. Aber einen gesunden Embryo auszusuchen, um ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, ist nicht okay? Das verstehe ich nicht.« (Bahnsen 2000)
70 Dabei wird die Problematik der Abtreibungsfrage sehr verkürzt von van den Daele dargestellt. Muss der Einsatz für die Indikationsregelung nicht eher als eine Kompromisslösung gelesen werden, solange Abtreibung nicht freigegeben ist? Gerade da die Fristenlösung erst 1993 eingeführt wurde?
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Der Verweis auf Abtreibung taucht jedoch auch noch in einem anderen Bezug auf. Die PID wird als eine Möglichkeit eingeführt, die der Frau die hohe psychische Belastung durch eine Abtreibung erspare. Mit Bezug auf den Entwurf der Bundesärztekammer 71 schreibt Hans Schuh im März 2000: »Denn dank der PID kann die Frau bereits vor der Schwangerschaft erfahren, ob der Embryo belastet ist, und seine Übertragung in ihren Schoß verweigern. Dies ist viel humaner, als ihn wochenlang in sich heranwachsen zu lassen, dann zu testen und eventuell zu töten.« (Schuh 2000a)
Und weiter: »Denn wenn sie sich den Mühen einer Reagenzglasbefruchtung unterziehen, warum dann die Prüfung des Embryos vor dem Einpflanzen in den Uterus verbieten, aber danach zur Pränataldiagnostik raten?« […] »Deshalb sollten wir das medizinisch beste und für die Frauen schonendste Verfahren ermöglichen.« (Schuh 2000a)
In diesem Artikel bündelt sich die Argumentation, die die geringeren psychischen und physischen Belastungen der Frau als Grund für eine Einführung der PID anführt. Auch hier wird die PID mit der Frage der Abtreibung verbunden, aber um einen Aspekt erweitert: Die PID wird als eine schonende Variante vorgestellt, in welcher Möglichkeiten der PND und der Abtreibung zusammenlaufen, ohne die Frau im gleichen Maße zu belasten. Diese Argumentation findet sich in weiteren Artikeln. Dabei wird die Differenz auch darüber hergestellt, dass Beispiele von Frauen angeführt werden, die keine Abtreibung vornehmen möchten, aber zu einer PID bereit sind: »Meine Patientinnen wollen keine Schwangerschaft auf Probe. Denn die meisten haben einen Abbruch hinter sich und würden einen zweiten einfach nicht ertragen. Deshalb wollen sie den Gentest.« (Bahnsen 2000) »Obwohl sie ›nicht sehr gläubig‹ ist, sagt sie: ›Es auf eine Abtreibung ankommen zu lassen wäre für mich nicht infrage gekommen.‹ Ihre Erbkrankheit hätte auch bei den üblichen
71 Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer vom 24.2.2000. In diesem wird eine Indikationsregelung für PID bei Paaren vorgeschlagen, für deren Nachkommen ein »hohes Risiko für eine bekannte und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht.«
172 | G ESCHLECHT IM Z EITALTER DER R EPRODUKTIONSTECHNOLOGIEN pränatalen Diagnoseverfahren, etwa im Fruchtwasser, nachgewiesen werden können. Ein Schwangerschaftsabbruch wäre dann erlaubt – ein Widerspruch im deutschen Rechtssystem.« (Sauerer 2004)
Wenngleich in einem anderen Argumentationskontext, wird die Einführung der PID auch hier als im Interesse der Frau gefordert. Dabei rangiert die Bewertung zwischen einer starken Betonung des Eigeninteresses von Frauen, sich die Möglichkeit zur Abtreibung offen zu halten und mittels der PID zu erweitern, und der Pointierung der Belastungen einer Abtreibung für die Frau, welche es zu schmälern gelte. 6.3.3 Frauen als Randfiguren Die dritte Argumentationsfigur im Diskurs der PID bildet die Leerstelle von Frauen und Paaren. In einer signifikanten Anzahl der Artikel finden sich keine Verweise auf Frauen und prospektive Eltern. In allen Strängen – ausgenommen den AnwenderInnenbeispielen – finden sich Artikel, die sich überhaupt nicht mit der Perspektive von Frauen und Paaren beschäftigen und weder ihre Interessen und möglichen Beweggründe für oder gegen eine PID vorstellen, noch sie bei der Beschreibung der Durchführung einer PID mit anführen. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die PID gerade zum Ziel stattfinden hat, einen »gesunden« Embryo auszuwählen, um so eine erfolgreiche Schwangerschaft zu ermöglichen. Die PID scheint in diesen Artikeln nicht nur eine außerhalb des Mutterleibes ansetzende, sondern auch ohne Mutterleib stattfindende Technologie zu sein. Die Fragen, woher die zu testenden Embryonen stammen und wohin sie nach dem Diagnoseverfahren transferiert werden, werden entweder komplett ausgeblendet oder eher floskelhaft am Rand erwähnt. So finden sich Artikel, in denen als einzige Verweise auf Frauen die Wörter Eizelle und Uterus gegeben werden. Neben der Ausblendung von Frauen und Paaren finden sich ebenfalls Artikel, in denen sie nur durch sehr kurze Verweise oder einseitige Perspektiven angeführt werden. So werden Eltern in einem Interview mit Jürgen Habermas nur in Hinblick auf die Festlegung der Auswahlkriterien für eine PID angeführt: »In dem Maße, wie uns die Entwicklung verheißungsvolle Chancen eröffnet, bisher unheilbare Krankheiten zu behandeln, bietet sie uns vermutlich auch die zweifelhaften Optionen einer verbessernden Eugenik. Im Rahmen liberaler Gesellschaften würden solche
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Verfahren der genetischen Merkmalsänderung über den Markt den individuellen Wahlakten der Eltern in die Hände gespielt.« (Assheuer/Jessen 2002)
Der Verweis auf Eltern als zukünftige Designer ihrer Kinder findet sich zweimal in dem Interview, bildet aber den einzigen Bezugspunkt. In seiner Warnung vor einer liberalen Eugenik blendet Habermas dabei weitergehende Aspekte wie bspw. die körperlichen Belastungen der Frau bei einer Durchführung der PID aus. Zugleich zeigt sich in weiteren Artikeln, dass die Erwähnung der Strapazen nicht davor schützt, eine sehr reduzierte Sicht auf Frauen und Eltern zu geben. In einem Artikel, der die Polkörperdiagnostik mit den weitergehenden Verfahren der PID vergleicht, wird zum Abschluss in Bezug auf die Polkörper-Diagnostik ausgeführt: »Die dafür notwendige In-vitro-Fertilisierung bei einem eigentlich fruchtbaren Paar ist, vor allem für die Frau, psychisch und physisch belastend. Die frauen- und gesundheitspolitischen Fragen bleiben also bestehen.« (Henn 2002)
Anhand des letzten Beispiels wird deutlich, dass Frauen und Paare zwar keine Leerstelle bilden, sie aber trotzdem deutlich aus dem Fokus fallen. Stellenweise erwecken die verkürzte Nennung und die Erwähnung an den äußersten Rändern der Artikel den Eindruck, dass diese ausschließlich der Vollständigkeit halber angeführt werden. Sie erscheinen beinahe als eine Form der Beruhigung des AutorInnengewissens und zur Abwehr spezifischer Kritik. Wie bereits oben angegeben, kann diese Leerstelle nicht primär einem Strang zugeordnet werden. Sie findet sich in Artikeln, die sich mit dem Lebenswert des Embryos beschäftigen und ausschließlich den rechtlichen Status des Embryos und ethische Konzepte fokussieren, taucht aber ebenso in Artikeln auf, die die politische Diskussion um die PID beschreiben und sich auf Gewichtungen innerhalb der Parteien, Koalitionsfindungen oder den Ausbau des Wissenschaftsstandorts BRD beziehen. Selbst in detaillierten Beschreibungen der medizinischen Verfahren finden sich Frauen und Eltern stellenweise nur als Spender des biologischen Materials wieder, das zum Embryo wird und getestet werden kann.
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6.4 Z USAMMENFASSENDE E RGEBNISSE
DER
ANALYSE
Wie die Analyse zeigt, finden sich Frauen und Paare in dieser Diskursphase zumeist an den Rändern der Diskussion wieder und rücken im Diskurs nur innerhalb der beiden Argumentationsfiguren »Frauen als Motor der Technologieentwicklung« und »Status des Embryos und Abtreibung« in den Fokus. Dieses Ergebnis hat mich zuerst erstaunt. Bevor ich mit der Diskursanalyse begonnen habe, ging ich davon aus, dass die Artikel deutliche Appelle an Frauen enthalten müssten, die den Anspruch auf die Norm zu einem gesunden Nachwuchs formulieren und die Einhaltung bzw. Erfüllung dieser Norm in den Aufgabenbereich der Frau stellen. Untersuchungen von Barbara Duden, welche den Wandel der Schwangerschaft von einem normalen und temporären Zustand im Leben der Frau zu einer Zeit des Risikos beschreiben, zeigen auf, dass die erhöhte medizinische Kontrolle und Erfassbarkeit der Schwangerschaft durch den Einsatz neuer Technologien wie Ultraschall den Embryo fokussieren und auf seine Gesundheit hin erfassen. Aber auch die Frau wird in diesem Prozess stärker überwacht und zu einem gewissenhaften Umgang mit ihrem Körper animiert. Barbara Duden beschreibt in ihrer Untersuchung, wie die Medizin zur zuständigen Instanz wird, die das Bild von Schwangerschaften prägt und den Verlauf einer normalen Schwangerschaft festlegt: »Die sogenannte ›Natur‹ der heutigen Schwangerschaft lässt sich ohne durchprofessionalisierte Körperbetreuung nicht denken. Sie lässt sich nicht denken außerhalb einer Gesellschaft, in der Frauen davon überzeugt wurden, dass Mediziner ihnen sagen können und sollen, ob sie schwanger sind und ihnen beibringen können, wie frau das richtig erlebt.« (Duden 2002: 87)
Feministische Arbeiten, die an Foucault anschließen, betonen die Verknüpfung der Entwicklung der neuen reproduktionsmedizinischen Technologien mit einer zunehmenden Normierung der Schwangerschaft. Mein Material fiel allerdings hinter diese Ausgangsthese zurück. Anstelle des Appells zu gesundem Nachwuchs als Verpflichtung und Verantwortung der Mütter und Eltern, bildet die ZEIT vielmehr die Auseinandersetzung um den Wert embryonalen Lebens und um die Gewichtung von Chancen und Risiken der neuen Technologie ab. Der Fokus der medialen Debatte liegt also auf dem Status des Embryos und wird durch die Berichterstattung über die politische Auseinandersetzung im Bundestag sowie den Positionen des Ethikrates und der Enquetekommission und Überlegungen zur Konkurrenzfähigkeit des Forschungsstandorts Deutschland ergänzt. Die Perspektive von Frauen und Paaren fließen nur sehr begrenzt in die ethische
D ER D ISKURS DER PID IN DER ZEIT
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Debatte ein und dienen stattdessen als Anwendungsbeispiele der Diagnostik. Wie meine Analyse zeigt, schwingt hierbei immer wieder als Tenor mit, dass Frauen den Konflikt um die PID mitverursacht haben – sei es durch die späte Entscheidung zu einem Kind oder durch die Durchsetzung des Abtreibungsrechts. Hier zeigt sich einmal mehr, wie notwendig eine deutlich wahrnehmbare feministische Position im medialen Diskurs gewesen wäre. Im Jahr 2004 findet die öffentliche Debatte um die Präimplantationsdiagnostik vorerst ihr Ende. Trotz der breiten öffentlichen Diskussion und wiederholten Debatten im Bundestag, in denen für eine begrenzte Zulassung der PID geworben wird, findet sich für eine Änderung des ESchG keine Mehrheit. Dass das Unbehagen mit der selektiven Diagnostik überwiegt, zeigt sich in den Bundestagsdebatten und medialen Diskurs. Der unveränderte rechtliche Status und wenig Aussicht auf einen gesellschaftlichen und politischen Stimmungswechsel führen dazu, dass die Diskussion um die PID langsam verebbt und aus dem medialen Diskurs nahezu vollständig verschwindet.
7. Neuer Diskurs – Neue Argumente? Der Diskurs der PID in den Jahren 2010 und 2011
Mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs kommt der mediale Diskurs um die Präimplantationsdiagnostik im Jahr 2010 wieder in Bewegung. War die Diskussion in den Jahren 2000 bis 2004 geprägt von einem Ringen um Argumente für eine Zulassung der PID, so unterscheidet sich die Ausgangsposition grundlegend: Mit dem Urteil, die PID in Fällen von zu erwartenden schweren genetischen Schädigungen sowie Fehl- und Totgeburten zuzulassen, muss nicht mehr in gleicher Weise um die Legalisierung der Diagnostik gestritten werden; vielmehr geht es darum, wie eine eingeschränkte Zulassung möglich wäre und um eine generelle Bewertung und Einschätzung des Urteils. Auch die zeitliche Dauer der Diskussion differiert: Innerhalb eines Jahres wird nicht nur das Urteil gefällt, sondern im Bundestag über Gesetzesentwürfe beraten und abgestimmt, neben dem Ethikrat geben wissenschaftliche, kirchliche und karitative Einrichtungen Empfehlungen ab und positionieren sich. Um die Diskussion einzufangen und zugleich eine ausreichende Menge an Artikeln zur Analyse vorliegen zu haben, habe ich daher in diesem zweiten Schritt der Diskursanalyse die Auswahl der Zeitungen und Zeitschriften ausgeweitet. Neben der ZEIT habe ich als zwei Qualitätszeitungen die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Süddeutsche Zeitung (SZ) hinzugenommen und als zusätzliche wöchentlich erscheinende Publikation das Magazin »Der Spiegel«. Alle Publikationen erscheinen bundesweit und haben eine ähnliche Reichweite. Da es sich zudem um Qualitätszeitungen bzw. ein -magazin handelt, ist die Vergleichbarkeit der Artikel gewährleistet. Nichtsdestoweniger lässt sich eine Differenzierung nach Zielgruppen und politischer Ausrichtung vornehmen. Die sechsmal in der Woche erscheinende FAZ hat eine Auflage von rund 363.620 Exemplaren (2010). Ihre Reichweite wird mit einer Million LeserInnen
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angegeben, gemeinsam mit der Sonntagszeitung »FAZ/FAS« sogar etwas über zwei Millionen (vgl. AWA 2012). 72 Auf die generelle Stagnation des Zeitungsund Zeitschriftenmarkts hat die FAZ mit einer öffentlichkeitswirksamen Medienkampagne »Dahinter steckt immer ein kluger Kopf« reagiert, in der sich Prominente wie Ignatz Bubis, Joachim Gauck, Maria Furtwängler oder Michael Schumacher als FAZ-LeserInnen präsentieren. In der Informationsbroschüre für Werbepartner wirbt die FAZ nicht nur damit, überdurchschnittlich viele Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft zu erreichen. Sie charakterisiert ihre Leserschaft als »interessante und interessierte Persönlichkeiten mit einem überdurchschnittlichen Einkommen, hoher Bildung und einem anspruchsvollen Lebensstil. Sie sind meinungsführend und innovativ sowie beruflich und privat aktiv und heben sich deutlich vom Bevölkerungsdurchschnitt ab – kurzum, eine Consumerzielgruppe mit hoher Werberelevanz und großem Potential.« (Wo ihre Werbung wirkt, FAZ 2012: 11)
Die FAZ ist eine (eher) konservativ ausgerichtete Zeitung. Auch in der FAZ sind – ähnlich der ZEIT – öffentliche Debatten wie bspw. der Historikerstreit geführt worden. Ihre Position als ein Leitmedium in Deutschland zeigt sich nicht zuletzt in der Rückkehr zur alten Rechtschreibung und der späteren Festlegung einer Hausorthographie, die auch andere Zeitschriften und Verlage (wie den Axel Springer Verlag oder den Spiegel) zur Rückkehr animiert hat. Gemeinsam mit der Süddeutschen Zeitung buhlt die FAZ um die Führungsposition der überregionalen Qualitätszeitungen – allerdings gewinnt sie ihn nur, wenn man die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) mitrechnet. Auch die Süddeutsche Zeitung erscheint sechsmal in der Woche. Auf dem deutschen Markt der überregionalen Qualitätszeitungen hat sie sich erfolgreich gegen die FAZ durchgesetzt und führt diesen mit einer Reichweite von 1,28 Millionen LeserInnen und einer Auflage von 431.756 Exemplaren an (vgl. AWA 2012). In ihren Mediadaten wirbt sie ebenfalls mit einer gehoben, einkommensstarken Leserschaft, die überdurchschnittlich jung, gebildet und beruflich erfolgreich ist (vgl. Süddeutsche Zeitung Argumente 2011: 11). Sie verweist zugleich darauf, dass die LeserInnen der SZ nur eine geringe Schnittmenge mit der Leserschaft anderer Qualitätszeitungen haben und so nur durch die SZ adressiert werden können. Im Gegensatz zur FAZ gilt die Süddeutsche Zeitung als eine linksliberal ausgerichtete Zeitung, die sich auch in ihrem Redaktionsstatut als »liberal
72 Vgl. auch das Portrait der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: http://verlag.faz.net/ unternehmen/ueber-uns/, Zugriff am 26.7.2012.
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und sozial« (Maaßen 1986) vorstellt. Neue Entwicklungen in der Biomedizin und Gentechnologie werden in der SZ regelmäßig vorgestellt und diskutiert – vorrangig in den Ressorts »Wissen« und »Gesundheit« –, bislang aber ist die SZ trotz dieser kontinuierlichen Berichterstattung nicht im gleichen Maße wie die FAZ oder die ZEIT als Initiatorin von Debatten aufgetreten. Nichtsdestoweniger ist sie hinter dem Spiegel und der Bildzeitung das meist zitierteste Medium in Deutschland (vgl. PMG Medienanalyse 2012: 2). Die letzte Auswahl für die Diskursanalyse bildet der Spiegel, der sich als Magazin im Format sowohl von den Tageszeitungen als auch der wöchentlich erscheinenden ZEIT unterscheidet. Mit einer Reichweite von 6,14 Millionen (vgl. AWA 2012) führt der Spiegel deutlich den Markt der Nachrichtenmagazine vor Stern und Focus an. Auch er hat eine überdurchschnittlich gebildete und einkommensstarke Leserschaft. Der Spiegel selbst beschreibt sich als »Synonym für investigativen Journalismus« (Spiegel Factsheet 2012), der nicht zuletzt durch das Aufdecken zahlreicher politischer Affären, bspw. der Spiegelaffäre um Strauß mit anschließender Auseinandersetzung um Pressefreiheit in den 60ern oder der Barschelaffäre, als Leitmedium in der Bundesrepublik gilt. In der Selbstdarstellung ist die Redaktion des Spiegels darum bemüht, die Unabhängigkeit zu betonten: »Er ist politisch unabhängig, niemandem – außer sich selbst und seinen Lesern – verpflichtet und steht keiner Partei oder wirtschaftlichen Gruppierung nahe« (Spiegel: Das Konzept 2012). Trotz dieser Unabhängigkeitserklärung lässt sich der Spiegel als ein linksliberales Medium einordnen (vgl. Bölke 1997). Alle angeführten Medien erscheinen ebenso wie die ZEIT, die ich bereits im vorherigen Kapitel ausführlich vorgestellt habe, überregional und haben eine vergleichbare Leserreichweite von mindestens einer Million. Sie gelten als Qualitätszeitung/-magazin und Leitmedium (vgl. Wilke 1999). Da sie in der politischen Ausrichtung und im Format differieren, erlaubt ihre Analyse einen Querschnitt des medialen Zeitungsdiskurses, in dem sich die zentralen Positionen abbilden. Zusätzlich zu den Printmedien habe ich außerdem die Talkshow »Hart aber fair: Vom Wunschkind zum Kind nach Wunsch« hinzugenommen, die am 30.6.2011 in der ARD ausgestrahlt wurde. Die von Frank Plasberg moderierte Sendung versammelt konträre Positionen zur PID und stellt zentrale Figuren der Debatte vor; so ist bspw. der Reproduktionsmediziner Matthias Bloechle, der durch seine Selbstanzeige die neue Debatte entfacht hat, als Gast im Studio. Die Talkshow wird selbst in den (Print-)Medien rezipiert. So berichtet bspw. der Spiegel über die Talkshow (Spiegel/Patalong 2011) und die Ärzte Zeitung führt die Talkrunde als Beispiel an, dass auch ein »sperriges medizinethisches Thema
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wie die Präimplantationsdiagnostik (PID)« (Staeck 2011) für einen TV-Talk tauge.
7.1 S TRUKTURANALYSE – Z EITRÄUME D ISKURSSTRÄNGE
UND
Die erneute Diskussion um die PID nimmt ihren Beginn mit dem Urteil des BGH am 6.7.2010 und läuft nach der Bundestagsdebatte am 7.7.2011 aus. Um diese beiden Ereignisse herum habe ich daher die zweite Diskursanalyse angelegt und alle Artikel erfasst, die ab einer Woche vorher und bis zu zwei Wochen danach erschienen sind. Damit erfasst der Textkorpus die Ausgaben von jeweils vier Wochen. 73 In diesem Zeitraum sind insgesamt 57 Artikel und vier Leserbriefe (LB) erschienen, die sich folgendermaßen auf die ausgewählten Zeitschriften aufteilen: Tabelle 2: Anzahl der Artikel zur PID in 2010 und 2011 ZEIT
SZ
FAZ/FAS 74
Spiegel
gesamt
2010
6
6
12 2 LB
6
29 2 LB
2011
6 1 LB
6
11 1 LB
4
27 2 LB
Für beide Zeitphasen hat die FAZ/FAS die meisten Publikationen zum Thema, einige der Artikel sind jedoch – auch im Gegensatz zu den anderen Zeitungen – regionale Meldungen, bspw. wird das Abstimmungsverhalten der Frankfurter
73 Neben diesen beiden Stichtagen, die den Beginn und das Ende der Diskussion und die neuerliche Regelung der PID bilden, sind zwei weitere Zeitphasen für die öffentliche Diskussion um die PID relevant. Im Herbst 2010 werden die ersten überfraktionellen Entwürfe zu einer gesetzlichen Neuregelung im Bundestag eingebracht und diskutiert und im April 2011 findet die erste Anhörung im Bundestag statt, zu der auch ExpertInnen geladen sind. 74 Für die Diskursanalyse habe ich sowohl Artikel aus der FAZ und der FAS erfasst. Beide Zeitungen gehören dem selben Verlag an und ähneln sich in der Ausrichtung, was sich auch darin zeigt, dass festangestellte JournalistInnen sowohl in der FAZ als auch in der FAS schreiben.
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Bundestagsabgeordneten vorgestellt (vgl. FAZ/Riebsamen 2011). Die ausführlichsten Artikel finden sich in der ZEIT. Im Vergleich zu der Diskussion um die PID zwischen 2000 bis 2004 fällt auf, dass mit dem Urteil des BGH die Diskussion thematisch enger geführt wird. Während in der Analyse der ZEIT verschiedene Aspekte und inhaltliche Schwerpunkte zu finden waren, reduzieren sich diese in der erneuten Diskussion auf drei wesentliche Stränge: Die Herleitung und Bewertung des Urteils, die politische Diskussion um die verschiedenen Anträge im Bundestag und deren Abstimmung sowie die Bewertung der Präimplantationsdiagnostik selbst. Darüberhinausgehende Aspekte wie bspw. der Ausbau Deutschlands als Wissenschaftsstandort werden nicht mehr angeführt und auch die explizite Darstellung von Reproduktionstourismus findet sich kaum. Neben den aktuellen Entscheidungen auf der judikativen und legislativen Ebene schält sich mit der Engführung der inhaltlichen Aspekte vielmehr der Kern der Diskussion heraus: Ist die PID zu erlauben, weil sie das Leid von Eltern mit genetischen Dispositionen, die sie nicht weitergeben möchten, verhindert und ihnen eine Erfüllung des Kinderwunsches bietet? Oder führt die PID als selektive Diagnostik zu einer Diskriminierung von Behinderten und einem gestiegenen Druck auf zukünftige Eltern sicherzustellen, dass sie ein gesundes Kind bekommen? Die aktuelle Debatte findet damit vor dem Hintergrund ethischer Fragen nach dem Verhältnis von Autonomie der Entscheidung der Eltern und dem Instrumentalisierungsverbot und Schutz ungeborenen Lebens statt. Inwieweit dies auch die Darstellung von geschlechtsspezifischen Aspekten prägt, werde ich in der Feinanalyse der Artikel zeigen. Vorher möchte ich aber zuerst einen Überblick über die Struktur der Debatte und deren wichtigste Aspekte geben. Da diese sich in den beiden Zeitspannen der Erfassung unterscheiden, werde ich im Folgenden chronologisch vorgehen und zuerst die Diskussion um das BGH-Urteil und anschließend die Entscheidung des Bundestages vorstellen. 7.1.1 Das Urteil – Der zweite Zeitraum Der zweite Untersuchungszeitraum der Diskursanalyse erstreckt sich vom 28. Juni 2010 bis zum 25. Juli 2010 75 und wird bestimmt durch das Urteil des BGH am 6. Juli 2010. In diesem Korpus der Analyse beziehen sich nahezu alle Artikel
75 Das Intervall ist daraufhin festgelegt, dass in diese Zeit je 4 Ausgaben der beiden wöchentlichen Medien fallen, da Spiegel und Zeit an unterschiedlichen Tagen (Montag und Donnerstag) publiziert werden. Es beginnt eine Woche vor dem Urteil und endet zwei Wochen nach dem Urteilsspruch.
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auf den zu erwartenden oder gefällten Urteilsspruch. Im Zentrum stehen hierbei drei Aspekte: Erstens die Darstellung und der Anlass des Gerichtsverfahrens, von den Gründen der Selbstanzeige des Arztes bis zum Urteilsspruch des BGH, zweitens die Vorstellung der PID als diagnostisches Verfahren, das im Rahmen einer IVF vorgenommen wird und bestimmte Krankheiten und Eigenschaften diagnostizieren kann. Hieran schließt drittens die Diskussion um die ethische Bewertung des Verfahrens an. Die Artikel stellen unterschiedliche Positionen und Akteure im Diskurs der PID vor. Neben MedizinerInnen in der Gynäkologie oder Reproduktionsmedizin kommen PolitikerInnen, Sprecher der Kirchen und Behindertenverbände sowie Eltern zu Wort. Eine zentrale Figur in der Darstellung des Gerichtsverfahrens ist der Reproduktionsmediziner und Gynäkologe Matthias Bloechle, der durch seine Selbstanzeige eine rechtliche Klärung der PID angestoßen hatte. Seine Beweggründe werden in der Mehrzahl der Artikel beschrieben. Die LeserInnen erfahren, dass Bloechle dreimal eine PID durchgeführt hat und sich dann mit dem Ziel einer rechtlichen Klärung selbst angezeigt hat, dass eine dieser PID zur Geburt eines Kindes geführt hat und dass er Paaren geholfen hat, die bei vorangegangenen Schwangerschaften diese wegen einer Diagnose des Kindes auf Down-Syndrom abgebrochen hatten oder durch vorherige Totgeburten belastet waren (vgl. bspw. SZ/Janisch 2010a). In einem Interview in der FAZ gibt Bloechle selbst nochmals Einblick in seine Entscheidung für die Durchführung der PID und die Selbstanzeige und nennt dort den Wunsch, Eltern zu helfen, als ausschlaggebenden Grund (vgl. FAZ/Falke-Ischinger 2010). Auch darüber hinaus sind Reproduktionsmediziner in diesem Zeitabschnitt des medialen Diskurses deutlich sichtbar, so findet sich im Spiegel unter den sechs Artikeln sowohl ein Interview mit dem Reproduktionsmediziner und Leiter des Fertility Centers Münster Ullrich Hilland als auch ein längerer Essay des emeritierten Professors und ehemaligen Leiters des Instituts für Humangenetik an der Universität Lübeck Eberhard Schwinger (vgl. Spiegel/Ludwig 2010; Spiegel/Schwinger 2010). Die starke Präsenz von Reproduktionsmedizinern, die das Urteil uneingeschränkt begrüßen und zugleich als Experten in diesem Diskurs gelten, verweist zugleich auf die positive Berichterstattung in den Medien. In der Mehrzahl der Artikel wird das Gerichtsurteil positiv besprochen und als notwendige Neuerung beschrieben. Hier reicht die Beurteilung von pathetisch daherkommenden Formulierungen wie »Alle Vernunft sprach für die Methode, das Gesetz jedoch dagegen« (Spiegel/Schwinger 2010) oder das »Embryonenschutzgesetz […] stammt von 1990, quasi aus dem Mittelalter der Reproduktionsmedizin« (ZEIT/Spiewak 2010) bis zu dem weniger aufgeladenen Verweis, dass das Urteil die Notwendigkeit eines Fortpflanzungsmedizingesetzes deutlich mache, um die
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neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin mit aufzunehmen und mit dem Gendiagnostikgesetz in Einklang zu bringen. Bei der Vorstellung der gerichtlichen Entscheidung zeichnet sich jedoch auch Kritik an dieser ab: Ein zentrales Argument ist, dass die Erlaubnis der PID nicht durch ein demokratisches Verfahren – also die politische Debatte und Abstimmung im Bundestag – zustande kam, sondern durch eine Entscheidung des Gerichts und somit der BGH neue Tatbestände geschaffen wurden. Dieses Argument wird vor allem in der FAZ/FAS diskutiert, wo der Journalist Daniel Deckers das Urteil als Richterrecht und sogar als »Fall von krasser Rechtsbeugung« (FAS/Deckers 2010c) beschreibt, da der Ethikrat bei seiner Positionsfindung im Jahr 2001 eindeutig davon ausgegangen war, dass die PID nicht vereinbar mit dem ESchG sei (vgl. auch FAZ/Deckers 2010b). Aber auch in der ZEIT finden sich kritische Stimmen, die bedauern, dass die PID nicht aufgrund politischer Entscheidungen legalisiert wurde (vgl. ZEIT/Klopp 2010). Nichtsdestoweniger wird in allen vier Zeitungen/Magazinen die Entscheidung zur PID mehrheitlich begrüßt, auch wenn sich eine Differenz zwischen den Publikationen erkennen lässt: Während sich in der FAZ/FAS die meisten kritischen Stimmen finden, berichtet der Spiegel uneingeschränkt positiv über das Urteil. Ein zentraler Tenor der positiven Reaktionen auf das Urteil ist der Verweis auf das Ende des politischen Stillstands im Umgang mit der PID. Diese Darstellungsweise kann durchaus überraschen: Wie die Diskursanalyse der ZEIT gezeigt hat, ist die PID medial und politisch breit diskutiert worden. Die Differenz liegt vielmehr im Ergebnis, da sich zu Beginn der 2000er Jahre in der politischen Diskussion keine Mehrheit für die Zulassung der PID gefunden hatte. Der BGH hat also nicht für eine Entscheidung gesorgt, sondern im Gegenteil eine politisch gefällte Entscheidung revidiert. Den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt bildet die Vorstellung und Beschreibung der Diagnostik. In den Artikeln findet sich zumeist eine kurze Einordnung der PID als reproduktionsmedizinisches Verfahren im Rahmen einer IVF, das das Testen der befruchteten Eizellen auf genetische Erkrankungen und chromosomale Abweichungen hin erlaubt, bevor sie in den Uterus der Frau übertragen werden. Als erweiterte Anwendungsfelder werden die Selektion nach Geschlecht und die sogenannten Retterkinder angegeben. Auch die Finanzierung des Verfahrens (bspw. SZ/Klopp 2010) oder die rechtliche Regelung in anderen Ländern werden vorgestellt. Die ZEIT nutzt dabei Infoboxen als grafisches Element, um die zentralen Punkte der PID gebündelt darzustellen (vgl. ZEIT/Spiewak 2010). Insgesamt lässt sich dieser Strang als kurze deskriptive Beschreibung der Diagnostik charakterisieren, die zumeist über eine kurze Skizze nicht hinausreicht. Auffällig bei der Vorstellung der Diagnostik ist jedoch, dass die gesundheitli-
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chen Belastungen und Gefahren für die Frauen, die mit der gesteigerten Hormongabe einer IVF einhergehen, nicht oder nur am Rande erwähnt werden. Als Risiken werden stattdessen die erweiterten Anwendungsfelder vorgestellt. Dies führt zum dritten und verbindenden Schwerpunkt der ethischen Urteile zur PID, die sich sowohl bei der Bewertung des Gerichtsurteils als auch der Einschätzung der Chancen und Risiken der PID wiederfinden lassen. Diese changieren in den Artikeln zwischen der Begrüßung des Urteils, durch das die PID nun endlich auch in Deutschland erlaubt sei und Eltern mit genetischen Belastungen die Hoffnung auf ein (gesundes) Kind erlaube, und der Ablehnung des Rechtsspruchs, die mit der Sorge zukünftiger Diskriminierung von Behinderten und Druck auf Eltern nach einem gesunden Kind einhergeht. In der Diskussion sind die beiden Metaphern des Designer-Babys und des Dammbruchs von zentraler Bedeutung. Sie verweisen auf die Kritik an der PID als Instrumentalisierung des Menschen und die Sorge, die Anwendung der Diagnostik nicht auf schwere Krankheitsfälle begrenzen zu können. Als Beispiel für die zu erwartende Ausweitung der PID wird die Pränataldiagnostik (in dem Kontext ist zumeist nur die Fruchtwasseruntersuchung und nicht auch Ultraschalluntersuchungen etc. gemeint) angegeben, die bei ihrer Entwicklung ebenfalls nur für eine kleine Anzahl von Risikofällen gedacht war (vgl. FAS/Deckers 2010c). Beide Metaphern sind in dem Diskurs bereits so etabliert, dass sie die Funktion eines Platzhalters einnehmen und ihre Bedeutung nicht weiter ausgeführt werden muss. Dies wird gerade von Befürwortern argumentativ genutzt, die nur das Zitat der Metapher des Dammbruchs und des Designer-Babys benötigen, um ihre Gegenargumente vorstellen und davon abgrenzen zu können. Sie verweisen zum einen auf die engen Grenzen, da die Anwendung nur für Paare mit schwerwiegenden genetischen Erkrankungen geöffnet worden sei und sowohl Retterkinder als auch eine Geschlechterauswahl explizit durch das Gericht ausgeschlossen worden seien (vgl. bspw. FAZ/Falke-Ischinger 2010; FAZ/Kastilan 2010; Spiegel/Schwinger 2010), zum anderen betonen sie, dass es medizinisch gar nicht möglich sei, sich Wunschkinder nach Eigenschaften wie der Haarfarbe oder Intelligenz auszuwählen und damit die Idee des Designer-Babys in den Bereich der Science Fiction gehöre (vgl. bspw. SZ/Blawat 2010). An dieser Stelle möchte ich nochmal auf die Repräsentation der Reproduktionsmedizin zurückkommen: Da ReproduktionsmedizinerInnen in dem Diskurs die ExpertInnen für die konkrete Anwendung und das medizinische Verständnis der Diagnostik sind, wird dieses Argument umso gewichtiger. Es legt nahe, dass die Befürchtungen und Sorgen der KritikerInnen nicht einer realistischen Einschätzung der Technologie geschuldet sind, sondern vielmehr einer fehlenden Kenntnis um die realen Möglichkeiten der PID.
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Zusammenfassend stellt dieser Zeitabschnitt der Diskursanalyse das reproduktionsmedizinische Verfahren sowie die gerichtliche Verhandlung und Urteilsfindung zur PID vor. In den Artikeln wird das Urteil des BGH mehrheitlich begrüßt und die PID als eine Hilfe für Paare mit Kinderwunsch und genetischen Vorbelastungen charakterisiert. Für die Analyse der Argumentation von Frauen und Paaren im Diskurs zeichnet sich bereits in diesem Umriss der Diskussion deutlich ab, dass die Verhinderung individuellen Leids und der Anspruch auf Autonomie der Entscheidung der Paare zwei zentrale Argumente für die Zulassung der PID bilden. Des Weiteren findet sich im Gerichtsurteil und in vielen Artikeln eine Gleichsetzung von Spätabtreibung und PID, bei der die PID als für die Frau schonendere Alternative zu einer Spätabtreibung beschrieben wird (vgl. bspw. ZEIT/Klopp 2010). 7.1.2 Die Bundestagsabstimmung – Der dritte Zeitraum Im dritten Zeitraum der Diskursanalyse liegt der Schwerpunkt der Artikel auf der Diskussion und Abstimmung über eine neue rechtliche Regelung der PID im Bundestag am 7.7.2011. Der Erfassungszeitraum beginnt eine Woche vor der Debatte im Bundestag und endet zwei Wochen danach, er schließt somit alle Artikel ein, die im Zeitraum vom 27.6.2011 bis zum 24.7.2011 erschienen sind. Neben der Bundestagsdebatte bilden Positionen und Stellungnahmen von karitativen und kirchlichen Verbänden sowie wissenschaftlichen Einrichtungen und Selbsthilfegruppen einen weiteren inhaltlichen Fokus, ebenso wie die Vorstellung der PID als diagnostisches Verfahren der Reproduktionsmedizin. Den ersten und zentralen inhaltlichen Schwerpunkt dieses Zeitraumes bildet die Bundestagsdebatte. Hierbei lassen sich zwei Aspekte herausfiltern: Erstens werden die Eckpunkte der Anträge skizziert, die fraktionsübergreifend verfasst und eingebracht wurden. Die Anträge zur (eingeschränkten) Freigabe der PID von Ulrike Flach (FDP) und Peter Hintze (CDU) sowie der Antrag zum Verbot der PID von Birgitt Bender (Bündnis 90/Die Grünen) und Johannes Singhammer (CDU) werden in der Debatte als die zentralen Positionen und Konterparts vorgestellt. Flach und Hintze sehen in ihrem gemeinsamen Antrag vor, dass die PID in lizenzierten Zentren vorgenommen wird und die Anwendung auf schwere genetische Erkrankungen begrenzt wird. Bender und Singhammer fordern in ihrem Antrag dagegen ein klares Verbot der PID. Der dritte Antrag, der von den Parlamentariern Norbert Lammert (CDU), René Röspel (SPD) und Priska Hinz (Grüne) eingebracht wurde und keine Freigabe, wohl aber eine Straffreiheit bei zu erwartenden Fehl- oder Totgeburten vorsieht, hat in der medialen Darstellung
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den Charakter einer Kompromisslösung, die gleichwohl keine Aussicht auf eine Mehrheit hat(te) (vgl. ZEIT/o.A. 2011a,b,c; SZ/o.A. 2011a). Diese Einschätzung fußt auch auf der geringen Anzahl der Parlamentarier, die sich bereits im Vorfeld diesem Antrag angeschlossen haben. 76 In den Artikeln findet sich häufig eine Infobox, die die jeweiligen Charakteristika der Anträge kurz aufführt. Zweitens wird die Debatte selbst beschrieben und dabei als ein »Glanzlicht des Parlamentbetriebs« (SZ/Bartens 2011) charakterisiert. Es wird besonders die Qualität der Diskussion hervorgehoben, die sich nicht nur durch die Aufhebung des Fraktionszwanges ausgezeichnet habe, sondern dadurch, dass die persönlichen Gründe für die Entscheidung ebenso wie Unsicherheiten und Zweifel transparent gemacht wurden (vgl. SZ/o.A. 2011a,b). Zur Illustration der drei Anträge und des gewissenhaften Abwägens der Positionen werden einzelne Bundestagsmitglieder vorgestellt und ihr Bemühen um eine Positionsfindung beschrieben (vgl. bspw. FAZ/Hefty 2011b). Dabei dient ein Positionswechsel von der Bundestagsdebatte 2002 zu 2011, den bspw. die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt vollzogen hat, nicht als Beleg von Wankelmut, sondern soll vielmehr verdeutlichen, wie ernsthaft diese Debatte geführt und Argumente abgewogen werden (vgl. Spiegel/Christmann/Schwägerl 2011). Es wird durchgehend gelobt, dass die Bundestagsabgeordneten sich bei einem Thema, das durch konträre und ethisch oft unvereinbare Positionen bestimmt wird, um eine offene Diskussion bemühen und nicht in Lagerkämpfe verfallen. So bescheinigt Steven Stockrahm in der ZEIT der Debatte eine hohe Qualität, obwohl der »Gencheck an Embryonen die Grundwerte unserer Gesellschaft betrifft« (ZEIT/Stockrahm 2011). Den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt dieses Zeitraumes bilden die Einschätzungen und Positionen zur PID sowie Reaktionen auf die Bundestagsdebatte von Behindertenverbänden, Selbsthilfegruppen und Kirchen (vgl. bspw. ZEIT/o.A. 2011a,b,c). Auch hier finden sich heterogene Bewertungen wieder: Während sich die Kirchen und die Behindertenverbände für ein klares Verbot aussprechen und vor einer Öffnung der PID warnen, begrüßt pro familia die Entscheidung im Sinne der reproduktiven Freiheit der Eltern (ZEIT/o.A. 2011a,b,c). Neben Ver-
76 Die Abgeordneten konnten sich im Vorfeld der Abstimmung einem Antrag mit Unterschrift anschließen. Zählt man diese, so führt der Antrag der Delegierten Flach/Hintze mit 215 Unterschriften knapp vor dem Antrag von Bender/Singhammer mit 192 Unterschriften. Dem dritten Antrag von der Lammert/Röspel/Hinz-Gruppe haben sich dagegen kurz vor Abstimmung nur 36 Parlamentarier durch Unterschrift angeschlossen.
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tretern von Interessengruppen finden sich wissenschaftliche Fürsprecher der PID im Diskurs wider. So stellt ein Artikel in der SZ ausführlich die Position des Philosophen Dieter Birnbacher und die Empfehlungen der Akademie der Wissenschaften Leopoldina zur PID vor, die für eine eingeschränkte Einführung der PID votieren (vgl. SZ/Schulte von Drach 2011b). Im Vergleich zum Diskurszeitraum um das Urteil fällt jedoch auf, dass ReproduktionsmedizinerInnen kaum direkt zu Wort kommen. Nur in einem Artikel in der ZEIT, der sich explizit mit Reproduktionstourismus beschäftigt, wird eine Stellungnahme der European Society of Human Reproduction and Embryology (ESHRE) vorgestellt, die darauf verweist, dass viele deutsche Paare sich bislang aufgrund der unklaren rechtlichen Regelung zur PID oder dem Verbot der Eizellspende im Ausland behandeln lassen. Dort wird auch eingefordert, nicht mehr von Reproduktionstourismus, sondern grenzüberschreitender reproduktiver Betreuung zu sprechen, da es den Paaren nicht um Urlaub, sondern um ein Kind gehe (ZEIT/Müller-Lissner 2011). In der Talkshow »Hart aber fair«, die einige Tage vor der Bundestagsabstimmung ausgestrahlt wird, tritt dagegen Mathias Bloechle selbst als Talkshowgast auf. Der Reproduktionsmediziner, der durch seine Selbstanzeige die erneute Klärung der Rechtslage zur PID erst angestoßen hat, diskutiert mit GegnerInnen und Befürwortern der PID und nennt seine Gründe für die Selbstanzeige. Zugleich erhält seine ehemalige Patientin Sonja Werner, die sich für die PID entschieden hat und deren persönliches Schicksal Bloechle zu dem Schritt der illegalen Anwendung mit bewegt hat, hier die Möglichkeit, ihre Entscheidung und Positionierung zur PID vorzustellen (vgl. Hart aber fair 2011). Als dritter inhaltlicher Schwerpunkt findet sich auch in diesem Diskurszeitraum eine kurze Vorstellung und Beschreibung der PID als reproduktionsmedizinisches diagnostisches Verfahren. Diese fällt jedoch zumeist sehr knapp aus und wird in zwei bis drei Sätzen kurz umrissen oder wird im Artikelverlauf in der Argumentation mit eingeflochten (vgl. Spiegel/chs/ddp/dpa 2010; SZ/Schulte von Drach 2011a; FAZ/Mihm 2011c). So bleiben die Artikel auch ohne Vorkenntnisse verständlich, eine detaillierte Darstellung der Möglichkeiten der PID fehlt aber zumeist ebenso wie die Anführung der Risiken. Das grafische Modell des Schaukastens findet sich in diesem Zeitabschnitt ebenfalls nicht für die Darstellung der Diagnostik, sondern wird in der ZEIT für die Vorstellung der Gesetzesentwürfe zur PID genutzt (vgl. ZEIT/o.A. 2011a,b). Die größten Konfliktpunkte in diesem Zeitraum finden sich in den beiden ersten inhaltlichen Schwerpunkten wieder. Diese sind zum einen die Abwägung, ob eine Zulassung der PID zu einer Diskriminierung von Behinderten führe und eine
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Selektion von Embryonen nach Merkmalen ethisch vertretbar sei – eine Argumentation, die sich bereits im ersten Diskursabschnitt finden ließ. Zum anderen findet sich auch hier wieder zentral die Frage, ob es möglich ist, die PID dauerhaft zu begrenzen oder ob nicht vielmehr zu erwarten sei, dass sich die PID zu einer Standardanwendung im Rahmen von IVF entwickelt. Hier werden die schon bekannten Gegenargumente gegen die Vorstellung eines Dammbruchs angeführt. Interessanterweise findet sich jedoch in einigen Artikeln gar keine Abwehr des slippery slope-Arguments. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass selbst bei einer Ausweitung der PID diese eben nur im Rahmen einer IVF angewendet werden könnte und dadurch die Zahl der Anwenderinnen dauerhaft begrenzt bleiben würde, da die Belastungen und Kosten einer künstlichen Befruchtung nicht ohne Grund eingegangen würden, wenn Paare auch auf natürlichem Wege Kinder zeugen können (vgl. ZEIT/Spiewak 2011). Abschließend zeigt sich in diesem Diskursabschnitt eine deutliche Ausrichtung auf die Bundestagsdebatte. Sowohl in der Beschreibung der Debatte und der Anträge als auch in den Reaktionen von Verbänden und Interessengruppen bilden sich zugleich die zentralen ethischen Positionen ab und zeigen auch hier den Konflikt zwischen autonomer Entscheidung vs. Embryonenschutz und Diskriminierungsverbot an. Das Leid der zukünftigen Eltern bildet in der Darstellung der Positionen der Befürworter weiterhin einen zentralen Angelpunkt der Diskussion, wird hier allerdings nicht aus der Perspektive von ReproduktionsmedizinerInnen angeführt, sondern findet sich vor allem in der Beschreibung der politischen Debatte im Bundestag als das Kernargument der BefürworterInnen. Für die Feinanalyse bleibt ebenso die Aufgabe, die Gleichsetzung der Spätabtreibung mit der Durchführung der PID zu untersuchen, die sich auch hier wieder findet. 7.1.3 Zusammenfassung der Strukturanalyse Der mediale Diskurs um die Präimplantationsdiagnostik ist in den letzten beiden Erfassungszeiträumen stark durch die aktuellen Ereignisse – die Urteilsfindung des BGH und die Abstimmung des Bundestages – geprägt, was sicherlich aus der zeitlichen Eingrenzung folgt. Im Vergleich zur Diskursanalyse der ZEIT fällt auf, dass in der medialen Berichterstattung weniger und zum Teil neue Diskursstränge auszumachen sind. Insgesamt bilden sich vier Diskursstränge ab: 1) die ethische Diskussion (Status des Embryos vs. Autonomie der Eltern), 2) Politik und Legislative, 3) Judikative und 4) das medizinische Verfahren der PID und seine Anwendung. Die ExpertInnenberatung, die in der Analyse der ZEIT zu Beginn des Jahrtausends noch einen eigenen Diskursstrang ausgemacht hatte,
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findet sich in der erneuten Diskussion lediglich in vereinzelten Verweise auf frühere Empfehlungen wieder, aber dafür lässt sich die Rechtsprechung als ein neuer Strang beschreiben. Abweichend zu den Jahren 2000-2004 tritt die Judikative mit dem Urteil zur PID selbst als ein aktiver Akteur im Diskurs auf und verändert mit dem Urteil die Ausgangssituation grundlegend. Auch der Strang der ethischen Auseinandersetzung gestaltet sich in dieser Diskursanalyse anders und inkludiert neben Fragen zum Status des Embryos auch die Perspektiven der Anwenderinnen, die in der Diskursanalyse der ZEIT noch einen eigenen Strang ergeben haben. Im aktuellen Diskurs werden die Perspektiven der Anwenderinnen und ethische Fragen zum Status des Embryos nicht getrennt, sondern vermischen sich und werden explizit aufeinander bezogen. Zwar wird weiterhin mit dem Leid zukünftiger Eltern argumentiert und dieses anhand persönlicher Schicksale illustriert, aber diese Beschreibungen werden vielmehr in die Argumentation für die PID eingewoben und repräsentieren den Anspruch auf Autonomie der Entscheidung und das Gebot, künftiges Leid zu verhindern. Ich werde in der anschließenden Feinanalyse dieser Verschiebung weiter nachgehen und untersuchen, ob und wenn ja, wie sich damit auch die Argumentationsfiguren zu Frauen und Paaren geändert haben. Eine erste Differenz wird jedoch schon bei der Strukturanalyse deutlich: Mit dem Gerichtsurteil zur PID als Hintergrund zielt die Beschreibung des Leids nicht mehr darauf, eine Legalisierung der PID zu begründen. Vielmehr wird ausgehandelt, ob man das Recht hat, Paaren die Entscheidung für eine medizinische Diagnostik vorzuenthalten, die dazu helfen kann, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Ganz zentral wird hierbei auch der Vergleich zur Spätabtreibung gezogen. Das ethische Konfliktfeld erstreckt sich zwischen den Polen der Autonomie der Eltern und der Verhinderung zukünftigen Leidens auf der einen Seite und dem Schutz des Embryos und vor einer Instrumentalisierung des Lebens auf der anderen Seite.
7.2 F EINANALYSE In der Feinanalyse verschiebt sich nun der Fokus von einem Überblick über die Gesamtheit der Artikel zu der Analyse einzelner Artikel. Ich habe für beide Untersuchungszeiträume jeweils zwei Artikel einer Zeitschrift ausgewählt und die Transkription der Talkshow hinzugenommen und mithilfe des Katalogs zur Feinanalyse untersucht. Auch in der Feinanalyse bilden sich die jeweiligen Stränge ab und werden die prägnanten und/oder konträren Positionen der unterschiedlichen Stränge wiedergegeben, das Hauptaugenmerk liegt aber darauf, in welchen Argumentationsfiguren Geschlecht und geschlechtsspezifische Kon-
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struktionen im Diskurs angeführt und argumentativ genutzt werden. Hier habe ich besonders darauf geachtet, ob sich die Argumentation verändert hat und sich neue argumentative Figurationen zeigen lassen. Im Folgenden werde ich die Artikel der Feinanalyse kurz skizzieren, um daran anschließend die zentralen Argumentationsfiguren vorzustellen und dabei Verschiebungen im Diskurs zu markieren. Auch hier werde ich zunächst chronologisch vorgehen, um dann die Ergebnisse der Feinanalyse und der Strukturanalyse zusammenzuführen und die zentralen Argumentationsfiguren nochmal kurz zu skizzieren. 7.2.1 Die Artikel des zweiten Zeitraumes: Das Urteil Der Artikel aus der ZEIT von Tina Klopp lässt sich den beiden Strängen der Politik und Legislativen sowie der Darstellung der ethischen Positionen zuordnen. Tina Klopp, die als freie Journalistin wiederholt in der ZEIT publiziert, kritisiert deutlich, dass die Freigabe der PID nicht politisch entschieden worden sei, sondern »formal-juristischen […] Rationalitäten« (ZEIT/Klopp 2010) folge. In ihrem Artikel »Moralische Fragen sollten politisch entschieden werden« plädiert sie daher für eine offene Diskussion. Ihre eigene Position zur PID markiert sie weniger eindeutig. Denn obwohl im Artikel die Hauptargumente gegen eine Zulassung der PID von Seiten der Kirche und der Behindertenverbände ausführlich dargestellt werden, legt ihr Einstieg nahe, dass Klopp zwar die Art der Entscheidungsfindung durch ein Gericht nicht begrüßt, grundsätzlich aber für die PID stimmt. So beginnt der Artikel damit, dass es Paaren mit erblicher Vorbelastung bislang nur möglich gewesen sei, »ein schwer krankes Kind durch eine Spätabtreibung töten zu lassen« (ebd.), was »ein grausamer Eingriff für die betroffenen Eltern« (ebd.) sei. Dieses Leid nun habe ein Berliner Frauenarzt drei Paaren erspart. In ihrer Argumentation werden die Gründe für eine PID-Zulassung darauf zentriert, dass der Wunsch der Eltern nach einem gesunden Kind legitim sei – hier wie beim Einstieg kontrastiert vor dem Leid der Eltern bei einem schwerkranken oder sterbenden Kind. Diesem individuellen Leid stellt sie die kritischen Reaktionen auf die PID entgegen und markiert die Sorge vor einem Dammbruch durch eine eingeschränkte Zulassung, der sich zum Zwang zum Designer-Kind entwickeln könne (vgl. ebd.). Dabei führt sie die Belastungen der Frauen an, die in einem solchen Szenario die körperlichen Risiken und Nebenwirkungen der künstlichen Befruchtung zu tragen hätten (vgl. ebd.), verwirft aber die Vorstellung des Designer-Babys zugleich als »Horrorszenario« (ebd.). Während Klopp jeweils auf die Wünsche und das Leiden der Paare bzw. prospektiven Eltern verweist, ändert sich dies bei der Beschreibung des Verhältnisses von Reproduktionsmedizin und Kinderwunschpatientinnen. Dort führt sie explizit die Frauen
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als aktiv nachfragende Patientinnen an: »Und dass die Ärzte sich für die Interessen der Frauen stark machen, hat auch etwas mit ihren handfesten Interessen zu tun. Fortpflanzungsmedizin ist ein sehr gutes Geschäft.« (ebd.). In dem Artikel von Klopp werden Frauen und Paare damit an verschiedenen Stellen in die Argumentation eingebunden. Zentral ist hier einerseits der Verweis auf das Leid der Eltern, andererseits die aktive Nachfrage nach der Technologie. In dem zweiten Artikel der Feinanalyse stellt der Reproduktionsmediziner Schwinger »Ende einer Farce« (Spiegel/Schwinger 2010) seine Position zum Urteil vor und beschreibt den bisherigen Umgang der Reproduktionsmedizin mit dem Verbot der PID in Deutschland. Schwinger, der selbst Reproduktionsmediziner war und bis 2006 das Institut für Humangenetik an der Universität Lübeck geleitet hat, fokussiert dabei zentral auf die Verhinderung der ärztlichen Hilfe für Paare mit genetischen Erkrankungen durch das ESchG und das daraus resultierende Leid der Paare. Bereits die ersten Sätze des Artikels stellen den LeserInnen die private Leidensgeschichte eines Paares vor, die ein Kind mit Mukoviszidose haben und diese Krankheit bei einem weiteren Kind ausschließen möchten. Da bei den zwei folgenden Schwangerschaften mittels der Pränataldiagnostik wieder die genetische Disposition für Mukoviszidose festgestellt wurde, entschieden sie sich zu Spätabtreibungen. Diese »Tortur« (ebd.), so die Kernaussage Schwingers, hätte er den Eltern ersparen können, wenn das Gesetz damals bereits die PID zugelassen hätte und damit ein gesunder Embryo ausgewählt worden wäre. Schwinger charakterisiert das ESchG als »grotesk« (ebd.), da Embryonen »mit Kopf, Händen, Herz, Leber und Gehirn« (ebd.) abgetrieben werden dürften, nicht aber ein »Zellhaufen in der Petrischale« (ebd.). Darüber hinaus stellt er die Schwierigkeiten der Reproduktionsmediziner dar, die die Technologie nicht anwenden durften und ihren Patientinnen nur mit Hinweisen zu Reproduktionskliniken im Ausland (vgl. ebd.) oder der eingeschränkteren Variante der Polkörperdiagnostik (vgl. ebd.) helfen konnten. Vor dem Hintergrund persönlicher Leidenswege und der Markierung der Differenz von reproduktionsmedizinischen Anwendungen im Ausland, wo die PID erlaubt ist, bewertet Schwinger das Urteil – recht pathetisch – als späten Sieg der Vernunft (vgl. ebd.). Die Bestrebungen, eine neue rechtliche Regelung zu finden, hält er dagegen für falsch, da das Gerichtsurteil Missbrauch (bspw. die Selektion nach Geschlecht oder Spenderkindern) deutlich ausschließe und jede weitere Eingrenzung unnötig sei. Ebenso sei die Angst vor dem Designer-Baby nichts als »ein Hirngespenst« (ebd.). Während Schwinger bis hierhin vor allem Punkte darstellt, die sich in ähnlicher Gewichtung auch in anderen positiven Berichten zum Urteil finden lassen, führt er jedoch noch zwei Aspekte an, die sich sonst nicht finden: Erstens zieht er neben dem ESchG und dem Urteil zur PID noch das Gendiagnostik-Gesetz hinzu und
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verweist darauf, dass laut diesem Gentests auf Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter ausbrechen, verboten seien (ebd.). Zweitens betont er, dass sich die PID gerade für die in der Debatte häufig angeführten Chromosomenstörungen wie die Trisomie 21 nicht eigne, da »es frühembryonale Reparaturmechanismen [gäbe], mit deren Hilfe der Embryo sich selbst überschüssiger Chromosomen zu entledigen« (ebd.) wisse. Gleichzeitig wird gerade das Down-Syndrom im Zeitungsdiskurs jedoch immer wieder als eine durch die PID zu verhindernde Krankheit angeführt. Abschließend zeichnet sich der Artikel durch eine sehr subjektiv gewählte Schreibweise aus. Mittels der persönlichen Leidensgeschichte von Paaren, kleineren Anekdoten von internationalen Kongressen der Reproduktionsmedizin (»Auf internationalen Kongressen waren wir, die Humangenetiker aus Deutschland, Exoten. Wir wurden angeguckt wie Verrückte.«, ebd.) und dem emphatischen Engagement, wenigstens die Polkörperdiagnostik im Institut für Humangenetik in Lübeck anzubieten (»Trotzdem haben wir sofort gesagt: Das machen wir.« (ebd.)), stellt sich Schwinger als für seine PatientInnen engagierter und profilierter Reproduktionsmediziner vor. Die Argumentation für die PID – unter den Beschränkungen des Gerichtsurteils – basiert zentral auf der Figur des Leidens der Paare, aber auch auf dem Verweis auf die Unstimmigkeit von Abtreibung einerseits und Embryonenschutz andererseits. In dem Interview »Die Schicksalhaftigkeit der Geburt wird überwunden« (FAZ/Falke-Ischinger 2010) kommt in der FAZ mit Mathias Bloechle ebenfalls ein Reproduktionsmediziner zu Wort, in diesem Fall der Arzt, der durch seine Selbstanzeige die Entscheidung zur neuen Gesetzeslage zur PID angestoßen hat. Auch Bloechle verweist auf die Wünsche und das Leid von Paaren, die einen unerfüllten Kinderwunsch haben und trotz »einer genetischen Risikokonstellation« (ebd.) Eltern werden möchten. Er führt in diesem Interview allerdings keine ausführlichen Beispiele an, sondern argumentiert allgemeiner für die PID. Eines seiner zentralen Argumente ist, dass es in der »persönlichen Freiheit des Paars« (ebd.) liege, zu entscheiden, für welche Krankheiten des Kindes es die Verantwortung übernehmen könne und wofür nicht. Ebenso wie bei der Überlegung zu einem Schwangerschaftsabbruch habe die Frau »das Recht zu entscheiden, ob sie mit einem kranken oder gesunden Embryo schwanger werden möchte« (ebd.). Diesen Verweis auf die Selbstbestimmung der prospektiven Eltern verknüpft er damit, dass wir heute Krankheit nicht mehr schicksalsergeben begegnen, sondern wie auch bspw. bei Krebs darum bemüht sind, diese zu verhindern und somit die »Schicksalhaftigkeit der Geburt eines todgeweihten Kindes« (ebd.) überwinden (können). Ähnlich wie Schwinger beurteilt er die Angst vor dem Designer-Baby lapidar als »Unsinn« (ebd.), da Augen- oder Haarfarbe sich nicht monogenetisch zusammensetzen und damit nicht diagnostizieren lassen würden. Ebenso sieht er
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die Gefahr eines Dammbruchs nicht gegeben, da das Urteil nur einen sehr kleinen Teil seiner PatientInnen (nämlich 3-5%) beträfe (vgl. ebd.). Bloechle betont außerdem, dass die Alternative zu einer Freigabe der PID der Reproduktionstourismus ins Ausland sei, der wiederum nur denen offen stehe, die ihn sich leisten können, was zu einer Splittung der KinderwunschpatientInnen führe (vgl. ebd.). Auffällig an dem Artikel sind vor allem sprachliche Setzungen Bloechles, der wiederholt von einer »nicht lebensfähigen Schwangerschaft« (ebd.), »genetisch nicht lebensfähig[en]« Kindern (ebd.) bzw. eines »todgeweihten Kindes« (ebd.) spricht und somit den Eindruck erweckt, dass mittels der PID nur die Embryonen selektiert werden, die keine Perspektive auf ein Leben nach der Geburt haben. Da bei den drei PID-Fällen jedoch auch eine Selektion für das Down-Syndrom vorgenommen wurde, stellt sich hier die Frage, wie sich der Begriff lebensfähig bei Bloechle bestimmt. Wieder etwas anders ist die Gewichtung des Artikels »Das Risiko, falsch zu liegen« in der SZ von Katrin Blawat, der dem Strang des medizinischen Verfahrens zugeordnet ist. Sie diskutiert, ob sich mit einem positiven Ergebnis bei der PID bereits Prognosen für das Auftreten und den Verlauf einer genetischen Disposition ableiten lassen. Auch sie führt in ihrem Artikel mit Ute Hehr eine Vertreterin der Reproduktionsmedizin an, die die humangenetische Praxis der Universitätsklinik Regensburg, eines der wenigen deutschen Zentren für Polkörperdiagnostik, leitet und Mitglied in der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik ist (vgl. SZ/Blawat 2010). Blawat stellt die PID ausführlicher vor; sie beschreibt nicht nur die Reihenfolge in der Vorgehensweise einer Diagnostik, sondern erläutert auch, dass in der genetischen Untersuchung gezielt einzelne Genabschnitte auf Abweichungen hin untersucht werden und nicht das ganze Genom getestet wird. Dabei markiert sie zentral die Grenzen der Diagnostik. Zwar ermögliche die PID festzustellen, ob der Embryo Träger einer Krankheit sei, aber: »Ein defektes Gen bedeutet nicht zwangsläufig, dass das Kind später massiv unter der Krankheit leiden wird« (ebd.). Die Krankheit könne unterschiedlich stark ausgeprägt sein, dies hänge auch vom »Zusammenspiel mehrerer Gene ab« (ebd.) ab, das sich mittels der PID gar nicht feststellen lasse. Und auch in Bezug auf das Risiko, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen, betont Blawat, dass dieses Syndrom nicht erblich bedingt und damit das Risiko für ein weiteres Kind mit dieser Erkrankung nicht erhöht sei (vgl. ebd.). Während in anderen Artikeln die diagnostischen Grenzen der PID nur in Hinblick auf die Auswahl von Merkmalen wie der Augenfarbe (vgl. ebd.) gezogen werden, zieht sie diese auch und vor allem in Bezug auf monogenetische Erkrankungen. Gleichzeitig stellt sie mit Ute Hehr eine Reproduktionsmedizinerin vor, die die Legalisierung der PID begrüßt und davon berichtet, dass »viele Paare« (ebd.) mit
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Kinderwunsch diese nun nachfragen. Hehr betont, dass die PID schon wegen der hohen Kosten einer Analyse nicht zur Standardanwendung werden wird. Sie sei für Kliniken und Labore nicht lukrativ, da sie »sehr personalaufwendig [ist], vor allem wegen der langen Beratungsgespräche mit den Paaren« (ebd.). Die Darstellung der PID ist durch die Lösung des Testergebnisses vom notwendigen und schweren Ausbruch der diagnostizierten Erkrankungen deutlich ambivalenter als in den vorher besprochenen Texten. Ebenso fehlt in diesem Artikel interessanterweise die Analogie von Schwangerschaftsabbruch und PID, was ich damit erklären würde, dass Frauen und Paare nicht in die argumentativen Begründungen eingebunden sind. Blawat verweist zwar zu Beginn des Artikels darauf, dass die PID von Paaren mit erblichen Krankheiten nachgefragt wird und Eltern helfen soll, die sich gesunde Kinder wünschen (vgl. bspw. ebd.), ihr Fokus liegt jedoch nicht darauf, die Rechtmäßigkeit der PID zu erörtern, sondern vielmehr zu fragen, inwieweit die PID dem Anspruch einer Diagnose einer später auftretenden Krankheit gerecht wird. 7.2.2 Die Artikel des dritten Zeitraumes: Die Entscheidung im Bundestag 2011 In einem sehr ausführlichen Artikel in der ZEIT stellt Martin Spiewak kurz vor der Bundestagsentscheidung grundsätzliche Fragen und Entwicklungsperspektiven zur PID vor (ZEIT/Spiewak 2011). Der Artikel greift alle Stränge auf, kann aber am deutlichsten in der ethischen Diskussion und den medizinischen Verfahren verortet werden. Spiewak beschäftigt sich mit den Argumenten der KritikerInnen und BefürworterInnen und lotet dabei die Differenzen im Verständnis vom Beginn des Lebens (ebd.), des Verhältnisses von PID zur Abtreibung (ebd.) sowie der Vereinbarkeit der PID mit dem ESchG (ebd.) aus. Er gibt dabei beiden Positionen Raum, verortet sich aber zugleich selbst auf der Seite der Befürworter. Für die Darstellung von Frauen und Paaren ist besonders die Bestimmung des Verhältnisses von Abtreibung und PID interessant: Spiewak vermeidet es in seinen Ausführungen, die Spätabtreibung als eine embryopathische Indikation darzustellen, sondern macht deutlich, dass Abtreibung bis zur 12. Woche straffrei, danach zum Schutz der Mutter möglich sei (vgl. ebd). Die Konfliktfigur aus der Abtreibungsdebatte spaltet sich auf beide Lager auf: Während Spiewak das Recht auf Selbstbestimmung als ein Argument der Befürworter anführt (vgl. ebd.), wird die Konfliktsituation des geteilten Körpers von ihm als ein Argument der KritikerInnen angeführt, die betonen, dass dieser Konflikt »technisch erst hergestellt« (ebd.) werde. Spiewak selbst weist darauf hin, dass der Embryo im Labor – im Gegensatz zum Mutterleib – nach der alten Regelung einen »absolu-
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ten Schutz« (ebd.) besitze und führt an späterer Stelle an, dass manche Paare auch nach einer PID noch eine Pränataldiagnostik wählen werden, »um sicherzugehen […] – und ihr Kind abtreiben, wenn es etwa ein Down-Syndrom hat« (ebd.). Hier erscheint die Spätabtreibung damit wieder als eine embryopathische. Auch beim Ausblick der weiteren Entwicklung und Anwendung der PID geht er davon aus, dass sich strenge Indikationen zukünftig lockern werden, hält dies aber aufgrund der wenigen Anwendungen insgesamt, die zudem eine niedrige Erfolgsquote haben, für unproblematisch. Nichtsdestoweniger gibt er seinen LeserInnen einen Hinweis darauf, dass die PID auch zur Steigerung der Quoten für eine IVF eingesetzt werden kann und, sollte sich das Verfahren weiter verbessern, damit zu einer Standardanwendung im Rahmen der IVF werden könnte (vgl. ebd.). Einen weiten Schwerpunkt bildet seine Diskussion, ob die PID zu einer Diskriminierung Behinderter führe. Hier schließt sich Spiewak der Position an, dass die vorgeburtliche Selektion den Umgang mit Behinderung und behinderten Menschen im Alltag nicht beeinflusse, da die Geburt als »ein moralischer Wendepunkt« (ebd.) gelte. Der Artikel reißt damit alle zentralen Aspekte der Debatte an und gibt zugleich einen Ausblick auf mögliche Entwicklungen. Spiewak nimmt zweimal sehr deutlich die Position ein, »Tacheles« zu reden und Scheinargumente der Debatte zu entkräften: einmal, wenn er die Hoffnung negiert, dass durch PID die Zahl der Abtreibungen und pränatalen Diagnostik reduziert würde (vgl. ebd.); einmal, wenn er darauf verweist, dass die strengen Indikationen keinen dauerhaften Bestand haben werden (s.o.). Frauen und Paare werden nicht über schicksalhafte Erzählungen eingeführt, sondern bereits als AnwenderInnen im Rahmen von Reproduktionstourismus oder durch Entscheidungen zur Spätabtreibung vorgestellt (vgl. ebd.). Auch der Artikel »Der Biss des Gewissens« (2011) von Karin Christmann und Christian Schwägerl erscheint im Spiegel vor der Bundestagsdebatte, ist aber von der bevorstehenden Abstimmung deutlich geprägt. Die Autorinnen porträtieren die Entscheidungsverläufe von drei PolitikerInnen, die auch die unterschiedlichen Gesetzesentwürfe repräsentieren, und loben deren Auseinandersetzung mit der PID, die sich durch Zeit zum Nachdenken, Zweifeln und auch Revidieren der eigenen Position auszeichne (vgl. Spiegel/Christmann/Schwägerl 2011). In dem Artikel enthalten sie sich weitestgehend einer eigenen Positionierung, sondern stellen die Positionen von Krista Sager (Die Grünen), Ulla Schmidt (SPD) und Siegfried Kauder 77 (CDU) vor. Krista Sager beschreibt die Gründe ihres Positionswechsels von der früheren Ablehnung der PID, aus Angst, diese sei nicht einzugrenzen und führe »Deutschland auf die schiefe Ebene«
77 Bruder von Volker Kauder, der eine zentrale Figur der PID-Gegner ist.
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(ebd.), zur Befürworterin. Für ihren Positionswechsel ist die Auseinandersetzung mit individuellen Leidensgeschichten zentral gewesen. So habe sie der »Kummer der betroffenen Paare« (ebd.), über den sie sich in Internetforen informiert und dort Schicksale von Fehlgeburten, Behinderungen und verstorbenen Kindern kennengelernt hat, tief erschüttert (vgl. ebd.). Sie stellt als Folge dieser Beschäftigung das individuelle Leid über das Einhalten von Prinzipien – und wechselt damit ihre vorherige Positionierung komplett (vgl. ebd.). Während bei Krista Sager gerade die individuellen Beispiele den Ausschlag der Entscheidung geben, führen Ulla Schmidt, aber zum Teil auch Siegfried Kauder, gerade jene prinzipiellen Überlegungen zum Wert des Lebens und dem Signal an Behinderte in der Gesellschaft an, die sie zur Ablehnung bewegen würden (vgl. ebd.). Schmidt glaubt nicht daran, dass die Einschränkungen der PID dauerhaft Bestand haben werden und alle Ärzte verantwortungsvoll mit der PID umgehen; vielmehr werde gemacht, was machbar sei (vgl. ebd.). Diese Prognose wiegt bei ihr schwerer als die Hoffnung, »wenigen Paaren in schwerer Not« (ebd.) zu helfen. Und damit endet zugleich bei ihr der Bezug auf die Perspektive von Frauen und Paaren. Kauder wiederum befindet sich in einer Mittelposition. Als konservativer und christlicher CDU-Abgeordneter führt er das Instrumentalisierungsverbot (»dem Herrgott nicht ins Handwerk pfuschen«, ebd.) an, verweist aber zugleich auf die rechtliche Ungleichbehandlung der PID und Spätabtreibung, da bei der PID der Embryo viel weniger weit entwickelt sei (vgl. ebd.). Auch für ihn bildet das Leid bzw. der individuelle Kinderwunsch von Paaren einen Grund für die PID, dieser wird aber anders abgewogen als bei Krista Sager und mit anderen Möglichkeiten wie der Adoption kontrastiert. Dass die individuellen Schicksale – hier vermittelt über Foren im Internet – so prägend für die eigene Entscheidung sind, überrascht nicht. Der Artikel zeichnet vielmehr eine Differenz der beiden Positionen von BefürworterInnen und KritikerInnen der PID nach. Deutlich einseitiger als in den beiden vorherigen Artikeln positioniert sich Jürgen Kaube mit »Wider den PID-Alarmismus« (2011) in der FAZ für eine Zulassung der PID. Wie schon der Titel deutlich macht, haben die Gegenargumente für ihn keine überzeugende Aussagekraft, denn er erkennt nur einen Grund als legitim an, die Bestimmung der befruchteten Eizelle als Mensch (vgl. FAZ/Kaube 2011). Weitere Argumente der Kritikerseite verwirft er polemisch, seien es die Sorgen um einen wachsenden Druck auf Eltern, gesunde Kinder zu bekommen, oder Angst vor einem Dammbruch durch die Einführung der PID. Überlegungen zu Zukunftsperspektiven werden von ihm als »Unkenrufe« (ebd.) sowie »Orakel und Unterstellungen« (ebd.) tituliert. Kaube, der bei der FAZ der Ressortleiter der Geisteswissenschaften ist, verortet die Positionen der KritikerInnen im wissenschaftlichen Feld der Technologiekritik und kritischen Gesell-
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schaftswissenschaften (»Klagen über die Ökonomisierung alles Sozialen«, ebd.). Gegen die Vorstellung eines Dammbruchs, die Kaube als empirisch nicht haltbar und »zeitgenössisches Daherreden« (ebd.) beschreibt, setzt er explizit die Figur des mündigen Bürgers: »Für wie unmündig hält man Paare? Und für wie gewissenlos die Bürger?« (ebd.). Seine Positionierung für die Zulassung der PID fußt so auch auf zwei zentralen Argumenten: Erstens sei die befruchtete Eizelle noch nicht ein Mensch, sondern trage nur das Potenzial dazu in sich, denn sonst müsse auch Abtreibung verboten werden und der Gebrauch der Spirale würde Frauen zu »Massentöterinnen« (ebd.) machen. 78 Zum zweiten gelte es, dem Leid der Eltern zu begegnen und ihnen die Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, auch zu gewähren. Auch hier polemisiert er: »Will man dem Paar mit einem prospektiv kurz nach der Geburt sterbenden Kind denn sagen: ›Ja, eure Qual können wir verstehen, aber leider kann der Staat den vernünftigen Gebrauch dieser Technik eventuell nicht garantieren, also ist er auch untersagt? Wir sind konservativ, mithin müsst ihr leiden?‹« (FAZ/Kaube 2011)
In seinem Artikel bedient Kaube damit beide Argumentationsfiguren. Er setzt PID ins Verhältnis mit Abtreibung und pränataler Diagnostik und nutzt diese als Verweis darauf, dass die Selektion bereits stattfinde und der Schutz des Embryos nicht absolut sei (»Für Frauen, die älter als Mitte dreißig sind, ist Schwangerschaft also schon heute das, was manche als Folge der PID bezeichnen, nämlich ›Schwangerschaft auf Probe‹«, ebd.). Auch die Selbstbestimmung der Paare und die Vermeidung von Leid bilden zentrale Anker der Argumentation. So erfahren die LeserInnen, dass »Familien grausam belaste[t]« (ebd.) sind und dem Wunsch zur PID eine »Reihe von Fehlgeburten oder legaler Abtreibungen vorherging oder ein Kind […] auf den qualvollen Tod sicher zuläuft« (ebd.). Im letzten Artikel »Der Bundestag hat entschieden – an der Gesellschaft vorbei« (SZ/Schulte von Drach 2011a) der Feinanalyse bewertet Markus C. Schulte
78 Der Verweis auf die Spirale soll hier deutlich machen, dass die befruchtete Eizelle nicht generell als Beginn des menschlichen Lebens und damit als schützenswert angesehen wird. Da die Spirale die Einnistung in der Gebärmutter verhindert, kann hierbei der Fall eintreten, dass eine befruchtete Eizelle sich nicht einnisten kann und sich so der »Embryo« nicht weiter entwickeln kann. Diese Position ist durchaus umstritten. Während die katholische Kirche deshalb zum Boykott von nidationshemmenden Verhütungsmethoden wie der Spirale aufruft und diese mit einer Abtreibung gleichstellt, wird diese Sichtweise weder von der Bundesärztekammer noch von Verbänden wie pro familia geteilt.
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von Drach die Bundestagsdebatte. Als Wissenschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung fällt sein Urteil zur Debatte, die sonst im Zeitungsdiskurs vorrangig gelobt wird, deutlich kritischer aus. Er zieht Parallelen zur Abtreibungsdebatte und bemängelt, dass die Abgeordneten in ihrer Argumentation hinter bereits gefasste Entscheidungen und Überzeugungen zurückgefallen seien. Dabei sei die Situation im Verhältnis zu Abtreibung sogar entschärft, befände sich der Embryo doch noch außerhalb des Uterus (vgl.ebd.). Da die befruchtete Eizelle respektive der Embryo kein Mensch sei, sondern ein »embryonaler Zellhaufen vor der Einnistung in die Gebärmutter« (ebd.), ginge es eben nicht um eine Unterscheidung in wertes bzw. unwertes Leben, sondern um eine Entscheidung vor der Einnistung. Und so stellt sich die Situation für ihn konfliktfrei dar: Die PID wird als eine »Abtreibung VOR einer Schwangerschaft« (ebd., Herv. i. O.) charakterisiert, über die die LeserInnen bereits erfahren haben, dass es der Frau freistehe, diese zu beenden. Der Verweis auf die Selbstbestimmung findet sich auch in seiner weiteren Argumentation. Schulte von Drach betont, dass die Entscheidung von Eltern darüber, ob sie ein behindertes Kind wollen, »deren ganz persönliche Angelegenheit sei« (ebd.) und nicht mit einem generellen Urteil über den Wert behinderten Lebens gleichgesetzt werden dürfe. So sei es »unverhältnismäßig, dass Paare aus Rücksicht auf Behinderte dazu gezwungen würden, auf Nachwuchs zu verzichten oder genetisch belastete Kinder zu bekommen« (ebd.). Hiermit dreht Schulte von Drach kurzerhand die Figur des Embryonenschutzes durch das ESchG um und betont stattdessen einen/den Zwangscharakter des Rechts – und fügt sich somit in eine liberale Kritik ein. Und eine weitere interessante Setzung findet sich: Der Autor verweist explizit darauf, dass es sich bei der PID um »künstlich« (ebd.) gezeugte Embryonen handelt und markiert damit die Differenz zu der Zeugung auf einem natürlichen Weg. Der Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und Paaren bildet in der Argumentation in diesem Artikel eine zentrale Figur und wird auch durch die Analogiesetzung zur Abtreibungsdebatte bekräftigt. Als Resümee zum Ergebnis der Bundestagsdebatte fasst Schulte von Drach daher zusammen, dass den Bedenken der Gegner zu weit entgegengekommen worden sei (vgl. ebd.) und es einer grundsätzlichen Freigabe der PID bedurft hätte – auch, um den betroffenen Paaren nicht das Gefühl zu vermitteln, »sich ethisch fragwürdig zu verhalten« (ebd.). Etwas quer zu der Analyse der Artikel steht die Feinanalyse der Talkshow (Hart aber fair 2011). Diese ist nicht nur deutlich umfassender, sondern bezieht ihre Dynamik gerade aus der Gegenüberstellung konträrer Positionen. Plasberg hat für die Themensendung »Hart aber fair: Vom Wunschkind zum Kind nach Wunsch« im Vorfeld der Bundestagsabstimmung sehr unterschiedliche Gäste zusammengebracht. Neben dem Reproduktionsmediziner Matthias Bloechle und
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seiner Patientin Sonja Werner repräsentieren Peter Hinze (CDU) und Ulla Schmidt (SPD) die politische Ebene, der Theologe Wolfgang Huber steht für eine ablehnende Position der (evangelischen) Kirche und die Runde wird ergänzt durch Guido Horn, der als Musiker und Diplom-Pädagoge mit über das Für und Wider der PID diskutiert. Die Diskussion der Studiogäste wird zudem durch fünf kurze Einspieler ergänzt, die zum einen Informationen zur PID vorstellen, zum anderen Topics für die Diskussion öffnen. Im ersten Einspieler werden das Verfahren und die zentralen Positionen der anstehenden Bundestagsdebatte skizziert; im zweiten wird die aktuelle Abtreibungsregelung vorgestellt und mit der Regelung des ESchG kontrastiert. Der dritte Einspieler wiederum skizziert ein ethisches Dilemma, in dem abgewogen werden soll, ob man bei einem Brand in einem Krankenhaus ein schreiendes Baby oder 10 befruchtete Eizellen retten würde. Die letzten beiden Einspieler geben Einblick in das Leben mit Behinderungen. In ihnen positioniert sich der Schauspieler und Mitglied des deutschen Ethikrates Peter Ratke, der selbst an Glasknochenkrankheit leidet, gegen die PID und verweist darauf, dass es ihn mit einem solchen vorgeburtlichen Check nicht gegeben hätte. Und eine Familie zeigt ihr glückliches Alltagsleben mit vier Kindern, darunter ein Junge mit Down-Syndrom. Die Anordnung der jeweiligen Einspieler und die Reihenfolge der Gäste legt eine bestimmte Dramaturgie der Sendung fest. Ich möchte diese im Folgenden kurz vorstellen und die wichtigsten Streitpunkte skizzieren. Die Sendung beginnt mit einem Foto von Sonja Werner und ihrer vierjährigen Tochter Maxima, die nach einer erfolgreichen PID und IVF-Behandlung des Reproduktionsmediziners Bloechle geboren wurde. Sonja Werner wird als erster Studiogast vorgestellt und berichtet von ihrem Weg zu einem eigenen Kind. Sie hat zwei Fehlgeburten und erfährt dann durch ein genetisches Gutachten, dass sie Trägerin eines Gendefekts ist und ein Risiko von 80% auf ein Kind mit schwerer Behinderung 79 oder auf eine erneute Fehlgeburt habe. Als auch die dritte Schwangerschaft in einer Fehlgeburt endet, entschließt sie sich zur PID und bringt mit Maxima ein gesundes Kind zur Welt. Nachdem wieder das Familienfoto eingeblendet wird – diesmal mit einem größeren Ausschnitt, der auch den Vater Michael zeigt – , antwortet Frau Werner auf die Frage, was sie als Katholikin dazu bewegt habe, die PID durchführen zu lassen: »Ich wollte einfach alle Möglichkeiten, die ich hab, ausschöpfen um mir nicht hinterher vorwerfen zu müssen, hätte ich’s doch probiert« (ebd.). Dass sie dafür auf eine damals verbotene technologische Anwendung zu-
79 Frau Werner gibt den Defekt nicht genau an, verweist aber darauf, dass ihr Genetiker damals sagten, dass ein Kind mit dieser Behinderung eine maximale Lebenserwartung von zwei Jahren habe.
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rückgreift, sei ihr egal gewesen. Die Sendung stellt im Anschluss in einem kurzen Einspieler das medizinische Verfahren einer PID und die anstehende Entscheidung im Bundestag dar. Plasberg bittet Ulla Schmidt darum, zu erklären, was ihren Positionswechsel begründet habe. Schmidt verweist darauf, dass zum einen im europäischen Ausland zu beobachten sei, dass sich die PID nicht begrenzen lasse, sondern für immer mehr Auswahlmöglichkeiten, bspw. Spenderkinder in Frankreich, genutzt würde. Zum anderen führe ein Katalog für die Krankheiten, die qua PID ausgeschlossen werden dürfen, zu einer ihrer Meinung nach nicht zulässigen Unterscheidung in wertes und unwertes Leben. Ähnlich argumentiert Bischof Huber, wenn er betont, dass menschliche Embryonen keine Sachen seien, über die Mediziner verfügen können (vgl. ebd.). Er betont außerdem, dass eben nicht nur die Abtreibung, sondern auch die PID belastend für die Paare sei. Bloechle dagegen verweist auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau und wehrt sich gegen den Eingriff des Staates in eine private Entscheidung: »Ich sehe nach wie vor, dass eine Frau und eine Patientin wie Frau Werner das Recht auf eine angemessene medizinische Behandlung hat. Und der Staat hat meines Erachtens auch nicht das Recht von Frau Werner zu verlangen, kinderlos zu sterben. Und für dieses Recht habe ich dann eben gewisse Risiken auf mich genommen und um dieser Patientin, in diesem Fall Frau Werner, das zu ermöglichen, dass sie eben nicht kinderlos sterben muss oder womöglich (…) acht oder neun Fehlgeburten auf sich nehmen muss, bevor sie dann vielleicht mal Glück hat und auch ein gesundes Kind bekommt.« (Hart aber fair 2011)
In der Talkshow wird die Frage nach der Selbstbestimmung der Frau vs. der rechtlichen Gestaltung durch den Staat zur zentralen Auseinandersetzung. Strafrechtliche Folgen werden dabei von Herrn Bloechle und Frau Werner nicht als Reaktion eines Gesetzesübertritts, sondern vielmehr als Einmischung und Bevormundung verstanden, wie der folgende Einwurf von Frau Werner deutlich macht: »Aber die Gesellschaft kann mir doch nicht vorschreiben, wie ich leben muss, das ist meine Entscheidung, mein Körper, mein Kind« (ebd.). Peter Hintze nimmt eine ähnliche Position ein. Er stellt die PID ins Verhältnis zur Abtreibung und plädiert für eine eingeschränkte Freigabe: »Ich finde es auf alle Fälle humaner, dass man es erlaubt, die befruchtete Eizelle in der Petrischale zu untersuchen, als dass man sagt, naja, dann wird die Abtreibung also sein, da sind wir zwar auch gegen, aber dann ist das so. Ich finde das eine brutale Sicht der Dinge und ich finde, es den Frauen […] gegenüber nicht korrekt.« (Hart aber fair 2011)
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Der anschließende Einspieler 80 zur Abtreibungsregelung verstärkt diese Setzung und wird von Plasberg mit den Worten anmoderiert, mal zu schauen, »was jetzt alles geht, ohne dass es sanktioniert wird« (ebd.). In der weiteren Diskussion wird die Straffreiheit der Abtreibung als ein Argument für die Freigabe der PID angeführt und gefragt, warum Zellklumpen im Glas besser geschützt seien als Embryonen im Mutterleib. Während im Einspieler nicht deutlich wird, dass Spätabtreibungen aufgrund einer embryopathischen Indikation nicht möglich sind, weist Ulla Schmidt explizit darauf hin und betont, dass die Straffreiheit eben aus jener Konfliktsituation folge, dass die Mutter bereits schwanger sei. Nichtsdestoweniger findet sich in der weiteren Diskussion immer wieder die Analogie von Spätabtreibung und PID. Zum Ende der Sendung wechselt der Fokus zum Umgang mit behindertem Leben in der Gesellschaft und der Frage, ob die PID die Diskriminierung von Behinderten verstärke. Dies wird durch die beiden letzten Einspieler abgerundet. Plasberg und seine Studiogäste geben damit einen Ausblick auf nahezu alle zentralen Argumente der Debatte. Dabei zeichnen sich das Verhältnis von Abtreibungsrecht und PID und die Forderung nach Selbstbestimmung vs. staatlicher Steuerung als die zentralen argumentativen Angelpunkte der Diskussion aus. Dies wird durch die Abfolge der angesprochenen Themen in der Sendung noch verstärkt: Der Einstieg über das persönliche Schicksal von Frau Werner stellt eine Erfolgsgeschichte der PID vor und ist zugleich eine zentrale Setzung für den weiteren Verlauf. Argumente für und wider der Diagnostik werden vor diesem Hintergrund vorgestellt und diskutiert. Gerade die Argumente der KritikerInnen müssen sich vor dem Argument des individuellen Glücks beweisen. KritikerInnen und BefürworterInnen beziehen sich dabei argumentativ über weite Teile der Diskussion auf zwei unterschiedliche Ebenen: Während vor allem Arzt und Patientin das Recht auf eine individuelle Entscheidung stark machen und betonen, dass Frauen und Paare durch staatliche Eingriffe in die Privatsphäre nicht an ihrem Glück gehindert werden dürfen, beziehen sich die KritikerInnen auf eine überindividuelle Ebene der (möglichen) gesellschaftlichen Folgen. 7.2.3 Auswertung der Feinanalyse In den Diskursen um die Freigabe der Präimplantationsdiagnostik und die Bundestagsdebatte um einen neuen Gesetzesentwurf ein Jahr später finden sich be-
80 Es werden die Zahlen der jährlichen Abtreibung (inklusive aller Abtreibungen bis zur 12. Woche) angegeben und die Beratungssituation sowie Schwangerschaftsabbrüche nach der 12 Woche vorgestellt.
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reits bekannte Argumente wieder. So wiederholen sich die Positionen bei der Frage, ob die Einführung der PID zur Diskriminierung von Behinderten führe. Während BefürworterInnen darauf verweisen, dass die Geburt als Trennscheide fungiere und sich nach Jahren der pränatalen Diagnostik zeige, dass diese nicht zu einer Zunahme von Diskriminierung geführt habe, betonen KritikerInnen, dass durch die Festlegung von selektierbaren Krankheiten und Behinderungen auch in wertes und unwertes Leben unterschieden werde und dies das Signal an Betroffene weitergebe, dass ihr Leben als vermeidbar angesehen würde. Der Aspekt der Diskriminierung wird damit in beiden Diskursabschnitten ähnlich diskutiert. Andere inhaltliche Aspekte – bspw. die Diskussion von Deutschland als Wissenschaftsstandort – werden dagegen nicht wiederaufgenommen. War gerade unter Gerhard Schröder die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Reproduktionsmedizin und Genforschung in den Diskussionen um die Stammzellforschung und die Präimplantationsdiagnostik als wichtiges ProArgument angeführt worden, so scheint diese Argumentation 2010 und 2011 keine Rolle mehr zu spielen. Dies könnte einerseits daran liegen, dass mit der Fristenlösung in der Stammzellforschung und mit dem Urteil zur PID jeweils eine Kompromisslösung gefunden wurde, andererseits verweist es sicherlich auch darauf, dass die Erwartungen an die Biotechnologie als Zukunftstechnologie gesunken sind.
7.3 ARGUMENTATIONSFIGUREN D ISKURS DER PID
IN DEM ERNEUTEN
Auch in Bezug auf geschlechtsspezifische Argumentationen im Diskurs zeigen sich Veränderungen. In der Analyse des Materials aus den Jahren 2010 und 2011 finden sich drei zentrale Argumentationsfiguren, innerhalb derer Frauen und Paare aufgeführt werden. Diese können unter den Schlagworten »Leiden der Eltern«, »Analogie von (Spät-)Abtreibung und PID« sowie das »Recht auf ein (gesundes) Kind« gefasst werden und sollen im Folgenden vorgestellt werden. 7.3.1 Das Leiden der Eltern Eine wiederauftretende Figur und zugleich das gewichtigste Argument auf Seiten der BefürworterInnen bildet der Verweis auf das Leiden der zukünftigen Eltern. Mit teils einprägsamen Beispielen erfahren die LeserInnen von vorangegangenen Fehlgeburten und dem oft verzweifelten Versuch von Frauen und Paa-
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ren, mit einem gesunden Kind schwanger zu werden. Ein Beispiel für diese Leidensgeschichten findet sich in dem Essay von Eberhardt Schwinger: »Die beiden hatten viel durchgemacht. Ihr Kind röchelte und hustete. Zäher Schleim verstopfte seine Bronchien. Nächtelang wachten die Eltern an seinem Bett. Das Kind litt an Mukoviszidose, einer schweren, rezessiv vererbten Krankheit. Ein zweites Kind mit diesem Leiden - noch mehr Arztbesuche und noch mehr durchwachte Nächte -, das würden sie einfach nicht schaffen, davon waren beide überzeugt. Sie wussten: In ihrer beider Erbgut schlummerte das Gen, das für die Krankheit verantwortlich ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer erneuten Schwangerschaft auch das zweite Kind erkranken würde, betrug deshalb 25 Prozent. Zweimal schon hatten es die beiden darauf ankommen lassen. Zweimal hatte sich im Rahmen einer pränatalen Diagnostik herausgestellt: Auch diese Kinder trugen die krank machenden Gene in sich. Zweimal hatten sie abgetrieben. Nie wieder wollten sie diese Tortur durchmachen müssen.« (Spiegel/Schwinger 2010)
Die hohe Belastung der Eltern, die zur Entscheidung führt, nicht ein zweites Kind ebenso pflegen zu können, und die »Tortur« (ebd.) der Abtreibungen bilden jeweils nachvollziehbare – wenn vielleicht auch nicht geteilte – Gründe für den Einsatz einer PID. Ähnliche Verweise finden sich auch in weiteren Artikeln und der Talkshow, die mit Frau Werner ein persönliches Beispiel voranstellt. Auch ohne die ausführliche Schilderung von Leidensgeschichten bildet der Verweis auf Paare, die an ihrem unerfüllten Kinderwunsch leiden, einen wichtigen argumentativen Baustein der Befürworter. Dem werden die Verfahren der PID und IVF als Lösung entgegengestellt: »Anstelle wiederholter, belastender Schwangerschaften mit einem großen Risiko von Fehl- oder Totgeburten oder der Geburt eines schwerbehinderten Kindes werden einige Eizellen künstlich befruchtet« (SZ/Schulte von Drach 2011b). Das Leiden von Paaren und traumatische Erlebnisse der Fehlgeburt und/oder Abtreibung bilden wichtige Referenzpunkte in der Argumentation für die PID, die sich gerade in der Reaktion auf das Urteil im Jahr 2010 wiederfinden lassen. Beide Argumentationen sind hierbei nicht neu, sondern finden sich bereits im früheren Diskurs der ZEIT. Doch obwohl sie weiterhin anhand persönlicher Schicksale illustriert werden, werden die Perspektiven der Anwenderinnen und ethische Fragen nicht mehr vorrangig getrennt voneinander thematisiert, sondern vermischen sich deutlicher. So begrüßt Steven Stockham in der ZEIT die positive Entscheidung des Bundestags zur PID, da Eltern »künftig keine Fehlgeburten und dem Tod geweihter Nachwuchs zugemutet« (ZEIT/Stockrahm 2011) würden, und betont, dass die Zulassung der PID ein Akt der Nächstenliebe sei. Ebenso wird auf die Rolle der Ärzte verweisen, die durch die strenge Gesetzge-
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bung gehindert wurden, ihren Patientinnen bzw. den Paaren zu helfen: »Und es geht um Ärzte, die Menschen vor traumatischen Erfahrungen zu bewahren vermögen, wenn man sie lässt – Erfahrungen, an denen Beziehungen scheitern und Persönlichkeiten zerbrechen können« (SZ/Janisch 2010b; vgl. auch Spiegel/Schwinger 2010 oder FAZ/Falke-Ischinger 2010). Auch bei den Gründen für den unerfüllten Kinderwunsch wird eine Differenz deutlich: In den Artikeln, die sich in der ZEIT der Perspektive der AnwenderInnen zuordnen ließen, fanden sich vorrangig Beispiele von Frauen und Paaren, die sich zu einer PID entschlossen haben und dafür den Reproduktionstourismus nutzen (müssen). Der Fokus dieser Artikel lag auf der Beschreibung persönlicher Leidenswege, sei es durch eine Erbkrankheiten in der Familie oder einen späten Kinderwunsch mit erfolgloser IVF, und einer sehr konkreten Beschreibung vom Kontakt bis zur Behandlung in Kliniken im Ausland. Der beschreibende Charakter dieser Artikel vermied zumeist explizit einen Bezug auf ethische Fragen um den Status des Embryos, sondern stellte primär individuelle Schicksale vor. Eine Einbettung in gesellschaftliche Entwicklungen fand dabei vorrangig über das steigende Alter von Müttern bzw. Erstgebärenden statt, da dieses vermehrt zur assistierten Reproduktion und der Notwendigkeit einer PID führe. Die Notwendigkeit einer PID folgt in den Beispielen nie aus der zu späten Entscheidung für ein Kind, sondern ausschließlich aus Erbkrankheiten in der Familie, wiederholten Abtreibungen nach einer pränatalen Diagnose oder Totgeburten. Das persönliche Schicksal, unter dem Paare leiden, ist in diesem Sinne nicht selbstgemacht, weil man zulange mit dem Kinderwunsch gewartet habe – eine argumentative Figur, die im Diskurs der ZEIT immer wieder auftauchte –, sondern wird vielmehr als schicksalsgegeben thematisiert. Damit findet jedoch zugleich eine Bedeutungsverschiebung der PID statt. Diese rückt in die Nähe einer Therapie von »naturgegebenen« Krankheiten und bewegt sich in dieser Konnotation fort von einer selektiven Diagnostik. Mathias Bloechle betont diesen Aspekt in dem Interview in der FAZ: »Die Schicksalhaftigkeit der Geburt eines todgeweihten Kindes wird im Fall einer frühen Diagnostik überwunden. Aber wir ergeben uns ja auch sonst dem Schicksal nicht und versuchen, negative Folgen abzuwenden, etwa bei Krebs und anderen Krankheiten.« (FAZ/Falke-Ischinger 2010)
Auch Frau Werner verweist in der Talkshow darauf, dass sie sich ja auch bei Krankheiten wie Krebs für eine Behandlung entscheiden würde. Noch deutlicher wird Peter Hintze, der in der Bundestagsdebatte betont: »Zivilisation bedeutet
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Emanzipation von der Natur« (FAZ/Mihm 2011a). 81 PID wird hier also explizit als eine Technologie zur Überwindung der Natur bzw. Naturhaftigkeit der Empfängnis und Geburt gesetzt. Es findet sich jedoch auch noch eine andere Bestimmung des Leidens, nämlich die Belastungen der Mütter durch die Verfahren der künstlichen Befruchtung und PID. In einigen Artikeln wird auch dieses als »Tortur« (FAZ/Riebsamen 2011) vorgestellt, die »körperlich und seelisch äußerst belastend sein kann« (ZEIT/Spiewak 2010). Diese Verweise dienen dazu, deutlich zu machen, dass die PID nicht leichtfertig von Paaren mit Kinderwunsch genutzt wird, sondern nur unter hohem Leidensdruck angewandt wird. In beiden Varianten der Argumentationsfigur findet sich in der Mehrzahl der Nennungen das Paar mit Kinderwunsch. Der explizite Verweis auf Frauen bzw. Schwangere und zukünftige Mütter wird zumeist dann angebracht, wenn entweder die Technologie als Anwendung am Frauenkörper vorgestellt wird – also bspw. das Übertragen des Embryos in den Uterus oder die Belastung der Frau durch Hormone – oder wenn die Entscheidung zur Durchführung der Diagnostik, aber auch der Abtreibung gefällt wird. Bei letzterem wechselt die Perspektive von den Paaren zur Perspektive auf die Entscheidung der Frau und das Verhältnis zwischen Arzt und Patientin. Zusammenfassend lassen sich in der Argumentationsfigur »Leiden der Paare« zwei wichtige Verschiebungen feststellen: Zum einen wird die individuelle Entscheidung der Frauen und Paare als eine ethische markiert und damit gesellschaftlich gerahmt. Diesen Aspekt werde ich unter der Argumentationsfigur »Recht auf ein Kind« nochmal aufnehmen und genauer diskutieren. Zum anderen wird die PID in einigen Artikeln nicht als eine selektive Diagnostik, sondern vielmehr als eine Anwendung für den unerfüllten Kinderwunsch beschrieben. Wie die oben angeführten Zitate zeigen, wird die PID dabei als Kontrapunkt zu einer natürlichen Empfängnis gesetzt, mittels derer sich die Schicksalshaftigkeit der (Fehl-)Geburt behandeln lässt. Gerade in der Argumentation der Befürworter wird der Dualismus von Natur und Technologie aufgerufen und die PID als Überwindung der Naturhaftigkeit der Geburt beschrieben.
81 Hierzu findet sich in Artikeln auch das Gegenargument: der Verweis, sich nicht anzumaßen, in die Natur einzugreifen. So angeführt von Maria Michalk, die ihre eigene Situation als Mutter von drei Töchtern trotz einer Tot- und dreier Fehlgeburten als Beleg nimmt, dass man die Natur »nicht vergewaltigen« dürfe (FAZ/Mihm 2011b). Hier sammeln sich auch die Metaphern, dass der Mensch nicht Gott spielen dürfe (vgl. Spiegel/Christmann/Schwägerl 2011).
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7.3.2 PID als sanfte Alternative zur Abtreibung Die zweite argumentative Figur, innerhalb derer Frauen und Paare angeführt werden, findet sich in der Analogsetzung von Abtreibung und Durchführung der PID. Bereits im Gerichtsurteil zur PID verweist der BGH auf die geltende Abtreibungsregelung und auch in den Artikeln wird die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs ins Verhältnis zur PID gesetzt. Hier finden sich wiederum zwei Argumentationen: Zum einen wird auf das Leiden der Paare verwiesen, zum anderen wird explizit das Selbstbestimmungsrecht der Frau angeführt. Bei der ersten Variante wird die PID der Abtreibung gegenüber gestellt und als die Lösung einer bisherigen Konfliktsituation beschrieben, durch die Eltern wie Ärzte entlastet werden: »Bisher hatte ein Paar, das von seiner erblichen Vorbelastung für lebensbedrohliche Krankheiten wusste, nur die Möglichkeit, ein schwer krankes Kind durch eine Spätabtreibung töten zu lassen. […] Ein grausamer Eingriff für die betroffenen Eltern und wohl auch den Arzt.« (ZEIT/Klopp 2010)
Oder: »Es geht um Mütter, die ohne PID warten müssten, bis der Zellhaufen in ihrem Bauch zu einem Kind mit Händen und Füßen herangewachsen ist – das sie, wenn das genetische Risiko zur bitteren Realität geworden ist, ganz legal abtreiben dürfen. Und es geht um Ärzte, die Menschen vor traumatischen Erfahrungen zu bewahren vermögen, wenn man sie lässt – Erfahrungen, an denen Beziehungen scheitern und Persönlichkeiten zerbrechen können.« (SZ/Janisch 2010b)
Beide Zitate zeigen zum einen, wie die PID als Alternative zu dem Leid der Abtreibung dargestellt wird, zum anderen, dass bei einem positiven Befund nach einer pränatalen Diagnostik von einer Abtreibung ausgegangen wird. Dabei ist zumeist die Spätabtreibung gemeint, die nach der 12. Woche und einer invasiven pränatalen Diagnostik durchgeführt wird. Anders als bei der Perspektive auf Fehl- und Totgeburten wird hier darauf verwiesen, dass es bereits eine gesellschaftliche Praxis im Umgang mit diagnostischen Verfahren in der Schwangerschaft gibt sowie mit der Beendigung von Schwangerschaften, wenn dabei genetische oder chromosomale Auffälligkeiten festgestellt werden. So schreibt Jürgen Kaube:
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»Es findet nach den Fruchtwasserdiagnosen [auf Down-Syndrom; Anm. MR] zunehmend ein Schwangerschaftsabbruch statt. Für viele Frauen […] ist Schwangerschaft schon heute das, was manche als Folge der PID bezeichnen, nämlich »Schwangerschaft auf Probe.« (FAZ/Kaube 2011)
Die Verfahren der PID und PND werden nur in Bezug auf den Zeitpunkt, nicht aber in der Bestimmung des Ziels bzw. dem Charakter der Verfahren unterschieden. Daraus folgt, dass auch der Schwangerschaftsabbruch nach einer PND vergleichbar wird mit der Entscheidung, einen Embryo nach der PID nicht einzusetzen. Hierbei wird die PID als das für die Eltern bessere Verfahren beschrieben, da es früher ansetzt und damit emotional und körperlich schonender sei. Wie bereits in der vorherigen Argumentation finden wir also das Leid der Eltern als ausschlaggebendes Moment in der Entscheidung für die PID, hier allerdings kombiniert mit der Analogie der Abtreibung. Mit der PND und der Abtreibung werden zudem zwei Verfahrensweisen herangezogen, die beide im Bereich der Gynäkologie etabliert und gesellschaftlich anerkannt sind. Die zweite Perspektive verschiebt den Fokus auf das rechtliche Ungleichgewicht. Gericht und BefürworterInnen fordern, dass mit der Möglichkeit der Abtreibung auch die Nutzung der PID zugänglich seien müsse und verweisen auf eine Schieflage vor dem Urteilsspruch: »In einem Land, in dem Abtreibung erlaubt sei, wäre es widersinnig, die Vermeidung von Abtreibung zu verbieten.« (SZ/o.A. 2011a) Interessant ist, dass gerade bei den rechtlichen Verweisen zwei Spezifika der rechtlichen Regulierung in Deutschland systematisch ausgeblendet werden: Erstens fehlt zumeist auf Seiten der BefürworterInnen ein Verweis auf die spezifische Situation des geteilten Körpers der schwangeren Frau, der aber für die Regelung zur Abtreibung ein zentrales Argument gebildet hat (vgl. hierzu Sacksofsky 2003). Ulla Schmidt, die für ein erneutes Verbot der PID eintritt, betont dagegen, dass es eben jene geteilte Situation des Körpers sei, die zur der Reduzierung der Rechte des Embryos führe: »In Schwangerschaftskonfliktsituationen besteht ein sehr enger personaler Konflikt zwischen dem entstehenden Leben – dem Kind, das wächst – und der Mutter. […] Und das basiert auf der Erfahrung, dass man ein Kind nicht gegen den Willen der Mutter retten kann und auch keine Frau zum Austragen der Schwangerschaft zwingen kann.« (Hart aber fair 2011)
Während KritikerInnen darum bemüht sind, diese spezifische Situation deutlich zu machen und die Vergleichbarkeit von PID und einer (Spät-)Abtreibung zu
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negieren, betonen BefürworterInnen die Analogie. Markus C. Schulte von Drach dreht das Argument schlichtweg um. Er wirft der Bundestagsdebatte vor, hinter bereits gefällte Kompromisse der Abtreibungsdebatte zurückzufallen: »Sie wiederholen nicht nur Argumente der früheren Diskussion. Sie ignorieren auch, dass es jetzt nicht einmal mehr um das Ungeborene im Mutterleib geht, sondern um ein früheres, embryonales Stadium von künstlich gezeugten Embryonen außerhalb der Gebärmutter.« (SZ/Schulte von Drach 2011a)
Das Argument des geteilten Körpers wird hier demnach nicht als Grund für die Zulassung der Abtreibung, sondern vielmehr als Anlass des Schutzes des Embryos genutzt. Des Weiteren fällt die Markierung der Embryonen als künstlich gezeugte auf, für die scheinbar differente Regelungen zu natürlich gezeugten Embryonen zu gelten scheinen bzw. gelten sollten. Doch nicht nur die Besonderheit des geteilten Körpers während der Schwangerschaft wird weitestgehend ausgeblendet, vielmehr wird gerade der Verweis auf das rechtliche Ungleichgewicht zwischen der Erlaubnis zur Abtreibung und dem widersprüchlichen Wunsch auf ein Verbot der PID eine Analogie aufgemacht, die rechtlich wiederum nicht gegeben ist: »Außerdem wäre es aus Sicht der Richter widersprüchlich, Embryonen im Reagenzglas stärker zu schützen als entwickelte Föten. Bei schwersten Schäden ist sogar die Abtreibung legal.« (SZ/Janisch 2010a)
Oder: »Warum ist eine ›Schwangerschaft auf Probe‹ im Mutterleib erlaubt, aber eine Befruchtung auf Probe im Labor verboten? Dabei belastet eine Abtreibung die Patientinnen viel stärker als die Vorauswahl der Embryonen um Labor. Mit ihrem Urteil haben die Leipziger Richter nun de facto eine Gleichbehandlung zwischen genetischer Untersuchung im Mutterleib (Pränataldiagnostik, PND) und der PID bei Embryonen hergestellt.« (ZEIT/Spiewak 2010)
Hier wird eine bedeutende Information nicht mit angeführt: Die Spätabtreibung ist nur legal, wenn die Weiterführung der Schwangerschaft die psychische oder physische Gesundheit der Frau gefährden würde. Wie ich im Kapitel zu den rechtlichen Regelungen um die PID gezeigt habe, ist auf eine embryopathische Indikation explizit verzichtet worden. Auch wenn sich mittels der Regelung über die Gesundheit der Mutter eine Praxis etabliert hat, die der Durchführung einer
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embryopathischen Abtreibung gleichen mag, ist die rechtliche Gleichsetzung eine falsche Vereinfachung im Diskurs. Denn auch hier ergibt sich die Aufhebung des Schutzes des Embryos aus der geteilten Situation des Körpers der Mutter. In der Argumentationsfigur zur Abtreibung finden sich Frauen und Paare damit sowohl als Akteure selektiver Praktiken im Feld der Schwangerschaft, die sich nun von der PND auf die PID auszuweiten scheinen, als auch als die Leidtragenden der rechtlich fehlenden Gleichstellung der PID mit der Regelung der Abtreibung. Während die Frage der rechtlichen Standards bereits im ersten Diskurs von 2000 bis 2004 diskutiert wurde, wird hier die Ebene des Leids der Eltern stärker in den Fokus gerückt. Ebenso tauchen Ärzte im Diskurs als Leidtragende auf, die die Spätabtreibungen durchführen müssen, anstatt die Frauen und Paare mithilfe der PID vor dieser Erfahrung bewahren zu können. 7.3.3 Das Recht auf ein Kind Als dritte und letzte Argumentationsfigur möchte ich die Perspektive auf die Rechte von Frauen und Paaren im Diskurs lenken. Bereits in der Strukturanalyse wurde deutlich, dass Frauen und Paare nicht mehr lediglich als AnwenderInnen der Technologie beschrieben werden, sondern deren Wünsche und Hoffnungen an die diagnostischen Möglichkeiten der PID vielmehr als Argument für eine Zulassung angeführt werden. Diese Perspektive bekräftigt sich in der Feinanalyse. Die Wünsche und Bedürfnisse werden zunehmend mit ethischen Überlegungen verknüpft und erhalten durch Bezüge auf das Selbstbestimmungsrecht und reproduktive Rechte, hier das Recht auf ein Kind, einen positiv konnotierten Charakter. Dies beginnt bei der Bewertung des BGH-Urteils. Mit diesem habe »[…] der BGH die Autonomie der Patienten gestärkt« (ZEIT/Spiewak 2010). Die Figur des mündigen Patienten bzw. in diesem Fall eher der mündigen Patientin, nimmt eine zentrale Rolle ein. JournalistInnen wie MedizinerInnen betonen, dass die Entscheidung für eine PID bei den betroffenen Paaren liegen sollte. So finden wir im Interview mit Bloechle gleich zwei Verweise hierauf: »Es sollte in der persönlichen Freiheit eines Paares liegen, nach ausführlichen Beratungen zu entschieden, wofür sie die Verantwortung übernehmen können und wofür nicht.« (FAZ/Falke-Ischinger 2010)
Und an späterer Stelle:
210 | G ESCHLECHT IM Z EITALTER DER R EPRODUKTIONSTECHNOLOGIEN »Da sehe ich das Selbstbestimmungsrecht der Frau an erster Stelle. Sie sollte das Recht haben zu entscheiden, ob sie mit einem kranken oder gesunden Embryo schwanger werden möchte.« (FAZ/Falke-Ischinger 2010)
Auch in der Talkshow »Hart aber fair: Vom Wunschkind zum Kind nach Wunsch« (2011) bildet sich ab, dass der Verweis auf die autonome Entscheidung der Frau eine zentrale Rolle spielt. Sowohl der Reproduktionsmediziner Bloechle als auch seine Patientin Frau Werner betonen die Privatheit der Entscheidung. Auf Ausführungen zur Rolle des Gesetzgebers von Ulla Schmidt antwortet Frau Werner nahezu erbost: »Aber die Gesellschaft kann mir doch nicht vorschreiben, wie ich leben muss, das ist meine Entscheidung, mein Körper, mein Kind« (Hart aber fair 2011). Das Recht auf Selbstbestimmung und auf ein Kind verbindet sich auch in anderen Artikeln mit einem liberalen Staatsverständnis: »Wer Leid nicht hinnehmen will und dabei kein anderes verursacht, darf nicht daran gehindert werden. Wenn die PID keine Person schädigt, sondern nur einem Weltbild widerspricht, muss im liberalen Rechtsstaat das Weltbild zurückstehen.« (FAZ/Kaube 2011)
Der Ausschnitt zeigt zugleich, wie sich im Zuge der Debatte das Verständnis des Embryos gewandelt hat, der hier nicht mehr als Entität mit Rechten auftaucht. Vielmehr zeigt sich, dass eine Einschränkung der Rechte der prospektiven Eltern gegen andere Interessen begründet werden muss. Dies findet sich sowohl bei der Beurteilung der Schutzrechte des Embryos als auch der Positionen von Behindertenverbänden wieder: »Es geht nicht um Menschen, sondern um embryonale Zellhaufen vor der Einnistung in die Gebärmutter. Es geht nicht um ein Urteil über den Wert oder Unwert von Leben. […] Es wäre völlig unverhältnismäßig, dass Paare aus Rücksicht auf Behinderte dazu gezwungen würden, auf Nachwuchs zu verzichten oder genetisch belastete Kinder zu bekommen.« (Schulte von Drach 2011a)
In den Artikeln wird die Legalisierung der PID auch in Bezug zu europäischen und internationalen Regelungen und Konzeptionen gesetzt. So begrüßt der Verband pro familia die Bundestagsabstimmung als einen Schritt zur »Verwirklichung reproduktiver Rechte« (ZEIT/o.A. 2011c) für Frauen und Paare in Deutschland. Und die ESHRE wird mit der Forderung nach einem »fairen Zugang zu fortpflanzungsmedizinischen Behandlungen« (ZEIT/Müller-Lissner 2011) im Heimatland sowie einer Ausweitung des Prinzips der Freizügigkeit für
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den Bereich der Reproduktionsmedizin zitiert, um zukünftig nicht nur einheitliche rechtliche Standards in der EU zu ermöglichen, sondern auch um KinderwunschpatientInnen in allen europäischen Ländern als »mündige Bürger« (ebd.) zu adressieren. Der Bereich der Reproduktion wird hier also zum einen als Sphäre des Privaten markiert, in die der Staat keinen Einfluss nehmen sollte. Neben dem Recht auf Selbstbestimmung werden jedoch auch andere ethische Prinzipien angerufen. So wird die Zulassung der PID als ein »Akt der Nächstenliebe« (ZEIT/Stockrahm 2011) für die betroffenen Paare, als »Chance, Menschen zu helfen« (Spiegel/Schwinger 2010) oder gar als ein »Sieg der Menschlichkeit über die Angstbilder vom Designerbaby« (Spiegel/Hackenbroch 2011) beschrieben. Die Nutzung der PID tritt hier nicht nur als Lösung zur Erfüllung des Kinderwunsches auf, sondern verweist vielmehr auf das altruistische Ideal, zu helfen. Und ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Auch bei den Motiven für eine PID werden Beispiele angeführt, in denen Frauen und Paare, »eine PID explizit wünschen, weil sie aus eigener Leidenserfahrung keinem Kind das gleiche Schicksal aufbürden wollen« (ZEIT/Spiewak 2011). Hier basiert der Wunsch der Eltern nach einem gesunden Kind vielmehr auf dem Wunsch einer Verbesserung für das Kind im Vergleich zur eigenen Lebenssituation.
7.4 Z USAMMENFASSENDE E RGEBNISSE
DER
ANALYSE
In der Zusammenführung beider Analyse zeigen sich Unterschiede in der Diskussion um die PID, die zentral mit der Darstellung von Geschlecht und der Thematisierung von Frauen und Paaren im Diskurs verknüpft sind. Besonders deutlich werden die Veränderungen an drei Punkten: Erstens in dem Vergleich der thematischen Ausrichtung des Diskurses, zweitens in den Argumentationszusammenhängen, innerhalb derer Frauen und Paare angeführt werden und drittens in der Bewertung der PID. Im ersten Diskurs von 2000 bis 2004 stehen ethische Aspekte um den Schutz des Embryos im Zentrum. Sie werden erweitert um die Diskussionen auf der parlamentarischen Ebene sowie um Fragen zum Verhältnis von Forschungsfreiheit und Embryonenschutz. Die Perspektiven von Frauen und Paaren sind in diesem Zeitabschnitt des Diskurses eher marginal vertreten und finden sich primär in Artikeln, die die Anwendung einer PID (im Ausland) vorstellen. Hier liegt der Fokus jedoch selten auf dem Paar, sondern es wird nahezu ausschließlich über die Wünsche, Sorgen und Ängste der Frauen berichtet. Über den starken Fokus
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auf das gestiegene Alter der Frauen bei der ersten Schwangerschaft bzw. dem Wunsch nach einem Kind wird zudem direkt und indirekt darauf verwiesen, dass Frauen die Notwendigkeit einer PID und den Einsatz von Reproduktionsmedizin durch ihre (späte) Entscheidung selbst herbeiführen (vgl. Kapitel 5.5.1). Die Präimplantationsdiagnostik wird in der Mehrheit der Artikel als eine selektive Technologie beschrieben und ist damit vorrangig negativ konnotiert. Die Ausrichtung des Diskurses verändert sich signifikant in den Jahren 2010 und 2011. Die ethische Debatte verschiebt sich hier von Fragen des Embryonenschutzes zu einer Diskussion darüber, ob Paaren das Recht auf ein gesundes Kind zustehe. Daneben findet sich die Berichterstattung über die rechtlichen Fragen und die parlamentarische Debatte wieder, während Fragen der Forschungsfreiheit und Wissenschaftsförderung in Vergessenheit geraten. Das Recht auf (reproduktive) Selbstbestimmung und ein gesundes Kind bildet das stärkste Argument für Befürworter der PID. Als Grund für eine PID wird dabei nicht ein späteres Schwangerschaftsalter thematisiert, sondern die Angst vor Weitergabe von Erbkrankheiten oder anderen familiären Risiken. Hierbei verschiebt sich der Fokus zunehmend auf (Kinderwunsch-)Paare, auch wenn dabei zumeist noch die Frauen in der Paarbeziehung im Zentrum stehen. Ebenso wandelt sich die Einschätzung der PID von einer Diagnostik zur Selektion von Embryonen zu einer Anwendung, die Paare in ihrem Kinderwunsch unterstützt. Wir finden in diesem Diskurs also deutliche Verschiebungen in der Argumentation und Bewertung der PID. Besonders deutlich wird dies in der ethischen Diskussion: Während ich bei der Analyse der ZEIT bis zum Jahr 2004 zwischen dem Status des Embryos und Perspektiven der AnwenderInnen unterschieden haben, lässt sich diese Differenzierung für die Wiederaufnahme der Debatte nicht vornehmen. Frauen und Paare treten nicht nur vermehrt in den Fokus der Argumentation, sie ergänzen auch die ethische Debatte. War diese zu Beginn des neuen Jahrtausends von einer Diskussion über die Rechte und den Schutz des Embryos dominiert, so finden sich nun Frauen und Paare als Teil der ethischen Diskussion wieder, deren Rechte es ebenso abzuwägen gilt (vgl. Kapitel 5.9). Die Beschreibungen persönlicher Leiderfahrungen werden in die Argumentation für die PID eingewoben und repräsentieren den Anspruch auf Autonomie der Entscheidung und das Gebot, künftiges Leid zu verhindern. Gerade für die BefürworterInnen ist der Verweis auf die Bedürfnisse der Frauen und Paare und deren individueller Leidensgeschichten ein zentraler argumentativer Baustein. So schreibt Tina Klopp:
N EUER DISKURS – N EUE A RGUMENTE ?
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»Der Wunsch der Paare, sich das Leid einer Spätabtreibung oder des Lebens mit einem behinderten oder sterbenden Kind zu ersparen, ist legitim, finden Befürworter der PID. Das leuchtet ein.« (Klopp 2010)
Dass dieser Wunsch legitim ist, leuchtet keineswegs von Beginn der Debatte an ein, sondern bildet vielmehr das Ergebnis von diskursiven Verschiebungen. Innerhalb derer hat mit dem Urteil des BGH eine signifikante Änderung der Gesetzeslage stattgefunden, die sowohl die wachsende Akzeptanz der PID widerspiegelt als auch die Richtung der Argumentation verändert hat. Daneben ist die Figur des Embryos in der Diskussion dezentriert und ins Verhältnis zu den Wünschen und Rechten von Frauen und Paaren gesetzt worden. Anders als Heidi Hoffmann dies eingeschätzt hat, zeichnet sich der Diskurs der PID nicht durch ein »ethisches Vakuum« (Hoffmann 1999, 12) aus, sondern ist vielmehr geprägt von der ethischen Auseinandersetzung um die Schutzrechte des Embryos und – im zweiten Zeitabschnitt des Diskurses – um die Rechte der Eltern auf ein (gesundes) Kind und ihre reproduktive Selbstbestimmung. Ethische Fragen bilden die Eckpunkte der Diskussion, wie die PID zu bewerten sei, und werden von der parlamentarischen und rechtlichen Diskussion gerahmt. Dieser Fokus auf und in den ethischen Debatten strukturiert zugleich die Inhalte und Perspektiven des Diskurses. Mögliche Konfliktfelder der Technologie werden (zumeist) auf diese ethischen Aspekte ausgerichtet; eine Ausnahme bildet hier die Debatte darüber, ob die Legalisierung der PID zu Diskriminierungen von Behinderten führe. In beiden Diskursphasen finden sich hierzu Positionierungen von Selbsthilfegruppen für Betroffene genetischer Krankheiten und/oder körperlicher und geistiger Behinderungen sowie Beschreibungen der Alltagsrealität von Familien, die mit behinderten Kindern leben. Dagegen fehlen dezidiert feministische Perspektiven. Das ist nicht nur aufgrund der langen politischen wie theoretischen feministischen Auseinandersetzung mit neuen Reproduktionstechnologien erstaunlich, sondern auch, weil der Diskurs mit dem Schwenk auf die reproduktiven Rechte von Frauen und Paaren, aber auch in der Diskussion des Verhältnisses von Abtreibung und Embryonenschutz, an zentrale Forderungen der Frauenbewegung – das Recht auf Abtreibung und das Recht auf Selbstbestimmung – anschließt. Inwieweit die Forderungen jedoch kongruent sind, wo sich Überschneidungen und Differenzen ergeben, möchte ich im anschließenden Fazit diskutieren.
8. Gen(dered) bodies – Geschlecht im Diskurs der PID
Über zehn Jahre nach dem Beginn der öffentlichen Auseinandersetzung ist es still um die PID geworden. Nach der Entscheidung des Deutschen Bundestages im Juli 2011 dauert es fast drei Jahre bis die Verordnung zur Regelung der PID in Kraft tritt und im März 2014 das erste Zentrum für die PID zugelassen wird. Auch die mediale Berichterstattung wendet sich anderen Bereichen der Reproduktionsmedizin wie der Eizellspende und Leihmutterschaft zu, während der Ethikrat die Beratungen über ein mögliches Fortpflanzungsmedizingesetz aufnimmt. Für diese Öffnung hin zu einer neuen rechtlichen Regelung der Fortpflanzungsmedizin, aber auch der Art und Weise, wie Reproduktionsmedizin medial lanciert wird, ist der Diskurs um die PID ausschlaggebend. Die PID hat, so meine These, eine Gatekeeper-Funktion eingenommen. Sie steht exemplarisch für die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Reproduktionstechnologien, in der zentrale Fragen nach dem Umgang mit den neuen Möglichkeiten und dem Verständnis von Natur und Technologie verhandelt werden, und weist über die Anwendungsgebiete der PID hinaus. Im Zuge der Debatte um die PID ist nicht nur eine relevante rechtliche Neuregelung des Embryonenschutzgesetzes vorgenommen worden, vielmehr können wir diskursive Verschiebungen beobachten, die den Charakter der PID und die Vorstellungen von Elternschaft verändern und sich zentral an der Kategorie Geschlecht und der Bestimmung der Grenzen von Natur, Technologie und Körper festmachen lassen. So hat sich die PID über den Verlauf der Debatte von einer selektiven Technologie zu einer helfenden Hand für Eltern mit Kinderwunsch gewandelt. Diese Veränderung der Bewertung der PID wird von zwei weiteren Verschiebungen begleitet. Zum einen wird der Kinderwunsch der Eltern als ethische Größe und Recht auf ein Kind im Diskurs etabliert und löst die Diskussion um die Schutzrechte des Embryos zunehmend ab. Frauen und Paare werden damit sichtbarer und der Verweis auf ihre Autonomie in Kinder(wunsch)fragen erhält argumentatives Ge-
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wicht. Zum anderen geht die Betonung der Mühen der Eltern und der Komplexität des reproduktionsmedizinischen Verfahrens mit einer Naturalisierung des Kinderwunsches einher, der paradoxerweise gerade durch die Artifizialität der PID unterstrichen wird. Diese diskursiven Verschiebungen bieten eine Erklärung dafür, wie sich die PID trotz der klaren Ablehnung zu Beginn des Jahrtausends durchsetzen konnte und auf der Ebene der medialen und politischen Debatte Mehrheiten für eine Zulassung gefunden werden konnten. Denn der Wechsel in der Position zur PID lässt sich nicht nur auf das Gerichtsurteil des BGHs zurückführen, auch wenn dieses die rechtlichen Grundlagen und damit den Raum des Sagbaren neu angeordnet und erweitert hat. Zum Abschluss der Arbeit möchte ich die Ausgangsfrage nochmals aufnehmen und herausarbeiten, wie sich in der Debatte unser Verständnis von Reproduktion und geschlechtlichen Körpern verändert und zu einer anderen Gewichtung der Argumente führt. Dafür werde ich zuerst einen kurzen Überblick über die bisherigen Ergebnisse geben und diese dann in der Diskussion um das Aufscheinen von Autonomie reproduktiver Entscheidungen und Naturalisierungen von Reproduktion und Geschlecht im Diskurs zusammenführen. Hier kann gerade die Verbindung von theoretischer Auseinandersetzung um Natur und Technologie und einem daraus angeleiteten Blick in der Diskursanalyse meiner Arbeit produktiv gemacht werden und zeigen, wie die Auflösungen von Körper- und Geschlechtergrenzen im Diskurs neu verhandelt und (neu) konfiguriert werden.
8.1 N ATUR UND K ULTUR
ALS
K O -P RODUKTION
Den Ausgangspunkt der Arbeit bildet die theoretische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Natur und Kultur. Gerade in den ethischen Diskussionen um die humane Gentechnologie herrscht ein dualistisches Verständnis von Natur und Kultur vor, das die Konflikte um die bio- und reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten auf die Frage zuspitzt, ob es legitim sei, die Natur des Menschen zu ändern. Damit liegt nicht nur der Fokus auf der Figur des Embryos, sondern der Dualismus verfestigt durch die Unterscheidung zwischen natürlicher und technisch-induzierter Fortpflanzung auch Vorstellungen von geschlechtlichen Körpern. Bruno Latour und Donna Haraway haben hingegen Forschungsansätze entwickelt, die das Verhältnis von Natur und Kultur nicht als ein dualistisches sondern als eines der gegenseitigen Bedingung und Produktion beschreiben. Als ein Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie beschreibt Latour technologische Entwicklungen und wissenschaftliche Innovationen als netzwerkartige Prozesse,
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in denen verschiedene menschliche und nicht-menschliche Akteure mitwirken. Mit dem Begriff der Reinigungsarbeit gibt er ein analytisches Instrumentarium an die Hand, das die Trennung zwischen Natur und Kultur in diese Prozessen als eine Praktik der Reinigung beschreibt, die den grundlegenden hybriden Charakter von Natur und Gesellschaft verdeckt (vgl. Kapitel 2.3.3). Latours Arbeiten liefern somit eine Alternative zur dualistischen Beschreibung von Natur und Gesellschaft. Anderseits wurde in der Kritik an Latour deutlich, dass in den Netzwerkprozessen das Wirken von gesellschaftliche Strukturen und Kategorien wie bspw. Geschlecht vernachlässigt wird (vgl. Kapitel 2.3.4). Mit einem Fokus auf Reproduktion und Reproduktionstechnologien habe ich daher untersucht, welche Bedeutung der Kategorie Geschlecht in diesem Feld zukommt (vgl. Kapitel 3.1). Gerade im Bereich der Reproduktionsmedizin und -technologien lassen sich sowohl Naturalisierungen von Geschlecht als auch geschlechtsspezifische Anrufungen an Frauen und Schwangere finden, die als Verantwortliche für die (genetische) Gesundheit ihres Nachwuchses adressiert werden. Gleichzeitig führen die Entwicklungen der Reproduktionsmedizin jedoch zu Brüchen in der Beschreibung der Fortpflanzung als „natürlichen Prozess“ und ermöglichen so eine (Neu-)Verhandlung von Geschlecht und Reproduktion. Donna Haraway geht in ihren Arbeiten diesen Ambivalenzen nach und knüpft daran theoretische Fragen an das Verhältnis von Natur und Kultur an. Auch sie nutzt den Begriff der Ko-Produktion von Natur und Gesellschaft, erweitert ihn aber um Perspektiven auf Geschlecht (und Klasse und „Rasse“) und führt zudem die Situierung des/der ForscherIn als einen Maßstab für Wissenschaft an (vgl. Kapitel 3.2). Indem Latour und Haraway zeigen, dass Natur und Kultur nicht als klar zu trennende Bereiche verstanden werden können, sondern sich vielmehr in einem ko-produktiven Prozess herausbilden, erweitern sie das Spektrum der beteiligten Entitäten und Artefakte an und in diesem Prozess. Sie lenken die Perspektive auf die Praktiken der Grenzziehung und ermöglichen so die Aushandlung von Natur und Technologie selbst in den Blick zu nehmen und zu prüfen, wie Natur und Gesellschaft, Körper und Technologie zueinander angeordnet werden. Für die Analyse der Entwicklungen der humanen Gen- und Reproduktionstechnologien bietet dieser Ansatz einen theoretischen Rahmen, der sich den dualistischen Setzungen im Feld entzieht und die technologischen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin nicht als Eingriff in den vermeintlich natürlichen Körper der Frau oder des Embryos versteht. Eine solche hybride Position kann auch für die Analyse der medialen Debatte herangezogen werden. Sie bietet einen kritischen Blick darauf, was im Diskurs als biologische Gewissheiten über den reproduktiven Körper dargestellt wird und ermöglicht somit Praktiken der Vergeschlechtlichung zu untersuchen. Damit wird es möglich, die Analyse des Diskurses um
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Praktiken der Grenzziehungen und Naturalisierungen zu erweitern und den Fokus darauf zu legen, wie eigentlich ausgehandelt wird, was als natürlich und was als künstlich gilt und welche Bedeutungen von Geschlecht und Reproduktion damit verbunden sind.
8.2 D ER
MEDIALE
D ISKURS
DER
PID
In der Analyse des medialen Diskurses der PID finden sich verschiedene geschlechtsspezifische Zuschreibungen, die in die Argumentation für oder wider die PID eingebunden sind, sich aber zugleich im Laufe der Debatte wandeln: In den Jahren 2000 bis 2004 liegt der Fokus auf der ethischen Diskussion der Rechte des Embryos, den es wahlweise vor den Eingriffen der Technologie zu schützen oder mithilfe der Technologie auf seine genetische Verfasstheit zu prüfen gilt. Während über die Gefahr einer Instrumentalisierung des Embryos gestritten wird, finden sich Frauen und Paare an den Rändern der Diskussion wieder. Sie werden in den Artikeln vorrangig innerhalb von zwei Argumentationsfiguren angeführt, als des »Motor der Technologieentwicklung«, die durch gezielte Nachfrage die Entwicklung und Etablierung der Reproduktionsmedizin vorantreiben, und in der Verhandlung des »Status des Embryos und Abtreibung«, wo die Forderung von Frauen nach einer autonomen Entscheidung und ein Recht auf Abtreibung als Beleg für die Auflösung des Schutzes des Embryos dargestellt wird. Als gemeinsamer Tenor beider Figuren findet sich die individuelle Inanspruchnahme und Durchsetzung von Interessen der Frauen, die als konträr zur Regelungen des Embryonenschutzgesetzes markiert werden. Während hier gerade über die Bezugnahme auf das gestiegene Schwangerschaftsalter der Frauen nahegelegt wird, dass die individuelle, späte Entscheidung für ein Kind erst zu der Notwendigkeit einer PID führe, verändert sich diese Darstellung nach dem Urteil des BGHs zur PID. Anstelle von Karriereplanung und einem spätem Kinderwunsch der Frau treten die Sorgen der Eltern vor der Weitergabe von Erbkrankheiten und Behinderungen in den Vordergrund (vgl. Kapitel 5.9.1.). Auch der Konflikt zwischen Embryonenschutz und Abtreibung wird anders gewichtet. Der Verweis auf die Abtreibung gilt nicht primär als Beleg für einen eingeschränkten Schutz des Embryos, vielmehr wird die PID als »sanfte Alternative zur Abtreibung« (Kapitel 5.9.2) charakterisiert. In diesem Diskursabschnitt wird das Risiko, kein gesundes Kind zu bekommen, explizit nicht als ein Ergebnis individueller Entscheidungen markiert, sondern als eine biologische Veranlagung, für deren Entstehung die Eltern nicht verantwortlich sind. Zugleich wird der
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Wunsch nach einer PID als ein verantwortlicher Umgang mit dem (genetischen) Risiko beschrieben. In dem Diskurs der PID findet damit ein Perspektivenwechsel von der Figur des Embryos zu den Wünsche (und Rechten) von Frauen und Paaren statt. In beiden Phasen dienen die Verweise auf den starken „natürlichen“ Wunsch, Mutter zu werden, als ein zentrales Argument für die Einführung der PID, aber erst in der zweiten Diskursphase werden die autonomen reproduktiven Entscheidungen der Frauen und Paare, die sich auch im Recht auf Abtreibung zeigen, explizit als ethischer Anspruch markiert. In diesem Diskurs finden sich damit sowohl die Forderung nach der Autonomie reproduktiver Entscheidungen als auch Momente der Naturalisierung des Verhältnisses von Reproduktion und Geschlecht wieder.
8.3 D IE AUTONOMIE
REPRODUKTIVER
E NTSCHEIDUNGEN
Als Ergebnis der Diskursanalyse zeigt sich die zunehmende Bedeutung der Autonomie von Frauen und Paare, die erst ab dem zweiten Diskursabschnitt zu einem zentralen Argument in der Diskussion um die PID wird. In den Jahren von 2000 bis 2004 taucht ein Bezug auf die (Patientinnen-)Autonomie vor allem im Kontext der Abtreibungsregelung auf und wird dort ins Verhältnis mit dem Schutz des Embryos gesetzt. Auch in den Jahren 2010 und 2011 findet sich der Bezug zur Abtreibung wieder, die wichtigere Argumentationslinie bildet hier jedoch die autonome Entscheidung der Paare für ein Kind. Der Begriff der Autonomie verbindet sich dabei mit dem Diskurs um reproduktive Rechte und ist entschieden positiver konnotiert. Es scheint, als bedürfte es erst des Schwenks vom »Embryo« zu den »Frauen und Paaren«, um den Bezug auf Autonomie in der öffentlichen Debatte lancieren zu können. Mit dieser Perspektivenverschiebung werden die Wünsche der Paare nicht als Wunsch nach der Verbesserung oder einem Qualitätscheck des Kindes dargestellt, sondern als grundlegender Wunsch nach einem Kind markiert. Dies spiegelt sich auch in der Rücknahme von »selbstverschuldeten« Gründen für die Nutzung der PID im zweiten Diskursabschnitt wider, indem nicht mehr das fortgeschrittene Alter von Frauen als Ursache von Chromosomenanomalien betont wird. Mit dem Bezug auf die reproduktiven Rechte der Eltern schließt der Diskurs um die PID an Forderungen nach PatientenInnenautonomie an und verweist damit auf medizin-ethische Postulate der informierten Zustimmung (informed consent) und Konzepte der mündigen PatientInnen, die sich in den 1960er und 70er Jahren herausgebildet haben (vgl. Weltärztebund 2000; Faden 1986). Seit den 1990er Jahren werden reproduktive Rechte zunehmend auch auf internatio-
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naler Ebene der WHO und UN diskutiert und stehen dort neben dem Zugang zu Verhütungsmitteln und medizinischer Betreuung in der Schwangerschaft vor allem für die autonome Entscheidung für Kinder und gegen Maßnahmen wie Zwangsabtreibung und -sterilisation (vgl. UNFPA 2013; UNFPA 1995). In den feministischen Perspektiven auf Reproduktionsmedizin ist das Prinzip der Autonomie ebenfalls tief verankert, dort aber zugleich vielfach kritisch diskutiert worden. Eines der zentralen Ziele der Frauengesundheitsbewegung der 70er Jahre war es, »der Frau« zur Autonomie und Selbstbestimmung über ihren Körper zu verhelfen und damit einem objektivierenden Zugriff des medizinischen Gesundheitssystems auf den Frauenkörper entgegenzuwirken. In der Entstehung von Frauengesundheitszentren, Ratgebern wie »Our Bodies Ourselves« (The Boston Women’s Health Book Collective 1971) und den politischen Kämpfen um die Legalisierung der Abtreibung bildete die Forderung der Autonomie über den eigenen Körper den zentralen Bezugspunkt und kondensierte sich in dem Slogan der feministischen Abtreibungsbewegung »Mein Bauch gehört mir«. Dieser anfangs primär positive Bezug auf Selbstbestimmung und Autonomie ist mit der Ausweitung von pränatalen Diagnoseverfahren zunehmend kritisch hinterfragt worden (vgl. bspw. Beck-Gernsheim 1991; Rapp 1999). Gerade im Anschluss an Foucault haben AutorInnen aufgezeigt, wie sich die Forderung nach Autonomie mit neoliberalen Ansprüchen an Selbstführung und Eigenverantwortung verbindet und als Teil einer genetischen Gouvernementalität beschrieben werden kann (vgl. bspw. Lemke 2004; Franklin et al. 2000). Nicht nur über die Figuren des Risikos und Risikomanagements, sondern auch über das Postulat der (PatientInnen-)Autonomie etabliert sich ein individualisierender Umgang mit reproduktiven Entscheidungen und Anwendungen der Reproduktionsmedizin. Die Forderung nach Autonomie verknüpft sich mit dem Anspruch eines verantwortlichen Umgangs. Lemke und Kollek führen hierfür den Begriff der Reproduktionsverantwortung ein, der beschreibt, dass die Weitergabe von (genetischen) Krankheitsrisiken an die (zukünftigen) Kinder zu verhindern sei (vgl. Kollek 2008: 226). Im Diskurs um die PID findet sich der Bezug auf die Verantwortung wieder, wird hier aber anders lanciert. In beiden Diskursphasen werden Frauen und Paare in der Argumentation für eine PID explizit nicht zu einem verantwortlichen Umgang im Sinne einer Gesundheitskontrolle des Embryos aufgefordert. Während in der ersten Diskursphase diskutiert wird, ob eine Überprüfung des Embryos zulässig sei, verändert sich die Argumentation in der Wiederaufnahme des Diskurses 2010. Sowohl im Urteil des BGHs als auch im Tenor des späteren Mediendiskurses ist die Frage, ob der Embryo auf Eigenschaften getestet werden darf, bereits positiv entschieden. Der Fokus liegt hierbei jedoch nicht auf der Beschaffenheit des Embryos, sondern auf den Wünschen und Rechten der Eltern.
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Entscheiden sich die Eltern für die Durchführung einer PID, wird dies als langüberlegter und verantwortlicher Schritt charakterisiert und somit durchaus vor der Folie der „Reproduktionsverantwortung“ angesiedelt. Es wird aber nicht der Umkehrschluss ausgeführt, nach dem eine Entscheidung gegen die PID unverantwortlich sei. In der Wiederaufnahme der Diskussion wird zwischen legitimen (schwere Behinderungen und Krankheiten) und illegitimen (Spenderkinder und Geschlechtsauswahl) Gründen für eine PID unterschieden, die Diagnostik am Embryo aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Dabei ist weitestgehend unstrittig, dass der Wunsch nach einem gesunden Kind ein Anspruch ist, der den Eltern gewährt werden muss – vorausgesetzt die medizinischen und technischen Möglichkeiten sind grundsätzlich vorhanden. Hier hat sich also nicht nur das Recht auf ein Kind, sondern auf ein gesundes Kind etabliert (vgl. auch Bock von Wülfingen 2012; Diekämper 2011). Dass sich anstelle einer direkten Aufforderung im Diskurs nur die Rahmung der Entscheidung als verantwortlicher Umgang findet, zeigt den erfolgreichen Versuch, den selektiven Charakter der Anwendung zu dethematisieren und somit auch eine Diskussion um eugenische Selektion zu umgehen. Und so wird die PID als Möglichkeit zu einem Kind und nicht als Verhinderung eines kranken oder behinderten Kindes präsentiert. Ein weiterer Kritikpunkt am individualisierten Begriff der Autonomie im Diskurs ist die fehlende Kontextualisierung der individuellen Entscheidung. Auch hier lässt sich kritisch hinterfragen, inwieweit die Frauen- und Gesundheitsbewegung die Durchsetzung eines individualisierten Autonomiebegriffs befördert hat. So zeigt Paula Irene Villa am Beispiel von Schönheitsoperationen, dass sich der Anspruch auf die Selbstermächtigung des eigenen Körpers in eine »Individualisierungsstrategie light« (Villa 2008: 250) einpasst und somit der Manipulation und Verfügbarkeit des Körpers Vorschub leistet. Anderseits unterscheidet sich der Begriff der Selbstbestimmung in den feministischen Bewegungen deutlich von der Forderung nach Selbstbestimmung der Paare in der Debatte um die PID: Während in der Frauengesundheitsbewegung die Expertenstellung von MedizinerInnen und die Objektivierung des Frauenkörpers kritisiert wurde, bilden ReproduktionsmedizinerInnen und Paare im zweiten Diskursabschnitt eine argumentative Einheit. Dabei werden Strukturen und Logiken der Reproduktionsmedizin sowie die darin enthaltenen Vorstellungen von Geschlecht und Ansprüche an Mutterschaft, die in der feministischen Forschung herausgearbeitet wurden, ebenso vernachlässigt wie die gesundheitlichen Risiken für Frauen, die mit der Hormonbehandlung einhergehen (vgl. bspw. Thompson 2005; Ullrich 2012; Rapp 1987). Dieser reduzierte Begriff der Selbstbestimmung blendet gesellschaftliche und medizinische Rahmenbedingungen weitestgehend aus und
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übersieht damit, wie diese »Entscheidungskorridore« (Villa 2008: 250) die individuellen Entscheidungen prägen und festlegen. Die Schwierigkeiten einer fehlenden Kontextualisierung des Autonomiebegriffs zeigen sich auch in der ethischen Diskussion um die Rechte des Embryos und führen dort zu einer Figuration, in der sich die autonome reproduktive Entscheidung der Frau und die Schutzrechte des Embryos gegenüberstehen. In der Diskussion um die Menschenwürde und das Instrumentalisierungsverbot des Embryos wird dieser selbst als Entität eingesetzt. Diese vom Frauenkörper unabhängig gedachte Figur des Embryos ist in der feministischen Theoriebildung kritisiert worden. So hat bspw. Barbara Duden in ihren körperhistorischen Arbeiten die Entstehung des Embryos als eigene Entität untersucht und die Vorstellung des Embryos, der scheinbar ohne körperliche Abhängigkeit zur Schwangeren besteht, zurückgewiesen (vgl. Duden 2002). Sie zeigt stattdessen die historische Entstehung dieser Figur auf, die sich im Zuge der modernen Medizin und unterstützt durch das bildgebende Verfahren des Ultraschalls herausbildet. Während Duden auf die Besonderheit der Schwangerschaft als geteilte Einheit von Mutter und Kind verweist, findet sich eben jene nicht in allen Stationen der assistierten Fortpflanzung wieder. Hier ist der Embryo im Frühstadium tatsächlich außerhalb des Uterus, so dass er – zumindest temporär – als eigene Entität beschrieben werden könnte. Während ein Verweis auf das Instrumentalisierungsverbot des Embryos an dieser Stelle zur Manifestation der Entität »Embryo« beitragen und damit den Interessenkonflikt zwischen den Ansprüchen auf eine autonome reproduktive Entscheidung der Frau und dem Lebensrecht des Embryos verschärfen würde, bietet Haraway einen Ansatz zur Kontextualisierung des »Embryos« und der sozialen Einbettung der Technologieentwicklung an. So lässt sich an der Figur des Embryos in der Petrischale zeigen, wie fragil die Konstruktion des Embryos als unabhängige Entität ist. Der »Embryo« ist auch hier von seiner Umgebung abhängig und auf die »Kultivierung« in der Petrischale ebenso angewiesen wie auf eine spätere Übertragung in den Uterus. Wie die Grenzen und Eigenschaften dieser Figur beschrieben werden, was dabei als natürlich und künstlich bestimmt wird, unterliegt Praktiken der Grenzziehung, an deren Ende der »Embryo« erst als Figur hervortritt. Haraway zeigt dabei nicht nur, dass die Darstellungen und Metaphern um den Embryo durch zugrunde liegende Erklärungsansätze in der Biologie geprägt werden (vgl. Haraway 2004), sie bietet mit ihrer Kritik an der Vorstellung klarer Grenzziehungen auch einen Theorieansatz, mit dem sich ein individualisierter Begriff der Autonomie ebenso kritisieren lässt, wie die dekontextualisierte Darstellung des Embryos. Ihre theoretische Perspektive ermöglicht ein Bild des »cyborg-embryos« (Franklin 2006: 167), in dem die umgebenden Kontexte und Akteure sichtbar werden. Statt einem Abwä-
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gen darüber, ob den Rechten der Schwangeren oder des Embryos mehr Gewicht zukommt, verschiebt sich die Frage dahin, wie die Grenzen gezogen werden und welche Vorstellungen von (geschlechtlichen) Körpern in dem Prozess der Grenzziehung eingebettet sind. Auch der Begriff der Autonomie ist bei Haraway nur als ein kontextualisierter vorstellbar. Ihr Plädoyer für die Situierung von Wissen und die Übernahme der Verantwortung bei Grenzziehungen lässt sich mit einer individualisierten Vorstellung der Autonomie nicht vereinbaren, denn sie fordert damit immer auch die Analyse und Einbeziehung der gesellschaftlichen Kontexte bzw. der »Entscheidungskorridore« ein.
8.4 M OMENTE DER N ATURALISIERUNG Dies leitet zum zweiten Ergebnis der Diskursanalyse über, der Naturalisierung von Geschlecht. In der Analyse des Diskurses um die PID zeigen sich geschlechtsspezifische Zuschreibungen und die Naturalisierungen von Geschlecht als Teil der Argumentation. Hierbei beweisen sich Körper- und Geschlechtergrenzen als sehr beständig und bieten auf den ersten Blick wenig Hinweise auf eine Transformation der Grenzverläufe. Nicht erst seit der diskursiven Verschiebung auf (Kinderwunsch-)Paare und ihre reproduktiven Rechte ist der mediale Diskurs geprägt von geschlechtsspezifischen Darstellungen und Erwartungen. Im ersten Diskursabschnitt der Jahre 2000 bis 2004 sind geschlechtsspezifische Darstellungen vorrangig in den beiden Argumentationsfiguren der »Frauen als Motor für die Technologieentwicklung« und in dem Konflikt um die »Abtreibung und Embryonenschutz« eingebettet. In der Darstellung der Motive, die Frauen und Paare zu KinderwunschpatientInnen machen, werden in der konkreten Beschreibung vorrangig Patientinnen angeführt. Die Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Kinderwunsches und die Angst vor der Weitergabe von Krankheitsrisiken werden anhand der Sorge von Patientinnen thematisiert. So entsteht der Eindruck, dass die Anwendungen der Reproduktionsmedizin hauptsächlich von Frauen nachgefragt werden. Diese Darstellung reproduziert zum einen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, in der Verantwortung für den Bereich der Reproduktion der Frau zugeschrieben wird (vgl. bspw. Gildemeister 1992). Zum anderen tragen die Beispiele auch zu einer Naturalisierung von Geschlecht und Reproduktion bei: In den Artikeln wird den LeserInnen ein »biologisches Grundwissen« zur Reproduktion und Reproduktionsmedizin vermittelt. Wir erfahren, wann für die Frau der biologisch richtige Zeitpunkt für ein Kind ist, und lernen die Konsequenzen kennen, wenn sich Frauen nicht an ihre »biologische Uhr« halten. Der Wunsch nach einem Kind wird in dem Diskurs
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um die PID als selbstverständlich präsentiert und an die biologische Elternschaft geknüpft. In teils anrührenden biografischen Erzählungen wird berichtet, wie Frauen diesen Wunsch verfolgen und welche Hilfestellung sie dabei von der Reproduktionsmedizin erfahren (vgl. Kapitel 6.3). Alternative Wege zu einem Leben mit Kind, beispielsweise über Adoption und Pflegekinder, oder auch die Entscheidung gegen ein Kind angesichts der Schwierigkeiten, werden dabei nicht thematisiert. In einer Diskursphase, in der die PID rechtlich noch nicht als zulässig bewertet wird und als selektive Technologie negativ konnotiert ist, kommt der Betonung des starken Kinderwunsches, der an ein biologisch eigenes Kind gebunden ist, eine strategische Bedeutung zu. Der Künstlichkeit und Grenzüberschreitung bei dem Eingang der Schwangerschaft mit einer PID wird die Natürlichkeit des Wunsches »Mutter zu sein« zur Seite gestellt, um das Unbehagen, das mit der Selektion einhergeht, zu mindern. Der Dualismus von Natur und Technologie wird dabei nicht aufgebrochen, die PID bildet vielmehr eine technische Hilfestellung zur Erfüllung des Kinderwunsches. Ähnliches gilt für die Wiederaufnahme des Diskurses in den Jahren 2010 und 2011. Mit der Verschiebung von der Figur des Embryos auf die Wünsche der Frauen und Paare tritt der Kinderwunsch in den Fokus der Diskussion. Wie ich gezeigt habe, wird das »Leiden der Eltern« (Kapitel 7.3.1) an dem unerfüllten Kinderwunsch als ein zentrales Argument für die PID vorgestellt. Anders als im ersten Diskursabschnitt folgt die Notwendigkeit einer PID hier nicht aus der zu späten Entscheidung für ein Kind, sondern aus Dispositionen zu genetischen Krankheiten und Behinderungen. Auch in diesem Diskurs lernen LeserInnen den Weg von Frauen und Paaren zu einem eigenen Kind anhand biografischer Beispiele kennen, die in diesem Zeitrahmen durch wiederholte Fehlgeburten, Abbrüche nach der Diagnose von schweren Erkrankungen des Embryos und dem Leben mit Kindern mit Behinderungen und Krankheiten geprägt sind. Die Beschreibung der unterschiedlichen Schicksale unterstreicht die Sehnsucht der Paare nach einem (biologisch) eigenen Kind und zeigt, welche Strapazen und Risiken auf sich genommen werden, um diese zu befriedigen. Im Gegensatz zum ersten Diskurs um die PID werden mit der Figur der Paare auch die Väter in der Debatte sichtbar, wenngleich der Fokus weiterhin stärker auf den Frauen innerhalb der Paarbeziehung liegt. Während sich im vorherigen Diskursabschnitt der Bereich der Reproduktion eindeutig als »Bereich der Frau« markieren ließ, wird er hier als intimer und privater Entscheidungsrahmen in der Paarbeziehung gekennzeichnet. Dies zeigt sich selbst darin, dass das Alter der Frauen beim Kinderwunsch nicht mehr diskutiert wird. Denn das gestiegene Alter wird zumeist auf den Karrierewunsch von Frauen zurückgeführt, die sich erst nach der beruf-
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lichen Etablierung für ein Kind entscheiden, und macht damit zumindest implizit auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen aufmerksam. Nichtsdestoweniger zeigt sich hier eine Veränderung der geschlechtlichen Arbeitsteilung, da Reproduktion nicht mehr alleinig als Verantwortung der Frau dargestellt wird; die Erweiterung von Frauen auf Paare geht dabei mit der diskursiven Verschiebung zu den Rechten der Eltern einher. Für die Thematisierung des Kinderwunsches ändert diese Verschiebung jedoch wenig. Auch in dem erneuten Diskurs wird die Trennung von Natur und Gesellschaft reformuliert, indem die PID als die Überwindung der »natürlichen« Vorgaben der Paare beschrieben wird, und somit die Technologie als Hilfsmittel auf dem Weg zu einem (gesunden) Kind dargestellt wird. In beiden Diskursphasen wird die Kategorie Geschlecht vor allem dann aufgerufen, wenn die Kinderwünsche der Frauen und Paare vorgestellt werden oder die Etablierung der Reproduktionsmedizin auf das gestiegene Schwangerschaftsalter der Frau zurückgeführt wird. Die Geschlechterbinarität in der Unterscheidung zwischen Mann und Frau ist ungebrochen gültig und macht sich gerade an der Gebärfähigkeit der Frau fest. Dass der Eingang einer Schwangerschaft hierbei nicht als natürlich beschrieben werden kann, führt dabei nicht zu einer Neustrukturierung der Geschlechterverhältnisse. Zum einen unterstreicht die künstliche Befruchtung die große Bedeutung des Kinderwunsches für die Frauen und Paare und geht mit einer Naturalisierung des Kinderwunsches einher. Zum anderen scheint die Erweiterung des Fokus von Frauen als Anwenderinnen der Reproduktionsmedizin auf die Paare im späteren Diskurs ebenfalls nicht zu einer Auflösung einer geschlechtsspezifischen Verantwortung für die Reproduktion zu führen, sondern weitet diese vielmehr auch auf die prospektiven Väter aus. Ähnlich wie in Arbeiten zu Biomedizin und Körper ließe sich hier fragen, ob nun auch »die Väter« nicht mehr das unmarkierte männliche Subjekt darstellen, sondern vielmehr selbst als ein Zielpunkt von reproduktionsmedizinischen Anwendungen in den Blick geraten (vgl. bspw. Wöllmann 2005; Bublitz 2012). Das Sichtbarwerden der Väter im Diskurs ist also durchaus ambivalent: Es verweist sowohl auf eine Öffnung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als auch auf die Ausweitung der reproduktiven Verantwortung. Wieder etwas anders gestaltet sich das Bild, wenn wir den Fokus von der Kategorie Geschlecht auf Sexualität verschieben. In der Analyse des Diskurses zeigt sich, dass die Kopplung von (Hetero-)Sexualität und Reproduktion hier weiter fort- und festgeschrieben wird. Obwohl die PID als Teil der assistierten Fortpflanzung grundsätzlich nicht an eine heterosexuelle Partnerschaft geknüpft ist, finden sich im medialen Diskurs nur wenige Beispiele, die alternative Familienkonzepte und homosexuelle Paare als AnwenderInnen vorstellen und damit
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andere Perspektiven in den Diskurs einbringen. Sowohl bei der medialen Darstellung als auch bei der Finanzierung der Anwendung durch die Krankenkassen wird das heterosexuelle und verheiratete Paar als Norm gesetzt und somit eine heteronormative Darstellung von Familie (re-)produziert. Hier scheint sich jedoch langsam eine Wende anzudeuten. Während im Diskurs um die PID alternative Familienmodelle nur am Rand angeführt werden, werden im Zuge der Diskussion um das Adoptionsrecht für Homosexuelle zunehmend auch Wege zum eigenen Kind mittels der Reproduktionsmedizin vorgestellt. So haben alle untersuchten Qualitätszeitschriften mittlerweile über homosexuelle Familien, Adoptivkinder oder eigene Kindern mittels einer Leihmutter berichtet – letzteres findet sich in dem Magazin der Süddeutschen Zeitung sogar als Titelgeschichte (vgl. Schmitz 2013). Außerdem ist im Zuge der Änderung des ESchG auch die Diskussion um ein Fortpflanzungsmedizingesetz wieder aufgenommen worden, die diesmal erfolgreicher verläuft als die bisherigen Versuche seit dem Beginn des Jahrtausends. Nicht nur liegt ein erster, ausdifferenzierter Entwurf vor, auch der Ethikrat hat Beratungen über ein mögliches Fortpflanzungsmedizingesetz aufgenommen und zum Thema seiner Jahrestagung 2014 gemacht (vgl. Ethikrat 2014; Gassner u.a. 2013). Hier zeigt sich, dass die PID eine Gatekeeper-Funktion eingenommen hat, so dass mit der Legalisierung der PID weitere reproduktionsmedizinische Anwendungen wie die Eizellspende und Leihmutterschaft verhandelbar oder zumindest diskutierbarer werden. Wenn sich diese Diskussion ähnlich entwickelt wie der Diskurs um die PID, wird auch hier der Verweis auf die reproduktiven Rechte und damit die Frage danach, warum die technologischen Möglichkeiten zu einem Kind nicht ausgeschöpft werden können, dazu dienen, die reproduktionsmedizinischen Anwendungen zu erlauben. Zugleich, und auch dies zeigt die Analyse, werden aber diese Begehrlichkeiten im Diskurs geweckt.
8.5 AUSBLICK In der Analyse des Diskurses um die PID zeigen sich geschlechtsspezifische Zuschreibungen und die Naturalisierungen von Geschlecht als Teil der Argumentation. Hierbei beweisen sich Körper- und Geschlechtergrenzen als sehr beständig und bieten auf den ersten Blick wenig Hinweise auf eine Transformation der Grenzverläufe. Lediglich in der Erweiterung von der Frau zum Paar deutet sich eine Veränderung in der Zuständigkeit für Reproduktionsfragen an. Wie verhält sich dieses Ergebnis zu der These des Aufbruchs der Grenzen durch die Biomedizin und Reproduktionstechnologien?
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Im medialen Diskurs wird um die Bedeutung der PID gerungen. Dabei ordnen sich neben Fragen der Legitimität und der Charakterisierung der PID als selektive oder helfende Technologie auch die beteiligten Akteure zueinander an. Es wird verhandelt, welche Position die Reproduktionsmedizin und ethische Gremien einnehmen, wie die Figur des Embryo definiert werden soll, wie sich das Verhältnis von Mutter-/Elternschaft und PID bestimmen lässt und nicht zuletzt, was als künstlich und natürlich gelten kann. So lassen sich nicht nur ethische Problemstellungen und die Diskussion rechtlicher Regelungen nachvollziehen, sondern wir können den Diskurs als ein Beispiel dafür nehmen, wie der Aufbruch von Grenzen medial gefasst wird und welchen Akteuren und Kategorien dabei Bedeutung zugesprochen wird. Die Diskursanalyse zeigt, wie die Natürlichkeit von Geschlecht und die Verbindung von Reproduktion und Geschlecht reifiziert werden, bspw. bei der Betonung des starken Wunsches der Frauen und Paare nach einem biologisch eigenen Kind. Paradoxerweise dienen hier gerade die Künstlichkeit der Anwendung und die Betonung der zusätzlichen Schwierigkeiten bei dem Eingang einer Schwangerschaft dazu, die Natürlichkeit des Kinderwunsches zu unterstreichen. Mit Rückgriff auf Latour lässt sich eben dieser Zug als ein Beispiel der Erzeugung von Eindeutigkeiten bei der gleichzeitigen Herstellung von Hybriden beschreiben. Die Auflösung der Grenzen durch die technologische Entwicklung der Reproduktionsmedizin geht hier mit der Verfestigung und Vereindeutigung von Geschlechtergrenzen einher und kann als eine Form der »Reinigungsarbeit« im Diskurs verstanden werden. Doch damit geht nicht nur der hybride Charakter der PID verloren. Die Einpassung in ein dualistisches Setting trägt zur (Re-)Naturalisierung bei und unterstützt die Dekontextualisierung der Technologienentwicklung, die sich in dem reduzierten Begriff der Autonomie und der Ausblendung der gesundheitlichen Risiken zeigt. Um dieser (Re-)Konfiguration von Geschlechtergrenzen zu begegnen und einen – im Sinne Haraways – verantwortlichen Umgang mit den Reproduktionstechnologien zu finden, bleibt das Einbringen einer feministischer Perspektiven in den Diskurs und die kritische Analyse darauf, wie die Grenzen von Natur, Technologie und (geschlechtlichem) Körper ausgehandelt werden, zentral. Auch im Ausblick auf kommende Debatten im Feld der Reproduktionsmedizin, die sich mit der Eizellspende und Leihmutterschaft bereits ankündigen, wird es entscheidend sein, ob es gelingt, diese mit einem ko-produktiven Verständnis von Natur und Technologie zu führen und die Diskussion der reproduktiven Rechte dabei an einen Begriff der Autonomie zu binden, der den gesellschaftlichen und medizinischen Rahmenbedingungen Rechnung trägt.
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L ITERATUR
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KörperKulturen Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) Gesundheit 2.0 Das ePatienten-Handbuch Juni 2014, 144 Seiten, kart., 15,99 €, ISBN 978-3-8376-2807-4
Arno Böhler, Krassimira Kruschkova, Susanne Valerie Granzer (Hg.) Wissen wir, was ein Körper vermag? Rhizomatische Körper in Religion, Kunst, Philosophie Mai 2014, 258 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2687-2
Ulrike Busch, Daphne Hahn (Hg.) Abtreibung Diskurse und Tendenzen Dezember 2014, 330 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2602-5
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KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Juni 2015, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3
Mischa Kläber Moderner Muskelkult Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings 2013, 276 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2376-5
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KörperKulturen Karl-Heinrich Bette, Felix Kühnle, Ansgar Thiel Dopingprävention Eine soziologische Expertise
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Charlotte Ullrich Medikalisierte Hoffnung? Eine ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2048-1
Karen Wagels Geschlecht als Artefakt Regulierungsweisen in Erwerbsarbeitskontexten 2013, 276 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2226-3
Andrea zur Nieden Zum Subjekt der Gene werden Subjektivierungsweisen im Zeichen der Genetisierung von Brustkrebs 2013, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2283-6
2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2307-9
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